Rechtstheorie und Rechtsdogmatik im Austausch: Gedächtnisschrift für Bernd Jeand'Heur [1 ed.] 9783428493685, 9783428093687

Bernd Jeand'Heur hat ein thematisch weit gespanntes wissenschaftliches Werk hinterlassen. Es reicht - ohne je an Ti

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Rechtstheorie und Rechtsdogmatik im Austausch: Gedächtnisschrift für Bernd Jeand'Heur [1 ed.]
 9783428493685, 9783428093687

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Rechtstheorie und Rechtsdogmatik im Austausch Gedächtnisschrift für Bernd Jeand'Heur

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 796

Rechtstheorie und Rechtsdogmatik im Austausch Gedächtnisschrift für Bernd Jeand'Heur

Herausgegeben von Wilfried Erbguth, Friedrich Müller und Volker Neumann

Duncker & Humblot • Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Rechtstheorie und Rechtsdogmatik im Austausch: Gedächtnisschrift für Bernd Jeand'Heur / hrsg. von Wilfried Erbguth ... - Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriften zum öffentlichen Recht; Bd. 796) ISBN 3-428-09368-2

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-09368-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©

Geleitwort Prof. Dr. Bernd Jeand'Heur verstarb am 15. Februar 1997, wenige Wochen nach seiner Antrittsvorlesung an der Rostocker Juristischen Fakultät. Seine Ernennung zum Professor und die Übertragung des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Verfassungsrecht, und Rechtsphilosophie lag erst ein gutes Jahr zurück. Er war also noch nicht sehr lange in Rostock, auch wenn er seinen Lehrstuhl bereits im Jahr 1995 vertreten hatte. Dennoch hat Herr Jeand'Heur die Rostocker Fakultät nach innen und außen nachhaltig geprägt. Nach außen tat er dies durch sein wissenschaftliches Œuvre, das er mitgebracht und während der Zeit in Rostock markant fortgeführt hat. Bemerkenswert ist sein Werk schon aufgrund der thematischen Weite. Es reicht — ohne je an Tiefgang und rechtswissenschaftlicher Eigenständigkeit auch nur im geringsten einzubüßen - vom Verfassungs- und Staatskirchenrecht über das Verwaltungsrecht bis hin zur Rechtsmethodik und Rechtsphilosophie. Dabei ist es immer durchdrungen, gleichsam durchwebt von dem Interesse für die Rechtslinguistik, die er auf neuartige Weise in den Kontext seiner rechtstheoretischen Untersuchungen eingebracht hat. Im Innern unserer Universität und Fakultät hat Bernd Jeand'Heur als engagierter und didaktisch begabter Hochschullehrer gewirkt. Er hat nicht nur die Studierenden für die Rechtswissenschaft begeistert, sondern ihnen auch die Verantwortung nahegebracht, die mit ihrer künftigen beruflichen Tätigkeit verbunden ist. Die Verantwortung des Juristen stand auch im Mittelpunkt seiner Antrittsvorlesung, die die Zuhörer zugleich mitgerissen und nachdenklich gemacht hat. In der Fakultät hat Bernd Jeand'Heur als ein hilfsbereiter und zugänglicher Kollege gewirkt, der sich in Sitzungen jeglicher Weitschweifigkeit enthielt und die wesentlichen Punkte kurz, präzise und in der Sache stets weiterführend zu benennen wußte. Die eigentliche Prägung, die die Rostocker Fakultät durch Herrn Jeand'Heur erfahren durfte, das besondere Geschenk, das er uns gemacht hat, war seine Persönlichkeit. Es war seine Gelassenheit, gepaart mit Lebendigkeit, Humor und einem Witz, der niemals verletzte. Es war das sichere Gefühl, einem Menschen zu begegnen, dessen Ruhe, Freundlichkeit und besondere Herzensbildung aus einem inneren Wertgefüge rührte. Es waren die Nähe, zu der sein Wesen einlud, ohne jemals besitzergreifend zu sein, die Offenheit und Selbstironie, die nur seelische Stärke ermöglicht. Und es waren nicht zuletzt seine natürliche

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Geleitwort

Jugendlichkeit und Unkompliziertheit sowie das Fehlen jeglichen prätentiösen Gehabes. Seine Bescheidenheit konnte bis zur Zurückstellung, ja Selbstverleugnung der eigenen Person reichen, wenn es — wie er meinte — um Wichtigeres ging. Die Beiträge dieses Buches, die aus der Feder von beruflichen und vielfach auch persönlichen Wegbegleitern des Verstorbenen stammen, sind im Gedenken an diesen außergewöhnlichen Menschen verfaßt worden. Die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis I. Grundlagen: Rechtsphilosophie, Rechtslinguistik, Verfassungsgeschichte

Ralph Christensen /Michael

Sokolowski

Naturrecht und menschliche Sprache oder: die Spuren der Utopie im Recht

Friedrich

13

Müller

Warum Rechtslinguistik? Gemeinsame Probleme von Sprachwissenschaft und Rechtstheorie

29

Bernhard Schlink

Weimar - von der Krise der Theorie zur Theorie der Krise

43

II. Deutsches und europäisches Verfassungsrecht

Wolfram

Cremer

Der sog. objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Eine kritische Würdigung eines „Grundbestands des Grundrechtswissens"

59

Detlef Czybulka

Ethische, verfassungstheoretische und rechtliche Vorüberlegungen zum Naturschutz Torsten

83

Keim

Verfassungsrechtliche Grenzen der Übertragung von Befugnissen auf ehrenamtliche Polizisten

111

8

Inhaltsverzeichnis

Hans-Joachim Koch

Bundesverfassungsgericht und Fachgerichte. Eine Funktionsbestimmung auf begründungstheoretischer Basis

135

Reinhard Singer

Die Lehre vom Grundrechtsverzicht und ihre „Ausstrahlung" auf das Privatrecht

171

Hans-Joachim Schütz

Einige Fragen zu Gestalt und Rechtscharakter des „acquis communautaire"

191

III. Staatskirchenrecht

Stefan Korioth

Loyalität im Staatskirchenrecht? Geschriebene und ungeschriebene Voraussetzungen des Körperschaftsstatus nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV

Volker

221

Neumann

Individuelle Religionsfreiheit und kirchliches Selbstbestimmungsrecht am Beispiel der karitativen Tätigkeit

Bodo Pieroth/ Thorsten

247

Kingreen

Die Einschlägigkeit des Art. 141 GG für das Land Brandenburg

265

Ralph Weber

Städtische Patronate in den neuen Bundesländern und ihre rechtliche Verbindlichkeit, dargestellt am Beispiel der Hansestadt Rostock

281

IV. Kindschafts- und Schulrecht

Hermann Avenarius

Sponsoring in der Schule. Einige verfassungsrechtliche Anmerkungen

..

321

Inhaltsverzeichnis Jan Castendiek

Behinderung und freie Schulartwahl

337

Ingo Richter

Die Reformen des Kindschaftsrechts und die Schule

355

Johann Peter Vogel

Zur Problematik der Unterrichtsgenehmigung für Lehrer an Ersatzschulen

369

V. Verwaltungsrecht Wilfried

Erbguth

Zur verfassungsrechtlichen (Un-)Zulässigkeit der materiellen Einwenderpräklusion im Planfeststellungsrecht

Hans-Heinrich

391

Trute

Die Erosion des klassischen Polizeirechts durch die polizeiliche Informationsvorsorge

403

VI. Juristenausbildung Ingo von Münch

Juristenausbildung: Zwischen Resignation und Hoffnung

431

Schriftenverzeichnis Bernd Jeand'Heur

441

Autorenverzeichnis

447

L Grundlagen: Rechtsphilosophie, Rechtslinguistik, Verfassungsgeschichte

Naturrecht und menschliche Sprache oder: die Spuren der Utopie im Recht Von Ralph Christensen/Michael Sokolowski

Recht und Utopie scheinen denkbar weit voneinander entfernt. Das Recht steht für das Bleibende und Feste, die Utopie dagegen für das Veränderliche und Flüchtige. Man braucht schon die Hoffnung Blochs, um zwischen beiden eine Verbindung zu suchen. Gibt es Spuren des Utopischen im Recht und wie sind sie zu lesen? I. Die veränderliche Trägheit der Sprache Wir beginnen mit einer Zeitreise: Deutschland Ende der 60er Jahre. Leute, die einen dreiteiligen Anzug und Schlips tragen, sind nicht mehr tonangebend. Man trägt jetzt Bluejeans und langes Haar. Aber das ist nicht das Schlimmste: Wichtige Begriffe haben plötzlich eine andere Bedeutung. Die Verfassung ist auf einmal nicht mehr die wirkliche Ordnung unserer Gesellschaft, sondern ein Versprechen auf die Zukunft. Demokratie ist nicht mehr der Name unseres politischen Systems, sondern etwas, mit dem erst noch angefangen werden muß. Alle zentralen politischen Begriffe verwandeln sich von Ordnungsbegriffen in utopische Zielbegriffe. 1 Und die Sozialdemokraten gewinnen die Wahl. Hören wir zu diesem Vorgang Kurt Biedenkopf. Damals ist er noch nicht König von Sachsen, sondern nur Generalsekretär einer kleinen, konservativen Partei, die gerade die Wahl verloren hat. Er wendet sich 1973 in Hamburg an den Parteitag: „Sprache, liebe Freunde, ist nicht nur ein Mittel der Kommunikation. Wie die Auseinandersetzung mit der Linken zeigt, ist Sprache auch ein wichtiges Mittel der Strategie. Was sich heute in unserem Land vollzieht, ist eine Revolution neuer Art. Es ist die Revolution der Gesellschaft durch Sprache. Die gewaltsame Besetzung der Zitadellen staatlicher Macht ist nicht länger Voraussetzung für eine revolutionäre Umwälzung staatlicher Ordnung. Revolutionen finden heute auf eine andere Weise statt. Statt der Gebäude der Regierungen werden Begriffe besetzt, mit denen sie regiert, die Begriffe, mit denen 1 Vgl. dazu Maier, Aktuelle Tendenzen der politischen Sprache, in: Heringer Holzfeuer im hölzernen Ofen, 1982, S. 179 ff.

(Hrsg.),

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Ralph Christensen / Michael Sokolowski

wir unsere staatliche Ordnung, unsere Rechte und Pflichten und unsere Institutionen beschreiben. Die moderne Revolution besetzt sie mit Inhalten, die es unmöglich machen in ihnen zu leben."2 Biedenkopfs Propagierung einer Sprachrevolution schlägt mit derselben Klappe mehrere Fliegen: Die SPD wird mit der Revolution verknüpft und die demoralisierte CDU wird getröstet. Der Hinweis auf die Besetzung der Begriffe ist nicht nur eine Erklärung für die eigene Wahlniederlage, sondern zugleich ein Aktionsprogramm, um die Niederlage in einen Sieg zu verwandeln. Die Gegenwehr gegen die Sprachrevolution werde erfolgreich sein, jetzt wird Biedenkopf konkret, „indem sie die Medien besetzt". Biedenkopf hat diese Strategie nicht erfunden. Der Feind, die Linke, hatte sie ihm vorexerziert und damit, wenn auch spät, Blochs Forderung ernst genommen, von den Begriffen um der eigenen Sache willen Besitz zu nehmen3. Biedenkopf hat dieses Konzept lediglich in eine effektive Politik verwandelt. Zwar muß man die Möglichkeiten zur Beeinflussung der Sprache eher skeptisch einschätzen. Die Rede von der Besetzung der Begriffe als eine „Metapher aus der Welt der Machbarkeit" 4 läßt die Sprache als ein reines Kunstprodukt erscheinen. Die Sprache ist jedoch für den Sprecher, auch wenn er Generalsekretär ist, nicht beliebig formbar. Sie ist aber andererseits auch keine rein natürliche Struktur, die dem Sprechen so vorgegeben ist wie Täler, Flüsse und Berge der Fortbewegung. Die Sprache liegt als „Phänomen der dritten Art" zwischen diesen Extremen objektiver Vorgegebenheit und vollkommener Machbarkeit: „Unsere Sprache ist, wie alle natürlichen Sprachen weder natürlich noch künstlich. Sie ist weder ein Naturphänomen noch ein Artefakt. Sie ist ein Phänomen der dritten Art, die unbeabsichtigte Konsequenz individueller (intentionaler) kommunikativer Handlungen. Während Naturphänomene kausale Erklärungen fordern und Artefakte intentionale (finale), ist der adäquate Erklärungsmodus eines Phänomens der dritten Art die Invisible-hand-erklärung." 5 Die Ordnung der Sprache ist damit weder von objektiver Natur als geschlosse2

Biedenkopf, Bericht des Generalsekretärs, in: CDU (Hrsg.), 22. Bundesparteitag der Christlich Demokratischen Union Deutschlands. Hamburg 18.-20.11.1973, Bonn 1973. Siehe in Aufsatzform auch ders ., Politik und Sprache, in: Heringer (Hrsg.), Holzfeuer im hölzernen Ofen. Aufsätze zur politischen Sprachkritik, 1982, S. 189 ff. (191) (urspr. 1975). 3 Siehe Bloch , Erbschaft dieser Zeit, GA IV, 1977; ders., Über Ungleichzeitigkeit, Provinz und Propaganda, in: Traub/Wieser, Gespräche mit Ernst Bloch, 1977. Zum Zusammenhang mit der Strategie der Begriffsbesetzung im politischen Sprachgebrauch Reuffer , Das Besetzen von Begriffen. Anmerkung zu Ernst Blochs Theorie der Ungleichzeitigkeit, in: Liedtke/Wengeler/Boke (Hrsg.), Begriffe besetzen. Strategien des Sprachgebrauchs in der Politik, 1991, S. 123 ff. 4 Vgl. Kuhn, „Begriffe besetzen". Anmerkungen zu einer Metapher aus der Welt der Machbarkeit, in: Liedtke /Wengeler /Boke (Fn. 3), S. 90 ff. 5 Keller , Bemerkungen zur Theorie des sprachlichen Wandels, ZGL 1984, 63 ff. (66) m.w.N.

Naturrecht und menschliche Sprache

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nes System noch von subjektiver Natur als Vereinbarung freier Individuen. Sie ist vielmehr die unbeabsichtigte Nebenfolge individuellen Sprechens. Ob die Besetzung von Begriffen gelingt, liegt nicht allein in der Macht desjenigen, der das versucht. 6 Zwar gilt die von Biedenkopf vollzogene Besetzung des traditionell linken Begriffs der Solidarität als musterhaft. Aber er hat dies nicht allein mit seiner Parteitagsrede bewerkstelligt. Er wurde unterstützt durch die riesige Propagandamaschine der Partei und eine taktisch kluge Medienpolitik der CDU. 7 Die Eroberung eines Begriffs mit eigenen Inhalten setzt also voraus, daß der entsprechende Begriff „in der Luft liegt" 8 und muß häufig unterstützt werden durch das „Besetzen von Diskursen" 9 und „Bildwelten" 10 im Rahmen der Medien. Das kann auch schiefgehen. Dem Versuch von Biedenkopfs Nachfolger Geißler, die „neue soziale Frage" als das Nonplusultra moderner Wohlfahrt in diese Welten zu setzen, war jedenfalls kein Glück beschieden. Trotz der Komplexität und des Risikos der Aufgabe können die Parteien aber auf den Versuch nicht verzichten, sich „wechselseitig die Legitimität des Anspruchs auf den Gebrauch zentraler Vokabeln streitig (zu machen)."11 Mit Biedenkopfs Kampfansage an die „rote Semantik" 12 beginnt in den 70er Jahren die Wendung zur „Politik als Sprachkampf' 13 , welche sich für die konservative Seite als sehr erfolgreich erwies. Bereits auf dem nächsten Parteitag von 1975 konnte Biedenkopf Erfolg vermelden: „Eines der Hauptziele, die wir uns für die Arbeit nach dem Hamburger Parteitag gestellt hatten, war die Wiedergewinnung der Initiative in der Auseinandersetzung um die zentralen politischen Begriffe. Wir können heute feststellen: Dieses Ziel ist im wesentlichen erreicht worden. In der Auseinandersetzung um die politischen Begriffe waren wir erfolgreich. Wir haben wichtige Begriffe für uns besetzt und neue, für die Beschreibung politischer Ziele wichtige Begriffe hinzugefügt." 14 6 Zur Rolle und zur Arbeitsweise der von der CDU eingerichteten Projektgruppe Semantik Klein, Kann man „Begriffe besetzen"?, in: Liedtke/Wengeler /Boke (Fn. 3), S. 44 ff. (45 ff.) 7

Vgl. dazu und zum folgenden Hermanns, Schlüssel-, Schlag- und Fahnenwörter. Zu Begrifflichkeit und Theorie der lexikalischen „politischen Semantik", Arbeiten aus dem Sonderforschungsbereich 245 Sprache und Situation, 1994, S. 22 f. 8

Vgl. Kuhn (Fn. 4), S. 90 ff. (99).

9

Ebd., S. 103.

10

Ebd., S. 106.

11

Lübbe, Der Streit um Worte. Sprache und Politik, 1967, zitiert nach Heringer (Fn. 1), S. 48 ff. (66). 12 Vgl. Dietz, Rote Semantik, in: Kaltenbrunner umfunktionierten Wörter, 1975, S. 20 ff. 13

Ausführlich dazu Behrens/Dieckmann/Kehl, (Fn. 1), S. 216 ff.

(Hrsg.), Sprache und Herrschaft. Die Politik als Sprachkampf, in: Heringer

14 Biedenkopf, Die Politik der Union. Aufgaben und Organisation. Herausgegeben von der CDU-Bundesgeschäftsstelle/Abteilung Öffentlichkeitsarbeit, 1975.

Ralph Christensen / Michael Sokolowski

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Was Biedenkopf hier als Erfolg verbucht erinnert nicht von ungefähr an das Streben nach kultureller Hegemonie im ideologischen Stellungskrieg, das schon Antonio Gramsci als Grundzug der Politik ausgemacht hatte.15 Peter Glotz als zeitweiser Bundesgeschäftsführer der anderen konservativen Partei hat denn auch als „Überzeugung von Gramsci bis Biedenkopf' konstatiert: „wer die Sprache beherrscht, hat auch Macht über Motive von Menschen — und ihr politisches Votum." 16 Die „Politische Semantik" zielt also ab auf die Beherrschung des Feldes öffentlicher Rede. Sie wird von der Einsicht getragen, daß es für die Politik unverzichtbar ist, „ihre Ziele in zentralen Begriffen darzulegen und mit ihnen um Zustimmung zu werben. Die Bedeutungen dieser Begriffe unterliegen einem ständigen Wandel, sie orientieren sich an gegebenen Lagen, bringen diese auf einen begrifflichen Nenner und werden so zu Etiketten, die mit politischen Situationen und Zielen verschmelzen." Wobei es nie nur auf den einzelnen Begriff ankommt, sondern auf das ganze „Netz" und „Begriffssystem", in das er verflochten ist. „Denn die zentralen Begriffe der Politik weisen sich gegenseitig Bedeutungen zu, und sie stehen in einem jeweiligen politischen Zusammenhang."17 Politische Semantik zielt „auf Durchsetzung oder Bekämpfung bestimmter Wortprägungen, auf Verschieben oder Stabilisieren von Bedeutungen, auf Knüpfen oder Zerreißen ganzer Begriffsnetze und schließlich auf die Anpassung verbal-kommunikativer Strategien an die Entwicklung der Medien - und das alles nicht um der Sprache als ästhetisches oder grammatisches Phänomen willen, sondern zur Beeinflussung der mit der Sprache unauflöslich verknüpften politischen Einstellungen und ideologischen „Weltbilder" 18 . Die Wissenschaft hat diese politischen Auseinandersetzungen als „semantische Kämpfe" 19 bezeichnet. Sie gelten dem Vokabular öffentlicher Rede und Argumentation.

15

Siehe Gramsci , Philosophie der Praxis. Eine Auswahl. 1967, S. 282 ff.

16

Glotz , Sprache und Politik oder: Die Rückkehr der Mythen in die Politik, in: Der Deutschunterricht 6 (1984), S. 101 ff. (102). Unmittelbar zu dem hier an den Anfang gestellten Redeausschnitt auch ebd., S. 108 f. Glotz war zeitweise Bundesgeschäftsfuhrer der SPD und wird zuweilen gern als „Vordenker" seiner Partei apostrophiert. 17 Bergsdorf,\ Kampf um Begriffe - Aufgaben der politischen Semantik, Universitas 40 (1985), 1245 ff. (1245 f.). 18 Dazu Klein , Vorwort, in: ders ., Politische Semantik. Bedeutungsanalytische und sprachkritische Beiträge zur politischen Sprachverwendung, 1989, S. VII ff. 19 Vgl. Keller , Kollokutionäre Akte, in: Germanistische Linguistik 1 /2, 1977, 1 ff. (24). S. zuvor schon Koselleck , Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 1979 (urspr. 1972), S. 107 ff. (113): „Der semantische Kampf, um politische oder soziale Positionen zu definieren und kraft der Definitionen aufrecht zu erhalten oder durchzusetzen, gehört freilich zu allen Krisenzeiten, die wir durch Schriftquellen kennen."

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„Semantisch" sind solche Auseinandersetzungen darin, daß sie auf die den öffentlichen Sprachgebrauch tragende „Terminologie" 20 ausgehen. Förmlich zum „ K a m p f wird die Auseinandersetzung dann, wenn der Gewinn durch den Sieg über die Konkurrenz errungen werden soll. „Kämpfe um Wörter und Bedeutungen werden als Konkurrenzkämpfe ausgetragen."21 In ihnen gilt es jeden Anspruch aus dem Feld zu schlagen, der sich dem des eigenen Sprachgebrauchs darauf entgegenstellt, in der Debatte allein ausschlaggebend zu sein. Semantische Kämpfe werden nicht um die Richtigkeit des Sprachgebrauchs gefuhrt, sondern darum, den eigenen Sprachgebrauch zum Maßstab der Richtigkeit zu machen. Der „Streit um Worte" gilt als ein „Kampf um Bedeutung" nichts geringerem als den Wörtern und Ausdrücken selbst22. Die sind zwar ohne Bedeutung nicht zu haben23. „Wörter (...) haben" aber, wie Wittgenstein nachdrücklich in Erinnerung ruft, allein „die Bedeutungen (...), die wir ihnen gegeben haben, und wir geben ihnen Bedeutung durch Erklärungen." 24 Entsprechend geht es den Kontrahenten im semantischen Kampf darum, ihre eigenen Erklärungen 25 zur Bedeutung eines Ausdrucks als die „Erklärung der Bedeutung" durchzusetzen. Im semantischen Kampf setzen die Kontrahenten alles daran, allein diejenigen zu sein, die den Worten ihre Bedeutung geben. Sie setzen alles daran, durch den eigenen Sprachgebrauch allein zu bestimmen, von welcher Bedeutung ein Ausdruck für die Auseinandersetzung wirklich ist und was es damit überhaupt darüber zu wissen gibt. Und sie wollen so, daß es allein in ihrer Macht steht, welche Bedeutung ein Wort hat.

20

Für den engeren Bereich der Politik hier durchaus Bergsdorf,\ Herrschaft und Sprache. Eine Studie zur politischen Terminologie in der Bundesrepublik Deutschland, 1983. 21 Vgl. Klein, Wortschatz, Wortkampf, Wortfelder in der Politik (Anm. 16), S. 17. In der Durchführung dieses Gedankens weitaus schärfer und profilierter die Überlegungen Pierre Bourdieus dazu. Eine zusammenfassende Darstellung gibt Schwingel, Analytik der Kämpfe. Macht und Herrschaft in der Soziologie Pierre Bourdieus, 1993, S. 85 ff. 22 Daher spricht Putnam, Die Bedeutung von „Bedeutung", 2. Aufl. 1990, S. 65 in Hinblick auf die Kenntnis und Aneignung von Bedeutung treffend von dem „Erwerb eines Wortes". 23 Dazu strikt schon die Blattmetapher bei de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 2. Aufl. 1967, S. 43. Zum internen Zusammenhang von Ausdruck und Bedeutung auch Hjelmslev, Prolegomena zu einer Sprachtheorie, 1974, S. 54 im übrigen mit kritischem Verweis auf Saussure. 24 Wittgenstein, Das Blaue Buch (Anm. 37), S. 51 f. Entsprechend zu einem aktivisch produktiven Zeichenbegriff auch Keller, Zeichentheorie. Zu einer Theorie semiotischen Wissens, 1995, S. 22 ff. Zu Wittgensteins Sprach- und Zeichenauffassung ebd., S. 58 ff. 25 Siehe dann auch für die konstativ / deklarative Doppelbödigkeit von solcherlei „Erklärungen" Wittgenstein, Philosophische Bemerkungen. Werkausgabe, Bd. II, 1984, § 14 zum inneren Zusammenhang von Beschreibung und Vorschrift.

2 GS Jeand' Heur

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II. Die gefesselte Gewalt des Rechts Was hat Recht mit dem semantischen Kampf zu tun? Vor das Recht ist der ,Krieg der Bürger' gesetzt.26 Recht ist immer wesentlich im Streit. 27 Nicht nur „ i m großen" gesellschaftlich politischer Debatten darum, sondern auch und gerade „im kleinen" einer jeden Verhandlung vor Gericht und eines jeden, noch so kleinlichen Rechtshändel sonst. Man mag noch so sehr meinen, „im Recht zu sein". Bevor man „sein" Recht vor Gericht „bekommt" und so letzten Endes Recht „hat", wird man sich immer genötigt sehen, „um sein Recht zu kämpfen". Und dieser Kampf wird in der Regel mit aller Erbitterung zu führen sein, auch und gerade dann, wenn er in der Sache noch so kleinlich ist. Einmal in den Gerichtssaal versetzt, machen sich die Parteien daran, sich mit ihrem Konflikt auf diesem Schauplatz als ihrem ,Marsfeld' einzurichten und sich für die ,Fortsetzung ihres Konflikts' nunmehr ,mit den Mitteln des Rechts' 28 in Szene zu setzen.29 Das Recht ist fiir die Parteien kein Selbstzweck. Es ist ihnen nur Mittel auf dem Weg zum Sieg. „Recht" als Titel, mit dem sie ihr Handeln überschreiben, ist ihnen lediglich das Medium, ihre Vorstöße gegeneinander vorzutragen. „Recht" als Rhetorik wird von den Streitparteien verwendet, um sich wechselseitig 'außer Gefecht' zu setzen. Und so ist schließlich „Recht" als Prämie ihrer deklamatorischen Anstrengung im Verfahren das Instrument dafür, die Staatsgewalt für sich einzunehmen, indem vom anderen nichts bleibt als das geschlagene Opfer. Um gegen diesen Anspruch der Parteien auf das Gesetzeswort den ihm gebührenden Platz als Herr des Verfahrens einnehmen zu können, muß sich der Richter erst den dafür nötigen Raum schaffen. Er muß den Normtext von den konkurrierenden Ansprüchen der Parteien im Weg einer negativen Semantik freiräumen. Von der Herstellung der Sachverhaltserzählung bis zu Tenor und Begründung seiner Entscheidung unterwirft der Richter Schritt für Schritt die Parteien seiner Amtsgewalt. „Führend" ist der Richter in der Verhandlung des Konflikts, indem er sich mit der Macht seiner Worte zu der ausschlaggebenden Kraft einer Erzeugung von Recht profiliert; und „führend" vor allem auch dadurch, daß zunehmend nur noch er zur Sache spricht, während allen anderen Schweigen geboten wird. So „gibt" denn der Richter im wahrsten Sinne des Wortes 26

Dazu Müller/Christensen/Sokolowski,

27

Vgl. Christensen / Sokolowski, Recht als Einsatz im semantischen Kampf, Ersch. i. Vorb.

Rechtstext und Textarbeit, 1997, v.a. S. 39 ff.

2K

Siehe die Clausewitzsche „Formel" vom Krieg als der Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Deren authentische Formulierung bei Clausewitz , Vom Kriege, 1991, S. 34. 29

Ausführlich dazu Müller / Christensen / Sokolowski (Fn. 1), S. 47 ff.

Naturrecht und menschliche Sprache

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„das Gesetz". Er gibt es den Parteien. Er gibt ihnen das Gesetz der Handhabung des Konfliktstoffs und derjenigen ihres Streits darum. Er gibt es ihnen dadurch, daß er sie seinem „Willen zum Gesetz" unterwirft. 30 Die Bemächtigung der Bedeutung des Gesetzeswortes durch den Richter vollendet sich im Urteilsspruch. Damit schafft er das Faktum Recht. Ist so der kleinliche Zank der Parteien in die Wahrheit der Rechtserkenntnis aufgehoben? Der Rechtsstreit faltet die Gewalt des Konflikts in die Sprache. Die direkte physische Auseinandersetzung wird suspendiert und in eine sprachliche Auseinandersetzung überfuhrt. In einem zweiten Schritt wird dann die Gewalt zur Entscheidung des Konflikts den Parteien genommen und dem Richter als neutralem Dritten übertragen. Aber trotz dieser doppelten Faltung bleibt die ursprüngliche Gewalt des Konflikts im Innern der Sprache erhalten. Wenn der Richter aus den Akten und dem Gesamteindruck der mündlichen Verhandlung den Sachverhalt herausfiltert, den er im Urteil zugrunde legen will, ersetzt er nicht die subjektive Sicht der Beteiligten durch die objektive Wahrheit. Er entscheidet vielmehr zwischen verschiedenen Erzählungen. Auch die Auslegung des Gesetzes ist kein unschuldiger Vorgang, der im Wege der Erkenntnis die reine Bedeutung an die Stelle der Zeichenkette setzt. Die Auslegung setzt vielmehr eine Zeichenkette an die Stelle einer anderen und muß genau wie die Sachverhaltserzählung zwischen divergierenden Möglichkeiten entscheiden. Allein die Faltung in die Sprache nimmt der richterlichen Entscheidung somit nicht das Moment von Gewalt. Schon der Umstand, daß vor Gericht überhaupt noch interpretiert werden muß, ist der Sprache äußerlich und ihr aufgezwungen. Denn verstanden haben die Parteien durchaus, sowohl den Gegner als auch das Gesetz. Es liegen keine Probleme sprachlicher Verständigung vor, sondern es geht um Entscheidungsprobleme. Die Frage ist nicht: wie ist das Gesetz zu verstehen? Denn jeder hat schon verstanden. Vielmehr ist die Frage, welches Verständnis vorzuziehen sei. Eine Rangfolge für das Verstehen ist in der Sprache aber nicht vorgesehen. Ihre Funktion ist erfüllt, wenn Verständigung hergestellt ist. Um eine solche Rangfolge angeben zu können, müssen überhaupt erst Mechanismen geschaffen werden, die in dem von Foucault beschriebenen Sinn eine Ordnung des Diskurses garantieren; Strukturen also, die Verstehen nicht vermehren, sondern verknappen. Von den verschiedenen möglichen Arten das fragliche Textstück zu lesen, ist dann nur eine legitim. Diese Notwendigkeit einer Selektion von verschiedenen Verstehensarten zur einzig legitimen ist Zwang bzw. symbolische 30

Praxeologisch zum Begriff des „sich das Gesetz geben" im Sinn der wechselseitigen »Entwaffnung" und des gegenseitigen „Niederwerfens" Clausewitz, Vom Kriege, 1991, S. 20.

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Ralph Christensen / Michael Sokolowski

Gewalt. 31 Aber nicht nur der Umstand daß, sondern auch die Art und Weise, wie zwischen den verschiedenen Lesarten entschieden wird, ist von Gewalt durchzogen. Die grammatische oder wörtliche Auslegung des Gesetzes findet weder in der Fachsprache noch gar in der Alltagssprache einen einheitlichen und stabilen Sprachgebrauch vor, den sie einfach anwenden könnte. Auch durch Nachschlagen im Lexikon findet der Richter nur Beispiele für den Sprachgebrauch in bestimmten Kontexten; aber keine Sprachnormen, die ihm Auskunft darüber geben, welcher Sprachgebrauch der richtige oder vorzugswürdige sei. Auch hier bedarf es wieder einer Entscheidung; mit der Gefahr, daß der Richter seine eigene Sprachkompetenz zum „idealen Sprecher" aufbläht und dem abweichende Sprachgebrauch der Betroffenen die Berechtigung abspricht. 32 Die systematische Auslegung eröffnet nicht einen überschaubaren Kontext für die Auslegung des Gesetzes, sondern Kontext auf Kontext. Das Problem liegt in der Auswahl und Begrenzung. Aus der politischen Mahnrhetorik ist die Technik bekannt, das „Ganze" aufmarschieren zu lassen; meistens mit dem Ziel, den beherrschten „Teilen" ihre vorgeblichen Pflichten vor Augen zu fuhren. Diese Technik, den Platz des Ganzen zu besetzen und von der Einheit der Rechtsordnung her die Systematik zu einer beherrschbaren Struktur zu reduzieren, ist für seriöse Argumentation nicht gangbar. Das Ganze ist nicht zu handhaben und kann nicht den Teilen gegenübergestellt werden, ohne daß logische Aporien entstehen. Es bleibt also das Auswahl- und Begrenzungsproblem. Zudem wird es noch kompliziert durch den Umstand, daß die Systematik eines Gesetzes und schon gar der ganzen Rechtsordnung nicht frei von Widersprüchen ist. 33 Die genetische und historische Auslegung als Unterfalle der systematischen machen eine grundsätzliche Schwierigkeit besonders offensichtlich: die durch die Auslegungselemente herangeführten Kontexte bedürfen ihrerseits der Auslegung, so daß sich die geschilderten Probleme noch einmal potenzieren. 34 31 Vgl. zu diesem Begriff Bourdieu/Passeron, Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt, 1973; Saner , Personale, strukturelle und symbolische Gewalt, in: ders., Hoffnung und Gewalt, 1982, S. 73 ff. 32 Vgl. als Beispiel dazu etwa Schroth , Präzision im Strafrecht. Zur Deutung des Bestimmtheitsgebots, S. 93 ff, 117: Kompetenz - Kompetenz in der Sprache für den Juristen. Ebenso S. 119: Recht als Deutungsschema sozialer Handlungen. Dieses Problem einer juristischen Okkupation der Sprachkompetenz hat vor allem von linguistischer Seite Wimmer immer wieder hervorgehoben. 33 Grundlegend zu dieser Problematik einer Entsubstantialisierung der systematischen Auslegung: Müller , Die Einheit der Verfassung, 1979. Zu den Problemen der Textkohärenz bei Rechtstexten vgl. aus linguistischer Sicht Busse, Recht als Text, 1992, S. 41 ff. 34 Zu weiteren Auslegungselementen Müller , Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 213: Prinzipien der Verfassungsinterpretation. Als plastisches Beispiel zur Analyse der Wirklich-

Naturrecht und menschliche Sprache

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Durchgehend trifft die juristische Auslegungstätigkeit auf Fragen, die nicht schon in der Sprache beantwortet sind: statt Nachvollzug von Vorentschiedenem überall nur Notwendigkeit zur Entscheidung. Es gibt in der Rechtserzeugung stets ein überschüssiges Moment, das nicht in einer Theorie des Verstehens aufgehoben werden kann. Das theoretische Postulat einer sicheren Brücke vom Normtext zur wahren Bedeutung funktioniert in der Praxis nicht. Auf der anderen Seite des Zeichens nach Durchbrechung der Sperre 35 findet sich nicht das reine Signifikat. Statt der einen und einzigen Bedeutung findet man dort nur andere Signifikanten, eine widersprüchliche Vielzahl von Verwendungsweisen. Trotzdem erhebt das Recht den Anspruch mehr und anderes zu sein als aktuelle Gewalt. Es beansprucht eine sprachlich vermittelte und damit legitime Gewalt auszuüben. Denn der Richter ist im Rahmen des Rechtsstaats nicht Gesetzgeber erster Stufe, der sich die Obersätze seiner Subsumtionen selbst schafft, sondern er ist nur Gesetzgeber zweiter Stufe, der seine Entscheidung zurückführen muß auf einen vom Parlament geschaffenen Normtext. Zurückfuhren heißt dabei nicht, daß die Entscheidung dem Normtext entnommen werden muß oder auch nur aus ihm herausgelesen werden könnte. Der Normtext ist nicht der große Behälter für kleine Entscheidungen. Der Gesetzgeber kann nicht einzelne Fälle vorwegnehmen und deren Entscheidung mit einem Stück Text determinieren. Zurückfuhren heißt vielmehr, daß sich der Richter im Rahmen einer durch Verfassung und Wissenschaft definierten Argumentationskultur vom Normtext irritieren läßt. Denn man kann im Rahmen einer solchen Argumentationskultur dem Normtext nicht jede beliebige Entscheidung zurechnen. Damit wird die Gewalt ein drittes Mal gefaltet. Diesmal auf sich selbst. Über die Pflicht zur Begründung der Entscheidung ist der Richter an überprüfbare Maßstäbe gebunden36. Dieser Pflicht des Gerichts entspricht auf der Seite des Bürgers ein Recht auf Sprache. Er hat ein subjektives Recht darauf, daß der Richter seine Entscheidung nicht einfach nur fallt, sondern in der Begründung auch dem demokratisch legitimierten Normtext sprachlich zurechnet. Direkt mit Hilfe von Rechtsmitteln gegen die Entscheidung und indirekt mit Hilfe der fachlichen Kritik ist dieses Recht auch durchsetzbar.

keitselemente des Normbereichs siehe Jeand'Heur, Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum Wohl des Kindes und staatliche Interventionspflichten aus der Garantienorm des Artikel 6 Abs. 2 Satz 2 GG, 1993, S. 39 ff. - Zu den Konkretisierungselementen insgesamt mit zahlreichen Beispielen und Nachweisen Müller, ebd., S. 183 ff. 35 Lacan zieht den Strich, der im Saussureschen Zeichenmodell Signifikant und Signifikat trennt, als Sperre. Wenn man versucht, diese Sperre zu durchbrechen, trifft man nicht auf das reine Signifikat, sondern auf andere Signifikanten. Vgl. Lacan, Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud, in: ders., Schriften II, 1991, S. 16 ff., 21 ff., 24 ff. 36

Vgl. Müller/Christensen

/Sokolowski

(Fn. 26), S. 138 ff.

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In dieser Fesselung der richterlichen Gewalt durch die Sprache liegt aber auch das Paradox der Gerechtigkeit. 37 Der Richter soll eine Entscheidung treffen, die als universelles Recht gelten kann, und zwar in der Sprache der Rechtsunterworfenen. Die Schwierigkeit liegt aber darin, daß man für das eine Recht nicht die eine, homogene und unumstrittene Sprache findet. Statt dessen stößt man auf eine Vielzahl von Sprachvariationen, Soziololekten und Idiolekten. Im Hinblick darauf, daß sich die Sprachkompetenz zweier beliebiger Sprecher niemals vollständig deckt, existieren genauso viele Sprache wie Sprecher. Es soll, so der Linguist Rainer Wimmer, zwar nur ein Recht geben, aber für dessen Formulierung gibt es etwa in Deutschland über 81 Millionen Sprachen.38 Damit wird von linguistischer Seite das in der Rechtsphilosophie diskutierte Spannungsverhältnis von Einzelfall und Regel sichtbar gemacht. Derrida hat die Forderung der Gerechtigkeit ein Paradox genannt39, weil sie vom Richter Unvereinbares verlangt. Er soll einerseits der Regel folgen und damit den Einzelfall verraten, und andererseits dem Einzelfall gerecht werden und damit die Regel der Gemeinschaft verraten. Den sprachlichen Kern dieses Paradoxes macht die Pointierung Wimmers sichtbar. Damit wird auch klar, daß das Recht auf Sprache in jeder Rechtsordnung nur eingeschränkt gelten kann. Denn der Richter muß sich jedenfalls am Ende über die Pluralität der Sprachen hinwegsetzen, wenn er die eine Entscheidung treffen will. Die Vielzahl der Sachverhaltserzählungen und Rechtsansichten muß er zunächst auf zwei Alternativen reduzieren, um dann sein Urteil zu fallen 40 . Aber er muß diesen Vorgang in der Sprache vollziehen und sich mit den Irritationen und Anschlußzwängen auseinandersetzen, die sich aus dem Vortrag der Parteien ergeben. Damit ist die Frage, wieweit dem Rechtsunterworfenen ein Recht auf Sprache eingeräumt wird, zentral für die Einschätzung einer konkreten Rechtsordnung. Der Extremfall einer totalitären Ordnung liegt vor, wenn das Recht auf Sprache für den Rechtsunterworfenen vollkommen aufgehoben ist. Er wird beurteilt durch eine Macht, welche nur die Sprache zuläßt, die sie vorher als fest und unveränderlich definiert hat.41 Dieses Risiko liegt in jeder Rechtsordnung. Selbst im Rahmen des weitgehendst rechtsstaatlichen Verfahrensrechts der BRD werden in politischen Prozessen dem Ange-

37

Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, S. 118 ff.

38

Vgl. Wimmer, Thesen zum Verhältnis von „Fachsprache"-Gebrauch und „gemeinschaftlicher" Praxis in der Rechtsarbeit, in: ders. (Hrsg.), Neue Untersuchungen zur Rechtslinguistik, i. Vorb. 39

Vgl. Derrida,

40

Vgl. Schlag, Normativity and the Politics of Form, UPaLawRev. 139 (1990/91), 801 ff.

41

Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität", 1991, S. 46 ff.

Vgl. dazu Christodoulidis / Veitch, The Ignominy of Unredeemed Politics: Revolutionary Speech as Différend, International Journal for the Semiotics of Law, Vol. X, 29, 1997, 141 ff. (149).

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klagten, der seine Motive erläutern will, die Mikrophone abgedreht. 42 Oder dem Sprecher einer Bürgerinitiative wird von einem Oberlandesgericht strafverschärfend vorgeworfen, daß er entgegen der Auffassung des Gerichts den Aufruf zu einer gewaltfreien Demonstration nicht als Gewalt begreift. Der Kampf gegen die von der Institution zur Verfugung gestellte Sprache, den vergeistigten Gewaltbegriff, den das Bundesverfassungsgericht mittlerweile zurecht aufgegeben hat 43 , die Wahrnehmung des Rechts auf eine eigene Sprache wird damit zum Strafgrund 44. Politische Prozesse sind sicher nicht der rechtsstaatliche Alltag. Aber auch im scheinbaren Normalfall redet etwa ein Strafrichter mit dem Angeklagten nur, wenn er etwas herausfinden will, und sonst mit dessen Verteidiger. Die Verweigerung der eigenen Sprache muß auch nicht erst im Urteil und durch das Gericht geschehen. Ein besonders beschämendes Beispiel der Sprachberaubung liefert die Verteidigung im Maidanek-Prozeß. Es ging um die Frage, ob die im Lager Ermordeten dort auch verbrannt wurden. Der Verteidiger befragt den Zeugen, ob er die Verbrennung der Leichen selbst gesehen habe. Der Zeuge verneint dies, erklärt aber, daß der Geruch verbrannten Fleisches ständig über dem Lager hing. Daraufhin stellt der Verteidiger den Beweisantrag, mittels Sachverständigengutachten zu klären, daß die menschliche Nase den Geruch von verbrannten Menschenfleisch von dem verbrannten Schweinefleisches nicht unterscheiden könne. Das schneidet nicht nur Sprache ab. Das schneidet die Zunge heraus. Der Sprecher soll gezwungen werden, in einer Sprache zu sprechen, die ihn erniedrigt und beleidigt. 45 Für das Recht ist demgegenüber kennzeichnend, daß es die Sprache des Adressaten zuläßt. Bis zu einer Grenze: Im Ergebnis der Entscheidung muß dem Bürger sein Recht auf Sprache genommen werden. Denn eine Streitentscheidung in der Sprache nur einer der Konfliktbeteiligten wäre parteilich. Der Richter muß also zwischen den antagonistischen Sprachen der Parteien im Medium einer dritten Sprache entscheiden. Aber diese Sprache darf nicht so beschaffen sein, daß sie den Adressaten in eine vordefinierte Sprecherposition zwingt, worin nur eine fremde und nicht seine eigene Sprache möglich ist. Eine Entscheidung, solange sie eine Rechtsentscheidung und keine reine Gewalt sein 42

Vgl. ebd., S. 150 ff. Am Beispiel der Baader-Meinhof-Prozesse in der Bundesrepublik wird hier die Unvereinbarkeit der Sprachspiele von Gericht und Angeklagten gezeigt. 43 Vgl. dazu die Großengstingen-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10.1. 1995 - 1 BvR 718, 719, 722, 723/1989, E 92, 1 ff. Dazu Christensen/Sokolowski, Die Bedeutung von Gewalt und die Gewalt der Bedeutung, in: Wimmer (Hrsg.), Neue Untersuchungen zur Rechtslinguistik, i. Vorb. 44

Das Urteil des OLG Frankfurt 1. StE 1/82 ist abgedruckt in Schuharth (Hrsg.), Der starke Staat. Dokumente zum Prozeß, 1983, S. 131 ff. Diskussion bei Wimmer/Christensen, Praktisch-semantische Probleme zwischen Linguistik und Rechtstheorie, in: Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 27 ff., 36. 45 Die Schilderung dieser Art von „Konfliktverteidigung" verdanken wir einer Mitteilung von Grasnick.

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will, muß dem Betroffenen Einfluß auf die Sprache geben, die in der Entscheidung an die Stelle seiner eigenen tritt. Wenn dagegen diese Sprache schon vorher feststeht, haben wir kein Recht vor uns, sondern nur sprachlich verbrämte Gewaltausübung. Das Recht auf Sprache ist also ebensowenig wie das Recht überhaupt objektiv vorgegeben. Es muß vielmehr immer wieder erkämpft werden. Denn für die Staatsgewalt ist es allemal bequemer, die Ausübung der rechtlichen Gewalt nicht durch Begründungszwänge zu erschweren. I I I . Die unlesbare Spur der Utopie Die eingangs vorgenommene Entgegensetzung von dynamischer Utopie und statischem Recht ist nicht haltbar. Das Recht steht nicht als fester, unverrückbarer Maßstab der Utopie entgegen. Wenn das Recht nicht vorgegeben ist, sondern erzeugt werden muß, ist es vollständig auf Sprache angewiesen. Und genau diese notwendige Verknüpfung mit der Sprache ist die Grundlage für die Entwicklung einer Rechtsutopie. Die Untersuchung der Rechtserzeugung hat schon gezeigt, daß es das Recht nicht geben kann, weil es die Sprache nicht gibt. Die Sprache existiert in einer Vielzahl von Sprechern, deren jeweilige Kompetenz nie ganz miteinander identisch ist. Diesen Umstand hat Hans Heinz Holz in Anknüpfung an die Philosophie Blochs für das utopische Denken fruchtbar gemacht.46 Er geht davon aus, daß das in der Sprache Mitgeteilte beim Empfänger modifiziert wird durch Mitverstandenes aus seiner jeweils eigenen Erfahrung. Diese Mitverstandene nuanciere und modifiziere die Mitteilung durch die Verbindung mit neuen, nur bei diesem Empfänger vorhandenen Erlebnisqualitäten und Assoziationen. Weil so die Mitteilung immer auf einen neuen und jeweils individuellen Kontext aufgepfropft wird, verschiebt sich ihre Bedeutung von einem Hörenden zum anderen auf eine nicht vollkommen voraussagbare Weise. Aus dieser Verschiebung der Mitteilung durch das Mitverstandene ergibt sich dann eine Anreicherung der Bedeutung und damit die schöpferische Funktion der Interpretation. Die Sprache ist damit für Holz notwendig einem ständigen Wandel unterworfen, der sie zum offenen System macht 47 : „Die in der Sprache sich konstituierende Welt ist 46

Vgl. dazu Holz , Einsatzstellen der „Ontologie des Noch-Nicht-Seins", in: Schmidt (Hrsg.), Materialien zu Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung", 1978, S. 263 ff., 279 ff. Holz ist als Sprachphilosoph schon 1953 mit der Schrift „Sprache und Welt" hervorgetreten. Der viel zu wenig beachtete Ansatz kann hier nicht vertieft werden. Der von Holz verwendeten Metaphorik von zwei Schichten der Sprache (Allgemeines und Mitverstandenes) wird hier nicht gefolgt. Statt dessen folgen wir dem von Wittgenstein für die Verschiedenheit von Bedeutung entwickelten Konzept der „Familienähnlichkeit". 47 Radikaler ist Davidsons Analyse des Verstehensprozesses. Dieser kann nicht auf vorgebliche Gemeinsamkeiten und Allgemeinheiten zurückfuhrt werden. Vielmehr geht er in

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nicht dicht, sondern gleichsam ein lockeres Gewebe, in das dauernd neue Fäden eingeflochten werden können. Das Nocht-Nicht-Bewußte ist in ihnen präsent, weil der Satz als objektives Gebilde den subjektiven Bedeutungszuwachs auslöst und aufnimmt. So ist die Aussage (...) nie eindeutig und begrenzt, das heißt identisch, sondern vieldeutig und offen (...). Die Bedeutungsstruktur der Sprache bildet mithin die ontologische Struktur des Noch-Nicht-Seins vor. Die formale Ontologie erweist sich als ein Zweig der Sprachphilosophie (...)" 4 8 Eine Rechtsutopie wäre aus dieser Sicht eine materiale Ontologie, die „den von der formalen Struktur des Seins, die mit der Bedeutung identisch ist, vorgezeichneten Rahmen" mit Inhalten aus der Thematik des Rechts auffüllt. Wie könnte eine solche Verbindung von Recht und Utopie aussehen? Die Sprache entfaltet sich zwischen zwei Extremen: Sie erstrahlt dort, wo man sie als offenes System wirken läßt, im Glanz der permanenten Revolution. 49 Sie wird zum Faschismus50, wenn sie eingefroren zum objektiv vorgegebenen Bedeutungssystem die Position des einzelnen Sprechers so definiert, daß ihm die eigene Sprache verweigert wird. Die Verbindung von Recht und Utopie kann an beiden Enden anknüpfen. Die Rolle der Utopie könnte man darin sehen, die fehlende Stabilität des Rechts zu substituieren. Der utopische Entwurf könnte dann dazu dienen, dem Gleiten des rechtlichen Sinnes einen zentralen Halt zu verschaffen. Solche Versuche werden auch unter Verwendung von Blochs Philosophie immer wieder unternommen. 51 Sein Denken liefert dann Inhalte fur die utopische Aufladung sogenannter Rechtsprinzipien und soll damit dem Recht als System einen utopischen Fluchtpunkt verschaffen. Auch die Grundrechte der deutschen Verfassung sollen mit Hilfe der Utopie von dem als unzulänglich empfundenen Status historisch erkämpfter und spezifizierter Einzelgewährleistungen auf die einer Dynamik wechselseitiger Hypothesenbildung auf, in der allenfalls Ausgangstheorien der Sprecher anleitend wirken. Allerdings nur um den Preis ihrer ständigen Modifikation durch jene „Übergangstheorien", mit denen die Sprecher sich immer wieder einen Reim auf das einander Gesagte machen. Davidson zieht für das „Sprachvermögen", d.h. „die Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation", die „in der Fähigkeit besteht, sich verständlich zu machen und zu verstehen" die Konsequenz, daß wir „keinen erlernbaren, gemeinsamen Kern widerspruchsfreien Verhaltens ausfindig" machen können, „keine gemeinschaftlichen Regeln, keine tragbare Interpretationsmaschine, die so eingestellt ist, daß sie die Bedeutungen beliebiger Äußerungen ausspuckt." Und er kommt zu jenem radikalen Schluß gegen die Sprache, den wir uns hier für das Recht zunutze gemacht haben. Vgl. Davidson, Ein hübsche Unordnung von Epitaphen, in: Picardi/Schulte (Hrsg.), Die Wahrheit der Interpretation. Beiträge zur Philosophie Donald Davidsons, 1990, S. 203 ff., 225 f. 48

Holz (Fn. 46), S. 280.

49

Barthes, Leçon/ Lektion, 1980, S. 23.

50

Ebd., S. 19.

51

Vgl. dazu und zum folgenden Wagner, Utopie, Menschenrechte, Naturrecht. Zur Rechtsphilosophie Ernst Blochs, 1995, insbes. S. 166 ff., 170 ff.

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Höhe des Systems gehoben werden. Als Hebel dient dazu ein sogenanntes Menschenbild des Grundgesetzes. Dieses wird je nach Neigung entweder im steuerflüchtigen Leistungsträger oder im gesprächsbereiten Lesebrillenträger gesehen. Die anfangs angenommenen Plätze von Utopie und Recht werden damit vertauscht. Das Recht erscheint hier als ein Gegenstand, der ohne inneren Halt der Heterogenität der verschiedenen Lesarten ausgeliefert ist und erst mit Hilfe der Utopie als eines künftigen Fluchtpunktes seine Festigkeit und Sinnmitte findet. Damit wäre aber die von Bloch als zentraler emanzipatorischer Inhalt immer wieder hervorgehobene Trennung von Recht und Moral rückgängig gemacht.52 Für Bloch ist die Beziehung von Recht und Moral indirekt: das Recht rechtfertigt sich nicht durch eine bestimmte Moral, sondern dadurch, daß es eine Vielzahl moralischer Orientierungen ermöglicht. 53 Wenn man aber in der geschilderten Weise die Utopie zum Substitut der fehlenden Festigkeit des Rechts macht, stellt man eine direkte Beziehung zwischen Recht und Moral her: das Recht wird zum bloßen Mittel, um eine einzige und damit notwendig partikuläre Moral durchzusetzen. Jedenfalls mit Bloch läßt sich dies nicht begründen. Wirkliche Utopien in Form praktisch existierender Gegenkulturen funktionieren auch anders als diese akademische Sinnschöpfung. Kennzeichnend ist nicht eine Gesamtdeutung des Rechts als Versprechen für irgendeine schon feststehende Form besseren Lebens, sondern eine rein instrumentelle Haltung. 54 Die gegenkulturellen Lebensformen wollen ihre praktische Verwirklichung nicht von vornherein in die verwaltete Welt einschreiben. Aber sie wollen doch ihre Ansprüche, neu und anders zu leben, notfalls auch mit Hilfe des Rechts verteidigen. Diese Konsumentenperspektive 55 drückt sich in praktischen Gebrauchsanweisungen für konkrete Lebensprobleme aus. Es gibt Leitfaden für Kriegsdienstverweigerer, für Hausdurchsuchungen, für die Durchsetzung von Ansprüchen beim Sozialamt oder das immer noch unübertroffene Werk „Lieber krankfeiern als gesund schuften". 56 Diese vielfaltigen „Wege zu Wissen und Wohlstand" gehen mit den großen Bürokratien taktisch um: „man muß ihre Regeln gut kennen, um sich ihrer Gaben bedienen zu können — so wie der Jäger und Sammler sich gegenüber der Natur verhält." 57 Einflußreiche und breite Bewe52 Vgl. dazu Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, GA 6, 1977, der Abschnitt Recht und Moral, S. 260 ff. 53

Vgl. dazu Christensen , Freiheitsrechte und soziale Emanzipation, 1987, S. 167 ff.

54

Vgl. dazu die empirischen Untersuchungen des Rechtsbewußtseins durch Blankenburg / Reifner , Rechtsberatung - die soziale Definition von Rechtsproblemen, 1982, sowie Blankenburg , Das Ideologem einer Gesellschaft ohne Recht, 1982, S. 73 ff., 79. 55

Ebd., S. 79.

56

Mende (Hrsg.), Wege zu Wissen und Wohlstand oder: lieber krankfeiern als gesund schuften, 1980. 57

Blankenburg , Das Ideologem einer Gesellschaft ohne Recht, 1982, S. 73 ff., 81.

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gungen wie die sogenannten Kraker in Holland entwickeln bei diesem taktischen Ausschöpfen der vorhandenen rechtlichen Möglichkeiten allerdings sehr viel Phantasie: „der Verweis von Hausbesitzern an privatrechtlichen Rekurs führte zu dem (oft kabarattistisch genutzten) Versteckspiel von Krakern mit detektivischer, teils gewalttätiger Selbsthilfe von Seiten der Hausbesitzer. Wieder nutzten die Kraker Rechtsformen (etwa das Vorenthalten bürgerlich-rechtlicher Identität und überließen den Hausbesitzern die illegitimierende Gewaltanwendung, um sich diese als Hausfriedensbruch vor Gericht bestätigen zu lassen. ( . . . ) - möglich wurde dieser geschickte Gebrauch von Recht durch eine Infrastruktur von sympathisierenden Rechtsanwälten, die häufig vor Kraakaktionen zu Rate gezogen wurden und deren Kenntnisse in Krakersprechstunden und in Schriften wiedergegeben wurden." 58 Aber das instrumenteile Verhalten zum Recht ist immer auch mit semantischen Strategien verbunden. Denn für die Interessendurchsetzung auf dem politischen Markt kommt es darauf an, in der Öffentlichkeit Legitimität zu erwerben. 59 Ohne Begründungen und Eingehen auf die Argumente der Gegenseite ist dabei nichts zu gewinnen. Zu der Besetzung der Wohnungen muß eine Besetzung von Begriffen hinzutreten, welche das Wohnungseigentum durch ein Recht auf Wohnen einschränkt. Dieses Herausnehmen einzelner Elemente der Rechtsordnung und deren utopische Aufladung ist ein Grundmuster der semantischen Strategien alternativer Bewegungen. Das Rechtsbewußtsein, das sich hier zeigt, besteht nicht in bestimmten normativen Inhalten oder konkreten Gerechtigkeitsvorstellungen, sondern in Anspruchserwartungen gegenüber einem Recht, das zur Wahrung der eigenen Interessen mobilisiert werden soll. 60 Das in Gegenkulturen auftretende Rechtsbewußtsein verbindet sich mit der Anspruchsdimension subjektiver Rechte. Das objektiv-rechtliche Sollen im Sinne der norma agendi steht in einem Spannungsverhältnis zum offenen Charakter der Utopie. Deswegen steht im Zentrum die facultas agendi, das Recht als Handlungsmöglichkeit.61 Die mit einem festen Ziel verbundene Utopie muß das Wollen der Subjekte den Buchstaben unterordnen. So ist es gar nicht einmal die Sprache, die verbindlich ist, geschweige denn bindet. Es ist die Schrift. Und die sagt bekanntlich immer nur, was ihre Gelehrten von ihr behaupten. Das Ziel steht in seiner Bedeutung schon fest und muß nur noch verwirklicht werden. Bei Bloch findet 58

Blankenburg, Thesen zur Hausbesetzerbewegung, 1982, S. 227 ff., 234.

59

Ebd., S. 232.

60

Vgl. dazu Blankenburg, Rechtsohnmacht und instrumenteller Gebrauch von Recht, RdJB 1984, 281 (285). 61 Vgl. dazu Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, GA VI, 1977, Subjektives, objektives Recht (facultas agendi, norma agendi) in ihrem bürgerlichen Gegensatz, ihrer klassenlosen Lösung, 206 ff.

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sich die Umkehrung dieser Problemstellung zu der Frage, „wie können uns bedeutungsvolle Zeichen zum Wollen bringen? Wie kann das bloße Studium der Schriften die Hoffnung in uns wecken, die Bereitschaft für Intensitäten?" Bloch wendet sich damit gegen die Unterwerfung unter den Buchstaben und den Glauben an unfehlbare Kriterien. Die Diktatur des Buchstabens mit fertiger utopischer Bedeutung beschreibt nur die Entfaltung des „Schon" in ein vorhersehbares „Noch-Nicht". Der offene Charakter der von Bloch entfalteten Kategorie der objektiv realen Möglichkeit wird damit verfehlt. 62 Die Utopie hat nicht die Aufgabe, das Recht zu einem Reich abgeschlossener Bedeutung zu runden. Ganz im Gegenteil: sie muß das Recht als eine wesentlich umstrittene Sache kenntlich machen und offen halten. Wenn man das Recht als feste und mit sich selbst identische Sache handhabt, ist jede gesellschaftliche Veränderung ausgeschlossen. Nur solange sein Charakter als Streit und Kampf auch praktisch zum Tragen kommt, hat Veränderung eine Chance. Der Streit liegt wesentlich in der Sprache, die keiner hat, aber ein jeder ist . Vom Naturrecht bleibt damit nicht das Reich seiner Bedeutung, dem sich das rechtliche Wollen der Subjekte unterzuordnen hätte. Nicht seine objektiv rechtliche Seite, seine vordefinierte Gerechtigkeit von oben, sondern seine subjektiv rechtliche Seite als Rechtsanspruch. Und auch von ewgen Rechten, die droben hangen unveräußerlich, kann keine Rede sein. Es bleibt nur das Recht auf Sprache.

62

Vgl. dazu Bloch , Das Prinzip Hoffnung, GA V, 1977, Kap. 18. Die Schichten der Kategorie Möglichkeit, sowie Holz , Logos spermatikos, 1975, S. 91 ff.

Warum Rechtslinguistik? Gemeinsame Probleme von Sprachwissenschaft und Rechtstheorie* Von Friedrich Müller

Über „gemeinsame Probleme", und zwar zwischen „Sprach- und Rechtswissenschaft", hat Bernd Jeand'Heur schon Ende der 80er Jahre gearbeitet.1 Daß es sich um fachübergreifend Problematisches handelt und nicht nur um sich überschneidende Arbeitsfelder, begründete er einleuchtend damit, daß im noch vorherrschenden Paradigma Sprache und Sprachlichkeit der Rechtswelt allzusehr verharmlost werden. Die Frage, „nach welchen Spielregeln Rechtsarbeit tatsächlich funktioniert", finde herkömmlicherweise eine Antwort, in der sich auf der einen Seite nur „eine alltagstheoretische Vorstellung über Sprache" widerspiegele. Andererseits liege diese Verkürzung „an der weitgehend nicht reflektierten Textstruktur juristischer Arbeit unter den Vorgaben des Grundgesetzes, an der positivistischen Leugnung des Zusammenhangs von Recht und Politik sowie an der unzulänglichen Reflexion des Verhältnisses von sprachlich vermittelter und 'bloßer' Gewalt". 2 Das überkommene positivistische Rechtsnormmodell gehe mit einer instrumentalistischen Sicht von Sprache Hand in Hand. Der sprachliche Ausdruck repräsentiere ein Stück außersprachlicher Wirklichkeit; das Schriftzeichen sei demnach ein gleichsam neutraler Träger von Bedeutung. Nur so habe es zur Vorstellung richterlicher Tätigkeit als Subsumtion der Realität des Rechtsfalls unter die Begriffe einer im Gesetzbuch bereits vorgegebenen Rechtsnorm kommen können. Angesichts dessen ist auf den Nachdruck hinzuweisen, mit dem neuere Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft, spätestens seit dem pragmatic turn und auf Wittgensteins Schultern stehend (sowie in der historischen Linie der Hamann - Herder—W. von Humboldt-Tradition), diese einstmals beruhigenden Ergänzte Fassung eines Vortrags, der Ende 1997 auf Einladung der Gesellschaft für deutsche Sprache gehalten wurde. 1 Gemeinsame Probleme der Sprach- und Rechtswissenschaft aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre, in: Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 17 ff. — Eine französische Übersetzung (Science du langage et science du droit: problèmes communs du point de vue de la théorie structurante du droit) erscheint 1999 in: DROITS. Revue Française de Théorie Juridique, vol. 29, S. 143 fif. 2

Alle Zitate bei Jeand'Heur

(Fn. 1), S. 17, 19; ebd., S. 19 ff. zum folgenden.

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Friedrich Müller

Illusionen verabschiedet haben. Sprachzeichen können weder Bedeutungen noch Realitätsreferenzen festlegen. Sprache ist nicht beliebig, weil auf Verstehbarkeit und als Schrift auf Lesbarkeit ausgerichtet. Doch meint solche Wiederholbarkeit „nicht einen stets beständigen, nicht veränderbaren Nachvollzug des Zeichens, das auf einen fixen Referenten oder Sinn weisen müßte". Kommunikation sei nicht länger als eine solche von Anwesenheiten, als Übermittlung eines mit sich identischen Meinens zu fassen. „Nach"vollzug sei „nie Rekonstruierung", sondern „immer Neukonstituierung" 3. Da das Rechtsstaatsgebot „allein Sicherheit, d.h. Nachvollziehbarkeit der methodischen Bearbeitungsweise im Entscheidungsvorgang" fordere (statt „Bestimmtheit oder Sicherheit der Rechtsbegriffe bzw. Bedeutungen"), sollten die angedeuteten „Erkenntnisse der Sprachwissenschaft Allgemeingut der rechtstheoretischen Diskussion werden". Dies ist von der Seite der Sprache her gesagt; und von einem Autor, der sich in der Wissenschaft wie in der Philosophie der Sprache auskannte4 und sich von beiden in seiner Arbeit als Dogmatiker und Theoretiker des Rechts fruchtbar verunsichern, sich in Frage stellen ließ. Wie sieht es nun aber vom Recht her aus, von der Funktion der Rechtsordnung und ihrem Funktionieren in der Alltäglichkeit? Warum von hier aus RechtsWnguistik? Und was erscheint überhaupt als Funktion dieser Rechtsordnung? Wie finden wir das heraus, ohne in Ontologie, diesen beliebten Aufenthaltsort der Tradition, ausweichen zu müssen? Wohl am ehesten, indem wir die Agenten dieser Ordnung bei ihrer Arbeit beobachten. Damit sind wir einen Schritt weiter: Was tun Juristen? Wenn wir sie selbst befragen, dann hören wir etwa: Sie bringen Ministerial-, Fraktions- oder Regierungsvorlagen, kurz Gesetzentwürfe, zustande; ferner Rechtsverordnungen, Verwaltungsverfügungen, Erlasse, Satzungen; sie erzeugen Verwaltungsakte und Widerspruchsbescheide; formulieren Klageschriften, Klageerwiderungen, Beweis- und sonstige Prozeßanträge; sie führen gericht3

Jeand'Heur, ebd., S. 22 ff., 25; S. 26 die im Text folgenden Zitate. Jeand'Heur stützt sich dabei v.a. auf Derrida, Positionen, 1986, und auf dens., Signatur, Ereignis, Kontext, in: ders., Randgänge der Philosophie, 1976, S. 134 ff. 4

Außer dem in Fn. 1 genannten Aufsatz Jeand'Heurs vgl. dens., Themen einer problembezogenen Zusammenarbeit zwischen Rechtstheorie und Linguistik (mit Christensen ), a.a.O. (Fn. 1), S. 9 ff.; Der Normtext: Schwer von Begriff oder über das Suchen und Finden von Begriffsmerkmalen. Einige Bemerkungen zum Referenzverhältnis von Normtext und Sachverhalt, a.a.O. (Fn. 1) , S. 149 ff.; sowie nicht zuletzt die eingehenden Analysen bei dems., Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989. - Ferner, im Rahmen der Fachsprachendiskussion: ders., Die neuere Fachsprache der juristischen Wissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung von Verfassungsrecht und Rechtsmethodik, in: Hoffmann / Kalverkämper / Wiegand (Hrsg.), Fachsprachen, 1. Halbband 1998, S. 1286 ff.

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liehe Voruntersuchungen durch, erheben Anklage, eröffnen und leiten Verfahren, sprechen Urteile und Beschlüsse aus - und was der, wie die Linguisten sagen, juristischen Textsorten mehr sein mag. In Umgangssprache ausgedrückt, bereiten sie Gesetze vor und formulieren sie für parlamentarische Gremien; sie vollziehen die geltenden Gesetze und überprüfen Handlungen oder rechtliche Vorschriften an Normen, z.B. an denen der Verfassung. Immer handelt es sich um — oft sehr eingreifende, weitreichende - Entscheidungsvorgänge in Bindung an das, was „geltendes Recht" heißt. Und was tun sie real, indem sie all das tun? Real sehen wir sie lesen und schreiben bzw. unterschreiben, hören wir sie sprechen und haben sie zuvor beim Zuhören beobachten können - jedenfalls hoffen wir das. Also immer sprachliche und schriftliche Tätigkeiten; also Text, Text und Text. Unter diesem Ausdruck verstehe ich dabei nicht nur eine „grammatisch verknüpfte Satzfolge" - d.h. nicht nur syntaktisch das Verhältnis der Zeichen zueinander; sondern pragmatisch, für die Relation von Zeichen und Benutzer: eine „komplexe sprachliche Handlung, mit der ein Sprecher bzw. Schreiber eine bestimmte kommunikative Beziehung herzustellen versucht" 5. Das Tun der Juristen ist durchweg Kommunizieren. Sie nehmen Texte auf (die Fallerzählung, die Anträge der Parteien, frühere Entscheidungen zu vielleicht ähnlichen Fällen, Meinungen und Argumente der Fachliteratur und, nicht zuletzt, die Texte der Vorschriften in den Sammlungen und Kodifikationen). Sie rezipieren folglich Texte. Dann deliberieren sie den Streitstand und die Lösungsmöglichkeiten wiederum in Text, z.B. während der Verhandlung im Gerichtssaal oder der Beratung im Richterzimmer. Und sie produzieren dauernd neuen Text: den ihrer Äußerungen im Verlauf des Verfahrens, den der Entscheidungsformel und den ihrer Begründungen. Alles, was sie tun, tun sie in Sprache; und zwar sehr aktiv. Offenbar geht es nicht nur um Verstehen, so wie wenn wir einen philosophischen Traktat oder ein poème en prose von Rimbaud zu „verstehen" versuchen. Sie bringen bei ihrer normalen Arbeit ja notwendig selber Text hervor, dies ist der Kern ihrer Aufgabe. Sie arbeiten dabei auch nicht nur mit Begriffen, sondern auch an Begriffen. Sie „wenden" auch nicht nur „an", interpretieren (als: Verständlichmachen) auch nicht bloß. Sie leisten, durch materielles und durch Prozeßrecht sowie durch Verfassungsgebote gebunden, eine Arbeit mit und an Texten in einer öffentlichen Institution, die durch Staatsgewalt abgestützt ist 6 . 5 Dazu Brinker, Linguistische Textanalyse, 1985, S. 15; s.a. Busse, Textinterpretation, 1992, S. 19, 63 ff., 79. 6

Das Konzept „Verstehen / Interpretieren / Arbeit mit Texten" für die Rechtswissenschaft bei: Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, S. 31 f., 165 f., u.ö.; dems., Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts, 1997; dems./Christensen/Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997. - Für die Sprachwissenschaft schon: Busse, Textinterpretation, 1992, S. 167 ff., 187 ff. m.w.N.; ders., Recht als Text, 1992; ders., Juristische Semantik, 1993, S. 282 ff.

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Mit dem Gebrauch einzelner, nebeneinandergestellter Wörter im Sinn der traditionellen Merkmalssemantik werden sie dabei nicht weit kommen. Was sie aufnehmen, erwägen und aussprechen, sind Sätze; und zwar solche, die systematische Kontexte zu anderen Vorschriften, zu anderen Urteilen und zu Texten der Wissenschaft herzustellen versuchen. Es sind Sätze, die nicht zuletzt als die „Gründe" der Entscheidung in ihrem eigenen Zusammenhang plausibel zu sein haben. Die Aufgaben der Juristen sind hochkomplex und nur mit den anspruchsvolleren - praktischen, zumeist unreflektierten — Arbeitsschritten einer Satz-, Kontext- und Textsemantik einigermaßen zu bewältigen. Schon allein diese vom juristischen Laien nicht geahnte Komplexität verhindert es, die Rolle der Sprache hier nur als die eines Instruments zu sehen. Rechtsarbeit ist durchgehend Textarbeit - „durchgehend" dabei auch in dem Sinn, daß die Zeichenketten - Gesetze, Verfassungsforderungen, (ober)gerichtliche Urteile, normative und informelle Bindungen verschiedener Art - „durch" die Rechtsfälle entscheidenden Juristen „hindurchlaufen". Wenn schon von Instrumentalität die Rede sein soll, dann sind eher noch die Juristen Instrument der Texte. Angemessener könnte man aber die Rolle der Sprache, von der Praxis des Alltags her bewertet, als die eines eröffneten Raumes sehen oder eines Magnetfelds; oder auch einer Arena, in der sich mehr oder weniger zugespitzte semantische Kämpfe um das abspielen, was als Recht im Fall „gelten" soll. Eine Rechtsordnung ist eine riesenhafte Umwälzanlage für Sprache. Hinter ihr steht eine riesige Anhäufung von Staatsgewalt. Diese wird mittels Rechtsarbeit durch und in Sprache „gefaltet", zu symbolischer Gewalt transformiert; und sie wird nochmals weitergehend gebändigt durch die Bindungen des demokratischen Rechtsstaats, auf daß sie nicht mehr naturhafte Gewalt sei, sondern legitime Macht: Durch „Gesetzeskraft" in der Legislative, durch „Bestandskraft " in der Exekutive, durch „Rechtskraft " in der Justiz sollen legitime Haltepunkte, verläßliche Entscheidungen von Konflikten geschaffen werden; von Auseinandersetzungen zwischen einzelnen und/oder zwischen Gruppen, die sonst leicht entgleisen, explodieren, die noch mehr Gewalt aufstacheln könnten. Eine engere Verflechtung von Gewalt und Sprache, als wir sie im Recht erleben, ist kaum vorstellbar. Wenn das Recht, das eine Praxis ist, auch eine Wissenschaft hervorbringen will, muß es seinen Aktionsraum Sprache untersuchen und in seine Arbeit integrieren: Rechtslinguistik als ebenso unumgänglicher Teil juristischer Grundlagenforschung, wie es einzelne Zweige der Sozialwissenschaft sind. Damit stellt sich die Eingangsfrage schon umgekehrt: Wie überhaupt und warum eigentlich so lange ohne Rechtslinguistik?

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Auf der anderen Seite sieht es danach aus, als könne die Sprachwissenschaft nicht so leicht ein anregenderes Beobachtungs- und Arbeitsfeld finden als die Welt des Rechts: zugespitzt aktuelle Rolle der Sprache, verschärfte Bedeutsamkeit von Text dank der Konditionierung durch Gewalt und wegen der Aufgabe, diese in legitime Macht überzufuhren. Seit nicht sehr langer Zeit wird Rechtslinguistik7 betrieben, für beide Wissenschaften wahrhaftig nicht zu früh. Die herkömmliche Abstinenz schadete vor allem dem Recht; denn zu dessen zentralen Forderungen in einer rechtsstaatlichen Demokratie gehören: Tatbestandsbestimmtheit und Rechtssicherheit, gehören Normklarheit, Methodenehrlichkeit und die Gleichheit „vor dem Gesetz", die ja eine tatsächliche Gleichheit vor dem realisierten, dem umgesetzten Gesetz zu sein hat; Gleichstellung vor dem fühlbar werdenden ,law in action' und nicht nur von dem Buchstaben des ,law in the books4 - durchweg Postulate also, die sich an die Sprache des Rechts richten und die nur durch und in Sprache, wenn überhaupt, verwirklicht werden können. Damit sind einige wichtige Ansatzpunkte genannt. Ich vertiefe sie noch auf zwei Feldern: dem der Polysemie und dem des Verhältnisses von Rechtsdiskurs und allgemeinem Diskurs. Also zum einen mit der Frage, ob Recht nicht verbindliche und damit unzweifelhaft klare, sprachlich bestimmte Vorschriften und Entscheide garantieren muß, damit man überhaupt von einem demokratischen Rechtsstaat sprechen kann. Und zweitens: was das Reden unter Freunden, in der Familie, im Betrieb, auf Demonstrationen und wo auch immer, kurz, was das allgemein gesellschaftliche Reden über das Recht an Bedeutsamkeit haben kann; oder ob nicht die bekannten Verdikte „Gesetz ist Gesetz" und „Roma locuta, causa finita" ohnehin das letzte Wort behalten. „Polysemie" meint die Mehrdeutigkeit von Wörtern. Die Beispiele aus dem Schulunterricht lassen eher an amüsante Ausnahmen denken: „Strauß" ist der Vögel, das Blumengebinde, ist - zwar veraltet, in Restbeständen aber z.B. noch redensartlich benützt - der Streit, der Kampf. „Bulle" ist das erwachsene männliche Rind, ist eine bestimmte Art von Siegel, ist ein päpstlicher Erlaß, eine kaiserliche Urkunde und dann noch etwas, das aus Gründen des Strafrechts 7 Nach dem Versuch interdisziplinärer Zusammenarbeit im „Darmstädter Programm" (dazu Busse, Juristische Semantik, 1993, S. 140 ff.) - v.a. Rave / Brinckmann / Grimmer (Hrsg.), Logische Struktur von Normsystemen am Beispiel der Rechtsordnung, 1971; dies. (Hrsg.), Paraphrasen juristischer Texte, 1971; dies. (Hrsg.), Syntax und Semantik juristischer Texte, 1973; Brinckmann / Grimmer (Hrsg.), Rechtstheorie und Linguistik, 1974 - seit Ende der 80er Jahre die Beiträge der „Heidelberger Gruppe"; z.B. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1989\ Jeand'Heur, Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989; Christensen, Gesetzesbindung oder Bindung an das Gesetzbuch der praktischen Vernunft, in: Meilinghoff / Trute (Hrsg.), Die Leistungsfähigkeit des Rechts, 1988, S. 95 ff.; Busse, Recht als Text, 1992; ders., Juristische Semantik, 1993; Müller, Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts, 1997; ders. / Christensen / Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997.

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nicht ausdrücklich erläutert wird. Dieser scheinbare Status polysemer Ausdrükke als Kuriosa verharmlost allzusehr. Denn über das einzelne Wort hinaus sind Sätze und Texte in natürlicher Sprache zumindest oft zwei-, häufig auch mehrdeutig. Und die Sprache des Rechts ist eine (durch Fachtermini angereicherte und spezialisierte) natürliche Sprache. Auch die Gesetze sind in natürlicher (Fach-)Sprache verfaßt. Sie verpflichten alle Betroffenen, alle Teilnehmer am gesellschaftlichen Zusammenleben zu einem je bestimmten Verhalten in je bestimmten Lagen. Diese Orientierung geschieht laienhaft, nach groben, aber gewöhnlich ausreichenden Kriterien. Zum Glück sind ja nicht alle Menschen Juristen. Wer nicht stehlen will, wird tatsächlich nicht „stehlen"; seine „Parallelwertung in der Laiensphäre" kann dafür ausreichen, auch wenn er von den ausgedehnten Erörterungen über die einzelnen Merkmale des Diebstahltatbestandes keine Ahnung hat, auch wenn er diesen mit Unterschlagung, mit Veruntreuung, mit Untreue oder gar mit Betrug verwechselt - er wird nicht zum Dieb werden. Die Halt gebende Funktion der natürlichen (Rechts-)Sprache genügt im allgemeinen für die eine Aufgabe des positiven Rechts, „ethisches Minimum" (nach der Formulierung Georg Jellineks) zu sein. Anders steht es mit einer zweiten Funktion: zum verbindlichen Ausgangspunkt für die Expertenarbeit der Juristen mit Blick auf fachliche Rechtsfragen oder einen förmlichen Rechtsstreit zu werden. Wäre das anders, bräuchte man keine Juristen, die Kenntnis der Landessprache würde ausreichen. So aber gibt es über jeden der Ausdrücke, mit denen das Gesetz „Diebstahl" umschreibt, spezielle Literatur und Judikatur - für gesetzliche Tatbestandselemente der bekannte, nur für Laien verwunderliche Normalfall. Angesichts der Unbeherrschbarkeit künftiger Situationen wie nicht zuletzt auch künftiger Redeweisen ist es ein frommer Wunsch (dem die Tradition der Rechtstheorie allerdings in die Falle gelaufen ist), ein für alle Mal die Bedeutung von „fremde bewegliche Sache", den Begriffskern von „wegnehmen", das Sinnzentrum von „zueignen" in einem Ausdruck zu fixieren. Was die juristische Dogmatik statt dessen zu jedem dieser Terme anbietet, sind Gebrauchsbeispiele, sind Bedeutungen - eben Belege für Polysemie. Als Rechtssprache hat die natürliche Landessprache ihre Unschuld verloren; sie bleibt allerdings natürliche Sprache mit allem, was daraus folgt. So erstaunt es nicht, daß in derselben Rechtsfrage man denke aktuell an die Rechtschreibreform und an die schon kaum mehr einzeln zur Kenntnis genommenen widersprechenden Urteile der Verwaltungsund Oberverwaltungsgerichte 8 - daß also in derselben juristischen Streitfrage 8 In den Medien werden sie inzwischen in Form von Fußballergebnissen (8:5 auf der Ebene der Verwaltungsgerichte, 4:2 auf jener der Oberverwaltungsgerichte) zusammengefaßt. - Dem liegt zugrunde (Stand Anfang November 1997): Die Notwendigkeit der Gesetzesform dafür, die neue Rechtschreibung einzuführen, bezweifeln oder verneinen die Verwaltungsgerichte Schleswig, Weimar (24.7. und 30.7.), Mainz, Greifswald, Freiburg, München, Pots-

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die Standpunkte der beteiligten Anwälte, Gutachter, Gerichtsinstanzen differieren; von den Klägern und den Beklagten sowieso zu schweigen. Es ist nicht erstaunlich, daß die Rechtsansichten oft auch bei angeblich „klaren" Texten unvereinbar auseinanderdriften. Die Antworten auf die Frage, wann, wo und durch wen die fraglichen Texte denn nun „richtig ausgelegt" worden seien, füllen Lehrbücher, Kollegskripte, Aktenordner, füllen Monographien, Zeitschriften und Entscheidungssammlungen bis zum Rand. Das gesamte Juristenuniversum rotiert unablässig kraft dieses (sprachphilosophisch gesagt) Differenzcharakters juristischer Textarbeit. Die oft harten Folgen der Mehrdeutigkeit beginnen massiv schon bei den Tatsachen, die dem Fall zugrunde gelegt werden sollen9: „Was ist überhaupt geschehen?" - laienhaft formuliert durch die direkt Beteiligten und, in je verschiedenen Sprachspielen, durch Zeugen, Versicherungen, Polizei, Strafverfolgungsbehörden; schließlich durch Prozeßvertreter, gegebenenfalls durch Gutachter, und durch die Gerichte. Die weiteren Fragen „Wer kann die wirkungsvollere Anwaltskanzlei bezahlen?" und „Wer überzeugt vor allem die abschließende Instanz?" bilden dabei das ideell störende, dafür aber umso realere Hintergrundrauschen für vielleicht im einzelnen recht subtile semantische Nuancierungen von Gesetzesbegriffen. Auch wo alles mit rechten Dingen zugeht, setzt sich im Ergebnis die Interpretation des institutionell Stärkeren durch, des prozeßrechtlich höchstplazierten Gerichts (bei Beilegung durch Vergleich unter den Beteiligten im Zweifel die des gesellschaftlich Stärkeren). Dieses übt kompakte Macht aus, wenn auch (im guten Fall) rechtlich abgestützte - aber eben nach seiner „Bedeutungs"-variante, nach seiner „Sinn-"version, welche die der anderen ausschließt. Doch auch noch in der höchsten Instanz kann „der" Sinn umschlagen, kann „die" Bedeutung kippen. Ein auffallendes neueres Beispiel bietet die Rechtsprechung zur Strafbarkeit von Sitzblockaden der Friedensbewegung. Dabei dam; dagegen verlangen ein Gesetz die Verwaltungsgerichte Wiesbaden, Hannover, Gelsenkirchen, Dresden, Hamburg. (Alle Entscheidungen ergingen 1997; es handelte sich in den Verfahren um Eilanträge von Eltern betroffener Schüler.). - Auf der Ebene der Oberverwaltungsgerichte bezweifeln oder verneinen einen gesetzlichen Regelungsbedarf: Kassel (Hessen), Hamburg; verneint nur das Recht zu vorzeitiger Einfuhrung: Lüneburg (Niedersachsen). Sogar dieses Recht wird bejaht von Schleswig (Schleswig-Holstein). - Das OVG Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern) verneint den Eilbedarf einer Entscheidung pro oder contra. — Nur das OVG Bautzen (Sachsen) verlangt eine Einfuhrung der Reform per Gesetz (alle Entscheidungen 1997). - Rechnet man die (damals noch) anstehenden Judikate hinzu (Berlin, Karlsruhe, dreimal Stuttgart, zweimal Köln für die VGe, Nordrhein-Westfalen und RheinlandPfalz für die OVGe sowie Entscheide des Bundesverfassungsgerichts), so werden sie die bezifferten Oppositionen langsam Handballergebnissen annähern. — Anschauungsunterricht über widersprüchliche Judikatur der Obersten Gerichtshöfe des Bundes — v.a. aus dem Sozialrecht, aber auch aus anderen Justizzweigen - jetzt bei Amberg, Divergierende höchstrichterliche Rechtsprechung, 1998. 9

Dazu etwa die aufschlußreiche Studie von Seibert, Aktenanalyse, 1981.

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geht es bekanntlich um den Tatbestand der Nötigung (§ 240 StGB): „Wer einen anderen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung ... nötigt ...". Da Drohung ausschied, fragte es sich, ob das Verhalten der Demonstranten: sich hinsetzen, sich ohne Gegenwehr von Polizisten wegtragen lassen, als „Gewalt" eingestuft werden konnte 10 . Die Tradition seit den Tagen des Reichsgerichts verlangte dafür den „Einsatz physischer (körperlicher) Kraft". Mit dem Anwachsen ziviler Protestbewegungen seit Ende der 60er und während der 70er Jahre, vor allem gegen Atomanlagen11 und gegen Auf-, Nach- und Totrüstung im späten Kalten Krieg, wuchs auch die Versuchung für Teile der Justiz, bei einer gewissen Kriminalisierung von zivilem Protest mitzumachen - hier durch Ausdehnen des Gewaltbegriffs, feinsinnig als dessen „Vergeistigung" bezeichnet. Diese wurde zunächst12 in zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gebilligt; dann aber Anfang 1995 im sogenannten GroßengstingenBeschluß abgebrochen. Eine Mehrheit der Richter beurteilte nun diese Begriffsausdehnung - und damit die Kriminalisierung - als verfassungswidrig. Seitdem müssen die damals rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren (nach Agenturmeldungen rund zehntausend) wieder aufgegriffen und neu entschieden werden. Die Widersprüchlichkeit der Judikatur zur Rechtschreibreform — ist diese Reform als „wesentliche" Entscheidung dem Parlament vorbehalten 13 oder nicht? - treibt jetzt auch auf einen Entscheid des Bundesverfassungsgerichts zu — wie zuvor zu „Gewalt". Eine Parallele in Frankreich besteht zur Zeit etwa in der Frage, ob die Scientology als „religion" anzuerkennen sei. Dazu gibt es bereits widersprüchliche Instanzurteile, am Ende wird der Conseil Constitutionnel den Sinnknoten durchschlagen müssen.

10

Vgl. dazu Busse, Der Bedeutungswandel des Begriffs „Gewalt" im Strafrecht. Über institutionell-pragmatische Faktoren semantischen Wandels, in: ders. (Hrsg.), Diachrone Semantik und Pragmatik. Untersuchungen zur Erklärung des Sprachwandels, 1991, S. 259 ff. m.w.N.; Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, S. 228 ff. m.w.N. 11 In der euphemistischen offiziösen Sprachregelung: „kerntechnische Anlagen". Dazu eingehend Strauß /Haß /Harras, Brisante Wörter (Schriften des Instituts für deutsche Sprache, Bd. 2), 1989, S. 430 ff.: »„Kern-4 wird besonders aufwertend und in Verbindung mit Ausdrücken verwendet, die die Erforschung und den weiteren Ausbau der Atomenergietechnik, ihre wirtschaftlichen Vorteile, ihre Beherrschbarkeit und Umweltfreundlichkeit betonen. ... Kern- kann verwendet werden, um Gegenstände, Institutionen, Personen und deren Meinungsäußerungen als besonders objektiv, rational, wissenschaftlich und von Gefühlen unbeeinflußt zu charakterisieren ..." 12 13

BVerfGE 73, 206 ff.; 76, 211 ff.; 92, 1 ff. - Großengstingen.

Gemäß dem von der Rechtsprechung formulierten Parlamentsvorbehalt ist der Gesetzgeber verpflichtet - losgelöst vom Merkmal des „Eingriffs" - in der Normierung eines Sachbereichs, vor allem an grundrechtsgeschützten Punkten, alle „wesentlichen" Entscheidungen selbst zu treffen. Wann und inwieweit das der Fall sei, lasse sich aber nur angesichts des jeweiligen Sachbereichs und der Intensität der fraglichen Regelung angeben. Weitergehend verallgemeinerungsfähige Maßstäbe liefert diese Formel anscheinend nicht.

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Nun stehen zwar auch Wörterbücher in den Beratungszimmern der Gerichte. Aber „Religion", „Gewalt", „wesentlich" sind nicht so einfach auf die je eine „richtige Bedeutung" hin abzufragen: Die Gretchenfrage (wie man es mit der Religion halten wolle) hat auch eine linguistische Seite; zum Stichwort „Gewalt" umfaßte schon das Grimmsche Wörterbuch vom Anfang des Jahrhunderts 14 185 Spalten an Gebrauchsbeispielen aus der damaligen Verwendungsgeschichte dieses Terms; und weiß der Verwaltungs- oder der Verfassungsrichter, wie er mit der Rechtschreibreform zu verfahren habe, wenn er im Wörterbuch unter „wesentlich" findet: „bedeutsam, wichtig, den Kern der Sache treffend, grundlegend"? Er weiß es nicht; und das liegt nicht an einer etwaigen Boshafitigkeit, absichtlich ein ,besonders vieldeutiges' Wort gewählt zu haben. Die seit Piatons Ideenlehre beliebten Vorzeigewörter einer realistischen Bedeutungstheorie von der Art von „Tisch", „Pferd", „Haus" stehen ebensowenig in unseren Gesetzestexten wie etwa „Katze" oder „Kaktus" - wobei bekanntlich auch scheinbar „ganz klare" Begriffe niemals ganz frei von Unsicherheitsfaktoren sind. Statt dessen wimmelt es in unseren Rechtskorpora von Termen nicht nur wie „Treu und Glauben" oder „gute Sitten" (ihrerseits Vorzeigebegriffe für weitgespannte Vagheit) oder eben wie „Gewalt", „wesentlich" oder „Religion", sondern unabsehbar häufig von „Gefahr", „erforderlich", „zumutbar", „Schaden", „angemessen", „Vorsatz", „Fahrlässigkeit", „Verschulden", „Kunst", „Gewissen", „rechtswidrig", „öffentliches Interesse" und so fort. Diese Auswahl kann ruhig zufallig und unvollständig sein, da sie charakteristisch ist. Und wenn schon einmal - im Nachbarrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs (§§ 910, 911 BGB) - „Baum oder Strauch" dasteht, wird es nicht nur gleich wieder zur Streitfrage, wie man es mit dem herüberragenden Baumstamm zu halten habe. Denn nicht nur sind die beruhigenden Sprachzeichen „Baum", „Strauch" (auch „Zweige", „Wurzeln") in den genannten harmlosen Paragraphen von Kautelen angekränkelt, wie „Dem Eigentümer steht dieses Recht nicht zu, wenn ...", „Diese Vorschrift findet keine Anwendung, wenn ..."; sondern auch schon wieder von fragwürdigen Elementen umgeben, von der Art von: „angemessen", „beeinträchtigen", „gelten", „dem öffentlichen Gebrauch dienen" - kurz, von Termen, die uns wieder auf den deutlich rauheren Wurzelboden der /tec/tfslinguistik zurückholen. Woran liegt das? Es geht den §§ 910, 911 BGB eben nicht um das Festlegen der Semantik von „Baum, Strauch, Zweig, Wurzel". Es geht um Interessenabgrenzung unter Nachbarn, um einen Ausgleich zwischen Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit, von Privatnützigkeit und öffentlichem Nutzen, von Rechtmässigem und Widerrechtlichem, es geht in nuce auch schon um Ersatzvornahme und Verursacherprinzip. Wir sind mitten in der Rechtsordnung und ihrer Funktion. Isolierende Wortsemantik - und die kann umstreitbar genug sein 14

Band 6 von Wunderlich , Leipzig 1911, Sp. 4910 ff.

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hilft nicht weiter; gefordert sind Satz-, Kontext- und Textsemantik und nicht zuletzt Referenzsemantik (wie sie Bernd Jeand'Heur paradigmatisch entwickelt hat), die Semantik des sprachlichen Sich-beziehens auf Partikel der Realität. Einen Rechtsfall kann man nur mit Sätzen entscheiden, mit herzustellenden Kontexten und mit (z.B. vom Gericht) zu produzierendem Text; und nicht mit vereinzelten, merkmalssemantisch hin und her gewendeten Ausdrücken. Das zeigt auch das Ausgangsbeispiel: Die Rechtschreibreform ist hinreichend / nicht hinreichend „wesentlich", also laut Wörterbuch „bedeutsam, wichtig" - aber wofür? Für das Behördendeutsch? Für den Verband deutscher Schriftsteller? Für die ABC-Schützen? Sie betrifft laut Wörterbuch „den Kern der Sache" welcher eigentlich? Der des Schulunterrichts? Oder der Kulturnation Deutschland? Oder der Umgangssprache? Sie ist, nochmals gemäß Wörterbuch, „grundlegend" - aber wofür? Für die sogenannte Reinheit der Sprache? Oder für das Verhältnis von Bund und Ländern? Oder für die institutionelle Balance zwischen Exekutive und Parlament? Ich sagte, als Rechtssprache ist die natürliche Sprache ihrer Unschuld beraubt, ohne doch ihren Status zu überschreiten. Manches von dem, was Juristen unbeliebt macht, erklärt sich schon hieraus: nämlich, daß sie Haarspalter seien oder Rechtsverdreher oder Buchstabenfetischisten. Das und anderes folgt aus ihrer unbequemen Stellung - eingeklemmt zwischen einerseits ihrer gesellschaftlichen Aufgabe und amtlichen Entscheidungspflicht mit dem normativen Erfordernis der Bestimmtheit, und auf der anderen Seite der nicht-formalisierten Sprache mit ihrer naturwüchsigen Polysemie. Nicht zuletzt: Im demokratischen Rechtsstaat von der Art des Grundgesetzes ist die Justiz unabhängig und deshalb — vor dem Hintergrund der 'Natürlichkeit' der Rechtssprache - „konstitutionell uneinheitlich" 15 . In der Rechtsgeschichte gibt es denkwürdig gescheiterte Versuche, die Judikatur auf einer einzigen Linie, auf jener der Obrigkeit, zu halten: der erste zeigt sich in den Interpretationsverboten von Justinians Corpus Iuris, also im bürokratisch-absolutistischen Kaiserreich der römischen Spätzeit. Entsprechend war im deutschen Bereich das preußische Allgemeine Landrecht (ALR) von 1794 mit seinen Abertausenden von minutiös unterscheidenden, zwanghaft aufzählenden Tatbeständen der Versuch, die gesellschaftlichen Verhältnisse durch Stillstellen des Rechtsdiskurses zu beherrschen: nicht zufällig ein Werk des (durch Ideen von Kodifikation, Rationalität und System 15

So folgerichtig und in dankenswerter Deutlichkeit das Bundesverfassungsgericht: „Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen (Art. 97 Abs. 1 GG). Ein Gericht braucht deswegen bei der Auslegung und Anwendung von Normen einer vorherrschenden Meinung nicht zu folgen. Es ist selbst dann nicht gehindert, eine eigene Rechtsauffassung zu vertreten und seinen Entscheidungen zugrunde zu legen, wenn alle anderen Gerichte - auch die im Rechtszug übergeordneten - den gegenteiligen Standpunkt einnehmen. Die Rechtspflege ist wegen der Unabhängigkeit der Richter konstitutionell uneinheitlich"; BVerfGE 87, 273 (278); vgl. dazu auch schon BVerfGE 78, 123.

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aufgeklärten) Absolutismus. Die Kehrseite solcher Normtextfluten mußte ein Interpretationsverbot sein; mit diesem brachte sich das ALR auf den Begriff. Daß der Sache nach durch die angeordnete Rückfrage, in Zweifelsfallen, an die köngliche Gesetzgebungskommission nichts an der Sprachlichkeit des Rechts, an seiner Sprachverfallenheit geändert werden konnte, sondern nur der Ort, an dem die semantischen Kämpfe (statt vor dem einzelnen Prozeßgericht) stattfanden, kam noch nicht zum Bewußtsein - sowenig wie beim französischen Gegenstück, dem kurzlebigen Institut des référé législatif der Revolutionszeit. Das ALR war, gemessen an den Mitteln der Epoche, beinahe eine Art formalisierter Rechtssprache, um der natürlichen ihre (sprachlichen und damit sozialen und politischen) Spielräume an Unbestimmtheit, an Möglichkeiten zu nehmen. Im demokratischen Rechtsstaat mit unabhängiger Justiz schlägt dagegen die Polysemie der natürlichen (Rechts-)Sprache vor aller Augen durch, und die praktischen Juristen haben alle Hände voll zu tun, ihre anarchieverdächtigen Folgen durch hartnäckige Begriffsarbeit abzumildern. Angesichts all dessen hält sich vielleicht auch der Spott der Nichtjuristen darüber in Grenzen, daß es inzwischen eine konsolidierte Rechtsprechung auf dem Gebiet des Gartenzwergerechts gibt, bis zur Ebene der Oberlandesgerichte einschließlich16; wie es sich gehört, mit zentraler ehtischer Codierung: Gartenzwerge sind demnach „Symbole der Engstirnigkeit und Dummheit". Ferner mit dem gewohnten begrifflichen Feinschliff: Gartenzwerg ist nicht gleich Frustzwerg; handelt es sich doch bei den letztgenannten „um solche, die verschiedene, für einen Gartenzwerg untypische Posen und Gesten einnehmen". Frustzwerge sind „tönerne Stellvertreter", zur Ehrverletzung von Nachbarn bestens geeignet: „Es macht daher keinen Unterschied, ob der Bekl. sich selbst vor das Haus des Kl. gestellt hätte, um diesem beispielsweise ..." - folgen diverse nachbarliche Äußerungen von Mißachtung, die das Gericht getreulich aufzählt. Da dies „dem Bekl. aus naheliegenden Gründen nicht permanent möglich" sei, habe „er sich entschlossen, die hier streitgegenständlichen Zwerge zu schaffen und diese für ihn ,handeln' zu lassen". Ergebnis: Die Verurteilung des „Frustz wergenschöpfers" 17. Diese Verurteilung ist dann für den betroffenen Kreativen nicht mehr spaßig. Juristische Textarbeit, Semantisierung durch Rechtsarbeiter ruht auf einem vom Staat instituierten Gewaltverhältnis auf, führt zu einem abrupten (de-cisio) Abschluß. Die Gegenüberstellung der Parteien und ihres Redens im Rahmen des Prozesses, im Kraftfeld differenter Sprache wird autoritativ abgeschnitten. Der Richter lauscht und liest nun nicht mehr. Er setzt seine Sinnversion durch, setzt seinen Text (Tenor und Gründe, mündliche Erläuterung) an die Stelle aller 16

OLG Hamburg, NJW 1988, 1053; ebd. das im Text folgende Zitat.

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AG Grünstadt, NJW 1995, 889.

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anderen: des Gesetzes, der Parteien, der Lehre und Judikatur. Der Richter spricht jetzt aus, diktiert und signiert. All das tut er in Sprache. Sein ihm (i.S. von Heidegger) „zuhandenes" Werkzeug könnte nur eine algorithmisch formalisierte Gesetzes-, Prozeß- und Entscheidungssprache sein, die er (jedenfalls noch) nicht hat. Was er „hat", ist die natürliche Rechtssprache; und diese „hat" zugleich auch ihn angesichts aller Bedingtheiten, Hemmnisse, Erschwernisse, aller Formen von Bindungen der richterlichen Gewalt. Diese Last und Verantwortung kann er nicht auf die Linguisten abwälzen, sowenig wie auf etwa herangezogene technische oder sozialwissenschaftliche Experten (Prozeßgutachter). Auch bei noch so meisterhafter Beherrschung des Blätterns im Wörterbuch wird er nicht die richtige Bedeutung für seinen konkreten Rechtsfall finden können. Er wird sie in der Situation, die das Verfahren schafft, festlegen müssen. Und dafür wimmelt es von Regeln: demokratisch-rechtsstaatliche als Verfassungsforderungen, verfahrensbezogene als Prozeßrecht, wissenschaftspraktische als methodologische Standards. Für Willkür gibt es keine Lizenz. An dieser Stelle kann eine Rechtslinguistik18 ansetzen, die nicht zur Hilfswissenschaft degradiert wird; nicht länger zum Hilfssheriff von Juristen ernannt, die sich von ihr gerne die altgewohnten Erbauungsbilder der hausgemachten Juristen-Linguistik sowie verbreitete alltagstheoretische commonsense-Annahmen (realistische Bedeutungskonzepte, festes Sinnzentrum, bestimmbare „Grenze der möglichen Auslegung" usw.) bestätigen lassen möchten. Also nicht auf dem Weg zu den Akten zu nehmender Expertengutachten; nicht auf die Art von additiven Sozio-, Psycho- und sonstigen Linguistiken. Weder „ist" das Recht „etwas" im außersprachlichen Bereich, das in der Folge „nur in Sprache auszudrücken" wäre. Noch ist die Sprache ein neutrales, technisch benutzbares Zeug. Sprache ist überhaupt nichts feststehend Vorgegebenes; sie vollzieht sich - im Gebrauch, besser: als Gebrauch (sie ist nicht „Ergon", sondern „Energeia", nach Wilhelm von Humboldts schönem Wort 19 ). Auch das 18 Zu deren Programm außer den oben in Fn. 1,4 und 7 genannten Titeln jetzt: Müller, Einige Grundfragen der Rechtslinguistik, in: ders., Methodik, Theorie, Linguistik des Rechts, 1997, S. 55 ff. 19 „Die Sprache, in ihrem wirklichen Wesen aufgefaßt, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, daß man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische sein. Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen"; von Humboldt, Einleitung zum Kawi-Werk. Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: ders., Schriften zur Sprache, 1973, S. 30 (36). - Zu diesem Zusammenhang für die Rechtswelt s.a.: Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, S. 160 ff. u.ö.; dens. / Christensen / Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997.

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,law in action4 wird vollzogen: Es ist Handeln, und dieses Handeln gibt es nur in, nur als Sprache — es ist eine Sonderform von kommunikativem Handeln. Strukturierende Rechtslehre und Praktische Semantik setzen daher paradigmatisch neu an. Rechtslinguistik hat hier die Aufgabe einer „integrale(n) Analyse der juristischen Argumentation als semantischer Praxis" 20 . Sie hätte weder als ancilla jurisprudentiae noch als weitere Bindestrich-Disziplin auf längere Sicht viel Chancen; als integrative wissenschaftliche Bemühung im Sinn einer Theorie der Praxis kann sie eine Zukunft haben. Von ihr können die Juristen, neben dem Gesagten und neben vielem anderen, auch lernen, daß das, was sie tun, das Recht, (nur) ein Sprachspiel unter anderen ist; und nicht einmal das, welches das letzte Wort behalten wird. Nach der rechtskräftigen Entscheidung dürfen die Beteiligten, ja alle Interessierten, weiter darüber debattieren; darf die Linguistik dazu forschen und damit die Frage gerade offen halten - obwohl das oberste zuständige Gericht soeben entschieden hat, der Begriff x im Gesetz y bedeute dies und nichts anderes. Juristische Kompetenz verleiht nicht auch zugleich linguistische im Sinn einer Letztentscheidung. Alle Menschen sind geborene Spracher. Individuell wie kollektiv werden staatliche Akte vom Gesetz bis zum Endurteil kommentiert, nachgekartet, verteidigt, bekämpft. Die Staatsgewalt kann den Diskurs nur im Rahmen ihrer Verfahren und nur gewaltsam anhalten - durch Gesetzeskraft, Bestandskraft, Rechtskraft. Diskursiv anhalten kann sie ihn nicht. Schon das bloße Interpretieren, sei es eines Gesetzes, sei es eines Urteils, hat unausweichlich ein semantisches Verschieben zur Folge. Der Diskurs der (Fach-)Wissenschaften wie jener der Teilnehmer am Rechtsverkehr hat oft auch förmliche Rückwirkungen: Gesetze werden geändert, ergänzt, aufgehoben; Gerichte ändern in künftigen Fällen ihre Judikatur. Und auch wo es nicht - oder solange es noch nicht - soweit kommt, lohnt es sich, darüber nachzudenken, warum wohl ein Praktikerkommentar zum geltenden Recht auch ohne neuen Federstrich des Gesetzgebers (bzw. auch in den Teilen, in denen die Legislative zur Zeit nichts geändert hat) schon nach einiger Zeit veraltet ist: Weil die am Rechtsverkehr beteiligten Betroffenen, hier besonders die den Rechtsbetrieb tragenden Fachinstanzen und Fachleute, weil Behördenpraxis, Judikatur, Wissenschaft und die Teilnehmer an den Diskussionen der Rechtspolitik beständig anhand auch unveränderter Normtexte schreiben und sprechen - und das heißt eben immer auch: weil sie Schrift und Sprache hierzu verschieben, weil sie anders sprechen und schreiben. Staatsgewalt behauptet allenfalls die Herrschaft über die gesellschaftlichen Verhältnisse, nicht aber gewinnt sie sie über den 20 Müller, Juristische Methodik, 7. Aufl. 1997, S. 186 ff., 189. - Zum Verhältnis von Praktischer Semantik und Strukturierender Rechtslehre vgl. etwa Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 189 ff. sowie weitere Nachweise bei dems., Juristische Methodik, S. 162 f.

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allgemeinen Diskurs der Gesellschaft. 21 Je nachdem, ob rechtsstaatliche Garantien gelten oder nicht, ist dieser auch öffentlich oder teils privat, teils klandestin; auf längere Sicht haben ihn Diktaturen noch nie überstanden. Hier wie dort hat die oberste Stelle, z.B. ein Verfassungsgericht, nur im besonderen juristischen Sprachspiel entscheiden können, nicht aber „für" oder „über" ein vorgeblich zum Objekt zu machendes Etwas namens „die Sprache". Zur letzten Jahrhundertwende wurde einem Reichsgerichtsrat von einem der Besucher seines Hauses ins Stammbuch geschrieben: „Du judizierst, und das ist wichtig, rechtskräftig stets und darum richtig". Die informierte Ironie dieses Eintrags öffnet in einem knappen Wort das nur scheinbar Definitive eines „Richtigen", das allein auf Amtsgewalt beruhen kann. Denn da sind ja noch Sprache und Sprecher. Der allgemeine Diskurs geht über den des Rechts hinaus; und er kann ändernd wieder in diesen zurückführen. Das Movens solcher Kreisläufe ist nicht das Recht als etwas angeblich Außersprachliches; es ist die natürliche Sprache. Sie bleibt die Unruhe im Uhrwerk eines institutionell noch so verfestigten Rechtsbetriebs. Hinter einem Text, auch dem Rechtstext, ist das Unerwartetste möglich; wie hinter einem Gesicht. Die Sprache bleibt so unfaßlich, weil der Andere da ist, und weil auch er spricht. Wäre nur Bernd Jeand'Heur noch da, damit wir, de vive voix, das Gespräch mit ihm fortsetzten!

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Zum ganzen ebd., S. 330 ff.

Weimar - von der Krise der Theorie zur Theorie der Krise Von Bernhard Schlink

Zwei Ereignisse haben die deutsche Staatsrechtswissenschaft in diesem Jahrhundert entscheidend geprägt: der sog. Methoden- und Richtungsstreit in der Weimarer Republik und die Einführung weitreichender verfassungsgerichtlicher Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht mit dem Bonner Grundgesetz. Die entscheidende Bedeutung des zweiten Ereignisses liegt auf der Hand; Staats- und Verfassungsrechtswissenschaft stehen mit und ohne Gegenüber eines Staats- oder Verfassungsgerichts, was die theoretische oder praktische Ausrichtung, die Methoden und Themen angeht, unter völlig verschiedenen Vorzeichen. Die Bedeutung des Methoden- und Richtungsstreits liegt nicht in gleicher Weise auf der Hand. Manche seiner Inhalte und Ergebnisse sind durch die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit auch erledigt. Aber immer dann, wenn die staats- und verfassungsrechtliche Entwicklung krisenbedroht oder sogar -betroffen ist, wächst wieder das Interesse am Weimarer Streit. Dabei gilt es besonders Carl Schmitt, geht aber fehl, wenn es ihn allein meint und die andere Position nicht sieht. Erst in seinem gesamten Spektrum bringt der Weimarer Methoden- und Richtungsstreit den Ertrag, der ihm bleibende Bedeutung gewährleistet. I.

Wenn eine Wissenschaft um neue Methoden ringt, dann sind die alten brüchig geworden. Wenn sie sich um eine Neubestimmung der Richtung bemüht, die sie einschlagen soll, dann hat die Richtung, die bislang verfolgt wurde, ihre Evidenz und orientierende Kraft verloren. Die Wissenschaft befindet sich in einer Krise. Der Methoden- und Richtungsstreit in der Weimarer Republik wurde denn auch im Bewußtsein und unter dem Stichwort der Krise geführt. Von der Krise redeten mit Kaufmann, Schmitt, Smend und Heller vor allem die Vertreter der * In ergänzter, englischer Fassung ist der Beitrag Teil der Einleitung des vom Autor zusammen mit A.J. Jacobson herausgegebenen, 2000 erscheinenden Bands „Weimar - a Jurisprudence of Crisis".

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Staatsrechtswissenschaft, die sich gegen die aus dem Kaiserreich überkommenen wissenschaftlichen Traditionen wandten. Aber auch den Vertretern dieser Traditionen, die im Weimarer Spektrum der wissenschaftlichen Meinungen die dominierende Position behaupteten, war die Situation als eine Situation des Wandels und des Umbruchs bewußt. Bei ihnen findet das Bewußtsein weniger einen kämpferischen als einen resignativen Ausdruck. Anschütz, der prominenteste Traditionalist, sah in den neuen Strömungen alte Auffassungen wiederkehren, die er bis dahin als überholt und überwunden angesehen hatte. „ M i t einem Male muß ich mir jetzt sehr altmodisch vorkommen, wo ich früher den Fortschritt zu vertreten meinte. Die Welt wandelt sich."1 Daß die Krise der Staatsrechtswissenschaft mit den Veränderungen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens zusammenhing, die der Erste Weltkrieg mit sich gebracht hatte, war ebenfalls allgemein bewußt. Darüber, wie dieser Zusammenhang zu begreifen sei, gingen die Ansichten allerdings auseinander. Nur selten wurden die realen Faktoren der Veränderungen untersucht, die soziale Lage und die ökonomischen und politischen Chancen von Bürgertum, Arbeiterschaft und Adel vor, in und nach dem Weltkrieg, die jeweilige Macht und Rolle von Militär und Bürokratie, und wurde die Bedeutung dieser Faktoren für die Situation des Staats, seiner Verfassung und auch seiner Wissenschaft realwissenschaftlich analysiert. Verbreitet war eine geisteswissenschaftliche Betrachtungsweise, der wichtiger als die Wirklichkeit deren sinn- und werthaftes Erleben war. „Die Erlebnisse, die unser Volk, und wir mit ihm, im Kriege, im Zusammenbruche, in der Revolution und unter dem Versailler Vertrag inner- und äußerpolitisch gehabt hat, haben uns gewaltig aufgerüttelt und zu einer großen Selbstbesinnung geführt. Diese Erlebnisse haben uns den Zwang auferlegt, unsere Gedanken über Recht und Staat einer neuen Prüfung zu unterwerfen." 2 In diesen Worten Kaufmanns ist der Zusammenhang zwischen den Veränderungen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens und der Krise der Staatsrechtswissenschaft in zweifacher Weise vermittelt: Interessant sind weniger die Veränderungen selbst als die Erlebnisse, zu denen sie Anlaß geben, und interessanter als die Erlebnisse ist der Prozeß der staatsrechtswissenschaftlichen Selbstbesinnung und Neuprüfung, den sie auslösen. Aber das Staatsrecht ist zu politisch, als daß die politischen Veränderungen sich in der Staatsrechtswissenschaft nur bei richtiger realwissenschaftlicher Erfassung und Analyse geltend machen würden. Die real- oder geisteswissenschaftlichen, normativistischen und positivistischen oder antinormativistisehen und antipositivistischen wissenschaftlichen Tendenzen der Staatsrechtswissenschaft waren vielmehr ihrerseits Reaktionen auf die politischen Veränderungen, 1

Aussprache, Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer 3 (1927), S. 47. 2

Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfasung, ebd., S. 2 (3).

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verschiedene Versuche, sie zu begreifen und zu bewältigen. Schon die Staatsrechtswissenschaft des Kaiserreichs war auf dessen politische Situation abgestimmt gewesen, auf die spezifische prekäre Machtbalance, zu der das Bürgertum und Monarch und Adel im Kaiserreich gefunden hatten. Nach dem Zusammenbruch dieser Machtbalance mußte eine neue Machtkonstellation gefunden werden. Welche Positionen dabei das Bürgertum behaupten und die Arbeiterschaft erobern konnte, ob bzw. wie sich die Arbeiterschaft in die bürgerliche Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung der Weimarer Republik integrieren ließ oder ob der Bürgerkrieg letztlich unvermeidlich war und es für ihn bereit zu sein galt, wie die Stärke des Deutschen Reichs nach außen wiederzugewinnen und die dafür erforderliche Geschlossenheit im Inneren herzustellen war, ob die Staats- und Verfassungsordnung für die anstehenden Macht- und Verteilungskämpfe einen Rahmen abstecken und Regeln festsetzen oder ob sie nur zum Spielball der Kämpfe werden konnte - diese politischen Grundfragen der veränderten Weimarer Situation haben sich im staatsrechtlichen Methoden- und Richtungsstreit niedergeschlagen. Wie der Zusammenhang zwischen der Krise der Staatsrechtswissenschaft und den Veränderungen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens methodisch zu sehen sei, war selbst ein Element des Streits um die richtigen Antworten auf die politischen Grundfragen. Die Machtbalance des Kaiserreichs und ihr Niederschlag in der damaligen Staatsrechtswissenschaft, Ausgangspunkt für den Weimarer Methoden- und Richtungsstreit, waren das Ergebnis der Niederlage der bürgerlichen Revolution 1848/1849 und der militärischen Erfolge der preußischen Monarchie 1866 und 1870/1871. Danach konnte das deutsche Bürgertum auf eine baldige Durchsetzung seiner Forderungen aus eigener Kraft nicht mehr hoffen. Die Erfüllung seiner unitarischen Forderung mit der Schaffung des Deutschen Reichs und seiner demokratischen Forderung mit der Einrichtung des Reichstags erfolgte durch die Monarchie. Dabei wurden die Forderungen auch nur halb erfüllt oder sogar abgebogen und verkehrt. Die Einheit des Deutschen Reichs leitete sich nach der Verfassung nicht aus der Einheit des Volks, sondern aus einem Bund der Monarchen her, und der Reichstag hatte nicht nur eine vom Monarchen abhängige Regierung, eine monarchische Verwaltung und ein monarchisches Militär zum Gegenüber, sondern mußte auch die Gesetzgebung mit dem monarchischen Bundesrat teilen. Zwar konnten Gesetze nicht ohne und gegen den Reichstag gemacht werden. Zwar gab es während der zweiten Hälfte des Kaiserreichs Parlamentarisierungstendenzen, die den Reichskanzler zunehmend in faktische Abhängigkeit vom Reichstag brachten. Aber insgesamt blieben die Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, die Verantwortung und also auch die Verantwortungsbereitschaft des Reichstags gering. Zur Opposition war das Bürgertum während der zweiten Hälfte des Kaiserreichs überdies aus Angst vor der erstarkenden, in der Sozialdemokratie organisierten Arbeiterschaft immer weniger bereit. Noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts wußte das Bürgertum

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alle fortschrittlichen und revolutionären Energien in sich vereint. Am Ausgang des Jahrhunderts mußte es damit rechnen, statt der Träger allfälliger revolutionärer Veränderung zu sein, deren Opfer zu werden. Die Staatsrechtswissenschaft war im Kaiserreich eine bürgerliche Wissenschaft, eine Wissenschaft bürgerlicher Juristen, und spiegelte die Lage des Bürgertums und deren Wandlungen. Wenn aus dem Gegensatz zwischen Laband, der die Staatsrechtswissenschaft auf die Entfaltung juristischer Begriffe und Konstruktionen und auf die Auslegung des positiven, gesetzten Rechts beschränkte und dabei politische und philosophische Inhalte nachdrücklich ausblendete, und von Gierke, der Staat und Recht als Organismus verstand und diesen Organismus zugleich juristisch, politisch und philosophisch zu durchdringen versuchte, Laband als Sieger hervorging, dann ist das nicht der Sieg des konservativ-monarchischen über das fortschrittlich-demokratische Prinzip, wie gelegentlich vertreten wird. Der Organismusgedanke kann sowohl mit der Forderung, das staatliche Wirken müsse sich aus der Gemeinschaft, aus Leben und Wirken des Volks statt aus dem Willen des Monarchen herleiten, als auch mit autoritären Vorstellungen, die jedem einen festen, engen Platz im Gefüge des Ganzen zudiktieren, einhergehen und schillert entsprechend auch bei von Gierke. Andererseits läßt eine rein juristische, allein auf die gewissermaßen technische Stimmigkeit des Rechts abstellende, positivistische Denkweise von konservativ-monarchischen Legitimationen und Mystifikationen nichts übrig. So sah Laband im Monarchen nur noch den Funktionsträger, im Verhältnis zwischen Monarchen und Beamten und Offizieren nicht mehr ein Treue-, sondern nur noch ein Funktionsverhältnis, im Deutschen Reich statt eines Fürstenbunds die juristische Person etc. Der staatsrechtliche Positivismus begriff die staatlichen Institutionen besonders unter dem Gesichtspunkt der Grenzziehung; die Gesetzgebungsmacht des Reichstags war durch die des Bundesrats begrenzt, aber zugleich war die Macht der monarchischen Verwaltung, Eingriffe in Freiheit und Eigentum der Bürger vorzunehmen, durch das Erfordernis einer gesetzlichen Ermächtigung begrenzt. Damit schützte er die Freiheit des einzelnen Bürgers und der bürgerlichen Gesellschaft gegen den monarchischen Staat; er war insofern individualistisch und liberal. Er nahm die 1871 gestaltete Balance zwischen Bürgertum und Monarch und Adel als gegeben, entkleidete sie einerseits jedes traditionalistisch-monarchisch schönen Scheins und verzichtete andererseits auf jede demokratische, parlamentarische Perspektive. Er gewann so gegenüber den konservativen Kräften eine fortschrittliche und gegenüber den fortschrittlichen eine konservative Qualität. Er konnte, wie die politische Akzeptanz der Balance, mit Resignation über das Scheitern der ursprünglichen bürgerlichen Forderungen, mit unpolitischer Saturiertheit und mit Angst vor einer revolutionären Veränderung des politischen status quo durch das Proletariat einhergehen. Als gegen Ende des Kaiserreichs die Lebensfähigkeit der konstitutionellen Balance angesichts des stetigen Anwachsens der sozialdemo-

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kratischen Wählerschaft, der Torheiten des persönlichen Regiments Wilhelms II. und im Weltkrieg des unkontrollierten und unkontrollierbaren Primats des Militärischen als gefährdet und fragwürdig erfahren wurde, mußte auch der staatsrechtliche Positivismus fragwürdig werden. Die Kritik an ihm, die in der Weimarer Republik voll entfaltet wurde, wurde im späten Kaiserreich vorbereitet und gelegentlich auch schon ausgesprochen. Sie präsentierte sich zum einen antinormativistisch und antiformalistisch. Die positivistische Staatsrechtswissenschaft des Kaiserreichs war zwar auf dessen konstitutionelle Balance abgestimmt gewesen, hatte dieses Abstimmungsverhältnis aber nicht reflektiert. Sie hatte getan, als hätten die Begriffe und Konstruktionen, die sie entwickelte und mit denen sie das positive Recht auslegte und entfaltete, mit den politischen Verhältnissen nichts zu tun, als stünden sie in sich. Sie hatte die Auslegung und Entfaltung der Normen des Staatsrechts mehr unter das Gebot formaler, begrifflich-konstruktiver Stimmigkeit gestellt als unter das einer richtigen Erfassung der politischen Inhalte, der mit den Normen geregelten politischen Konstellationen und Konflikte. Was konnte, so der Vorwurf der Kritik, eine derart verfahrende Staatsrechtswissenschaft zur Bewältigung der politischen Veränderungen, die der Erste Weltkrieg mit sich gebracht hatte beitragen? Nichts? Der Staat und das Staatsrecht werden umgewälzt, und die Staatsrechtswissenschaft kann dazu nichts sagen, muß dazu schweigen? Die Kritik präsentierte sich in der Weimarer Republik zum anderen antiliberal und antiindividualistisch. Die Freiheit des Individuums war für die positivistische Staatsrechtswissenschaft nicht eine politische Mitwirkungs- und Mitgestaltungsfreiheit gewesen, sondern eine apolitische, ab- und ausgrenzende Freiheit, eine Freiheit nicht zum, sondern vom Staat. Was konnte, so wieder der Vorwurf der Kritik, dieser Individualismus und Liberalismus zur Bewältigung der stattfindenden Umwälzungen beitragen? Bedurfte es jetzt nicht der Verantwortung für den Staat statt der Freiheit von ihm, der Einordnung in die Gemeinschaft statt der individualistischen Ab- und Ausgrenzung? Die liberalen Ideen schienen Wert nur für eine Gesellschaftsklasse zu haben, die „nicht selbst im Besitze der Staatsmacht ist, sondern sich mit Hilfe der liberalen Institutionen gegen den Staat und seine Herrschaftsträger zu schützen strebt. Waren sie somit notwendig für das deutsche Bürgertum im Kaiserreich, so verloren sie für ihre Vorkämpfer jeden Sinn in dem Augenblick, da das Bürgertum selbst die Staatsmacht ergriff. In dieser neuen Situation drohten die liberalen Ideen und Einrichtungen sogar zu Waffen gegen das Bürgertum zu werden - zu Waffen in der Hand des Proletariats, da es sich mit Hilfe der liberalen Kautelen gegen Machtmißbrauch schützen und mit Hilfe des parlamentarischen Systems die Teilnahme an der Herrschaft erreichen konnte."3 3

Mayer, Die Krisis der deutschen Staatslehre und die Staatsauffassung Rudolf Smends, 1933, S. 27.

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Das Zitat stammt aus einer Analyse, die von der Krise der Staatsrechtswissenschaft 1931, auf dem Höhepunkt der Krise der Weimarer Republik handelt. Sie sieht das politische System bereits gescheitert, seine sozialen und ökonomischen Grundlagen bereits zerstört. Sie sieht „die staatliche Gemeinschaft verwandelt ... in einem Kampf der sozialen Gegner um die Staatsmacht"4 und die Staatsrechtswissenschaft in diesen Kampf verstrickt. In der Tat war die Staatsrechtswissenschaft am Ende der Weimarer Republik ebenso Staatsrechtswissenschaft in der Krise wie am Anfang. Die kurze Geschichte der Weimarer Republik ist vor allem eine Geschichte ihrer Krisen, und die kurze Geschichte der Staatsrechtswissenschaft in der Weimarer Republik ist es nicht minder. Dabei darf freilich nicht unbeachtet und unerwähnt bleiben, daß Veränderungen der Staatsrechtswissenschaft schon durch die Veränderungen des Staatsund Verfassungsrechts gefordert waren. Auch ohne ihre Krisen stellte die Weimarer Republik die Staatsrechtswissenschaft vor neue Aufgaben. Die Verfassung des Kaiserreichs hatte nur Organisationsrecht enthalten, die Weimarer Reichsverfassung enthielt auch Grundrechte. Die Verfassung des Kaiserreichs hatte in ihrem Organsiationsrecht die Staatsgewalt bei der monarchischen Exekutive belassen und dem Reichstag nur begrenzte Anteile eingeräumt, die Weimarer Reichsverfassung entwickelte ein kompliziertes Zusammenspiel zwischen Reichstag, Reichspräsident und Reichsregierung. Die Verfassung des Kaiserreichs hatte keinerlei Verfassungsgerichtsbarkeit gekannt, die Weimarer Reichsverfassung wies dem Reichsgericht als Staatsgerichtshof immerhin erste verfassungsgerichtliche Kompetenzen zu. Die Staatsrechtswissenschaft hatte mithin mehr Felder zu bearbeiten und war stärker praktisch gefordert, von der Politikberatung bis zur Prozeßvertretung. Seinen Niederschlag fand dies u. a. in der Ablösung des vor allem einem theoretischen Anspruch verpflichteten systematischen Lehrbuchs zum Staatsrecht durch den auf das praktische Bedürfnis zielenden Verfassungskommentar. Augenfälliger Ausdruck des anderen Verhältnisses zwischen Staatsrechtswissenschaft und Staatsrechtspraxis ist auch der Umstand, daß die Weimarer Reichsverfassung wesentlich aus der Feder eines Staatsrechtswissenschaftlers stammt. Die Verfassung des Kaiserreichs hatte Bismarck geschrieben. II. Die Antworten, die die Staatsrechtswissenschaft auf die Krisen der Weimarer Republik und zugleich auf ihre eigene Krise fand, sind vielfaltig. Politisch lassen sie sich in ein Links-Rechts-Schema einordnen, vom Sozialdemokraten Heller bis zum späteren Nationalsozialisten Schmitt. Methodisch lassen sie sich in ein Spektrum einordnen, das von Anschütz' Positivismus bis zum geisteswis4

Ebd., S. 28.

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senschaftlichen Antipositivismus Smends und zum sozialwissenschaftlichen Hellers reicht. Es kann aber auch zwischen mehr auf Organisation und Verfahren und mehr auf Inhalte setzenden Positionen unterschieden werden, mit Kelsen und Heller in naher Verwandtschaft und auf der anderen Seite, ebenfalls nahe verwandt, Kaufmann, Smend und Schmitt. Danach unterschieden, wie nationalistisch ihre Positionen sich präsentieren, rücken auf der einen Seite Anschütz, Kaufmann und Schmitt zusammen und auf der anderen Kelsen und Smend. Die Unterscheidungen überschneiden sich. So zählen die prominenten Positivisten Kelsen, Anschütz und Thoma zu den Verteidigern der Weimarer Republik, aber unter den vom Positivismus geprägten Praktikern in Rechtsprechung und Verwaltung gab es genug, die das Recht der Weimarer Republik mit politischen Vorbehalten und das des Dritten Reichs mit politischer Zustimmung exekutierten, und außerdem rechnen zu den Befürwortern der Weimarer Republik auch die Antipositivisten Preuß und Heller. Methodisch sind der geistesund der wirklichkeitswissenschaftliche Ansatz Smends und Hellers weiter auseinander als die Gemeinsamkeit der Ablehnung des Positivismus von Kelsen ahnen läßt. Vor dem Staatsgerichtshof stehen im Streit um die Verfassungsmäßigkeit des Preußenschlags auf der Seite Preußens Anschütz und Heller, auf der des Reichs Schmitt. Einfache Schemata, in denen die staatsrechtswissenschaftliche Diskussion zu fassen wäre, gibt es nicht. Ein naheliegender Gedanke ist, die Erfassung der Diskussion an den Phasen der Weimarer Republik zu orientieren. Einige der wesentlichen Veröffentlichungen fallen in die Zeit bis zum Krisenjahr 1923; dazu zählen Kelsens Arbeit über Wesen und Wert der Demokratie (1920), Kaufmanns Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie (1921), Anschütz' Vortrag über die drei Leitgedanken der Weimarer Reichsverfassung (1923) und Schmitts Arbeit über die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923). Andere fallen in die Stabilisierungsphase der Jahre 1924 bis 1928; unter ihnen finden sich Preuß' Vortrag über die Bedeutung der demokratischen Republik für den sozialen Gedanken (1925), Kelsens Allgemeine Staatslehre (1925), Triepels Rektoratsrede über Staatsrecht und Politik (1927), Hellers Arbeit über Souveränität (1927), Smends Arbeit über Verfassung und Verfassungsrecht (1928) und von Schmitt der Begriff des Politischen (1928) und die Verfassungslehre (1928). Schließlich gibt es die Veröffentlichungen der letzten Krisenjahre; neben Schmitts Arbeiten über den Hüter der Verfasung (1931) und Legalität und Legitimität (1932) steht das von Anschütz und Thoma herausgegebene, die zeitgenössische Staatsrechtswissenschaft repräsentierende Handbuch des Deut- X sehen Staatsrechts (1930/1932). Aber diese zeitliche Erfassung trägt zur inhaltlichen Erfassung der staatsrechtswissenschaftlichen Diskussion wenig bei. In der Stabilisierungsphase war das Bewußtsein der vorausgegangenen frühen Krisenjahre ebenso lebendig wie die späten Krisenjahre von den Zeitgenossen im Zusammenhang mit der Stabilisierungsphase erlebt und nicht als die Götter4 GS Jeand' Heur

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dämmerung der Weimarer Republik wahrgenommen wurden, als die sie im heutigen Rückblick erscheinen. Die Weimarer Diskussion zerfällt nicht in zeitliche Phasen, sie ist einheitlich und geschlossen. Vom November 1918 bis zum Januar 1933 sind es kaum mehr als 14 Jahre - keine lange Zeit. Gleichwohl setzt eine inhaltliche Erfassung der Weimarer Diskussion zweckmäßig zeitlich an, an der Nahtstelle zum Kaiserreich. Die Diskussion des Kaiserreichs war der Boden der Weimarer Diskussion. Dabei ragt Kelsen in besonderer Weise aus dem Kaiserreich in die Weimarer Republik. Anders als Preuß, Triepel, Kaufmann, Smend oder Schmitt, die sich schon im Kaiserreich vom staatsrechtswissenschaftlichen Positivismus abwenden, spitzt Kelsen ihn zu. Der Positivismus von Gerber, Laband und Jellinek im Kaiserreich, aber auch der von Anschütz und Thoma in der Weimarer Republik bedeutet Abstinenz, was den Einbezug politischer und philosophischer, und Zurückhaltung, was den Einbezug historischer und soziologischer Argumente in die juristische Dogmatik anlangt. Zwar kennen die genannten Positivisten den Staat als Gegenstand nicht nur der Staatsrechtswissenschaft, sondern auch der Sozial- und Geschichtswissenschaft, Moral- und politischen Philosophie. Sie handeln auch immer wieder historisch oder soziologisch, politisch oder philosophisch vom Staat. Aber sie wollen die verschiedenen Betrachtungs- und Behandlungsweisen auseinandergehalten und die juristische Dogmatik von den anderen Argumenten freigehalten wissen. Es gelingt ihnen nicht konsequent, und Kelsens These ist, daß es ihnen auch nicht konsequent gelingen kann. Ihr Ansatz, der neben der juristischen noch andere Betrachtungs- und Behandlungsweisen des Staats kennt und den einen Erkenntnisgegenstand des Staats von mehreren Erkenntnisstandpunkten aus erfassen will, verkennt nach Kelsen die Einheit von Erkenntnisgegenstand und -Standpunkt. Nur von einem der Sollenskategorie, nicht von einem der Kausalitäts- als einer Seinskategorie verpflichteten Standpunkt aus könne der Staat erkannt werden, denn die Einheit des Staats sei die Einheit der staatlichen Rechts- als einer Sollensordnung. Die Einheit stelle sich als Stufenbau von ermächtigenden und ermächtigten Rechtsetzungen dar, den die Rechtsdogmatik nur korrekt erfasse, indem sie auf den verschiedenen Stufen den Willen der verschiedenen Rechtsetzer exakt ermittele. Hierüber sind Gerber und Laband mit ihren dogmatischen Begriffen und Konstruktionen in der Tat weit hinausgegangen; ihren staatsrechtlichen Systemen ordnen sich die positiven Rechtssätze ein und unter und können dies, wie Kelsen schon 1911 in seiner Habilitationsschrift nachweist, nicht ohne historische, politische und philosophische Vorgaben und Optionen. Auch wenn Kelsen bei den anderen Teilnehmern der Weimarer Diskussion Widerspruch und Ablehnung gefunden hat - hinter ihn zurück konnte doch keiner mehr gehen. Die Vorstellung eines Nebeneinander verschiedener Betrachtungs- und Behandlungsweisen des Staats, die von Jellinek mit der Unter-

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Scheidung von Staatsrechtslehre und Soziallehre des Staats begründete sog. Zwei-Seiten-Lehre des Staats, findet in der Weimarer Diskussion keine Gefolgschaft mehr. Indem Kelsen den Positivismus des Kaiserreichs zuspitzt, spitzen sich auch die Ansätze derer zu, die den Positivismus ablehnen und über ihn hinausdrängen. Sie alle kennen nur einen einheitlichen Staat und eine einheitliche Betrachtungs- und Behandlungsweise des Staats - freilich ganz anders als Kelsen. Aber auch die Positivisten Anschütz und Thoma vertreten nicht mehr den Positivismus des Kaiserreichs, den Kelsen erschüttert hat. Der Positivismus ist nicht mehr Rechts-, sondern Gesetzespositivismus; sie bauen nicht mehr Systeme, denen sie das gesetzte Recht einfügen und unterwerfen, sondern stellen dessen Auslegung in den Mittelpunkt. Die Auslegung greift bei ihnen allerdings historisch und politisch weiter aus als bei Kelsen. Auch Preuß ragt in spezifischer Weise aus dem Kaiserreich in die Weimarer Republik; die von ihm entworfene Verfassung bleibt mit ihrer Vernachlässigung der Parteien, ihrem Mißtrauen gegenüber dem Reichstag und ihrer Stärkung des Reichspräsidenten zum Ersatzkaiser ganz dem Kaiserreich verpflichtet. Angesichts seiner Kritiker- und Außenseiterposition in der Staatsrechtswissenschaft des Kaiserreichs mag man von ihm anderes erwarten. Aber indem diese Erwartung enttäuscht wird, indem sich auch der Kritiker und Außenseiter, kein Professor in der abhängigen Stellung des Staatsbeamten, sondern ein finanziell unabhängiger Großbürger, kein deutschtümelnder Konservativer, sondern ein jüdischer Linksliberaler, kein bloßer Theoretiker, sondern ein engagierter Praktiker der Kommunal- und Reichspolitik von den staatsrechtlichen Gestaltungen und Erfahrungen des Kaiserreichs nur unzureichend freimachen kann, wird der Horizont sichtbar, in dem die Weimarer Diskussion stattfand und gesehen werden muß. Die Weimarer Demokratie wurde nicht im Austausch mit französischen, englischen oder amerikanischen demokratischen Traditionen entwickelt, sondern im Blick auf die eigenen. Anschütz und Thoma sind als Positivisten methodisch, als Republikaner und Demokraten politisch und als Kollegen an der Heidelberger Fakultät und gemeinsame Herausgeber des Handbuchs des Deutschen Staatsrechts auch in wissenschaftlicher Kooperation einander verbunden. Auch wenn die wissenschaftliche und die politische, die positivistische und die republikanisch-demokratische Position nicht notwendig korrelieren, ergänzen sie sich bei Anschütz und Thoma überzeugend. Das gesetzte Recht zu respektieren, bedeutet auch Respekt gegenüber der Volksvertretung, die es setzt. Die Ablehnung einer teleologischen, integrationistischen, dezisionistischen oder naturrechtlichen Interpretation und Kontrolle des gesetzten Rechts durch Wissenschaft und Rechtsprechung bedeutet auch die Offenhaltung und Verteidigung des politischen Prozesses mit seinen möglichen progressiven Resultaten gegen eine konservative Richter- und Professorenschaft.

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Diese hat ihre Vertreter in Triepel und Kaufmann. Beide haben sich vom Positivismus abgewandt, beide suchen neue methodische Wege, und beide kommen bei der Berufung auf die Gerechtigkeit und einer Gerechtigkeitsbindung und -kontrolle des Gesetzgebers an. Beide begegnen der Weimarer Republik ohne Sympathie; immerhin ist ihre Kritik und Skepsis mehr konstruktiv als destruktiv. Kaufmann ist bei allem der philosophischere und programmatischere; seine Ablehnung des Positivismus geht mit einer Abrechnung mit dem Neukantianismus einher, seine methodischen Überlegungen verstehen und präsentieren sich als Beitrag zur Entwicklung einer geisteswissenschaftlichen Methode im Staatsrecht, und seine Berufung auf die Gerechtigkeit wird zu einer naturrechtlichen Institutionenlehre. Triepel ist theoretisch bescheidener; methodisch greift er Gedanken der im Privatrecht entwickelten Interessenjurisprudenz auf, und die Gerechtigkeit, auf die er sich beruft, ist die gute, alte, ewige, die sich unter Konservativen gewissermaßen von selbst versteht. Für Smend, Heller und Schmitt versteht sich nichts mehr von selbst. Das verbindet sie bei aller Verschiedenheit der methodischen Ansätze, inhaltlichen Ergebnisse und politischen Positionen. Wenn mit Positivismus in einem weiteren Sinn ein gewisses Vertrauen in die Positivität, die Gegebenheit und Verläßlichkeit der Welt und mit juristischem Positivismus das entsprechende Vertrauen in Hinsicht auf das Recht einhergeht, dann sind die wirklichen Antipositivisten in der Weimarer Diskussion Smend, Heller und Schmitt. Integration, der Schlüsselbegriff von Smends Staats- und Verfassungslehre, ist nichts Gegebenes, nichts, was sich von selbst ein- und herstellt oder in einem Gesellschafts- oder Staatsvertrag beschlossen und besiegelt werden kann, sondern ein Prozeß, ständig neu, neu zu gestalten und zu erleben. Der Staat „ist nur da in diesem Prozeß beständiger Erneuerung" 5 — er kann deswegen auch gelingen oder scheitern, je nachdem der Prozeß, den Smend in verschiedenen kulturellen und mentalen, politischen und rechtlichen Aspekten zu erfassen und zu beschreiben versucht, gelingt oder scheitert. Ebenso ist für Heller die staatliche Einheit etwas, was gestiftet und erhalten werden muß und verfehlt werden kann. Aber wo Smend fiir die Einheitsstiftung und -erhaltung auf Kultur, Wert und Sinn, gemeinsames Kultur-, Wert- und Sinnerleben setzt, weiß Heller um die Bedeutung von ökonomischen und sozialen Lagen, von staatlicher Organisation und staatlichen Verfahren. Gegen Smends geisteswissenschaftlichen einen wirklichkeitswissenschaftlichen Ansatz propagierend, konfrontiert Heller dem Staat als Kultur-, Wert- und Sinneinheit den Staat als Wirkungs- und Entscheidungseinheit; die Einheit muß durch Organisation und Verfahren bewirkt und in Entscheidungen durchgesetzt werden. Dabei genügt es Heller nicht, daß der staatliche Wirkungs- und Entscheidungszusammenhang funktioniert; Einheitsstiftung und -erhaltung bewährt sich fiir Heller, anders als jedenfalls nach 5 Verfassung und Verfassungsrecht, in: Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 119 (136).

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gängigem Verständnis Integration für Smend, nicht einfach im Funktionieren, sondern in der Übereinstimmung mit ethischen Standards, die der ethischen Praxis einer Gesellschaft entspringen und entsprechen sollen. Hier, wo freilich vieles offen bleibt, ist bei Heller der systematische Ort, wo seine wirklichkeitswissenschaftliche Methode und sein politisches Engagement als Sozialdemokrat und Kämpfer für die Weimarer Republik zusammentreffen. Auch für Schmitt versteht sich die staatliche Einheit nicht von selbst. Aber er setzt nicht auf Prozeß, sei es der Prozeß des Kultur-, Wert- und Sinnerlebens oder der staatlicher Organisationen und Verfahren, sondern auf die Entscheidung, die Entscheidung zwischen Freund und Feind. Für Schmitt gilt, daß der Begriff des Staats den Begriff des Politischen voraussetzt, daß das Kriterium des Politischen die Unterscheidung von Freund und Feind ist, daß ein Volk Staat ist, wenn es zwischen Freund und Feind unterscheidet und damit über Art und Form seiner politischen Existenz entscheidet. Wenn es dazu nicht in der Lage ist, besteht es weder innen- noch außenpolitisch, weder vor der Gefahr des Bürgerkriegs noch im Krieg gegen den äußeren Feind. Diese im Begriff des Politischen entwickelten Überlegungen lassen von der Position Schmitts als Dezisionismus reden. Im Dritten Reich wendet er sich dann allerdings vom Dezisionismus ab und propagiert ein konkretes Ordnungs- und Gestaltungsdenken, das an die 1933 getroffene Entscheidung anknüpfen und die durch diese Entscheidung gestifteten neuen, konkreten staatlichen und gesellschaftlichen Ordnungen und Gestaltungen entfalten soll. Damit ordnet Schmitt Dezisionismus der Krise zu, in der er die bürgerliche Gesellschaft und den bürgerlichen Staat in der Weimarer Republik, aber nicht mehr im Dritten Reich sieht. Auch Smend entwickelt seine Integrationslehre als Lehre vom „gesunden Lebenssinn der Verfassung" angesichts des „Chaos des kranken Verfassungsstaats der 1920er Jahre" 6. Aber die nicht nur von der Krise ausgehende und in ihr besonders wichtige, sondern gerade und speziell auf die Krise gemünzte Theorie liefert Schmitt. III. Wie Philosophie ist auch Staatsrechtswissenschaft „ihre Zeit in Gedanken gefaßt"; sie bleibt in ihrer Zeit und kommt über sie nicht hinaus. Aber wie der Philosophie gelingt auch der Staatsrechtswissenschaft zuweilen eine bleibende, gültige Einsicht. Voraussetzung dafür ist, daß die Zeit ein immer wiederkehrendes gesellschaftliches Thema und Problem in besonderer Schärfe hervorbringt. Dreierlei gibt der Krise der Weimarer Republik die besondere Schärfe. Sie hatte sowohl eine außen- als auch eine innenpolitische Dimension, in ihr kamen die Wirkungen einer Niederlage im äußeren Krieg und die Drohung eines Bür6

Integrationslehre, ebd., S. 475 (481).

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gerkriegs zusammen. Sie war mit der Ablösung einer durch Monarch und Adel, Offiziere und Beamte geprägten Lebenswelt durch eine egalitäre Lebenswelt eine kulturelle und mit der Inflation der ersten und der Wirtschaftskrise der letzten Jahre eine ökonomische Krise, und die bürgerliche Mittelschicht wurde vom einen so erschüttert wie vom anderen. Sie stellte den Staat zur Disposition, zunächst durch separatistische Bestrebungen im Süden und Westen seine territoriale, später seine institutionelle Identität. Die Weimarer Republik und ihre Krise dauerte gerade lange genug, wissenschaftlich in Gedanken gefaßt zu werden. Wäre die Krise in den frühen Jahren in einen Bürgerkrieg umgekippt oder in eine echte, nicht nur kurz-, sondern langfristige Stabilisierung gemündet, wäre sie zum Thema und Problem der Staatsrechtswissenschaft nicht geworden oder als solches bald erledigt gewesen. Wenn der „Kampf der sozialen Gegner um die Staatsmacht" nicht dauert, kann sich die Staatsrechtswissenschaft auch nicht in ihn verstricken. Ein Methodenund Richtungsstreit braucht eine gewisse Zeit. So vielfaltig die Unterscheidungen sind, unter denen die Positionen der Weimarer Diskussion erfaßt und geordnet werden können - besonders ergiebig ist die Einteilung danach, welche Antworten sie auf die Herausforderung der Krise gefunden haben. Die Positivisten haben versucht, die Staats- und Verfassungsordnung als Rahmen und Regeln im „Kampf der sozialen Gegner um die Staatsmacht" zu behaupten. Manche und zumal viele Praktiker haben es als damals sog. Vernunftrepublikaner unter Beibehaltung monarchischer Neigungen in innerer Distanz zum republikanischen Staat getan, andere unpolitisch und desinteressiert und wieder andere, denen wie Anschütz und Thoma an der Weimarer Republik lag, mit wachsender Verzweiflung; Kelsen bleibt der Fahne des Individualismus, Liberalismus und Parlamentarismus in manchmal stoisch anmutender Verachtung des konkreten „Kampfs der sozialen Gegner" treu, auch wenn das Schiff sinkt. Demgegenüber finden sich unter den neuen Strömungen zum einen verschiedene Versuche, den „Kampf der sozialen Gegner" durch die Wiedergewinnung von Einheit zu überwinden. Dabei postuliert Kaufmann die Einheit als nationale Wesensgemeinschaft, sieht Smend sie als Aufgabe und Ergebnis eines geistigen, durch übereinstimmendes Kultur-, Wert- und Sinnerleben vermittelten Integrationsprozesses und Heller als Folge sozialer Homogenität und realer organisatorischer und institutioneller Bedingungen und Leistungen. Zum anderen bietet unter den neuen Strömungen Schmitt einen Entwurf, der nicht auf Einheit, sondern auf Entzweiung setzt. Danach kann, weil gar nicht alle zur Einheit verbunden werden können, weil also außen- wie innenpolitisch entschieden und unterschieden werden muß, wer Freund und wer Feind ist, erst in der entsprechenden Entscheidung und Unterscheidung eine teilweise, ausgrenzend zusammenschließende Einheit gewonnen werden. Das ist der Aufruf an das Bürgertum, im „Kampf der sozialen Gegner um die Staatsmacht" nicht als diskutierende, parlamentarisch parlierende Klasse unterzuge-

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hen, sondern die Kraft zu Unterscheidung und Entscheidung zu finden. Ebenso wie an die bürgerlichen Rechte konnte dieser Appell zur Entscheidung auch an die Linke gerichtet werden, und Kirchheimer trifft sich mit Schmitt in der Auffassung, daß „der prinzipielle und nie wieder gutzumachende Fehler dieser Verfassung [darin liegt]: sie hat sich selbst nicht entschieden".7 In ihrer Grundsätzlichkeit schöpfen diese Antworten theoretisch aus, wie Krisen begegnet werden kann. Es kann versucht werden, den Kampf, der mit der Krise einhergeht, in den Rahmen und unter die Regeln der vorgegebenen Verfassungs- und Rechtsordnung zu zwingen. Es kann auch versucht werden, die brüchig gewordene oder sogar zerbrechende Einheit kulturell-geistig oder organisatorisch-institutionell zusammenzuhalten, den Staat als Smendschen Integrations- oder Hellerschen Organisations- und Entscheidungszusammenhang zu stärken und gegen den Kampf zu setzen. Ob das unter Beibehaltung, Veränderung oder auch Verletzung der vorgegebenen Verfassungs- und Rechtsordnung geschieht, ist dabei lageabhängig und sekundär. Schließlich kann versucht werden, den Kampf anzunehmen, eine klare Freund-Feind-Entscheidung zu treffen und sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen, wieder je nach Lage unter Wahrung oder Preisgabe des Rahmens und der Regeln der vorgegebenen Verfassungs- und Rechtsordnung. Mehr Antworten gibt es nicht. Aber sie können nicht alle zugleich richtig sein. In der fortdauernden Frage nach der richtigen Antwort behält der Weimarer Methoden- und Richtungsstreit seine fortdauernde Aktualität.

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Kirchheimer , Weimar — und was dann?, in: ders ., Politik und Verfassung, 1964, S. 9

I I . Deutsches und europäisches Verfassungsrecht

Der sog. objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Eine kritische Würdigung eines „Grundbestands des Grundrechtswissens" 1 Von Wolfram Cremer I. Einleitung Der sog. objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte gehört zum ständigen Repertoire bundesverfassungsgerichtlicher Argumentation. In der Literatur wird er überwiegend akzeptiert 2 und gar zum „Grundbestand des Grundrechtswissens"3 gezählt. Im folgenden wird dargelegt, welche inhaltliche Bedeutung dem sog. objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beigemessen wird, und untersucht, ob sich dieser Topos verfassungsrechtlich zu legitimieren vermag. Dabei wird die These zugrunde gelegt, daß „objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte" von Anfang an und auch in der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die zumeist maßgebliche normative Grundlage, aber kein methodengerechtes Fundament für die Anerkennung einer grundrechtlichen Leistungsfunktion bzw. unterschiedlicher Leistungsdimensionen, einschließlich der sog. Drittwirkung der Grundrechte, bilden. Dann wäre das Bundesverfassungsgericht aber nicht nur den Nachweis objektiv-rechtlicher, sondern auch leistungsrechtlicher Grundrechtsgehalte schuldig geblieben. Gleichzeitig gingen in der Literatur unternommene Versuche, den vom Bundesverfassungsgericht behaupteten „objektiv-rechtlichen" und daraus abgeleiteten leistungsrechtlichen Gehalt mittels einer funktionell-rechtlichen Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit, einer Rücknahme verfassungsgerichtlicher Kontrolldichte (Trennung von Handlungsund Kontrollnorm) oder durch judicial self-restraint (wieder) zurückzunehmen, 4 1 Vgl. zu dieser Formulierung Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29 (1990), 1 (1); Jeand'Heur, Grundrechte im Spannungsverhältnis zwischen subjektiven Freiheitsgarantien und objektiven Grundsatznormen, JZ 1995, 161 (165). 2 Häufig wird der sog. objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte weitergehenden Untersuchungen als Prämisse zugrunde gelegt. 3 4

Vgl. dazu oben Fn. 1.

Vgl. zu solchen Versuchen die Nachweise bei Böckenförde (Fn. 1), S. 26 ff.; ferner Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, 4. Aufl. 1997, Rn. 470 ff. mit zahlreichen Nachweisen.

Wolfram Cremer

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von einer falschen Prämisse aus. Die Diskussion um grundrechtliche Leistungsrechte geriete so in eine methodische Schieflage. Nur wenn objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte mit potentiell universeller und mithin leistungsrechtlicher Ausrichtung verfassungsrechtlich begründbar sind, besteht eine Argumentationslast zur Begrenzung grundrechtlich fundierter Leistungsrechte. Die These geht also letztlich dahin, daß der zum gesicherten Grundrechtsbestand gezählte objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte den normativen Zentralbegriff zur Begründung grundrechtlicher Leistungsrechte bildet, dieser sich aber nicht methodengerecht zu legitimieren vermag und folglich das in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zentrale Bindeglied zur Ableitung grundrechtlich fundierter Leistungsrechte nicht tragfähig ist. Dann bedürfte es des positiven und auf anderem Wege zu erbringenden Nachweises der Existenz leistungsrechtlicher Grundrechtsgehalte, ohne daß hier der Validität anderer Ansätze nachgegangen oder gar ein eigener Lösungsweg entwickelt werden könnte. Bernd Jeand'Heur hat sich neben der Beschäftigung mit einzelnen Grundrechtsnormen 5 auch mit übergreifenden Fragen der Grundrechtsdogmatik befaßt, u.a. mit den Grundrechten jenseits ihrer abwehrrechtlichen Funktion. Zu nennen ist insbesondere sein 1995 veröffentlichter Aufsatz mit dem Titel „Grundrechte im Spannungsverhältnis zwischen subjektiven Freiheitsgarantien und objektiven Grundsatznormen". 6 Methodisch plädiert er fur einen Ansatz, welcher Inhalt und Funktion einer Grundrechtsnorm 7 nicht (primär) 8 unter Heranziehung ver-

5

Jeand'Heur, Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum Wohl des Kindes und staatliche Interventionspflichten aus der Garantienorm des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, 1993 (Habilitationsschrift); ders., Kindeswohl, staatliches Wächteramt und Reform des Kinder- und Jugendhilferechts. Zur garantienormrechtlichen Dimensionserweiterung von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG und ihren Auswirkungen auf die Interpretation des KJHG, RdJB 1992, 165 ff.; zu Art. 7 Abs. 4 GG: ders., Sprachliches Reverenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 1989, S. 166 ff. (Dissertation); ders., Methodische Analyse, freiheitsrechtliche und leistungsrechtliche Konsequenzen des Finanzhilfeurteils, in: Zukunftsperspektiven der freien Schule, hrsg. von Müller/Jeand'Heur, 2. Aufl. 1996, S. 47 ff.; ders., Urteilsanmerkung zu BGH, Urt. vom 21.6.1990, Henry Miller-Opus pistorum / Kunstfreiheit und Jugendschutz bei pornographischen Schriften, StrafVerteidiger 1991, 165 ff. 6

Vgl. Fn. 1; ferner, Grundrechte, staatliche Schutzpflichten und Untermaßverbot. Die Bedeutung der BVerfG-Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch vom 28.5.1993 für eine kinderfreundlichere Republik, RdJB 1994, 91 ff. 7 Den Theorieansätzen der sog. Strukturierenden Rechtslehre folgend (vgl. zu diesem ursprünglich von Friedrich Müller begründeten Konzept Jeand'Heur, Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum Wohl des Kindes und staatliche Interventionspflichten aus der Garantienorm des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, 1993, S. 29 ff., ebd., S. 29 Fn. 9 auch weitere Nachweise zu dem Konzept und zu kritischen Stellungnahmen), fungiert der Normtext für Jeand'Heur in erster Linie als sprachliches Eingangsdatum des Entscheidungsvorgangs. Der Gesetzgeber verkünde keine Rechtsnormen, sondern verabschiede lediglich Gesetzestexte, die der praktisch tätige Jurist aufgreife und sie zu einer Rechtsregel konkretisiere, ebd., S. 30 f.

Der sog. objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte

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fassungs- oder grundrechtstheoretischer Erwägungen zu gewinnen sucht; im Vordergrund müßten vielmehr unmittelbar normtextbezogene grammatische sowie systematisch-teleologische Konkretisierungsaspekte stehen.9 Dieses Petitum erfordere hinsichtlich der Frage nach einem sog. objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte („objektive Grundsatznormen") ein „bereichsdogmatisches"10 Vorgehen. Die Anwort lasse sich nicht abstrakt-generell, sondern nur hinsichtlich und unter Berücksichtigung der methodisch relevanten Spezifika der jeweiligen Grundrechtsnorm geben. Ein solches methodisch kontrolliertes Vorgehen erlaube es, die gegen ein „objektiv-rechtliches Grundrechtsverständnis" gerichtete These eines „gleitenden Übergangs vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat" und ihre verfassungstheoretischen, verfassungsdogmatischen und staatstheoretischen Bedenken zurückzuweisen. 11

II. Zur inhaltlichen Bedeutung des Topos „objektiv-rechtlicher Gehalt" der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - gleichzeitig eine Abgrenzung zu den Grundrechten als Abwehrrechte Zunächst wird die materiell-rechtliche und überhaupt die (verfassungsrechtliche Bedeutung des sog. „objektiv-rechtlichen Gehalts" der Grundrechte 12 dargelegt, so wie er in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der überwiegenden Literatur verstanden und verwandt wird.

8

Vgl. zu Konstellationen, in denen die Einbindung der Grundrechtstheorie in die Auslegung methodisch akzeptabel sei, Jeand'Heur (Fn. 1), S. 165. 9 Jeand'Heur (Fn. 1), S. 165. Genetisch-historische Gesichtspunkte nennt er an dieser Stelle nicht, akzeptiert sie aber an anderer Stelle des Beitrags (S. 163) als Elemente einer methodisch korrekten Argumentationslinie. 10

Vgl. zur Verwendung des Begriffs Jeand'Heur

(Fn. 1), S. 165.

11

Jeand'Heur (Fn. 1), S. 166 f. begegnet insoweit ausdrücklich den von Böckenförde (Fn. 1) geäußerten Bedenken. Vgl. zu einer frühen Kritik am Bundesverfassungsgericht, welche durch eine Entformalisierung des Verfassungsrechts den Justizstaat entfalte, Forsthoff Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, hier zitiert nach ders., Rechtsstaat im Wandel, 1964, S. 147 ff., leicht gekürzt (vgl. dazu ebd., S. 169) gegenüber der erstmaligen Veröffentlichung in: Festschrift für Carl Schmitt, 1959, S. 35 ff. In der Sache kritisiert Forsthoff die „Umbildung des Verfassungsgesetzes" insbesondere durch die „geistesgeschichtliche, geisteswissenschaftlich-hierarchische bzw. geisteswissenschaftlich-werthierarchische Methode" des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts, vgl. zur Urteilskritik am BAG insb. S. 159 ff., am BVerfG S. 156 f., 158 f., und zur Kritik am Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts S. 170 ff. 12

Vgl. zu diesem Topos und insbesondere zu dem „terminologischen Wirrwarr" im Umfeld der objektiven Dimension der Grundrechte auch Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, Der Staat 29 (1990), 49 (51).

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Wolfram Cremer

1. Zur Typologie von objektivem und subjektivem Recht Zunächst ist der objektiv-rechtliche vom subjektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalt zu scheiden. Der Unterschied ist zunächst banal, denn das objektive Recht ist gegenüber der subjektiven Berechtigung schlicht defizitär. Als Minus zum subjektiven Recht auferlegt das objektive Recht dem Verpflichteten zwar eine rechtliche Bindung, die der einzelne aber nicht gerichtlich durchzusetzen vermag. Objektives Recht ist zwar ohne subjektive Berechtigung, nicht aber ein subjektives Recht ohne inhaltlich korrespondierende objektiv-rechtliche Verpflichtung konstruierbar. 13 Jedes Grundrecht hat als Abwehrrecht somit auch objektiv-rechtlichen Charakter. Die Grundrechte sind in ihrem liberalen freiheitlichen Verständnis in objektiv-rechtlicher Perspektive Eingriffsverbote des Staates 14 und in subjektiv-rechtlicher Perspektive inhaltlich korrespondierende Abwehransprüche des einzelnen.15 2. Die inhaltliche Ausrichtung des sog. objektiv-rechtlichen Gehalts der Grundrechte Dieser Befund wirft die Frage nach der rechtlichen Bedeutung des „objektivrechtlichen Gehalts" der Grundrechte auf. Pointiert formuliert: Wieso kommt es auf einen objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte überhaupt an, wenn er doch gegenüber dem vertrauten und gesicherten subjektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte (als Abwehransprüche) defizitär ist. Die Antwort ist im grundsätzlichen wiederum einfach. Der „objektiv-rechtliche Gehalt" der Grundrechte geht über den vertrauten subjektiv-rechtlichen Abwehrcharakter inhaltlich hinaus. Der „objektiv-rechtliche Gehalt" der Grundrechte bezeichnet in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts von Anfang an nach seiner inhaltlichen Ausrichtung mehr als ein bloßes Eingriffsverbot des Staates. So diente die Qualifizierung des Grundrechtsabschnitts als objektive Wertordnung im Lüth-Urteil 16 13

Vgl. auch Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. 1994, S. 171 ff. und 186 ff.

14

Dies ist die Grundlage der Qualifizierung von Grundrechten als negative Kompetenzbestimmungen, vgl. dazu Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 291. 15

Vgl. zum Gebrauch dieser Terminologie nur Canaris , Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), 201 (202) und öfter. 16 Im Lüth-Urteil spricht das Bundesverfassungsgericht gar davon, daß diese Wertordnung eine „Wertrawgordnung" sei, BVerfGE 7, 198 (215). Eine solche Wertrangordnung will das Bundesverfassungsgericht aber nicht im Sinne eines generellen Vorrangs bestimmter Grundrechtsbestimmungen vor anderen verstanden haben. Absoluten Vorrang räumt es - in seiner allerdings nicht ganz konsistenten Judikatur (vgl. dazu Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 1998, S. 216 ff.) - nur Art. 1 Abs. 1 GG ein, vgl. BVerfGE 75, 369 (380). Konsequenterweise unterliegt die Garantie der Menschenwürde keinerlei Beschränkungsmöglichkeit, vgl. dazu Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 1996, Art. 1 Rn. 10 f.; a.A. Borowski, ebd., S. 221 ff. m.w.N.

Der sog. objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte

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dazu, eine inhaltlich (vermeintlich) 17 über die abwehrrechtliche hinausgehende Grundrechtsfunktion, die sog. Drittwirkung, zu kreieren. Im Ehegattenbesteuerungsbeschluß 18 wurden aus der „wertentscheidenden Grundsatznorm" des Art. 6 Abs. 1 GG positive Handlungspflichten des Staates abgeleitet. Im folgenden bildete der „objektiv-rechtliche bzw. wertsetzende Gehalt" der Grundrechte oft die ausschließliche Grundlage zur Begründung inhaltlich unterschiedlichster leistungsrechtlicher Positionen,19 die teils nur (mögliche) 20 prima-facieRechte, teils aber auch definitive Rechte vermittelten. An dieser Stelle seien nur das erste Abtreibungsurteil, 21 der Mülheim-Kärlich-Beschluß 22 und das numerus-clausus-Urteil 23 als Beispiele für die Anerkennung von Rechten auf Schutz, Rechten auf Verfahren und von sozialen Leistungsrechten genannt.24 Auch diese Entwicklung war bereits im Lüth-Urteil angelegt, wenn es dort heißt, daß die „im Grundrechtsabschnitt aufgerichtete objektive Wertordnung" für alle Bereiche des Rechts Geltung verlange. In diesem Verständnis der objektiven Grundrechtsgehalte sind die beschriebenen, schrittweise und anlaßbezogen anerkannten Grundrechtsdimensionen lediglich eine Folge, wenn auch nicht notwendige Folge,25 des umfassend angelegten objektiven Grundrechtsgehalts. 26 Die sachliche Bedeutung der „objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte" liegt 17

Vgl. zur fehlenden Notwendigkeit, bereits im Lüth-Urteil über die Eingriffsabwehrfunktion der Grundrechte hinauszugehen, unten Fn. 27 und 100. 18

BVerfGE 6, 55 ff.

19

Diese Grundrechtsgehalte sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und auch der h.L. nicht lediglich objektiv-rechtlicher Natur. Sie sind nach (anfangs insoweit ausweichender) mittlerweile eindeutiger Rechtsprechung - und dies war bereits im LüthUrteil angelegt - subjektiv-rechtlich bewehrt; vgl. zur Schutzpflichtdimension insoweit die Darstellung bei Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996, S. 58 f. 20

Vgl. insoweit die Ausfuhrungen in Fn. 23 zum numerus clausus-Urteil, BVerfGE 33, 303 ff.

21

Vgl. BVerfGE 39, 1 (41 ff.), wo die Begriffe „Wertordnung" bzw. Wertsystem mehrfach Erwähnungfinden und letztlich ein definitives Recht auf Schutz begründen. 22 BVerfGE 53, 30 (57) zur Anerkennung eines aus dem Recht auf Schutz und letztlich dem objektiven Gehalt des Art. 2 Abs. 2 GG folgenden prima-facie-Recht auf Verfahren; vgl. auch BVerfGE 49, 89 (141 f.) - Kalkar. 23 Vgl. BVerfGE 33, 303 (333), wo die Frage angeschnitten, aber im Ergebnis offengelassen wird, ob aus den grundrechtlichen Wertentscheidungen und der staatlichen Inanspruchnahme des Ausbildungsmonopols ein objektiver sozialstaatlicher Verfassungsauftrag zur Bereitstellung ausreichender Studienkapazitäten und aus diesem Verfassungsauftrag unter besonderen Voraussetzungen gar ein einklagbarer Individualanspruch ableitbar ist. 24

Diese Dreiteilung folgt in Einteilung und Terminologie der überwiegenden Literatur.

25

Vgl. auch Böckenförde (Fn. 1), S. 8, der zutreffend von notwendigen Folgeproblemen spricht; Jeand'Heur (Fn. 1), S. 162; Alexy (Fn. 12), S. 58, hat dies anschaulich so formuliert: „Damit (den so verstandenen objektiven Grundrechtsgehalten, der Verf.) wird die Tür zu Grundrechtsgehalten, die über die Abwehrrechte hinausgehen, aufgestoßen, inhaltlich aber noch nichts gesagt." 26 Vgl. dazu schon Denninger, Freiheitsordnung - Wertordnung - Pflichtordnung, JZ 1975, 545 (547).

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also in der damit verbundenen oder jedenfalls darin angelegten Anerkennung einer leistungsrechtlichen Grundrechtsfunktion. 27 Die beschworene Gefahr eines „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaats" 28 wird insoweit folgerichtig zu Recht gerade in der Ableitung von Leistungsrechten des einzelnen aus dem sog. objektiven Gehalt der Grundrechte erblickt. 29 Aufgrund dieses Zusammenhangs zwischen objektiv-rechtlichem und leistungsrechtlichem Gehalt der Grundrechte darf sich eine Auseinandersetzung mit grundrechtlich fundierten Leistungsrechten nicht damit begnügen, die Qualität der Grundrechte als objektive Grundsatznormen, objektive Wertentscheidungen oder schlicht objektives Recht zum gesicherten Bestand des Grundrechtswissen zu zählen,30 und von diesem Befund ausgehend, die leistungsrechtlichen Konsequenzen zu diskutieren und - angesichts der mit einer Anerkennung „objektiv-rechtlicher Grundrechtsgehalte" verbundenen Argumentationslast 31 - zurückdrängen zu müssen. Die nachfolgende Rekonstruktion der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fragt deshalb danach, ob sich die „objektiven Grundrechtsgehalte" selbst als normative Kategorie verfassungsrechtlich zu legitimieren vermögen. I I I . Grundrechtsauslegung und Wertbegründung von Recht Der Rekonstruktion der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts werden einige grundsätzliche Anmerkungen zur Verfassungs- und Grundrechtsauslegung sowie zur Möglichkeit einer Wertbegründung von Recht vorangestellt. 1. Verfassungsbezogenheit der Grundrechtsauslegung Das Grundgesetz ist nach der gefestigten Überzeugung der deutschen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung eine im strengen Sinne normative Verfassung, welche auch den Gesetzgeber bindendes Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) enthält. Für die Grundrechte wird eine Rechtsbindung in Art. 1 Abs. 3 GG 27 Auch die sog. mittelbare Drittwirkung bedarf, soweit sie auf die Vermittlung von Schutz (z.B. Blinkfüer-Entscheidung) und nicht auf Abwehr von Grundrechtseingriffen (z.B. LüthEntscheidung) gerichtet ist, der Anbindung an eine grundrechtliche Leistungsfunktion, die sodann gem. Art. 1 Abs. 3 GG auch gegenüber der Judikative Geltung erlangt. Das kann hier nicht ausgeführt werden, vgl. grundlegend wohl erstmals Canaris (Fn. 15), S. 201 ff; Oeter, „Drittwirkung" der Grundrechte und die Autonomie des Privatrechts, AöR 119 (1994), 529 ff.; Classen, Die Drittwirkung der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 122 (1997), 65 ff.; jetzt auch angedeutet bei BVerfG, NJW 1997, 1769 (1770). 28

Vgl. oben Fn. 11.

29

Vgl. nur Böckenförde

(Fn. 1), insb. S. 24 ff.

30

Vgl. dazu bereits die Nachweise in Fn. 1.

31

Vgl. dazu ausfuhrlicher unten V.

Der sog. objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte

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angeordnet. 32 Daraus folgt für die Verfassungsauslegung, daß sie die Gestaltungsspielräume der drei Staatsgewalten, einschließlich des Gesetzgebers, bestimmt. Während die Auslegung von Kompetenzbestimmungen maßgeblich für die Zuordnung von Handlungs- und Gestaltungsmacht auf unterschiedliche Träger öffentlicher Gewalt ist, wird die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers durch grundrechtliche Verbürgungen begrenzt. Dies gilt für abwehrrechtliche wie für leistungsrechtliche Gewährleistungsinhalte. In dem einen Fall wird der Spielraum gleichsam negativ begrenzt, indem dem Gesetzgeber bestimmtes Handeln verboten wird, in dem anderen Fall werden Pflichten gleichsam positiv begründet, indem dem Gesetzgeber (bestimmtes)33 Handeln aufgegeben wird. Diese unbedingte Begrenzung gesetzgeberischer Gestaltungsspielräume durch die Grundrechte bringt gleichzeitig und quasi kehrseitig auch die bestehenden oder besser verbleibenden Spielräume des Gesetzgebers zum Ausdruck — und zwar mit derselben Verbindlichkeit. Nur was die Verfassung als ranghöhere Rechtsquelle verbietet, darf der Gesetzgeber nicht verwirklichen; alles andere will die Verfassung bzw. der Verfassungsgeber der Entscheidung des parlamentarischen Gesetzgebers und, soweit kein Vorbehalt des Gesetzes besteht, der Exekutive überlassen. Aus diesem Befund folgt, daß der Verfassungsinterpret und insbesondere das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber nur das verbieten oder gebieten darf, aber auch muß, was das Grundgesetz verlangt. 34 Um nicht mißverstanden zu werden: Damit soll nicht — und insbesondere nicht für die Rechtsanwendung im Kontext grundrechtlicher Problematik - die stete Möglichkeit eines Syllogismus der Rechtsfolgenbestimmung oder wertungsfreier Subsumtion behauptet sein.35 Es wird lediglich gesagt, daß die Grundrechtsinterpretation von den normativen Aussagen des Grundgesetzes auszugehen hat und sonstige Normen oder Wirklichkeiten nur einbeziehen darf, wenn sie auch im Grundgesetz als wirksam legitimiert sind. Die Auslegung der Grundrechte hat sich am Grundgesetz einschließlich seiner ggfs. gegenüber anderen Kodifizierungen bestehenden Eigenheiten zu orientieren. 36 Damit ist 32

Vgl. auch Starck, 1992, § 164 Rn. 1. 33

in: Isensee/Kirchhof

(Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII,

Die Handlungspflichten können unterschiedlich bestimmt sein.

34

Vgl. zur Bindung der canones an Gesetz (und Recht) auch Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl. 1991, S. 30 f. 35 Eine wertungsfreie Subsumtion ist nur in Ausnahmefällen denkbar, z.B. bei der Anwendung von Fristenregelungen - auch dort nur, wenn die Bezugspunkte (Fristende und -beginn) zweifelsfrei posiviert sind. In den anderen Fällen will Larenz (Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 275) zur Veranschaulichung der Differenz statt von „Subsumtion" von (wertender) „Zuordnung des Sachverhalts zum Tatbestand einer Rechtsnorm" sprechen. 36 Damit wird hier keine Festlegung dahingehend getroffen, daß die Verfassungsauslegung anderen Regeln zu folgen hat als die Auslegung von Gesetzen. Eine Divergenz befürwortend: Böckenförde, Methoden der Verfassungsinterpretation, NJW 1976, 2089 (2091); eine grundsätzliche methodologische Gegenüberstellung ablehnend: Forsthoff (Fn. 11), S. 148: „Als

5 GS Jeand' Heur

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noch nicht viel, aber doch schon ein wenig gesagt. Viel ist deshalb nicht gesagt, weil weder die Gesichtspunkte bezeichnet sind, die überhaupt Aufschluß über das Normverständnis geben können, noch eine Aussage über Gewicht, Verhältnis oder gar Rangfolge verschiedenener grundsätzlich legitimer Gesichtspunkte getroffen ist. Ein wenig ist deshalb gesagt, weil jedenfalls solche Auslegungsregeln oder -gesichtspunkte ausscheiden, die nicht auf die Verfassung bezogen sind. Diese Minimalbedingung der Verfassungsinterpretation hat Bernd Jeand'Heur wie folgt zum Ausdruck gebracht: „Rechtliches Handeln zeichnet sich gegenüber anderem sozialen Verhalten durch die Orientierung an spezifischen rechtsstaatlich gewünschten wie verbindlichen Spielregeln, besonders des Verfassungsrechts, aus. Unsere Rechtsordnung räumt beispielsweise Normtexten eine besondere, anderen Texten (der Literatur, Wissenschaft usw.) nicht eigene, Autorität ein, da jeder Rechtsakt in nachvollziehbarer Weise auf Normtexte rückführbar sein muß." 37 2. Zur Möglichkeit einer Wertbegründung von Recht Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die „Werterechtsprechung" des Bundesverfassungsgerichts stellt sich die Frage nach der Möglichkeit einer „Wertbegründung von Recht". Sie kann aus unterschiedlichen Perspektiven, genauer aus der Perspektive unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen, gestellt werden. 38 Bei einer Auffächerung dessen, was sich hinter einem beGesetz wird die Verfassung den für die Gesetze geltenden Regeln der Auslegung unterstellt." Forsthoff erkennt aber an, daß das Verfassungsgesetz juristische Elemente aufweise, welche es von allen sonstigen Gesetzen unterscheide und der „unkritische, positivistische Normativismus" dem Verfassungsgesetz in seiner Auslegung juristisch Wesentliches schuldig geblieben sei, ebenda, S. 148 f. Vgl. zum Ganzen auch Starck , in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des37Staatsrechts, VII, 1992, § 164 Rn. 5; ferner BVerfGE 1 (45). Jeand'HeurBd., Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum 62, Wohl des Kindes und staatliche Interventionspflichten aus der Garantienorm des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, 1993, S. 32. Vgl. auch Alexy (Fn. 34), S. 32 ff. (insb. S. 34) — ohne daß seiner Diskurstheorie oder gar Sonderfallthese hier uneingeschränkt gefolgt wird - , wonach der juristische Diskurs ein „Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses" sei, weil der Juristische Diskurs unter einer Reihe von einschränkenden Bedingungen stattfindet", wozu u.a. die Bindung an das Gesetz (Verfassung) gehöre. Alexy nennt als beschränkende Bedingungen zudem die „gebotene Berücksichtigung der Präjudizien" und „die Einbindung in die von der institutionell betriebenen Rechtswissenschaft erarbeitete Dogmatik". Vgl. auch S. 307, wo er gerade die Bindung an das Gesetz betont. Soweit Alexy von verschiedenen Argumentformen der Gesetzesauslegung spricht, ist damit in der Sache wohl kein Unterschied zu den verschiedenen Methoden der Gesetzesauslegung bezeichnet. Die von Alexy behandelte Thematik entspricht dem, was die juristische Methodenlehre seit langem beschäftigt; vgl. zu diesem Verständnis Alexys auch Larenz (Fn. 35), S. 153 f. 38 Böckenßrde , Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, in: ders ., Recht, Staat, Freiheit, 2. Aufl. 1992, S. 67 (67), unterscheidet rechtsphilosophische, rechtstheologische und rechtsmethodische Fragestellungen. Vgl. zum unterschiedlichen Gebrauch des Begriffs „Wert" in den verschiedenen Fachsprachen und Einzelwissenschaften Alexy (Fn. 13), S. 127 f. mit weiterfuhrenden Nachweisen.

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haupteten Zusammenhang von Werten und Recht verbergen kann, sind insbesondere eine rechtsphilosophische und eine vom geltenden (Verfassungs)recht ausgehende rechtsmethodische Fragestellung zu unterscheiden. Erstere fragt nach der Möglichkeit oder gar Notwendigkeit 39 eines Rückgriffs auf überpositive Werte oder Wertordnungen als Mittel zur Begründung überpositiven Rechts;40 letztere nach aus dem geltenden Verfassungsrecht ableitbaren Werten als Mittel zur Interpretation von einzelnen gegebenen Rechtsnormen oder einer gegebenen Rechtsordnung. Der kontrovers diskutierten rechtsphilosophischen These einer Wertbegründung des Rechts41 wird hier nicht weiter nachgegangen, weil sie zur Begründung von objektiven Grundrechtsgehalten und Leistungsrechten des einzelnen nicht taugt, nicht behauptet wird und eine solche Vorstellung auch der Werterechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zweifellos nicht zugrunde liegt. 42 Die Interpretation der Grundrechtsnormen des Grundgesetzes unter Rekurs auf Wertungen der Verfassung oder des Verfassungsgebers ist dagegen grundsätzlich nicht nur legitim, sondern einer methodisch arbeitenden Rechtswissenschaft sogar geschuldet. Dies liegt darin begründet, daß jeder Rechtsnorm und somit auch sämtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes eine Wertung des Normgebers zugrunde liegt; jeder deontologische Satz also axiologisch begründet ist. 43 Die Fassung einer Norm beruht auf einer Wertung des Normgebers, der seine Wertung eben in der Norm zum Ausdruck bringen will. 4 4 In methodologischer Perspektive kann und muß dieser Zusammenhang im Wege der Berücksichtigung genetischer Auslegungsgesichtspunkte umgesetzt werden. Die jeweilige der Norm zugrundeliegende Wertung (Wille) des Verfassungsgebers ist mittels des Rekurses auf die Entstehungsgeschichte im Einzelfall nachzuwei39 Vgl. zur These von der „Notwendigkeit einer Wertbegründung des Rechts" den gleichnamigen Aufsatz von Starck, in: Rechtspositivismus und Wertbezug des Rechts: Vorträge der Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IV) in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von R. Dreier, ARSP, Beiheft 37, 1990, S. 47 ff. 40

Stärker noch ist die These, wonach das gesamte positive Recht seine materiale Grundlage in Werten finde, die durch das Recht zu verwirklichen seien. 41 Vgl. zur Kontroverse nur Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts (Fn. 38), S. 67 ff. und Starck, Zur Notwendigkeit einer Wertbegründung des Rechts (Fn. 39), S. 47 ff., deren Positionen bereits in den jeweiligen Titeln ihrer Beiträge zum Ausdruck kommen. 42

Vgl. nur Alexy (Fn. 13), S. 137; Starck (Fn. 39), S. 59.

43

Vgl. Starck (Fn. 39), S. 58; vgl. zur Unterscheidung von axiologischen und deontologischen Begriffen Alexy (Fn. 13), S. 126 ff. 44

Vgl. auch die Beispiele bei Starck (Fn. 39), S. 53, wobei diese hier nicht als Indiz für die Richtigkeit einer rechtsphilosophischen These von der Notwendigkeit einer Wertbegründung des Rechts behauptet werden sollen, sondern lediglich zur Veranschaulichung der These, daß Recht nicht nur „geronnene Politik", sondern auch „geronnene Werte / Wertungen" darstellt.

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sen und darf und muß i m Falle eines aussagekräftigen Befundes als genetisches Argument in die Gesamtinterpretation der N o r m eingebracht werden. Aus den gleichen Gründen ist es methodisch einwandfrei, wenn zur Auslegung einzelner Bestimmungen (Grundrechte) oder Normkomplexe (Grundrechtsabschnitt) des Grundgesetzes auf einen aus der Entstehungsgeschichte belegbaren „Gesamtwillen" des Verfassungsgebers abgestellt wird, der eine Wertung bzgl. der Gesamtkomposition „Grundgesetz" z u m Ausdruck bringt oder jedenfalls erkennen läßt. 4 5 Werte dürfen aber nicht nur als genetischer Aspekt in die Verfassungsinterpretation eingebracht werden. 4 6 Soweit der Nachweis gefuhrt w i r d , daß bestimmte Wertvorstellungen dem Grundgesetz als Sinnganzem immanent sind oder jedenfalls in i h m angelegt sind, sind diese Wertvorstellungen methodengerechte Interpretationselemente bei der Auslegung der Grundrechtsnormen. 4 7 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist also daraufhin zu untersuchen, ob wertbegriffliche Argumente unter Rückbindung auf Wertungen des Verfassungsgebers oder der Verfassung als Sinnganzem verwandt werden oder Werte bloß behauptet werden. 4 8 45

In jüngerer Zeit mehren sich die Stimmen, die fur eine Aufwertung der genetischen Auslegung und der subjektiven Theorie plädieren: Loos, Bemerkungen zur „historischen Auslegung", in: Festschrift fur Rudolf Wassermann, 1985, S. 123 ff.; Koch, Die Begründung von Grundrechtsinterpretationen, EuGRZ 1986, 345 (357); Schneider, Der Wille des Verfassungsgebers. Zur Bedeutung genetischer und historischer Argumente fur die Verfassungsinterpretation, in: Verfassungsstaatlichkeit. FS fur Klaus Stern, 1997, S. 903 (904); Baldus, Transnationales Polizeirecht, noch nicht veröffentlichte Habilitationsschrift, hier zitiert nach dem Manuskript, § 5, B., I., 2. 46

Die historische Auslegung bezeichnet - soweit sie von der genetischen Auslegung unterschieden wird, was hilfreich ist - die Bezugnahme auf Tatsachen aus der Geschichte des in Frage stehenden Rechtsproblems. Ob man dem geschichtlichen Vorbild aber folgen oder gerade nicht folgen will, erfordert eine Wertung. Der Hinweis auf die Geschichte ist also isoliert ohne Aussagekraft fur die Auslegung einer Norm. Er bedarf der Verbindung mit genetischen oder objektiv-teleologischen Gesichtspunkten. 47 Vgl. zu Wertvorstellungen der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als Quelle von Recht BVerfGE 34, 269 (287) - Soraya; ebd. auch dazu, daß die Entscheidungen der Gerichte auf rationaler Argumentation beruhen müssen. In der Tat bezeichnet das Postulat der „Rationalität von Methodik" die Mindestbedingung einer Rechtswissenschaft, die einen Wissenschaftsanspruch erhebt. Damit vermag es, unabhängig von autorativ gesetzten rechtlichen Vorgaben, aus sich selbst heraus, die Ablehnung eines willkürlichen Methodenpluralismus im Sinne einer fallweisen Variation von Regeln oder auch nur Gesichtspunkten - etwa im Sinne der Topik Viehwegs, Topik und Jurisprudenz, 5. Aufl. 1974 - zu begründen. 48 Die Rekonstruktion der Werterechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird zeigen, daß eine Würdigung derselben keine Klärung von Akzeptanz oder gar Rang der grammatikalischen, systematischen, teleologischen und genetischen Auslegungsgesichtspunkte (vgl. zu anderen Einteilungen Larenz [Fn. 35], S. 320 ff.; Alexy [Fn. 34], S. 19 und 288 f., jeweils m.w.N.) erforderlich macht. Vgl. zum (Rang-)Verhältnis zwischen subjektiven und objektiven Auslegungselementen neben den in Fn. 45 genannten Autoren Engisch, Einführung in das juristische Denken, 5. Aufl. 1971, S. 96 und 230 ff, und zur Bedeutung der genetischen

Der sog. objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte

69

IV. Wert(ordnungs)theorie und „objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte" in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts A u c h wenn das Bundesverfassungsgericht die Anerkennung grundrechtlicher Gewährleistungen jenseits der Abwehrfunktion nicht stets und ausschließlich 4 9 auf eine i m Grundrechtsabschnitt errichtete „(objektive) Wertordnung" 5 0 sowie die Qualifizierung der Grundrechte des Grundgesetzes als „wertentscheidende Grundsatznormen" 5 1 stützt, liegt darin nach wie vor zumeist der zentrale Bezugs- und ursprüngliche Ausgangspunkt. Synonym gebraucht das Gericht 5 2 die Begriffe „grundrechtliches Wertsystem" bzw. „Wertsystem der Grundrechte" 5 3 , „verfassungsrechtliche Grundsatznorm" 5 4 , „objektive Normen", 5 5 „objektivrechtliche Wertentscheidungen" 5 6 , „Wertentscheidung" 5 7 und „objektiv-rechtlicher oder objektiver Gehalt" 5 8 . In den neunziger Jahren haben in diesem Zusammen-

Auslegung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur E 74, 51 (57); 79, 127 (143 f.); 88, 40 (56 f.); 89, 40 (89); insgesamt zur Rangfolge der Auslegungscanones Lorenz (Fn. 35), S. 343 ff. mit zahlreichen Nachweisen ebd., S. 345 Fn. 69. 49 Einen anderen Ansatz, nämlich Art. 1 Abs. I GG, wählt das Bundesverfassungsgericht z.B. mit Blick auf die Schutzpflicht für das menschliche Leben. Dieser Begründungsstrang tritt im ersten Abtreibungsurteil neben eine wertbezogene Argumentation (vgl. BVerfGE 39, 1 [41 f.]), im zweiten Abtreibungsurteil fehlt gar ein Rekurs auf einen objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalt (vgl. BVerfGE 88, 203 [251 f.]), dazu auch Unruh (Fn. 19), S. 31 f. In BVerfGE 33, 303 ff. tritt neben die Aussage, daß die Grundrechte als objektive Nonnen eine Wertordnung statuieren (S. 330), der Gedanke, daß das Freiheitsrecht (Art. 12 GG) ohne die tatsächliche Voraussetzung, es in Anspruch zu nehmen, wertlos wäre. Vgl. zu einer vor allem am Normtext und der Lebenswirklichkeit orientierten Begründung von grundrechtlich fundierten Leistungsrechten auch das erste Finanzhilfe-Urteil zur Privatschulsubventionierung, BVerfGE 75, 40 ff; dazu Jeand'Heur, Methodische Analyse, freiheitsrechtliche und leistungsrechtliche Konsequenzen des Finanzhilfeurteils, in: Müller/Jeand'Heur (Hrsg.), Zukunftsperspektiven der freien Schule, 2. Aufl. 1996, S. 47 ff. 50

BVerfGE 7, 198 (205) - Lüth.

51

BVerfGE 6, 55 (76) - Ehegattenbesteuerung; 35, 79 (112) - Niedersächsisches Vorschaltgesetz; 39, 1 (47) - Erstes Abtreibungsurteil. 52

Ohne insoweit den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.

53

BVerfGE 7, 198 (205) - Lüth; 21, 362 (369 und 372); 25, 167 (179) - zu Art. 6 Abs. 5 GG. Vgl. zur Verwendung des Begriffs Wertsystem mit Blick auf das Grundgesetz als Ganzes, BVerfGE 5, 85 (138 f.) - KPD. 54

BVerfGE, 10, 302 (322) - zu Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG.

55

BVerfGE 7, 198 (205) - Lüth.; 33, 303 (330) - numerus clausus.

56

BVerfGE 49, 89 (142) - Kalkar.

57

BVerfGE 35, 79 (114) - Niedersächsisches Vorschaltgesetz; 25, 167 (182) - zu Art. 6 Abs. 5 GG. 58 BVerfGE 53, 30 (57) - Mülheim-Kärlich; BVerfG, JZ 1998, S. 848 (849) - Kündigungsschutz.

70

Wolfram Cremer

hang insbesondere die Handelsvertreter- 59 und die Bürgschaftsentscheidung 60 sowie jüngst ein Beschluß zum Kündigungsschutzgesetz61 vielfache Beachtung gefunden. 62 Im folgenden werden die argumentativen Grundlagen der sog. „Werttheorie", der darauf fußende Topos von den Grundrechten als „objektive Normen" 63 sowie die Tragfähigkeit der darauf gestützten grundrechtlich fundierten Leistungsrechte offengelegt und methodenkritisch gewürdigt. Soweit das Bundesverfassungsgericht grundrechtlich fundierte Leistungsrechte auf andere Begründungsansätze und Argumente zurückfuhrt, wird dazu hier keine Stellung genommen. 64 1. Zum Problem der relevanten Judikate Eine methodenkritische Würdigung der Wertejudikatur des Bundesverfassungsgerichts sieht sich mit dem Problem konfrontiert, eigentlich sämtliche in diesem Kontext ergangenen Judikate des Bundesverfassungsgerichts einbeziehen zu müssen.65 Zu den zentralen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen dieses seine Wertetheorie entfaltet und begründet hat, werden neben dem bereits erwähnten Lüth-Urteil zumeist die beiden Parteiverbotsurteile gegen die SRP und die KPD sowie das Elfes-Urteil gezählt. Für eine leistungsrechtliche Grundrechtsfimktion ist des weiteren der bereits genannte Beschluß zur Ehegattenbesteuerung aus dem Jahre 195766 von Interesse. In diesen frühen Entscheidungen hat sich das Bundesverfassungsgericht um eine ausführ59 BVerfGE, 81, 242 ff. (insb. S. 254), wonach das Grundgesetz im Grundrechtsabschnitt „objektive Grundentscheidungen" getroffen hat, vgl. zu diesem Urteil auch die Besprechungen von Hermes, Grundrechtsschutz durch Private auf neuer Grundlage?, NJW 1990, 1764 ff.; Schwabe, Urteilsanmerkung, DVB1. 1990, 477 ff. 60

BVerfGE 89, 214 ff. (insb. S. 229) „Grundrechtsabschnitt enthält verfassungsrechtliche Grundentscheidungen für alle Bereiche des Rechts"; vgl. zu diesem Beschluß Wiedemann, Urteilsanmerkung, JZ 1994, 411 ff.; Zöllner, Regelungsspielräume im Schuldvertragsrecht, AcP 196 (1996), 1 ff. 61

BVerfG, JZ 1998, 848 ff. Vgl. dazu auch die Anmerkung von Otto, JZ 1998, 852 ff.

62

Vgl. zu einem anderen Begründungsstrang etwa das zweite Abtreibungsurteil, dazu oben Fn. 49. 63 Vgl. zu weiteren Nachweisen Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973, S. 17 f. Nach H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. I, 1996, Vorb. vor Art. 1 Rn. 43, überwiegen die vom Pathos der Wertordnung gereinigten Formulierungen in jüngerer Zeit deutlich. 64 Eine dementsprechende Darstellung und Würdigung muß hier schon angesichts des Umfangs einer solchen Aufgabe unterbleiben, vgl. andeutungsweise zu anderen Ansätzen, oben Fn. 49. 65

Vgl. auch Goerlich (Fn. 63), S. 30.

66

BVerfGE 6, 55 ff.

Der sog. objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte

71

lichere Begründung bemüht. I n nachfolgenden Entscheidungen hat es eine Begründung vielfach durch Verweis auf vorangegangene Judikate ersetzt; 67 jedenfalls enthalten sie keine substantiellen Ausfuhrungen zu einer i m Grundgesetz oder i m Grundrechtsabschnitt errichteten Wertordnung oder zu den Grundrechten als wertsetzende oder objektive Grundsatznormen. Exemplarisch und abschließend werden insoweit nur die maßgeblichen Passagen des Blinkföer-Urteils und aus jüngerer Zeit der Handelsvertreter-Entscheidung und eines Beschlusses z u m Kündigungsschutzgesetz dargelegt. In den Parteiverbotsurteilen und i m Elfes-Urteil dienten wertbegriffliche Topoi nicht der Kreation neuer Grundrechtsfunktionen, sondern der Konturierung abwehrrechtlichen Schutzes, 68 wobei der Wertegedanke sowohl zur Geltungsverstärkung als auch zur Begrenzung grundrechtlich fundierter Rechtspositionen herangezogen wurde. 6 9 Ohne daß dies hier i m einzelnen nachgewiesen werden könnte, finden sich in diesen Urteilen keine Anhaltspunkte für eine 67

Vgl. dazu auch Goerlich (Fn. 63), S. 31 mit zahlreichen Nachweisen in Fn. 56.

6K

Vgl. zur Funktionenvielfalt des Gedankens der Wertordnung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch Starck (Fn. 39), S. 59 ff. 69 Es ging einerseits um die Beschränkbarkeit (BVerfGE 2, 1 ff. - SRP; 5, 85 ff. - KPD), andererseits um die Ausdehnung des Gewährleistungsbereichs (BVerfGE 6, 32 ff.) der Grundrechte als Abwehrrechte. Im KPD-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht wertbegriffliche Formulierungen vor allem bei der Prüfung des Art. 21 Abs. 2 GG als verfassungswidriges Verfassungsrecht verwandt. Das Elfes-Urteil kann angemessen nur vor dem Hintergrund des damaligen Stands der allgemeinen Grundrechtsdogmatik und insbesondere der Diskussion um die Reichweite des Art. 2 Abs. 1 GG und seiner Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung" eingeordnet werden. Mit Blick auf die Grundrechte des Grundgesetzes bestand die Schwierigkeit darin, daß der Gesetzgeber zwar gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden, zugleich aber hinsichtlich einiger Grundrechte ausdrücklich ermächtigt wird, in die Grundrechte einzugreifen, sie zu beschränken. Diese formelle Voraussetzung für die Verfassungsmäßigkeit von Grundrechtseingriffen wird nur bzgl. einiger Grundrechte, derjenigen mit qualifiziertem Gesetzesvorbehalt, ausdrücklich durch materielle Voraussetzungen ergänzt. Angesichts dieser Ausgangslage und der vor dem Elfes-Urteil strittigen tatbestandlichen Reichweite und gar Grundrechtsqualität des Art. 2 Abs. 1 GG war die Bestimmung des materiellen Umfangs abwehrrechtlichen Grundrechtsschutzes und insbesondere des Art. 2 Abs. 1 GG ein historischer Schritt zu einer (aus damaliger Sicht maßvollen) Geltungsverstärkung der Grundrechte, vgl. auch Zeidler, Nochmals: „Die Verfassungsmäßige Ordnung" - Zur Kritik des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 16.1.1957 durch Hamann. Zugleich einige Bemerkungen zur Urteils- und Besprechungstechnik, BB 1957, 341 (343) „vertretbare mittlere Lösung". Vgl. zu weiteren Reaktionen auf das Urteil Dürig, Urteilsanmerkung, JZ 1957, 169 ff.; Hamann, „Die verfassungsmäßige Ordnung" - Zugleich eine Stellungnahme zu dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 16.1.1957, BB 1957, 229 ff. und BB 1957, 343 f. sowie aus späterer Zeit Schwabe, Mißdeutungen um das „Elfes-Urteil" des BVerfG und ihre Folgen, DÖV 1973, 623 ff. Vgl. unter Rekurs auf die Entstehungsgeschichte auch die heftige Kritik der Relativierung des Rechtsgehalts von Art. 2 Abs. 1 GG angesichts der Gleichstellung von verfassungsmäßiger Ordnung und verfassungsmäßiger Rechtsordnung bei Dehler, Zur Entstehungsgeschichte des Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes, JZ 1960, 727 ff. Heute begegnet eine Interpretation von Art. 2 Abs. 1 GG als „allgemeine Handlungsfreiheit" nur noch vereinzelter Kritik, vgl. vor allem Hesse (Fn. 14), Rn. 425 ff.; Grimm, Sondervotum zu BVerfGE 80, 137 ff. (166 f. und 169 f.) - Reiten im Walde.

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72

leistungsrechtliche Interpretation der Grundrechte. 70 Breiter angelegt ist hier deshalb nur die Rekonstruktion des Ehegattenbesteuerungsbeschlusses und des berühmten 71 Lüth-Urteils. 2. Ehegattenbesteuerungsbeschluß Im Ehegattenbesteuerungsfall hatte das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden, ob eine Schlechterstellung von Ehegatten durch die Zusammenveranlagung zur Einkommensteuer 72 Grundrechte der betroffenen Eheleute verletzt. 73 Prüfungsmaßstab war in erster Linie Art. 6 Abs. 1 GG, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt. Das Bundesverfassungsgericht bejahte einen Verstoß und stellte dabei letztlich auf die Funktion des Art. 6 Abs. 1 GG als Eingriffsverbot und Abwehrrecht ab. 74 Dennoch legte das Bundesverfassungsgericht bereits in dieser Entscheidung streng genommen in der Gestalt eines obiter dictums - maßgebliche Grundlagen für das Verständnis der Grundrechte als objektive Grundsatznormen. Während wertbegriffliche Formulierungen („wertgebundene Ordnung", „oberste Grundwerte") in den Parteiverbotsurteilen zur verfassungsunmittelbaren Begrenzung abwehrrechtlichen Grundrechtschutzes und im Elfes-Urteil zur Stärkung der Grundrechte als Abwehrrechte herangezogen wurden, 75 weist das Bundesverfassungsgericht Art. 6 Abs. 1 GG in seinem Beschluß zur Ehegattenbesteuerung aus dem Jahre 1957 mehrere Grundrechtsfunktionen zu und rekurriert insofern auf die Qualität der Vorschrift als „wertentscheidende Grundsatznorm". 76 Art. 6 Abs. 1 GG erschöpfe sich wie eine ganze Reihe von Verfassungsnormen nicht in seiner klassischen Funktion als Abwehrrecht sowie als Instituts- oder Einrichtungsgarantie. 77 Aufgabe der Verfassungsrechtsprechung sei es, die verschiedenen Funktionen einer Verfassungsnorm, insbesondere eines Grundrechts, zu erschließen, wobei der Auslegung der Vorzug zu geben 70

Vgl. allgemein zu einer ausführlichen Rekonstruktion der Wertejudikatur des Bundesverfassungsgerichts bis zum 30. Band - genauer der Bände 1 - 2 9 und der ersten Lieferung des 30. Bandes (S. 1-128) - Goerlich, Wertordung und Grundgesetz (Fn. 63), S. 31 ff. 71

Böckenförde

(Fn. 38), S. 87, spricht von einer „epochemachenden Entscheidung'4.

72

Normativer Ausgangspunkt war § 26 des Einkommensteuergesetzes i.d.F. vom 17.1.1952 - EStG 1951 - , BGBl. I S. 33. 73 Vgl. zu Reaktionen aus der Literatur auf diesen Beschluß Paulick, Ehegattenbesteuerung in veränderter Sicht, FamRZ 1957, 105 ff.; Spitaler, Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts zur Ehegattenbesteuerung, BB 1957, 268 ff. 74 Im Ehegattenbesteuerungsfall ging es um die Abwehr eines Eingriffs in Form einer Steuererhebung, vgl. ausfuhrlicher unten Fn. 85. 75

Vgl. dazu bereits oben Fn. 69.

76

Vgl. BVerfGE 6, 55 (insb. S. 72 und 76).

77

Ebd., S. 71 f.

Der sog. objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte

73

sei, der „die juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten entfaltet". 78 Sich an dieser Auslegungsmaxime orientierend, sei Art. 6 Abs. 1 GG eine „Grundsatznorm, das heißt eine verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts".79 Bezogen auf einen bestimmten Sachbereich wird bereits in dieser Formulierung die universelle Ausrichtung und der universelle Anspruch von Werten explizit. Der Grundsatzcharakter von Art. 6 Abs. 1 GG wird sodann unter Rekurs auf grammatikalische, systematisch-teleologische und - besonders ausfuhrlich — genetische Auslegungsgesichtspunkte bestätigt.80 Während das Bundesverfassungsgericht bezüglich Wortlaut und Entstehungsgeschichte auf bereichsspezifische Argumente abhebt, ist das verwandte systematisch-teleologische Argument 81 unabhängig von der konkreten Grundrechtsnorm und gibt deshalb Anhaltspunkte für das bundesverfassungsgerichtliche Verständnis sämtlicher Grundrechte, also eines allgemeinen Grundrechtsverständnisses. Das systematisch-teleologische Argument lautet,82 daß nur die Deutung des Art. 6 Abs. 1 GG als Grundsatznorm auch dem „leitenden Prinzip des sozialen Rechtsstaats und der Einordnung der Norm in den Grundrechtsteil der Verfassung gerecht" werde. 83 Aus dem mit Hilfe der genannten Auslegungscanones entwickelten Grundsatzcharakter von Art. 6 Abs. 1 GG leitet das Bundesverfassungsgericht sodann als Rechtsfolge ab, daß die Norm auch positive Handlungspflichten des Staates begründe. Aufgabe des Staates sei die Bewahrung von Ehe und Familie vor Beeinträchtigungen durch andere Kräfte sowie die Förderung durch eigene geeignete Maßnahmen.84 Mit Blick auf die Verknüpfung von wertbegrifflichen Topoi mit einer grundrechtlich fundierten Leistungsfunktion ist an diesem Beschluß mehrerlei bemerkenswert. a) Methodengerechte Herleitung einer bereichsspezifischen Leistungsfunktion Das Bundesverfassungsgericht identifiziert in Art. 6 Abs. 1 GG eine Pflicht, die Grundrechtsgüter Ehe und Familie vor Störungen durch Dritte zu bewahren (heute zumeist als sog. Schutzpflichtdimension bezeichnet), sowie eine von 7R

Ebd., S. 72 im Anschluß an Thoma.

79

Ebd., S. 72.

80

Ebd., S. 72 ff.

81

Vgl. zum Zusammenhang von systematischen und teleologischen Gesichtspunkten Lorenz (Fn. 35), S. 328; Alexy (Fn. 34), S. 295. 82

Das Gericht ordnet das Argument methodisch nicht ein.

83

Vgl. BVerfGE 6, 55 (72).

84

BVerfGE 6, 55 (76).

74

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Drittbeeinträchtigungen unabhängige Förderungspflicht. 85 Diese spezifische grundrechtliche Spannbreite des Art. 6 Abs. 1 GG findet seine methodische Rechtfertigung in den zutreffend auch vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobenen textlichen und entstehungsgeschichtlichen Besonderheiten dieser Grundrechtsnorm. Ausgangspunkt ist die im Normtext („Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung") zum Ausdruck kommende staatliche Pflicht, auch positive Maßnahmen zum Schutz von Ehe und Familie zu ergreifen. Dieser Befund wird vom Bundesverfassungsgericht in unangreifbarer Weise entstehungsgeschichtlich abgesichert. 86 Art. 6 Abs. 1 GG wird also unter Heranziehung von auf die konkrete Norm bezogenen Argumenten eine Leistungsflinktion zugeordnet. Es handelt sich - dem Petitum von Bernd Jeand'Heur entsprechend - um die methodengerechte Entwicklung einer Bereichsdogmatik. Soweit das Bundesverfassungsgericht das Auslegungsergebnis indes durch den Verweis auf die Entfaltung der juristischen Wirkungskraft der Norm, ihre Einordnung in den Grundrechtsteil sowie auf das leitende Prinzip des sozialen Rechtsstaats stützt, vermag dies nicht zu überzeugen. Die juristische Wirkungskraft von Art. 6 Abs. 1 GG galt es gerade zu klären, und die Einordnung der Norm in den Grundrechtsteil gibt keine unmittelbare Einsicht über einen leistungsrechtlichen Gehalt. Letzteres gilt auch für den schlichten Rekurs auf das Prinzip des sozialen Rechtsstaats. Die mangelnde Tragfähigkeit dieser Argumente vermag zwar das mittels genetischer und grammatikalischer Argumente gewonnene bereichsspezifische Ergebnis nicht in Frage zu stellen; dieser negative Befund ist aber - wie zu zeigen sein wird — für die Möglichkeit, eine über Art. 6 Abs. 1 GG hinausgehende allgemeine Leistungsfunktion der Grundrechte zu begründen, von Bedeutung. Hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 GG läßt sich das methodengerechte Auslegungsergebnis wie folgt zusammenfassen: Art. 6 Abs. 1 GG ist eine wertentscheiden85 Ob dieser objektiv-rechtlichen Verpflichtung (vgl. S. 76 f. des Urteils) ein subjektivrechtlicher Anspruch korrespondiert, bleibt in diesem Urteil allerdings offen. Das Bundesverfassungsgericht konnte die Frage unbeantwortet lassen, da es in der Besteuerung einen staatlichen Eingriff sah - die Ausführungen zum Grundsatzcharakter des Art. 6 Abs. 1 GG sind mithin streng genommen als obiter dictum einzustufen - , welcher das Grundrecht bereits in seiner Funktion als Abwehrrecht verletzte. A.A. Classen (Fn. 27), S. 72, der meint, das Bundesverfassungsgericht habe es abgelehnt, Art. 6 Abs. 1 GG in seiner Eigenschaft als Abwehrrecht heranzuziehen, und Roellecke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Festgabe für das Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 1976, S. 22, 42. Das Gericht formuliert aber ausdrücklich, „die Zusammenveranlagung von Ehegatten zur Einkommensteuer (...) stellt also einen störenden Eingriff in die Ehe dar", S. 77 des Urteils. 86

Diese grundsätzliche Ausrichtung wird auch nicht durch die nachfolgende Rechtsprechung in Frage gestellt, die die Herleitung konkreter Ansprüche auf staatliche Leistungen aus dem Förderungsgebot des Art. 6 Abs. 1 GG ablehnt, BVerfGE 39, 316 (326); 82, 60 (81); vgl. dazu auch Schmitt-Kammler, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 1996, Art. 6 Rn. 31; Zacher, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 134 Rn. 100.

Der sog. objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte

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de Grundsatznorm für den Bereich Ehe und Familie, weil die Norm nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte nicht nur Ansprüche auf Abwehr staatlicher Eingriffe und eine Institutsgarantie verbürgt, sondern dem Staat (potentiell) auch positive Handlungspflichten zur Grundrechtssicherung auferlegt. In diesem Verständnis, als deskriptive Kategorie, ist die Charakterisierung einer Grundrechtsnorm als „wertentscheidende Grundsatznorm" unschädlich. b) Zur Entbehrlichkeit

wertbegrifflicher

Topoi

Wenn das Bundesverfassungsgericht im Anschluß an diese Herleitung des Art. 6 Abs. 1 GG als „wertentscheidende Grundsatznorm" darlegt, 87 welche rechtlichen Konsequenzen aus dieser Qualität der Norm folgen, und insoweit neben der Abwehrfunktion (negative Kompetenznorm) eine positive Funktion (Schutz und Förderung) ableiten will, ist dies überflüssig und gar ein Zirkelschluß, weil die methodengerechte Extrahierung der Schutz- und Förderpflicht aus Art. 6 Abs. 1 GG gerade dazu diente, den Charakter oder besser die Etikettierung als „wertentscheidende Grundsatznorm" zu begründen. Die Leistungsfunktion von Art. 6 Abs. 1 GG hatte das Bundesverfassungsgericht bereits unter Heranziehung grammatikalischer, genetischer und - insoweit nicht überzeugend - systematisch-teleologischer Auslegungsgesichtspunkte gewonnen. Die Einstufung von Art. 6 Abs. 1 GG als „wertentscheidende Grundsatznorm" bleibt dann aber ohne rechtlichen Ertrag, wenn daraus lediglich folgt, daß Art. 6 Abs. 1 GG eben das verbürgt, nämlich positive Handlungspflichten des Staates, was schon im Wege der Auslegung ermittelt worden war und seinerseits die „Etikettierung" als „wertentscheidende Grundsatznorm" trägt. Zur Entfaltung der Leistungsfunktion dieses Grundrechts war ein Rekurs auf „Grundsätzliches" oder „Wertentscheidendes" also nicht notwendig. Der Terminus „wertentscheidende Grundsatznorm" ist deshalb allenfalls als deskriptive, nicht aber als normative Kategorie akzeptabel. c) Zur Begründung einer allgemeinen Leistungsfunktion

der Grundrechte

Schließlich bleibt zu erörtern, ob dem Urteil verwertbare Argumente hinsichtlich einer die Norm des Art. 6 Abs. 1 GG übergreifenden allgemeinen Leistungsfunktion der Grundrechte zu entnehmen sind. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich - wenn auch en passant - erklärt, daß neben Art. 6 Abs. 1 GG „eine ganze Reihe von Verfassungsnormen" „mehrere Funktionen" erfüllen, und zählt dazu insbesondere solche, die das Verhältnis des Bürgers zum Staat bestimmen oder das Gemeinschaftsleben regeln. 88 Normen, die das 87

Vgl. zu diesem Argumentationsstrang BVerfGE 6, 55 (72 ff.).

88

BVerfGE 6, 55 (72).

76

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Verhältnis des Bürgers zum Staat bestimmen, sind aber insbesondere die Grundrechte, unter denen folglich wohl „eine ganze Reihe" sein sollen, denen mehrere Funktionen — über die Abwehrfiinktion hinaus - zukommen.89 Des weiteren ist für das bundesverfassungsgerichtliche Verständnis der Grundrechte in ihrer Gesamtheit von Bedeutung, daß das Gericht den Grundsatznormcharakter des Art. 6 Abs. 1 u.a. einzelgrundrechtswtfspezifisch unter Hinweis auf das leitende Prinzip des Sozialstaats und der Einordnung von Art. 6 Abs. 1 in den Grundrechtsteil der Verfassung gewinnt. Bereits im Beschluß zur Ehegattenbesteuerung ist somit eine Funktionenvielfalt der Grundrechte angelegt, die über die abwehrrechtliche Funktion und die Qualität einiger Grundrechte als Instituts- oder Einrichtungsgarantien hinausgeht. Oben wurde aber bereits gezeigt, daß lediglich die bereichsspezifischen Argumente, die auf den Wortlaut und die Entstehungsgeschichte des Art. 6 Abs. 1 GG abheben, die Grundsatz- und Leistungsfunktion dieser Norm methodengerecht herzuleiten vermögen. Die angeführten bereichsunspezifisehen systematisch-teleologischen Argumente entbehren dagegen der Überzeugungskraft. Soweit das Bundesverfassungsgericht einen „wertentscheidenden Grundsatzcharakter" bzw. eine Funktionenvielfalt einiger oder aller Grundrechte andeutet, fehlt es dafür an einer tragfähigen Begründung. d) Zwischenergebnis Eine Analyse des Ehegattenbesteuerungsbeschlusses illustriert, daß das Bundesverfassungsgericht einen Zusammenhang von wertbegrifflichen Topoi und grundrechtlicher Leistungsfunktion bereits vor dem Lüth-Urteil hergestellt hat. Der Rekurs auf „Wertentscheidendes" zur Fundierung grundrechtlicher Leistungsrechte oder jedenfalls Handlungspflichten des Staates90 bleibt aber diffus und methodisch unzureichend, weil es gerade die der konkreten Grundrechtsnorm innewohnende und vom Bundesverfassungsgericht sorgfältig herausgearbeitete Leistungsfunktion ist, die diese zu einer „wertentscheidenden Grundsatznorm" aufsteigen läßt. Folglich vermag zwar die Begründung einer Leistungsfunktion im Sinne einer Bereichsdogmatik des Art. 6 Abs. 1 GG zu überzeugen, für die angedeutete allgemeine Leistungsfunktion aller oder doch einiger Grundrechte fehlt es dagegen an tragfähigen Argumenten. 89 Man mag gegen diese Analyse den Einwand erheben, sie überinterpretiere die Ausfuhrungen des Bundesverfassungsrichts, indem sie die Entscheidung aus ihrem zeitgeschichtlichen Kontext löse - die Wert(ordnungs)diskussion war erst in ihren Anfängen - und ihm so eine Verallgemeinerungsfähigkeit zuschreibe, die das Bundesverfassungsgericht bei der Auslegung von Art. 6 Abs. 1 GG nicht im Blick hatte. Ein solcher Einwand bedürfte angesichts der zitierten Passage des Beschlusses aber der Begründung. 90 Vgl. zum Zusammenhang zwischen subjektivem Recht und objektiv-rechtlicher Handlungspflicht des Staates oben II.l. und bzgl. dieses Beschlusses oben Fn. 85.

Der sog. objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte

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3. Lüth-Urteil Auf eine breite, hinsichtlich des Grundrechtsabschnitts umfassende Basis hat das Bundesverfassungsgericht den „objektiv-rechtlichen Gehalt" der Grundrechte des Grundgesetzes im Lüth-Urteil gestellt. Mit der Frage konfrontiert, ob die Grundrechte im Privatrechtsverkehr auch gegenüber Privaten gelten oder jedenfalls die Auslegung und Anwendung des bürgerlichen Rechts beeinflussen, hat es unter Bezugnahme auf die in den Parteiverbotsurteilen und im Elfes-Urteil aufgestellte These, wonach das Grundgesetz keine wertneutrale Ordnung sei, im Grundrechtsabschnitt die Errichtung einer „objektiven Wertordnung" ausgemacht. Darin komme über den primären abwehrrechtlichen Gehalt der Grundrechte hinaus eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck. Dieses Wertsystem 91 - und darin liegt die rechtliche Bedeutung dieses Konstrukts - müsse als „verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts92 gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von diesem Wertsystem Richtlinien und Impulse". 93 Die im Grundrechtsabschnitt errichtete Wertordnung wird so zum Vehikel, um den Grundrechten 94 jenseits des subjektiven Abwehrrechts eine potentiell umfassende, allerdings inhaltlich noch weitgehend unspezifische Geltungsverstärkung im Sinne eines „objektiv-rechtlichen Gehalts" zuzuweisen.95 Im LüthUrteil wird nicht nur der Grundrechtsabschnitt als Wertordnung entfaltet, sondern ist - trotz insoweit nicht ganz eindeutiger Wortwahl des Bundesverfassungsgerichts - der Charakter eines jeden Grundrechts als „objektive Norm" zumindest angelegt.96 Im Hinblick auf die zu entscheidende Verfassungsbeschwerde, die sich gegen ein zivilgerichtliches Urteil wendete, transformiert und exemplifiziert das Gericht diese potentielle Universalität im Sinne der sog. Drittwirkung der Grundrechte: „So beeinflußt es (das Wertsystem, der Verf.) selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geist ausgelegt werden" 97 . Verkenne der Richter diesen verfassungsrechtlichen Einfluß auf die zivilrechtlichen Normen, verletze er nicht nur objektives Verfassungsrecht, sondern durch das Urteil auch das Grundrecht des betroffenen Bürgers. 98 91 Vgl. zu Art. 2 Abs. 1 GG als Teil des grundrechtlichen Wertsystems S. 220 des LüthUrteils. 92

Hervorhebung nur hier.

93

BVerfGE 7, 198 (205).

94

Vgl. zum Verhältnis der im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes errichteten Wertordnung und den Einzelwerten des jeweiligen Grundrechts bzw. der jeweiligen Rechtsgarantie auch Böckenförde (Fn. 1), S. 5 ff. 95 Vgl. zu den schrittweise und anlaßbezogen anerkannten Leistungsdimensionen der Grundrechte als Folge des umfassend angelegten objektiven Grundrechtsgehalts oben Fn. 25. 96

Vgl. auch Böckenförde

97

BVerfGE 7, 198 (205).

(Fn. 1), S. 6 f.

Wolfram Cremer

78

Eine Begründung für die im Grundrechtsabschnitt errichtete Wertordnung bleibt das Bundesverfassungsgericht indes schuldig. Der Verweis auf die Parteiverbots-Urteile und das Elfes-Urteil vermag eine solch umfassende These nicht zu begründen, da in diesen jedenfalls nicht erläutert wird, wieso gerade einzelne Grundrechte oder der Grundrechtsabschnitt „(oberste) Grundwerte" oder eine „Wertordnung" bilden, aus denen sodann gar Erkenntnisse für einen über den abwehrrechtlichen hinausgehenden „objektiv-rechtlichen Gehalt" der Grundrechte zu gewinnen sind." Gleichfalls scheitern müßte der Versuch, einen über den abwehrrechtlichen hinausgehenden Gehalt der Grundrechte aus der Bindungsanordnung des Art. 1 Abs. 3 GG abzuleiten.100 Art. 1 Abs. 3 GG sagt nur etwas darüber aus, wer Grundrechtsverpflichteter ist; 101 über die inhaltliche Reichweite, einschließlich der Grundrechtsfunktionen, trifft die Norm dagegen keine Aussage. Die These von der im Grundrechtsabschnitt errichteten Wertordnung als Grundlage „objektiv-rechtlicher Grundrechtsgehalte" bleibt folglich nach allem eine bloße Behauptung. Es fehlt jeglicher Anhaltspunkt für eine an der Verfassung orientierte Begründung. 4. Blinkfüer-Urteil Im Blinkfüer-Fall hatte das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden, ob ein Urteil des BGH das Grundrecht des Beschwerdeführers durch Ablehnung eines Schadensersatzanspruches deshalb verletzte, weil es dem Beschwerdeführer einen gegenüber dem Boykottaufruf der Verlagshäuser „Axel Springer" und „Die Welt" nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 1. Alt. GG gebotenen und über die Norm des § 823 Abs. 1 BGB mediatisierten Grundrechtsschutz versagte. 102 Bei der Vermittlung dieses Grundrechtsschutzes spielt die „im Grundrechtsabschnitt 98

BVerfGE 7, 198 (206 f.).

99

Vgl. dazu auch oben bei Fn. 69-70.

100

So argumentiert das Bundesverfassungsgericht im Lüth-Urteil auch nicht. Genau betrachtet, kam es im Lüth-Urteil auf einen über den abwehrrechtlichen inhaltlich hinausgehenden Gehalt der Grundrechte, anders als z.B. im Blinkfuer-Urteil, gar nicht an. Im Lüth-Urteil ging es um die Abwehr eines in der zivilrechtlichen Norm angelegten und durch zivilgerichtlichen Urteilsspruch aktualisierten Verbots, eine Meinung (Boykottaufruf) zu äußern. Wie bereits in Fn. 27 angedeutet, ließ sich der Grundrechtsverstoß der Zivilgerichte im Lüth-Fall folglich aus dem abwehrrechtlichen Gehalt des Art. 5 i.V.m. Art. 1 Abs. 3 GG herleiten, vgl. dort auch zum Blinkfuer-Urteil. Vgl. zum Ausreichen der eingriffsabwehrrechtlichen Grundrechtsfunktion im Ehegattenbesteuerungsfall oben Fn. 74 und Fn. 85. 101 102

In diesem Sinne auch BVerfGE 7, 198 (206 f.).

Anders als im Lüth-Fall kam eine Verletzung des grundrechtlichen Abwehranspruchs des Beschwerdeführers durch die letztinstanzliche zivilgerichtliche Entscheidung im Blinkfüer-Fall nicht in Betracht. Dieser hinsichtlich der einschlägigen Grundrechtsfunktion strukturelle Unterschied zum Lüth-Urteil wird vom Bundesverfassungsgericht nicht erkannt oder zumindest nicht thematisiert.

Der sog. objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte

79

aufgerichtete Wertordnung" insoweit eine Rolle, als unter knapper Wiederholung der einschlägigen Passägen aus dem Lüth-Urteil festgestellt wird, daß diese Wertordnung auf die Auslegung zivilrechtlicher Normen einwirke. 103 Des weiteren wird auf den Schutz des Instituts der freien Presse abgestellt. Das überindividuelle Ziel der Pressefreiheit, die Bildung einer freien öffentlichen Meinung zu gewährleisten und zu erleichtern, verlange unter der im BlinkfuerFall gegebenen Gefährdungslage nach staatlichem Schutz der Presse und verletze im Falle seiner Versagung auch das individuelle Freiheitsrecht des Beschwerdeführers. 104 Der Überzeugungskraft dieses einzelgrundrechtsspezifischen Begründungsstrangs wird an dieser Stelle nicht nachgegangen. Mit Blick auf die hier untersuchte Tragfähigkeit einer im Grundrechtsabschnitt errichteten Wertordnung als Grundlage „objektiv-rechtlicher Grundrechtsgehalte" und vielfachem verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt grundrechtlich fundierter Leistungsrechte bleibt festzuhalten, daß die über den Verweis auf das Lüth-Urteil nicht hinausgehenden Ausfuhrungen des Bundesverfassungsgerichts im Blinkfuer-Urteil keinen weiteren Erkenntniswert besitzen. 5. Handelsvertreterentscheidung und Entscheidung zum Kündigungsschutzgesetz Aus der jüngeren Judikatur des Bundesverfassungsgerichts seien als Beispiele für einen nicht weiter begründeten objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte als Grundlage grundrechtlich fundierter Leistungsrechte des einzelnen die maßgeblichen Ausfuhrungen aus der Handelsvertreterentscheidung 105 und einem Beschluß zum Kündigungsschutzgesetz106 skizziert. Beschwerdegegenstand im Handelsvertreter-Beschluß waren zivilgerichtliche Urteile, die ein vertraglich vereinbartes entschädigungsloses Wettbewerbsverbot für Handelsvertreter bestätigt hatten. Mittelbar richtete sich die Verfassungsbeschwerde gegen § 90a Abs. 2 S. 2 HGB a.F. Unter ausdrücklicher Bezugnah103

BVerfGE 25, 256 (263).

104

BVerfGE 25, 256 (268 f.). Das Bundesverfassungsgericht formuliert allerdings auf S. 268 des Urteils: „Der Boykott der Wochenzeitung 'Blinkfuer' verstieß gegen diese verfassungskräftig gewährleistete Freiheit." Dies ist in zweifacher Hinsicht angreifbar. Erstens wird der Grundrechtsverstoß in einem privaten Verhalten identifiziert, was mit der Ablehnung einer sog. unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte seitens des Gerichts nicht im Einklang steht. Indes sollte die zitierte Passage nicht überbewertet werden, da das Bundesverfassungsgericht anschließend (S. 269) von Grundrechtsverletzungen durch das angefochtene Urteil spricht. Allerdings qualifiziert auch der Leitsatz zum Blinkfuer-Urteil den Boykottaufruf selbst als Grundrechtsverstoß. Mißverständlich ist an der zitierten Passage zweitens, daß bzgl. des gerügten privaten Verhaltens - anders als sonst im Text und im Leitsatz - nicht auf den Boykottaufruf, sondern auf den Boykott abgestellt wird. 105

BVerfGE 81, 242 ff.

106

BVerfG, JZ 1998, 848 ff.

80

Wolfram Cremer

me auf das Lüth-Urteil wird ausgeführt, daß das Grundgesetz keine wertneutrale Ordnung sein wolle, sondern in seinem Grundrechtsabschnitt objektive Grundentscheidungen getroffen habe, die für alle Bereiche des Rechts Geltung verlangten. 107 Weiter heißt es, staatliche Regeln müßten ausgleichend eingreifen, um den Grundrechtsschutz zu sichern, wenn die Bedingungen freier Selbstbestimmung, auf dem das Prinzip der Privatautonomie beruhe, im Rahmen privatrechtlicher Beziehungen tatsächlich nicht gegeben seien.108 Die Notwendigkeit gesetzlicher Vorschriften, die sozialem und wirtschaftlichem Ungleichgewicht entgegenwirken, wird sodann aus den „objektiven Grundentscheidungen des Grundrechtsabschnitts" sowie dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG) abgeleitet.109 Zentraler verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt für die erfolgreiche Verfassungsbeschwerde bleibt trotz des Rekurses auf das Sozialstaatsprinzip 110 der objektiv-rechtliche Gehalt des sachlich einschlägigen Grundrechts (Art. 12 Abs. 1GG). Bezüglich der Frage, ob der Gesetzgeber verpflichtet ist, die gesetzlichen Bestimmungen über den Kündigungsschutz zugunsten der beschäftigten Arbeitnehmer zu verbessern, rekurriert der 1. Senat in einer Entscheidung zum Kündigungsschutzgesetz auf eine aus Art. 12 Abs. 1 GG folgende Schutzpflicht als Prüfungsmaßstab und fügt hinzu, daß die in Frage stehende Kleinbetriebsklausel des § 23 Abs. 1 S. 2 KSchG a.F. „allein am objektiven Gehalt der Grundrechte zu messen" sei. Art. 12 Abs. 1 GG könne nur verletzt sein, wenn der Gesetzgeber „seiner aus diesem Grundrecht abzuleitenden Pflicht zum Schutz der Arbeitnehmer vor Arbeitgeberkündigungen nicht hinreichend nachgekommen ist". 111 Gegenüber dem Sozialstaatsprinzip setze Art. 12 Abs. 1 GG den konkreteren Maßstab.112 Ferner verlangt das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Anwendung zivilrechtlicher Generalklauseln unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Lüth-Urteil die Beachtung des objektiven Gehalts der Grundrechte. 113 V. Schluß Die Rekonstruktion der hier behandelten Judikate sollte verdeutlichen, daß das Bundesverfassungsgericht den Nachweis für die Existenz „objektiv-recht107

BVerfGE 81, 242 (254).

108

BVerfGE 81, 242 (254 f.).

109

BVerfGE 81, 242 (255).

110

Das BVerfG formuliert, daß die gesetzlichen Vorschriften die „objektiven Grundentscheidungen des Grundrechtsabschnitts und damit zugleich (Hervorhebung nur hier) das grundgesetzliche Sozialstaatsprinzip" verwirklichten, ebd., S. 255. m

BVerfG, JZ 1998, 848 (848).

112

BVerfG, JZ 1998, 848 (851).

113

BVerfG, JZ 1998, 848 (849).

Der sog. objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte

81

licher Grundrechtsgehalte" schuldig geblieben ist. Die von ihm verwandten wertbegrifflichen Topoi und die darauf fußenden bzw. damit verschmelzenden „objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte" bilden kein methodengerechtes Fundament für die Anerkennung einer grundrechtlichen Leistungsfunktion bzw. unterschiedlicher Leistungsdimensionen.114 Die Entscheidung zur Ehegattenbesteuerung und das Lüth-Urteil haben die Grundrechte aus ihrer ausschließlichen Funktion als Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe gelöst und ihnen eine potentiell universale Geltung gegeben. Lediglich die bereichsspezifische Argumentation bzgl. Art. 6 Abs. 1 GG im Ehegattenbeschluß (entstehungsgeschichtliches und grammatikalisches Argument) vermochte jedoch die leistungsrechtliche Ausrichtung dieser einzelnen Grundrechtsnorm methodisch überzeugend herzuleiten. Im übrigen bleiben die beiden Entscheidungen, soweit sie wertbegriffliche Topoi verwenden, ohne tragfähige Begründung. Sie vermögen deshalb einen über den abwehrrechtlichen hinausgehenden sog. objektiven Gehalt als Grundlage von Leistungsrechten oder auch nur staatlichen Handlungspflichten nicht zu legitimieren. Wenn das Bundesverfassungsgericht dies in ständiger Rechtsprechung, und zwar vor allem im Wege der Verweisungstechnik für sich in Anspruch nimmt, was an Hand der Blinkfuer-, Handelsvertreter- und Kündigungsschutz-Entscheidung illustriert wurde, muß dem widersprochen werden, damit die Diskussion um grundrechtliche Leistungsrechte nicht in eine methodische Schieflage gerät. Die Auseinandersetzung mit einer in den Grundrechten fundierten Leistungsfunktion darf die „objektive Funktion" der Grundrechte nicht zum gesicherten Grundrechtsbestand oder -wissen zählen und von dieser Prämisse ausgehend, die grundrechtlich fundierten Leistungsrechte begrenzen wollen. 115 Nur wenn 114

Vgl. insgesamt kritisch zur Wertordnungsrechtsprechung Goerlich (Fn. 63), passim, vgl. z.B. seine Schlußbemerkung, S. 187, zustimmend Sachs, in: ders., Grundgesetz. Kommentar, 1996, vor Art. 1 Rn. 66. Vgl. auch Canaris (Fn. 15), S. 225, wonach die Rede von den Grundrechten als „wertentscheidende Grundsatznormen" trivial sei, da zahllose Normen auf jede Stufe der Normenhierarchie Wertungen enthielten und die Zuweisung eines Grundsatzcharakters lediglich die besondere Ranghöhe der Grundrechte zum Ausdruck bringe, und Isensee, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111 Rn. 84: „Begriffswolke". Vgl. aber auch Alexy (Fn. 13), der aufbauend auf der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seine vielbeachtete, vom „Wertedenken gereinigte" Prinzipientheorie entwickelt hat. 115 So geht Böckenförde (Fn. 1), S. 26 ff., vor, wenn er den objektiv-rechtlichen Gehalt der Grundrechte voraussetzt und sodann erörtert, ob dieser durch judicial self-restraint, eine funktionell-rechtliche Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit oder eine Rücknahme verfassungsrechtlicher Kontrolldichte — quasi von außen — wieder zurückgenommen oder eingefangen werden kann. Von dieser Prämisse ausgehend, weist er die in der Literatur insoweit vorgeschlagenen Lösungen zutreffend zurück. Hier wird dafür plädiert, die Prämisse als unzureichend zu qualifizieren. Letztlich fragt allerdings auch Böckenförde, ob angesichts der Unmöglichkeit, den „objektiv-rechtlichen Gehalt" zu bändigen, und den mit seiner Anerkennung verbundenen Folgen nicht zu einem Verständnis „zurückgekehrt" werden muß, nach welchem die Grundrechte nur subjektive Freiheitsrechte gegenüber der staatlichen Gewalt sind.

6 GS Jeand' Heur

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sich der Grundrechtsabschnitt als objektive Wertordnung und die Grundrechte als dessen Elemente mit (potentiell) universeller Ausrichtung hätten ausmachen lassen, müßten Argumente zur Begrenzung grundrechtlich fundierter Leistungsrechte angeführt werden. Fehlt es dagegen an einer solchen objektiven Wertordnung und ihren Elementen, besteht eine solche Argumentationslast nicht. Es bedarf vielmehr des positiven und methodologisch am geltenden Verfassungsrecht auszurichtenden Nachweises der Existenz leistungsrechtlicher Grundrechtsgehalte. Insoweit wurde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 GG die Ergiebigkeit eines einzelgrundrechtsspezifischen oder - mit den Worten von Bernd Jeand'Heur - bereichsdogmatischen Vorgehens dargelegt. Damit soll hier nicht die These vertreten werden, daß die Grundrechtsauslegung eine Grundrechtstheorie im Sinne einer systematisch orientierten Auffassung über den allgemeinen Charakter, die normative Zielrichtung und die inhaltliche Reichweite der Grundrechte 116 nicht einbeziehen dürfe. Die Frage nach der Existenz und Reichweite grundrechtlich fundierter Leistungsrechte muß also den mühsamen Weg der bereichsdogmatischen Betrachtung eines jedes einzelnen Grundrechts beschreiten oder eine unter Einbeziehung des geltenden Verfassungsrechts überzeugende und mit Blick auf eine grundrechtliche Leistungsfunktion ergiebige Grundrechtstheorie entwickeln. Eine Würdigung der insoweit in der Literatur unterbreiteten Vorschläge117 muß jedoch einer weiteren Untersuchung vorbehalten bleiben.

116 Vgl. zu dieser Definition Böckenförde, tion, NJW 1974, 1529 (1529). 117

Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpreta-

Neben den verschiedenen Begründungsansätzen zur sog. Schutzpflichtdimension sind als über das liberale Grundrechtsverständnis hinausgehenden Grundrechtstheorien insbesondere die institutionelle, die demokratisch-funktionale und die sozialstaatliche Grundrechtstheorie zu nennen, vgl. zu dieser Einteilung und zur Kritik Böckenförde (Fn. 116), S. 1532 ff. Diese Klassifikation hat sich weitgehend durchgesetzt; vgl. nur Borowski (Fn. 16), S. 22 f.; Stern, Staatsrecht III/2, 1994, S. 1680 ff. m.w.N. Vgl. zu einem anderen Ansatz Brugger, Kommunitarismus als Verfassungstheorie des Grundgesetzes, AöR 123 (1998), 338 ff. - Die Prinzipientheorie von Alexy hat zwar vielfache Zustimmung erfahren. Sie ist aber vor allem eine Struktur- bzw. Konstruktionstheorie, die notwendige Wertungen bzw. Grundrechtsinhalte nicht zu begründen vermag, sondern besagt, welche Wertungen im Sinne einer Prüfungsstruktur wo zu treffen sind, so auch Borowski (Fn. 16), S. 24, dessen Dissertation auf den Arbeiten Alexys aufbaut. Vgl. auch die Ausfuhrungen von Alexy selbst (Fn. 13), S. 149 ff., insb. S. 152 und 520.

Ethische, verfassungstheoretische und rechtliche Vorüberlegungen zum Naturschutz Von Detlef Czybulka

I. Die Ausgangslage im Umwelt- und Naturschutz Entwickelte Industriegesellschaften sind im Bereich des technischen Umweltschutzes recht erfolgreich. Andererseits scheinen die Probleme, die sich technischer Abhilfe entziehen, in den gleichen Gesellschaften nahezu unlösbar zu sein1. Dies betrifft besonders den bei stagnierender Einwohnerzahl weiter zunehmenden Flächenverbrauch, den Verlust biologischer Vielfalt in der Fläche und die Aussterberate der Arten 2 , also unmittelbar den Bereich des Naturschutzes. Für diese negative Entwicklung ist in erster Linie menschliches Handeln verantwortlich. Mit Hilfe des Rechts kann menschliches Handeln beeinflußt werden, wenn auch seine Steuerungsleistung gerade in diesem Bereich nicht überschätzt werden darf. 3 In diesem Beitrag werden Vorüberlegungen im Bereich der Ethik, der Verfassungstheorie und des geltenden Rechts angestellt, mit dem Ziel, den Naturschutz zu verbessern. Mit gleicher Berechtigung könnte und müßte man den Problembereich vom naturwissenschaftlich-technischen Vorverständnis der Gesellschaften aufrollen 4 und sozioökonomische Analysen anstellen, was hier nicht geleistet werden kann. Gegen die Anführung der Verfassungstheorie im Titel kann eingewendet werden, es gäbe ja mit Art. 20a GG und den entsprechenden Bestimmungen der Landesverfassungen schon seit einiger Zeit gültige Verfassungsbestimmungen zum Schutze der „natürlichen Lebensgrundlagen". In der Tat liegt dem Titel implizit die These zugrunde, daß diese Staatszielbestimmungen nach ihrer derzeitigen Interpretation und normativen Umsetzung den für erforderlich gehaltenen Schutz der Natur nicht in genügendem Ausmaße leisten5. 1 Vgl. Ott, Umweltethik in schwieriger Zeit. Festschrift anläßlich der [Greifswalder] Antrittsvorlesung am 17.10.1997, Hamburg o.J. (1998), S. 51 f. 2

Vgl. Edward

O. Wilson, Der Wert der Vielfalt, 1997, S. 310.

3

Czybulka, Naturschutzrechtlicher Flächen- und Artenschutz und landwirtschaftliche Produktion, in: Ramsauer (Hrsg.), Landwirtschaft und Ökologie, 1998, S. 123 ff. (126). 4

So in der Tendenz wohl Steinberg, Der ökologische Verfassungsstaat, 1998; vgl. auch Hager, Naturverständnis und Umweltrecht, JZ 1998, 223 ff. 5 Vgl. den parallelen Ansatz in einem anderen Themenbereich bei Neumann, Der Grundrechtschutz von Sozialleistungen in Zeiten der Finanznot, NZS 1998, 401 ff.

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Detlef Czybulka

II. Naturschutz als Staatsaufgabe, öffentliche oder gesellschaftspolitischeAufgabe? Ein erstes Theoriedefizit besteht darin, daß „Umweltschutz" und „Naturschutz" in der (verfassungs-)rechtlichen Diskussion mehr oder weniger über einen Leisten geschlagen werden. Zwar sind Probleme des Naturschutzes (aber z.B. auch der Bevölkerungspolitik) Ausgangspunkte eines verschärften Umweltbewußtseins gewesen, das letztlich zu einer institutionellen Verankerung von Umweltschutzverwaltungen und zu entsprechenden Verfassungsartikeln führte; heute spielen sie in der verfassungsrechtlichen Literatur aber so gut wie keine Rolle 6 . Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Aufgabenbereichen 7 besteht in inhaltlicher Sicht darin, daß Naturschutz die Erhaltung der biologischen Vielfalt (Biodiversität) in ihren jeweiligen Lebensräumen zum (Haupt-) Inhalt hat, Umweltschutz der nachhaltigen Entwicklung (des Menschen) dienen soll. Die Situation ist natürlich komplizierter, die Zusammenhänge sind evident. Normative Anknüpfungspunkte für diese Differenzierung sind auf völkerrechtlicher Ebene die Biodiversitätskonvention 8 und auf nationaler neben der Staatszielbestimmung des Art. 20a GG insbesondere die moderneren Landesnaturschutzgesetze. In Artikel 2 der Konvention wird biologische Vielfalt definiert als „die Variabilität unter lebenden Organismen jeglicher Herkunft, darunter unter anderem Land-, Meeres- und sonstige aquatische Ökosysteme und die ökologischen Komplexe, zu denen sie gehören; dies umfaßt die Vielfalt innerhalb der Arten und zwischen den Arten und die Vielfalt der Ökosysteme". Der hier verhalisierte „Ökosystemare" Ansatz9 (Ökosystemschutz) findet z.B. auch Verwendung in Art. 39 der Brandenburgischen Verfassung und ist der zweite Hauptinhalt des Naturschutzes. Wenn man diese Differenzierung vornimmt, erkennt man die derzeitige Unterbelichtung des Gegenstandes „Naturschutz" besser. Beginnen wir mit der Frage, ob Naturschutz eine Staatsaufgabe ist. Für den „Umweltschutz" ist diese Frage längst im bejahenden Sinn entschieden10. Die entsprechende kategoriale Verortung bei der Aufgabe Naturschutz fällt nicht leicht, wenn man eine Realanalyse anstellt. Zwar richtet sich Art. 20a GG nach seinem klaren Wortlaut an 6 Vgl. z.B. die Literaturübersicht bei Wolf, Gehalt und Perspektiven des Art. 20a GG, KritV 1997, 280 ff. (Fn. 6 ff.); Wolf selbst bestimmt allerdings den gegenständlichen Schutzbereich des Art. 20a GG genauer und vertritt wie Verf. den Gedanken des Ökosystemschutzes. 7

Naturschutz (und Landschaftspflege) ist nach Art. 75 Abs. 1 Nr. 3 GG eine eigene Gesetzgebungsmaterie. 8

Text: BGBl. 1992 II S. 1742.

9

Weiterfuhrend Niederstadt , Ökosystemschutz durch Regelungen des öffentlichen Umweltrechts, 1997. 10 Vgl. Rauschning und Hoppe, Staatsaufgabe Umweltschutz, VVDStRL 38 (1980), S. 167 ff., 211 ff.

Vorüberlegungen zu einer verfassungsrechtlichen Theorie des Naturschutzes

85

den Staat (Bund, Länder und Gemeinden); eine eindeutige Umsetzung als Staatsaufgabe findet sich aber weder in den Landesverfassungen noch im geltenden einfachen Recht. Naturschutz erscheint eher als „öffentliche Aufgabe 4 , die zu einem beachtlichen Teil von Privaten und Verbänden außerhalb des Sektors des öffentlichen Rechts zu erfüllen ist. Das naturschutzfachliche monitoring (unscharf „Umweltbeobachtung" genannt) ist erst jetzt als Staatsaufgabe in das Landesnaturschutzgesetz M - V aufgenommen worden 11 , obwohl staatlicher Naturschutz ohne derartige Grundlagenermittlung kaum funktionieren kann. Angesichts der mageren finanziellen und personellen Ausstattung der hauptamtlichen Naturschutzverwaltung ist der Staat auch zukünftig beim monitoring wie bei der Erarbeitung gutachtlicher Stellungnahmen (Verbandsbeteiligung nach § 29 BNatSchG) auf den ehrenamtlichen Naturschutz angewiesen. Die erst kürzlich erfolgte stärkere Berücksichtigung des Vertragsnaturschutzes in den Naturschutzgesetzen (vgl. § 3a BNatschG12) steht faktisch unter einem Finanzierungsvorbehalt. Man kann nun anfuhren, damit setze sich das Kooperationsprinzip durch und der Naturschutz sei insoweit nur der allgemeinen Rechtsentwicklung „voraus" gewesen. Für jeden Kenner der Szene ist dies Wortgeklingel. Es fehlen „scharfe" Durchsetzungsinstrumente der Verbände im Naturschutzrecht, so - immer noch - die Verbandsklage im Bund und in 4 Bundesländern. Im Wirtschaftsverwaltungsrecht haben hingegen z.B. die Industrie- und Handelskammern eigenständige „Verbands-" Klagerechte 13, die Handwerkskammern echte hoheitliche Befugnisse. Als Fazit ist festzustellen, daß der Naturschutz keine reine Staatsaufgabe ist, vielmehr ein erheblicher Teil der Leistungen außerhalb des staatlichen Sektors erbracht wird. Eine denkbare instrumentelle oder finanzielle Kompensation zu Gunsten der Verbände erfolgt nicht bzw. nur in sehr geringem Maße. Dies muß tendenziell ein „Staatsziel" Naturschutz im Rahmen des Art. 20a GG schwächen. Insofern scheint es konsequent, über „ökologische Grundpflichten" bzw. Rechtspflichten des Bürgers gegenüber der Natur nachzudenken14. I I I . Grundpflichten und sonstige Rechtspflichten der Bürger 1. Grundpflichten im Naturschutz Grundpflichten der Bürger im Naturschutz könnten tendenziell ihre EigenVerantwortung bei der Verwirklichung von Naturschutz-Zielen stärken und den " Vgl. § 9 LNatG M-V vom 21.7.1997, GVB1. S. 647; im BNatSchG fehlt eine entsprechende Rahmengesetzgebung. 12

BNatSchG i.d.F. der Neubekanntmachung vom 21.9.1998, BGBl. I S. 2994.

13

Vgl. etwa §§ 12, 13 Abs. 2 HandwO.

14 Zuletzt Führ, Ökologische Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, NuR 1998, 6 ff.

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Detlef Czybulka

Staat finanziell weiter entlasten. Tatsächlich findet sich zwar nicht in Art. 20a GG, aber in sieben der zwölf Flächenstaaten Deutschlands eine landesverfassungsrechtlich verankerte „ökologische" Pflichtenstellung des Bürgers, die sich zumeist (auch) explizit auf die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und/oder die Naturschönheiten bezieht15. So heißt es Art. 39 Abs. 1 der Verfassung des Landes Brandenburg 16 : „Der Schutz der Natur, der Umwelt und der gewachsenen Kulturlandschaft als Grundlage gegenwärtigen und künftigen Lebens ist Pflicht des Landes und aller Menschen". In Mecklenburg-Vorpommern wird in Art. 12 Abs. 3 S. 2 LV die besondere Pflichtenstellung der Land-, Forst- und Gewässerwirtschaft betont. Grundpflichten differieren in ihrer Begründungsdimension und ihrem Verpflichtungsgehalt von sonstigen Rechtspflichten. Sie bedürfen der verfassungsrechtlichen Verankerung 17. Inwiefern sie instrumentalisierbar und umsetzbar sind, ist eine weitere Frage. Für die in Art. 12 der Landesverfassung M - V genannten Bereiche der Landund Forstwirtschaft ergibt sich die Pflichtenstellung unkompliziert aus dem Eigentumsrecht. „Eigentum verpflichtet" eben, sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Diese unmittelbar dem Wortlaut des Art. 14 GG zu entnehmende Pflicht als inhärente Kehrseite des Grundrechts („Ökologiepflichtigkeit des Eigentums")18 muß beim Gewässereigentum, beim Bergrecht und für „eigentümerfreie" Bereiche dogmatisch etwas modifiziert werden. Im Ergebnis kann es aber nicht zweifelhaft sein, daß auch hier den Betreibern mindestens ebenso qualifizierte „Betreiberpflichten " zu Gunsten des Naturschutzes auferlegt werden können wie den „Volleigentümern", wenn sie die Natur wirtschaftlich nutzen. Wenn schon der Volleigentümer entsprechende Einschränkungen ( in der Regel entschädigungslos) hinnehmen muß, gilt dies erst recht für (teilweise) öffentlich-rechtliche Nutzungsregimes, die als solche verfassungsgemäß sind 19 und verstärkt dem Gemeinwohl (und nicht dem Eigennutz) dienen sollen. Die Analyse des gegenwärtigen Rechtszustands zeigt allerdings, daß diese verfassungsrechtliche „Botschaft" nicht angekommen ist. Zwar ist endlich der Mißgriff in § 1 Abs. 3 BNatSchG beseitigt worden, wonach fingiert wurde, daß die „ordnungsgemäße" Landwirtschaft den Zielen des Naturschutzgesetzes diene; mit der Formel von der guten fachlichen Praxis verlagert der Bundesgesetzgeber hier aber die Anforderungen in das Bundes-Bodenschutzgesetz und in 15

Übersicht bei Führ (Fn. 14), S. 7 f.

16

GVB1. Brandenburg 1992, S. 2006; vgl. auch Art. 10 Abs. 1 S. 1 der Verfassung des Freistaates Sachsen, GVB1. 1992, S. 243. 17

Vgl. Führ (Fn. 14), S. 9.

18

Czybulka, Eigentum an Natur, NuR 1987, 214 ff. (217).

19

BVerfCE 58, 300 (339 ff.) - Naßauskiesung.

Vorüberlegungen zu einer verfassungsrechtlichen Theorie des Naturschutzes

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andere verstreute Regelwerke 20. Die im 3. Gesetz zur Änderung des BNatSchG verankerten „Ausgleichszahlungen"21 sind Beispiel einer erfolgreichen politischen Lobbyarbeit; verfassungsrechtlich läßt sich eine derartige Bevorzugung der Landwirte als Bodennutzer und Betreiber agrarischer Betriebe nicht rechtfertigen. Während sich im technischen Umweltrecht dynamische Grundpflichten durchgesetzt haben, die dem Betreiber Investitionen zur Verbesserung der Umweltqualität abverlangen, soll der Landwirt für seine Enthaltsamkeit beim Nichteinsatz bestimmter Übermengen an Kunstdünger oder schwerer Geräte finanziell entschädigt werden. Verfassungsrechtliche Bedenken betreffen auch die Handhabung des Bergrechts und die bislang z.T. verabsäumte Durchsetzung des Naturschutzrechts im marinen Bereich 22. Entfernt man sich vom Eigentum (oder eigentumsähnlichen Surrogaten, Erlaubnissen oder Bewilligungen), wird es mit der Begründung von „Grundpflichten" schwierig. „Jedermanns- Pflichten" sind zudem notorisch wirkungslos, wenn sie nicht mit Straf- oder Bußgeldandrohungen verbunden sind 23 . Um eine solche „verstärkte" Rechtspflicht überhaupt plausibel zu machen, müßte das Ziel sowie der Bezugspunkt der Verpflichtung klar angesprochen sein. Damit wäre zugleich der Gesetzgeber gefordert, der vor allem die Schutzgüter weiter konkretisieren muß 24 . Die Steuerzahlungspflicht und (noch) die Wehrpflicht als bestehende Grundpflichten bedürfen einer derartigen präzisen Legitimierung und Ausformung nicht 25 . Der „Naturschutzpflicht" fehlt zudem die Selbstverständlichkeit der Akzeptanz wie sie der allgemeinen Steuerpflicht, die ja auch erst eine neuzeitliche Schöpfung ist, mittlerweile zukommt. Bei der Steuerzahlung wird vermutet, daß der Staat das Steueraufkommen zur Sicherung der bekannten verfassungsrechtlichen Verbürgungen (Freiheit, Frieden, Eigentum) einsetzt. Bei der „Naturschutzpflicht" bedürfte es zum einen ohnehin konkreter Gebote und Verbote, um eine „Scheinsteuerung" zu vermeiden; zum zweiten läßt sich die Pflicht auch nicht so leicht in einem bündigen Befehl (wie: Steuern zahlen!) formulieren. Als Grundpflicht wäre die Pflicht zum 20

Vgl. § 8 Abs. 7 BNatSchG (Fn. 12).

21

Vgl § 3b BNatSchG vom 26.8.1998, BGBl. I S. 2481, eingeführt durch das 3. Gesetz zur Änderung des BNatSchG. 22 Czybulka, Rechtsfragen im Zusammenhang von Kies- und Sandabbau und Belangen des Naturschutzes im Gebiet des Küstenmeeres (Territorialgewässer) und der Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ), unv. Rechtsgutachten im Auftrag des Bundesamtes für Naturschutz, 1997. 23 Auch das bestehende Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht im Naturschutz (nicht allgemein: Umweltschutz) wird als praktisch bedeutungslos, § 329 Abs. 3 StGB sogar als „Akt symbolischer Gesetzgebung" gewertet, Kloepfer/ Viehaus, Umweltstrafrecht, 1995, S. 121. 24 Siehe Kloepfer, 1996, 73 ff. (76). 25

Umweltschutz als Verfassungsrecht: Zum neuen Art. 20a GG, DVB1.

Diese Pflichten verfugen über eine eigene verfassungspositive (Art. 12a GG) bzw. verfassungsgewohnheitsrechtliche (Steuern) Rechtfertigung.

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schonenden Umgang und zur Erhaltung der Natur zum einen zu hoch gehängt, zum anderen wahrscheinlich wirkungslos. Ich hatte oben auf den „Bezugspunkt" der Verpflichtung hingewiesen. Es gibt im Grundgesetz ein Beispiel einer „fremdnützigen Ausübungspflicht", nämlich die in Art. 6 Abs. 2 GG festgelegte Pflicht der Eltern zugunsten des Kindes 26 . Eine in ähnlicher Weise „elementare" Rechtspflicht des Bürgers in Ansehung der Natur ist bislang keine dem mitteleuropäischen Kulturkreis vertraute Vorstellung. Die Natur kann auch nicht ohne weiteres mit einem (wehrlosen) Kind verglichen werden. Der „Begünstigte" der immerhin denkbaren (Handlungs-) Pflicht wäre keine Person, so daß problematisch wird, wem gegenüber (welchen Wesen oder „Entitäten") diese (angenommenen) Rechtspflichten geschuldet sind. Die Beantwortung dieser Frage bedarf noch einer ethischen Vertiefung (unten V . - V I ) . Relativ leicht ließe sich verfassungstheoretisch eine allgemeine Rechtspflicht zur Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen gegenüber künftigen Generationen begründen. Diesen Weg geht z.B. Art. 10 Abs. 1 der sächsischen Verfassung. Aber bei dieser Variante geht es in der Begründungsdimension nicht um den Naturschutz, sondern in erster Linie um ein Gleichheitsproblem, die intergenerationelle Verteilungsgerechtigkeit, bezogen auf die natürlichen Ressourcen (Ressourcengerechtigkeit). Diese Verteilungsproblematik gehört zu einem anderen wichtigen, in der Tradition des Utilitarismus stehenden Problemkomplex, nämlich (inhaltlich) dem der Nachhaltigkeit (sustainability) und prozedural einem vertragstheoretischen Ansatz der Gerechtigkeit. Bei der eingangs zitierten Biodiversitätskonvention stand bei ihrer Entstehung die Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Staaten im Vordergrund. Die Begründung ist daher nur für den Umweltschutz tauglich. Naturschutz im Sinne der Erhaltung der biologischen Vielfalt soll in erster Linie gerade nicht [auch nicht gerecht] verteilen bzw. „vermarkten", sondern vor allem Arten und Ökosysteme in ihrer Vielfalt erhalten, ihnen eigene Lebenschancen belassen. Auch hier muß ich vereinfachen. Aber eindeutig ist, daß der aus der Biodiversität zu ziehende Nutzen für die Pharmaindustrie oder die Menschen, moralisch zumeist gestützt auf das sog. Genpoolargument 27, keine Handhabe für eine Verpflichtung gerade gegenüber der Natur bietet. Ein spezifisch aus der Biodiversität ableitbarer Aspekt ist der ästhetische Eindruck und der Erlebniswert, den Einzelschöpfungen, Arten und Biotope vermitteln können, und der beim Erlöschen der Art oder des Lebensraums unwiederbringlich, also auch für die künftigen Generationen, verloren geht. 26

Vgl. Bernd Jeand'Heur, Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum Wohl des Kindes und staatliche Interventionspflichten aus der Garantienorm des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, 1993, S. 297. 27

von der Pfordten, Weshalb sollen wir die biologische Vielfalt retten?, in: Czybulka (Hrsg.), Ist die biologische Vielfalt noch zu retten? Dritter Warnemünder Naturschutzrechtstag, Baden-Baden 1999 (i.E.).

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Hierauf könnte eine naturschützerische Grundpflicht gestützt werden. Obwohl ästhetische Argumente als Grund für die Bewahrung der Natur wahrscheinlich unterschätzt werden 2 8 , muß ich hier die Überlegungen abbrechen. 2. Sonstige Rechtspflichten in bezug auf den Schutz der Natur Konkrete Rechtspflichten in bezug auf die Natur ergeben sich vor allem aus dem öffentlichen Recht. Es stehen einige rechtstechnische Möglichkeiten zur Verfugung, um den erforderlichen Schutz zu bewirken: -

Sicherung der Natur durch die Einrichtung von Schutzgebieten verschiedener Kategorien. Das bedeutet die flächenhafte Anwendung eines speziellen Rechtsregimes zum Schutze der Natur auf einem Teil des Staatsgebiets (oder in der Ausschließlichen Wirtschaftszone);

-

Schutz der Natur auf der „gesamten Fläche" durch Einführung geeigneter ökologischer Standards und sonstiger Betreiber- oder Nutzerpflichten bei Inanspruchnahme der Natur, insbesondere bei der landwirtschaftlichen Bodennutzung, aber auch bei der forst- und fischereiwirtschaftlichen Nutzung und im Bergwesen;

-

Pflegepflichten schaften 29;

-

bei den verschiedenen Formen der Planung tritt ein definitiver Schutz erst ein, wenn die Planung verbindlich und abwägungsfest geworden ist 30 ;

-

die Eingriffsund Ausgleichregelung setzt tatbestandlich voraus, daß ein neuer, zusätzlicher Eingriff in die Natur geplant oder durchgeführt wird. Sie schützt nur begrenzt (s.u. VII.).

zur Erhaltung von Einzelschöpfungen und Kulturland-

Daneben gibt es detaillierte Rechtspflichten, vor allem Verbote im Bereich des Artenschutzes, aber auch der Erholung, so die wenig beliebten Pilzsammeiverbote 31. Ich will die Bedeutung dieser spezifischen Rechtspflichten nicht herabsetzen. Sie können aber nicht im Zentrum dieser Überlegungen stehen. Insgesamt fallt auf, daß Rechtspflichten in diesem Bereich nicht zahlreich sind und keinem Gesamtkonzept zu folgen scheinen.

28

Ähnlich Singer, Praktische Ethik, 2. Aufl. 1994, S. 344 ff.

29

Nach Bundesrecht besteht die Pflegepflicht nur im besiedelten Bereich, § 11 BNatSchG.

30 Hierzu näher Czybulka, Gesetzliche Rahmenbedingungen für Vorrangflächen des Naturschutzes und Entwicklungsbedarf aus juristischer Sicht, in: BfN (Hrsg.) Schutzgebietssyssteme und naturschutzfachliche Bewertung großer Räume, 1999 (i.E.). 31 Vgl. z.B. § 1 Abs. 1 Nr. 4, §§ 20e und f BNatSchG und die Ausnahmebestimmung des § 2 der BundesartenschutzVO.

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IV. Naturschutz als Legitimationsproblem des Staates 1. Formales oder materiales Legitimationskonzept? Kann der Staat, indem er die Natur schützt, Legitimation erlangen? Mit Legitimation ist hier nicht die politologisch-soziologische Kategorie der Akzeptanz gemeint 32 . Im Naturschutz gibt es tatsächlich immer wieder Akzeptanzprobleme etwa im Umfeld der Nationalparke, die zumeist irrational sind 33 . „Legitime öffentliche Aufgabenerfullung" ist ein — wenngleich sehr „weicher" Schlüsselbegriff in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 34. Der Staat soll sich nicht beliebigen, sondern solchen Aufgaben zuwenden, die dem Allgemeinwohl dienen und -wie etwa die Friedenssicherung - den Konsens der Bürger finden können. Der Naturschutz hat es hier nicht so leicht wie der Umweltschutz, der auf biotische Legitimationsgründe rekurrieren kann 35 . Letztlich kann nämlich die Auferlegung von Verhaltenspflichten im Umweltrecht immer im Hinblick auf Gefahren oder Risiken für den Menschen erfolgen. Die Auferlegung einer Pflicht zur Einhaltung „ökosystemarer" Grenzwerte hingegen kann - um ein Beispiel zu geben - nicht zwingend auf eine Gefahrdung des Menschen gestützt werden, ganz sicherlich nicht ein Pflanzgebot heimischer Sträucher (und das entsprechende Verbot von Thuja occidentalis). Beim folgenden Versuch der Anführung inhaltlicher Legitimationsgründe nehme ich die Mahnung von Bernd Jeand'Heur ernst, daß sich der Staat hinsichtlich moralischer Anschauungen, ethischer Standpunkte und religiöser Positionen keinerlei Urteil anmaßen sollte. 36 Insoweit bieten ein formaler Konsensbegriff und darauf aufbauend ein formales Legitimationskonzept die vielleicht beste Chance beständiger Anerkennung des Staates durch das Staatsvolk. Ich habe versucht, die Vorteile einer derartigen Sicht anhand der legitimatorischen Bedeutung „richtiger Organisation" und „richtigen Verfahrens" im Bereich der öffentlichen Verwaltung aufzuzeigen 37. Zu bedenken ist aber, daß ein Rechtssystem, das angesichts der eingetretenen Umweltverschmutzung und Naturzerstörung nach wie vor an der Legitimität entsprechender „Verschmutzungs"- Freiheiten festhält, in 32 Vgl. Czybulka, Akzeptanz als staatsrechtliche Kategorie?, Die Verwaltung 26 (1993), 27 ff., 35. 33

Zu Konflikt- und Problemfeldern beim Ausweis von Schutzgebieten Soell , Schutzgebiete im Naturschutz- und Landschaftsplfegerecht, in: UTR 20 (1993), S. 133 ff. (143 ff). 34

Vgl. BVerfGE 10, 89 (102); 15, 235 (241); 32, 54 (65); 78, 320 (329).

35

Hierzu Lampe, Anthropologische Legitimation des Grundgesetzes, in: Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, S. 189, 198 ff. 36

Bernd Jeand'Heur, (463).

Formales oder materiales Konsensprinzip?, ARSP 81 (1995), 453 ff.

37 Czybulka, Die Legitimation der öffentlichen Verwaltung unter Berücksichtigung ihrer Organisation sowie der Entstehungsgeschichte zum Grundgesetz, 1989.

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der gegenwärtigen Situation „nicht mehr angemessen" sein kann 38 . Man kommt somit an einer inhaltlichen Auffüllung des Legitimationskonzeptes nicht herum. Diese Auffüllung etwa durch die Staatszielbestimmung des Art 20a GG, durch das Völkerrecht (Biodiversitätskonvention) und das Europäische Recht (FaunaFlora-Habitat-Richtlinie) als „Normativierung der Natur" anzusehen39, wäre ein Mißverständnis. Es geht um die Legitimität einer normativen Regelung unseres (menschlichen) künftigen Umgangs mit der Natur, und den Schutz, den wir ihr insgesamt und im speziellen angedeihen lassen wollen. Eine Staatszielbestimmung verselbständigt sich von ihrem politischen Ursprung 40 . Sie kann vielleicht an Geltungskraft gewinnen, wenn sie kompatibel ist mit der moralischen Grundausrüstung des Menschen41. Diese ist in hohem Maße komplex und besteht offenbar zu einem erheblichen Teil aus genetisch vererbten Verhaltensweisen. Daneben besteht eine zweite, starke Schicht von traditional überkommenen und insoweit „erprobten" gesellschaftlicher Verhaltensregeln, die weder geplant noch verstanden sind. Hierzu gehören viele dunkle Seiten des menschlichen Verhaltens, aber wohl auch der Kant'sehe Grundsatz der praktischen Vernunft: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte". Als drittes gehört dazu „die dünne schwankende Schicht von Regeln, die bewußt konzipiert und akzeptiert wurden, um bestimmten Zwecken zu dienen, etwa die Vorschriften des positiven Rechts"42 . Artikel 20a GG ist eine solche „bewußt konzipierte" Norm. Sowohl die zweite wie die dritte Schicht können zur Konsens- und zur Legitimationsbildung eingesetzt werden. Die Frage der inhaltlichen Legitimation des Naturschutzes ist somit zugleich - jedenfalls teilweise eine moralische Frage (unten IV). 2. Legitimation durch Rechtsetzung Rechtsetzung hat in der Demokratie immer auch einen prozeduralen Legitimationsaspekt. Schon deshalb kann Naturschutz legitimerweise auch mit Mitteln des staatlichen Rechts verbessert werden. Generell läßt sich die (prozedu38 R. Schmidt, Umweltschutz durch Grundrechtsdogmatik, in FS für Hans F. Zacher zum 70. Geburtstag, 1998, S. 947 ff. (950). 39 Roellecke, Das Machbare und die Unterscheidung. Vom Sein zum Sollen und zurück, Rechtstheorie 27 (1996), 1 ff. (3). 40

Wie jedes Gesetz, vgl. Grimm, Politik und Recht, in: FS für Ernst Benda zum 70. Geburtstag, 1993, S. 91 ff. (97). 41 Das garantiert allerdings nicht den Erfolg der Norm; aus dem Bereich der Umweltmoral wissen wir, daß das Umweltbewußtsein „nur sehr begrenzt handlungsreleveant" ist, Preisendörfer, Ökonomie und / oder Moral?, in: Umweltschutz in der Verhaltensklemme (Herrenalber Protokolle, Bd. 103), 2. Aufl. 1995, S. 17 ff. (23). 42

Mohr, Natur und Moral. Ethik in der Biologie, 1995, S. 86.

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rale) Legitimation einer Rechtsetzung dadurch erhöhen, daß der Gesetzgeber einem Thema einen besonderen Rang zuweist. Allerdings müssen Rang und Inhalt zusammenpassen. Technische Details gehören (an sich) nicht in eine Verfassung. Die für die (Inhalts-)Umsetzung verwendeten Kategorien müssen stimmig sein. „Verfassungslyrik" 43 ist zu vermeiden; allgemein gilt, daß Rechtsnormen, wenn man sie schon in die Rechtswelt setzt, ihren Platz haben und auf Wirksamkeit angelegt sein sollten. Neue Normen sollten, wenn sie in ein „gewachsenes" Rechtssystem hineingegeben werden, nur geschaffen werden, wenn sie erforderlich sind. Die Erforderlichkeit ist bei Einführung einer neuen Staatszielbestimmung, die lange und ausgiebig diskutiert und dann mit der erforderlichen 2/3-Mehrheit beschlossen wurde, wohl anzunehmen, will man dem Verfassungsgeber nicht unlautere Absichten unterstellen. a) Staatsstrukturprinzipien Als stärkste Option käme eine Verankerung des Naturschutzes als Staatsstrukturprinzip, also als herausgehobenes Staatsziel, in Frage. Ein derartiges Staatsstrukturprinzip („Naturschutzstaatsprinzip") dürfte jedoch kaum Konsens finden. Es ermächtigte und verpflichtete 44 den Gesetzgeber zur Etablierung eines so geprägten Staatswesens. Hieran stört zunächst die unserer Tradition fremde („zweite Schicht") Vorstellung eines Staates, der strukturell maßgeblich vom Ziel des Naturschutzes geprägt wäre. Denkbar wären entsprechende Naturschutzstrategien des Staates in Mitteleuropa auch jetzt noch. Vorstellbar ist eine Kombination großer Schutzgebiete (einschließlich zunehmender „Wildnis") mit einer intensiven Agrarwirtschaft in anderen Gegenden45 und die entsprechende rechtliche Durchsetzung vor allem mit hoheitlichen Mitteln. Diese oder ähnliche Transformationsmodelle sind augenscheinlich weniger konsensfahig als Adaptionsmodelle. Es herrscht heute in der Verfassungslehre weitgehend Einigkeit über die Erforderlichkeit einer ökologischen Ergänzung des sozialen Rechtsstaats46 . Steinberg hat dies in das Bild von den fünf Stufen des Verfassungsstaates gekleidet. Zu den drei Grundelementen (Friedensordnung, Rechtsstaat, demokratische Ordnung) kommen der Sozialstaat und als (vorerst) letzte Stufe der ökologische Verfassungsstaat hinzu. 47 Allerdings sagt diese verfassungsgeschichtliche Einteilung weder etwas über die Stärke der Grundelemente im Verhältnis zueinander aus, noch berücksichtigt sie den faktischen Befund, daß ganz andere, mächtige Kräfte auf diesen Verfassungsstaat einwirken, die gerade den Schritt auf die letzte Stufe für einen Fehltritt halten. 43

Vor dieser warnte Bernd Jeand'Heur eindringlich, ARSP 81 (1995), 453, 462.

44

Vgl. für das Sozialstaatsprinzip BVerfGE 94, 241 (263).

45

Beispiel bei Ott (Fn. 1), S. 77.

46

Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 195.

47

Steinberg (Fn. 4), S. 41 ff.

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b) Staatszielbestimmungen Alle anderen denkbaren Modelle einer Verankerung des Naturschutzes als objektives Verfassungsrecht begeben sich in einen offenen „Wettbewerb" mit den übrigen verfassungsrechtlich abgesicherten Konsens- und Legitimationsvorstellungen und zusätzlich mit dem gerade wiedergegebenen faktischen Befund. Im übrigen tun sich jüngere Verfassungsbestimmungen im allgemeinen schwer und leiden unter einer Art Nachweispflicht für ihre Existenz. Da dies die verfassungstechnische Lösung ist, die das Grundgesetz gewählt hat, werden wir uns hiermit noch eingehender beschäftigen (unten VII). c) Grundrechte Eine normative Umsetzung des Naturschutzes über die Grundrechte hätte den Vorteil, daß diese in unserem Rechtssystem nicht nur objektives Recht darstellen wie die Staatszielbestimmungen, sondern subjektive Rechtspositionen verleihen, die bei ihrer Verletzung notfalls gerichtlich durchgesetzt werden können. Ohne im einzelnen auf die schwierigen Probleme etwa von Grundrechtskonkurrenzen und die Inhalte solcher Grundrechte einzugehen, sind konstruktiv mehrere Ansätze denkbar: aa) Einführung eines Grundrechtes [oder ranghohen subjektiven Rechts] des Menschen auf die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen (ökosystemar verstanden, einschließlich der Erhaltung der biologischen Vielfalt), und den Schutz derselben vor erheblichen Beeinträchtigungen, im wesentlichen also eines Abwehrgrundrechts oder eines Unterlassungsanspruchs bezüglich Plänen und Projekten, die die Natur zerstören. Bei diesem neuartigen „Eingriffsabwehrrecht" 48 ist allerdings mit „Eingriff etwas anderes gemeint ist als in der herkömmlichen Grundrechtsdogmatik. Letztlich geht es um einen „Eingriff in die Natur. Dieser Eingriff würde zugleich als Eingriff in die Rechtssphäre des Betroffenen angesehen. Die Grundrechtsqualität ergibt sich also nicht aus Art. 2 Abs. 2 GG 4 9 . Vom Konstruktionsprinzip her wäre das Abwehrgrundrecht die subjektiv-individuelle und rangmäßig aufgeladene Kehrseite der objektiven Verpflichtung des Staates50, die Natur (die natürlichen Lebensgrundlagen) zu schützen. Unterprobleme wären die Schutzpflicht des Staates in bezug auf Eingriffe Dritter (Privater) in die Natur und die Bestimmung des klagebefugten 48

Vgl. Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988. Die Arbeit behandelt allerdings andere dogmatische Strukturen. 49 Eine derartige Konstruktion stellt Art. 39 Abs. 2 Verf. Brandenburg dar: „Jeder hat das Recht auf Schutz seiner Unversehrtheit vor Verletzungen und unzumutbaren Gefährdungen, die aus Veränderungen der natürlichen Lebensgrundlagen entstehen." 50 Die Eingriffs- und Ausgleichsregelung hat in Mecklenburg-Vorpommern Verfassungsrang, Art. 12 Abs. 4 LV.

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Personenkreises, wenn insoweit keine Popularklage eingeräumt werden soll. Unmöglich erscheint das nicht. Diese Konstruktion stünde derzeit im Gegensatz zur wohl herrschenden Meinung, die ein subjektiv-öffentliches Recht (und damit die Klagebefugnis) auf Erhaltung der Natur (oder eines Schutzgebiets) generell ablehnt. Natur soll nur im öffentlichen Interesse dasein. Dies gilt selbst für den Eigentümer des Grundstücks, der den Blick auf das unmittelbar angrenzende Schutzgebiet weiter genießen möchte. Zwingend ist diese reine Verobjektivierung nicht, betrachtet man auf der anderen Seite die Ausgleichspflichten des Verursachers eines Eingriffs, die ihm individuell zugerechnet werden. Die Argumentation mit der fehlenden Klagebefügnis ist kein Einwand prinzipieller Natur. Entsprechende gesetzliche Regelungen sind zulässig, wie sich schon aus dem Wortlaut des § 42 Abs. 2 VwGO ergibt; außerdem handelt es sich um ein deutsches Sonderproblem 51, das sich im Zuge der Europäisierung des Umwelt- und Naturschutzrechtes so oder so lösen dürfte. Gleichwohl überzeugt die Konstruktion nicht. In der Literatur wird vor allem der Enttäuschungsaspekt problematisiert, den die Einführung eines solchen als unrealistisch angesehenen Grundrechts nach sich zöge52. bb) Ein „iökologisches Existenzminimum" dürfte bereits jetzt subjektiv-rechtlich gewährleistet sein53. Es wäre aber - wie das soziale Existenzminimum aus der Staatszielbestimmung in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG abzuleiten. Es kann damit nicht einmal ansatzweise ökosystemar ausgerichtet sein. Der Schutz der biologischen Vielfalt, wenn sie denn einträte, wäre nur eine Reflexwirkung des Schutzes des Menschen. Ein Schutz auf diesem niedrigen Niveau dürfte nicht in der Lage sein, die Lebensverhältnisse der Arten und Ökosysteme zu sichern. cc) Eine weitere grundsätzliche Möglichkeit eines ökosystemar und auf die biologische Vielfalt ausgerichteten Schutzes von Natur bestünde in der Einführung von „Eigenrechten" zum Schutz für wildlebende Tiere, geschützte Pflanzen, sowie möglicherweise auch für höhere biotische Einheiten (Lebensräume, Biotope, Ökosysteme). Zur praktischen Handhabung dieser Rechte bedürfte es einer — treuhänderischen — Wahrnehmung durch Menschen (Verbände, Ombudsmänner o. dgl.). Die ethische Begründung von Eigenrechten der Natur wird uns noch beschäftigen. Nach deutschem Rechtsverständnis bestand der berühmte Versuch des amerikanischen Juristen Christopher D. Stone vor allem

51

Vgl. die Referate von Woehrling, Rechtsschutz im Umweltrecht in Frankreich, und von Hollo, Rechtsschutz im Umweltrecht der skandinavischen Staaten, auf der 22. Umweltrechtlichen Fachtagung der Gesellschaft fiir Umweltrecht in Berlin 1998. 52 53

Steinberg (Fn. 4), S. 426 spricht von einer Positivierung des Prinzips Hoffnung.

So - wohl ebenfalls gestützt auf Art. 20a i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG - Ekardt, Praktische Probleme des Art. 20a GG in Verwaltung, Rechtsprechung und Gesetzgebung, SächsVBl. 1998, 49 (51 f.) m.w.N.

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darin, für die Bäume und andere Naturgüter im Mineral King Valley die Klagebefugnis durchzusetzen 54. Die vergleichbare „Robbenklage" scheiterte aber vielleicht nicht nur an der - lege artis abgelehnten - Klagebefugnis der „Seehunde der Nordsee" 55 , sondern wohl auch an der zugrundeliegenden ungewohnten Grundvorstellung eines eigenen Rechts der wilden Tiere (oder ihrer Lebensräume). Normativ ließen sich solche Eigenrechte vielleicht an Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG festmachen, zumal der Begriff „Leben" hier nicht nur für den nasciturus, sondern auch für andere Lebewesen Spielraum ließe 5 6 . Den Gegnern von (gerichtlich durchsetzbaren) Eigenrechten der natürlichen Einheiten ist einzuräumen, daß man mit anderen Lösungen genau so weit kommen kann wie mit dieser eigenartigen Konstruktion. Den grundsätzlichen Einwand Steinbergs, auch die Begründung subjektiver Rechte könne nur an eine Person adressiert sein 57 , vermag ich nicht zu teilen. Zum einen gibt es bereits heute Normen, die Tiere, Pflanzen und Lebensräumen Rechte zuweisen(unten dd); zum anderen ist es keineswegs einleuchtender, einer Vermögensmasse (Stiftung) die Rechtsfähigkeit zu verleihen als einem Tier oder geschützten Lebensräumen. Sicherlich richtig ist, daß Tiere, Pflanzen und Ökosysteme nicht auf einen Sollenssatz selbständig reagieren können. Das können Kinder bis zu einem bestimmten Alter auch nicht. Rechtlich geschützt kann auch jemand oder etwas werden, das nicht selbst handeln kann. dd) Die wegen Art. 42 Abs. 2 VwGO („soweit...") auf (landes-)gesetzlicher Ebene ohne weiteres einfuhrbare und auch in 12 von 16 Bundesländern eingeführte altruistische Verbandsklage für Naturschutzverbände setzt nicht an solchen gedachten subjektiven-öffentlichen Rechten der Natur an, sondern an bestimmten Eingriffen in die Natur. Sie greift also schon deshalb kürzer, weil die Abwehrmöglichkeit der Verbände erst bei einer drohenden Verschlechterung der Natur aktualisiert werden. Die Bedeutsamkeit des Eingriffs wird hierbei pauschalierend aus der Verfahrenskategorie (z.B. Planfeststellungsverfahren) abgeleitet. ee) Im übrigen gibt es schon im geltenden nationalen und europäischen Recht Ansätze zu einer Rechtsinhaberschaft der Natur und ihrer Entitäten. Der gesetzliche (nationale) Biotopschutz (Art. 20c BNatSchG und § 20 LNatG M - V ) kann als eine Ausprägung dieser Rechtsinhaberschaft begriffen werden. 54

Should Trees Have Standing? Towards Legal Rights for Natural Objects, Californian Law Review 1972, S. 450 ff. 55

VG Hamburg, B.v. 22.9.1988, NvwZ 1988, 1058 f.

56

Zur Offenheit des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in dieser Hinsicht von der Pfordten, Naturschutz und Verfassung, in: Nida-Rümelin/von der Pfordten (Hrsg), Ökologische Ethik und Rechtstheorie, 1995, S. 53 ff. (53 f.). 57

Steinberg (Fn. 4), S. 67 f.

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Anders als bei Schutzgebieten bedarf es keines verleihenden untergesetzlichen Rechtsaktes, um den gesetzlichen Schutzstatus des Biotops zu begründen. Ähnlich kann eine Rechtsinhaberschaft gesehen werden beim Arten- und Lebensraumschutz nach der Vogelschutzrichtlinie 58 und nach der Fauna-Flora-HabitatRichtlinie 59 . Die Schutzwirkungen treten bei der vom EuGH anerkannten Kategorie des potentiellen Vogelschutzgebietes dadurch ein, daß jedenfalls bei den besonders gefährdeten Arten des Anhanges I VRL eine unbedingte Verpflichtung der Mitgliedsstaaten entsteht, sämtliche entsprechende Lebensräume zu besonderen Vogelschutzgebieten zu erklären 60. Ähnliches gilt für potentielle FFH-Gebiete. Die Erstarkung der Rechtsposition des Naturgebietes erwächst aus der Tatsache, daß die fachlichen Voraussetzungen des europäischen Rechts (z.B. prioritärer Lebensraumtyp, prioritäre Art) vorliegen, unabhängig davon, ob die Richtlinie überhaupt in deutsches Recht umgesetzt wurde und unabhängig davon, ob tatsächlich eine Meldung des Gebiets bei der Kommission erfolgt ist. Das BVerwG 61 hat diese Rechtsprechung des EuGH übernehmen müssen; auf die - komplizierten - Einzelheiten kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Denn es wird doch deutlich, daß den Lebensraumtypen, den Habitaten und Arten eine rechtliche Existenz zukommt, die sie sogar gegen abweichendes Handeln der Mitgliedstaaten schützt. Sicherlich kann man hier auch anders und nicht so „subjektiv-rechtlich" akzentuieren. Zum Teil ist hier der europarechtliche „effet utile" am Werk, der die Durchsetzung derjenigen Pflichten erzwingt, die dem Mitgliedstaat durch die Bestimmungen einer Richtlinie verbindlich auferlegt werden und denen er sich nicht dadurch entziehen kann, daß er seiner Umsetzungspflicht nicht (ausreichend) nachkommt62. Schließlich spielt die Tatsache eine Rolle, daß es für die Durchsetzung von „Recht"- wen auch immer es betrifft- immer darauf ankommt, daß kontrollierende Institutionen, hier also die Kommission und der EuGH, über ausreichend Macht und Sanktionsmöglichkeiten verfügen. d) Naturschutz durch Privatrecht? Der zumeist indirekte Einfluß der Privatrechtsordnung auf den Naturschutz ist erheblich. Die Privatrechtsordnung gestattet von ihrer Konzeption her die 58

Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2.4.1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten, Abi. EG Nr. L 103, S. 1. 59 Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21.5.1992 über die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tier- und Pflanzenarten, Abi. EG Nr. L 206, S. 7, zuletzt geändert: ABl. EG 1997, Nr. L 223, S. 9. 60 Vgl. Gellermann, Natura 2000. Europäisches Habitatschutzrecht und seine Durchführung in der Bundesrepublik Deutschland, 1998, S. 16 ff. 61

BVerwG, Urteil vom 19.5.1998 - 4 A 9.97 - , NuR 1998, 261 ff. - Wakenitz-Niederung.

62

Hierzu und zur Rechtsprechung des EuGH Gellermann (Fn. 60), S. 156 f.

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prinzipiell unbeschränkte Nutzung des Eigentums, allerdings mit einem eingebauten Gesetzesvorbehalt und einer Berücksichtigungspflicht der Rechte Dritter. Dies ist zweifellos eine einfache und praktikable Konstruktion, die letztlich dem öffentlichen Recht die Arbeit der Einschränkung und Ausformung des „Eigentums an Natur" 63 überläßt. Die 1990 erfolgte Anfügung des § 903 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) betrifft ausschließlich den Tierschutz, wobei nur die Selbstverständlichkeit formuliert wird, daß der Eigentümer eines Tieres die besonderen Vorschriften zum Schutz der Tiere zu beachten hat. Eine Naturschutzklausel findet sich in § 903 BGB bis heute nicht. Wilde Tiere sind „herrenlose Sachen", § 960 BGB. Die Vorschrift des BGB über den Grenzbaum (§ 923 BGB) kennt die Möglichkeit eines Erlasses von Baumschutzsatzungen offenkundig nicht. Die Privatrechtsordnung vermittelt den Eindruck, daß sie vom Einfluß der Staatszielbestimmung zum Schutze der natürlichen Lebensgrundlagen noch völlig unberührt ist. Dies hat auch Einfluß auf das Bewußtsein der Eigentümer, die schützenswerte Natur als Produktionsfaktor einsetzen. V. Zu den Dimensionen und Inhalten einer normativen ökologischen Ethik 1. Begriffliche Grundlagen Art. 20a GG ist das Ergebnis eines langwierigen politischen Prozesses gewesen. Es ist davon auszugehen, daß neben den Einwirkungen der Lobby auch ethische Grundpositionen Einfluß auf die Formulierung der Staatszielbestimmung hatten. Der Rat der Sachverständigen für Umweltfragen hatte sich in seinem Gutachten 1994 ausfuhrlich mit umweltethischen Grundlagen befaßt 64 . Ethik wird allgemein als eine reflexive Theorie der Moral verstanden 65. Von den verschiedenen Ebenen der Ethik sind einige Domänen der Philosophie, insbesondere die sogenannten normativen Ethiken 66 . Normative Ethik bezeichnet die sprachlich verfaßte Begründung, Rechtfertigung oder Kritik moralischer Normen, Institutionen, Verhaltensweisen, Äußerungen und Haltungen67. Die Umweltethik wird definiert als diejenige ethische Teildisziplin, die sich mit den Fragen eines normativ richtigen bzw. moralisch verantwortbaren (individuellen oder kollektiven) Umgangs mit der äußeren (belebten oder unbelebten) nicht-

63

Vgl. Czybulka (Fn. 18), NuR 1987, 214 ff.

64

SRU, Umweltgutachten 1994, 1994, Tz. 16-60.

65

Vgl. Ott (Fn. 1), S. 51 ff. (54).

66

Zu den verschiedenen Ebenen der Ethik vgl. Ott, ebd., S. 55 ff.

67

von der Pfordten,

7 GS Jeand' Heur

Ökologische Ethik, 1996, S. 23.

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menschlichen Natur befaßt 68. Bei der Umweltethik können drei große Themenbereiche unterschieden werden: 69 -

Umweltethik im engen Sinne (Ethik des Umgangs mit knappen und verschlechterungsanfalligen Ressourcen und Umweltmedien wie Wasser, Boden, Luft, Klima, Ozonschicht, genetische Vielfalt usw.). Konrad Ott spricht insoweit von Ressourcenethik.

-

Tierethik (Ethik des Umgangs mit schmerzempfindlichen oder teleonom strukturierten Einzelorganismen)

-

Naturethik (Ethik des Umgangs mit „kollektiven biotischen Entitäten", wie etwa Arten, Biotope, Ökosysteme, Landschaften).

Die Umweltethik ist ein relativ neues Feld der Ethik. Auch Ethiker halten es nicht für einfach, die Ethik über ihre klassischen Ansätze hinaus fortzuentwikkeln 70 . Durch ihre Begründungsfunktion ist Ethik mit einer aufgeklärten Legitimationstheorie verknüpft, der es nicht um voraussetzungsloses Akzeptieren staatlicher Macht geht. Insoweit kann Ethik auch dem Verfassungsrecht helfen 71 . 2. Klassische philosophische Ansätze a) Anthropozentrik

der traditionellen

normativen Ethiken — Kant

Die Beziehung des Menschen zum Außermenschlichen wurde, jedenfalls in der klassischen abendländischen Philosophie, lange Zeit als moralisch irrelevant betrachtet. „Nach der bloßen Vernunft zu urteilen hat der Mensch sonst keine Pflicht als bloß gegen den Menschen".72 Immanuel Kant hat damit die Frage, welche Wesen zur „moral Community" rechnen sollen, in eindeutiger Weise beantwortet: nur die Menschen. Der kategorische Imperativ gilt in anderer „Richtung" nicht. Allerdings stammt von Kant auch das Argument, daß durch eine Leidensverursachung der Tiere eine menschliche Verrohung eintrete 73. Wie gelangt man in dieser Hinsicht über Kant hinaus? Moderne Ethiker sehen zunächst keine prinzipiellen Bedenken, die traditionelle Ethik auf die Berücksichtigung zukünftiger Generationen (von 68 Krebs , Naturethik - eine kleine Landkarte, in: Nida-Rümelin / von der Pfordten S. 179 ff. 69

(Fn. 56),

Vgl. Ott (Fn. 1), S. 66.

70

Dabei hält z.B. Singer (Praktische Ethik, 2. Aufl. 1994, S. 351) alles, was über empfingungsfahige Wesen hinaus geht, für ein schwieriges Unterfangen. 71

Zum Thema insgesamt Nida-Rümelin / von der Pfordten

72

Kant, Metaphysik der Sitten, S. 106.

(Fn. 56).

73 Vgl. von der Pfordten , Die moralische und rechtliche Berücksichtigung von Tieren, in: Nida-Rümelin/von der Pfordten (Fn. 56), S. 234.

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Menschen) als ethische Pflicht auszudehnen74. Diesem Gedanken entspricht eine ausdrückliche Formulierung in Artikel 20a GG; allerdings kann das Argument nur indirekt für die Pflicht, die Natur zu schützen, verwendet werden. b) Der Pathozentrismus — Schopenhauer Als Antipode Kants in dieser Beziehung wird Schopenhauer genannt; auch Jeremy Bentham gehört zu den Philosphen, die die Fähigkeit zu leiden in das Zentrum ihrer Ethik stellen. Damit gehören leidensfähige Geschöpfe zur „moral Community". Schopenhauer hat die rohe und rücksichtslose Behandlung der Tiere in Europa (und übrigens auch den Sklavenhandel und die Ausrottung der Indianer in Amerika) unter diesem Gesichtspunkt geprüft. Schopenhauer kommt über den „Umweg" einer noch heute modern anmutenden Sicht über das Leben zu seinem Pathozentrismus. Nach Schopenhauer läßt sich das Leben definieren „als der Zustand eines Körpers, darin er, unter beständigem Wechsel der Materie, seine ihm wesentliche (substantielle) Form alle Zeit behält". 75 Diese Sicht fuhrt zu einer Annäherung des Menschen mit der Tierwelt. Schopenhauer betont einige Jahrzehnte vor Darwin 76 die „augenfällige Verwandtschaft des Menschen, wie im allgemeinen mit der ganzen Natur, so zunächst... mit der Tierwelt". 77 Schopenhauer hat kritisiert, daß die christliche Moral „eine große und wesentliche Unvollkommenheit darin [habe], daß sie ihre Vorschriften auf den Menschen beschränkt und die gesamte Tierwelt rechtlos läßt". 78 Grundlage der Moral ist bei Schopenhauer neben dem Kant'schen Imperativ bzw. dem Satz „neminem laede" das Mitleid als eigentliche moralische Triebfeder. 79 Das Problem ist, daß Schopenhauer mit seinem pathozentrischen Ansatz (unmittelbare Pflichten des Menschen gegenüber den Menschen und schmerz- bzw. leidensempfindenden Geschöpfen) in erster Linie den Tierschutz, nicht den Naturschutz ethisch abgesichert hat. Der Gedanke ist normativ in der thüringischen Verfassung seit 1993 verankert, wonach Tiere als Lebewesen und Mitgeschöpfe geachtet werden. Sie werden vor nicht artgemäßer Haltung und vermeidbarem Leiden geschützt80. Mit Naturschutz (als Ökosystemschutz) und auch mit dem herkömmlichen Artenschutz hat dies wenig zu tun. Schopenhauer hat aber mit seiner Definition von „Leben" den modernen Ethiken weitere Argumente geliefert. 74

von der Pfordten

(Fn. 27), Ms. S. 18.

75

Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, Zweiter Band, zitiert nach der SchopenhauerWerkausgabe, Zürich (Haffmann) 1988, § 93, S. 140. 76

Darwins „Abstammung des Menschen" erschien zuerst 1871.

77

Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II, § 174 (Über Religion), S. 329.

78

Parerga und Paralipomena, ebd., S. 329.

79

Schopenhauer, Kleinere Schriften, Grundlage der Moral, § 19, S. 590.

80

Vgl. Art. 32 ThürVerf.

100

Detlef Czybulka

3. Biozentrismus und moderne Ethiken81 Mit der Erweiterung des Humanismus auf den Pathozentrismus kann man niedere Tiere, Pflanzen, Pilze und vor allem die höheren biotischen Einheiten (also Arten, Ökosysteme oder Landschaften) von der Pflichtenstellung des Menschen her gesehen nicht direkt berücksichtigen 82. Intuitiv wird allerdings die Auffassung vertreten, Arten seien etwas unbedingt schützenswertes. Ich übergehe an dieser Stelle die holistischen und theozentrischen Ansätze83. Auch die traditionelle Ethik kann nämlich in Form einer „ökologischen Ethik" auf weitere Lebewesen erweitert werden. Von der Pfordten setzt als Kennzeichen des Lebens „autochthones Streben" voraus und unterscheidet drei Elemente: Selbstentstehung, Selbstentfaltung und Selbsterhaltung 84. Dies ähnelt der Schopenhauerschen Definition. Von der Pfordten kommt zur Konsequenz, daß Einzeltiere nach ihrer Entwicklungsstufe eigenständige Interessen aufweisen und deshalb ethischen Subjektstatus aufweisen. Bei Pflanzen sei dieser Subjektstatus allerdings sehr schwach. Hingegen hätten Naturkollektive wie Arten, Populationen oder Ökosysteme keine eigenständigen Interessen und damit keinen ethischen Subjektstatus85. Damit gehören nach dieser Sichtweise zwar Naturkollektive nicht zur moral Community; letztlich werden aber auch bei dieser u.a. von K. Ott, D. von der Pfordten und A. Krebs repräsentierten Richtung Naturkollektive ethisch berücksichtigt. Die moderne Ethik hilft sich hier mit der schon von Kant stammenden Unterscheidung möglicher Pflichten in — Pflichten gegenüber und - Pflichten in Ansehung von. Insoweit können moralische Pflichten gegenüber Mitgliedern zukünftiger Generationen 86 und (schmerzempfindlichen) Tieren bestehen, während andere Pflichten (nur) „in Ansehung" des Wassers, der Lebensräume für Arten und Populationen usw. bestehen. Je mehr nicht-menschliche Wesen man zur „moral Community" zählt und je mehr Güter durch die „In-Ansehung-von" Bestimmung in den Bereich des Schützenswerten aufgenommen werden, um so mehr 81 Zu den sonstigen Ansätzen und weiteren Nachweise zu ethischen Grundpositionen Feldhaus, Ethische Grundpositionen umweltgerechten Handelns - Konfliktlinien und Kontroversen, in: Zukunft für die Erde (Herrenaiber Protokolle, Schriftenreihe der Evangelischen Akademie Baden, Bd. 109), 1996, S. 157, 160 ff. mit zahlreichen Nachweisen. 82

Vgl. Ott (Fn. 1), S. 63.

83

Vgl. zur Auseinandersetzung mit Hans Jonas z.B. den Beitrag von Erbguth, Umweltrecht im Gegenwind: die Beschleunigungsgesetze, JZ 1994, 477 ff. (unter IV). Weitere Nachweise z.B. bei Feldhaus (Fn. 81), S. 160 ff. 84

von der Pfordten

85

In bezug auf begrenzte Ökosysteme wie Moore ließe sich m.E. auch anders argumentie-

(Fn. 27), Ms. S. 21.

ren. 86

Vgl. den „Ökologischen Generationenvertrag" in Art. 20a GG.

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Konflikte, Normkollisionen, Dilemmata, Abwägungsprobleme usw. ergeben sich allerdings auch. Es ist daher kein Zufall, daß Bewertungs- und Abwägungsproblemen gerade im Naturschutzrecht hohe Bedeutung zukommt. Die ökologische Ethik liefert aber in ihrer Begründungs- und Anwendungsdimension Argumente für einen Ausbau des Naturschutz(verfassungs)rechts. VI. Zur Begründungs- und Anwendungsdimension der Naturethik 1. Zwingendes Verschlechterungsverbot und unbestimmtes Verbesserungsgebot Die zahlreichen Argumente („guten Gründe") der ökologischen Ethik für die Erhaltung der biologischen Vielfalt kann ich hier nicht weiter ausbreiten 87. Es gibt aber nach Konrad Ott einen „Binnenkonsens der Umweltethikerinnen" dahingehend, daß die Gründe ausreichen, „eine kollektive Pflicht zu begründen, sowohl ein Tier-, ein Natur- und ein Umweltschutzniveau zu erreichen und zu erhalten, das oberhalb der heute existierenden Niveaus liegt. Dies impliziert ein Verschlechterungsverbot in allen drei Bereichen sowie ein Verbesserungsgebot, das jedoch nach Art und Ausmaß unbestimmt ist." 88 Die Pflichten gegenüber zukünftigen Generationen können vor allem für ein Verschlechterungsverbot im Umweltbereich eingesetzt werden. Aber auch für den Naturschutz kann kaum etwas anderes gelten, weil die Ausrottung der Arten und Lebensraumtypen unumkehrbar ist und künftige Generationen eine substantielle Möglichkeit haben müssen, über die „Naturausstattung" ihres Landes zu entscheiden. Dies gilt auch in ästhetischer Hinsicht. Das Verschlechterungsverbot ist mittlerweile in der Verfassungslehre zu Art. 20a GG anerkannt (vgl. noch unten VII.2). Bezüglich des Verbesserunsgebots im Naturschutzbereich ist die Position des Ethikers K. Ott zurückhaltender: [Hier nicht näher behandelte] „ästhetische und axiologische Gründe in Verbindung mit einem vorsichtigen Gebrauch teleologischer Argumente, die sich auf die entelechetisch-autopoietische-teleonomische Struktur belebter Systeme beziehen, dürften hinreichen, um auch im Naturschutzbereich Verbesserungen einfordern zu können." 89 . Jedenfalls können wir mitnehmen, daß Verfassungsbestimmungen mit dem Ziel „Verschlechterunsgverbot" in bezug auf die Biodiversität ethisch veranlaßt und solche mit dem Ziel „offenes Verbesserungsgebot für den Naturschutz" ethisch jedenfalls gerechtfertigt sind.

87

Näher bei Ott (Fn. 1), S. 68 ff. unter Bezugnahme auf Angelika Krebs.

88

Ott (Fn. 1), S. 73.

89

Ott (Fn. 1), S. 73.

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2. Anthroporelationale und andere gute Gründe In der Begründungsdimension der ökologischen Ethik kann zwischen den auf den Menschen bezogenen („anthroporelationalen") und den darüber hinausgehenden (den „nicht-anthroporelationalen") Gründen unterschieden werden. So sind z.B. pathozentrische Argumente nicht-anthroporelational (und, wie gesehen, gute Gründe für den Tierschutz). Dabei ist zu bedenken, daß es in der Erkenntnis- und Anwendungsdimension (also auch bei der Umsetzung in Rechtsvorschriften) jeweils „anthropologische Fallen" gibt, deren Bedeutung aber überschätzt wird. Zunächst gibt es ein Kommunikationsproblem. Wie können wir genau erfahren, was nach „Einschätzung" der betroffenen Lebewesen die für sie „geeignetsten Gebiete" 90 sind? Besonders schwierig zu beurteilen sind die Ursachen für die Degradation von Pflanzenbeständen. Letztlich wird derzeit schon aus Praktikabilitätsgründen auf sachverständige (menschliche) Aussagen abzustellen sein, die den Zustand des betroffenen Ökosystems, Biotops, der Art oder des Individuums bewerten. Dies ist in anderen Bereichen des Rechts ebenfalls alltägliche Praxis. Die Parallele zum Kindeswohl drängt sich insofern auf, als auch mit Kindern Kommunikation zu suchen ist, die rechtliche Verwertung kindlicher Aussagen aber sehr vorsichtig zu geschehen hat. Keiner weiteren Interpretation bedarf der Tod von Lebewesen. Ölverschmutzte verendete Seevögel sind Beleg für die durch Menschen verursachte Lebensfeindlichkeit des Naturraums. Weitere Abstufungen einer Schädigung der Natur sind interpretationsbedürftig und -fähig. So ist es für einen sensiblen Menschen relativ einfach, das Leiden eines höheren Tieres „ohne Dolmetscher" zu erfassen. Andererseits sind Tiere oder höhere biotische Einheiten als Teilnehmer an einem diskursiven Modell der Ethik nur schwer vorstellbar. Ein methodischer (oder epistemischer) Anthropozentrismus gilt aber für jedwede Ethik; er impliziert aber keinen inhaltlichen 91 . Nicht-anthroporelationale Begründungen können nicht dadurch ausgehebelt werden, daß man auf ihren „menschlichen" Ursprung hinweist. Im übrigen verbieten auch das Menschenwürde-Prinzip und Art. 79 Abs. 3 GG die Einbeziehung nicht-anthroporelationaler Begründungen nicht; es ergibt sich im wesentlichen ein Gleichlauf menschenwürdebezogener und ökosystemarer Argumente. Ein intaktes Ökosystem Erde bietet zugleich wohl die besten (Über-)Lebenschancen für die Menschen. In diesem Zusammenhang kann auf das Prinzip der Gesamtvernetzung oder Retinität hingewiesen werden. Will der Mensch seine personale Würde als Vernunftwesen im Umgang mit sich selbst und anderen wahren, so kann er der darin implizierten Verantwortung für die Natur vielleicht nur dann gerecht werden, wenn er - nach Korff - die Gesamtvernetzung all seiner zivilisatorischen Tätigkeiten 90 91

Vgl. Art. 4 Abs. 1, 2 Vogelschutz-Richtlinie (Fn. 58).

So und mit der Fortsetzung „Darüber sind sich die meisten Umweltethikerinnen einig" Ott (Fn. 1), S. 60. Diese Feststellung ist kompatibel mit der Aussage von Hofmann (IZ 1998, S. 277), aus rechtlicher Sicht sei die „Anthropozentrik unentrinnbar".

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und Erzeugnisse mit dieser ihn tragenden Natur zum Prinzip seines Handelns macht 92 . In eine ähnliche Richtung gehen Entwürfe einer „Gegenseitigkeitsordnung" zwischen Mensch und Natur 93 . 3. Auf der Suche nach einer Philosophie der Natur? Im Zentrum aktueller ökologisch-ethischer Diskurse steht nicht eine Philosophie der Natur, sondern eine Philosophie der Technik. Insoweit ergibt sich eine eigenartige Parallele zum unterschiedlichen Stand des technischen Umweltschutzes und des Naturschutzes. Dies hat (auch) geistesgeschichtliche Wurzeln, die in der Renaissance liegen dürften 94. Die „Naturbeherrschung" verwirklicht sich offenbar noch heute in technischen Konstrukten; aber statt des Petersdoms werden Autobahnen oder sollen technologisch unintelligente, weil mit der Rad-Schiene-Technik nicht kompatible, Magnetschwebebahnen gebaut werden, die die Natur zerstören und zerschneiden. Es fehlt weitgehend an gedanklichen Gegenentwürfen eines neuen, weniger ausbeuterischen Verhältnisses zur Natur. Interessant ist das gedankliche Experiment, das Konrad Ott vornimmt, um Debatten über Prioritäten anzuregen: wie sähe eine Welt der Pathozentriker, der technischen Umweltschützer oder der ökosystemar ausgerichteten Naturschützer denn aus? Sollte man Prioritäten setzen in eine Welt der Vegetarier, eine humanökologisch zuträgliche Technosphäre mit gesicherter Wasserund Nahrungszufuhr oder in ein Nebeneinander von (noch etwas giftigeren) Städten und großen naturnahen Flächen95? Oder gibt es hier sogar einen Königsweg? Keine rechtlich umsetzbare Lösung bringt hier globales Denken, das zur Konsequenz haben müßte, Naturschutz in Mitteleuropa zu vernachlässigen, denn etwa 90% aller Arten leben im tropischen Bereich. Wir haben keinen Weltstaat. Das Prinzip der gestuften Verantwortung „von unten nach oben" ist Ausfluß und Kehrseite der Souveränität des Staates und gilt auch für den Naturschutz. Tatsächlich gibt es in Europa bislang mit dem Netz NATURA 2000 erst ein (unvollkommenes) Konzept zur Erhaltung der Lebensräume von gemeinschaftlicher Bedeutung, also im Rahmen der Europäischen Union. Ohne die Bedeutung einer völkerrechtlichen Zusammenarbeit für den Naturschutz schmälern zu wollen 96 , heißt es zunächst im eigenen Land die rechtlichen 92 Vgl. Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Umweltgutachten 1994, Tz. 10 (S. 12) und passim. 93

Vgl. Haverkate,

94

Hierzu etwa Hager (Fn. 4), S. 223, 225.

95

Ott (Fn. 1), S. 76 ff.

96

Verfassungslehre, 1992, S. 152 f. m.w.N.

Vgl. das praktische Beispiel der rechtlichen Bemühungen um die Erhaltung des Weißstorchs, Czyhulka, Der Weißstorch und geltendes Recht, NABU-Nachrichten M-V Heft 3 / 1998 (Sonderausgabe), S. 15-20.

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Voraussetzungen für eine Erhaltung der spezifischen biologischen Vielfalt zu schaffen. Wenden wir uns also dem Stand der Dinge in Deutschland zu. V I I . Die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG 1. Die Staatszielbestimmung als „Schutzpflicht" Staatszielbestimmungen sind keine empirischen Beschreibungen eines Zustands, sondern haben normatives Gewicht. Artikel 20a GG lautet in der von Murswiek vorgeschlagenen „entschlackten" Kurzversion: „Alle Staatsorgane sind verpflichtet, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen" 9 7 . Gegenständlicher Schutzbereich sind also die „natürlichen Lebensgrundlagen". Damit werden die Elemente der belebten (und unbelebten) Natur in ihren Ökosystemaren Wechselbeziehungen erfaßt, zweifellos auch die Tier- und Pflanzenarten 98 in ihrer biologischen Vielfalt. Das ist ziemlich genau das, was eingangs als Hauptinhalte des Naturschutzes genannt wurde. Der Wortlaut der Norm beinhaltet einen eindeutigen Schutzauftrag , ein Gestaltungsauftrag kann ihm nicht ohne weiteres entnommen werden. Weil Staatszielbestimmungen bindendes Recht sind, kann man hier auch von einer Schutzpflicht des Staates sprechen, wobei allerdings die Schutzpflicht nicht zugunsten der Bürger, sondern zugunsten der „natürlichen Lebensgrundlagen" auszuüben ist. Der Staat ist nicht nur gehalten, bei seinen eigenen Vorhaben die Verfassungsbestimmung zu beachten, sondern er muß sich auch bei Eingriffen Dritter („Privater") schützend und fördernd vor die Lebewesen und höheren biotischen Einheiten stellen. Staatszielbestimmungen stellen unter Zugrundelegung der Kriterien Alexys Optimierungsgebote par excellence dar 99. Diese Normen „gebieten, daß etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird" 1 0 0 . Staatszielbestimmungen sind rechtstheoretisch Prinzipien (und keine „Regeln" in der Terminologie von Ronald Dworkin). Bei der Lösung von eventuellen Prinzipienkollisionen kommt es auf die Dimension des Gewichts und der Gewichtung der jeweiligen Prinzipien (hier: anderer Staatszielbestimmungen) an. Die Erkenntnis, daß Staatszielbestimmungen rechtstheoretisch Prinzipien sind, schließt nicht aus, daß ihnen auch Regelelemente zuerkannt werden können 101 . Ein solches Regelelement ist das der Staatszielbestimmung inhärente Verschlechterungsverbot (siehe unten 2). Derzeit 97

Murswiek,

98

Vgl. nur Kloepfer

99

Sommermann (Fn. 46), S. 361, unter Bezugnahme auf Alexy, Theorie der Grundrechte,

Staatsziel Umsweltschutz (Art. 20a GG), NVwZ 1996, 222, 223. (Fn. 24), S. 73, 76; Wolf

KritV 1997, 280 (285 f.) m.w.N.

1985. 100

Alexy Theorie der Grundrechte, 1985, S. 75 ff.

101

Vgl. Karl-Peter

Sommermann (Fn. 46), S. 361.

Vorüberlegungen zu einer verfassungsrechtlichen Theorie des Naturschutzes

105

besteht eine bereits andernorts 102 analysierte Schwäche des Art. 20a GG. Dies erstaunt zunächst, weil andere Staatszielbestimmungen gar nicht in „offener" Konkurrenz zu Art. 20a GG stehen. Möglicherweise hat aber die politisch-gesellschaftliche Erwartung in die ökonomische Wachstums- und Stabilitätsvorsorgeaussage des Art. 109 Abs. 2 GG hier für eine Schieflage gesorgt. Die aktuell schwache Ausstrahlung des Art. 20a GG in einfaches Recht mögen zwei Beispiele belegen. Die zentrale Regelung des Naturschutzes außerhalb von Schutzgebieten ist die sog. Eingriffsund Ausgleichregelung, die nach ihrer Intention einen ubiquitären Mindestnaturschutz durchsetzen soll 103 . Wenn sich in nahezu allen Fällen andere, regelmäßig ökonomisch oder infrastrukturell begründete Interessen gegenüber dem Schutz der Natur durchsetzen, so ist bislang § 8 BNatSchG nach wie vor schwach und durch Art. 20a GG nicht aufgewertet wurden. Das zweite Beispiel ist die mangelnde Durchsetzungsfahigkeit der Fachplanung des Naturschutzrechts, der Landschaftsplanung, gegenüber anderen Planungen und Vorhaben. Wenn nach wie vor täglich hunderte ha Fläche durch andere Vorhaben und Planungen virtuell oder real aus einer naturschonenden Nutzung herausfallen, dann ist dies zumindest Anlaß, sich Gedanken zu machen, was es denn mit dem verfassungsrechtlichen „Verschlechterungsverbot" des Art. 20a GG auf sich hat. 2. Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Verschlechterungsverbots des Art 20a Ein Verschlechterungsverbot im Bereich des Naturschutzes (nicht nur des Umweltschutzes) wird von der Ethik gefordert, wie ich referiert habe. Auch unter Verfassungsjuristen ist unbestritten, daß Art. 20a GG ein derartiges Verschlechterungs- oder Rückschrittsverbot enthält 104 . Jede andere Auslegung würde auch bedeuten, daß der Verfassungsgesetzgeber die Schutzpflicht nicht ernst gemeint hat. Es gibt also eine Untergrenze und ein Verbot, weniger Naturschutz bzw. mehr Naturzerstörung zuzulassen („Regelelement der Staatszielbestimmung"). Daß es sich bei dem Verschlechterungsverbot um eine zeitlich und naturräumlich, also konkret festzulegende Verpflichtung handelt, ist im Schrifttum bislang nicht entwickelt worden. Das ist aber die zwingende Konsequenz aus der „Schutzverpflichtung" der Staatszielbestimmung. Insoweit ist auch kein Raum für „Gestaltungsfreiheiten". Der Schutzauftrag ist von der Untergrenze her gesehen bindend. Der entscheidende Zeitvergleich ist hier das 102 Czybulka, Naturschutz und Verfassungsrecht, in: Konoid/Böcker/Hampicke Handbuch Naturschutz und Landschaftspflege, 1999 (i.E.). 103

(Hrsg.),

Czybulka / Rodi, Die Eingriffsregelung im Bayerischen Naturschutzgesetz, BayVBl. 1996, 513 ff. 104

Vgl. nur Kloepfer,

Umweltrecht, 2. Aufl. 1998, S. 129.

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Inkrafttreten des 42. Änderungsgesetzes zum Grundgesetz vom 27.10.1994. Dies bedeutet, daß es zwingend einer Bestandsaufnahme und einer Fortschreibung des Zustandes der Natur in allen Bundesländern bedarf, die es zuläßt, jederzeit zu beurteilen, ob eine Verschlechterung oder Verbesserung im Naturschutz eintritt, eintreten wird oder eingetreten ist. Ein Eingriff kann somit nur zugelassen werden, wenn die Maßnahme als solche nach dem jeweiligen Prüfprogramm (z.B. Eingriffs- und Ausgleichsregelung, UVP) gestattungsfahig ist und das „Naturschutzkonto" in Land (und Bund) danach mindestens ausgeglichen ist. § 8 BNatSchG, die entsprechenden Länderregelungen und §§ 1 9 c - d BNatSchG müssen in dieser Weise verfassungskonform ausgelegt werden. Da derzeit für Räume ohne besonderen Schutzstatus oder geplante Schutzgebiete entsprechende „Naturkonten" nicht oder nur unzulänglich geführt werden, dürften viele Entscheidungen in den Jahren ab 1994 verfassungswidrig gewesen sein. Im übrigen bedarf es zur sachgerechten Beurteilung der Untergrenze bzw. des Verschlechterungsverbots quantitativer wie qualitativer Vorgaben. Diese gibt es im deutschen Recht bislang nur ansatzweise. a) Territorialbezogenheit des Verschlechterungsverbots in bezug auf Schutzgebiete Das Verschlechterungsverbot ist am einfachsten auf die Territorien der Schutzgebiete (einschließlich Wasserflächen) zu beziehen. Eine Verschlechterung zum Rechtszustand Ende 1994 darf nicht eintreten. Entscheidend wird es hier auf die Fläche und auf den jeweils gültigen Inhalt der Schutzgebietsverordnungen und Schutzkategorie 1994 und „heute" ankommen. Das läßt sich mit einiger Mühe bewerkstelligen. b) Einführung

von „Naturkonten "

Eine Quantifizierung und „Buchführung" (Naturkontierung) ist aber nicht nur für Schutzgebiete, sondern auch für alle anderen Flächen, insbesondere unzerschnittene Räume ohne besonderen Schutzstatus, und für Ausgleichs- und Ersatzflächen in jedem Bundesland unerläßlich. Ohne entsprechende Erfassung läßt sich keine korrekte Aussage über die Verbesserung oder Verschlechterung des Naturzustandes treffen. Es ist nachweisbar, daß derzeit Ausgleichs- und Ersatzflächen durch Zweiteingriffe zerstört werden. Über die Trägerschaft für solche Flächenpools hat sich R. Wolf kürzlich Gedanken gemacht 105 .

105 Wolf Perspektiven der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung. Vom ökologischen Substanzschutz zum Flächenpool, ZUR 4/1998, 183 ff.

Vorüberlegungen zu einer verfassungsrechtlichen Theorie des Naturschutzes

c) Vernetzung des Schutzgebietssystems

107

und sonstiger Flächen

Ich habe oben den Gedanken der Gesamtvernetzung (Retinität) als mögliche ethische Grundlage des Naturschutzes angeführt. Es ist vielleicht kein Zufall, daß auch naturschutzfachlich der Gedanke der Vernetzung der Lebensräume eine hervorragende Rolle spielt. Die FFH-Richtlinie verlangt bereits als geltendes Recht die Kohärenz m des Netzes NATURA 2000. Die meisten Landesnaturschutzgesetze verlangen ausdrücklich die Schaffung von Biotopverbundsystemen 107 . Die „Verinselung" bzw. die Einbeziehung eines Gebiets in ein „Netz" muß bei der Bewertung eine Rolle spielen, weil wirksamer Naturschutz in isolierten und zu kleinen Schutzgebieten nicht möglich ist. d) Weitere qualitative

Vorgaben (Bewertungsfragen)

Der europäische Normgeber hat trotz aller berechtigter Kritik mit der FFHRichtlinie vorgemacht, was qualitative Vorgaben im Naturschutzrecht bewirken. Art. 20a verlangt ebenfalls eine nachvollziehbare Bewertung der Lebensräume, um im Konfliktfalle geeignete Parameter zur Verfugung zu haben. Durch Art. 20a wird ja nicht jede Veränderung von Natur- und Kulturlandschaften ausgeschlossen. Besonders kritisch zu prüfen sind die Effizienz von Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen. „Kompensationen" sind ein großes Bewertungsproblem. Wie soll der Zuwachs von 100 ha „Entwicklungsfläche" im Verhältnis zur Durchschneidung eines 5 ha großen NSG mit dem Vorkommen seltener Arten gewertet werden? Im Ergebnis muß jedenfalls das „Naturkonto" quantitativ wie qualitativ mindestens ausgeglichen sein, um dem Schutzauftrag des Art. 20a zu genügen. e) Der Integritätsmaßstab

als Inhalt der Staatszielbestimmung?

Eine schwierige Frage ist, ob sich aus Art. 20a GG ein Integritätsmaßstab in der Form ableiten läßt, daß für die heimischen Tiere und Pflanzen diejenigen Bedingungen erhalten bleiben oder wiederhergestellt werden müssen, die ihr Überleben als Art ermöglichen, und zwar in freier Natur und in heimischen Regionen 108 . Die Frage steht juristisch an der Schnittstelle von Verschlechterungsverbot und Verbesserungsgebot. Ich neige dazu, die Frage zu bejahen und auf sichtbare Tier- und Pflanzenarten zu beschränken. Die Ausklammerung der

106 Bei der Integration der FFH-RL in das BNatSchG ist daraus deutsch z.T. der „Zusammenhang" geworden, vgl. § 19c Abs. 5 BNatSchG. 107

Vgl. z.B. § 2 Abs. 2 Nr. 9 LnatG M-V (Biotopverbundsysteme).

108

So explizit Murswiek (Fn. 97), S. 222, 226.

108

Detlef Czybulka

Mikroorganismen aus dem Erhaltungsgebot ist eine Frage der Praktikabilität 109 . Sie läßt sich aber auch mit ästhetischen und ethischen Erwägungen rechtfertigen. Das Aussterben einer (heimischen) Tier- und Pflanzenart ist als (unwiederbringlicher) Verlust und damit als Verschlechterung der Natur(ausstattung) zu qualifizieren. Das Vorkommen der gleichen Arten in anderen Staaten entbindet nicht von der staatlichen Verantwortung für die Erhaltung der heimischen (regionalen) Vielfalt. Daß sich der Staat aktiv für die Erhaltung der Arten einsetzen muß, ergibt sich aus der Schutzrichtung der Staatszielbestimmung. 3. Das unbestimmte Verbesserungsgebot des Art. 20a GG Die am Wortlaut orientierte Interpretation des Art. 20a spricht deutlich für ein Verbesserungsgebot, das sich ethisch - wie gesehen - gut begründen läßt. Als Optimierungsgebot strebt die Staatszielbestimmung zur bestmöglichen Wirksamkeit. Der Naturschutz hat in Deutschland ein so niedriges Niveau, daß er ohne strukturelle Verbesserungen in Kürze bedeutungslos werden könnte. Insoweit erledigte sich dann auch die Schutzpflicht des Staates, das Verschlechterungsverbot könnte nicht eingehalten werden. Das kann nicht Intention der Verfassungsnorm sein. Das Verbesserungsgebot ist unbestimmt und läßt so die erforderlichen Spielräume für einen - durch den Schutzauftrag nach unten begrenzten — Gestaltungsauftrag. Verbesserungen im Naturschutz ließen sich durch eine planvolle, territorial bezogene, lebensraumtypische und artenspezifische Vorsorgepolitik umsetzen. Auch diese wäre zu quantifizieren und qualitativen Anforderungen zu unterwerfen. a) Die Länder müßten endlich verbindliche Festlegungen treffen, wieviel Prozent ihrer Landesfläche (mindestens) einen (und welchen) besonderen Schutzstatus aufweisen sollen (und welcher Zuwachs quantitativ wie qualitativ im Vergleich zu 1994 angestrebt wird). Der Bund könnte für die Gesamtfläche Rahmenvorgaben setzen und marine Schutzgebiete ausweisen. Seit 1991 gibt es einen Beschluß der Ministerpräsidenten in der MRKO, daß 15% der Bundesfläche Naturschutzvorranggebiete sein sollen. Der FFH-Richtlinie läßt sich indirekt entnehmen, daß sie einen vergleichbaren Anteil schon für das Netz Natura 2000 im Auge hat 110 . Sie läßt eine flexiblere Handhabung erst zu, wenn Mitgliedstaaten mehr als 5 v. H. des Hoheitsgebiets mit prioritären natürlichen Lebensraumtypen und prioritären Arten gemeldet haben, vgl. Art. 4 Abs. 2 109 Allerdings haben die Mikroorganismen für das Leben eine schlechthin konstititive Bedeutung, vgl. Murswiek , NVwZ 1996, 222, 225; zust. Wolf\ Gehalt und Perspektiven des Art. 20a GG, KritV 1997, 280 ff. (285). 110 Vgl. Niederstadt , Die Umsetzung der Flora-Fauna-Habitatrichtlinie durch das Zweite Gesetz zur Änderung des BNatSchG, NuR 1998, 515, 519 (10-20%).

Vorüberlegungen zu einer verfassungsrechtlichen Theorie des Naturschutzes

109

Ua. 2 FFH-RL. Da aber nicht nur prioritäre Lebensraumtypen und Arten geschützt werden sollen und das Netz die aufgrund der VogelschutzRL ausgewiesenen Schutzgebiete mitumfaßt, ist ein Anteil von 15% sicherlich nicht zu hoch gegriffen. b) Entscheidend für die Verbesserung des Naturschutzes ist die Vernetzung aller geeigneter Lebensräume. Es wäre ein „Kontrastnetz" zu den anderen Netzen zu schaffen, die in erster Linie Infrastrukturzwecken dienen. Bei einem Aufeinandertreffen zweier Netze stellt sich dann die Bewertungsfrage neu: es geht nicht mehr allein um die Bewertung des isoliert betrachteten Eingriffs in Natur und Landschaft, sondern es steht jeweils möglicherweise die Kohärenz des gesamten Netzes auf dem Spiel. Die FFH-Richtlinie fordert für solche Fälle als Minimum solche „Reparaturmaßnahmen", die den Zusammenhang des Europäischen ökologischen Netzes sichern, vgl. § 19c Abs. 5 BNatSchG. Man wird dann auch den bislang selbstverständlichen Vorrang für Infrastrukturnetze nicht mehr begründen können, wenn die Vernetzung der Naturflächen aus der Staatszielbestimmung folgt. Ich denke, daß sich dies gut begründen läßt. Wirksamer Naturschutz ist nach wohl einhelliger Auffassung der Fachleute in isolierten Schutzgebieten nicht möglich. Die Vernetzung erhöht die Effizienz von Naturschutzmaßnahmen ganz entscheidend. Erst durch die Vernetzung des Schutzgebietssystems, die dann bestehende „Parallelwelt", erhielte der Naturschutz ein Gewicht, das ihm ansatzweise die gleichen Chancen wie anderen Vorhaben einräumte 4. Rechtliche Absicherung des Naturschutzes als Kombination einer Staatszielbestimmung mit einem Inidividualrechtsanspruch auf unbeeinträchtigte Natur oder bundesweite Einführung der Verbandsklage? Konkret interpretiertes Verschlechterungsgebot und unbestimmtes Verbesserungsgebot verleihen der Staatszielbestimmung des Art. 20a GG im Bereich des Naturschutzes eine erhebliche Dynamik. Gesetzgeber und Behörden sind gehalten, das Verschlechterungsverbot quantitativ und qualitativ umzusetzen. Bei einer Befolgung des Gebots, eine Anhebung des Schutzniveaus anzustreben und umzusetzen111, ergeben sich weitere Möglichkeiten der Implementierung. Es spricht im Ergebnis wenig dafür, zusätzlich einen Individualrechtsanspruch auf unbeeinträchtigte Natur zu fordern. Die impulsgebende Funktion der Staatszielbestimmung kann aber nur erhalten bleiben, wenn Gesetzgeber und Behörden in Bund und Ländern sich aktiv für den Naturschutz einsetzen und eine wirksame Kontrolle über die Naturschutzverbände stattfindet. Es liegt eine Asymmetrie darin, den Verbänden zwar eine erhebliche Arbeitslast bei der Bewältigung der „Staatsaufgabe" aufzuladen, auf der anderen Seite aber rechtswidrige Eingriffe in den Naturhaushalt der gerichtlichen Kontrolle zu entziehen. 111

So ausdrücklich Murswiek (Fn. 97), S. 222, 226.

110

Detlef Czybulka

Es lebt sich eben recht ungeniert, wenn gerichtliche Kontrolle nicht zu befürchten ist. Die in § 29 BNatSchG den Verbänden eingeräumten Beteiligungsrechte sind durch Art. 20a GG verfassungsrechtlich legitimiert. Die Erfahrungen mit der Verbandsklage in der Schweiz sind positiv. Zu Recht plädiert auch die Unabhängige Sachverständigen-Kommission zum Umweltgesetzbuch beim Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit in § 45 UGB-KomE für die bundesweite Einführung der Verbandsklage.

Verfassungsrechtliche Grenzen der Übertragung von Befugnissen auf ehrenamtliche Polizisten Von Torsten Keim

I. Anlaß der Untersuchung Im Herbst 1996 gingen der Ministerpräsident und der Innenminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern mit Plänen an die Öffentlichkeit, zur Stärkung der Polizeipräsenz im Lande einen ehrenamtlichen Polizeidienst einzurichten.1 Danach sollten dessen Mitglieder vor allem Streifendienste in der Nähe touristischer Einrichtungen, in Fußgängerzonen, Wohn- und Geschäftsvierteln, Parkanlagen und bei Sportveranstaltungen übernehmen, Unterstützung bei der Sicherung von Schulwegen und bei der Überwachung des Straßenverkehrs leisten sowie die hauptamtlichen Polizeikräfte zum Beispiel bei der Entgegennahme von Anzeigen und der Spurensicherung entlasten. Zur Ausübung dieser Aufgaben war vorgesehen, den freiwilligen Polizisten ein Anhalte- und Befragungsrecht und ein Recht auf Identitätsfeststellung sowie auf Übermittlung der erhobenen Daten an öffentliche Stellen zu gewähren. Ebenso sollten sie eine Platzverweisung erlassen können. Die Angehörigen des ehrenamtlichen Polizeidienstes sollten mit einer uniformähnlichen Dienstkleidung, Schlagstock und CS-Gas ausgerüstet werden. Zugang zum ehrenamtlichen Dienst sollte jede geeignete volljährige Person erhalten, wobei eine Gesamtstärke von bis zu 1.000 Personen angestrebt wurde, die ungefähr 40 Stunden im Monat der neuen Aufgabe nachgehen sollten. Nachdem dieses Vorhaben bekanntgeworden war, bat mich Prof. Dr. Jeand'Heur Ende 1996, ihn bei einer Untersuchung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit eines derart ausgestalteten ehrenamtlichen Polizeidienstes zu unterstützen, an welcher er aber durch seine unerwartete Krankheit und seinen allzu frühen Tod gehindert wurde. Dieses habe ich als Anlaß für die folgende Untersuchung genommen. Allerdings sind die Pläne für eine solche „Hilfspolizei" im Lande Mecklenburg-Vorpommern bisher nicht realisiert worden. Gleichwohl ist das Thema — wie ein Blick auf die Rechtsentwicklung (sogleich unter II.) zeigen wird — nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern 2 von ungebrochener Aktua1 2

Vgl. den Artikel in der FAZ vom 6.11.1996, S. 6: „Bürger sollen Bürger schützen41.

Hier wurde dieses Thema im Wahlkampf für die Landtagswahl am 27.9.1998 wieder kontrovers diskutiert.

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lität. Im weiteren Gang der Untersuchung soll sodann der verfassungsrechtliche Prüfungsrahmen präzisiert werden (III.), bevor der dabei gefundene Maßstab auf seine Aussagekraft für den konkreten Fall untersucht werden kann (IV.). II. Rechtsentwicklung und derzeitige Rechtslage Daß polizeiliche Aufgaben nicht allein von beamteten Kräften des Polizeivollzugsdienstes wahrgenommen werden, ist kein neues Phänomen. Vielmehr enthalten die Polizeigesetze der meisten Bundesländer3 und auch das BGSG 4 Rechtsgrundlagen für die Bestellung von „Hilfspolizeibeamten" 5 . Diese Regelungen gehen zumeist auf eine bereits in den Ländern des Deutschen Reiches bestehende Staatspraxis zurück. 6 Wie jedoch ein Blick auf die Bestellungspraxis zeigt, ist von dieser Möglichkeit zum einen regelmäßig nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht worden, und zum anderen sind überwiegend Angehörige des öffentlichen Dienstes - oft zur effektiveren Wahrnehmung ihrer eigenen dienstlichen Aufgaben - mit diesen Befugnissen betraut worden. 7 Eine Ausnahme bildeten insoweit nur die Bundesländer Baden-Württemberg und Berlin, in welchen bereits seit längerem in größerem Umfang Privatpersonen zu Hilfspolizisten bestellt wurden. Baden-Württemberg verfügt seit 1963 über einen Freiwilligen Polizeidienst. Dieser ist ein Teil des Polizeivollzugdienstes und verstärkt den örtlichen Polizeivollzugsdienst (§ 1 II, III FPolDG 8 ), wenn die Polizei die ihr obliegenden Aufgaben mit den vorhandenen Beamten vorübergehend nicht erfüllen kann ( § 5 1 FPolDG). Dabei soll der Freiwillige Polizeidienst in der Regel nur zur Sicherung von Gebäuden und Anlagen, zur Sicherung und Überwachung des Straßenverkehrs, zum Streifendienst und zu technischen Diensten eingesetzt werden (§ 1 III FPolDG). Dritten gegenüber haben die Angehörigen des Freiwilligen Polizeidienstes die Stellung von Polizeibeamten im Sinne des Polizeigesetzes ( § 6 1 1 FPolDG). Im Jahre 1997 haben ca. 1.200 Freiwillige auf diese Weise über 18.000 Einsatzstunden in Baden-Württemberg geleistet.9 3 Vgl. §§ 80 f. PolG BW; § 5 ASOG Bln.; § 76 BremPolG; § 29 Hmb SOG; § 99 HSOG; § 95 NGefAG; § 95 POG RP; § 84 SPolG; § 81SächsPolG; § 83 SOG LSA; § 12 PolOrgG SH. 4

Vgl. § 63 I I - I V BGSG.

5

Übertragungen polizeilicher Aufgaben und Befugnisse erfolgen zudem durch oder aufgrund zahlreicher Spezialgesetze, die hier aber außer Betracht bleiben sollen. Siehe dazu Ungerbieler, Der Hilfspolizeibeamte im deutschen Polizeirecht, DVB1. 1980, 409 f. 6

Vgl. die Darstellung bei Ungerbieler

7

Vgl. Ungerbieler

(Fn. 5), S. 410 f.

(Fn. 5), S. 409 ff.

8

Gesetz über den freiwilligen Polizeidienst i.d.F. vom 12.4.1985 (GBl. S. 129), geändert durch Art. 3 G vom 22.10.1991 (GBl. S. 625). 9

Presseerklärung des Innenministeriums Baden-Württemberg vom 28.08.1998.

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Eine ähnliche Funktion erfüllt im Land Berlin seit 1961 die Freiwillige Polizeireserve. Diese hat die Aufgabe, die Polizei bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu entlasten, wenn die vorhandenen Polizeidienstkräfte für die ihnen gestellten Aufgaben nicht ausreichen oder nicht ständig dafür eingesetzt werden können (§§ 1 I, 2 FPRG 10 ), und kann zur Sicherung und zum Schutz von Gebäuden und Anlagen, zur Unterstützung bei der Überwachung des Straßenverkehrs, des polizeilichen Streifendienstes, bei öffentlichen Veranstaltungen und bei Kurier- und Transportdiensten herangezogen werden (§ 1 II FPRG). Durch § 1 der FPRVO 11 sind den Angehörigen der Polizei-Reserve für die Zeit ihrer Heranziehung zum Dienst weitreichende Befugnisse übertragen, die u.a. auch die Ingewahrsamnahme von Personen oder die Ausübung unmittelbaren Zwanges gestatten. Auch wenn damit in Baden-Württemberg und Berlin in größerem Umfange polizeiliche Befugnisse auf ehrenamtliche Kräfte übertragen werden, so erfährt dieses jedoch sein Regulativ dadurch, daß die Hilfspolizisten hier nur vorübergehend zur Unterstützung der Polizei in besonderen, kurzzeitigen Gefahrensituationen und nur für bestimmte Aufgaben eingesetzt werden dürfen bzw. sollen. Der bisherige Befund unterscheidet sich damit in mehrfacher Weise erkennbar von der für das Land Mecklenburg-Vorpommern ins Gespräch gebrachten Konzeption eines ehrenamtlichen Polizeidienstes. Während bisher entweder keine Einbindung von ehrenamtlichen Kräften in die polizeiliche Gefahrenabwehr in nennenswertem Umfang erfolgte oder diese jedenfalls nur ausnahmsweise bei besonderen, kurzzeitigen Gefahrenlagen erfolgen durfte, zielt der Vorschlag in Mecklenburg-Vorpommern auf die Schaffung eines ehrenamtlichen Polizeidienstes als ständigen, festen Bestandteil der Gefahrenabwehr mit einem nicht unerheblichen Einsatzumfang. Zudem soll keine gesetzliche Beschränkung auf wenige, fest umrissene Aufgaben erfolgen. Dafür sollen allerdings die Befugnisse der freiwilligen Polizisten auf wenige Standardmaßnahmen beschränkt werden. Das mecklenburg-vorpommersche Modell fügt sich damit eher in eine Entwicklung ein, die zunächst im Freistaat Bayern durch die Schaffung einer Bayerischen Sicherheitswacht im Jahre 1994 ihren Niederschlag gefunden hat. In dieser Sicherheitswacht wirken Bürger an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung mit (Art. 1 BaySWG 12 ), indem sie während ihrer Dienstzeit die Polizei bei der Erfüllung ihrer Aufgaben, insbesondere im Zu10

Gesetz über die Freiwillige Polizei-Reserve (FPRG) vom 23.6.1992 (GVB1. S. 198).

11

Verordnung zur Übertragung bestimmter Befugnisse der Polizeibehörde auf die Angehörigen der Freiwilligen Polizei-Reserve vom 28.12.1992 (GVB1. 1993 S. 10). 12 Gesetz über die Sicherheitswacht in Bayern i.d.F. d. Bek. vom 28.4.1997 (GVB1. S. 88); vgl. allg. zur Bayerischen Sicherheitswacht von Klitzing, BayBgm. 1994, 85 ff.

8 GS Jeand' Heur

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sammenhang mit der Bekämpfimg der Straßenkriminalität unterstützen (Art. 2 BaySWG). Sie sind ehrenamtlich tätig, stehen in einem besonderen öffentlichrechtlichen Dienstverhältnis zum Freistaat Bayern (Art. 11 I BaySWG) und unterliegen den Weisungen der Polizeibehörden (Art. 14 1 BaySWG). An Befugnissen ist ihnen ein Anhalte- und Befragungsrecht (Art. 4 BaySWG), das Recht zur Identitätsfeststellung (Art. 5 BaySWG), zur Anordnung eines Platzverweises (Art. 6 BaySWG) und zur Übermittlung personenbezogener Daten an die Polizei, andere Angehörige der Sicherheitswacht und die Gemeinden (Art. 7 BaySWG) übertragen worden. Rechte zur Ausübung unmittelbaren Zwangs überträgt das BaySWG nicht explizit, die Befugnisnormen sollen jedoch das Recht zur Anwendung einfacher körperlicher Gewalt umfassen 13. Für den Einsatz von Maßnahmen durch die Sicherheitswacht gilt grundsätzlich das Opportunitätsprinzip (vgl. Art. 8 I BaySWG). Da die Angehörigen der Sicherheitswacht auch während des Dienstes Zivilkleidung tragen, sind sie durch eine Plastikkarte mit Lichtbild und eine Ärmelschlaufe kenntlich gemacht. Zu ihrer Ausstattung zählen insbesondere eine Signalpfeife, ein Reizstoffsprühgerät sowie ein Handsprechfunkgerät. 14 Die Sicherheitswacht war zunächst nur für einen Erprobungszeitraum von 3 Jahren gebildet worden 15 , ist seit 1997 aber fester Bestandteil des bayerischen Sicherheitskonzepts. Im August 1998 gab es die Sicherheitswacht an 35 Standorten in 30 Städten mit insgesamt ca. 330 Mitgliedern 16 ; ein flächendeckender Ausbau auf ganz Bayern ist vorgesehen 17. Dem bayerischen Vorbild ist mittlerweile der Freistaat Sachsen mit der Erprobung einer Sächsischen Sicherheitswacht gefolgt. Die rechtliche Ausgestaltung entspricht weitgehend der Rechtslage in Bayern 18 , allerdings sind den Angehörigen der Sächsischen Sicherheitswacht auch das Recht der Sicherstellung (§ 7 SächsSWEG) und ausdrücklich die Befugnis zum Einsatz einfacher körperlicher Gewalt zur Durchsetzung ihrer Anordnungen übertragen worden. Die Angehörigen der Sächsischen Sicherheitswacht gelten hinsichtlich der Dienst- und Fachaufsicht als Angehörige ihrer Polizeidienststelle (§ 10 II SächsSWEG), und Maßnahmen, die sie in Ausübung ihrer Befugnisse treffen, 13

Vgl. die Begründung der Bayerischen Staatsregierung zu Art. 3, 4 und 5 des Gesetzentwurfes über die Erprobung einer Sicherheitswacht. 14 Vgl. die Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern zum Vollzug des BaySWG vom 2.1.1997 (A11MB1. S. 103), geändert durch Bekanntmachung vom 23.6.1997 (A11MB1. S. 463). 15 Vgl. Art. 1, 20 des Gesetzes über die Erprobung einer Sicherheitswacht vom 24.12.1993 (GVB1. S. 1049). 16

Vgl. Pressemitteilung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern 454/98 vom 11.8.1998. 17 Vgl. Pressemitteilung des Bayerischen Staatsministeriums des Innern 379/98 vom 13.7.1998. 18 Vgl. das Gesetz über die Erprobung einer Sächsischen Sicherheitswacht vom 12.12.1997 (GVB1. S. 647).

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werden ihrer Polizeidienststelle zugerechnet (§ 3 II 2 SächsSWEG). Im Frühjahr 1998 haben die ersten 57 Freiwilligen in 4 Städten Sachsens ihre Tätigkeit aufgenommen. 19 In gleiche Richtung scheint auch eine versuchsweise Aufgabenerweiterung des Freiwilligen Polizeidienstes in Baden-Württemberg zu gehen. Nach dem Ende August 1998 vorgestellten Konzept des Innenministers 20 sollen die Polizeifreiwilligen künftig über ihre Unterstützungsfunktion bei den operativen Maßnahmen hinaus stärker in der Kommunalen Kriminalprävention und bei der Verbesserung der polizeilichen Präsenz eingesetzt werden. Gedacht sei u.a. an gezielte Streifen im Umfeld von Kindergärten, -Spielplätzen und Schulen, die Unterstützung von Betreuungsangeboten für gefährdete Jugendliche, den Einsatz in der Verkehrsprävention, in Fußgängerzonen und bei der Schulwegsicherung, die Durchführung von Aufklärungs- und Nachbarschaftsaktionen und an Präsenzstreifen in sogenannten Angsträumen, wie Parkhäuser und öffentliche Anlagen. Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt somit die Tendenz, den hauptamtlichen Polizeikräften ein auf ehrenamtlicher Mitwirkung von Bürgern beruhendes Element der Gefahrenabwehr zur Seite zu stellen. Und diese Tendenz dürfte sich weiter fortsetzen. Denn trotz hoher Kriminalitätsraten und eines steigenden Bedrohungsgefuhls in der Bevölkerung 21 ist angesichts knapper öffentlicher Kassen eine nennenswerte Aufstockung der beamteten Polizeikräfte in Zukunft nicht zu erwarten. Zudem oder deshalb setzt sich in der Politik verstärkt die Auffassung durch, daß eine Stabilisierung der inneren Sicherheit allein durch den Staat ohne Mitwirkung der Bürger nicht mehr erreicht werden könne. Die Einbindung des Bürgers in das Sicherheitskonzept des Staates in der einen oder anderen Weise scheint daher Zukunft zu haben. Der Versuch, auf diese Weise zusätzliche Sicherheit für die Bürger zu erreichen, birgt aber zugleich auch Gefahren. Denn wie Gusy 22 treffend formuliert: „Je weiter der Schutz gegen mögliche Risiken reicht, desto schutzloser ist der Beschützte gegenüber seinem Beschützer". Gerade beim Einsatz freiwilliger Kräfte ist das Risiko unberechtigter Übergriffe, des Ausspionierens und der Denunziation höher als bei hauptamtlichen Kräften 23 , da jene regelmäßig über weniger Rechtskenntnisse und Einsatzerfahrung verfügen und weniger Gewähr 19

Vgl. Pressemitteilung des Sächsischen Staatsministeriums des Innern 35/98 vom 1.4.1998. 20

Vgl. Presseerklärung des Innenministeriums Baden-Württemberg vom 28.8.1998.

21

Vgl. dazu die Zahlen bei Ahlf,\ Einfuhrung in die Thematik, in: Weiß/Plate Privatisierung von polizeilichen Aufgaben, 1996, S. 1 (23 ff.).

(Hrsg.),

22 Gusy, Vom Polizeirecht zum Sicherheitsrecht, Staatswissenschaften und Staatspraxis 5 (1994), 187 (208). 23

Vgl. zu ähnlichen Bedenken auch von Klitzing

(Fn. 12), S. 86.

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für die notwendige Neutralität bieten, zumal die Gefahr besteht, daß sich für den ehrenamtlichen Dienst auch oder gerade Personen mit einem Hang zur „Sheriff-Mentalität" und Gewaltbereitschaft melden. Dieses wirft die Frage auf, welche Grenzen einer solchen Mitwirkung oder Übertragung auf den Bürger insbesondere durch das Verfassungsrecht gesetzt sind. I I I . Verfassungsrechtlicher Prüfungsrahmen Als mögliche verfassungsrechtliche Grenzen kommen insoweit vor allem eine verfassungskräftig gesicherte Staatsaufgabe „innere Sicherheit", das Gewaltmonopol des Staates und Art. 33 IV GG in Betracht. 24 1. Verfassungsrang der Staatsaufgabe „Gefahrenabwehr" Welche Materien zu den Aufgaben des Staates gehören, läßt sich nicht für alle Zeiten allgemeingültig umschreiben. Grundsätzlich obliegt es der politischen Entscheidung des Staates selbst - regelmäßig durch Gesetz eine Aufgabe in den Kreis der Staatsaufgaben zu erheben oder daraus zu entlassen.25 Gleichwohl gibt es allerdings Aufgaben, deren Wahrnehmung dem Staat verfassungskräftig verboten sind, und solche, die der Staat nach dem Grundgesetz zwingend wahrnehmen muß. 26 Mustert man das Grundgesetz einmal im Hinblick auf die Gefahrenabwehr durch, so läßt dieses eine ausdrückliche Einordnung der Aufgabe vermissen. Dennoch ist nahezu einhellig anerkannt, daß die Aufgabe der „inneren Sicherheit" und mit ihr die der Gefahrenabwehr unter dem Grundgesetz zu den notwendigen Staatsaufgaben zählt. 27 Die Gewährleistung der äußeren und inneren Sicherheit bildet geradezu das Wesen der Staat-

24 Die Grenzen der Übertragung von polizeilichen Aufgaben und Befugnissen auf Private sind vor allem anläßlich des rapiden Anwachsens privater Sicherheitsdienste in den letzten Jahren in vielfältiger Weise diskutiert worden, vgl. nur die Nachweise bei Pitschas, Gefahrenabwehr durch private Sicherheitsdienste?, DÖV 1997, 393 Fn. 1 und 2, und bei Götz , Die Entwicklung des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts (1994-1997), NVwZ 1998, 679 (680 Fn. 12). 25 Gusy , Rechtsgüterschutz als Staatsaufgabe, DÖV 1996, 573 (574); Lecheler , Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, BayVBl. 1994, 555 (558); Scholz , Privatisierung im Baurecht, 1997, S. 19 m.w.N. 26 Vgl. zur Einteilung in verbotene, zulässige und notwendige Staatsaufgaben Gusy , Rechtsgüterschutz (Fn. 25), S. 573 ff. 27

Götz , Innere Sicherheit, in: Isensee / Kirchhof ( Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 2. Aufl. 1996, § 79 Rn. 1 ff.; Gusy , Sicherheitsrecht (Fn. 22), S. 192, 204; Pitschas (Fn. 24), S. 398; Scholz , Verkehrsüberwachung durch Private, NJW 1997, 14 (15); ders ., Privatisierung (Fn. 25), S. 48; Stober , Staatliches Gewaltmonopol und privates Sicherheitsgewerbe, NJW 1997, 889 (890); Kniesel , „Innere Sicherheit" und Grundgesetz, ZRP 1996, 482 (485 ff.).

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lichkeit. 28 Dieses wird auch durch das Bundesverfassungsgericht 29 bestätigt, wenn es feststellt, daß die Sicherheit des Staates als verfaßter Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm gewährleistete Sicherheit seiner Bevölkerung Verfassungswerte seien, die mit anderen im gleichen Rang ständen und unverzichtbar seien, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleite. Nunmehr stellt sich jedoch erst die entscheidende Frage, ob und welche Rückschlüsse sich aus dieser Einordnung der Gefahrenabwehr als notwendige Staatsaufgabe für eine Beteiligung Privater ziehen lassen. Überwiegend wird angenommen, daß mit der Einordnung der „inneren Sicherheit" als notwendige Staatsaufgabe lediglich über das „Ob", nicht jedoch über das „Wie" der Aufgabenerfüllung entschieden sei. Der Staat könne Private zumindest an der Aufgabenerfüllung beteiligen bzw. diesen einzelne Teilbereiche übertragen. Als Konsequenz der Notwendigkeit der Staatsaufgabe folge insoweit lediglich eine Gewährleistungsverantwortung des Staates, der für eine angemessene Erfüllung Sorge tragen müsse.30 Lediglich ein Kernbereich eigener staatlicher Gefahrenabwehr müsse erhalten bleiben.31 Auch die Rechtsprechung geht ersichtlich davon aus, daß der Staat auch im Bereich seiner originären Aufgaben einen Gestaltungsspielraum bei der Frage der Aufgabenerfullung hat, der zumindest nicht die Einschaltung Privater ausschließt. So hat das Bundesverfassungsgericht 32 bezüglich des Notarberufes ausgeführt: „Es bedarf keiner näheren Begründung, daß Rechtspflege' und ,freiwillige Gerichtsbarkeit 4 originäre Staatsaufgaben sind. Der Notar nimmt, soweit er diese Tätigkeiten ausführt, staatliche Funktionen wahr. ... Wie der Staat öffentliche Aufgaben erledigen lassen will, ist im allgemeinen Sache seines freien Ermessens, freilich bis zu einem gewissen Grade auch von Eigenart und Gewicht der einzelnen Aufgabe abhängig. Es besteht hier eine breite Skala von Möglichkeiten, die vom freien Beruf mit öffentlich-rechtlichen Auflagen bis zu Berufen reicht, die gänzlich in die unmittelbare Staatsorganisation einbezogen sind, also ,öffentlichen Dienst' im eigentlichen Sinne darstellen." Zugleich betont das Bundesverfassungsgericht aber auch die fortbestehende 28

Vgl. Gusy , Rechtsgüterschutz (Fn. 25), S. 573.

29

BVerfGE 49, 24 (56 f.).

30

Gusy , Sicherheitsrecht (Fn. 22), S. 204 f.; Lecheler , Privatisierung (Fn. 25), S. 558; Pitschas (Fn. 24), S. 398; ders. y Thesen zur Privatisierung, in: Weiß/Plate (Hrsg.), Privatisierung von polizeilichen Aufgaben, 1996, S. 36; Scholz , Verkehrsüberwachung (Fn. 27), S. 15 f.; Stober (Fn. 27), S. 892 f.; a.A. Kutscha , Verfassungsfragen der Privatisierung von Staatsaufgaben, NJ 1997, 393 (395); Greifeid , Öffentliche Sachherrschaft und Polizeimonopol, DÖV 1981, 906 (912) unter Berufung auf Art. 33 IV GG, s. dazu sogleich unter 3. 31 Stober (Fn. 27), S. 893; Scholz , Privatisierung (Fn. 25), S. 37 f.; Beinhofer , Brauchen wir ein Gesetz über private Sicherheitsdienste?, BayVBl. 1997, 481 (482). 32

BVerfGE 17, 371 (376 f.).

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Erfüllungsverantwortung des Staates: „Diese Übertragung kann ihn aber von der Verantwortung für die ordnungsgemäße Erfüllung dieser Aufgaben nicht entlasten."33 Zu nennen sind zudem die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts 34 zum Einsatz ziviler Sicherheitskräfte bei der Fluggastkontrolle, wonach der Staat nicht gehalten ist, jede von ihm für erforderlich angesehene Maßnahme durch eigene Dienstkräfte zu erledigen, vielmehr könne er sich - soweit dieses zweckmäßig sei, eine staatliche Kontrolle gewährleistet bleibe und ein enger Bereich grundrechtlicher Freiheit unberührt bleibe - zur Erfüllung seiner Aufgaben auch privater Personen bedienen. 2. Staatliches Gewaltmonopol Eng mit dem Problem der Begrenzung durch den Verfassungsrang der Staatsaufgabe „innere Sicherheit" verbunden sind Fragen des staatlichen Gewaltmonopols, wird dieses doch regelmäßig neben dem Wesen des Staates selbst und den grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates für seine Bürger als Begründung für die notwendig zu erfüllende Staatsaufgabe „innere Sicherheit" genannt.35 Über diesen Begründungszusammenhang hinaus ist das staatliche Gewaltmonopol häufig das Hauptkriterium, unter dem die Diskussion über die Möglichkeit der Einschaltung Privater im Bereich der Gefahrenabwehr geführt wird. 36 Der Gedanke eines staatlichen Gewaltmonopols geht zurück bis auf Jean Bodin und Thomas Hobbes und ist insoweit in seinem geschichtlichen Ursprung eng mit der Souveränität des Staates verbunden. 37 Der Staat und die Übertragung der Gewaltkompetenzen auf ihn finden ihre Begründung in dem durch den Staat zu sichernden Frieden nach innen wie nach außen. In den Text des Grundgesetzes hat das Gewaltmonopol des Staates keine ausdrückliche Aufnahme gefunden, gleichwohl ist es nach ganz einhelliger Meinung ein ungeschriebenes Verfassungsprinzip 38, welches ganz überwiegend 33

BVerfGE 17, 371 (379).

34

BVerwGE 95, 188 (197).

35

Vgl. Götz (Fn. 27), § 79 Rn. 7 ff., 29.

36

Vgl. nur Schulte, Gefahrenabwehr durch private Sicherheitskräfte im Lichte des staatlichen Gewaltmonopols, DVB1. 1995, 130 ff.; Stober, Staatliches Gewaltmonopol und privates Sicherheitsgewerbe, NJW 1997, 889 ff. 37 Vgl. dazu Bracher, Gefahrenabwehr durch Private, 1987, S. 104 ff.; Jeand'Heur, Von der Gefahrenabwehr als staatliche Angelegenheit zum Einsatz privater Sicherheitskräfte, AöR 119 (1994), 107 (113 ff.); Ronellenfitsch, Schranken einer Privatisierung der staatlichen Unfalluntersuchung im Bereich der Eisenbahn, NVwZ 1998, 1021 (1023). 38

Soweit Pitschas (Fn. 24),% S. 397 unter Hinweis auf bestehende Einschränkungen die Existenz eines staatlichen Gewaltmonopols bestreitet, ist dieses mehr eine sprachliche denn eine inhaltliche Divergenz.

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dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III, 28 I GG) zugeordnet wird, 39 zumindest in der Weise, daß es Element jeder Staatlichkeit und damit auch des Rechtsstaates sei 40 . Kennzeichnend für die Diskussion um das staatliche Gewaltmonopol ist eine gewisse Unschärfe des Begriffs „Gewaltmonopol", der sich - nicht zuletzt wegen seiner fehlenden Nennung im Grundgesetz - einer exakten Definition entzieht. Weitestgehend Übereinstimmung läßt sich nur insoweit feststellen, als Gewalt hier im Sinne physischen Zwangs zu verstehen ist 41 und es sich zudem nur um die legitime Ausübung dieser Gewalt handeln kann 42 ; ein faktisches Monopol der Gewaltausübung beim Staat gibt es evidenterweise nicht. Umstritten ist dagegen, inwieweit das Gewaltmonopol des Staates eine legitime Gewaltausübung allein auf staatliche Organe beschränkt. 43 Von der Ansicht, daß grundsätzlich allein der Staat selbst durch eigene Organe zur Gewaltausübung berechtigt sei 44 , reicht das Meinungsspektrum 45 bis hin zu der Auffassung, das Gewaltmonopol gestatte auch Gewaltausübung nichtstaatlicher Stellen, solange nur der Staat berechtigt sei, über Legitimität bzw. Illegitimität von Gewalt selbst zu entscheiden und den Umfang der legitimen Gewalt selbst zu bestimmen sowie illegitime Gewalt mit eigenen Mitteln notfalls gewaltsam zu verhindern 46 . 3. Staatsvorbehalt aus Art. 33 IV GG Begrenzungen hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Einbindung Privater bei der Gefahrenabwehr werden zudem teilweise aus Art. 33

39 Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 35 ff.; Jeand'Heur (Fn. 37), S. 113 ff; Scholz, Verkehrsüberwachung (Fn. 27), S. 16; Mahlberg, Gefahrenabwehr durch gewerbliche Sicherheitsunternehmen, 1988, S. 79 f.; Steegmann, Verkehrsüberwachung durch Private, NJW 1997,2157 (2158). 40

Bracher (Fn. 37), S. 109; Schulte (Fn. 36), S. 132.

41

Vgl. Götz (Fn. 27), § 79 Rn. 29; Stober (Fn. 27), S. 890.

42

Vgl. Kutscha (Fn. 30), S. 394; Ronellenfitsch,

Unfalluntersuchung (Fn. 37), S. 1023.

43

Keine Behandlung erfährt das Problem, in welchem Verhältnis die privaten Not(wehr)rechte zum staatlichen Gewaltmonopol stehen, da diese Fragestellung vorliegend ohne Bedeutung ist. 44 Vgl. Steegmann (Fn. 39), S. 2158; Greifeid (Fn. 30), S. 912; s. auch Ronellenfitsch, Allgemeine Betrachtungen zur Verkehrsüberwachung durch Private, DAR 1997, 147 (150 f.) und ders., Unfalluntersuchung (Fn. 37), S. 1024 bzgl. eines „Polizeivorbehalts". 45 Vgl. Jeand'Heur (Fn. 37), S. 134: Ein „tatsächlicher Kernbestand" des staatlichen Gewaltmonopols müsse erhalten bleiben; Stober (Fn. 27), S. 892 f.: Jenseits eines Kerns polizeilicher Grundversorgung könne über Lockerungen des staatlichen Gewaltmonopols nachgedacht werden. 46

Gusy, Rechtsgüterschutz (Fn. 25), S. 576.

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IV GG abgeleitet, wonach die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen ist, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen. Verlange das Grundgesetz im Bereich der ständigen Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse regelmäßig den Einsatz von Beamten, so schriebe es damit mittelbar zugleich eine zwangsläufig staatliche Aufgabenwahrnehmung fest. Widerspreche nämlich schon die dauerhafte Betrauung von Angestellten im öffentlichen Dienst mit hoheitsrechtlichen Befugnissen dem Regelmodus des Art. 33 IV GG, so sei die Einbeziehung Privater z.B. im Wege der „Beleihung" mit Eingriffsbefugnissen erst recht unzulässig. Art. 33 IV GG enthalte damit zumindest für die klassischen Zwangsfunktionen des Staates zugleich eine Privatisierungssperre. 47 Andere Stimmen in der Literatur entnehmen Art. 33 IV GG zwar auch eine Regelung für die Abgrenzung zwischen staatlicher und staatlich veranlaßter Aufgabenerfüllung durch Private. Da die Norm jedoch nur eine Regel festschreibe, seien Ausnahmen zulässig, wenn besonders wichtige Gründe die Ausnahme rechtfertigten. 48 Ein anderer Teil der Literatur spricht Art. 33 IV GG dagegen jegliches selbständige Verbot der Privatisierung ab. 49 Die Aussage des Art. 33 IV GG beziehe sich grundsätzlich nur auf das Beamtentum, nicht jedoch auf die staatliche Aufgabenwahrnehmung als solche, begründe also keinen funktionellen Staatsvorbehalt, sondern komme erst dann zum Tragen, wenn bereits entschieden sei, ob eine Aufgabe vom Staat selbst wahrgenommen werden müsse oder nicht. 50 Art. 33 IV in Verbindung mit Art. 33 V GG setze lediglich einen durch die Norm nicht näher bestimmten Kernbestand an Staatsaufgaben voraus, der einer Privatisierung entzogen sein müsse, da ohne einen solchen Kernbereich die Existenz des Berufsbeamtentums ausgehöhlt würde, garantiere jedoch nicht die staatliche Wahrnehmung bestimmter Aufgabenbereiche. 51

47 Kutscha (Fn. 30), S. 395; Greifeid (Fn. 30), S. 912; Krells, Rechtliche Grenzen der Privatisierungspolitik, GewArch 1995, 129 (135); vgl. auch AG Berlin-Tiergarten, DAR 1996, 326 f.; Leisner, Entstaatlichung und Berufsbeamtentum, in: ders., Beamtentum, 1995, S. 226 (231 ff.). 48

Bracher (Fn. 37), S. 62 ff.; Isensee, in: Benda /Maihofer/ Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 32 Rn. 59; ähnlich Peine, Der Funktionsvorbehalt des Berufsbeamtentums, Die Verwaltung 17 (1984), 415 Fn. 1, der jedoch gleichwohl dieser Norm jegliche Relevanz für die Privatisierungsfrage abspricht, da das Grundgesetz einen weitergehenden Schutz der notwendigen Staatsaufgaben enthalte, a.a.O, S. 437. 49

Scholz, Verkehrsüberwachung (Fn. 27), S. 15; von Heimburg, Verwaltungsaufgaben und Private, 1982, S. 23 f. 50 Scholz, Verkehrsüberwachung (Fn. 27), S. 15; ders., Privatisierung (Fn. 25), S. 38 m.w.N. 51

von Heimburg (Fn. 49), S. 23 f.

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4. Einordnung der ehrenamtlichen Polizisten in das Verhältnis Staat - Privater Soweit damit nach den bisherigen Überlegungen überhaupt Begrenzungen aus einem verfassungskräftigen Staatsvorbehalt für die Aufgabe „innere Sicherheit" bzw. dem staatlichen Gewaltmonopol oder der bisher allein erörterten Funktion des Art. 33 IV GG als eines möglichen Staats Vorbehalts gezogen werden können, beziehen sich diese allein auf Fälle der nicht ausschließlich eigenen Aufgabenerfüllung durch den Staat selbst. Um die gewonnenen Erkenntnisse auf die Institution eines freiwilligen Polizeidienstes anwenden zu können, bedarf es nunmehr noch der Klärung der Frage, ob und inwieweit bei dieser Einrichtung überhaupt von einer Beteiligung „Privater" gesprochen werden kann. Dieses macht eine Abgrenzung zwischen dem Privaten einerseits und dem Staat bzw. dem „Staatsbediensteten" andererseits erforderlich. In der Literatur wird häufig zwischen einem formellen und einem materiellen Begriff des Privaten unterschieden. 52 Formell Privater ist danach jeder, der in der Form des Privatrechts am Rechtsverkehr teilnimmt. Materiell Privater soll dagegen jeder sein, der dem Staat als Grundrechtsträger gegenüber steht. Diese Kriterien erscheinen jedoch für die vorliegende Abgrenzung untauglich. Mit dem Begriff des Privaten soll im hier in Rede stehenden Zusammenhang vielmehr ein Rechtssubjekt bezeichnet werden, das zwar seiner Funktion nach staatliche Aufgaben wahrnimmt, jedoch in personeller Hinsicht vom Staat unterschieden ist. Das entscheidende Merkmal für die Abgrenzung kann hier daher nur die personelle Eingliederung in die Staatsorganisation sein.53 Ungeklärt ist damit aber immer noch, wie stark das Maß der Eingliederung sein muß, um von einer eigenen Aufgabenerfullung des Staates sprechen zu können. Unzweifelhaft sind die Beschäftigten (Beamte, Angestellte, Arbeiter) des öffentlichen Dienstes keine Privaten in diesem Sinne, während andererseits allein die Auferlegung öffentlich-rechtlicher (Berufs-)Pflichten die Eigenschaft als Privater nicht entfallen läßt. Die Grenze dürfte dazwischen etwa im Bereich des sogenannten Beliehenen54 zu ziehen sein, dem durch Gesetz öffentlich-rechtliche Aufgaben und Befugnisse zur Erfüllung im eigenen Namen übertragen worden sind. 55 Eine exakte Grenzziehung braucht hier jedoch nicht vorgenommen zu werden. Die ehrenamtlichen Polizisten bzw. Sicherheitswachtangehöri52

Vgl. von Heimburg (Fn. 49), S. 19 f.; Bracher (Fn. 37), S. 23 m.w.N.

53

Dagtoglou, Die Beteiligung Privater an Verwaltungsaufgaben, DÖV 1970, 532 (533); Bracher (Fn. 37), S. 24 f. 54

Vgl. zur Definition des Beliehenen: Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl. 1997, § 23 Rn. 56 ff. 55 Vgl. Schulte (Fn. 36), S. 135; Scholz, Verkehrsüberwachung (Fn. 27), S. 15 f., wonach Beliehene funktionell wie organisatorisch Teil der öffentlichen Verwaltung werden und damit am staatlichen Gewaltmonopol teilhaben; dagegen Kutscha (Fn. 30), S. 394, der diese Einschätzung für wirklichkeitsfremd erachtet.

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gen haben nämlich regelmäßig eine gegenüber einem Beliehenen56 verstärkte Eingliederung in die Verwaltungsorganisation erfahren. 57 Sie stehen in einem besonderen öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis, sind den Weisungen der Polizeibehörden unterworfen und werden nicht im eigenen Namen tätig. Hinsichtlich ihrer personellen Eingliederung in die Staatsorganisation unterscheiden sie sich nicht wesentlich von hauptamtlichen Polizeibeamten. Dabei ist unerheblich, daß sie im Gegensatz zu diesen ehrenamtlich tätig sind; entscheidend ist allein, daß sie in die Staatsorganisation i.w.S. eingegliedert sind. Auch die freiwillig unter Eingliederung in einer Teilorganisation des Staates Dienst leistenden Personen sind insoweit keine Privaten. 58 Ungeachtet der Frage, inwieweit sich aus den bisher genannten Verfassungsprinzipien im einzelnen überhaupt Begrenzungen für eine Beteiligung Privater ableiten lassen, greifen diese somit jedenfalls nicht für die Einrichtung eines ehrenamtlichen Polizeidienstes in der eingangs geschilderten Form. 59 Prüfungsmaßstab können damit nur Normen sein, die nicht (ausschließlich) Vorgaben für eine Aufgabenverteilung Staat/Privater, sondern für die Art der Aufgabenerfüllung durch den Staat selbst machen. Aussagen über die personelle Art der Aufgabenerfüllung des Staates enthält aber lediglich Art. 33 IV GG, der somit alleiniger verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab für den Einsatz ehrenamtlicher Polizisten ist. 60 IV. Ehrenamtliche Polizeitätigkeit im Lichte des Funktionsvorbehalts des Art. 33 I V GG Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, ist nach Art. 33 IV GG die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen ist, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen. Trotz der nicht unerheblichen praktischen Bedeutung dieser Norm kann die Reichweite ihrer Aussage bisher nicht als gänzlich geklärt angesehen werden.

56 Zum Teil werden ehrenamtliche Polizisten ohne nähere Begründung als Beliehene angesehen, vgl. Schulte (Fn. 36), S. 135; Hueck, Staatliche Polizei und private Sicherheitsdienste in den Vereinigten Staaten und in Deutschland, Der Staat 36 (1997), 211 (218). Diese Einordnung ist jedoch letztlich unerheblich, da es vorliegend allein auf das Maß der Eingliederung in die Staatsorganisation ankommt. 57 Vgl. Beinhofer (Fn. 31), S. 482; von Klitzing (Fn. 12), S. 86; Bracher (Fn. 37), S. 25; Waechter, Die Organisation der Verkehrsüberwachung, NZV 1997, 329 (338). 58

Dagtoglou (Fn. 53), S. 533; Bracher (Fn. 37), S. 25; von Heimburg (Fn. 49), S. 20.

59

Vgl. i.E. auch Schulte (Fn. 36), S. 135.

60

Einige Landesverfassungen enthalten eine dem Art. 33 IV GG entsprechende Bestimmung, vgl. z.B. Art. 71 IV Verf M-V.

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123

1. Art. 33 IV GG als Funktionsvorbehalt zugunsten des Berufsbeamtentums Als weitestgehend gesichert kann aber gelten, daß es sich dabei nicht lediglich um einen unverbindlichen Programmsatz handelt. Art. 33 IV GG ist vielmehr seinem Wesen nach eine institutionelle Garantie 61 und enthält eine unmittelbar bindende Verpflichtung der Exekutive wie auch der Legislative des Bundes und der Länder 62 . Ein Verstoß durch den Landesgesetzgeber würde daher zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes fuhren. Ihrem Inhalt nach ist die Vorschrift des Art. 33 IV GG ein Funktionsvorbehalt 63 zugunsten des Berufsbeamtentums. Zwar spricht die Norm nicht ausdrücklich vom Beamten, mit den „Angehörigen des öffentlichen Dienstes, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis stehen", sind jedoch nach einhelliger Meinung Berufsbeamte gemeint.64 Die Landesgesetze, die die Bestellung von ehrenamtlichen Polizisten vorsehen, entsprechen daher nicht bereits deshalb den Vorgaben des Art. 33 IV GG, weil mit diesen regelmäßig ein besonderes öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis begründet wird. Art. 33 IV GG läßt nicht lediglich (unter Ausgrenzung nur der privatrechtlichen Angestellten- und Arbeitsverhältnisse) irgendein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis genügen, sondern verlangt, wie auch der Zusammenhang mit Art. 33 V GG bekräftigt, gerade ein Berufsbeamtenverhältnis. 65 Die freiwilligen Polizisten stehen aber offensichtlich gerade nicht in einem öffentlich-rechtlichen Dienst- und Treueverhältnis wie ihre hauptamtlichen Kollegen als Beamte im staatsrechtlichen Sinne, insbesondere fehlt es an der Hauptberuflichkeit und der Lebenslänglichkeit.66

61 Kunig, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. II, 3. Aufl. 1995, Art. 33 Rn. 39; Waechter (Fn. 57), S. 330; Ossenbühl , Eigensicherung und hoheitliche Gefahrenabwehr, 1981, S. 40; Lübbe-Woljf, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. II, 1998, Art. 33 Rn. 53. 62 OVG Münster ZBR 1971, 207 (208); Maunz, in: Maunz/Dürig , Grundgesetz, Art. 33 Rn. 40; Ossenbühl (Fn. 61), S. 33; Lerche , Verbeamtung als Verfassungsauftrag?, 1973, S. 49; Lehnguth , Die Entwicklung des Funktionsvorbehalts nach Art. 33 Abs. 4 GG und seine Bedeutung in der heutigen Zeit, ZBR 1991, 266 (268); Lecheler , Die Beamtenaufgaben nach dem Funktionsvorbehalt des GG, 1986, S. 9, 17 f. 63

Kunig (Fn. 61), Art. 33 Rn. 39; Ossenbühl (Fn. 61), S. 32; Stern , Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, S. 348; Isensee (Fn. 48), § 32 Rn. 50 ff.; Lecheler , in: Isensee / Kirchhof HbBStR (Fn. 27), § 72 Rn. 25; Lübbe-Woljf(Fn. 61), Art. 33 Rn. 53. 64 BVerfGE 7, 155 (163); OVG Münster ZBR 1971, 207 (208); Maunz (Fn. 62), Art. 33 Rn. 39; Stern (Fn. 63), S. 348; Lecheler , HdBStR (Fn. 63), § 72 Rn. 24; Kunig (Fn. 61), Art. 33 Rn. 39; Lübbe-Wolff{Fn. 61), Art. 33 Rn. 56. 65 Kunig (Fn. 61), Art. 33 Rn. 39; vgl. auch BVerfGE 9, 268 (284) „auf Nichtbeamte"; ausdrücklich offengelassen von BVerwGE 49, 137 (141). 66 Waechter (Fn. 57), S. 338.

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Ist damit wegen der Ausgestaltung als „besonderes öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis" allein noch nicht dem Funktionsvorbehalt des Art. 33 IV GG Genüge getan, so kann umgekehrt auch nicht etwa allein deshalb bereits ein Verstoß gegen Art. 33 IV GG angenommen werden, weil dieser neben dem Beamtenverhältnis keine weiteren öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisse zuließe. Art. 33 IV GG begründet keinen derartigen Typenzwang, sondern läßt grundsätzlich auch andere öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse neben dem Beamtenverhältnis zu. 67 2. Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse Wesentliche aber auch bezüglich ihrer Reichweite heftig umstrittene Voraussetzung für das Eingreifen des Funktionsvorbehalts ist die „Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse". Einige wollen darunter - u.a. unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der Norm — nur die obrigkeitliche Tätigkeit des Staates im Sinne von Eingriffen in Freiheit oder Eigentum der Bürger verstehen, mithin die Anwendung des Art. 33 IV GG allein auf den Bereich der (klassischen) Eingriffsverwaltung beschränken. 68 Überwiegend wird das Merkmal „hoheitsrechtliche Befugnisse" dagegen angesichts der Wandlungen in der Struktur und der Funktion der öffentlichen Verwaltung extensiver ausgelegt und auch auf den Bereich der Leistungsverwaltung ausgedehnt. Während nach einer Auffassung 69 jedoch lediglich derjenige Bereich der Leistungsverwaltung mit einzubeziehen ist, der in der Form des öffentlichen Rechts erfolgt, umfaßt der Funktionsvorbehalt des Art. 33 IV GG nach anderer Auffassung 70 auch die Erfüllung öffentlicher Aufgaben mit Mitteln des Privatrechts. Diese Streitfrage kann aber im vorliegenden Zusammenhang auf sich beruhen, da es hier weder um schlichte Hoheitsverwaltung noch den Bereich des Verwaltungsprivatrechts geht. Das polizeiliche Aufgabenfeld der Gefahrenabwehr gehört vielmehr zum Kernbereich der obrigkeitlichen Verwaltung bzw. der klassischen Eingriffsverwaltung, die ihrerseits wieder nach allen Auffassungen unstreitig „Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse" darstellt. 71

67

BVerwGE 49, 137 (142 ff.).

68

LAG Hannover NVwZ-RR 1995, 584 (Leitsatz 3 und 585 f.); Schuppert, in: Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Reihe Alternativkommentare), 2. Aufl. 1989, Art. 33 Abs. 4, 5 Rn. 37; Peine (Fn. 48), S. 433; vgl. auch Lübbe-Wolff{Fn. 61), Art. 33 Rn. 57 ff. 69

Battis, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 1996, Art. 33 Rn. 57; Stern (Fn. 63), S. 349. 70 Lecheler (Fn. 63), § 72 Rn. 37; ders., Beamtenaufgaben (Fn. 62), S. 24 ff; Isensee (Fn. 48), § 32 Rn. 57 f.

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Etwas anderes kann auch nicht für den Bereich der Sicherheitswachten gelten, denen im Verhältnis zu dem Katalog der Eingriffsbefugnisse nach den Landespolizeigesetzen mit dem Anhalte- und Befragungsrecht, dem Recht der Identitätsfeststellung und der Platzverweisung nur die Befugnis zu relativ geringfügigen Grundrechtseingriffen übertragen worden ist. Für die Einordnung als „Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse" kommt es nicht auf die Intensität der zulässigen Eingriffe an.72 Keiner Vertiefung bedarf in diesem Zusammenhang zudem die Streitfrage, ob bei der Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse auf die einem ganzen Verwaltungsbereich obliegende Aufgabe (beispielsweise Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung) oder auf jeden einzelnen Dienstposten abzustellen ist. 73 Denn auch wenn auf die Aufgaben und Befugnisse des einzelnen ehrenamtlichen Polizisten abgestellt wird, handelt es sich um die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse im Sinne des Art. 33 IV GG. Ausgenommen vom Funktionsvorbehalt sollen nämlich auch dann nur Dienstposten sein, deren Aufgaben wirtschaftlich-fiskalischer, technischer oder künstlerischer Natur sind 74 - was hier ersichtlich nicht vorliegt - , oder Aufgaben, die sich lediglich auf untergeordnete Hilfsdienste beschränken 75. Über eine solche reine Hilfstätigkeit soll es jedoch hinausgehen, wenn der Bedienstete selbst entscheidet oder Maßnahmen trifft, sie vorbereitet oder nur mit vorbereiten hilft. 76 Die freiwilligen Polizisten werden aber nicht etwa nur nach individuellem Auftrag und individueller Weisung durch beamtete Polizisten bzw. nur zusammen mit diesen tätig. Sie werden vielmehr anstelle dieser tätig und tun grundsätzlich nichts anderes, als beamtete Polizisten in gleicher Situation auch tun würden. Sie sind berechtigt, selbständig Eingriffsmaßnahmen vorzunehmen und unterliegen dabei dem Opportunitätsprinzip, müssen also selbst Ermessensentscheidungen fällen. Insoweit liegt daher keinesfalls eine nur untergeordnete Hilfstätigkeit vor. 77 71 Vgl. nur Bracher (Fn. 37), S. 68; Ossenbühl (Fn. 61), S. 34; Benndorf,\ Zur Bestimmung der „hoheitsrechtlichen Befugnisse" gemäß Art. 33 Abs. 4 GG, DVB1. 1981, 23 (24); Waechter (Fn. 57), S. 333. 72 Vgl. Ossenbühl (Fn. 61), S. 34 f.; Maunz (Fn. 62), Art. 33 Rn. 33 Fn. 5 a.E.; Badura, Gutachten zur Reichweite des Funktionsvorbehalts nach Art. 33 Abs. 4 GG unter Berücksichtigung aktueller Privatisierungstendenzen sowie der Auswirkung der europäischen Integration und der Entwicklung in den neuen Ländern, 1995, S. 9 f.; vgl. auch BayObLG BayVBl. 1997,412 (413). 73

Vgl. dazu Lecheler (Fn. 63), § 72 Rn. 26; ders., Beamtenaufgaben (Fn. 62), S. 22 f.

74

Lecheler (Fn. 63), § 72 Rn. 27; Kunig (Fn. 61), Art. 33 Rn. 49.

75

Lecheler (Fn. 63), § 72 Rn. 28; Isensee (Fn. 48), § 32 Rn. 56; Kunig (Fn. 61), Art. 33 Rn. 49; Lübbe-Woljf(Fn. 61), Art. 33 Rn. 57. 76 77

Lecheler (Fn. 63), § 72 Rn. 28.

Vgl. BayObLG BayVBl. 1997, 412 (413); NZV 1997, 486; KG NJW 1997, 2894 (2896) für die Parkraumüberwachung.

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3. Ständige Ausübung Handelt es sich danach auch beim Aufgabenbereich ehrenamtlicher Polizeitätigkeit um die „Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse", so greift der Funktionsvorbehalt des Art. 33 IV GG gleichwohl nur dann ein, wenn diese als „ständige Aufgabe" übertragen werden. „Ständigkeit" muß dabei in zweierlei Hinsicht vorliegen: zum einen bezogen auf die Aufgabe an sich und zum anderen auch auf die Übertragung auf den Amtswalter. 78 Es muß sich also einmal um eine dauerhafte, nicht nur vorübergehende Aufgabe handeln. Dieses ist bei den auf die freiwilligen Polizisten übertragenen Gefahrenabwehraufgaben unproblematisch der Fall. Einer näheren Betrachtung bedarf dagegen die zweite Dimension, wonach auch der nur vorübergehende, kurzfristige Einsatz für hoheitsrechtliche Aufgaben vom Funktionsvorbehalt ausgenommen ist. Insoweit muß je nach Ausgestaltung des freiwilligen Polizeidienstes differenziert werden. Soweit dieser (wie nach der gesetzlichen Regelung in Berlin und Baden-Württemberg) nur der vorübergehenden Verstärkung des Polizeipotentials in besonderen Situationen dient, handelt es sich nicht um eine ständige Aufgabe. 79 Art. 33 IV GG verlangt insoweit nicht die Bemessung der Stärke der (verbeamteten) Polizeikräfte am außergewöhnlichen Spitzenbedarf, sondern läßt die kurzzeitige Verstärkung auch durch Nichtbeamte zu. Anders verhält es sich hingegen in Bundesländern, in denen der ehrenamtliche Polizeidienst als fester Bestandteil des Schutzes der öffentlichen Sicherheit und Ordnung etabliert worden ist. Hier erfolgt ein regelmäßiger, grundsätzlich unbefristeter Einsatz, so daß auch insoweit eine Übertragung als ständige Aufgabe vorliegt. Damit ist jedoch noch kein Urteil über die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit einer solchen Übertragung gesprochen. Art. 33 IV GG verlangt den Einsatz von Beamten nämlich nur „in der Regel". 4. Zum Regel-Ausnahme-Verhältnis Entscheidende Bedeutung erlangt somit die Frage, wie der Zusatz „in der Regel" in Art. 33 IV GG auszulegen ist. Die Aussagen der Rechtsprechung und Literatur zu dieser Frage sind zumeist eher spartanisch kurz und lassen nicht selten griffige Abgrenzungskriterien vermissen. Zum Teil findet sich eine rein quantitative Betrachtung des Problems, indem allein auf das Zahlenverhältnis abgestellt wird. 80 So führt das Bundesverfas78 Ossenbühl (Fn. 61), S. 35; Lerche (Fn. 62), S. 50; Maunz (Fn. 62), Art. 33 Rn. 42; Waechter (Fn. 57), S. 330. 79

Vgl. Ossenbühl (Fn. 61), S. 35.

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sungsgericht in seiner Entscheidung zum Bremischen Personalvertretungsgesetz hinsichtlich des Merkmals „in der Regel" lediglich aus: „Es darf sich ... nach Art. 33 Abs. 4 GG nur um Ausnahmefalle handeln. Würde die ständige Ausübung hoheitlicher Befugnisse in größerem Umfang auf Nichtbeamte übertragen, so wäre dies mit dem Grundgesetz nicht vereinbar." 81 Ab wann jedoch ein „größerer Umfang" gegeben sein soll, bleibt unklar. Genannt werden soll hier zudem das OVG Saarlouis 82, welches in einer der wenigen Entscheidungen zum Einsatz von „Hilfspolizeibeamten" - hier mit Blick auf die Überwachung des ruhenden Verkehrs — formuliert: „Der Umfang der damit anderen Personen als Beamten übertragenen hoheitlichen Tätigkeit ist im Verhältnis zur gesamten Tätigkeit der Polizei so geringfügig, daß die ,Regel4 des Art. 33 Abs. 4 GG nicht durchbrochen ist." 83 Ganz überwiegend wird dagegen außer der Wahrung des Regel-AusnahmeVerhältnisses verlangt, daß die Ausnahme von der Regel durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist. 84 Auch das Bundesverfassungsgericht scheint mittlerweile unausgesprochen von der Notwendigkeit einer Rechtfertigung durch einen sachlichen Grund auszugehen, wenn es sich in der MutzenbacherEntscheidung85 der Formulierung bedient, daß bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften „die Beteiligung von Vertretern gesellschaftlicher Gruppen ... unter dem Gesichtspunkt gerechtfertigt (sei), daß Entscheidungen ... möglichst in einer gewissen Staatsferne und aufgrund einer pluralistischen Meinungsbildung ergehen sollen/' Weder allein die Forderung der zahlenmäßigen Wahrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses noch die Forderung eines „sachlichen Grundes" vermögen aber eine nachvollziehbare und überprüfbare Richtschnur für eine Abgrenzung zu bilden. Diese Kriterien werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten. Wie 80

S. außer den genannten Entscheidungen z.B. Stern (Fn. 63), S. 348: „... die Übertragungsbefugnis ist nur quantitativ limitiert". 81

BVerfGE 9, 268 (284).

82

OVGE 10, 298 (306).

83

Vgl. auch BVerwGE 57, 55 (60), das bei der Heranziehung von Zivilingenieuren für die statische Prüfung von Bauanträgen eine „ins Gewicht fallende Gefährdung der in Art. 33 Abs. 4 GG getroffenen Funktionsverteilung" verneint hat; kritisch gegenüber der Forderung eines sachlichen Grundes auch OVG Münster ZBR 1971, 207 (209), und Lübbe-Woljf (Fn. 61), Art. 33 Rn. 62, die für entscheidend erachtet, „wo das Schwergewicht hoheitlicher Tätigkeit liegt". 84

VGH Kassel NVwZ-RR 1989, 563; NVwZ 1986, 668; OVG Münster DÖD 1982, 66 (61); Maunz (Fn. 62), Art. 33 Rn. 42; Battis / Schlenga, Die Verbeamtung der Lehrer, ZBR 1995, 253 (257); Lehnguth (Fn. 62), S. 269; Epping, Das Ausfertigungsverweigerungsrecht im Selbstverständnis des Bundespräsidenten, JZ 1991, 1102 (1104); Isensee (Fn. 48), § 32 Rn. 53; Lerche (Fn. 62), S. 51 ff. 85

BVerfGE 83, 130 (150).

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lange bleibt die Übertragung „Ausnahme"? 86 Ist auf das Zahlenverhältnis der Beamtenschaft zu den Nichtbeamten insgesamt oder nur in dem jeweils in Rede stehenden Sachbereich abzustellen?87 Wie ist dieser zu definieren? Wäre vorliegend der gesamte Bereich der Gefahrenabwehr oder nur der Bereich der Polizei oder nur der Bereich der Kriminalprävention und der Bereich der Bestreifung von Wohnsiedlungen etc. zugrunde zu legen? Welche Anforderungen sind im einzelnen an den sachlichen Grund zu stellen? Soll jeder nicht (offensichtlich) unsachliche Grund ausreichen? Wo läge dann eine über das allgemeine Willkürverbot hinausgehende Bedeutung dieses Kriteriums? 88 Gibt es nicht vielleicht Ausnahmen, die einen größeren Rechtfertigungsbedarf aufweisen als andere? Einige Autoren haben sich angesichts dieser Fragen um eine präzisere Bestimmung der zulässigen Ausnahmen bemüht. Ossenbühl89 geht - insoweit noch mit der überwiegenden Ansicht - davon aus, daß die quantitative Betrachtung des Regel-Ausnahme-Systems um eine qualitative Betrachtung ergänzt werden müsse. Jede Ausnahme von der Regel bedürfe eines hinreichenden legitimierenden Grundes und sei nur dann verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn sie wegen der Atypizität der zu erledigenden Aufgabe, der besonderen Umstände der Aufgabenerfullung oder aus sonstigen Gründen unter Beachtung von Sinn und Zweck des Art. 33 IV GG plausibel gemacht werden könne. Welche Anforderungen dabei an die Strenge und Plausibilität der legitimierenden Gründe zu stellen seien, ließe sich nicht allgemeingültig sagen, vielmehr hänge dieses von der jeweiligen auszugliedernden Verwaltungsmaterie ab. Der Begründungszwang steigere sich aber, je mehr die Verwaltungsagende zum Kernbereich des Funktionsvorbehalts gehöre. Strengste Maßstäbe seien dort anzulegen, wo es darum gehe, Verwaltungsmaterien auf Nicht-Beamte zu übertragen, die zum unverzichtbaren Kernbereich der Staatsgewalt gehörten. Deshalb dürfe eine Ausgliederung im Bereich der Gefahrenabwehr und der inneren Sicherheit als den klassischen Materien des Polizeiwesens nur dann erfolgen, wenn zwingende sachliche Gründe hierfür vorlägen. Zudem habe der Gesetzgeber dabei den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.90

86 Zum Teil wird die Grenze erst bei einem zahlenmäßigen Überwiegen der Nichtbeamten angenommen (vgl. OVG Münster DÖD 1982, 66 [67]; VGH Kassel NVwZ-RR 1989, 563; Isensee [Fn. 48], § 32 Rn. 53), andere hingegen wollen grundsätzlich nur „Einzelfälle" zulassen (vgl. OVG Münster ZBR 1971, 207 (209 f.). 87

Beispielsweise stellt Isensee (Fn. 48), § 32 Rn. 53, auf den Hoheitsbereich insgesamt ab, für die Unterscheidung nach Sachbereichen dagegen etwa Kunig (Fn. 61), Art. 33 Rn. 50. 88

Vgl. dazu auch OVG Münster ZBR 1971, 207 (209).

89

Ossenbühl (Fn. 61), S. 37 ff.

90

Ossenbühl (Fn. 61), S. 43, 51 f.

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Einen im Grunde ähnlichen Ansatz verfolgt auch Bracher 91. Entscheidender Maßstab für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Ausnahme von der Regel des Art. 33 IV GG ist seiner Meinung nach das Verhältnismäßigkeitsprinzip, da Einrichtungsgarantien wie die des Berufsbeamtentums nur unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips eingeschränkt werden dürften. Von Wichtigkeit sei dabei vor allem die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, wonach Mittel und Zweck nicht außer Verhältnis zueinander stehen dürfen. Es müsse für jede Aufgabe gesondert eine Abwägung der Vor- und Nachteile der Übertragung erfolgen, wobei allerdings die Regelaussage des Art. 33 IV GG als Grundentscheidung zugunsten der Beamtenlösung einzubringen sei.92 Ebenfalls vom Wesen des Art. 33 IV GG als institutionelle Garantie geht Waechter 93 bei seinen Überlegungen aus. Er gelangt jedoch unter Bezugnahme auf die historischen Motive zu einer Trennung zwischen einem Kernbereich und einem Randbereich hoheitlichen Handelns. Im Randbereich sei die öffentliche Hand frei in der Wahl des Beschäftigungstypus, eine Entscheidung gegen das Beamtenverhältnis demnach nicht besonders begründungsbedürftig. 94 Im Kernbereich hoheitlicher Tätigkeit, zu dem die typischen Aufgaben im Bereich von Militär, Polizei, Justiz und Finanzverwaltung zu zählen seien, gelte dagegen die Regelfunktionsvermutung für das Beamtenverhältnis, die nur bei Vorliegen gewichtiger Gemeinwohlgründe eine Ausnahme zulasse. Der Gesetzgeber verfüge jedoch bei der Zuordnung einer Aufgabe zum Rand- oder Kernbereich über einen Beurteilungsspielraum. 95 Badura 96 ist demgegenüber der Ansicht, daß sich grundsätzlich keine nachprüfbaren Kriterien im Sinne subsumtionsgeeigneter Fallgruppen oder Tatbestände für die Abgrenzung finden ließen. Art. 33 IV GG schreibe ein RegelAusnahme-Verhältnis zugunsten der Beamten vor und mache damit Ausnahmen von einem hinreichend gewichtigen sachlichen Grund abhängig. Wann jedoch solche Gründe vorliegen, ließe sich nicht durch ein festes Schema bemessen. Allerdings könnten Ausnahmen nur für Einzelfälle und besonders geartete Amtsaufgaben, aber nicht für eine öffentliche Aufgabe oder einen Dienstzweig insgesamt in Anspruch genommen werden.

91

Bracher (Fn. 37), S. 69 ff.

92

Bracher (Fn. 37), S. 76.

93

Waechter (Fn. 57), S. 330 ff.

94

Vgl. i.E. auch den Beschluß des KG vom 31.7.1980 - 3 Ws (B) 214/80 - : Art. 33 IV GG sei nicht verletzt, soweit der Kern des Aufgabenbereichs von Beamten ausgeübt werde. Die Überwachung des ruhenden Verkehrs sei jedoch nur ein Randbereich des verkehrspolizeilichen Aufgabengebietes. 95

Waechter (Fn. 57), S. 336.

96

Badura (Fn. 72), S. 14 f.

9 GS Jeand' Heur

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Welche dieser Interpretationen des Art. 33 IV GG ist aber nun der Vorzug zu geben? Untersucht man diese Frage anhand der anerkannten Auslegungskriterien, so erweisen sich auch diese als wenig ergiebig. Dem Wortlaut des Art. 33 IV GG läßt sich zunächst nur entnehmen, daß auch bei der ständigen Wahrnehmung hoheitsrechtlicher Befugnisse keine generelle Verbeamtungspflicht besteht, Durchbrechungen also zulässig sind, aber nicht selbst zur Regel werden dürfen. Ausgangspunkt des Versuchs einer teleologischen Interpretation ist das Ziel des Funktionsvorbehalts, eine gesetzmäßige, effektive und auch in Krisenzeiten gesicherte Wahrnehmung der Hoheitsaufgaben des Staates zu sichern, 97 indem Art. 33 IV GG im Regelfall die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse auf Angehörige der Berufsbeamtenschaft überträgt, die ihrerseits aufgrund ihres Sachwissens, ihrer fachlichen Leistung und loyalen Pflichterfüllung besonders geeignet ist, eine stabile und gesetzmäßige Verwaltung zu gewährleisten 98. Ausnahmen könnten daher unter diesem Gesichtspunkt dann unschädlich sein, wenn es dieser Qualitäten ausnahmsweise nicht oder nur in geringerem Maße bedürfte. Dieses könnte man hier zumindest hinsichtlich des Fachwissens überlegen, soweit den ehrenamtlichen Polizisten nur wenige, eng umgrenzte Eingriffsbefugnisse übertragen worden sind, 99 andererseits handelt es sich aber gerade bei der Befugnis zur Erteilung von Platzverweisen um einen nicht immer ganz einfach zu handhabenden Tatbestand. Eine Auswertung der historischen Motive ergibt, daß der Verfassungsgeber dem einfachen Gesetzgeber durchaus eine gewisse Flexibilität bei der Handhabung des Funktionsvorbehalts des Art. 33 IV GG ermöglichen wollte. 100 Der Entwurf dieser Vorschrift enthielt zunächst anstelle der Einschränkung „in der Regel" den Begriff „grundsätzlich". Diese Formulierung erschien einigen Abgeordneten jedoch zu starr. Mit der von ihnen vorgeschlagenen Formulierung „in der Regel" wollten sie einen gewissen Spielraum schaffen 101 und die Möglich97

Vgl. OVG Münster ZBR 1971, 207 (208); Kunig (Fn. 61), Art. 33 Rn. 40; Battis/ Schlenga (Fn. 84), S. 254; Ossenbühl (Fn. 61), S. 48 f. Mehr die Qualität und Gesetzmäßigkeit betonen Isensee (Fn. 48), § 32 Rn. 51, und Benndorf (Fn. 71), S. 26, während Stern (Fn. 63), S. 350; Schuppert (Fn. 68), Art. 33 Rn. 33, und Peine (Fn. 48), S. 423 f., mehr Gewicht auf die gesicherte Aufgabenwahrnehmung legen. 98

Vgl. BVerfGE 7, 155 (162 f.).

99

Vgl. OVG Saarlouis OVGE 10, 298 (309): „Diese umfassenden Kenntnisse sind nicht erforderlich, wenn dem Hilfspolizeibeamten ein eng begrenztes und nur wenige einfache Tatbestände umfassendes Zuständigkeitsgebiet zugewiesen ... wird." 100

Lehnguth (Fn. 62), S. 269; vgl. zur Entstehungsgeschichte auch OVG Münster ZBR 1971, 207 (208 f.); Ossenbühl (Fn. 61), S. 38 f.; Waechter (Fn. 57), S. 334 ff.; s. schließlich die Dokumente bei Schneider (Hrsg.), Das Grundgesetz. Dokumentation seiner Entstehung, Bd. 10, 1996, S. 389 ff. 101 So der Abg. Wagner, vgl. den Auszug aus dem Protokoll der 13. Sitzung des Zuständigkeitsausschusses bei Schneider (Fn. 100), S. 422.

Grenzen der Übertragung von Befugnissen auf ehrenamtliche Polizisten

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keit offenlassen, dauernde Aufgaben in Ausübung öffentlicher Gewalt auch einem Angestellten zu übertragen 102. Diese Formulierung hat dann nach weiteren Beratungen schließlich auch Eingang in den verabschiedeten Verfassungstext gefunden. Ob die Formulierung „in der Regel" allerdings objektiv einen größeren Spielraum gestattet als „grundsätzlich", kann mit Recht bezweifelt werden. 103 Festgehalten werden kann aber dennoch, daß der Verfassungsgeber dem Gesetzgeber jedenfalls einen gewissen Spielraum schaffen wollte. Wenn der Zusatz „in der Regel" damit bisher nur vage und teilweise auch nicht unerheblich divergierende Konturen erhalten hat, so vermag er gleichwohl für unsere Thematik eine hinreichend klare Antwort zu geben, auch wenn er im übrigen nach wie vor erhebliche Unsicherheiten enthält, die vorliegend jedoch auf sich beruhen können. Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen soll die Frage sein, welche Gründe überhaupt für einen Einsatz (nichtbeamteter) freiwilliger Polizisten sprechen. Ein mögliches Argument könnte zunächst die Kostenentlastung des Staates sein. Die ehrenamtlichen Polizisten erhalten lediglich eine pauschalierte Aufwandsentschädigung von ca. 10,- bis 15,- D M je Dienststunde, während die Kosten für die Aufstockung des hauptamtlichen Polizeiapparates um ein Vielfaches darüber liegen würden. Diese Kostenentlastung stellt jedoch im Kontext des Art. 33 IV GG keinen legitimen sachlichen Grund dar, da insoweit ein spezifischer Sachzusammenhang mit der Ratio des Funktionsvorbehalts fehlt und letzterer damit quasi zur Disposition des einfachen Gesetzgebers gestellt würde, da sich dieses Argument stets anfuhren ließe. Allein fiskalische Gründe vermögen eine Ausnahme vom Funktionsvorbehalt des Art. 33 IV GG nicht zu rechtfertigen. 104 Als Grund für die Notwendigkeit gerade eines ehrenamtlichen Polizeidienstes wird weiterhin die stärkere Einbindung des Bürgers in die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung genannt. Die Einrichtung eines ehrenamtlichen Polizeidienstes solle die Mitverantwortung der Bürger fur ihre eigene Sicherheit unterstreichen, die Freiwilligen sollen als Bindeglied zwischen den Bürgern und der Polizei wirken, und man wolle sich die persönliche Eignung und berufliche Qualifikation der Ehrenamtlichen zunutze machen.105 102

So der Abg. Dr. Hoch, vgl. den Auszug aus dem Protokoll der 13. Sitzung des Zuständigkeitsausschusses bei Schneider (Fn. 100), S. 428. 103 Vgl. OVG Münster ZBR 1971, 207 (209); so auch bereits der Abg. Dr. Hoch, vgl. den Auszug aus dem Protokoll der 13. Sitzung des Zuständigkeitsausschusses bei Schneider (Fn. 100), S. 427; a.A. Badura (Fn. 72), S. 14. 104 105

Kunig (Fn. 61), Art. 33 Rn. 50; Waechter (Fn. 57), S. 331; Ossenbühl (Fn. 61), S. 50.

Vgl. die Begründung im Gesetzentwurf der Bayerischen Staatsregierung für ein Gesetz über die Erprobung einer Sicherheitswacht und die Pressemitteilung des Innenministeriums

132

Torsten Keim

Eine Einbindung einer (größeren) Zahl von Bürgern in den Polizeidienst läßt sich in der Tat auch schon begriffsnotwendig nur auf einem Wege erreichen, der diese nicht selbst zu Berufsbeamten macht. Allerdings könnten Zweifel aufkommen, ob sich ein stärkeres Engagement der Bürger für ihre Sicherheit nur auf diese Weise erreichen läßt, und vor allem, ob dazu unbedingt auch die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse erforderlich ist und nicht z.B. allein eine Streifentätigkeit ohne weitere Eingriffsbefugnisse ausreichen würde. Für diese vorgelagerten, gleichsam im Motivbereich angesiedelten Fragen muß dem Gesetzgeber aber ein gewisser Einschätzungsspielraum verbleiben. Jedenfalls für die vorliegenden Fälle bestehen keine Anhaltspunkte, daß der Gesetzgeber diesen Spielraum etwa überschritten hätte. Damit dürften alle zuvor vorgestellten Ansichten hier letztlich zu gleichen Ergebnissen gelangen. In Anbetracht der übertragenen Aufgaben und Befugnisse handelt es sich hier nur um einen Randbereich hoheitlichen Handelns, jedenfalls wäre eine solche Zuordnung durch den Gesetzgeber nicht zu beanstanden. 106 Auch eine Abwägung der Vor- und Nachteile der Übertragung unter Berücksichtigung der Regelaussage des Art. 33 IV GG ergibt, daß hier angesichts der doch eher weniger gewichtigen Befugnisse die eingesetzten Mittel nicht außer Verhältnis zum vom Gesetzgeber verfolgten Zweck des eigenen (Mit-) Engagements der Bürger für die innere Sicherheit stehen. 5. Ergebnis und Konsequenzen Die Übertragung der hier in Rede stehenden Befugnisse auf freiwillige Polizisten begegnet damit im Ergebnis als solche keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Dieses Ergebnis dürfte wohl auch der (mir gegenüber leider nicht mehr geäußerten) Auffassung Jeand'Heurs nicht gänzlich zuwiderlaufen, der an anderer Stelle 107 erwogen hat, sogar privaten Sicherheitsdiensten bei einer Gefahr für das zu bewachende Objekt bzw. die zu schützenden Personen vergleichbare Rechte einzuräumen. Gleichwohl verbleibt ein gewisses Unwohlsein bei dem Gedanken, daß Personen ohne die erforderliche charakterliche Eignung und ohne ausreichende Kenntnisse Eingang in den freiwilligen Polizeidienst finden und im Namen des Staates Gewalt ausüben könnten. Werden Eingriffsbefugnisse nicht durch einen besonders qualifizierten und in einem besonderen Treueverhältnis zum Staat Baden-Württemberg vom 28.8.1998 zur Kommunalen Kriminalprävention als neues Aufgabenfeld des Freiwilligen Polizeidienstes. Ähnliche Motive wurden auch in MecklenburgVorpommern genannt, vgl. FAZ vom 6.11.1996, S. 6: „Bürger sollen Bürger schützen". 106

Vgl. Waechter (Fn. 57), S. 336; vgl. auch die Zuordnung durch das KG, Beschluß vom 31.7.1980-3 Ws (B) 214/80. 107

Jeand'Heur

(Fn. 37), S. 134.

Grenzen der Übertragung von Befugnissen auf ehrenamtliche Polizisten

133

stehenden Berufsbeamten, sondern durch Bürger auf freiwilliger Basis erfüllt, besteht in weit größerem Maße die Gefahr, daß sich „Draufgängertypen" um diesen Dienst bewerben und ihn zum Ausspionieren ihrer Mitbürger und zu unberechtigten Übergriffen nutzen. Mit der Feststellung, daß die Befugnisübertragung als solche verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, ist allerdings noch nicht gesagt, daß den Staat im Falle der Übertragung keine weiteren verfassungsrechtlichen Pflichten treffen. Der Staat ist vielmehr verpflichtet, diese Gefahren möglichst zu kompensieren. Weicht der Staat insoweit von der Regel des Art. 33 IV GG ab, so trifft ihn die Pflicht zu einer besonders intensiven Überwachung des Personals. Diese Erkenntnis, die im Bereich der Einschaltung von Privaten im Wege der Beleihung zunehmend Beachtung findet 108, muß in entsprechender Weise auch für den hier vorliegenden Fall Geltung beanspruchen. Das Bundesverfassungsgericht hat in dem bereits an anderer Stelle angesprochenen Beschluß zur Notarstellenbegrenzung 109 die fortbestehende Verantwortung des Staates für die ordnungsgemäße Aufgabenerfüllung im Falle der Aufgabenübertragung betont und weiter ausgeführt: „Würden staatliche Behörden tätig, so läge in der Wahrnehmung der Aufgaben durch eine begrenzte Zahl hauptamtlich tätiger und für diese Arbeit speziell vorgebildeter Beamter bereits eine beachtliche Garantie für die Qualität der Arbeit, sie darf durch die Übertragung auf einen Beruf außerhalb des öffentliches Dienstes nach Möglichkeit nicht geschmälert werden." Dieses muß in gleicher Weise auch für den hier in Rede stehenden Fall gelten. Der Staat muß daher zum einen für die rechtlichen Grundlagen einer ausreichenden Überwachung sorgen und zum anderen seiner Überwachungspflicht auch wirksam nachkommen. Die gesetzlichen Voraussetzungen sind regelmäßig geschaffen worden, indem die Tätigkeit der ehrenamtlichen Polizisten den Weisungen der Polizeibehörde unterworfen wird. Eine effektive Überwachung kann sich jedoch nicht allein auf die Erteilung konkreter Weisungen beschränken, sondern muß bereits bei einer sorgfältigen Personalauswahl beginnen und über eine ausreichende Schulung bis hin zu einer hinreichenden Kontrolle im Dienstbetrieb reichen. Insoweit kann die Einschätzung des Bayerischen Senats110 nur unterstrichen werden, der in bezug auf die Bayerische Sicherheitswacht zu bedenken gab, daß der Erfolg und die Effektivität dieser Einrichtung ganz entscheidend von der richtigen Auswahl und der ausreichenden Ausbildung des Personals (und man möchte ergänzen: einer hohen Kontrolldichte bei der Wahrnehmung des Dienstes) abhänge und diesen Voraussetzungen besonderes Augenmerk zu schenken sei. 108 Vgl. Pabst/Schwartmann, Privatisierte Verwaltung und staatliche Aufsicht, DÖV 1998, 315 ff.; Scholz, Privatisierung (Fn. 25), S. 46 ff.; vgl. allg. zur Staatsaufsicht auch Schuppert, Staatsaufsicht im Wandel, DÖV 1998, 831 ff. 109

BVerfGE 17, 371 (379).

110

Senats-Drucksache 259/93, S. 6.

Bundesverfassungsgericht und Fachgerichte Eine Funktionsbestimmung auf begründungstheoretischer Basis Von Hans-Joachim Koch

Seit Bernd Jeand'Heur im Juni 1991 hier in Hamburg dem versammelten öffentlich-rechtlichen Sachverstand sein Habilitationsprojekt vorgestellt hat, ist unser Zwiegespräch vornehmlich über methodische und später auch didaktische Fragen lange Zeit nicht abgerissen. Beide Dimensionen, die methodische und die didaktische, sollen im folgenden eine besondere Rolle spielen. I. Das Problem Mit der Normierung der Verfassungsbeschwerde (§§ 90 ff. BVerfGG, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) ist das Bundesverfassungsgericht in den Dienst individuellen Rechtsschutzes gestellt worden. Da die Grundrechtsträger zunächst Rechtsschutz bei den Fachgerichten suchen müssen (Rechtswegerschöpfüng gem. Art. 90 Abs. 2 BVerfGG), wird das Bundesverfassungsgericht in der Regel nicht mit Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze oder Verwaltungsakte, sondern gegen Gerichtsentscheidungen befaßt. Damit ist bekanntlich ein schwer lösbarer Kompetenzkonflikt normiert. 1 Dem Bundesverfassungsgericht ist eine „Gratwanderung" aufgegeben, wobei noch nicht einmal der Grat bekannt ist. Klar ist nur soviel: Das Bundesverfassungsgericht soll (und will) weder SuperRevisionsinstanz noch Super-Berufungsinstanz sein und sich insofern gegenüber den fachgerichtlichen Entscheidungen zurückhalten. Es soll allerdings auch konsequent Grundrechtsschutz gewähren, womit - jedenfalls auf den ersten Blick - wohl jedes fehlerhafte Urteil, das eine Grundrechtsbeeinträchtigung darstellt, aufzuheben sein dürfte, da es den Grundrechtsträger zu Unrecht belastet. Dieses insofern sehr weitreichende Regime der Grundrechte läßt sich auf begründungstheoretischer Basis näher darlegen:

1 Zum Problem aus jüngerer Zeit s. u.a.: Berkemann, Das Bundesverfassungsgericht und „seine" Fachgerichtsbarkeiten, DVB1. 1996, 1028; SeidU Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichte, in: 61. DJT, 1996, Bd. I I / l , S. O 9; Starck, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichte, JZ 1996, 1033; Robbers, Für ein neues Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, NJW 1998, 935.

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Hans-Joachim Koch

Nach Art. 1 Abs. 3 GG sind auch die Gerichte unmittelbar an die Grundrechte gebunden. Die Grundrechte stehen mithin nicht unter Gerichts-, sondern allenfalls unter Gesetzesvorbehalt. Daher muß jede Schutzbereichsbeeinträchtigung durch eine Gerichtsentscheidung durch oder aufgrund Gesetzes gerechtfertigt sein. „Gerechtfertigt sein" heißt dabei nicht einfach, daß sich die Entscheidung „aus" dem Gesetz eventuell in Verbindung mit untergesetzlichen Rechtssätzen begründen lassen müsse. Es gehört zum gesicherten Bestand der juristischen Begründungslehre, daß die Begründungen von Gerichtsentscheidungen neben gesetzlichen oder untergesetzlichen Normen weitere Prämissen erfordern. Zu diesen weiteren Prämissen rechnen jedenfalls solche Sätze, die den Sachverhalt feststellen, und solche, die Interpretationen der verwendeten gesetzlichen Normen beinhalten.2 Nimmt man diese unverzichtbaren Prämissenarten hinzu, so ist eine gerichtliche Entscheidung genau dann durch das Gesetz gerechtfertigt, wenn neben den gesetzlichen Normen Interpretationen dieser Normen verwendet werden, die dem Gebot richterlicher Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) genügen, und wenn die sachverhaltsfeststellenden Prämissen wahr sind. Auch diese zuletzt genannte Forderung entspringt dem Gebot der Gesetzesbindung. Wäre die Sachverhaltsfeststellung nämlich falsch und würde somit irrig von der Erfüllung des gesetzlichen Tatbestandes ausgegangen, so würde eine Rechtsfolge bestimmt, die für den tatsächlich vorliegenden Sachverhalt gar nicht vorgesehen ist. Danach lassen sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine zulässige gerichtliche Grundrechtsbeeinträchtigung vorläufig folgendermaßen beschreiben: (1) Die entscheidungstragenden gesetzlichen und untergesetzlichen Rechtssätze müssen formell verfassungsmäßig sein. (2) Diese Rechtssätze müssen in der vom Gericht gewählten Interpretation materiell verfassungsgemäß sein, insbesondere also eine verhältnismäßige Grundrechtsbeeinträchtigung darstellen. (3) Die vom Gericht gewählten Interpretationen der entscheidungstragenden Rechtssätze müssen sich im Rahmen der verfassungsrechtlich vorgegebenen richterlichen Bindung an „Gesetz und Recht" halten. (4) Die Tatsachenfeststellungen müssen zutreffend sein. Ist auch nur eine dieser Bedingungen nicht erfüllt, so liegt für den Fall, daß die Entscheidung eine Grundrechtsbeeinträchtigung darstellt, auch eine Grundrechtsverletzung vor. Mit Recht hat daher Fritz Ossenbühl vor mehr als 2

S. näher Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, § 4; Koch, Deduktive Entscheidungsbegründung, in: Behrends u.a. (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft. Symposium zum 80. Geburtstag von Franz Wieacker, 1990, S. 69 ff.

Bundesverfassungsgericht und Fachgerichte

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20 Jahren vermutet: „Denn letztlich dürfte — entgegen anders lautenden Stimmen in Rechtsprechung und Schrifttum ... - jedes rechtswidrige Fachurteil auch ein grundrechtswidriges Urteil... und eine Grundrechtsverletzung im Einzelfall bedeuten."3 Etwas präzisierungsbedürftig erscheint die hinzugefügte Begründungsidee, wonach ein „rechtswidriges, aber grundrechtlich indolentes Urteil ... angesichts eines lückenlosen Grundrechtsschutzes aus Gründen der Logik schwer vorstellbar" erscheine. Entscheidend dafür, daß sich Begründungsfehler auch hinsichtlich der Norminterpretationen und der Tatsachenfeststellungen als grundrechtsrelevant erweisen, ist die verfassungsrechtliche Bindung der Gerichte an das Gesetz. Allerdings kann man diese Gesetzesbindung auch als in den grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten selbst verankert sehen, insofern danach Grundrechtsbeeinträchtigungen eben nur durch bzw. aufgrund Gesetzes und damit nicht aus eigener richterlicher Kompetenz zulässig sind. Somit liegt das umfassende verfassungsrechtliche Anforderungsprofil an gerichtliche Entscheidungen durchaus in der spezifischen Ausprägung des Grundrechtsgewährleistungen selbst begründet. Das umfassende verfassungsrechtliche Anforderungsbündel der Bedingungen (1) bis (4) ist für den Kompetenzkonflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten verantwortlich. Mit Blick auf die Anforderungen (3) und (4) steht das Bundesverfassungsgericht in Gefahr, das zu sein, was es nach eigener und allgemeiner Ansicht möglichst nicht sein soll: Superberufüngs- und Superrevisionsinstanz. Damit ist die - gern als „funktionell-rechtlich" bezeichnete — Frage gestellt, wie eine Kompetenzabgrenzung gelingen kann, die den begründungstheoretisch ausgewiesenen, umfassenden verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab für gerichtliche Entscheidungen sachgerecht einschränkt. II. Kriterien einer Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Prüfkompetenz Die Debatte um die angemessenen verfassungsrechtlichen Maßstäbe zur Kontrolle der fachrichterlichen Judikatur wird seit langem mit wechselnder Heftigkeit geführt und scheint nunmehr in Resignation zu münden. Jedenfalls ist kürzlich Robbers hinsichtlich der „herkömmlichen Abgrenzungsformeln" zu der knappen Einsicht gelangt: „Man sollte sie vermeiden." 4 Unter Anknüpfung an Seidel sieht Robbers eine Problemlösung darin, die Beziehung zwischen Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten als „Kooperationsverhältnis" zu verstehen.5 Das atmet den Geist der Maastricht-Entscheidung und klingt auch 3 Ossenbühl, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit (1977), in: ders., Freiheit, Verantwortung, Kompetenz, 1994, S. 201 (208). 4

Robbers (Fn. 1), S. 936 Ii. Sp.

5

Robbers (Fn. 1), S. 938.

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sonst gut, bedeutet jedoch die Verdrängung konstruktiver juristischer Dogmatik durch modische politische (Leer-)Formeln. Dem ist somit nicht zu folgen. Es besteht auch kein Anlaß, auf eine rechtswissenschaftliche Klärung zu verzichten. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat längst zu einer hinreichend (nicht: absolut) klaren Linie gefunden, die möglicherweise durch das Mitschleppen alter Formeln ein wenig verdeckt wird. Dazu mag auch das politische Getöse um einzelne Entscheidungen beigetragen haben, in dem leider erstaunlich viele professionelle Betrachter (Augen-)Maß und dann natürlich auch Orientierung verloren haben. Nachfolgend werden kurz die beiden bekanntesten Kompetenz-Kriterien vorgestellt und sodann markante Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auf ihre expliziten und impliziten Kontrollmaßstäbe hin befragt. 1. Heck'sche Formel und Schumann-Kriterium Das Bundesverfassungsgericht ist frühzeitig auf die Kompetenzfrage gestoßen und hat mit der viel diskutierten Heck'schen Formel 6 seine intendierte Kontrollzurückhaltung umschrieben: „Die Gestaltung des Verfahrens, die Festellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafiir allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen; nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das Bundesverfassungsgericht auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen ..." 7 . Spezifisches Verfassungsrecht - so heißt es weiter - sei nur verletzt, wenn der Fehler gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liege.

So klar die Heck'sche Formel hinsichtlich derjenigen Aufgaben ist, die das Bundesverfassungsgericht seinerzeit nicht wahrnehmen wollte, so wenig aussagekräftig ist andererseits die Bezeichnung des tatsächlich anzulegenden Maßstabes mit dem Begriff des „spezifischen Verfassungsrechts". Dieser Begriff hat vielfältige Vertiefung gefunden. 8 Erst kürzlich hat der Vizepräsident a.D. des Bundesverfassungsgerichts, Otto Seidl, die nach wie vor bestehenden begrifflichen Unklarheiten hervorgehoben und immerhin klargestellt, daß „offensichtlich nicht ein spezifisches Verfassungsrecht, sondern ein spezifischer, besonders dichter Bezug des verletzenden Akts zum Verfassungsrecht gemeint sei". 9 6

Mit dieser üblichen Bezeichnung wird dem seinerzeitigen Berichterstatter dauerhafte Anerkennung zuteil. 7

BVerfGE 18, 85 (92).

8

S. nur Papier, „Spezifisches Verfassungsrecht" und „Einfaches Recht" als Argumentationsformel des BVerfG, in: BVerfG und Grundgesetz, Bd. I, 1976, S. 432; Steinwedel, „Spezifisches Verfassungsrecht" und „Einfaches Recht", 1976. 9

Seidel (Fn. 1), S. O 15.

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Vergleicht man die Negativliste der nicht zu prüfenden Fragen, so zielt die Heck'sche Formel erkennbar darauf ab, die Anforderungen (3) und (4) - also Rechtsfindungsmethode und Tatsachenfeststellung - nicht zu prüfen. Nimmt man die verbleibenden Maßstäbe (1) und (2) zusammen, so wird die Verfassungsbeschwerde gegen eine Gerichtsentscheidung der Sache nach auf eine spezifische Form einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde reduziert: Gefragt wird nur noch, ob der entscheidungstragende Rechtssatz in der inhaltlichen Deutung, die ihm das Fachgericht gegeben hat, mit den Grundrechten vereinbar ist. Offen bleiben dabei die Fragen, ob das geltende Recht einen Rechtssatz diesen Inhalts überhaupt kennt oder das Fachgericht diesen Norminhalt möglicherweise unter Überschreitung seiner Kompetenz kreiert hat, sowie die Frage nach einer zutreffenden Sachverhaltsermittlung durch das Fachgericht. Ein ebensolches Kontrollprogramm hat etwa zur Zeit der Entstehung der Heck'sehen Formel Ekkehard Schumann entwickelt: Die von ihm sogenannte Interpretationsverfassungsbeschwerde gegen eine Gerichtsentscheidung, mit der die fehlerhafte fachrichterliche Auslegung einer gültigen Norm gerügt werde, sei nur erfolgreich, „wenn die in der angefochtenen Entscheidung vertretene Rechtsauffassung — als Gesetz gedacht - gegen das Grundgesetz verstößt". 10 Hätte der einfache Gesetzgeber dagegen die entscheidungstragende Norm in der Deutung des Fachgerichts selbst durchaus als Rechtssatz ohne Grundrechtsverstoß erlassen können, so sei die weitergehende Frage nach einer fehlerhaften Rechtsfindungsmethode des Fachgerichts für die verfassungsgerichtliche Kontrolle irrelevant. Das Bundesverfassungsgericht hat das von der Heck'sehen Formel und dem Schumann-Kriterium bestimmte restriktive Kontrollprogramm relativ rasch und durchaus auch explizit aufgegeben. Herausgefordert von kühnen richterlichen Rechtsfortbildungen hat das Bundesverfassungsgericht die Frage danach, ob der entscheidungstragende und als solcher verfassungsmäßige Rechtssatz im Wege zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung gebildet worden sei, zu einem zweiten Standardprüfschritt entwickelt: 2. Die Rechtsfindungsmethode des Fachgerichts als Kontrollgegenstand im Verfassungsbeschwerdeverfahren Nachfolgend sollen einige, zum Teil bereits viel diskutierte Entscheidungen in einen Zusammenhang gerückt werden, in dem sie in der Regel nicht gesehen werden, nämlich als Entscheidungssequenz zur Etablierung einer begrenzten Kontrolle der fachrichterlichen Rechtsfindungsmethode:

10 Schumann, Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde gegen richterliche Entscheidungen, 1963, S. 334, näher S. 206 ff.

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a) Die Soraya-Entscheidung hat die Wende zur Kontrolle auch der Rechtsfindungsmethode gebracht, obwohl eine klare contra-legem-Entscheidung des BGH über die Zuerkennung von Schmerzensgeld bei einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vom Bundesverfassungsgericht im Ergebnis „gehalten" worden ist. 11 Im Anschluß an den Hinweis der Beschwerdeführerin auf den contra-legem-Charakter der BGH-Entscheidung bemerkt das Bundesverfassungsgericht: „Der Richter kann die Wertvorstellungen des Grundgesetzes nicht in beliebiger Weise in seinen Entscheidungen zur Geltung bringen. Er würde die Verfassung auch verletzen, wenn er zu einem Ergebnis, das den Wertvorstellungen der Verfassung entspräche, auf einem methodischen Wege gelangte, der die dem Richter bei der Rechtsfindung gezogenen verfassungsrechtlichen Grenzen mißachtete. Auch eine so getroffene Entscheidung müßte vom Bundesverfassungsgericht beanstandet werden."12

Wenig später präzisiert das Bundesverfassungsgericht das doppelte Prüfprogramm: „Dabei stellen sich die Fragen: einmal, ob das materielle Ergebnis der Entscheidungen bereits als solches das Grundrecht der Pressefreiheit verletzt, und weiter, ob es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, dieses Ergebnis trotz Fehlens einer eindeutigen Grundlage im geschriebenen Recht durch richterliche Entscheidungen herbeizuführen." 13

Nachdem der vom BGH entwickelte Rechtssatz schließlich als materiellverfassungskonform bezeichnet wird, geht es sodann um die Rechtsfindungsmethode. Das Bundesverfassungsgericht betont dabei zunächst, daß der Fachrichter nicht darauf verwiesen sei, sich in den „Grenzen des möglichen Wortsinnes" zu bewegen, daß ihm vielmehr die Befugnis zu „schöpferischer Rechtsfindung" und insbesondere zur Lückenfiüllung nach den „Maßstäben der praktischen Vernunft" verfassungsrechtlich eingeräumt sei.14 Zusammenfassend heißt es zur Rechtsfindungsmethode sodann: „Ein Ergebnis aber, das auf einem zivilrechtlich zumindest diskutablen, jedenfalls den Regeln zivilrechtlicher Hermeneutik nicht offensichtlich widersprechenden Wege gewonnen wurde, kann von der Verfassung her nicht beanstandet werden, wenn es gerade der Durchsetzung und dem wirksamen Schutz eines Rechtsgutes dient, daß diese Verfassung selbst als Mittelpunkt ihres Wertsystems ansieht. Dieses Ergebnis ist ,Recht4 im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG - nicht im Gegensatz, sondern als Ergänzung und Weiterführung des geschriebenen Gesetzes."15

" BVerfGE 34, 269 ff. 12

BVerfGE 34, 269 (280).

13

BVerfGE 34, 269 (285).

14

BVerfGE 34, 269 (287).

15

BVerfGE 34, 269 (291).

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Damit hat das Bundesverfassungsgericht „kontrollmethodisch" gesehen mit der Soraya-Entscheidung die verfassungsrechtlichen Grenzen fachrichterlicher Rechtsfindung als Prüfaufgabe erkannt. Dabei ist zugleich klargestellt worden, daß das Bundesverfassungsgericht nicht etwa die jeweilige fachrichterliche Gesetzesauslegung in allen einzelnen methodischen Schritten nachvollziehen und überprüfen will. Das Bundesverfassungsgericht beansprucht gleichsam eine Art „Grundsatzkontrolle" dahin, ob die Gerichte ihre Stellung zum Gesetz zutreffend beachten. Die Handhabung einer solchen von Zurückhaltung geprägten Grundsatzkontrolle steht stets in Gefahr, zu streng oder zu großzügig zu geraten. Letzteres ist hier der Fall. Mit der Soraya-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die fachrichterliche Kompetenz zur Rechtsfortbildung im Ergebnis verkannt. Die contra-legem-Entscheidung des Bundesgerichtshof ist wegen Verstoßes gegen die richterliche Gesetzesbindung verfassungswidrig und war daher aufzuheben. 16 b) So großzügig in der Anerkennung richterlicher Rechtschöpfung wie in der Soraya-Entscheidung ist das Bundesverfassungsgericht wohl nie wieder gewesen. Im Unterschied zum Ersten Senat, der den Soraya-Beschluß gefaßt hat, zieht der Zweite Senat in seinem Schily-Beschluß vom gleichen Tage die Grenzen richterlicher Rechtsfindung wesentlich enger. Während der BGH den Ausschluß des Wahlverteidigers Schily im Ensslin-Prozeß mit dem Sinn und Zweck einer Reihe von Bestimmungen der BRAO und der Strafprozeßordnung begründet hat, die ein Leitbild des Verteidigers ergäben, demzufolge ein teilnahmeverdächtiger Mitbeschuldigter nicht zugleich Verteidiger der möglichen „Komplizen" sein könne, ist das Bundesverfassungsgericht der Zulässigkeit einer solchen Analogie streng entgegengetreten: „Ein so schwerer und für das Verfahren endgültiger Eingriff in die Verteidigerstellung bedarf von Verfassungs wegen einer Begründung, die ihre Rechtfertigung unzweideutig, verläßlich und sicher in dem erklärten, objektivierten Willen des Gesetzgebers findet." 17

Mit dieser Entscheidung werden der grundrechtliche Vorbehalt des Gesetzes und die korrespondierende Bindung der Richter an Gesetz und Recht im Sinne eines Analogieverbots für Grundrechtseingriffe verstanden. c) Ähnlich wird man die Weigand-Entscheidung einzuordnen haben. Zwar betrifft die aufgehobene BGH-Entscheidung einen zivilrechtlichen Konflikt, nämlich die Haftung eines Sachverständigen gegenüber einem durch das fahrlässige Falschgutachten Geschädigten. Aber das zivilrechtliche Deliktsrecht stellt — wie auch sonst erhebliche Teile des Zivilrechts - „Grundrechtskolli16 In diesem Sinne schon Koch/Rüßmann (Fn. 2), S. 254 ff.; späte Anerkennung unserer seinerzeitigen Kritik jetzt bei Diederichsen , Das Bundesverfassungsgericht als oberstes Zivilgericht-ein Lehrstück der juristischen Methodenlehre, AcP 1998, 171 (193 ff.). 17

BVerfGE 34, 293 (302).

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sionsrecht" in dem Sinne dar, daß jede staatliche Entlastung des einen Grundrechtsträgers zugleich die Belastung eines anderen und damit einen Grundrechtseingriff mit sich bringt. Das hat das Bundesverfassungsgericht insofern erkannt, als es hervorgehoben hat, daß die vom BGH vorgenommene Beschränkung der deliktischen Sachverständigenhaftung auf Fälle grober Fahrlässigkeit die Rechtstellung des Geschädigten verschlechtere und damit sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG beeinträchtige. Eine solche Verschlechterung der Grundrechtsposition dürfe nicht im Wege einer richterlichen Rechtsfortbildung erfolgen.18 Wenn das Bundesverfassungsgericht in diesem Zusammenhang einen Unterschied zur Soraya-Entscheidung darin sehen möchte, daß in jenem Fall die Geschädigte durch das Schmerzensgeld gerade bessergestellt worden sei, während hier der Geschädigte schlechtergestellt werde, so wird damit die Reziprozität von grundrechtlichen Kollisionslösungen verkannt. Natürlich wird auch im Soraya-Fall ein Grundrechtsträger schlechter gestellt, nämlich der Träger von Meinungs- und Pressefreiheit. 19 d) In Sachen „Sozialplan-Abfindung im Konkurs" ist das Bundesverfassungsgericht der Entdeckung des „Nullten Ranges" durch das BAG nicht gefolgt, sondern hat befunden, daß § 61 KO „nach Wortlaut, Systematik und Sinn abschließend" sei, so daß eine richterliche Rechtsfortbildung nicht in Betracht komme. 20 Zugleich betont das Bundesverfassungsgericht die grundsätzliche Ermächtigung der Gerichte zur Rechtsfortbildung. e) Besondere Aufmerksamkeit verdient der Atomkraft-Nein-Danke-Beschluß. Das OLG hatte eine Bußgeldfestsetzung gegenüber dem plakettenbewehrten Wahlhelfer für zulässig erklärt, obgleich das maßgebliche Kommunalwahlgesetz nur für die Ablehnung des bzw. das Sich-Entziehen vom Amt eines Wahlhelfers eine solche Sanktion vorsah. Wer sein Amt - so meint das Gericht - als Wahlhelfer in einer Art und Weise antrete, die den Wahlleiter zwingend zur Entbindung des kämpferischen Helfers von diesem Amte führe, sei genauso zu behandeln wie derjenige, der gar nicht erst antrete. Diese Überlegung erscheint gewiß vernünftig, stellt jedoch ersichtlich eine analoge Rechtsanwendung dar, die — wie das Bundesverfassungsgericht näher darlegt - straf- bzw. bußgeldbegründend nicht zulässig sei. Art. 103 Abs. 2 GG enthalte einen „strengen Gesetzesvorbehalt", der ,jede Rechts-,Anwendung4, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht", ausschließe. Der „mögliche Wortsinn" des Gesetzes markiere die „äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation", wobei mit Blick auf das Ziel einer Vörhersehbarkeit für den Normadressaten „dieser Wortsinn aus der Sicht des Bürgers zu bestimmen" sei.21 Dieses 18

BVerfGE 49, 304 (321).

19

Diesen entscheidenden Begründungsmangel verkennt Diederichsen (Fn. 16), 198 ff.

20

BVerfGE 65, 182 (191).

21

BVerfGE 71, 108 (114 f.).

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strenge Verständnis der Grenzen richterlicher Rechtsfindung im Strafrecht hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung über die Anmeldepflicht von Eilversammlungen ausdrücklich bestätigt und zugleich hervorgehoben, daß „restriktive Interpretationen" unter Bestimmtheitsgesichtspunkten dann unbedenklich seien, wenn für die Normadressaten erkennbar bleibe, welches Verhalten strafbar sei.22 f) Die Entscheidungssequenz zur Etablierung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle der fachrichterlichen Rechtsfindungsmethode hat mit einem Beschluß zum Mietrecht eine deutliche Abrundung erfahren. Zunächst wird ganz selbstverständlich das inzwischen etablierte Prüfprogramm mit dem Doppelschritt einer Kontrolle der entscheidungstragenden Norm in der fachrichterlichen Deutung sowie einer Prüfung der Rechtsfindungsmethode, die das Fachgericht zu seiner Normdeutung geführt hat, formuliert: „Die angegriffene Entscheidung überschreitet nicht die Grenzen, welche der richterlichen Rechtsfortbildung durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG gezogen sind (I.). Die durch sie auferlegten Beschränkungen verletzen auch nicht die Eigentumsgewährleistung (II.)." 23

Dabei erscheint allerdings die Reihenfolge der Prüfung unter Gesichtspunkten der Praktikabilität fragwürdig. Über die Grenzen richterlicher Rechtsfindung läßt sich nämlich besser räsonieren, wenn der Sachgehalt der fachrechtlich entwickelten Norm erörtert ist. Besonders instruktiv an dieser Entscheidung ist aber der detaillierte Versuch, die Intensität verfassungsgerichtlicher Methodenkontrolle näher zu bestimmen. Die vom Landgericht vorgenommene analoge Anwendung des § 569a Abs. 2 BGB auf den Partner einer nicht ehelichen Lebensgemeinschaft hält das Bundesverfassungsgericht für zulässig. Ob ein Sachverhalt eine Analogie rechtfertige, unterliege nur eingeschränkt der verfassungsgerichtlichen Kontrolle daraufhin, „ob das Fachgericht in vertretbarer Weise eine einfachgesetzliche Lücke angenommen und ob diese Erweiterung des Normenbereichs Wertungen der Verfassung, namentlich Grundrechten widerspricht". 24 Diesem Maßstab halte die Entscheidung des Landgerichts stand. Es habe „nicht ersichtlich ohne tatsächliche Grundlage" einen sozialen Wandel darin gesehen, daß inzwischen nichteheliche Lebensgemeinschaften in beachtlichem Umfange existierten. Insofern — so nimmt das Bundesverfassungsgericht offenbar an — habe das Landgericht zutreffend eine Regelungslücke erkannt. Auch die Lückenfullung durch analoge Anwendung des § 569a Abs. 2 Satz 1 BGB hält das Bundesverfassungsgericht u.a. mit Hinweis darauf für vertretbar, daß der Gesetzgeber nichteheliche Lebensgemeinschaften in verschiedenen Regelungsbereichen ausdrück22

BVerfGE 85, 69 (73).

23

BVerfGE 82, 6 (11).

24

BVerfGE 82, 6(13).

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lieh berücksichtigt habe. Abschließend - und bemerkenswert - stellt das Gericht fest, daß mit „diesem Beschluß über die zivilrechtlich richtige Auslegung des § 569a Abs. 2 BGB nicht entschieden" sei.25 Diese Entscheidung hat Kritik erfahren - ausnahmsweise wegen angeblich zu starker Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts. Man könne die fachrichterliche Rechtsfindungsmethode nur voll oder gar nicht prüfen. Prüfe man im Streitfall die Rechtsfortbildung vollen Umfanges, so erweise sie sich mangels Regelungslücke und mangels Vergleichbarkeit der Fälle als methodisch fehlerhaft. Daher habe das Bundesverfassungsgericht insgesamt ein zivilrechtlich falsches Urteil zu Lasten des Eigentümers und damit eine Grundrechtsverletzung des Eigentümers durchgehen lassen.26 Dieser Kritik ist letztlich nicht zu folgen. Zwar sollten die Fachgerichte strenge methodische Anforderungen bei der Rechtsfortbildung beachten, denen zufolge gewiß weder eine Lücke noch eine Vergleichbarkeit der Fallgestaltungen in der Mietrechtsentscheidung anzunehmen wären. 27 Gleichwohl ist aus der Perspektive der verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu bedenken, daß die strenge methodische Operationalisierung zulässiger Rechtsfortbildungen weder Gemeingut noch eindeutig verfassungsrechtlich vorgegeben ist. Außerdem geht es um die von fast allen Seiten geforderte Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts, das sich hier in vertretbarer Weise auf die Annahme beschränkt, daß eine Analogie ernsthaft in Erwägung gezogen werden konnte. Wer - wie der scharfe Kritiker Diederichsen — Zurückhaltung vom Bundesverfassungsgericht fordert, muß auch die Konsequenz in Form falscher fachrichterlicher Entscheidungen hinzunehmen bereit sein. g) Überblickt man die dargestellte Entscheidungssequenz zur Kontrolle der fachrichterlichen Rechtsfindungsmethode, so ergeben sich im Kern klare Konturen des Kontrollanspruchs, die auch kompetenzrechtlich gut vertretbar erscheinen: Das Bundesverfassungsgericht prüft zwar, ob eine zulässige Rechtsfindungsmethode gewählt worden ist; es prüft jedoch nicht im einzelnen die Begründung der fachrichterlichen Interpretation der entscheidungstragenden Norm. Geprüft wird daher, ob im jeweiligen Rechtsbereich eine bestimmte Begründungsmethode zulässig ist. Die Auffassung des Bundesverfassungsgericht dazu ist sehr klar: (1) Im Strafrecht ist mit Blick auf das „spezifische" Verfassungsrecht des Art. 103 Abs. 2 GG der mögliche Wortsinn die Grenze jeglicher Interpretationsbemühungen. Eine Analogie kommt nicht in Betracht. (2) Ein 25

BVerfGE 82, 6(17).

26

Diederichsen (Fn. 16), S. 190 ff.

27 Strenge Anforderungen an Rechtsfortbildungen verbunden mit einer Kritik am Lückenbegriff bei Koch/Rüßmann (Fn. 2), S. 246-257.

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Eingriff in Grundrechte im Bereich des öffentlichen Rechts setzt ebenfalls eine eindeutige Ermächtigungsgrundlage voraus. Jedenfalls ist eine Rechtsanalogie - wie vom BGH im Schily-Fall versucht - mit dem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt nicht vereinbar. (3) Im Zivilrecht dagegen sind Analogien zulässig, obgleich dabei regelmäßig über Grundrechtskollisionen zu entscheiden ist und die Zivilgerichte durch ihre singulären Sollens-Urteile in diesen Fällen notwendig einen Grundrechtsträger beeinträchtigen. Gerade diesen Aspekt hat das Bundesverfassungsgericht allerdings weder im Soraya-Fall, noch in der Sache Weigand oder im Mietrechts-Fall angesprochen. Es scheint dabei sogar dem Irrtum einer „eindimensionalen" Betrachtung zu erliegen, wenn es im WeigandFall betont, daß hier — anders als im Falle Soraya - der Geschädigte durch die BGH-Entscheidung schlechtergestellt werde. Die konkrete Handhabung der zulässigen Rechtsfindungsmethode prüft das Bundesverfassungsgericht erklärtermaßen nur sehr großzügig. Im MietrechtsFall wird betont, daß die Entscheidung des Landgerichts zwar verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, aber damit zivilrechtlich nicht notwendig zutreffend sei. In der Soraya-Entscheidung läßt das Bundesverfassungsgericht sogar eine offenkundige contra-legem-Entscheidung passieren. Das erscheint aber eher als „Ausreißer". Im Weigand-Fall wird ebenso wie in der Sozialplan-Entscheidung die mangelnde Begründbarkeit einer Rechtsfortbildung konstatiert, wofür allerdings ein besonders vertiefendes Eindringen in die Interpretationsfragen nicht erforderlich war. Letztlich sind gewisse „Unschärfen" hinsichtlich der Kontrolle der zivilrichterlichen Rechtsfindungsmethode nicht zu übersehen. Insgesamt läßt sich jedoch nicht behaupten, daß sich das Bundesverfassungsgericht gleichsam an die Stelle des Fachgerichts setze. Es übt insoweit eine angemessene Zurückhaltung. Es prüft nicht Einzelheiten der Gesetzesauslegung und auch nicht Einzelheiten der Sachgerechtigkeit einer Analogie, obgleich natürlich auch insofern eventuell vorliegende Fehler im Prinzip Grundrechtsverletzungen begründen würden, wie oben in der Problemstellung erläutert worden ist. Das Bundesverfassungsgericht nimmt seine Kontrolle auf die Frage zurück, ob die Fachgerichte ihre jeweils gebotene Stellung zum Gesetz zutreffend erkannt haben. Ein weiterer Rückzug aus der Kontrolle ist nicht empfehlenswert, da sowohl das Analogie-Verbot des Art. 103 Abs. 2 GG wie auch die Schutzfunktion des Gesetzesvorbehalts der Grundrechte bedeutende Elemente des verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutzes sind. h) Abweichend von der eben resümierten Entscheidungssequenz nimmt das Bundesverfassungsgericht einer anderen Rechtsprechungslinie zufolge eine Überprüfung auch von Einzelheiten der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts in Anspruch. Dieser verschärfte Kontrollmaßstab soll in Fällen intensiver Grundrechtsbeeinträchtigungen namentlich der Meinungsäußerungs10 GS Jeand' Heur

146

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und der Kunstfreiheit gelten.28 Diese Maßstabsformulierung ist jedoch irreführend. In der Sache geht es dem Bundesverfassungsgericht nicht um Fragen methodischer Gesetzesauslegung, sondern um eine genauere Prüfung der Verfassungskonformität des entscheidungstragenden fachrichterlichen Rechtssatzes.29 Diese Problematik, die von der Kontrolle der Rechtsfindungsmethode zu unterscheiden ist, wird nachfolgend näher betrachtet. Die in der „Intensitäts"-Rechtsprechung ebenfalls genannte Rechtsanwendungs- bzw. Tatsachenfeststellungsproblematik wird später erörtert. 3. Die entscheidungstragende Norm des fachgerichtlichen Judikats als Kontrollgegenstand des Bundesverfassungsgerichts Nicht nur die (begrenzte) Überprüfung der fachgerichtlichen Rechtsfindungsmethode, die ursprünglich nach der Heck'sehen Formel nicht zum Prüfprogramm des Bundesverfassungsgerichts gehörte, sondern auch die Art und Weise, in der das Bundesverfassungsgericht den entscheidungstragenden Rechtssatz des Fachgerichts auf Verfassungskonformität überprüft, findet vielfach Kritik. Das muß überraschen, denn damit wird ja der Kern dessen berührt, was nach der Heck'sehen Formel bzw. dem Schumann-Kriterium dem Bundesverfassungsgericht jedenfalls und eigentlich unstreitig als Prüfauftrag zustehen sollte. Was sonst soll in Fällen einer Urteilsverfassungsbeschwerde der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterliegen, wenn nicht zumindest die entscheidungstragende Norm der angegriffenen Entscheidung? Drei Aspekte lassen sich insoweit in der kritischen Diskussion um die Praxis des Bundesverfassungsgerichts erkennen. Zum einen scheint sich die verbreitete Kritik an der vermeintlichen verfassungsgerichtlichen Einmischung in die fachrichterliche Rechtsfindung daran zu entzünden, daß das Bundesverfassungsgericht gelegentlich die entscheidungstragende Norm des angegriffenen Judikats allererst herausarbeiten muß (a). Zweitens wird explizit kritisiert, daß das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des entscheidungstragenden Rechtssatzes die verfassungsrechtliche Abwägung des Fachgerichts, die wesentlich vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bestimmt sei, durch eine eigene ersetze (b). Damit im engen Zusammenhang steht ein dritter Vorwurf, der den Entscheidungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts betrifft. Wegen der (unzutreffenden?) Deutung der Grundrechte als auch „objektive Wertordnung", die eine „Drittwirkung" entfalte, mische sich das Bundesverfassungsgericht insbesondere zu Unrecht in die zivilrichterlichen Abwägungsentscheidungen ein (c).

28

BVerfGE 77, 240 (250 f.); 75, 369 (376); 67, 213 (223); 60, 79 (91); 43, 130 (136).

29

S. auch unten 4. bei Fn. 61.

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a) Das Bundesverfassungsgericht hat - ausgehend von der Heck'sehen Formel und dem Schumann-Kriterium — zu dem oben beschriebenen, klar abgeschichteten Prüfprogramm bei Verfassungsbeschwerden gegen Gerichtsentscheidungen gefunden, dessen Tragweite in der Literatur wohl nicht immer voll erkannt wird. Das Bundesverfassungsgericht prüft nicht etwa die für den Rechtsstreit maßgebliche Norm in ihrer „richtigen Deutung", sondern zunächst nur in der durch das Fachgericht vorgenommenen Deutung30. Insofern geht es also nicht darum, ob die richtigerweise einschlägige Norm in zutreffender Deutung verfassungsgemäß ist, sondern darum, ob der vom Fachgericht erkennbar zugrunde gelegte Rechtssatz - mag er in dieser Interpretation Bestandteil des geltenden Rechts sein oder auch nicht - als solcher verfassungsmäßig ist, also Bestandteil der geltenden Rechtsordnung sein könnte. Erst das zweite, oben (2.) bereits erörterte, Element des verfassungsgerichtlichen Prüfprogramms stellt die Geltungsfrage dahin, ob der vom Fachgericht angenommene Rechtssatz in vertretbarer Weise - nämlich durch eine akzeptable Rechtsfindungsmethode als Element des geltenden Rechts erwiesen werden kann. Dies ist dann auch der Punkt, an dem geprüft wird, ob abweichend von der als verfassungswidrig aufgezeigten fachrichterlichen Interpretation der entscheidungstragenden Norm eine andere, verfassungskonforme Deutung dieser Norm mit der Folge möglich ist, daß nur die Gerichtsentscheidung aufzuheben ist. 31 Der — nochmals zu betonende — Umstand nun, daß das Bundesverfassungsgericht den entscheidungstragenden Rechtssatz in der Deutung (Interpretation) des fachgerichtlichen Judikats überprüfen will und soll, zwingt gelegentlich zu einer detaillierten Auslegung der angefochtenen Entscheidung, weil das Fachgericht sein Verständnis des maßgeblichen Rechtssatzes zwar entscheidungstragend zugrunde legt, aber nicht hinreichend explizit macht. Das sei an zwei Beispielen erläutert. In der Entscheidung über die Fortsetzung eines Mietverhältnisses mit dem nichtehelichen Lebenspartner der verstorbenen Mieterin mußte herausgearbeitet werden, welche Lebenspartnerschaften genau von der Analogie zur Regelung über „Familienangehörige" in § 569a Abs. 2 BGB erfaßt werden sollen. Zu dieser Frage enthielt die amtsgerichtliche Entscheidung die Rechtsansicht, daß nur solche nichtehelichen Lebensgemeinschaften von einer Analogie umfaßt sein könnten, die jedenfalls eheähnlich seien. Eine solche Ähnlichkeit sei bei 30 Das wird sowohl in der Lehrbuchliteratur wie auch in Anleitungen zur Fallösung vielfach verkannt. Unzutreffend wird empfohlen, zunächst die Verfassungsmäßigkeit der Norm und anschließend die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzesanwendung zu prüfen; s. beispielsweise Stein, Staatsrecht, 16. Aufl. 1998, S. 475 und Stender- Vorwachs, Prüfungstraining Staats- und Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1997, S. 124. 31 Sehr instruktiv zu diesem Prüfprogramm BVerfGE 86, 28, 37 ff.; zur Verfassungswidrigkeit des § 36 GewO a.F. in der Interpretation des Fachgerichts ebd., S. 45: es gibt eine vertretbare andere und verfassungskonforme Interpretation von § 36 GewO.

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einem Altersunterschied von 30 Jahren zwischen den Partnern grundsätzlich nicht anzunehmen. Das Landgericht ist dieser „engen" Analogie entgegengetreten, ohne daß es positiv den Begriff der nichtehelichen Lebenspartnerschaft präzisiert hat. Jedenfalls den Streitfall hat das Landgericht im Ergebnis in die Analogie einbezogen. Damit stand das Bundesverfassungsgericht vor der Frage, welcher Rechtssatz genau entscheidungstragend und damit an der Verfassung zu messen war. Das Bundesverfassungsgericht hat sich - etwas ausweichend damit beholfen, zunächst die gegenläufigen, von Art. 14 Abs. 1 GG einerseits, Art. 2 Abs. 1 GG andererseits geschützten Interessen von Vermieter und Mieterpartnern aufzuzeigen und sodann fallbezogen zu resümieren: „Bei Würdigung dieser widerstreitenden Interessen hätte der Gesetzgeber seine Regelungskompetenz (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) nicht überschritten, wenn er in Fällen wie dem des Ausgangsverfahrens dem Lebenspartner eine Nachfolgemöglichkeit ausdrücklich eingeräumt hätte. Nach den mit der Verfassungsbeschwerde nicht angegriffenen Feststellungen des Landgerichts verband den Beklagten mit Frau S. eine 18-jährige Partnerschaft. Jedenfalls eine solche Dauer würde den Gesetzgeber berechtigen, den Vermieter durch Einschränkung der Kontrahierungsfreiheit zur Rücksichtnahme auf den Überlebenden zu verpflichten." 32

Das Bundesverfassungsgericht hat sich also letztlich auf die Behauptung zurückgezogen, daß , jedenfalls" eine 18-jährige Partnerschaft verfassungsrechtlich gesehen ausreicht, um eine analoge Anwendung von § 569 Abs. 2 zu rechtfertigen. Diese Vorgehensweise des Bundesverfassungsgerichts könnte bei oberflächlicher Betrachtung als ganz konkrete Einmischung in die fachrichterliche Rechtsfindung angesehen werden. Eine solche Sicht wäre jedoch unzutreffend. Das Bundesverfassungsgericht muß einen entscheidungstragenden Rechtssatz aus dem fachgerichtlichen Judikat rekonstruieren und diesen verfassungsrechtlich würdigen. Nichts anderes ist hier geschehen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich bei der Rekonstruktion der entscheidungstragenden Norm mangels abstrakter Formulierungen des Fachgerichts ganz eng an den Fall gehalten. Das ist sicher nicht weiterführend, aber auch nicht zu beanstanden. Noch deutlicher wird die zulässigerweise vom Bundesverfassungsgericht wahrgenommene Aufgabe der Rekonstruktion des tragenden fachrichterlichen Rechtssatzes in der vieldiskutierten Soldaten sind Mörder-Entscheidung. 33 Insbesondere ist von Kritikern behauptet worden, daß sich das Bundesverfassungsgericht massiv in die Auslegung einfachen (Straf-)Rechts und sogar die Tatsachenfeststellung eingemischt habe, indem es auf einer äußerst filigranen Deutung der umstrittenen Meinungsäußerung („Soldaten sind Mörder") als rechtserheblich insistiert habe. Diese Kritik ist im Ergebnis aus anderen Gründen 32

BVerfGE 82, 6(17).

33

BVerfGE 93, 266.

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wohl zutreffend. Darauf wird zurückzukommen sein. Jedoch ist die vom Bundesverfassungsgericht in Anspruch genommene Prüfkompetenz nicht zu beanstanden. Das gilt zunächst für die Rekonstruktion der fachgerichtlich zugrunde gelegten Rechtssätze: Die angefochtenen fachgerichtlichen Entscheidungen gehen ersichtlich wenngleich nicht explizit - davon aus, daß der Tatbestand des § 185 StGB nur voraussetzt, daß eine sich aufdrängende Deutung einer Äußerung beleidigenden Charakter hat. Eine Beleidigung erscheint nach der Ansicht der Fachgerichte nicht dadurch ausgeschlossen, daß es auch eine filigrane, den Intentionen des Äußernden eher gerecht werdende, nicht beleidigende Deutung der streitbefangenen Äußerungen gibt. Das Bundesverfassungsgericht meint dagegen, daß die Fachgerichte solchen „alternativen Deutungen" hätten nachgehen müssen, soweit dies zu einer milderen strafrechtlichen Beurteilung fuhren würde. 34 Das Bundesverfassungsgericht verbindet dies mit einigen Hinweisen darauf, wie man einer Äußerung einen unter Umständen zunächst fernliegenden Bedeutungsgehalt als „richtigen" Inhalt entlocken kann. Diese etwas zugespitzte Rekonstruktion - die bewußt von vielen Einzelheiten absieht - macht deutlich, worum es dem Bundesverfassungsgericht geht: § 185 StGB ist hinsichtlich des Begriffs der Beleidigung in der Deutung der Fachgerichte, die auf den sozusagen „unverbildeten" Empfängerhorizont abstellen, verfassungswidrig. Die verfassungskonforme Norminterpretation im Spannungsfeld von Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz gebiete eine Interpretation des § 185 StGB dahin, daß eine Beleidigung dann nicht vorliege, wenn eine an den Intentionen des Äußernden orientierte, auch versteckte Äußerungsgehalte zutage fördernde Interpretation einen beleidigungsfreien Äußerungsinhalt ergebe. Diese Vorgehensweise des Bundesverfassungsgerichts ist methodisch und kompetenzrechtlich nicht zu beanstanden. Es handelt sich um die Herausarbeitung der fachgerichtlichen Interpretation des Beleidigungstatbestandes und um die sich anschließende verfassungsrechtliche Kritik dieser entscheidungstragenden Norm, verbunden schließlich mit dem erforderlichen Aufweis einer verfassungskonformen Interpretationsmöglichkeit des § 185 StGB. Eine unzulässige Einmischung in die Auslegung des einfachen Rechts ist darin nicht zu erkennen. Allerdings erscheint - wie der Verdeutlichung halber hinzugefügt sei — die Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts durchaus diskussionswürdig. Beim Ehrenschutz geht es um den sozialen Geltungsanspruch der Individuen, um ihr Bild in der sozialen Gruppe und der Öffentlichkeit. Daher muß der Beleidigungstatbestand auch am naheliegenden Verständnis der Äußerungen seitens der Öffentlichkeit orientiert sein, nicht an den Deutungsmöglichkeiten in einem germanistischen Seminar. Hier dürfte das Bundesverfassungsgericht 34

BVerfGE 93, 266 (297).

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die Intellektualität der öffentlichen Debatte in einer Weise überschätzen, die letztlich dem Schutz der Ehre zu wenig gibt. Auch die beiden anderen zentralen Aspekte der Soldaten sind Mörder-Entscheidung lassen sich methodisch und kompetentiell entsprechend rekonstruieren: (1) Das Bundesverfassungsgericht hält die Deutung, die die Strafgerichte dem Tatbestand des § 185 StGB hinsichtlich der sogenannten Kollektivbeleidigung geben, für verfassungskonform. 35 (2) Ferner folgt das Bundesverfassungsgericht den Strafgerichten, soweit diese den Rechtfertigungsgrund des § 193 StGB auf sogenannte Schmäh-Kritik grundsätzlich nicht anwenden.36 Allerdings gibt das Bundesverfassungsgericht eine ergänzende Präzisierung des Begriffs der Schmäh-Kritik dahin, daß bei einem verbalen Angriff auf sehr große Kollektive in der Regel die Schmähung der einzelnen Person gar nicht im Vordergrund stehen könne. Insgesamt dürfte deutlich geworden sein, daß die fachrichterliche Deutung der entscheidungstragenden Norm vom Bundesverfassungsgericht vielfach erst aus dem angefochtenen Urteil rekonstruiert werden muß. Darin steckt ebensowenig eine „Einmischung" in die fachrichterliche Auslegung einfachen Rechts, wie in der gegebenenfalls nachfolgenden Verwerfung der fachrichterlichen, aber verfassungswidrigen Normdeutung zugunsten einer verfassungskonformen. b) Vielfach wird dem Bundesverfassungsgericht kritisch vorgehalten, daß es die Abwägung des Fachgerichts unzulässigerweise durch eine eigene ersetze, wobei wegen der Rolle des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Grunde eine echte Einzelfallentscheidung durch das Bundesverfassungsgericht getroffen werde. Diese Kritik trifft im wesentlichen nicht zu. Zunächst ist klarzustellen, daß die angesprochene Abwägung eine verfassungsrechtliche Abwägung zwischen kollidierenden Grundrechten betrifft und im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Prüfung der entscheidungstragenden Norm des Fachgerichts steht. Diese Norm, die in der Deutung durch das Fachgericht auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin geprüft wird, stellt entweder einen Ausgleich zwischen grundrechtlich geschützter Betätigung einerseits und Allgemeinwohlbelangen andererseits dar, oder aber einen Ausgleich zwischen kollidierenden Inanspruchnahmen grundrechtlicher Freiheiten. Deshalb muß die das fachgerichtliche Urteil tragende Norm notwendig darauf geprüft werden, ob sie einen verfassungskonformen Ausgleich beinhaltet. Dabei genügt es, daß von mehreren möglichen Kollisionslösungen eine vertretbare gefunden worden ist. Am Beispiel erneut des Mietrechts-Falles läßt sich das kurz erläutern: Zu prüfen war der - etwas unscharfe - fachrichterliche Rechtssatz über den Anspruch auf Fortsetzung des Mietverhältnisses mit dem nichtehelichen Le35

BVerfGE 93, 266 (299 ff.).

36

BVerfGE 93, 266 (303 ff.).

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benspartner des verstorbenen Mieters. Das Bundesverfassungsgericht lotet zunächst den mietrechtsrelevanten Gehalt von Art. 14 Abs. 1 GG aus. Die Eigentumsfreiheit verbiete, daß das Wohnungseigentum nach der erstmaligen Vermietung auf die Erzielung eines finanziellen Ertrages verkürzt werde. Es müsse grundsätzlich eine Einflußmöglichkeit des Vermieters auf die Person des Vertragspartners erhalten bleiben. Andererseits müsse auf diejenigen Personen Rücksicht genommen werden, die aus eigener Kraft keinen Wohnraum für sich schaffen können. Insofern dürften verfassungsrechtlich gewährleistete Eigentümerbefugnisse, u.a. also die freie Wahl des Vertragspartners eingeschränkt werden. Der einschränkungsfahigen Eigentumsposition stehe Art. 2 Abs. 1 GG gegenüber, aus dem die Befugnis des Mieters folge, eine nichteheliche Lebensgemeinschaft zu begründen. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums rechtfertige eine Berücksichtigung dieses nichtehelichen Lebenspartners im Mietsvertragsrecht, so daß jedenfalls bei lang andauerndem Mitgebrauch berücksichtigt werden dürfe, daß auch der Mitbewohner seinen Lebensmittelpunkt in der Wohnung gefunden habe. Fraglich erscheine allerdings, ob eine kurze Mitbewohnung die rechtliche Gewährung einer Nachfolgemöglichkeit rechtfertigen könne. Bei Würdigung der widerstreitenden Interessen würde jedenfalls eine 18-jährige Partnerschaft den Gesetzgeber zur Normierung eines Kontrahierungszwanges für den Vermieter berechtigen (!). Überblickt man diese Argumentation, so ist deutlich, daß das Bundesverfassungsgericht keine Abwägung für einen singulären Fall vornimmt, sondern generalisierend - für eine Fallgruppe, natürlich in einem Zuschnitt, der den vom Fachgericht — unpräzise - entwickelten Rechtssatz mit umfaßt. Das Bundesverfassungsgericht respektiert auch erkennbar den Gestaltungsspielraum, den die grundrechtliche Kollisionslage dem Gesetzgeber und der Fachgerichtsbarkeit eröffnet. Es kommt nämlich nicht etwa zu dem Ergebnis, daß der vom Fachgericht gewährte Mietrechtsschutz der nichtehelichen Partnerschaft verfassungsrechtlich geboten sei, sondern nur zu dem Resultat, daß die Gewährung eines solchen Schutzes verfassungsrechtlich zulässig sei. Im übrigen - und damit ist schon das nächste Problemfeld angesprochen kann das Bundesverfassungsgericht gar nicht auf eine solche abwägende Kontrolle des fachgerichtlich maßgeblichen Rechtssatzes verzichten. Denn es liegt in der Struktur der Grundrechte selbst, daß sie notwendig sowohl mit Belangen des Allgemeinwohls wie untereinander in Kollisionen geraten können, die mangels einer abstrakten Rangfolge der Grundrechte im Wege von Abwägungen bewältigt werden müssen. Die Aufgabe der Abwägung ist mit den Grundrechten unausweichlich verbunden. Das wird neuerdings verstärkt in Frage gezogen: c) Damit sind wir nicht mehr bei der Frage der Kontrollgegenstände, sondern der Kontrollmaßstäbe, genauer gesagt, dem Grundrechtsverständnis des Bundesverfassungsgerichts angelangt. In der Literatur finden sich immer wieder

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- j ü n g s t sogar verstärkt - Stimmen, die der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „Grenzüberschreitungen" wegen eines extensiven Grundrechtsverständnisses vorhalten. Gemeint ist damit die mit dem Lüth-Urteil begründete Rechtsprechung zu den Grundrechten als auch „objektive Wertordnung". 37 Die damit verbundene Konsequenz einer „Ausstrahlung" der Grundrechte auch in die Zivilrechtsordnung hinein ist der wesentliche Stein des Anstoßes, der kürzlich, anläßlich der verfassungsgerichtlichen Beschränkung einer offenkundig nicht von der Idee der Privatautonomie getragenen Praxis der Banken im Bürgschaftsbereich 38 wieder einmal zu verstärkter Kritik geführt hat. 39 Die nach Jahren relativer Ruhe teilweise fundamentale Kritik an der Wertordnungs- und Drittwirkungsjudikatur ist im Kern nicht zutreffend. 40 Gewiß ist die Bezeichnung der Grundrechte als auch „objektive Wertordnung" wenig hilfreich, wenn nicht gar mißverständlich. Allerdings ist andererseits längst hinreichend geklärt, was mit dieser Bezeichnung gemeint ist, nämlich die Behauptung, daß die Grundrechte die nach Art. 1 Abs. 3 GG gebundene Staatsgewalten nicht nur dazu verpflichten, unverhältnismäßige Eingriffe in geschützte Freiheitssphären zu unterlassen, sondern zugleich (u.a.) dazu, durch positives Tun zu gewährleisten, daß die Grundrechte ohne unangemessene Beeinträchtigung seitens Dritter auch tatsächlich gelebt werden können. Es genügt eben nicht, daß sich der Staat unverhältnismäßiger Eingriffe beispielsweise in die Meinungsäußerungsfreiheit enthält, jedoch zugleich zuläßt bzw. als Hoheitsträger sogar aktiv, eingreifend, daran mitwirkt, daß die Meinungsäußerungsfreiheit dadurch ausgehöhlt wird, daß Meinungsäußerungen mit Schadensersatzsanktionen zugunsten Dritter verknüpft werden. Die Grundrechte gewährleisten die Freiheiten, die sie verheißen, nur dann, wenn sie zugleich als Abwehrrechte gegen den Staat und Schutzpflichten des Staates verstanden werden. Die Freiheitsverbürgungen könnten ohne staatliche „Kollisionsordnung" nicht friedlich und auch nicht frei gelebt werden. Die Einsicht in die Schutzpflichten-Dimension der Grundrechte und in diesem Sinne auch das tiefere Verständnis des Gedankens der Grundrechte als „Wertordnung" bedeutet auch alles andere als die gelegentlich behauptete radikale Umdeutung der Grundrechte. 41 Völlig zu Recht hat demgegenüber Josef 37

BVerfGE 7, 198 (205).

38

BVerfGE 89, 214 (229 ff.).

39

S. nur Hillgruber,

Grundrechtsschutz im Vertragsrecht, AcP 191 (1991), 69.

40

Fundamentalkritik mit methodischem Anspruch bei Diederichsen (Fn. 16); wesentlich zurückhaltender und weiterführend Oeter, „Drittwirkung" der Grundrechte und die Autonomie des Privatrechts, AöR 119 (1994), 529; Hager, Grundrechte im Privatrecht, JZ 1994, 373; s. auch den Rechtsprechungs-Bericht von Classen, Die Drittwirkung der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 122 (1997), 65. 41 In diesem Sinne aber Diederichsen (Fn.16), 248 ff; ferner Starck, Grundrechtliche Schutzpflichten, in: ders., Praxis der Verfassungsauslegung, 1994, S. 46 ff.; die eindimensio-

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Isensee betont, daß das Bundesverfassungsgericht mit den Schutzpflichten keine neue, sondern nur eine vergessene Dimension wieder enthüllt habe.42 Es handelt sich — auslegungsmethodisch gesprochen - um eine Dimension der bürgerlichen Freiheitsrechte, die in den letzten 200 Jahren westeuropäischer Verfassungstheorie und Verfassungsrechtswissenschaft als stillschweigend vorausgesetzte Bedingung der errungenen Freiheitsgewährleistungen stets mitgedacht worden sind. Es bedurfte eines wissenschaftlich verfeinerten und durch die Institution des Bundesverfassungsgerichts dem steten Praxistest ausgesetzten Grundrechtsverständnisses, um die stillschweigende grundrechtliche Voraussetzung einer jeglichen Freiheitsgewährleistung im bürgerlichen Verfassungsstaat als grundrechtliche Dimension explizit benennen zu können. Diese Sichtweise, die heute nicht nur gefestigte Rechtsprechung 43, sondern auch „ganz herrschende Meinung" 44 ist, mußte trotz ihrer „Selbstverständlichkeit" erst errungen und zur angemessenen Rekonstruktion der Wertordnungsrechtsprechung eingesetzt werden. Dafür mußten überlieferte Denkanstöße überwunden werden. Diesem Umstand ist es zuzuschreiben, daß die ersten, „Neuland" betretenden Entscheidungen auch mißverständliche Formulierungen enthielten, die teilweise in den maßgeblichen Entscheidungssequenzen bis heute mitgeschleppt werden. In der für die „Wertordnungs"-Rechtsprechung grundlegenden Lüth-Entscheidungen hatte das Bundesverfassungsgericht noch mit dem Ballast einer an sich - ex post betrachtet - wenig hilfreichen, unter erheblichen Unklarheiten leidenden Drittwirkungsdiskussion zu kämpfen 45. Dabei steht bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung von Zivilrecht - hier § 826 BGB - die offenbar für Aufregung sorgende grundrechtliche Bindung von Privaten in keiner Weise zur Diskussion46. Es geht um die Grundrechtsbindung der staatlichen Gewalt nale Verkürzung der Grundrechte zu Abwehrrechten gegen den Staat kritisiert Dreier (Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 27-38) in instruktiven Ausfuhrungen als „ahistorisch". 42

Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111, S. 148, 201 ff., 211 ff. 43 Eine „konsolidierte" Schutzpflichten-Rechtsprechung wird man seit BVerfGE 39, 1 (41 ff.). - Fristenlösung - annehmen dürfen; s. ferner E 46, 160 (164) - Schleyer; E 49, 24 (53) - Kontaktsperre; E 49, 89 (141) - Kalkar I; E 53, 30 (57) - Mülheim-Kärlich; E 56, 54 (73) - Fluglärm; E 77, 170 (214) - Chemiewaffen; E 79, 174 (202) - Straßenverkehrslärm; E 85, 191 (212)-Nachtarbeit. 44 Isensee (Fn. 42); Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987. 45 Grundlegende und klärende rechtstheoretische Analyse bei Alexv, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 475 ff. 46 Daß Alexy (Fn. 45), S. 493 die Redeweise zur Verfügung halten möchte, daß ein Privater das Grundrecht eines anderen verletzt hat, steht nicht im Widerspruch zu den Ausfuhrungen in diesem Text.

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bei der Normierung einer zivilrechtlichen Kollisionsordnung. Auch diese Ansicht enthält die Lüth-Entscheidung schon sehr deutlich, ohne sich von der überflüssigen Wertordnungs-Konstruktion freimachen zu können. Daher wird in der Entscheidung zunächst in ausdrücklicher Anknüpfung an die Drittwirkungsdebatte der Einfluß der Grundrechte als einer „objektiven Wertordnung" auf das Zivilrecht postuliert, wobei die „Generalklauseln" des Zivilrechts die entscheidende „Einbruchstelle" für die Grundrechte sein sollen.47 Mit Recht wird sodann hervorgehoben, daß auch der Zivilrichter gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden sei und daher die „Ausstrahlungswirkungen" der Grundrechte in das Zivilrecht durchzusetzen habe, was wiederum vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde zu überprüfen sei.48 Im konkreten Fall hat das Bundesverfassungsgericht beanstandet, daß das LG Hamburg bei der Auslegung des zivilrechtlichen Begriffs des „sittenwidrigen" Boykottaufrufs nicht hinreichend die Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit beachtet habe. Die Entscheidung enthält insbesondere drei Aspekte, die offenbar — wie die jüngere Kritik an der Wertordnungsjudikatur belegt - bis heute die Diskussion belasten. Erstens ist natürlich der unklare und eigentlich überflüssige Begriff der „objektiven Wertordnung" zu nennen. Dem Bundesverfassungsgericht gerät — zweitens - die Kollisionsproblematik nicht als zentrale Fragestellung in den Blick. 4 9 Schließlich — drittens - ist mit dem „Einfallstor" der Generalklauseln eine sozusagen halbherzige Grundrechtsgeltung im Zivilrecht behauptet, die ebenfalls zur Unklarheit beiträgt. Insgesamt konnte und kann nämlich der Eindruck entstehen, daß die Geltung der Grundrechte für das Zivilrecht doch etwas irgendwie Besonderes darstelle und daher nur vorsichtig und mit größter Zurückhaltung gehandhabt werden dürfe. Zwischenzeitlich ist das Bundesverfassungsgericht jedoch hinsichtlich der genannten Aspekte zu klaren Positionen gelangt. Klar ist nun, daß das Zivilrecht in uneingeschränkter Konsequenz den Grundrechten genügen muß, was zunächst der Gesetzgeber, dann aber auch die Zivilgerichte zu beachten haben. Insofern sind — natürlich — nach wie vor die bedeutenden gesetzlichen „Generalklauseln" des Zivilrechts (z.B. §§ 138, 242 BGB) mit ihrem der (verfassungskonformen) Auslegung zugänglichen Vagheitsraum wichtige rechtliche Steuerungsmittel für die Durchsetzung der grundrechtlichen Gewährleistungen in der Zivilgerichtsbarkeit. Aber vorrangig noch ist eben auch der Gesetzgeber des Zivilrechts an die Grundrechte gebunden. Schließlich ist nun auch erkannt, daß das Zivilrecht in erheblichem Umfange Grundrechtskollisionsrecht ist und 47

BVerfGE 7, 198 (205 f.).

48

BVerfGE 7, 198 (206 f.).

49 Immerhin wird Art. 2 GG zugunsten des angegriffenen Regisseurs Veit Harlan genannt, aber dennoch keine Grundrechtskollisionsfrage thematisiert: BVerfGE 7, 198 (219 ff.).

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die staatliche Aufgabe im Bereich des Zivilrechts insofern der Schutzpflichtendimension der Grundrechte zuzuordnen ist. 50 Alles dies findet sich gut zusammengefaßt in der teilweise umstrittenen Bürgschaftsentscheidung: „Mit der Pflicht zur Ausgestaltung der Privatrechtsordnung stellt sich dem Gesetzgeber ein Problem praktischer Konkordanz. Am Zivilrechtsverkehr nehmen gleichrangige Grundrechtsträger teil, die unterschiedliche Interessen und vielfach gegenläufige Ziele verfolgen. Da alle Beteiligten des Zivilrechtsverkehrs den Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG genießen und sich gleichermaßen auf die grundrechtliche Gewährleistung ihrer Privatautonomie berufen können, darf nicht nur das Recht des Stärkeren gelten. Die kollidierenden Grundrechtspositionen sind in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, daß sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden."51

Die tatsächlich bestehende Identität zwischen dem Verständnis der Grundrechte als (auch das Zivilrecht prägende) objektive Wertordnung einerseits und der Erkenntnis ihrer Schutzpflichtendimension andererseits wird in der Handelsvertreter-Entscheidung vielleicht noch deutlicher. Dort heißt es, daß bei einem fehlenden Kräftegleichgewicht die mit der Privatautonomie eingeräumte Selbstbestimmung zur Fremdbestimmung werden könne, so daß staatliche Regelungen ausgleichend eingreifen müßten, um den „Grundrechtsschutz" zu sichern. 52 Hier wird klar erkannt, daß der Staat sich auch im und durch Zivilrecht „schützend und fordernd" vor die Grundrechtsträger stellen muß. Gleichwohl wäre es im Interesse der Einfachheit und Klarheit des verfassungsgerichtlichen Grundrechtsverständnisses wünschenswert, wenn die Rechtsprechungslinie zur Schutzpflicht, die im wesentlichen zu öffentlichem Recht entwickelt worden ist, und diejenige zur Grundrechtsgeltung für das Zivilrecht explizit zusammengeführt würden. Immerhin hat schon die erste „echte" Schutzpflichtenentscheidung zu § 218 a.F. StGB ausdrücklich auf die Wertordnungsjudikatur und namentlich die Lüth-Entscheidung Bezug genommen.53 Etwas irritierend sind auch gelegentliche „Rückfalle" in vergangene Begrifflichkeiten. So heißt es im Handelsvertreter-Beschluß: „Das Grundgesetz will keine wertneutrale Ordnung sein, sondern hat in seinem Grundrechtsabschnitt objektive Grundentscheidungen getroffen, die für alle Bereiche des Rechts, also auch für das Zivilrecht, gelten."54 50 Die zentrale Rolle der Schutzpflichtendimension der Grundrechte für ein präziseres Verständnis der Wertordnungs- und Drittwirkungstheorien betont sehr gut Oeter (Fn. 40), insb. S. 549 ff.; grundlegend in dieser Hinsicht schon Canaris , Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), 201; ders ., Grundrechtswirkungen und Verhältnismäßigkeitsprinzip in der richterlichen Anwendung und Fortbildung des Privatrechts, JuS 1989, 161 (163). 51

BVerfGE 89, 214 (232).

52

BVerfGE 81, 242 (255).

53

BVerfGE 39, 1, 41 (73) (Minderheitsvotum).

54

BVerfGE 81, 242 (254).

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Selbstverständlich normiert das Grundgesetz keine „wertneutrale Ordnung". Nur hat diese Feststellung mit der Geltung der Grundrechte für das Zivilrecht nichts zu tun. Der sich auf die gesamte Rechtsordnung erstreckende Geltungsanspruch der Grundrechte ist auf ihre Schutzpflichtendimension zurückzufuhren, die im Interesse der Gewährleistung von Freiheitsrechten zur Lösung der unvermeidlichen Kollisionsproblematik notwendig zum grundrechtlichen Gewährleistungsgehalt gehört. Überblickt man diese kurze Geschichte der Wertordnungs-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, so wird deutlich, daß es sich bei diesem Grundrechtsverständnis nicht um eine kompetentiell anmaßende Fehlentwicklung handelt, die dringend korrigiert werden müßte, sondern daß das Bundesverfassungsgericht eine notwendige Dimension jeder wahrhaften staatlichen Freiheitsverheißung erkannt hat. Das Bundesverfassungsgericht muß — will es auf die Verwirklichung der Grundrechte auftragsgemäß dringen - notwendig die fachrichterlich entwickelten Rechtssätze daraufhin prüfen, ob der Schutzpflichtendimension der Grundrechte („objektive Wertordnung") in vertretbarer Abwägung kollidierenden Verfassungsrechts Genüge geschehen ist. Dabei soll und will das Bundesverfassungsgericht Kontrollmäßigung üben. Wie auch in dem bereits ausführlich behandelten Mietrechts-Fall hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder darauf hingewiesen, daß es nicht die allein richtige verfassungsrechtliche Abwägung gebe, an der namentlich zivilgerichtliche Judikate zu messen seien, sondern ein gewisser Abwägungsspielraum der Fachgerichte anzuerkennen sei. Daher könne das Bundesverfassungsgericht einer rechtskräftigen zivilgerichtlichen Entscheidung nicht schon dann entgegentreten, „wenn es selbst bei der Beurteilung widerstreitender Grundrechtspositionen die Akzente anders gesetzt und daher anders entschieden hätte." 55 In einem durchaus wichtigen Punkt könnte und sollte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zukünftig deutlicher werden. Die Wertordnungsbzw. Drittwirkungsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts namentlich zum Zivilrecht, aber auch generell zu Grundrechtskollisionen haben es mit einer Mischung aus Eingriffs- und Schutzpflichtenproblematik zu tun. Vereinfacht gesagt: Was man dem Persönlichkeitsschutz im Konflikt mit der Pressefreiheit gibt, nimmt man letzterer. Auf diese Reziprozität von Schutz und Eingriff ist bereits im Zusammenhang mit der Soraya- und der Weigand-Entscheidung hingewiesen worden. Hier ist dieser Hinweis deshalb wichtig, weil das Bundesverfassungsgericht im Kollisionsfall nicht einfach im Namen einer auszutarierenden Wertordnung eine allgemeine Abwägung vornehmen darf. Es muß vielmehr die wesentlichen Unterschiede zwischen den grundrechtlichen Abwehrrechten einerseits und den grundrechtlichen Schutzpflichten andererseits beachten. Wenn mit einer Verfassungsbeschwerde gegen eine fachrichterliche Ent55

BVerfGE 89, 214 (230).

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Scheidung ein zusätzliches Maß an Grundrechtsschutz eingefordert wird, so hat das Bundesverfassungsgericht seine zurückhaltende, die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers respektierende Rechtsprechung hinsichtlich der verfassungsrechtlichen „Ableitung" grundrechtlicher Schutzpflichten zu beachten.56 Bei aller Zurückhaltung muß das Gericht allerdings andererseits beachten, daß der fachgerichtlich gewährte Schutz nicht das Untermaßverbot 57 verletzt. In einer jüngeren Entscheidung zur Antidiskriminierungs-Regelung in § 61 la BGB hat das Bundesverfassungsgericht zunächst das schutzpflichtenspezifische Prüfprogramm wie folgt formuliert: „Bei Vorschriften, die grundrechtlich Schutzpflichten erfüllen sollen, ist das maßgebende Grundrecht dann verletzt, wenn ihre Auslegung und Anwendung den vom Grundrecht vorgezeichneten Schutzzweck grundlegend verfehlt. Dagegen ist es nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts zu kontrollieren, wie die Gerichte den Schutz im einzelnen auf der Grundlage des einfachen Rechts gewähren und ob ihre Auslegung den bestmöglichen Schutz sichert."58

Das Gericht gelangt dann in einer detaillierten Prüfung des § 611a BGB „in der Auslegung, die dem angegriffenen Urteil zugrunde liegt", zu dem Ergebnis, daß so kein wirksamer Schutz vor Geschlechtsdiskriminierung gewährt werde, so daß die mögliche verfassungskonforme Auslegung des § 61 la BGB zu wählen sei. Alles in allem ist die Position des Bundesverfassungsgerichts gleichwohl inzwischen von einem zutreffenden Grundrechtsverständnis und der zutreffenden Einsicht in die notwendige Zurückhaltung bei der Abwägungskontrolle geprägt. Eine sachwidrige Kompetenzanmaßung gegenüber der Fachgerichtsbarkeit ist - generell betrachtet - nicht ersichtlich. Einige Klärungsbedarfe sind aufgezeigt.

56 Dies arbeitet gut heraus Oeter (Fn. 40), 549 ff. (560). Einschlägig ist in diesem Zusammenhang u.a. die Blinkfuer-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Der Verleger dieser Zeitschrift, die zum Verdruß von Axel Springer die spannenden Rundfünkprogrammübersichten der seinerzeit sog. „SBZ" abdruckte, hatte zunächst bei der Zivilgerichtsbarkeit um Schutz vor Boykottaufrufen der Springer-Presse nachgesucht, die ihren Händlern mit wirtschaftlichen Sanktionen drohte. Nachdem der BGH keinen sittenwidrigen Boykott-Aufruf zu erkennen vermochte, begehrte der Verleger weitergehenden Schutz beim Bundesverfassungsgericht, das seinerzeit - noch ohne „volles Bewußtsein" von der Schutzpflichtenproblematik - die Zivilgerichte zu einer verfassungskonformen Auslegung im Sinne eines Schutzanspruchs des Blinkfuer-Verlegers verpflichtete. Daß dieser Schutz tatsächlich grundrechtlich geboten war, wird sich wohl vertretbar begründen lassen. Hierzu auch Alexy (Fn. 45), S. 490 f. 57

BVerfGE 88, 203 (254) im Anschluß an Isensee (Fn. 42), Rn. 165 f.

58

BVerfGE 89, 276 (286).

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4. Die fachrichterlichen Tatsachenfeststellungen als Kontrollgegenstand im Verfassungsbeschwerdeverfahren Wie eingangs in der Problemexposition näher dargestellt, liegt in einem grundrechtsbeeinträchtigenden Gerichtsurteil auch dann eine Grundrechtsverletzung, wenn „lediglich" die Tatsachenfeststellungen unzutreffend sind. Gleichwohl übt das Bundesverfassungsgericht insoweit grundsätzlich nur eine sehr weitmaschige Kontrolle aus. Im wesentlichen prüft es, ob Tatsachenfeststellungen „willkürlich" getroffen worden sind. 59 Eine solche Willkürkontrolle läßt sich auf Art. 3 Abs. 1 GG, aber auch auf das Rechtsstaatsprinzip stützen. Sie bedeutet nicht, daß das Bundesverfassungsgericht seine Prüfkompetenz generell an dem durch den begründungstheoretisch aufgewiesenen Umstand orientiert, daß auch solche Urteile Grundrechtsverletzungen darstellen, die auf unzutreffenden Tatsachenfeststellungen beruhen. Einen anderen Kurs hat das Bundesverfassungsgericht allerdings — wie häufig erörtert und vielfach kritisiert - im Bereich der Meinungsäußerungsfreiheit und allgemeiner im Bereich des Art. 5 GG eingeschlagen.60 Interessant ist daran zunächst, daß das Bundesverfassungsgericht in der Anfangszeit dieser Judikatur sehr klar und anschaulich herausgearbeitet hat, daß und warum in einer fehlerhaften Tatsachenfeststellung eines Fachgerichts eine Grundrechtsverletzung liegen kann: „Wenn dem Beschwerdeführer... durch das Landgericht eine Äußerung in den Mund gelegt worden ist, die er nicht getan hat, und wenn er gleichwohl bestraft worden ist, so wäre dies ein Eingriff von hoher Intensität, der den Kernbereich der grundrechtlichen Persönlichkeitssphäre treffen muß."61

Daraus folgert das Bundesverfassungsgericht, daß es in solchen Fällen auch „im einzelnen zu prüfen" habe, ob die gerichtlichen Entscheidungen „bei der Feststellung und Würdigung des Tatbestandes sowie der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts die verfassungsrechtlich gewährleistete Meinungsfreiheit verletzt haben". Diese Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur für die Fälle strafrichterlicher Entscheidung über Meinungsäußerungen konsequent fortgesetzt, 62 sondern auch verfeinert. Namentlich im Soldaten sind Mörder-Beschluß wird betont, daß das Bundesverfassungsgericht keineswegs eine volle Überprüfung der Sachverhaltsfeststellungen für sich in Anspruch nehme. Den Fachgerichten blieben die Feststellungen überlassen, „ob die umstrittene Äußerung tatsächlich gefallen ist, wel59

BVerfGE 63, 45 (71).

60

S. die detaillierte „Selbstdarstellung" bei Grimm, Die Meinungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1995, 1697. 61

BVerfGE 43, 130 (136).

62

BVerfGE 67, 212 (223); 75, 369 (376).

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chen Wortlaut sie hatte, von wem sie stammte und unter welchen Umständen sie abgegeben wurde". 63 Das Bundesverfassungsgericht nehme lediglich die Überprüfung der Deutung einer Äußerung für sich in Anspruch, weil bereits auf dieser Ebene Vorentscheidungen über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer Äußerung fielen. 64 Abgesehen von diesen jüngeren Differenzierungen hat das Bundesverfassungsgericht den aufgezeigten Nachprüfungsumfang auch auf fachrichterliche Entscheidungen im Zivilrecht und im öffentlichen Recht erstreckt. So heißt es in Sachen Meinungsäußerungsfreiheit über ein oberlandesgerichtliches Unterlassungsurteil, daß „schon bei einer unzutreffenden Erfassung oder Würdigung der grundrechtlich geschützten Äußerung" durch das Zivilgericht eine Grundrechtsverletzung vorliegen könne. Daher müßten insoweit Sachverhaltsfeststellungen und Rechtsanwendungen in diesem Bereich vom Bundesverfassungsgericht vollen Umfanges geprüft werden. 65 Auch gegenüber verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen im Bereich des Art. 5 GG nimmt das Bundesverfassungsgericht eine sich auf die Sachverhaltsfeststellungen erstreckende Kontrollkompetenz in Anspruch. So heißt es in einer Entscheidung über die vom Bundesverwaltungsgericht als rechtmäßig bestätigte Indizierung eines pornographischen Romans, daß sich der verfassungsrechtliche Prüfauftrag „bis in die Einzelheiten der behördlichen und fachgerichtlichen Rechtsanwendungen" erstrecke. Denn der Umfang der Prüfung bestimme sich nach der „Intensität", mit der die angegriffene Entscheidung das betreffende Grundrecht beeinträchtige. Nicht nur bei strafgerichtlichen Ahndungen eines Verhaltens, das unter den Schutz des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG falle, liege ein derart nachhaltiger Eingriff vor. Auch von Entscheidungen anderer Staatsorgane könnten präventive, die Bereitschaft zum Grundrechtsgebrauch hindernde Wirkungen ausgehen, die zu intensiver verfassungsgerichtlicher Kontrolle zwängen.66 Am Anfang einer kritischen Würdigung dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts muß die Feststellung stehen, daß das „Ausgreifen" in die fachrichterlichen Tatsachenfeststellungen innerhalb des dem Bundesverfassungsgericht übertragenden Kompetenzbereichs liegt, da auch Fehler in der fachrichterlichen Tatsachenfeststellung Grundrechtsverletzungen begründen können. Die kritischen Fragen müssen jedoch darauf zielen, ob das Bundesverfassungsgericht sein Kompetenzverständnis mit Blick auf fachrichterliche Tatsachenfeststellungen in einer konsistenten Weise entwickelt und vertretbar begründet hat. In beiden Hinsichten sind vorsichtige Zweifel anzumelden. 63

BVerfGE 93, 266 (296).

64

BVerfGE 93, 266 (295).

65

BVerfGE 82, 272 (280 f.); 85, 1 (14); s. auch schon 43, 130 (136 f.).

66

BVerfGE 83, 130 (145 f.) - Josephine Mutzenbacher.

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Schon der Umstand, daß der fachrichterliche Instanzenzug nicht als ausreichende Gewährleistung einer regelmäßig vertretbaren Tatsachenfeststellung angesehen wird, findet keine einleuchtende Begründung. Die Aussage etwa, daß von Straftirteilen eine so intensive Belastung ausgeht, daß das Bundesverfassungsgericht regelmäßig die Tatsachenfestellungen nachprüfen müsse, leuchtet doch offensichtlich nicht ein. Dagegen ist die auch vom Bundesverfassungsgericht insoweit vertretene Willkürkontrolle durchaus sachlich angemessen: Eine willkürliche - und damit regelmäßig auch zutage liegende - Tatsachenfestellung darf aus Gleichbehandlungs- und Rechtsstaatserwägungen heraus möglichst keinen Bestand haben. Selbst wenn man den Anspruch voller Tatsachenprüfung bei einer Beschränkung auf den Bereich des Strafrechts wegen der Intensität der Sanktionen und wegen der Klarheit des Abgrenzungskriteriums noch akzeptieren wollte, so ist jedenfalls die Generalisierung dieses Ansatzes im Sinne des „Intensitätskriteriums" vor allem mangels Praktikabilität nicht überzeugend. Das Bundesverfassungsgericht fuhrt sein Kriterium mit der Besorgnis um die Wirkkraft des bedeutenden Werkes „Josephine Mutzenbacher" geradezu selbst ad absurdum. Der Umstand, daß dieses „Werk" nach der Indizierung ausschließlich an Erwachsene abgegeben werden durfte, war für die Kunstfreiheit in Deutschland eine Lappalie, aber auch für die Kunstfreiheit des Beschwerdeführers nicht von einer Bedeutung, die das BVerfG in die Gefilde der Tatsachenfeststellungen hätte zwingen müssen. Wenig einleuchtend ist auch, daß das Intensitätskriterium - soweit bislang ersichtlich - (fast) ausschließlich im Bereich von Art. 5 GG Relevanz haben und dort wiederum - nach jüngster Rechtsprechung - nur die verfassungsrechtliche Überprüfung der Deutung der Meinungsäußerung bzw. des Kunstwerkes rechtfertigen soll. Art. 5 GG ist nicht der Nabel der Grundrechts weit und ein fachrichterlicher „Deutungs-Fehler" ist auch nicht schlimmer als ein anderer Tatsachenermittlungsfehler, wie beispielsweise die unzutreffende fachrichterliche Annahme, daß eine Äußerung überhaupt gefallen ist - ein Umstand, den das Bundesverfassungsgericht erklärtermaßen gar nicht prüfen will. Es leuchtet auch nicht ohne weiteres ein, daß die Fachgerichte gerade zur Deutung von Meinungsäußerungen und Kunstwerken auffallend schlecht geeignet sein sollten, so daß sich von daher eine regelmäßige Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht empfehlen würde. Gerade der damit insbesondere angesprochene Soldaten sind Mörder-Beschluß gibt aber auch Anlaß, die Entwicklung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Kontrolle fachrichterlicher Tatsachenfeststellungen in einem neuen Lichte zu sehen: Der erklärte Rückzug auf die „Deutungs-Kontrolle" ist ein sehr wichtiger, erster Schritt zur Bereinigung dieses Kompetenzkonflikts. Dabei sollte es leichtfallen, noch einen Schritt weiterzugehen: Im Kern scheint es dem Gericht - mit Recht - darum zu gehen, daß gerade der Schutz der Meinungsäußerungs-

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freiheit und der Schutz der Kunstfreiheit spezifische Anforderungen an das beschränkende (Kollisions-)Recht stellt. Im Soldaten sind Mörder-Beschluß ging es dem Bundesverfassungsgericht darum, daß es aus Gründen des Grundrechtsschutzes unzulässig ist, nur eine ganz naheliegende Deutung einer Äußerung in Betracht zu ziehen. Damit ist jedoch gar keine Frage richtiger oder falscher Tatsachenermittlungen durch das Fachgericht angesprochen, sondern eine (Grundrechts-)Frage danach, welche Anforderungen grundrechtsbeschränkende Rechtssätze wie § 185 StGB an die Deutung von Äußerungen stellen müssen, damit die Meinungsäußerungsfreiheit in Kollision mit anderen Grundrechten einen angemessenen Stellenwert erhält. Somit geht es nicht um die fachrichterliche Tatsachenfestellung, sondern um die fachrichterliche Gesetzesauslegung, die dann die fachrichterliche Tatsachenfeststellung auf die richtigen Pfade weisen würde. Auf eine Nachprüfung dessen, ob das Fachgericht letztlich die richterliche Deutungsaufgabe im Sinne der Aufgabe der Tatsachenfeststellung angemessen erfüllt habe, könnte und sollte das Bundesverfassungsgericht verzichten. Eine weitere Klarstellung ist noch hinzuzufügen: Wenn das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit seiner „Intensitäts"-Rechtsprechung immer wieder betont, daß die „Auslegung" (und Anwendung) des einfachen Rechts zu prüfen sei, 67 so dürfte dies eine mißverständliche Beschreibung der in Anspruch genommenen Nachprüfungskompetenz darstellen. Ausweislich der zitierten Entscheidungen geht es nämlich nicht darum, daß anhand des Methodenkanons Auslegungsfehler ermittelt werden sollen. Insofern bleibt es durchaus bei der oben gegebenen Darstellung einer zurückhaltenden Kontrolle der richterlichen Rechtsfindungsmethode. In den hier angesprochenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts geht es vielmehr um die Prüfung, ob die entscheidungstragende Norm in der fachrichterlichen Deutung (= „Auslegung des einfachen Gesetzesrechts") einen vertretbaren Ausgleich zwischen kollidierendem Verfassungsrecht darstellt. Es geht mithin einfach um die oben näher behandelte, dem Bundesverfassungsgericht ohne weiteres als zentrale Aufgabe zustehende Prüfung der Verfassungskonformität der fachgerichtlich entscheidungstragenden Norm. Wenn das Bundesverfassungsgericht dabei im Kontext seiner IntensitätsRechtsprechung betont, daß es befugt sei, unter Umständen seine Abwägung an die Stelle deijenigen der Fachgerichtsbarkeit zu setzen,68 so ist das völlig zutreffend und hat an sich mit einer spezifischen Kontrollintensität nichts zu tun. Zwar läßt sich in der Regel nicht die verfassungsrechtlich allein richtige Kollisionsentscheidung bestimmen; jedoch sind solche Fälle für bestimmte Kollisionslagen durchaus denkbar. 67 „Bei dieser Sachlage können ... auch einzelne Auslegungsfehler nicht außer Betracht bleiben": BVerfGE 60, 79 (91); s. ferner: 77, 240 (250 f.); 75, 369 (376); 67, 213 (223); 43, 130 (136); s. schon oben bei Fn. 29. 68

S. z.B. BVerfGE 42, 143 (149).

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I I I . Bilanz und Ausblick 1. Der begründungstheoretische Ausgangspunkt Alle Bemühungen um eine Klärung des Verhältnisses von Fachgerichtsbarkeit und Bundesverfassungsgericht müssen einen begründungstheoretischen Ausgangspunkt wählen. Betrachtet man danach die eine fachrichterliche Entscheidung tragenden Prämissenarten und deren potentiellen Einfluß auf die Verfassungskonformität der gerichtlichen Entscheidung, so ergibt sich, daß eine grundrechtsbeeinträchtigende fachrichterliche Entscheidung immer schon dann eine Grundrechtsverletzung darstellt, wenn (1) entweder ein entscheidungstragender Rechtssatz formell verfassungswidrig ist, (2) oder mindestens ein entscheidungstragender Rechtssatz in der vom Fachgericht gewählten Deutung materiell verfassungswidrig ist, (3) oder ein fachrichterlich entscheidungstragender Rechtssatz nicht im Rahmen der Bindung der Richter an Gesetz und Recht „gefunden" worden ist, (4) oder wenn schließlich die Tatsachenfeststellungen unzutreffend sind. Da das Bundesverfassungsgericht weder Superrevisions- noch Superberufungsinstanz sein will und soll, schränkt es sein Prüfprogramm gegenüber den begründungstheoretisch aufgezeigten möglichen fachrichterlichen Verfassungsverstößen ein. 2. Das konsolidierte Prüfprogramm Im Kern hat das Bundesverfassungsgericht ein konsolidiertes und einleuchtend restriktiv gefaßtes Prüfprogramm entwickelt. Sieht man von der insgesamt etwas unbefriedigenden, weil seit BVerfGE 18, 85 (92) mitgeschleppten und mit unübersichtlichen Erweiterungen versehenen, Standardformulierung des verfassungsgerichtlichen Kontrollmaßstabes ab, so ergibt sich ein klarer Dreischritt. Das Bundesverfassungsgericht prüft, ob (1) die entscheidungstragende Norm in der Deutung des Fachgerichts formell und materiell verfassungsmäßig ist, (2) diese entscheidungstragende Norm unter Beachtung der - in den drei Rechtsgebieten unterschiedlich strengen — richterlichen Bindung an Gesetz und Recht gefunden worden ist und (3) die Tatsachenfeststellungen willkürfrei erfolgt bzw. - bei hoher Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung - zutreffend sind.

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Diesen drei Prüfschritten sind spezifische Kontrollzurückhaltungen des Bundesverfassungsgerichts zuzuordnen: (1)* Bei der Prüfung der materiellen Verfassungsmäßigkeit der entscheidungstragenden Normen respektiert das Bundesverfassungsgericht gegebenenfalls den Abwägungsspielraum des Gesetzgebers bzw. des Fachgerichts im Falle von Grundrechtskollisionsrecht und insbesondere im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Es ersetzt daher eine fachrichterliche Abwägung nicht schon dann durch die eigene, wenn es selbst die verfassungsrechtlichen Akzente anders gesetzt hätte. (2)* Das Bundesverfassungsgericht prüft die vom Fachgericht verwendete Rechtsfindungsmethode nicht ins einzelne gehend, sondern nur daraufhin, ob das Fachgericht seine rechtsgebietsspezifische Bindung an Gesetz und Recht grundsätzlich beachtet hat. Deshalb entscheidet das Bundesverfassungsgericht auch nicht über die fachrechtlich richtige Gesetzesauslegung. (3)* Grundsätzlich prüft das Bundesverfassungsgericht die fachrichterliche Tatsachenfeststellung nicht nach. Es begnügt sich mit einer Willkürkontrolle. Selbst im Bereich seiner „Intensitäts"-Rechtsprechung beschränkt das undesverfassungsgericht seine Prüfung (neuerdings) darauf, ob die fachrichterliche Deutung einer Meinungsäußerung bzw. eines Kunstwerkes zutreffend ist. 3. Irritationen So wichtig es ist, den klaren Kern der verfassungsgerichtlichen Kontrolle fachgerichterlicher Entscheidungen herauszustellen, so wenig können andererseits einige irritierende Momente des Prüfprogramms und der Prüfpraxis außer acht bleiben: (1) Nicht immer wird hinreichend klar die Rekonstruktion der fachgerichtlich entscheidungstragenden Norm als solche gekennzeichnet, so daß in der Literatur gelegentlich der - in der Regel unzutreffende — Eindruck einer Einmischung in die fachrichterliche, einfachrechtliche Gesetzesauslegung entsteht. (2) Eher selten wird hinreichend deutlich, daß die entscheidungstragende fachgerichtliche Norm „ganz normal" auf Grundrechtskonformität geprüft wird. Wesentlich verantwortlich für die Unklarheit scheint noch immer der Ballast der sogenannten Drittwirkungsproblematik im Zivilrecht zu sein. Erst neuerdings sieht das Bundesverfassungsgericht deutlich, daß hier im Grundsätzlichen keinerlei Sonderproblematik vorliegt, sondern sowohl der Gesetzgeber des Zivilrechts wie auch die Zivilgerichte gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte mit der Folge gebunden sind, daß sie regelmäßig Grundrechtskollisionslösungen zu suchen haben, die vom Bundesverfassungsgericht in üblicher Weise zu überprüfen sind.

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(3) Die Entscheidungssequenz zur Kontrolle der fachgerichtlichen Rechtsfindungsmethode bietet Anlaß für Irritationen. Das Bundesverfassungsgericht sollte sich bei Gelegenheit von der Soraya-Entscheidung distanzieren. Sie billigt zu Unrecht eine den Willen des Parlaments offenkundig mißachtende contralegem-Judikatur des BGH. Überhaupt sind gerade die Ausführungen zur Rechtsfindungsmethode im Zivilrecht noch zu unklar. Daß eine Rechtsfortbildung im Zivilrecht dann zulässig sei, wenn sie dem geschädigten Grundrechtsträger zuträglich ist, verkennt die Reziprozität von Schaden und Nutzen in den zivilrechtlichen Grundrechtskollisionslagen. Für Mißverständnisse sorgt auch die im Rahmen der „Intensitäts"-Rechtsprechung entwickelte Behauptung, das Bundesverfassungsgericht prüfe in diesen Fällen die einfachrechtliche Auslegung bis ins einzelne gehend. Das steht zunächst einmal - sozusagen programmatisch - im Gegensatz zu der soeben erörterten Sequenz über die zurückhaltende Kontrolle der richterlichen Rechtsfindungsmethode. Es trifft aber auch in der Sache nicht zu, weil das Bundesverfassungsgericht in seiner im wesentlichen Art. 5 GG betreffenden „Intensitäts"-Rechtsprechung in Wahrheit die fachrichterlichen Normen auf die Angemessenheit der in ihnen zum Ausdruck kommenden Grundrechtskollisionslösung hin überprüft. Diese Prüfung rechnet zum Kernbestand der verfassungsgerichtlichen Aufgabe und hat mit den richterlichen Rechtsfindungsmethoden im übrigen nichts zu tun. (4) Das Bundesverfassungsgericht sollte die Überprüfung der fachrichterlichen Tatsachenfeststellung auf die Willkürfrage zurücknehmen. In der neuen „Intensitäts"- Rechtsprechung - die unter vielerlei Gesichtspunkten nicht sonderlich einleuchtend erscheint - ist ohnehin der Rückzug auf die „DeutungsHerrschaft" für Meinungsäußerungen und Kunstwerke erfolgt. Bei angemessenen verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Bewältigung der Deutungsaufgabe kann diese selbst getrost der Fachgerichtsbarkeit überlassen werden. 4. Kritik in der Literatur Soweit die in den letzten Jahren teils heftige, teils sogar jedes Maß verlierende Kritik am Bundesverfassungsgericht 69 nicht ersichtlich bloß vordergründiger politischer Erregung geschuldet war, sondern tatsächlich den Sachproblemen u.a. im Verhältnis von Fachgerichten und Bundesverfassungsgericht gilt, hat sie jedenfalls grundlegende Fehlentwicklungen im Prüfprogramm des Bundesverfassungsgerichts nicht aufzeigen können:

69 Nachweise und Kritik bei Schulze-Fielitz, Zeitgeists, AöR 122 (1997), 1.

Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des

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(1) In der Literatur wird nicht immer mit der erforderlichen Deutlichkeit erkannt, daß aus begründungstheoretischer Perspektive nur eine umfassende Prüfung fachrichterlicher Judikate geeignet ist, Grundrechtsverletzungen zu verhindern. (2) Von allen Seiten unbestritten ist jedoch, daß das Bundesverfassungsgericht seine Prüfaufgabe restriktiv verstehen soll. Die Aufgaben einer weiteren Berufungs- und Revisionsinstanz soll und will es nicht wahrnehmen. Im Gegensatz zu den insgesamt klaren Konturen, die das Bundesverfassungsgericht seinem Prüfanspruch inzwischen gegeben hat, erscheint die entsprechende konzeptionelle Arbeit in der Literatur wenig ertragreich. (3) Nichts spricht für den Vorschlag, auf Kooperation statt auf ein Prüfkonzept zu setzen. Man darf allerdings auch keine übersteigerten, praktisch gar nicht erforderlichen Erwartungen an die Trennschärfe eines Prüfprogramms richten. Das Kontrollkonzept des Bundesverfassungsgerichts - wie es im vorliegenden Beitrag herausgearbeitet worden ist - gibt eine hinreichend präzise Orientierung und würde mit den hier unterbreiteten Vorschlägen noch an Prägnanz (und Zurückhaltung) gewinnen. (4) Der neuere zivilistische Fundamentalismus - subtil und glänzend präsentiert von Uwe Diederichsen - überzeugt jedenfalls in den zentralen Thesen nicht. Unter Geltung des Grundgesetzes gibt es keine „Souveränität des Zivilrechts", eine Art der „Doppelherrschaft" von Zivilrecht und Verfassungsrecht. Hinter die insofern grundlegenden Einsichten in die Schutzpflichtendimension der Grundrechte führt - entgegen auch vereinzelter Stimmen aus dem Bereich des öffentlichen Rechts — kein argumentativ vertretbarer Weg zurück. Der eingeforderte Respekt vor dem Zivilrecht versteht sich dagegen von selbst, und zwar in dem Sinne, daß die Problemlösungen des Zivilrechts nur nach sorgfaltiger Analyse als unter Umständen verfassungswidrig zur Seite geschoben werden sollten. Das entspricht allerdings auch schon der heutigen Prüfpraxis des Bundesverfassungsgerichts. Einzelne Fehlgriffe schließt dies nicht aus. Im übrigen überzeichnet Diederichsen auch die scheinbare Neutralität der vermeintlich allein der Natur der Sache geschuldeten Problemlösungen des Zivilrechts. Natur der Sache einerseits und Interessentendruck andererseits prägen das Zivilrecht ebenso wie andere Rechtsgebiete. Auch mit dem Zivilrecht wird massiv Gesellschaftspolitik betrieben, die sich allerdings im Rahmen der Verfassung halten muß. (5) Unvermeidlich und sachlich geboten bleibt die verfassungsgerichtliche Kontrolle der entscheidungstragenden Norm des angegriffenen fachrichterlichen Judikats. Diese Kontrolle kann gar nicht ohne Abwägung unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen. Diese Abwägung kann wegen notwendiger Wertungselemente allerdings nur begrenzt in Anspruch nehmen, zu intersubjektiv zwingend begründbaren Ergebnissen zu führen. Die Chancen der

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Rationalität, die gleichwohl in der durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz disziplinierten Abwägung liegen, müssen wahrgenommen werden. Eine Alternative gibt es nicht. Die Kritiker der Abwägung und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes haben buchstäblich nichts als Alternative zu bieten. Es bleibt ihnen - das sollten sie sich eingestehen - nur der Verzicht auf die Maßstäblichkeit der Grundrechte für das Handeln der staatlichen Gewalten überhaupt. (6) Berechtigt erscheint dagegen die Kritik an einer durch die WertordnungsJudikatur des Bundesverfassungsgerichts veranlaßten pauschalen Abwägung von Grundrechtspositionen, die nicht in den Blick nimmt, ob Schutz vor staatlichen Eingriffen oder Schutz durch den Staat vor Beeinträchtigungen Dritter begehrt werden. Bei Beachtung dieser Differenzierung kann das Bundesverfassungsgericht seine erklärte Zurückhaltung gegenüber fachrichterlichen Abwägungen noch klarer handhaben. 5. Ergebnis Insgesamt kann der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein hinreichend klares, in wichtigen Aspekten von Zurückhaltung gegenüber den Fachgerichten geprägtes Prüfprogramm entnommen werden. Ein grundlegender Kurswechsel ist nicht angezeigt. Im einzelnen sind einige Klarstellungen und Korrekturen wünschenswert. Das Wertordnungs-Vokabular, das durchaus zur Fehlsteuerung von Abwägungsentscheidungen führen kann, sollte zugunsten des Schutzpflichtenkonzepts aufgegeben werden. Dies würde zu klaren Kontrollzurückhaltungen führen. Hinsichtlich der Überprüfung der richterlichen Rechtsfindungsmethode erscheint eine Verdeutlichung der inzwischen gefundenen Linie wünschenswert. Der Rückzug von der Überprüfung fachrichterlicher (Sachverhalts-)Deutungen von Äußerungen und Kunstwerken drängt sich im übrigen als sachgerecht auf. Die Überlastung des Bundesverfassungsgerichts kann nicht durch „Verbiegungen" des insgesamt überzeugenden Prüfungsprogramms abgebaut werden, sondern durch die Einführung einer Beschwerdeannahme nach Ermessen. 70 V. Anhang: Hinweise zum Gutachtenaufbau Die äußerst vielschichtige und kontroverse Diskussion um Prüfkompetenz und Prüfkonzept des Bundesverfassungsgerichts in Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen Gerichtsentscheidungen fuhrt - wie im Universitätsunterricht zu beobachten - zu erheblichen Unsicherheiten in Fragen des Gutachtenaufbaus. Bei einer Verweigerung von gelegentlich als „unwissenschaftlich" abgeta70 Dies ist der zentrale Vorschlag der Benda-Kommission, Entlastung des Bundesverfassungsgerichts, 1998, S. 32 ff., Sondervotum Graßhoff.\ S. 139 ff.

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nen „sturen" Schemata darf es nicht bleiben. Auch — oder sogar gerade - die Wissenschaft sollte sich darin bewähren, tiefgründige Diskussionen in klare, entscheidungsbezogene Begründungsstrukturen „übersetzen" zu können. Dieser in Universitäts-Übungen erprobte Versuch soll auch nachfolgend gewagt werden. Zunächst soll Schaubild 1 eine grundsätzliche Orientierung über die möglichen Verläufe geben, die Verfassungsbeschwerden gegen eine Gerichtsentscheidung nehmen können. Dabei wird unter Außerachtlassung vieler Einzelheiten die zentrale Problematik einer solchen Verfassungsbeschwerde in den Blickpunkt gerückt, nämlich die Prüfung des die fachrichterliche Entscheidung tragenden Rechtssatzes in der Interpretation, die das Fachgericht ihm gegeben hat. Deutlich wird im Schaubild, daß ein positives Ergebnis dieser Rechtssatzkontrolle zwingend zur Frage nach der fachrichterlichen Rechtsfindungsmethode führt, ein negatives Ergebnis zum Problem der verfassungskonformen Auslegung, das im vorliegenden Beitrag nicht behandelt worden ist.

Verfassungsbeschwerde gegen eine Gerichtsentscheidung: Verhältnis von Fachgericht und Bundesverfassungsgericht (Umfang der Überprüfungskompetenz) Die gesetzliche Norm in der Deutung des Fachgerichts i verfassungsmäßig

verfassungswidrig

i

4

Rechtsfindungsmethode o.k.? E 18, 85 (92): wird „eigentlich" nicht geprüft; inzwischen doch; vgl. E 34, 269; 34, 293; 49, 304; 65, 182; 71, 108; 82, 6

Ist mindestens eine verfassungskonforme Auslegung möglich? I ja: Gerichtsentscheidung(en) wird (werden) aufgehoben; gesetzliche Norm natürlich gültig, z.B.: E 86, 28; E 7, 198 (Lüth)

nein: Norm wird für nichtig erklärt, Gerichtsentscheidungen grundsätzlich aufgehoben (s. aber auch § 79 BVerfGG); Ausnahme: „Übergangsrecht" kann auch die „eigentlich" nichtige Norm sein: s. für viele E 82, 126

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Schaubild 2 bietet nun eine detaillierte Darstellung der gutachtlichen Begründungsanforderungen, wobei dieses Schema so angelegt ist, daß damit die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „eingefangen" wird, zugleich jedoch abweichenden Ansichten zur Kontrollkompetenz Rechnung getragen werden kann.

Prüfungsaufbau: Verfassungsbeschwerde gegen eine Gerichtsentscheidung A. Zulässigkeit B. Begründetheit I. Schutzbereich des Grundrechts II. Grundrechtsbeeinträchtigung durch: 1. Tenor (evtl. mit Gründen) 2. Gründe 3. Verfahren III. Rechtfertigung 1. Ist der vom Fachgericht zugrundegelegte Rechtssatz in der fachrichterlichen Interpretation verfassungskonform? (sog. Schumann-Formel) a) formell b) materiell aa) bb) cc) dd) ee) ff) gg) hh)

Anforderungen des jeweiligen Gesetzesvorbehalts Grundrechtskollisionsgesetz Parlamentsvorbehalt Verhältnismäßgkeitsgrundsatz (Art. 1 III GG und Rechtsstaatsprinzip) Wesensgehalt (Art. 19 II GG) Einzelfallgesetz Zitiergebot (Art. 19 I 2 GG) Bestimmtheitsgebot (Rechtsstaatsprinzip)

2. Rechtsfindungsmethode des Fachgerichts im Rahmen der Bindung des Richters an das Gesetz? 3. Sachverhaltsannahmen des Fachgerichts willkürlich?

Einige Erläuterungen mögen hilfreich sein: (1) Die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ist in üblicher Form abzuhandeln. Spezielle Ausfuhrungen dazu, daß etwa eine zivilgerichtliche Entscheidung angefochten wird, sollten äußerst kurz gehalten werden. Auch die Zivilgerichte sind an

Bundesverfassungsgericht und Fachgerichte

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die Grundrechte gebunden. Üppige Ausfuhrungen zur Drittwirkungsproblematik sind nach keiner der heute in der Sache vertretenen Ansichten angezeigt. Fragen über eine Beschränkung der Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts gehören im übrigen erst in die Begründetheitsprüfung. (2) Hinsichtlich der Frage nach einer möglichen Schutzbereichsbeeinträchtigung (Eingriff) durch die Gerichtsentscheidung ist sorgfaltig zu differenzieren. Drei Möglichkeiten sind in Betracht zu ziehen: - Eine Grundrechtsbeeinträchtigung kann sich aus dem Tenor (evtl. interpretiert mit Hilfe der Gründe) des fachrichterlichen Entscheids ergeben. Wenn z.B. in der Sache Lüth das Landgericht Hamburg dem beklagten Lüth bestimmte Äußerungen unter Androhung einer Geld- oder Haftstrafe untersagt hat, so stellt dieses singuläre richterliche Sollensurteil offensichtlich einen Grundrechtseingriff dar, weil ein durch den Schutzbereich des Art. 5 GG grundsätzlich erlaubtes Verhalten verboten wird. - Eine Grundrechtsbeeinträchtigung kann sich aber auch aus der gerichtlichen Verfahrensgestaltung ergeben, etwa wenn der in Art. 103 Abs. 1 gewährleistete Anspruch auf rechtliches Gehör versagt worden ist. - Schließlich kann - ausnahmsweise - eine Grundrechtsbeeinträchtigung auch allein in den Entscheidungsgründen des fachrichterlichen Judikats liegen.71 (3) Wesentlich ist nun der „Einstieg" in die Rechtfertigungsprüfung. Hier (III. vor 1.) ist gutachtlich das Prüfprogramm zu formulieren, demzufolge sich das Bundesverfassungsgericht spezifische Restriktionen auferlegt bzw. auferlegen muß. Als „Standard-Programm" werden die Prüfschritte (1.) bis (3.) aufzuführen sein. Einzelheiten zu diesen drei Prüfungsmaßstäben sollten erst bei den jeweiligen Erörterungen präzisiert werden. (4) Das Schumann-Kriterium (III.l.) kann in dieser oder jener Standardformulierung verwendet werden. Es muß allerdings deutlich werden, daß eine Normdeutung des Fachgerichts zugrunde gelegt wird. Diese muß im übrigen auch sorgfaltig herausgearbeitet werden. Wer bei Normen des Zivilrechts eine Kontrollrestriktion im Sinne des neueren zivilistischen „Fundamentalismus" für richtig hält, muß hier Farbe bekennen und irgendwelche „Prüfprivilegien" für zivilrechtliche Normen einführen, wie beispielsweise die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit (so Diederichsen). Im übrigen ist zu den Teilschritten als Elementen des Schumann-Kriteriums wenig zu bemerken. Hervorzuheben ist aber immerhin, daß die Verhältnismäßigkeitsprüfung (Ill.l.b.dd) regelmäßig auf Grundrechtskollisionslagen trifft. Insbesondere dabei, aber generell bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist der sich aus dem materiellen Verfassungsrecht ergebende Entscheidungsspielraum zu beachten, den auch das Bundesverfassungsgericht respektiert und respektieren muß: Entscheidend ist allein, ob der zu prüfende Rechtssatz in der Deutung des Fachgerichts einen vertretbaren Ausgleich in einer Kollisionslage herstellt, mag man sich auch selbst einen anderen Ausgleich als wünschenswerter vorstellen.

71

BVerfGE 6, 7 (9); 28, 151 (160); es ging in beiden Fällen um strafgerichtliche Freisprüche, deren Entscheidungsgründe sehr negative Äußerungen über den freigesprochenen Angeklagten enthielten.

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Hans-Joachim Koch

(5) Bei der Prüfung der Rechtsfindungsmethode des Fachgerichts ist eingangs zu bemerken, daß es nicht darum geht, die Anwendung der Methode durch die Fachgerichte ins einzelne gehend zu überprüfen, sondern nur darum, festzustellen, ob das Fachgericht sich grundsätzlich im Rahmen der Gesetzesbindung bewegt, also etwa keine strafbegründende Analogie gewählt hat. (6) Hinsichtlich der Überprüfung der fachrichterlichen Tatsachenfeststellungen muß Ihre „Linie" bei III.3. näher festgelegt werden. Der Anspruch des Bundesverfassungsgerichts, im Bereich von Art. 5 GG die „Deutung" von Meinungsäußerungen und Kunstwerken selbst vorzunehmen, sollte - wenn fallrelevant - zustimmend oder ablehnend behandelt werden. (7) Das Gesamtschema ist am quantitativ häufigsten Standardfall orientiert, nämlich an dem Fall, daß das Fachgericht eine Grundrechtsbeeinträchtigung des Beschwerdeführers herbeigeführt hat. Die Fälle, in denen der Bf. die fachrichterliche Entscheidung mit der Begründung anficht, daß das Gericht die Grundrechte des Beschwerdefuhrers nicht entsprechend den grundrechtlichen Schutzpflichten hinreichend schütze, erfordern einen partiell anderen Aufbau. Insbesondere müssen Sie zunächst die Schutzpflichtenproblematik als solche erkennen. Sodann ist statt einer Grundrechtsbeeinträchtigung durch das Gericht (II.) der unzureichende Schutz vor Beeinträchtigungen durch Dritte darzutun. Im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung (III.) ist zu fragen, ob die fachrichterlich entscheidungstragende Norm in der Interpretation durch das Fachgericht gegen die Schutzpflichtendimension des betreffenden Grundrechts verstößt. Dabei ist auf die eher restriktive Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Bejahung einer Schutzpflichtenverletzung, aber auch auf das Untermaßverbot als Grenze staatlicher Schutzverweigerung einzugehen72.

72

Hilfreich auch fiir den Aufbau BVerfGE 89, 276 (286 ff.).

Die Lehre vom Grundrechtsverzicht und ihre „Ausstrahlung" auf das Privatrecht Von Reinhard Singer

Zivilrecht und Verfassungsrecht berühren sich am engsten dort, wo die Verfassung als höherrangiges Recht über die sog. Drittwirkung der Grundrechte auf das Bürgerliche Recht „ausstrahlt". Ein verhältnismäßig neuer Aspekt dieser Ausstrahlungswirkung gilt der Frage, ob die Lehre vom Grundrechtsverzicht für Grenzziehungen auf dem Gebiet der Privatautonomie nützlich sein kann. Dabei stößt man nicht nur auf ein breites Spektrum von Grundrechtstheorien, sondern auch auf eine Reihe bedeutender Abhandlungen von Bernd Jeand'Heur, der die Diskussion durch eine eigenständige Konzeption bereichert hat.1 Da wir vor allem über dieses Thema manches Gespräch gefuhrt haben, seien dem auf so tragische Weise aus unserer Mitte geschiedenen, lieben Freund und Kollegen einige Zeilen gewidmet, die er vielleicht mit Interesse, gewiß aber mit Nachsicht gegenüber dem fachfernen Autor gelesen hätte. Das Thema Grundrechtsverzicht hat im privatrechtlichen Schrifttum erst in jüngster Zeit Beachtung gefunden. 2 Die Tatsache, daß dies überhaupt geschieht, verdanken wir dem Bundesverfassungsgericht, das mit seinen Entscheidungen zum Wettbewerbsverbot für Handelsvertreter und zu den Bürgschaften vermögensloser Familienangehöriger die Frage nach den Voraussetzungen und Grenzen bürgerlich-rechtlicher Vertragsfreiheit erstmals aus der Perspektive der grundrechtlichen Verbürgung dieser Freiheit betrachtete und bewertete.3 Von hier aus ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, den Abschluß privatrechtlicher Verträge nicht nur als Grundrechtsgebrauch, sondern auch als Grundrechts1 Jeand'Heur, Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum Wohl des Kindes und staatliche Interventionspflichten aus der Garantienorm des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, 1993, insb. S. 84 ff.; ders., Grundrechte im Spannungsverhältnis zwischen subjektiven Freiheitsgarantien und objektiven Grundsatznormen, JZ 1995, 161 ff.; vgl. auch schon dens., Methodische Analyse, freiheitsrechtliche und leistungsrechtliche Konsequenzen des Finanzhilfe-Urteils, in: Müller (Hrsg.), Zukunftsperspektiven der Freien Schule, 1988, S. 67 ff. (2. Aufl. 1996, S. 47 ff.). 2

Vgl. insb. Zöllner, Regelungsspielräume im Schuldvertragsrecht, AcP 196 (1996), 1 (12 f. u. 36) mit Hinweis auf eine im Entstehen begriffene Monographie von Hans Hanau; zuvor auch schon Singer, Vertragsfreiheit, Grundrechte und der Schutz des Menschen vor sich selbst, JZ 1995, 1133 (1139 Fn. 84); neuerdings Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 1998, S. 166 ff., 281 ff. 3

BVerfGE 81, 242 (254 ff.); 89, 214 (229 ff.).

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Reinhard Singer

verzieht zu deuten. Im öffentlich-rechtlichen Schrifttum hat man schon früher im privatrechtlichen Handeln einen Anwendungsfall des Grundrechtsverzichts gesehen,4 so daß es in der Tat reizvoll erscheinen muß, die in den jeweiligen Fachgebieten gewonnenen Erkenntnisse zu vergleichen und womöglich auf wechselseitige Impulse zu hoffen. Aus zivilrechtlicher Sicht sind diese bisher negativ. Wolfgang Zöllner geht davon aus, daß privatrechtliche Verträge so lange als gültig anzusehen seien, wie nicht die Unwirksamkeit eines Grundrechtsverzichts angenommen werden könnte. „Das aber wäre für die meisten Vertragslagen - selbst im Arbeitsverhältnis - zu verneinen", lautet sein apodiktisches Urteil. 5 Eine intensivere Auseinandersetzung, die auch das öffentlichrechtliche Schrifttum einbezieht, steht indessen noch aus.6 Wirft man einen Blick auf den gegenwärtigen Stand der Lehre vom Grundrechtsverzicht, muß man allerdings skeptisch sein, ob sich für die Zivilrechtsdogmatik nutzbringende Erkenntnisse ergeben können. Allenthalben wird versichert, daß „vieles" dogmatisch noch „ungeklärt" 7 oder „nur teilweise ausgelotet" 8 sei. Während manche sogar die Zulässigkeit eines Grundrechts Verzichts bestreiten, 9 geht es für die meisten Autoren um dessen Grenzen. 10 Diese lassen sich freilich ähnlich schwer bestimmen wie die Grenzen der Privatautonomie.

I. Erscheinungsformen des Grundrechtsverzichts in der Rechtspraxis Die Frage, in welchem Umfang ein Verzicht auf Grundrechtspositionen zulässig ist, läuft darauf hinaus, ob die Grundrechte nur Einwirkungen gegen den Willen des Betroffenen verbieten oder auch solche, mit denen er einver4 Vgl. Pietzcker , Der Staat 17 (1978) S. 527 (544 ff.); Robbers, Der Grundrechtsverzicht, JuS 1985, 925 (930); Bleckmann , Probleme des Grundrechtsverzichts, JZ 1988, 57 (61 f.); vgl. auch schon Dürig , Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, AöR 81 (1956), 117 (153). 5

Zöllner (Fn. 2), S. 13.

6

Eine vertiefte Erörterung bietet nunmehr die oben (Fn. 2) erwähnte Habilitationsschrift von Neuner ; die nach Fertigstellung des Manuskripts erschienene Arbeit unterscheidet zunächst grundsätzlich zwischen unverzichtbaren liberalen und verzichtbaren sozialen Grundrechten und zieht dann eine weitere Grenze bei dem Kernbereich unveräußerlicher sozialer Menschenrechte (ebd., S. 166 f., 282 ff.). 7

Robbers (Fn. 4), S. 926.

8

Bleckmann (Fn. 4), S. 57.

9

Sturm , Probleme eines Verzichts auf Grundrechte, in: FS Geiger 1974, S. 173 (198); Bußfeld , Zum Verzicht im öffentlichen Recht am Beispiel des Verzichts auf eine Fahrerlaubnis, DÖV 1976, 765 (770 f.). 10

Vgl. insb. Pietzcker (Fn. 4), S. 542 ff.; Amelung , Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, 1981, S. 31 ff.; Robbers (Fn. 4), S. 928 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/2, 1994, § 86 III.

Die Lehre vom Grundrechtsverzicht und das Privatrecht

173

standen ist. 11 Die Rechtsprechung hat sich bisher mit den unterschiedlichsten Erscheinungsformen solcher Grundrechtseingriffe befaßt, die nicht gegen den Willen des Rechtsinhabers vorgenommen werden, teilweise sogar seinem ausdrücklich erklärten Wunsch entsprechen. Allerdings sind die Ergebnisse nicht einheitlich. Anerkannt ist der Verzicht auf Grundrechtspositionen beim Rechtsbehelfsverzicht. 12 Der BGH hat nicht einmal beanstandet, daß sich die Mitglieder einer Bürgerinitiative ihr Einspruchsrecht gegen den Bau eines Kohlekraftwerkes gegen Zahlung von insgesamt 1,9 Mio. D M „abkaufen" ließen.13 Das in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG enthaltene Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Verwendung und Preisgabe seiner persönlichen Daten zu bestimmen.14 Auch das Grundrecht auf Unverletzbarkeit des Fernmeldegeheimnisses ist verzichtbar und gestattet die elektronische Registrierung der dienstlichen Ferngespräche eines Hochschullehrers, wenn dieser die Registrierungspraxis kennt. 15 Prinzipiell zulässig sind Rückzahlungsklauseln für aufgewendete Ausbildungskosten, die in einem öffentlich-rechtlichen Vertrag zwischen Dienstherrn und Auszubildendem vereinbart werden. 16 Auf der anderen Seite haben sich die Gerichte nicht gescheut, sich über die Einwilligung Betroffener hinwegzusetzen und Eingriffe in grundrechtlich geschützte Positionen trotzdem zu verbieten. Zum Teil hat man angenommen, daß öffentliche Belange einer freien Disposition im Wege stehen. Für unzulässig hielt die Rechtsprechung insbesondere den freiwilligen Verzicht auf das Wahlgeheimnis17 und das Versprechen einer Vertragsstrafe für den Fall des Parteiaustritts. 18 Es gibt aber auch Fälle, in denen öffentliche Interessen keine oder nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Hier ging es um den Schutz des Menschen vor sich selbst.19 Spektakuläre Fälle waren die umstrittenen PeepShow-Urteile des Bundesverwaltungsgerichts, das trotz angeblicher Einwilligung der sich zur Schau stellenden Frauen deren Menschenwürde bedroht sah 11 Sachs, Volenti non fit iniuria - Zur Bedeutung des Willens des Betroffenen im Verwaltungsrecht, VerwArch. 76 (1985), 398 (419); Stern (Fn. 10), § 86 II 2, 3 (insb. S. 905 f.). 12

BVerfGE 9, 194 (199).

13

BGHZ 79, 131 (142).

14

BVerfGE 65, 1 (43).

15

OVG Bremen, NJW 1980, 606 f.; zur Wirksamkeit eines Verzichts auf das Post- und Fernmeldegeheimnis vgl. BVerfG, JZ 1965, 66 (67); BayObLG, JZ 1974, 393 (betr. Zulässigkeit einer Fangschaltung). 16

BVerwGE 30, 65 (70 ff.); s. a. BVerwGE 42, 233 (234 ff.).

17

OVG Münster, OVGE 14, 257 (260 f.); OVG Lüneburg, DÖV 1964, 355 f.

18

LG Braunschweig, DVB1 1970, 591 f.

19

Vgl. dazu von Münch, Grundrechtsschutz gegen sich selbst?, in: Hamburg - Deutschland- Europa. FS für Hans Peter Ipsen, 1977, S. 113; Singer (Fn. 2), S. 1133; monographisch Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, 1992; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, 1993; Enderlein, Rechtspaternalismus und Vertragsrecht, 1996.

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Reinhard Singer

und aus diesem Grunde die von den Gewerbeämtern ausgesprochenen Untersagungen aufrechterhielt. 20 Hochaktuell ist erneut die Problematik des Lügendetektors, dessen Einsatz trotz Einwilligung des Angeklagten in die Beeinträchtigung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 vom Bundesverfassungsgericht bisher nicht erlaubt wurde. 21 Zur Zeit sind weitere Verfassungsbeschwerden und Revisionsverfahren anhängig, die ihren Ausgangspunkt in Strafverfahren wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern haben.22 Die Angeklagten sind in diesen Prozessen zumeist in Beweisnot und sehen deshalb in der Anwendung des Polygraphen die einzige Möglichkeit, einen Entlastungsbeweis zu fuhren. Die Erfolgsaussichten ihrer Rechtsmittel sind allem Anschein nach gering. 23 II. Stand der Dogmatik und erste Eingrenzungsversuche Die bisher geführte Diskussion hat gewisse Eckdaten gesichert und erlaubt es, einige taugliche von untauglichen Eingrenzungen zu unterscheiden. Zu den untauglichen - rein begrifflich operierenden - Differenzierungen gehört die zwischen dem Verzicht auf das Grundrecht selbst und dem bloßen Verzicht auf dessen Ausübung. 24 Da beides untrennbar zusammengehört, führen solche „Taschenspielertricks" 25 nicht ernsthaft weiter. Entsprechendes gilt für die Annahme, Freiheitsrechte seien dafür da, damit von ihnen Gebrauch gemacht werde. Da jede in einem Vertrag eingegangene Bindung zwangsläufig die Handlungsfreiheit einschränkt, ist auch die Selbstbeschränkung Ausfluß freiheitlicher Gewährleistung. Grundrechtsverzicht ist seinem Wesen nach auch Grundrechtsgebrauch. 26 20

BVerwGE 64, 274 (277 ff.); 84, 314 (319 ff.).

21

BVerfG, NJW 1982, 375; abweichend nunmehr in der Begründung BGH, NJW 1999, 657, 659. 22 Vgl. Pressemitteilung des BVerfG Nr. 40/97 vom 21.4.1998; Pressemitteilung des BGH Nr. 63a/1998. 23

An ungenügender Substantiierung des Grundrechtsverstoßes scheiterte die jüngste Verfassungsbeschwerde, vgl. BVerfG, Beschluß v. 7.4.1998 - 2 BvR 1827/97 (noch nicht veröffentlicht). Inzwischen sind auch die Revisionsverfahren abgeschlossen. Der BGH lehnt den Beweis mittels Polygraphen als ungeeignet ab; vgl. NJW 1999, 657, 659 ff.; 1999, 662 f. 24 Göldner, Gesetzmäßigkeit und Vertragsfreiheit im Verwaltungsrecht, JZ 1976, 352 (355); differenzierend von Münch (Fn. 19), S. 126 f.: nur der endgültige Verzicht ist unwirksam; ebenso Neuner (Fn. 2), S. 167, 282. - Krit. Sturm (Fn. 9), S. 185; Pietzcker (Fn. 4), 537 f. 25 26

von Münch (Fn. 19), S. 127.

Zutreffend Robbers (Fn. 4), 929. Nach Ansicht von Pietzcker bedeutet dagegen Gebrauchmachen von der Freiheit des Art. 12 GG nicht Grundrechts„verzicht", sondern Grundrechtsverwirklichung (Fn. 4), 544; ebenso Neuner (Fn. 2), S. 166 f., 281. Der Einwand ist insofern berechtigt, als der Freiheitsgebrauch durch die Titulierung als „Grundrechtsverzicht" per se einen negativen Einschlag bekommt, den er nicht (immer) verdient. Der Begriff hat sich freilich nun einmal eingebürgert für solche Grundrechtseingriffe, die mit Einwilligung des Berechtigten erfolgen (oben im Text bei und mit Fn. 11).

Die Lehre vom Grundrechtsverzicht und das Privatrecht

175

Die Frage des Grundrechtsverzichts wird häufig mit dem Gesetzmäßigkeitsprinzip in Verbindung gebracht. 27 Soweit das Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes angesprochen wird, scheint dies allerdings in erster Linie 28 auf staatliche Eingriffe gegen den Willen des Einzelnen zugeschnitten zu sein. Die Funktion des Gesetzesvorbehalts besteht im Schutz der Freiheitsrechte; diese verwirklichen sich aber gerade darin, daß der Einzelne über seine Rechte frei verfugt: volenti non fit iniuria. Auch zeigt die Anerkennung des öffentlich-rechtlichen Vertrages (§ 54 VwVfG), daß sich der staatliche Handlungsspielraum erweitert hat und konsensuale Verfugungen über Grundrechtspositionen vorbehaltlos auch ohne legale Ermächtigung zuläßt.29 Die Anwendung des Gesetzesvorbehalts auf den Grundrechtsverzicht hätte darüber hinaus die absurde Konsequenz, daß sich dessen Zweck, die Freiheit des Einzelnen zu sichern, in sein Gegenteil verkehren und zu einer Einschränkung der Freiheit führen würde. Vollends sinnlos erscheint die Anwendung des Gesetzesvorbehalts bei privatrechtlichen Grundrechtsdispositionen, da der Sinn der Privatautonomie gerade darin besteht, den Betroffenen die Gestaltung ihrer Rechtsverhältnisse selbst zu überlassen und entsprechende Vorbehalte diesem Ziel diametral zuwiderliefen. Grenzen der Selbstbestimmungsfreiheit zeigen sich freilich, wo die Funktionsvoraussetzungen der Selbstbestimmungsfreiheit nicht mehr gewährleistet sind und heteronome Kräfte die Oberhand gewinnen. Im Privatrecht ist dies der Bereich, in dem das Bundesverfassungsgericht belastende Verträge zum Schutze der Selbstbestimmung für unwirksam erklärt hat. 30 Es liegt nahe, insoweit auch eine Schranke des Grundrechtsverzichts zu vermuten. 31 Für manche markiert nicht der Vorbehalt, sondern der Vorrang des Gesetzes eine maßgebliche Grenze des Grundrechtsverzichts. 32 Klassische Beispiele sind etwa das Verbot bestimmter Vernehmungsmethoden gemäß § 136a StPO, durch das die Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung „ohne Rücksicht auf die Einwilligung des Beschuldigten" (Abs. 3) geschützt wird. § 216 StGB gehört auch dazu, da sich der Täter trotz Einwilligung des Getöteten strafbar macht,33 ebenso § 228 StGB, der die Einwilligung in eine Körperverlet27

Vgl. dazu Sachs (Fn. 11), S. 412 ff; Pietzcker (Fn. 4), 534 ff.; Bleckmann (Fn. 4), 60 ff.

28

Nicht einschlägig ist im vorliegenden Zusammenhang der sog. Parlamentsvorbehalt (vgl. dazu BVerfGE 47, 46 [80]), da dessen rechtsstaatlich-demokratische Funktion bei solchen individuellen Gestaltungsformen wie dem Grundrechtsverzicht nicht zum Tragen kommt, vgl. Stern (Fn. 10), S. 920. S.a. Robbers (Fn. 4), S. 929; Bleckmann (Fn. 4), S. 60. 29

Stern (Fn. 10), S. 910.

10

Oben Fn. 3.

31

Vgl. auch Bleckmann (Fn. 4), S. 61 f., der folgerichtig den Vorbehalt des Gesetzes hier wieder aufleben läßt. 32 33

Insb. Pietzcker

(Fn. 4), S. 535 f.; s. ferner Robbers (Fn. 4), S. 929 f.

Die Klarstellung von Zöllner (Fn. 2), S. 11 Fn. 40, das Verbot richte sich nicht gegen den seinen Tod Verlangenden, sondern gegen Dritte, die dabei nicht helfen sollen, ist zwar richtig, ändert aber nichts daran, daß der Gesetzgeber gegen den Willen des Rechtsgutinhabers schützt.

Reinhard Singer

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zung unter den Vorbehalt der Sittenkonformität stellt. Die Vorschriften über die Schutzhelm- und Gurtanlegepflicht (§ 21a StVO) schränken die Selbstbestimmung der Verkehrsteilnehmer durch Androhung eines Bußgeldes ein. Und aus dem zwingenden Charakter der Vorschriften über die Wahrung des Wahlgeheimnisses (z.B. § 33 BWG) wird im allgemeinen abgeleitet, daß dieses unverzichtbar ist. 34 Eine Fülle zwingender Normen enthält das Privatrecht, angefangen von Formvorschriften bis hin zu absoluten Verbotsnormen wie den §§ 134, 138 oder z.B. § 310 BGB. Im Ergebnis werden hier in der Tat wichtige und einleuchtende Grenzen sichtbar. Rechtsdogmatisch folgen diese aber nicht nur aus den betreffenden einfachgesetzlichen Normen, da sich der Vorrang des (einfachen) Gesetzes nicht ohne weiteres gegenüber Grundrechten durchsetzen kann, sondern selbstverständlich nur, wenn die einfachgesetzliche Grundrechtseinschränkung ihrerseits verfassungskonform ist. Das ist wiederum eine Frage des Gesetzesvorbehalts und der für Eingriffe des Gesetzgebers in Grundrechte bestehenden Beschränkungen, also der sog. Schranken-Schranken. 35 Grenzen des Grundrechtsverzichts stellen sich zugleich als Grenzen des Grundrechts selbst dar und müssen deshalb insbesondere dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit entsprechen oder verfassungsrechtlich zulässige Zwecke verfolgen. 36 In bezug auf diese Einschränkung streitet man insbesondere darüber, ob der Grundrechtsträger vor selbstschädigendem oder selbstgefährdendem Verhalten geschützt werden darf. 37 Sofern der Gesetzgeber auf defizitäre Bedingungen der Entscheidungsfreiheit reagiert, dürfte es freilich verfassungsrechtlich keine Bedenken geben, da die Anerkennung der Selbstbestimmung eine ungestörte Willensbildung voraussetzt. 38 Bei einigen Grundrechten kommt schon in der Formulierung des Tatbestandes deutlich zum Ausdruck, daß sie nur vor Eingriffen gegen den Willen des Betroffenen schützen sollen.39 Ausdrücklich bestimmt Art. 7 Abs. 3 Satz 3 GG, daß kein Lehrer „gegen seinen Willen" verpflichtet werden darf, Religionsunterricht zu erteilen. Die Trennung eines Kindes von der Familie steht gemäß Art. 6 Abs. 3 GG unter besonderem Schutz, wenn diese „gegen den Willen des Erziehungsberechtigten" erfolgt. Und Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG stellt klar, daß auf die Staatsangehörigkeit verzichtet werden kann und lediglich ihr Verlust „gegen den Willen des Betroffenen" gesetzlicher Vorkehrungen bedarf. Nicht minder deutlich ist diese Schutztendenz bei dem in Art. 4 Abs. 3 GG veranker34

Oben Fn. 17.

35

Vgl. dazu nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, 13. Aufl. 1997, Rn. 259, 264 ff. m.w.N. Vgl. auch Stern (Fn. 10), S. 897: Die Rechtfertigung der Grundrechtseinschränkung muß aus der Verfassung selbst abgeleitet werden. 36

Vgl. z.B. BVerfGE 22, 180 (219 f.); 58, 208 (226 f.).

37

Vgl. die Nachw. oben Fn. 19.

38

Ausführlich dazu Singer (Rn. 2), S. 1138 ff.

39

Vgl. Pietzcker (Rn. 4), S. 542 f.; Sachs (Rn. 11), S. 421 f.

Die Lehre vom Grundrechtsverzicht und das Privatrecht

177

ten Verbot, jemanden „gegen sein Gewissen" zum Kriegsdienst zu zwingen, und dem in Art. 12 Abs. 2 und 3 GG gewährten Schutz vor Arbeitszwang, der begrifflich einen entgegenstehenden Willen voraussetzt. Auf der anderen Seite stehen Grundrechtsnormen, welche die Dispositionsfreiheit des Betroffenen ausschließen. Als unverzichtbar hat das Grundgesetz in Art. 9 Abs. 3 GG die Koalitionsfreiheit ausgestaltet. Damit sollte in erster Linie verhindert werden, daß die Tarifautonomie durch Druck auf die Repräsentierten zum Austritt oder zum Fernbleiben von der Koalition geschwächt wird. Geschützt wird aber auch die Selbstbestimmungsfreiheit des Einzelnen, der sich dem Organisationsdruck der Verbände entziehen möchte.40 Als positiv-rechtliche Schranke des Grundrechtsverzichts ist naheliegenderweise auch Art. 1 Abs. 2 GG ins Spiel gebracht worden. In der Tat scheint die dort verankerte Gewährleistung der „unveräußerlichen Menschenrechte" auch deren Unverzichtbarkeit einzuschließen. Eine gewisse Schwäche dieses Ansatzes wird lediglich darin gesehen, daß die Bezugnahme auf die Menschenrechte letztlich zu unbestimmt sei und dem Rechtsanwender keine sichere Handhabe biete. Immerhin hat man versucht, wegen der Anknüpfung der Menschenrechtsgarantie an Abs. 1 der Norm („darum") den Menschenwürdegehalt der Grundrechte in Art. 1 Abs. 2 hineinzulesen. Jedenfalls der damit umrissene Kern sei unveräußerlich und unverzichtbar. 41 Diese Eingrenzung individueller Verfiigungsfreiheit erscheint plausibel, muß sich aber an dem Einwand messen lassen, daß der Schutzbereich der Menschenwürde gerade auch durch das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers bestimmt werde. 42 Spätestens hier stellt sich die Frage nach der „richtigen", verfassungsgemäßen Grundrechtstheorie, die überwiegend als Schlüsselfrage zur Klärung des Grundrechtsverzichts angesehen wird. 43 I I I . Die „richtige" Grundrechtstheorie 1. Liberale Grundrechtstheorien Nach liberalem Verständnis verkörpern die Grundrechte Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat. Insofern liegt es nahe, dem Einzelnen auch die 40

Zum Schutzzweck des Art. 9 Abs. 3 GG vgl. insb. BVerfG, AP Nr. 1 zu § 1 MitbestG (unter IV 1); BAG, AP Nr. 13 und 46 zu Art. 9 GG; MünchArbILöwisch § 237 Rn. 1 - 4 m.w.N.; Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 9 Rn. 221 ff., 226. 41

Sturm (Fn. 9), S. 189; Hillgruber (Fn. 19), S. 106; vgl. auch schon Dürig (Fn. 4), S. 153; ders., in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 2 Rn. 74. 42 BVerfGE 49, 286 (298); Höfling, Menschenwürde und gute Sitten, NJW 1983, 1582 ff. (1583); Bleckmann (Fn. 4), S. 60 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, S. 30 f. m. Fn. 127. 43 Vgl. etwa Sturm (Fn. 9), S. 192 ff.; Robbers (Fn. 4), S. 927 f.; Bleckmann (Fn. 4), S. 58 ff.; skeptisch aber Pietzcker (Fn. 4), S. 542; Sachs (Fn. 11), S. 419.

12 GS Jeand' Heur

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Verfügungsfreiheit über diese Freiheitsrechte zu gewähren. Denn die Bestimmung der Art des Freiheitsgebrauchs liegt hier nicht beim Staat, sondern beim Individuum. Der Staat ist darauf beschränkt, die Voraussetzungen zu schaffen, damit sich die Freiheit eines jeden entfalten kann, ohne die des anderen zu beeinträchtigen. 44 Als zentrale Schwäche dieser liberalen Grundrechtskonzeption gilt seit jeher ihre „relative ,Blindheit' gegenüber den sozialen Voraussetzungen der Realisierung grundrechtlicher Freiheit". 45 Entsprechend der liberalen Konzeption des Bürgerlichen Gesetzbuches liegt den liberalen Grundrechtstheorien ein formales Freiheitsverständnis zugrunde, das Freiheit voraussetzt und dementsprechend vorhandene oder sich real entfaltende Freiheit schützt. Es mag etwas übertrieben klingen, wenn Bernd Jeand'Heur die hier zugrundegelegte Fiktion vom „autonomen und autarken Besitz- und Bildungsbürger" kurzerhand als „überholt" 46 bezeichnet. Aber es ist kaum zu bezweifeln, daß das liberale Modell zwangsläufig „blind" ist gegenüber gesellschaftlicher Macht oder sozialen Zwangslagen, in denen sich Freiheit faktisch kaum entfalten kann. Gemeint sind hier jene Situationen, in denen das Bundesverfassungsgericht das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit zu einer Schutzpflicht des Staates verdichtete, um zu verhindern, daß aus dem Recht zur Selbstbestimmung Fremdbestimmung wird. 47 Was hier für die bürgerlich-rechtliche Vertragsfreiheit als Grenze aufgestellt worden ist, läßt sich für andere Ausformungen grundrechtlich geschützter Freiheit ohne besondere Modifikationen übertragen. Aus der Unvollkommenheit liberaler Grundrechtsdogmatik folgt zwangsläufig, daß der Verfugungsfreiheit über Grundrechtspositionen auch Grenzen gesetzt werden müssen, und zwar insbesondere in solchen Situationen, in denen die Entscheidungsfreiheit in erheblichem Maße bedroht oder gar beeinträchtigt ist. 2. Objektiv-rechtliche Grundrechtslehren a) Institutionelle

und wertorientierte

Grundrechtstheorien

Als Reaktion auf defizitäre Befunde des liberalen Grundrechtsmodells hat sich ein ganzes Spektrum 48 objektiv-rechtlicher Grundrechtslehren entfaltet, deren ganze Vielfalt hier freilich nicht ausgebreitet werden kann. Eine ihrer 44

Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, 1529 (1530); Bleckmann (Fn. 4), S. 58. 45

Böckenförde

46

Jeand'Heur,

47

Oben Fn. 3.

48

(Fn. 44), S. 1531. Grundrechte (Fn. 1), S. 161.

Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, 4. Aufl. 1997, S. 247 ff. unterscheidet zwar insgesamt zwölf Grundrechtsfunktionen, reduziert die Gegensätze aber auf die Konkurrenz zwischen liberaler und sozialer Grundrechtstheorie, a.a.O., S. 368 ff.; Böckenförde (Fn. 44), S. 1530 ff. differenziert zwischen fünf Theorien. - Instruktive Darstellung bei Dreier, Subjektiv-rechtliche und objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte, Jura 1994, 505 ff.

Die Lehre vom Grundrechtsverzicht und das Privatrecht

179

wichtigsten Ausprägungen ist die institutionelle Grundrechtstheorie, 49 die den Grundrechten den Charakter objektiver Ordnungsprinzipien für die von ihnen geschützten und institutionell gewährleisteten Freiheiten zuspricht. Geschützt ist also nicht Freiheit im Sinne subjektiven Beliebens, sondern eine Freiheit, die sich im Rahmen von Institutionen entfaltet, deren Sinn und Gehalt objektivnormativer Bestimmung unterliegt. Darin wird zugleich die Problematik dieses Grundrechtsverständnisses sichtbar, daß nämlich individuelle Freiheit u.U. Einschränkungen „im Namen der Freiheit" in Kauf nehmen muß. 50 Auch hierzu hat sich Bernd Jeand'Heur dezidiert geäußert und auf Fehlentwicklungen gerade der institutionellen Grundrechtstheorie aufmerksam gemacht.51 Daß diese zur Verkürzung subjektiver Freiheitsgewährleistungen herhalten könnte, wie z.B. bei der Institutsgarantie der privaten Ersatzschulen in diversen Urteilen des Bundesverfassungs- und Bundesverwaltungsgerichts deutlich geworden ist, 52 lag gewiß nicht in der Absicht ihrer Begründer, denen es im Gegenteil um Stärkung ihrer Wirkungskraft ging. 53 In seiner berühmten Rede über „Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht" stellte Rudolf Smend klar, daß es um die „Voraussetzungen wirklicher, nicht nur formaler staatsbürgerlicher Freiheit" gehe.54 Aber auch die mit seinem Namen verbundene Werttheorie kann sich dem Einwand nicht entziehen, daß sie zur Verkürzung individueller Freiheiten mißbraucht werden kann, wenn der Rechtsanwender Inhalt und Reichweite der grundrechtlichen Wertordnung festlegt. Freiheitsrechte können sich dann in Geund Verbotsnormen verwandeln, Grundrechte in Grundpflichten. 55 Ob der von Jeand'Heur und anderen empfohlene Ausweg, Fragen nach der Erweiterung subjektiver Grundrechte zu objektiven Grundsatznormen „nicht abstrakt-generell, sondern bereichsdogmatisch, d.h. anläßlich der Auslegung der jeweiligen Verfassungsnorm" zu beantworten, 56 gangbar ist, erscheint zweifelhaft, weil damit die grundsätzlichen Bedenken gegen freiheitsbedrohende Tendenzen objektiv-rechtlicher Grundrechtsinterpretation nicht ausgeräumt werden können. 49 Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 2. Aufl. 1972, S. 70 ff.; jüngst auch Schapp, Grundrechte als Wertordnung, JZ 1998, 913 (915 f.). 50 51

Vgl. Böckenförde

Jeand'Heur, 2. Aufl., S. 64 ff.

(Fn. 44), S. 1532 f.

Grundrechte (Fn. 1), S. 163 ff.; ders., Methodische Analyse (Fn. 1),

52 BVerfGE 75, 40 (67) und BVerwGE 70, 290 (292) machen den Leistungsanspruch des einzelnen Ersatzschulträgers davon abhängig, ob ohne Subventionierung „der Bestand des Ersatzschulwesens als Institution evident gefährdet wäre"; ähnlich BVerfGE 90, 107 (114 f.). 53

Häberle (Fn. 49), S. 98 und öfter; s.a. BVerfGE 7, 198 (205).

54

Gehalten bei der Reichsgründungsfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin am 18.1.1933, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994, S. 309 (319). 55 Höfling (Fn. 42), S. 1584; Bethge, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, NJW 1982, 2145 (2149). 56

Jeand'Heur, Grundrechte (Fn. 1), S. 165; vgl. auch Pietzcker (Fn. 4), 542; Sachs (Fn. 11), 419; krit. Diederichsen, Das Bundesverfassungsgericht als oberstes Zivilgericht ein Lehrstück der juristischen Methodenlehre, AcP 198 (1998), 217 Fn. 211.

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Reinhard Singer

b) Die Bedeutung öffentlicher Interessen für die grundrechtliche Verfügungsfreiheit Ungeachtet der Bedenken gegen eine objektiv-rechtliche Deutung der Grundrechte bestehen nach verbreiteter Auffassung Grenzen des Grundrechtsverzichts, wo Grundrechte nicht nur Individualinteressen, sondern auch überindividuellen, öffentlichen Interessen dienen.57 Eine allzu grobe Vereinfachung enthält freilich der Ansatz von Sturm, der wegen des engen Bezugs der Grundrechte zum öffentlichen Interesse pauschal auf ihre Unverzichtbarkeit schloß.58 Konsequent zu Ende gedacht würde dieser Ansatz gerade die Freiheit beseitigen, die durch die Grundrechte gewährleistet werden soll. Aber auch die Unterscheidung zwischen vertragsnahen Grundrechten wie Art. 12 und 14 GG und vertragsfernen der politischen Willens- und Staatsbildung wie z.B. dem Recht auf Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 GG 5 9 überzeugt nicht. Ob ein Grundrecht mehr oder weniger Gegenstand vertraglicher Verfügungen ist, ist kein Kriterium, das dem Inhalt der grundrechtlichen Gewährleistungen entnommen werden könnte. Auch die Meinungsfreiheit verkörpert eine Freiheit, die maßgeblich durch das Selbstverständnis und die Selbstbestimmung der Adressaten bestimmt wird. Gleiches gilt für die politischen Freiheitsrechte und allgemein für die politische Willensbildung. Es leuchtet daher nicht ein, daß in diesem Bereich die individuelle Verfügungsfreiheit grundsätzlich eingeschränkt sein soll, setzt man sich doch den gleichen Einwänden aus wie institutionelle und wertorientierte Grundrechtstheorien. Natürlich wird nicht in Abrede gestellt, daß Meinungs- und Pressefreiheit konstituierende Voraussetzungen für einen demokratischen Willensbildungsprozeß darstellen, aber diese objektive Funktion der Grundrechtsgewährleistung vollzieht sich gerade durch die Gewährleistung von Freiheit, nicht durch Bindung an objektiv definierte Ziele. Anders ausgedrückt: der „objektive Wert" der Grundrechte besteht gerade in der Freiheit als solcher. 60 Die im Schrifttum diskutierten Beispiele, in denen wegen des Vorrangs öffentlicher Interessen angeblich nicht auf die Ausübung grundrechtlicher Freiheiten verzichtet werden dürfe, sind nicht so eindeutig wie es scheint. Warum sollte es im Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit nicht möglich sein, auf die Ausübung dieser Freiheit zu verzichten? Die unbestrittene demokratische Funktion der Pressefreiheit reicht nicht weiter als das subjektive Freiheitsrecht. Bei zivilrechtlichen Streitigkeiten über Presseberichte gehört es zum Alltag, daß auf eine bestimmte Meinungsäußerung - z.B. in einem Vergleich - verzichtet 57

Vgl. Sturm (Fn. 9), S. 197; Pietzcker (Fn. 4), S. 545 f.; Amelung (Fn. 10), S. 36 ff.; Sachs (Fn. 11), S. 421; Stern (Fn. 10), S. 911 f. 58

Sturm (Fn. 9), S. 198.

59

Pietzcker (Fn. 4), S. 544 f.; Robbers (Fn. 4), S. 928; s.a. Amelung (Fn. 10), S. 37.

60

Zutreffend insoweit Hillgruber

(Fn. 19), S. 127.

Die Lehre vom Grundrechtsverzicht und das Privatrecht

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wird. Bedenklich - auch in demokratischer Hinsicht - werden Einschränkungen der Freiheit erst, wenn sie unter Zwang erfolgen oder das Ergebnis mißbräuchlicher Einflußnahme sind. Insofern ist das Einverständnis mit staatlicher Zensur in hohem Maße verdächtig. Hingegen sollte sich ein Regierungssprecher durchaus wirksam verpflichten können, für die Dauer seines Amtes auf die Äußerung privater persönlicher Meinungen zu verzichten. Bei öffentlichen Ansprachen äußert der Sprecher überhaupt nicht seine Meinung, sondern die der Regierung, 61 und bei der im Privatbereich wirksamen Beschränkung geht es von vornherein nicht um die öffentliche Dimension des Grundrechts. 62 Fraglich ist nicht einmal die Freiwilligkeit des Verzichts, weil niemand gezwungen ist, Regierungssprecher zu werden. Einleuchtender erscheint der im Schrifttum einhellig betonte öffentliche Bezug des Wahlrechts. Zwar kann man selbstverständlich auf das durch Wahl erworbene Mandat verzichten, aber ein Verzicht auf das Wahlrecht selbst oder das Wahlgeheimnis soll rechtlich nicht zulässig sein, weil das Wahlrecht als „unentbehrliches essentiale der Demokratie" angesehen wird 6 3 und folglich nicht nur Individualinteressen diene, sondern zugleich einen Beitrag zur „politischen Gesamtwillensbildung" leiste.64 Der tiefere Grund für diese Freiheitsbeschränkung dürfte freilich primär darin bestehen, daß die autonome Entscheidung des Wählers aus politischen Gründen besonderen Gefahrdungen ausgesetzt ist und vor mißbräuchlichen Einflußnahmen geschützt werden muß. Dementsprechend wird die Unverzichtbarkeit des Wahlgeheimnisses damit gerechtfertigt, daß diese Schutz bietet vor dem politischen Zwang, die Wahlentscheidung preiszugeben. Das OVG Münster 65 verwies mit Recht auf die Abstimmungspraxis in der ehemaligen DDR, wo durch Verzicht auf die Geheimhaltung der Stimmabgabe Druck auf Oppositionelle ausgeübt werden konnte. Wer nicht offen abstimmte, machte sich verdächtig! Um Gefährdungen der Entscheidungsfreiheit geht es auch bei dem unter grundsätzlichem Mißbrauchsverdacht stehenden Verzicht auf das Wahlrecht selbst und dem Versprechen einer Vertragsstrafe für den Fall des Parteiaustritts. 66 Es ist nicht zu bestreiten, daß der Bedrohung der politischen Willensbildung im Interesse der Demokratie Einhalt geboten werden muß. Die Tatsache, daß die Dispositionsfreiheit des Einzelnen hier eingeschränkt wird, beruht aber auch auf der Sorge, daß diese für sachfremde Einflüsse auf politischem Gebiet besonders anfällig ist.

61

Vgl. Pietzcker (Fn. 4), S. 548.

62

Vgl. Robbers (Fn. 4), S. 928.

63

Stern (Fn. 10), S. 924 f.; s.a. Pietzcker (Fn. 4), S. 545; Sachs (Fn. 11), S. 421; Pieroth/ Schlink (Fn. 35), Rn. 138; zum Wahlgeheimnis oben Fn. 16. 64

Pietzcker (Fn. 4), S. 545.

65

Vgl. OVG Münster, OVGE 14, 257; s.a. OVG Lüneburg, DÖV 1964, 355.

66

Oben Rn. 18.

182

Reinhard Singer

c) Von der grundgesetzlichen Wertordnung zur Begründung von Schutzpflichten In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat sich inzwischen ein Wandel vollzogen. Das Verständnis der Grundrechte als Elemente einer objektiven Wertordnung geht ja bekanntlich zurück auf eine Entscheidung des Gerichts zur Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht. 67 Da die Grundrechte gemäß Art. 1 Abs. 3 GG nur die öffentliche Gewalt binden, stieß das traditionelle Verständnis der Grundrechte als staatsgerichtete Abwehrrechte auf unüberwindlich scheinende Grenzen. Indem nun die Grundrechte darüber hinaus als Elemente einer objektiven Wertordnung interpretiert wurden, stand nach Ansicht des Gerichts einer Ausstrahlung auf das Verhältnis zwischen Privaten nichts mehr im Wege. Man hat diese „mystische" Schöpfung einer Grundrechts-Wertordnung oft kritisiert, 68 so daß es nicht überraschen durfte, daß das Gericht unlängst eine neue Variante objektiv-rechtlicher Grundrechtsdogmatik präsentierte: die im ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch entwickelte Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten. 69 Ungeachtet der sich verstärkenden Skepsis gegenüber der Tragfähigkeit auch dieser Theorie, 70 trifft die Schutzpflichtlehre jedenfalls im Ansatz einen entscheidenden Gesichtspunkt. Schutzpflichten entstehen dort, wo die den Adressaten der Grundrechte überantwortete Selbststeuerung versagt. 71 Im Bereich der Privatautonomie sind dies in erster Linie Ungleichgewichtslagen, in denen die Selbstbestimmungsfreiheit des einen vor der Fremdbestimmung des anderen geschützt werden muß. 72 Darüber 67

BVerfGE 7, 198 (204 ff.) - Lüth.

68

Vgl. insb. Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 (9); Hager, Grundrechte im Privatrecht, JZ 1994, 373 (380); Oldiges, Neue Aspekte der Grundrechtsgeltung im Privatrecht, in: FS für Karl Heinrich Friauf, 1996, S. 281 (288); Stern (Fn. 42), S. 1557; zuletzt eindringlich Diederichsen (Fn. 56), S. 171 (214 ff.). 69 BVerfGE 39, 1 (42); bestätigt im zweiten Urteil zu § 218 StGB, E 88, 203 (251). - Aus dem umfangreichen Schrifttum vgl. insb. Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), 201 (227 f.); ders., Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 37 ff.; Isensee , in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 111; Stern (Fn. 42), S. 1573 f.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 93 ff.; Dietlein , Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992; Überblick über den Diskussionsstand Pietrzak, Die Schutzpflicht im verfassungsrechtlichen Kontext - Überblick und neue Aspekte, JuS 1994, 748 ff.; zur Rspr. des BVerfG eingehend Classen, Die Drittwirkung der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 122 (1997), 65 ff. 70 Vgl. aus dem jüngeren Schrifttum nur Hager (Fn. 68), S. 378 ff.; Hesse/ Kauffmann, Die Schutzpflicht in der Privatrechtsprechung, JZ 1995, 219 ff.; Diederichsen (Fn. 56), S. 171 (248 ff.); Windel, Über Privatrecht mit Verfassungsrang und Grundrechtswirkungen auf der Ebene einfachen Privatrechts, Der Staat 37 (1998), 385 (390 ff.) m.w.N. 71

Vgl. Hermes (Fn. 69), S. 245 f.; Canaris, Grundrechtswirkungen und Verhältnismäßigkeitsprinzip in der richterlichen Anwendung und Fortbildung des Privatrechts, JuS 1989, 161 (163); ders. (Fn. 69), 1999, S. 49; Singer (Fn. 2), S. 1138 ff. 72

Vgl. die Nachw. oben Fn. 3.

Die Lehre vom Grundrechtsverzicht und das Privatrecht

183

hinaus hat man seit je auch außerhalb des Bereichs gestörter Vertragsparität mit Hilfe der zivilrechtlichen Generalklauseln dort korrigierend eingegriffen, wo in extremer Weise (Grund-) Rechtspositionen zur Disposition gestellt wurden. Man denke etwa an die Preisgabe höchstpersönlicher Freiheiten wie bei bindenden Absprachen über die Familienplanung,73 an Knebelungsverträge im Wirtschaftsverkehr 74 oder unverhältnismäßige Wettbewerbsverbote, 75 durch die das berufliche Fortkommen behindert wird. Wenn die Gerichte hier korrigierend eingegriffen haben, so geschah dies offensichtlich auch und vor allem deshalb, weil ein auf Selbstbestimmung und Selbstverantwortung aufbauendes freiheitliches System nicht verhindern kann, daß untragbare Ergebnisse erzielt werden. Es wird dann deutlich, daß die als Funktionsbedingung freiheitlichen Handelns vorausgesetzte Vernunft- und Handlungsfähigkeit des Menschen Grenzen hat. 76 Liberale und objektiv-rechtliche Grundrechtsdogmatik scheinen sich hier effektiv zu ergänzen, da jene zum Zuge kommt, wo diese zu versagen scheint. IV. Funktionsdefizite freiheitlicher Gewährleistung und Grenzen des Grundrechtsverzichts Im Schrifttum ist anerkannt, daß der Grundrechtsverzicht keine ausreichende Legitimation für Eingriffe darstellt, wenn die Freiwilligkeit des Verzichts nicht gewährleistet ist. 77 Gemeint sind gravierende Störungen der Selbstbestimmungsfreiheit wie Drohung, Täuschung oder Zwang, die nach den Wertungen des Bürgerlichen Rechts die Zurechnung rechtsgeschäftlichen Handelns ausschließen, nicht aber sonstige „unfreie Situationen".78 Diese enge Sichtweise entspricht freilich einem weitgehend formalen Freiheitsverständnis und kann folglich nicht erklären, wieso jenseits der genannten Zurechnungsnormen der Selbstbestimmungsfreiheit absolute Grenzen gezogen werden. Betrachtet man die Gesamtheit der Fälle und Fallgruppen, in denen einem Grundrechtsverzicht Grenzen gesetzt werden, findet man die Vermutung bestätigt, daß dabei vor allem auf Funktionsdefizite der grundrechtlich geschützten Selbstbestimmungsfreiheit reagiert wird. So ist trotz gegenteiliger Beteuerungen 79 geradezu evi73

BGHZ 97, 304 (306 f.).

74

RGZ 130, 143 (145); BGHZ 19, 12 (18); 44, 158 (161); 83, 313 (318); BGH NJW 1962, 102 (103); 1993, 1587 (1588). 75

BGHZ 91,1 (5); BGH NJW 1986, 2944.

76

Vgl. dazu auch schon Jeand'Heur, S. 1140 m.w.N. 77

Grundrechte (Fn. 1), S. 161 f.; Singer (Fn. 2),

Vgl. etwa von Münch (Fn. 19), S. 124 f.; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 124; Pietzcker (Fn. 4), S. 545; Bleckmann (Fn. 4), S. 61 f.; Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 29. Aufl. 1994, § 20 II 2; Stern (Fn. 10), S. 913 f.; eingehend Amelung (Fn. 10), S. 79 ff. 78

Stern (Fn. 77).

79

Höfling (Fn. 42), S. 1583 und 1585.

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Reinhard Singer

dent, daß die in den Peep-Show-Fällen80 von den Kritikern 81 des Bundesverwaltungsgerichts gegen die Untersagungsverfügung ins Feld geführte Selbstbestimmungsfreiheit der betroffenen Frauen auf recht tönernen Füßen steht. Bei realistischer Sicht muß man davon ausgehen, daß persönlicher und sozialer Druck gehörigen Einfluß auf die Entscheidung ausüben, sich vor neugierigen Blicken „bloßzustellen". Das Bundesverwaltungsgericht hat denn auch der lediglich formalen Selbstbestimmung der betroffenen Frauen keine maßgebliche Bedeutung beigemessen und die Untersagungsverfügung wegen Sittenwidrigkeit des betreffenden Gewerbes völlig zu Recht bestätigt.82 Deutlich angesprochen wird die Problematik der Selbstbestimmung vom Bundesverfassungsgericht im ersten Lügendetektor-Fall. 83 Eines Schutzes gegen staatliche Eingriffe bedürfe „nur derjenige nicht, der wählen kann". Diese Wahlfreiheit habe der Angeklagte tatsächlich nicht, da sich ihm „die Untersuchung durch den ,Lügendetektor' als eine günstige Gelegenheit darstellen muß, die er nicht ausschlagen darf'. 84 Unter absoluten Schutz stellt die Rechtsordnung das Leben. Trotz Einwilligung des Rechtsgutsbesitzers ist die Tötung auf Verlangen strafbar (§216 StGB), weil auch nur die geringste Gefahr eines Mißbrauchs angesichts der Bedeutung des Rechtsguts nicht hingenommen werden könnte.85 In der Diskus80

Oben Fn. 20.

81

Hoerster, Zur Bedeutung des Prinzips der Menschenwürde, JuS 1983, 93 (95 f.); Gusy; Sittenwidrigkeit im Gewerberecht, DVB1. 1982, 984 (985 f.); ders., „Gute Sitten" als Grenze der Gewerbefreiheit, GewArch 1984, 151 (154 f.); Höfling (Fn. 42), S. 1583; dem BVerwG zustimmend insb. Grominus, Noch einmal Peep-Show und Menschenwürde, JuS 1985, 174 (175 f.). 82

BVerwGE 84, 314 (319 f.); s.a. BVerwGE 64, 274 (279), wo die Untersagungsverfügung noch mit der Unverfügbarkeit der Menschenwürde begründet wurde. 83

BVerfG, NJW 1982, 375.

84

So das BVerfG, a.a.O., im Anschluß an Peters, Eine Antwort auf Undeutsch: Die Verwertbarkeit unwillkürlicher Ausdruckserscheinungen bei der Aussagenwürdigung, ZStW 87 (1975), 663 (676). - Der Einwand von Schwabe, Der „Lügendetektor" vor dem Bundesverfassungsgericht, NJW 1982, 367 ff., die Bedenken von Peters (a.a.O.) hätten sich auf den Testverweigerer bezogen und könnten nicht gegen den Testwunsch ins Feld geführt werden, überzeugt nicht. Wird der Testwunsch erfüllt, geraten alle potentiellen Testverweigerer unter Druck und müßten im Widerspruch zu grundlegenden Prinzipien des Strafprozeßrechts Zeugnis gegen sich selbst ablegen. Weil der Eindruck entstehen könnte, man habe etwas zu verbergen, besteht ein solcher Druck auch dann, wenn die Behörde den Test nicht verlangt bzw. nicht verlangen darf (a.A. Amelung, NStZ 1982, 38 [39]; ihm folgend nunmehr auch BGH, NJW 1999, 657, 659). 85

Vgl. Arzt, Die Delikte gegen das Leben, ZStW 83 (1971), 1 (36 f.) zu dem „häufig bestehende(n) Verdacht, daß Freiwilligkeit und Ernsthaftigkeit der Einwilligung in Wirklichkeit nicht vorlagen"; dagegen bestreitet Hirsch, Einwilligung und Selbstbestimmung, in: Festschrift für Welzel, 1974, S. 775 (778 m. Fn. 14), daß die Mißbrauchsgefahr als Strafgrund in Frage komme, da dies auf eine Verdachtsstrafe hinauslaufe. Strafgrund ist freilich die unstreitige „Tötung" eines Menschen, nicht ein bloßer Verdacht; im übrigen darf der Gesetzgeber Mißbrauchsgefahren in abstrakt-typisierender Weise bekämpfen (anders noch Singer [Fn. 2], S. 1140 Fn. 101).

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sion um die Liberalisierung der sog. aktiven Sterbehilfe nimmt die Mehrheit zu Recht einen ablehnenden Standpunkt ein und begründet dies u.a. mit der Gefahr, daß sich Patienten womöglich verpflichtet fühlen könnten, den Tod zu erbitten, um ihren Angehörigen oder anderen nicht zur Last zu fallen. Außerdem bestünde die Gefahr, daß eine momentane Krise des Todkranken von Interessierten ausgenutzt werden könnte, diesen zur Äußerung eines Todeswunsches zu veranlassen. Anders gelagert ist zwar die Problematik der Selbsttötung und dem umstrittenen Recht auf polizeiliches Einschreiten, 86 aber auch hier stellt sich die Frage der Selbstbestimmungsfreiheit. Von einer freiwilligen Entscheidung kann wohl nicht einmal beim sog. Bilanzselbstmord die Rede sein, da die Verengung der Lebensperspektiven auf Null nur scheinbar das Ergebnis einer rationalen Entscheidung darstellt und psychisch-pathologische Faktoren dominieren dürften. Dem staatlichen Recht auf Einschreiten entspricht aus eben diesen Gründen auch eine staatliche87 Pflicht. 88 Den geschilderten Fällen ist gemeinsam, daß es um den Schutz besonders wichtiger, höchstrangiger Rechtsgüter geht, sei es, daß die Menschenwürde bedroht ist oder gar die menschliche Existenz auf dem Spiel steht. Angesichts der hochgradigen Empfindlichkeit dieser Rechtsgüter wäre die Vorstellung in der Tat unerträglich, daß der Rechtsgutinhaber womöglich keine wirklich freie Disposition getroffen hat. Da niemand ohne Not seine höchsten Rechtsgüter preisgibt, besteht sogar eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß Sachzwänge, soziale oder persönliche Notlagen zu der negativen Entscheidung beigetragen haben. Die trotz aller Vorzüge einer liberalen Grundrechtsordnung nicht auszuräumenden Zweifel an den materialen Voraussetzungen freiheitlichen Handelns müssen spätestens hier in Schutzpflichten umschlagen. Diese können zwangsläufig nur darin bestehen, daß der formalen Freiheit äußerste absolute Schranken gesetzt werden. Dies entspricht durchaus der im Schrifttum vorherrschenden Meinung, die seit jeher die Grenze individueller Verfügbarkeit bei der Preisgabe eines Würdekerns angesiedelt hat. 89 In der Verfassung selbst kommt mit großer Deutlichkeit zum Ausdruck, daß solche absoluten Grenzen bestehen: 86 Bejahend die h.M., vgl. von Münch (Fn. 19), S. 124 f.; von Münch/Kunig, GrundgesetzKommentar, Bd. I, 4. Aufl. 1992, Art. 2 Rn. 50; BayVerfGH, BayVBl. 1989, 205 (206 f.); BayObLG, BayVBl. 1989, 219 (220). 87 Gemäß § 323c StGB besteht für jedermann eine Pflicht, im Rahmen des Möglichen einen bevorstehenden Suizid zu verhindern, BGHSt 32, 367 (375 f.) mit Anm. Schmidt, JZ 1984, 893. - A.A. Fink, Selbstbestimmung und Tötung, 1992, S. 130 ff. (198 f.). 88 von Münch /Kunig (Fn. 86), Art. 2 Rn. 50. — Dem korrespondieren Recht und Pflicht, Hungerstreikende zwangsweise zu ernähren, wenn akute Gesundheits- oder Lebensgefahr besteht (§101 Abs. 1 StVollzG), von Münch (Fn. 19), S. 121 f. 89 Sturm (Fn. 9), S. 189; Sachs (Fn. 11), S. 421, Bleckmann (Fn. 4), S. 62; Stern (Fn. 10), S. 923; demgegenüber hat z.B. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 789 bezweifelt, daß die Unveräußerlichkeit der Menschenwürde auch den freiwilligen Verzicht umfasse.

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Gemäß Art. 1 Abs. 1 GG ist die Würde des Menschen „unantastbar", Abs. 2 enthält das Bekenntnis zu den „unverletzlichen und unveräußerlichen" Menschenrechten und Art. 19 Abs. 2 GG verbietet, daß ein Grundrecht in seinem „Wesensgehalt" angetastet wird. Die dort angeordnete Unverfügbarkeit rechtlicher Mindeststandards gilt nach richtiger Ansicht nicht nur gegenüber staatlichem Eingriff, sondern auch im Verhältnis der Grundrechtsträger untereinander. 90 Im Privatrecht werden dementsprechend auch keine Vereinbarungen anerkannt, die diese Grenzen mißachten.91 In engstem Zusammenhang mit der Unveräußerlichkeit gewisser Mindestgarantien steht ferner der aus einer Gesamtschau der Grundrechte abgeleitete Grundsatz, daß die Freiheitsrechte des Grundgesetzes auf „Dauer" gewährleistet sein müssen und daher keinen zeitlich und gegenständlich unbegrenzten Verzicht erlauben. 92 Die Beispiele, in denen die Preisgabe der Menschenwürde angenommen worden ist, bestätigen im übrigen, daß die zur Geltung gebrachten objektiven Grenzen auf Unwägbarkeiten individueller Selbstbestimmungsfreiheit beruhen. Das ist evident im Fall der verbotenen Vernehmungsmethoden gemäß § 136a StPO, da ein etwaiges Einverständnis des Beschuldigten in hohem Maße dem Verdacht ausgesetzt wäre, nicht auf legale Weise erteilt worden zu sein. Erst recht gilt dies bei den strafgesetzlichen Bestimmungen zum Schutze von Leben und Gesundheit (§§ 216 und 228 StGB) und in abgeschwächter Form auch bei der Sittenschranke gewerblicher Betätigungsfreiheit. Da sich die zum Schutze des Grundrechtsträgers gezogenen Grenzen als äußerste Schranken darstellen, bleibt die grundsätzliche Freiheit der Grundrechtsadressaten, über den Inhalt ihrer Freiheit und damit auch der Menschenwürde selbst zu bestimmen, unberührt. So verdient zum Beispiel das Recht auf informationelle Selbstbestimmung uneingeschränkte Anerkennung, weil die Weitergabe von Informationen häufig dem berechtigten Interesse des Betroffenen entspricht und deshalb seiner Entscheidung überlassen bleiben sollte. Einfachgesetzliche Ausformungen dieser Selbstbestimmungsfreiheit im Umfeld des Persönlichkeitsrechts enthalten u.a. die Regelungen des Kastrations- und Transsexuellengesetzes, wobei der Gesetzgeber besondere Kautelen gegen unausgereifite Entschlüsse oder mißbräuchliche Einflußnahmen aufgestellt hat. 93

90

Vgl. insb. Stern (Fn. 42), S. 29 f. m.w.N. zur Entstehungsgeschichte; Starck, in: von Mangoldt/Klein /Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 1984, Art. 1 Rn. 19 f. und 25; Neuner (Fn. 2), 1. Teil, IV 1 b mit eingehender Begründung. 91

Vgl. nur die Beispiele oben Fn. 72-74.

92

von Münch (Fn. 19), S. 127; Bleckmann (Fn. 4), S. 59; vgl. auch schon Dürig (Fn. 4), S. 153. 93 §§ 1, 4 TSG v. 10.9.1980 (BGBl. I S. 1654); §§ 3, 5 KastrG v. 15.8.1969 (BGBl I S. 1143). - Vgl. dazu BAG NJW 1991, 2723 (2724); s.a. die Erläuterungen von Becker, in: Das Deutsche Bundesrecht, 278. Lfg. 1970, Bd. II B 80, S. 5 ff.; Amelung (Fn. 10), S. 92 ff. und 113.

Die Lehre vom Grundrechtsverzicht und das Privatrecht

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Abgesehen von den geschilderten absoluten Grenzen der Selbstbestimmungsfreiheit wird die Zulässigkeit eines Grundrechtsverzichts auch dann in Frage gestellt, wenn er Rechte anderer verletzt. Das wird zu Recht bei der umstrittenen Schutzhelm- und Gurtanlegepflicht angenommen, da hierdurch nicht nur das Unfallopfer vor Schäden bewahrt wird, sondern auch die Allgemeinheit, die sonst für die erheblichen Folgekosten aufkommen müßte.94 Der Einwand, das Prinzip der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung gebiete, daß jeder für die Folgen selbstschädigenden Verhaltens selbst aufkommen müsse,95 überzeugt schon deshalb nicht, weil die Allgemeinheit jedenfalls dann für die finanziellen Folgelasten aufkommen muß, wenn der Betroffene dazu finanziell nicht in der Lage ist. Prävention ist der entschieden sachgerechtere, dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit entsprechende Weg. Davon abgesehen entspricht es empirisch gesicherter Erkenntnis, daß die Verkehrsteilnehmer die Risiken einer schutzlosen Kollision unterschätzen und wegen dieser „Schwäche" bei der Willensbildung zu Recht „vor sich selbst" geschützt werden. Von der Frage, ob der Gesetzgeber im Interesse der Allgemeinheit oder des Grundrechtsberechtigten selbst schützend eingreifen darf, ist die Frage, ob er diesen Schutz auch gewähren muß, zu unterscheiden. Die Frage, ob und in welchem Maße eine Rechtsordnung auf Defizite materialer Entscheidungsfreiheit Rücksicht nimmt, ist in weitem Umfang dem Gesetzgeber überlassen. Dies folgt schon daraus, daß jeder Grundrechtseingriff - und darum handelt es sich bei der Beschränkung des Grundrechtsverzichts - dem Vorbehalt des Gesetzes unterliegt. Würde man in jedem Einzelfall entscheiden, ob die Ausübung grundrechtlicher Freiheiten ohne Beeinträchtigung der Willensbildung erfolgt ist, würde den Grundrechtsträgern Stück für Stück jene Freiheit genommen, um deren Schutz es gerade geht. Freiheit kann sich nur entfalten, wenn sie jedenfalls grundsätzlich als formale Freiheit respektiert wird. Der Gesetzgeber muß deshalb bei Beschränkungen des Grundrechtsverzichts das Prinzip der Verhältnismäßigkeit beachten, wovon allerdings bei den vorstehend erörterten Gesetzen trotz teilweise kontroverser Stellungnahmen auszugehen ist. Anders stellt sich die Rechtslage dar, wenn der Gesetzgeber nicht aktiv geworden ist. Hier kann eine Beschränkung des Grundrechtsverzichts nur in Betracht gezogen werden, wenn dies zum Schutze des Grundrechts dringend erforderlich ist. 96 Über den Gesetzesvorbehalt kann man sich nur hinwegsetzen, wenn die Bedrohung der Freiheit ein Ausmaß angenommen hat, daß ihr Schutz nur durch Eingriff ver94

BVerfGE 59, 275 (279).

95

Hillgruber (Fn. 19), S. 102 ff. (120 f. und [zusammenfassend] 175); ähnlich Doehring, Die Gesunderhaltung des Menschen im Spannungsverhältnis zwischen Staatsfursorge und Individualentscheidung, in: FS für Wolfgang Zeidler, 1987, S. 1553 (1558 f.), der aber aus humanitären Gründen i.E. doch dafür eintritt, die Freiheit zur Selbstschädigung einzuschränken. 96

Vgl. BVerfGE 81, 242 (255 f.); 89, 214 (234).

Reinhard Singer

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wirklicht werden kann. Dem entspricht, daß für diese grundrechtlichen Schutzpflichten nicht das Übermaß-, sondern das Untermaßverbot angewendet wird. 97 Dessen Konkretisierung hängt von Art und Ausmaß der Grundrechtsbedrohung ab. So darf zwar der Gesetzgeber die persönliche Handlungsfreiheit durch Schutzhelm- und Gurtanlegepflichten beschränken, man kann aber kaum verlangen, daß er dies durch Erlaß bußgeldbewehrter Vorschriften tun muß. 98 Umgekehrt sind Schutzpflichten trotz des entgegenstehenden Willens des Grundrechtsträgers zu bejahen, wenn es sich um ein besonders wichtiges Rechtsgut handelt. So darf der Selbstmörder zweifellos auch ohne gesetzliche Befugnisnorm vor der Verwirklichung seines Vorhabens bewahrt werden. Im Privatrecht ist die Schutzpflichtlehre dort zum Zuge gekommen, wo zwischen den Parteien ein strukturelles Ungleichgewicht festgestellt und die Selbstbestimmungsfreiheit des einen vor der Fremdbestimmung durch den anderen verteidigt werden mußte.99 Es handelte sich durchweg um besonders belastende Verträge, die für Existenz oder berufliches Fortkommen von grundlegender Bedeutung waren. Soweit außerhalb solcher Ungleichgewichtslagen der individuellen Verfügungsfreiheit Grenzen gesetzt worden sind, handelt es sich ebenfalls typischerweise um besonders gravierende Grundrechtspositionen, die vom Grundrechtsträger preisgegeben wurden. Dies trifft insbesondere auf die zwischen Partnern einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft getroffene Abrede über empfängnisverhütende Maßnahmen100 zu, ebenso auf die Vereinbarung, sich nicht scheiden zu lassen,101 oder z.B. die im Rahmen einer Scheidungsvereinbarung getroffene Abmachung, daß der eine Partner seinen Wohnsitz verlegen und einen Umkreis von 50 km um den bisherigen Wohnsitz meiden muß. 102 In all diesen Fällen bestanden aber auch Zweifel an der Freiwilligkeit der Preisgabe solch wichtiger Grundrechtspositionen, so daß die von den Gerichten der persönlichen Verfügungsfreiheit gezogenen Schranken ihren tieferen Grund in der Skepsis gegenüber dem universalen Geltungsanspruch liberaler Dogmatik haben dürften. Was über die Defizite liberaler Grundrechtstheorie gesagt worden ist, zeigt sich nur in anderem Gewände auch bei der liberalen Vertragsordnung des BGB.

97

Canaris (Fn. 71), S. 163; ders. (Fn. 69), S. 228.

9S

Zutreffend Zöllner (Fn. 2), S. 11 Fn. 40. Entgegen dessen Befürchtung steht in JZ 1995, 1133 (1140) allerdings nichts Gegenteiliges. 99

Oben Fn. 3.

100

Oben Fn. 73.

101

BGHZ 97, 304 (306 f.); bestätigt von BGH NJW 1990, 703; bedenklich dagegen BGH FamRZ 1997, 156 (157 f.): keine Sittenwidrigkeit eines Unterhaltsverzichts, wenn dieser nur abgegeben wurde, um den Ehepartner von einem Scheidungsantrag abzubringen. 102

BGH NJW 1972, 1414 (1415).

Die Lehre vom Grundrechtsverzicht und das Privatrecht

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V. Ergebnis und Ausblick Grenzen des Grundrechtsverzichts bestehen vorwiegend dort, wo die vom Grundgesetz vorausgesetzte Selbststeuerung der gewährleisteten Freiheit versagt. Dies ist der Fall, wenn die Willensentschließung durch Zwang oder andere Störungen der Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt oder durch erhöhte Mißbrauchsgefahren bedroht ist. Eine weitere Grenze besteht darin, daß ein Verzicht nicht zu Lasten Dritter, insbesondere der Allgemeinheit gehen darf. Sofern der Einzelne Rechtspositionen preisgibt, die den Kernbereich seiner Menschenwürde berühren, schützt ihn die in Art. 1 Abs. 1 und 2 GG deutlich markierte Unantastbarkeitsgrenze. Die Wahrung objektiver Mindeststandards hat ihren tieferen Grund zumindest auch darin, daß gerade bei der Preisgabe höchster Güter erhöhte Zweifel an der Selbstbestimmungsfahigkeit des Verzichtenden bestehen. Demgegenüber gerät die These, Grundrechte seien auch im öffentlichen Interesse gewährleistet und könnten daher nicht frei oder jedenfalls nicht in Widerspruch zu ihrer demokratischen Funktion ausgeübt werden, in Widerspruch zur freiheitlichen Funktion der Grundrechte. Schranken bestehen hier wie sonst auch bei defizitärer Selbstbestimmung und in Extremfällen wie der völligen Preisgabe demokratischer und politischer Freiheiten. Die Aussagekraft der Lehre vom Grundrechtsverzicht für die Privatrechtsordnung ist zwar begrenzt, aber doch nicht ohne greifbares Resultat. Hier wie dort stellen sich die gleichen Fragen nach dem Verhältnis von formaler und materialer („wirklicher") Selbstbestimmung. Und dementsprechend können die Antworten kaum unterschiedlich ausfallen. Die einleitend aufgeworfene Frage, ob das Privatrecht aus der Lehre vom Grundrechtsverzicht Nutzen ziehen könnte, kann man deshalb vor allem in struktureller Hinsicht bejahen. Umgekehrt könnte die verfassungsrechtliche Lehre auch von privatrechtlichen Impulsen profitieren. Diese Erkenntnis wäre freilich nicht neu, hat doch schon Dürig vor über 40 Jahren vermutet, daß zur Verdeutlichung der zeitlichen und gegenständlichen Grenzen des Grundrechtsverzichts jene Ergebnisse herangezogen werden könnten, „die unsere weisere, weil erfahrenere Schwester, das Privatrecht" bei der Abwehr von Knebelungsverträgen herausgearbeitet hat. 103 Die Parallelen können ohne weiteres verallgemeinert und auf die Funktionsvoraussetzungen der privatautonomen Handlungsfreiheit einerseits und der grundrechtlichen Freiheiten andererseits erweitert werden. Im Privatrecht verfugt man nicht nur über einen großen Vorrat an praktischem Anschauungsmaterial, sondern man denkt auch seit langem 104 über die Grenzen individueller Verfügungsmacht nach. 103 104

Dürig (Fn. 4), S. 153.

„Seit Jahrhunderten", vgl. Diederichsen (Fn. 56), S. 250 (bezogen auf die Vertragsgerechtigkeit). - Vgl. aus dem jüngeren Schrifttum insbesondere Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, 1992; Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, 1993; Singer, Selbstbestimmung und Verkehrsschutz im Recht der Willenserklärungen, 1995, S. 8 ff.; Lorenz, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, 1997.

Einige Fragen zu Gestalt und Rechtscharakter des „acquis communautaire44 Von Hans-Joachim Schütz

Der „acquis communautaire" ist in (fast) aller Munde und zu einem vielgebrauchten Schlagwort im europäischen „Diskurs" geworden. Über den rein verbalen Aspekt hinaus kommt ihm dabei auch eine eminente praktische Rolle zu: Er ist, wie gleich noch zu zeigen sein wird, zu einem wichtigen Handlungsinstrument der Europäischen Gemeinschaften (EG) und zentraler Faktor der europäischen Integration geworden. Mit dem „acquis communautaire" werden indes zahlreiche Fragen aufgeworfen, von denen die wenigsten hinreichend beantwortet sind.1 Dies fängt bereits beim Begrifflichen an: Trotz der Landläufigkeit des Begriffes ist alles andere als klar, was genau er bezeichnet. Es gibt keine feststehende und festumrissene Definition des Begriffes, von einer verbindlichen ¿ega/definition ganz zu schweigen.2 Ein Grund für diesen Zustand liegt sicherlich darin, daß der Begriff des „acquis" in den verschiedensten Zusammenhängen gebraucht wird (siehe gleich noch unter I.). Dementsprechend wird man daher im weiteren von mehreren Begriffen des „acquis communautaire" auszugehen haben. Über das Begriffliche hinausgehend wirft der „acquis communautaire" jedoch noch eine Reihe weiterer, rechtssystematischer, rechtsdogmatischer wie rechtspolitischer Fragen auf. Einigen von ihnen soll in diesem Beitrag nachgegangen werden.

1 Aus dem nicht sehr zahlreichen einschlägigen Schrifttum zum „acquis communautaire" siehe Pescatore, Aspects judiciaires de l'„acquis communautaire", RTDE 17 (1981), 617 ff.; Dony, Acquis Communautaire, in: Barav/Philip (Hrsg.), Dictionnaire juridique des Communautés Européennes, 1993, S. 41 ff.; Gialdino , Some reflections on the Acquis Communautaire, CMLR 32 (1995), 1089 ff.; Krenzler , Preparing for the Acquis Communautaire, EUI Florenz, RSC Working Paper 98 / 6; Wiener , The Embedded Acquis Communautaire: Transmission Belt and Prism of New Governance, ELJ 4 (1998), 294 ff. 2

Vgl. hierzu auch Pescatore (Fn. 1), S. 24 f.

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Hans-Joachim Schütz

I. Überblick über die Erscheinungsformen des „acquis communautaire" Der Begriff des „acquis communautaire" wird in verschiedenen Zusammenhängen verwendet. Die wichtigsten sind:3 Der Beitritt neuer Mitgliedstaaten zu den Europäischen Gemeinschaften („Beitritts-Acquis"); Abschluß und Anwendung des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum 4 („EWR-Acquis"); Art. 2, 5. Spiegelstrich und Art. 3 Abs. 1 EUV („Unions-Acquis"); 5 „Schengen-Acquis".6 Unter „Schengen-Acquis" wird der Inhalt der von einigen EU-Staaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge sowie der Beschlüsse der von den Vertragsstaaten eingesetzten Organe zur allgemeinen Personenfreizügigkeit und damit verbundenen Fragen der inneren Sicherheit verstanden.7 Des weiteren findet sich der Begriff „acquis" in etwas abgewandelter Form etwa auch in Art. 2, 3. Spiegelstrich des 4. AKP-EG-Abkommens von Lomé aus dem Jahre 1989,8 in dem davon die Rede ist, daß die AKP-EG-Zusammenarbeit u.a. auf dem Prinzip der „Sicherheit ihrer Beziehungen, die sich auf den Besitzstand ihrer Kooperationsregelung stützt" („fondée sur l'acquis de leur système de coopération"), aufbaut. Allerdings handelt es sich hier ersichtlich um einen ganz speziellen, nicht eigentlichen „acquis communautaire ", d.h. gemeinschaftsinternen oder Gemeinschafts~„ acquis", vielmehr um einen, zwar durch die EG mit aufgebauten, aber außerhalb des engeren EG-Kontextes wirkenden „acquis". Die beiden zuletzt genannten Formen des „acquis" sollen hier im folgenden wegen ihrer doch sehr spezifischen Art und Probleme außer Betracht und müssen weiteren Studien vorbehalten bleiben.9 Hinzuzufügen ist den bisher genannten Zusammenhängen hier jedoch noch ein weiterer, nämlich der 3

Siehe zum folgenden ausführlicher Gialdino (Fn. 1), S. 1090 ff.; Dony (Fn. 1), S. 41 ff.

4

ABl. EG L 1/1994, S. 3.

5 Am 1.5.1999 ist der Vertrag von Amsterdam und mit ihm die neue Zählweise der Verträge in Kraft getreten. Zur besseren Orientierung wird allerdings im vorliegenden Beitrag auch die alte Zählung noch angegeben. Art. 2 und 3 EUV nach heutiger Zählung entspricht Art. B und C EUV a.F. 6

Vgl. das anläßlich des Abschlusses des Amsterdamer Vertrages verabschiedete Protokoll zum Vertrag über die Europäische Union und zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der Europäischen Union, BGBl. 1998 II S. 386 (429 ff.). 7 Zu erinnern ist an dieser Stelle daran, daß es neben dem „Schengen-Acquis" noch die im sog. dritten Pfeiler des EU-Vertrages in dessen Maastrichter Fassung angelegten, mit dem Amsterdamer Vertrag zum größten Teil in den Rahmen des EG-Vertrages überführten Regelungen zur Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZJI) gibt (jetzt: Titel IV des Dritten Teiles des EG-Vertrages).

* ABl. EG L 229/1991, S. 3. 9

Zum „Schengen-Acquis" siehe aber die materialreiche und um systematische Einordnung bemühte Studie von Hailbronner / Thiery, Amsterdam - Vergemeinschaftung der Sachbereiche Freier Personenverkehr, Asylrecht und Einwanderung sowie Überführung des SchengenBesitzstandes auf EU-Ebene, EuR 33 (1998), 583 (602 ff.).

Gestalt und Rechtscharakter des „acquis communautaire"

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Kontext der mit den Beitrittskandidaten aus Ost-, Mittelost- und Südosteuropa abgeschlossenen sog. Europa-Abkommen, 10 in denen die Beitrittskandidaten jeweils verpflichtet werden, ihre bestehenden und künftigen Rechtsvorschriften an das Gemeinschaftsrecht anzugleichen („Osterweiterungs-Acquis"). Zwar wird in den entsprechenden Anpassungsklauseln der Europa-Abkommen nirgends ausdrücklich vom „acquis communautaire" gesprochen. Allerdings machen die Ausführungen der Kommission in der „Agenda 2000" unmißverständlich klar, daß es sich bei der in den Europa-Abkommen vereinbarten Anpassung der Rechtsordnungen der Beitrittskandidaten um nichts anderes als um die Übernahme eines - allerdings wiederum spezifisch und unterschiedlich definierten - „acquis communautaire" handelt.11 II. Der „Beitritts-Acquis" 1. Der Inhalt der einschlägigen Bestimmungen der Beitrittsakte Seine klassische Ausprägung hat das, was gemeinhin mit „acquis communautaire" bezeichnet wird, in den Verträgen erfahren, welche mit neuen Mitgliedern der EG / EU aus Anlaß deren Beitritts zur EU / EG abgeschlossen werden. Als Beispiel mag der bislang jüngste Vertrag, die „Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge", 12 dienen. Dort heißt es: Artikel 2 Ab dem Beitritt sind die ursprünglichen Verträge und die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakte der Organe fur die neuen Mitgliedstaaten verbindlich und gelten in diesen Staaten nach Maßgabe der genannten Verträge und dieser Akte. Artikel J 13 Die neuen Mitgliedstaaten verpflichten sich, im Hinblick auf diejenigen Übereinkommen oder Instrumente in den Bereichen Justiz und Inneres, die von der Erreichung der Ziele des EU-Vertrags nicht zu trennen sind, 10

Vgl. ABl. EG L 347/1993, S. 2 (Ungarn); 348/1993, S. 2 (Polen); 68/1998, S. 3 (Estland); 26/1998, S. 3 (Lettland); 360/1994, S. 2 (Tschechien); 359/1994, S. 2 (Slowakei); 358/1994, S. 3 (Bulgarien); 357/1994, S. 2 (Rumänien); 51 /1998, S. 3 (Litauen). 11

Vgl. Agenda 2000, Bd. II, Dok. KOM (97) 2000 endg. v. 15.7.1997, S. A-10, S. 28.

12

ABl. EG C 241/1994, S. 21.

13

Eine Bestimmung wie die des Art. 3 fehlt naturgemäß in den Beitrittsakten, die mit den vor der Verabschiedung des Maastrichter Vertrages, in dem die hier angesprochenen Übereinkommen, Instrumente, Vorkehrungen etc. zur inneren Sicherheit und Justiz in den sog. dritten Pfeiler des EU-Vertrages aufgenommen wurden, beitretenden Mitgliedstaaten abgeschlossen worden waren. Wegen der Besonderheiten der damit angesprochenen Materie sollen die Bestimmungen des Art. 3 der Beitrittsakte im folgenden außer Betracht bleiben. Vgl. dazu noch einmal oben bei und in Fn. 6 und 7. 13 GS Jeand' Heur

194 -

-

Hans-Joachim Schütz

denjenigen, die bis zum Beitritt zur Unterzeichnung durch die derzeitigen Mitgliedstaaten aufgelegt worden sind, sowie denjenigen, die vom Rat gemäß Titel V I des EU-Vertrages ausgearbeitet und den Mitgliedstaaten zur Annahme empfohlen worden sind, beizutreten; Verwaltungs- und sonstige Vorkehrungen wie etwa diejenigen einzuführen, die von den derzeitigen Mitgliedstaaten oder vom Rat bis zum heutigen Tag des Beitritts angenommen wurden, um die praktische Zusammenarbeit zwischen in den Bereichen Justiz und Inneres tätigen Einrichtungen und Organisationen der Mitgliedstaaten zu erleichtern. Artikel 4

(1) Die neuen Mitgliedstaaten treten durch diese Akte den Beschlüssen und Vereinbarungen der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten bei. Sie verpflichten sich, ab dem Beginn alle sonstigen von den derzeitigen Mitgliedstaaten für das Funktionieren der Union oder in Verbindung mit deren Tätigkeit geschlossenen Übereinkünften beizutreten. (2) Die neuen Mitgliedstaaten verpflichten sich, den in Artikel 220 14 des EG-Vertrages vorgesehenen Übereinkommen und den in der Verwirklichung der Ziele des EGVertrages untrennbaren Übereinkommen sowie den Protokollen über die Auslegung dieser Übereinkommen durch den Gerichtshof beizutreten, die von den derzeitigen Mitgliedstaaten unterzeichnet wurden, und zu diesem Zweck mit den derzeitigen Mitgliedstaaten Verhandlungen im Hinblick auf die erforderlichen Anpassungen aufzunehmen. (3) Die neuen Mitgliedstaaten befinden sich hinsichtlich der Erklärungen, Entschließungen oder sonstigen Stellungnahmen des Europäischen Rates oder des Rates sowie hinsichtlich der die Gemeinschaften oder die Union betreffenden Erklärungen, Entschließungen oder sonstigen Stellungnahmen, die von den Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen angenommen wurden, in der selben Lage wie die derzeitigen Mitgliedstaaten; sie werden demgemäß die sich daraus ergebenden Grundsätze und Leitlinien beachten und die gegebenenfalls zu ihrer Durchfuhrung erforderlichen Maßnahmen treffen. Artikel 5 (1) Die von einer der Gemeinschaften mit einem oder mehreren dritten Staaten, mit einer internationalen Organisation oder mit einem Staatsangehörigen eines dritten Staates geschlossenen Abkommen oder Übereinkommen sind für die neuen Mitgliedstaaten nach Maßgabe der ursprünglichen Verträge und dieser Akte verbindlich. (2) Die neuen Mitgliedstaaten verpflichten sich, nach Maßgabe dieser Akte den von den derzeitigen Mitgliedstaaten zusammen mit einer der Gemeinschaften geschlossenen Abkommen oder Übereinkommen sowie den von diesen Staaten geschlossenen Übereinkünften, die mit diesem Abkommen oder Übereinkommen in Zusammenhang stehen, beizutreten. Die Gemeinschaft und die derzeitigen Mitgliedstaaten im Rahmen der Union leisten den neuen Mitgliedstaaten hierbei Hilfe. (3) Die neuen Mitgliedstaaten treten durch diese Akte und unter den darin vorgesehenen Bedingungen den internen Vereinbarungen bei, welche die derzeitigen Mitgliedstaaten zur Durchfuhrung der Abkommen oder Übereinkommen im Sinne des Absatzes 2 geschlossen haben. 14

Jetzt: Art. 293 EGV.

Gestalt und Rechtscharakter des „acquis communautaire"

195

(4) Die neuen Mitgliedstaaten ergreifen geeignete Maßnahmen, um gegebenenfalls ihre Stellung in bezug auf internationale Organisationen oder diejenigen internationalen Übereinkünfte, denen auch eine der Gemeinschaften oder andere Mitgliedstaaten als Vertragspartei angehören, den Rechten und Pflichten anzupassen, die sich aus ihrem Beitritt zur Union ergeben. Artikel 6 15

Artikel 234 des EG-Vertrages und die Artikel 105 und 106 des Euratom-Vertrags sind für die neuen Mitgliedstaaten auf die vor ihrem Beitritt geschlossenen Abkommen und Vereinbarungen anwendbar. Artikel

7

Die Bestimmungen dieser Akte können, soweit darin nicht etwas anderes vorgesehen ist, nur nach dem in den ursprünglichen Verträgen vorgesehenen Verfahren, die eine Revision der Verträge ermöglichen, ausgesetzt, geändert oder aufgehoben werden.

Ergänzend dazu heißt es in Art. 69 der Akte: 16 (1) Während eines Zeitraums von vier Jahren ab dem Beitritt finden die in Anhang V I I I genannten Bestimmungen [damit sind einige Rats-Richtlinien zur Behandlung gefahrlicher Stoffe gemeint] nach Maßgabe jenes Anhangs und entsprechend den darin festgelegten Bestimmungen keine Anwendung auf die Republik Österreich. (2) Die in Absatz 1 genannten Bestimmungen werden innerhalb dieses Zeitraums im Einklang mit den EG-Verfahren überprüft. Unbeschadet der Ergebnisse dieser Überprüfung gilt der gemeinschaftliche Besitzstand [i.e. „acquis communautaire"] ab dem Ende der in Absatz 1 genannten Übergangszeit für die neuen Mitgliedstaaten unter den gleichen Bedingungen wie für die derzeitigen Mitgliedstaaten.

Bereits zuvor hatte die Kommission in ihrer — befürwortenden - Stellungnahme zu den Beitrittsanträgen der drei Staaten klargestellt: 17 Mit ihrer Mitgliedschaft in der Europäischen Union akzeptieren die antragstellenden Staaten vorbehaltlos den Vertrag über die Europäische Union und all seine Zielsetzungen, die seit Inkrafttreten der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften und des Vertrages über die Europäische Union getroffenen Entscheidungen jeglicher Art sowie die hinsichtlich des Ausbaus und der Stärkung der Gemeinschaft getroffenen Optionen. Insbesondere ist die mit den Verträgen zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften geschaffene Rechtsordnung im wesentlichen gekennzeichnet durch die unmittelbare Anwendbarkeit einiger ihrer Bestimmungen und bestimmter von den Organen der Gemeinschaft erlassener Rechtsakte, durch den Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber ihm etwa entgegenstehender einzelstaatlicher Bestimmungen und durch das 15

Jetzt: Art. 307 EGV.

16

Art. 69 bezieht sich auf Österreich; gleichlautende Bestimmungen enthalten Art. 84 und 112 für Finnland und Schweden. 17

Vgl. ABl. EG C 241 /1994, S. 3.

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Hans-Joachim Schütz

Bestehen von Verfahren, die geeignet sind, die einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu sichern. Der Beitritt zur Europäischen Union schließt die Anerkennung des verbindlichen Charakters dieser Vorschriften ein, deren Einhaltung unerläßlich ist, um die Wirksamkeit und die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten. Die Grundsätze von Freiheit, Demokratie und Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten und Rechtsstaatlichkeit sind Teil des gemeinsamen Erbes der Völker der in der Europäischen Union zusammengeschlossenen Staaten und sind damit wesentliche Bestandteile der Mitgliedschaft in dieser Union. Eines der Ziele der Europäischen Union ist der Wunsch der Mitgliedstaaten, die Solidarität zwischen ihren Völkern zu verstärken und gleichzeitig ihre Geschichte, ihre Kultur und ihre Traditionen zu respektieren. Die Erweiterung der Europäischen Union durch den Beitritt der Republik Österreich, des Königreichs Schweden, der Republik Finnland ... wird dazu beitragen, den Schutz für Frieden und Freiheit in Europa zu erhöhen ...

Im wesentlichen gleichlautende Bestimmungen enthielten auch die anderen, aus Anlaß der früheren Beitritte abgeschlossenen Beitrittsakte. 18 2. Einordnung in das System der Rechtsquellen des Gemeinschaftsrechts Betrachtet man die Bestimmungen der Beitrittsakte, in denen die neu beitretenden Staaten auf den „acquis communautaire" verpflichtet werden, so fallt bereits nach einem ersten Blick zweierlei auf: Zum einen zeigt sich unter quantitativen Gesichtspunkten, daß das, was als „acquis communautaire" aufgefaßt wird, sehr umfangreich konzipiert, gleichzeitig aber auch relativ detailliert ausdifferenziert ist. Gerne verwendete Formeln zur Beschreibung dessen, was unter „acquis communautaire" gemeint sei, wie etwa die, daß darunter „the whole body of rules, political principles and judicial décisions which new Member States must adhere to" 1 9 zu verstehen sei, sind demzufolge - abgesehen davon, daß fraglich ist, ob die Urteile des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) wirklich zum „acquis" gehören - ersichtlich zu eng und auch zu ungenau. Betrachtet man die Bestimmungen über den „Beitritts-Acquis" des weiteren unter quellentheoretischem Aspekt, so erweist sich, daß jener „acquis" auch ein höchst heterogenes Gebilde darstellt. Er schließt mehrere Normschichten äußerst unterschiedlichen Charakters ein.

18 Vgl. ABl. EG L 73/1972, S. 1 (Dänemark, Irland, Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland); 291 /1979, S. 1 (Griechenland); 302/1985, S. 1 (Portugal, Spanien). 19

Vgl. Gialdino (Fn. 1), S. 1090.

Gestalt und Rechtscharakter des „acquis communautaire"

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a) Verträge Zunächst gehören zu ihm gemäß Art. 2 die „ursprünglichen Verträge". Was damit gemeint ist, ist nicht ganz klar. Sicher ist jedoch zunächst, daß damit in jedem Fall die Gründungsverträge gemeint sind. Sie sind in jedem Fall „ursprünglich", stellen sie doch die eigentliche (völker-)vertragsrechtliche Grundlage der EG dar. Fraglich könnte indes sein, ob auch die nachfolgenden Verträge, welche die ursprünglichen Gründungsverträge ergänzt, erweitert und modifiziert haben, zum „acquis" im Sinne der genannten Vorschrift zu zählen sind. Eine enge, am Wortlaut der Bestimmung orientierte Auslegung würde dafür zunächst wohl keine Grundlage abgeben. Allerdings wäre es andererseits sinnlos, diese Verträge nicht in den „acquis" einzubeziehen. Dies mag an einem Beispiel veranschaulicht werden: Mittels der sog. Fusionsverträge 20 wurden die vordem für jedes der einzelnen drei Vertragswerke selbständig bestehenden Hauptorgane Kommission (Hohe Behörde), Rat, Parlament (Versammlung) und Gerichtshof zu jeweils einem einzigen, für alle drei Vertragswerke einheitlich bestehenden Organ fusioniert. Es wäre nun aber absurd, für die Altmitglieder z.B. nur ein einziges Parlament zur Verfügung zu haben, während die Neumitglieder, weil sie nur auf die „ursprünglichen" Gründungsverträge verwiesen wären, wiederum jeweils drei Parlamente, nämlich für jedes Vertragswerk eines, zu beschicken hätten. Demzufolge ist also der Begriff „ursprüngliche Verträge" so zu interpretieren, daß damit selbstverständlich die ursprünglichen Gründungsverträge, in weiterer Folge aber auch diejenigen Verträge gemeint sind, die zur weiteren Ergänzung, Modifizierung etc. der Erstverträge abgeschlossen worden sind. Zu ihnen zählen die bereits erwähnten Fusionsverträge, die einzelnen Beitrittsverträge sowie die großen Vertragswerke, mittels derer die ursprünglichen Gründungsverträge in der Folge auch inhaltlich weiterentwickelt wurden, also die Einheitliche Europäische Akte sowie - dies gilt für alle ab jetzt in Zukunft beitretenden Staaten - die Verträge von Maastricht und Amsterdam. Zum „acquis" in diesem Sinne zählt demnach also die Gesamtheit der „konstitutionellen" Verträge, welche in weiterer Folge landläufig zum „Primärrecht" der Europäischen Gemeinschaften gerechnet werden. Unter rechtlichen Gesichtspunkten, insbesondere auch was ihren Rechtsquellencharakter und ihre Verbindlichkeit für die neuen Mitglieder betrifft, werfen sie keine weiteren Probleme auf. In Art. 4 Abs. 1 und 3 werden verschiedene weitere Arten von Übereinkommen als Bestandteil des „Beitritts-Acquis" benannt. In Art. 4 Abs. 1 zunächst die in ihrer Rechtsnatur lange Zeit umstrittenen Beschlüsse und Vereinbarungen „der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten", die sog. „uneigentlichen Ratsbeschlüsse".21 Ungeachtet jener Zweifel bzgl. 20 21

BGBl. 1957 II S. 1156; 1965 II S. 1454.

Vgl. Schweitzer , in: Grabitz / Hilf ( Hrsg.), Kommentar zur Europäischen Union, Art. 146, Rn. 11 ff.

198

Hans-Joachim Schütz

ihres Rechtscharakters werden sie aber durch die Aufnahme in den „BeitrittsAcquis" jedenfalls jeweils für die neu beitretenden Mitgliedstaaten als verbindlich erklärt und damit, was ihre Rechtsqualität betrifft, außer Streit gestellt. Problematisch an diesem Vorgang könnte jedoch sein, daß hiermit möglicherweise ein Zwei-Klassen-System von Mitgliedstaaten begründet wird, nämlich der sechs Altmitgliedstaaten einerseits, die weiterhin an ihren Zweifeln bzgl. des Rechtscharakters jener Akte festhalten können, und den Neumitgliedstaaten andererseits, denen dies wegen der Verankerung jener Beschlüsse und Vereinbarungen im „acquis" verwehrt ist. Des weiteren gehört zum „acquis" gemäß Art. 4 Abs. 1 die recht diffuse Gruppe der „sonstigen von den Mitgliedstaaten für das Funktionieren der Union oder in Verbindung mit deren Tätigkeit geschlossenen Übereinkünfte". Als konkrete Beispiele solcher Übereinkünfte hat der Gerichtshof etwa die Satzung der Europäischen Schule bzw. das Protokoll über die Gründung Europäischer Schulen benannt.22 Schließlich erfaßt der „acquis" gemäß Art. 4 Abs. 3 auch alle die Gemeinschaften oder die Union betreffenden Erklärungen, Entschließungen oder sonstigen Stellungnahmen, die von den Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen angenommen wurden. Als Beispiel für eine solche Übereinkunft hat der EuGH in dem vorerwähnten Urteil etwa den Beschluß des Obersten Schulrates der Europäischen Schule, der aus je einem Vertreter der sechs ursprünglichen Mitglieder (hier:) der EGKS bestand, angeführt, in welchem dieser bestimmte Steuerbefreiungen für an der Europäischen Schule beschäftigte Lehrer beschlossen hatte. Art. 4 Abs. 2 sowie Art. 5 Abs. 1 bis 4 schließlich erwähnen eine Reihe weiterer Verträge als Bestandteile des „acquis". Hier geht es jedoch nicht um Verträge, die sich mit dem inneren Ausbau der Gemeinschaften und deren Rechtsordnung beschäftigen, sondern um Verträge, die die EG als solche, zusammen mit den Mitgliedstaaten oder ohne diese, mit anderen Völkerrechtssubjekten geschlossen hat. Hierbei handelt es sich etwa um solche Verträge wie die aufgrund von Art. 293 (220 a.F.) EGV abgeschlossenen Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen aus dem Jahre 1968 oder das sog. Brüsseler Europäische Gerichtsstandsund Vollstreckungsübereinkommen - EuGVÜ; 23 oder um auf der Grundlage des Art. 133 (113 a.F.) EGV abgeschlossene Zoll- und Handelsverträge, Assoziierungsabkommen gemäß Art. 310 (238 a.F.) EGV oder mit anderen internationalen Organisationen geschlossene Verträge. 24 Diese Teile des „BeitrittsAcquis" werfen unter der vorliegenden Fragestellung keine größeren grundsätzlichen Probleme auf. 25 22

Vgl. EuGH, Rs. 44/84, „Hurd/ Jones", Slg. 1986, S. 29, Rn. 28.

23

Vgl. zum Ganzen Schweitzer,

24

in: Grabitz/Hilf

(Fn. 21), Art. 220, Rn. 7 m.w.N.

Siehe ausfuhrlicher hierzu Vedder, in: Grabitz/Hilf (Fn. 21), Art. 113 und Art. 238; Tietje, ebd., Art. 229-231. Zu weiteren Vertragsschlußmöglichkeiten s. etwa Art. 111 (109 a.F.) Abs. 5, Art. 174 (130r a.F.) Abs. 4 UAbs. 2, Art. 181 (130y a.F.) UAbs. 2 EGV, Art. 102 EAGV.

Gestalt und Rechtscharakter des „acquis communautaire"

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b) Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane Gemäß Art. 2 sowie Art. 4 Abs. 3 der Beitrittsakte werden die vor dem Beitritt der neuen Mitgliedstaaten erlassenen Rechtsakte der Organe der Gemeinschaften bzw. die Erklärungen, Entschließungen oder sonstigen Stellungnahmen des Europäischen Rates oder des Rates als für die neuen Mitgliedstaaten verbindlicher Bestandteil des „acquis" deklariert. Zwar ist die Bestimmung des Art. 2 zunächst insofern noch unproblematisch, als mit den dort genannten Rechtsakten auch diejenigen verbindlichen Rechtsakte der Gemeinschaften gemeint sind, die gemäß Art. 249 (189 a.F.) EGV vor dem Beitritt der neuen Mitgliedstaaten erlassen worden sind, also Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen. Sie sind jeweils in einem korrekten Verfahren erlassen worden und zeichneten sich von Anbeginn an durch ihre Rechtsverbindlichkeit aus. Gewisse Probleme ergeben sich jedoch auch in Bezug auf diese Rechtsakte in zweierlei Hinsicht. Zum einen im Hinblick auf die Entscheidungen: Diese sind in der Regel nach ihrem Erlaß lediglich für den betreffenden Einzelfall und nur für den betreffenden Adressaten verbindlich; nicht hingegen entfalten sie dabei generelle Geltung. Aufgrund des Wortlauts des Art. 2 allerdings müssen nun auch die neu beitretenden Mitgliedstaaten derartige Entscheidungen für sich als verbindlich anerkennen, auch wenn sie ursprünglich und eigentlich nicht an sie gerichtet waren bzw. sind. Problematisch sind zum anderen aber auch diejenigen Rechtsakte, die zwar gemäß der Verfahrensvorschrift des Art. 249 (189 a.F.) EGV korrekt ergangen sind, welche jedoch von ihrer Natur her gemäß dieser Vorschrift grundsätzlich unverbindlich sind, nämlich die Empfehlungen. Sie, die für die zum Zeitpunkt ihres Erlasses bereits innerhalb der EG befindlichen Altmitglieder unverbindlich waren und selbstverständlich bleiben, sollen gemäß dem Wortlaut des Art. 2 für die neuen Mitgliedstaaten verbindlich werden. 26 c) „ Soft law " Vollends problematisch werden die genannten Vorschriften der Art. 2 und 4 der Beitrittsakte indes unter dem Aspekt, daß im Sprachgebrauch der EG als Rechtsakte auch solche Akte der Gemeinschaftsorgane angesprochen werden, die außerhalb des in Art. 249 (189 a.F.) EGV vorgeschriebenen Verfahrens zustande kommen. Sie haben zum einen allein wegen dieses Verfahrensmangels schon einen zweifelhaften Rechtscharakter. 27 Darüber hinaus befinden sich unter ihnen aber auch solche Akte, welche — was auch immer ihr formaler 25

Zu einem möglichen einzelnen Problemaspekt siehe aber unten S. 203 f.

26

Zu diesen beiden Aspekten siehe ausführlicher noch unten S. 204 ff. und S. 206 ff.

27

Vgl. zu diesen sog. ungekennzeichneten Rechtsakten nur Oppermann , Europarecht, 2. Aufl. 1999, Rn. 577 ff.

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Charakter unter dem Aspekt des Art. 249 (189 a.F.) EGV sein mag - zunächst und von Haus aus unverbindliche Akte darstellen, welchen jedoch in der Folge in der Praxis der EG-Organe schrittweise doch gelegentlich rechtsverbindlicher Charakter zuerkannt wird. Hiermit sind die Akte des sog. „soft law" der Gemeinschaften angesprochen.28 Beispiele sind solche Akte wie die in der Regel in Form von Kommissionsmitteilungen verabschiedeten diversen „Gemeinschaftsrahmen" oder „Leitlinien" im Beihilfenbereich 29 oder die vom Rat gefaßten Beschlüsse zur Bildungspolitik. 30 Diese Organakte, denen jedenfalls unter dem für die Altmitgliedstaaten geltenden Rechtsregime bereits vehemente Zweifel ob ihrer Rechtsverbindlichkeit entgegenschlagen, bekommen nunmehr aufgrund der Bestimmungen der Beitrittsakte für die neuen Mitgliedstaaten ausweislich des Wortlautes der Beitrittsakte in jedem Fall verbindlichen Charakter. Damit aber ergibt sich erneut das Problem der Herausbildung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft innerhalb des Kreises der EG-Mitgliedstaaten: Konnten und können Altmitgliedstaaten zumindest ihre begründeten Zweifel hinsichtlich des Rechtscharakters dieser Akte formulieren, ist dies den Neumitgliedstaaten nach dem Beitritt und der Anerkennung des diesbezüglichen „acquis" nicht mehr oder nur unter erschwerten Bedingungen möglich. Für sie sind diese zweifelhaften Rechtsakte in jedem Fall verbindlich. Darüber hinaus stellt sich in allgemeiner Hinsicht die weitere Frage, ob hier über den Umweg des „acquis" in gewisser Weise eine Heilung der rechtsquellentheoretischen Mängel, die dem gesamten „soft law"-Komplex anhängen, stattfindet. 31

28

Vgl. zu diesem höchst umstrittenen Problemkomplex an dieser Stelle nur Bothe, „Soft law" in den Europäischen Gemeinschaften?, in: Ingo von Münch (Hrsg.), Staatsrecht - Völkerrecht - Europarecht. Festschrift für Hans-Jürgen Schlochauer, 1981, S. 761 ff.; ders., Legal and Non-legal Norms. A Meaningful Distinction in International Relations?, NethYIL 11 (1980), 65 ff.; Wellens / Borchardt, Soft Law in the European Community Law, ELR 14 (1989), 267 ff; Snyder, Soft Law and Institutional Practice in the European Community, in: The Construction of Europe. Essays in Honour of Emile Noel, 1994, S. 197 ff. 29 Vgl. dazu etwa Jestaedt / Häsemeyer, Die BindungsWirkung von Gemeinschaftsrahmen und Leitlinien im EG-Beihilfenrecht, EuZW 1995, 787 ff.; Uerpmann, Kooperatives Verwaltungshandeln im Gemeinschaftsrecht: die Gemeinschaftsrahmen für staatliche Beihilfen, EuZW 1998, 331 ff.; Erlbacher, Die neuen Leitlinien der Kommission für die Vergabe staatlicher Regionalbeihilfen, EuZW 1998, 517 ff.; Cremer, Mitgliedstaatliche Forschungsförderung und Gemeinschaftsrecht: Der neue Gemeinschaftsrahmen für staatliche Forschungsund Entwicklungsbeihilfen, EWS 1996, 379 ff. 30

Vgl. etwa den Ratsbeschluß 63 / 266 „über die Aufstellung allgemeiner Grundsätze für die Durchführung einer gemeinsamen Politik der Berufsausbildung", ABl. EG 69/1963, S. 1338. Vgl. hierzu auch ausführlicher Hochbaum, Politik und Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaften im Bildungswesen, BayVBl. 1987, 481 ff; ders., Nationales und gemeinschaftliches Interesse. Die europäische Bildungspolitik von Rom bis Maastricht, RdJB 1992, 505 ff.; sowie die noch von Bernd Jeand'Heur angeregte Rostocker Diss. iur. von Hauser, Rahmenbedingungen der Hochschulzulassung, 1999, S. 183 ff. 31

Siehe zu dem Fragenkomplex des „soft law" ausfuhrlicher noch unten S. 206 ff.

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Eine weitere Frage erhebt sich in Hinblick auf Art. 4 Abs. 3 der Beitrittsakte. Dort werden an Akten, die in der Folge als „soft law"-Akte begriffen werden könnten, ausdrücklich lediglich Erklärungen, Entschließungen oder sonstige Stellungnahmen des Europäischen Rates oder des Rates erwähnt. Hingegen fehlt ein Hinweis auf etwaige Erklärungen usw. der Kommission. Dies bedeutet, daß solche Akte offensichtlich - jedenfalls unter dem Regime des Art. 4 Abs. 3 3 2 - nicht vom „Beitritts-Acquis" erfaßt werden sollen. Dies hat im Schrifttum zu gelegentlichen Irritationen geführt. Zum Ausgleich dieser vermeintlichen „Lücke" wurde dann vorgeschlagen, die betreffende Vorschrift des Art. 4 Abs. 3 - unter dem Aspekt des „Respekts der Bedingungen der Gleichheit unter den Mitgliedstaaten" - so auszulegen, daß sie auch etwaige einschlägige Akte der Kommission umfasse. 33 Einer derartigen Interpretation kann jedoch nicht zugestimmt werden. Hierfür ist der Wortlaut zu eindeutig. Es ist anzunehmen, daß, wenn dort nur vom Rat die Rede ist, auch nur der Rat gemeint war bzw. einzig dessen einschlägige Akte in den Geltungsbereich des Art. 4 Abs. 3 einbezogen werden sollten. Ist der Wortlaut aber so eindeutig, so müßte schon ein schlagender Beweis erbracht werden, daß seinerzeit bei der Abfassung des Art. 4 Abs. 3 - trotz des insoweit entgegenstehenden klaren Wortlauts der Bestimmung - gleichwohl auch Akte der Kommission gemeint gewesen seien. Einen solchen Beweis bleibt jene Argumentation aber schuldig. Im übrigen jedoch ist dieser Weg der Begründung des Einbezuges etwaiger „soft law"-Akte der Kommission in den „Beitritts-Acquis" auch unnötig, jedenfalls dann, wenn man der weiter oben in dieser Studie vorgeschlagenen Ableitung über Art. 2 der Beitrittsakte folgt, derzufolge der in dieser Vorschrift verwendete Ausdruck „Rechtsakte der Organe" alle Organakte erfaßt, also auch diejenigen, welche von den Organen unter Umgehung der genauen Verfahrensvorschriften des Art. 249 (189 a.F.) EGV erlassen werden und unter denen sich auch zahlreiche „soft law"-Akte befinden. d) Urteile des Europäischen Gerichtshofes Eine weitere Frage ist schließlich, ob von dem in Art. 2 der Beitrittsakte verwendeten Begriff der Rechtsakte auch die Urteile des EuGH erfaßt werden. 34 Dies könnte bezweifelt werden. Allerdings stellen Urteile des EuGH zweifellos Rechtsakte eines EG-Organs in dem Sinne dar, als mit ihnen gewisse Rechtswirkungen erzeugt werden. Probleme ergeben sich in diesem Zusammenhang aber dann, wenn man sich die Wirkung vor Augen hält, welche Urteilen des EuGH gemeinhin beigemessen wird. Nach herrschender Lehre sind Urteile des 32 Daß Art. 2 der Beitrittsakte hier anders gelagert ist, ist im Vorstehenden gerade gezeigt worden. 33

So Gialdino (Fn. 1), S. 1097.

34

So aber jedenfalls Gialdino (Fn. 1), S. 1098.

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Gerichtshofes nämlich nur im und für den konkreten Ausgangsfall verbindlich, durch die Aufnahme in den „acquis" würden sie aber - jedenfalls in Hinblick auf die Neumitgliedstaaten — allgemein verbindlich gemacht. Damit aber ergäbe sich - neben quellentheoretischen Fragezeichen - das Problem einer gewissen Ungleichbehandlung von Alt- und Neumitgliedstaaten. Auf diese Problematik ist unten im größeren Zusammenhang der Diskussion der Verbindlichkeit der einzelnen „acquis"-Bestandteile noch ausführlicher zurückzukommen. e) Der „acquis communautaire" als eine besondere Ausprägung eines gemeinschaftsrechtlichen Gewohnheitsrechts? Man könnte die Frage stellen, ob man den „acquis communautaire" als eine besondere Ausprägung eines sich im Rahmen der EG herausbildenden Gewohnheitsrechts begreifen kann bzw. ob man den Rechtsquellencharakter des „acquis" dadurch zu erfassen in der Lage ist, daß man ihn eben als eine solche besondere Ausprägung von Gewohnheitsrecht begreift. Dieser Frage wohnt deshalb eine gewisse Spannung inne, weil die Frage der Geltung von Gewohnheitsrecht im Rahmen der Gemeinschaftsrechtsordnung durchaus strittig ist. Zwar bejaht ein Teil des Schrifttums die Möglichkeit bzw. das Vorhandensein solchen gemeinschaftsrechtlichen Gewohnheitsrechts über weite Strecken mehr oder minder fraglos. 35 Der EuGH hingegen, auf dessen Haltung es diesbezüglich ja besonders, wenn nicht entscheidend ankommt, steht der Anerkennung von europäischem Gewohnheitsrecht eher skeptisch, wenn nicht völlig ablehnend gegenüber.36 Zwar ist hier noch einmal insoweit weiter zu differenzieren, je nachdem, ob es sich um gewohnheitsrechtliche Praxis entweder der EG-Organe oder der Mitgliedstaaten handelt, sowie des weiteren, ob es sich um gewohnheitsrechtliche Praxis entweder praeter legem oder extra/contra legem handelt. Auch wird man hinsichtlich der verschiedenen Rechtsakte, die den „acquis" gemäß den Bestimmungen der Beitrittsakte ausmachen, differenzieren müssen: So stellt sich die Frage nach der gewohnheitsrechtlichen Geltung des „acquis" z.B. bei Verordnungen oder Richtlinien grundsätzlich ohnehin nicht, da diese auch schon — und zwar sowohl für Altmitglieder als auch qua „acquis" für neue Mitglieder — aus sich heraus verbindlich sind. Problematische Fälle sind allerdings auch wiederum unter diesem Aspekt die „soft law"-Akte sowie die Urteile des EuGH. Sie stellen zweifellos — wie auch immer zunächst im Hinblick auf ihre Verbindlichkeit rechtlich einzuordnende — Akte der gewohn35 Vgl. aus der Lehrbuchliteratur nur Oppermann (Fn. 27), Rn. 480; Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl. 1997, Rn. 560 ff.; Hummer/Schweitzer, Europarecht, 5. Aufl. 1996, Rn. 17; Rasmussen, EU-ret i kontekst, 2. Aufl. 1995, S. 125. 36 Vgl. Rs. 7/71, Kommission ./. Frankreich, Slg. 1971, S. 1003, Rn. 18/20; Rs. 118/75, „Watson und Belman", Slg. 1976, S. 1185; Rs. 68/86, Vereinigtes Königreich ./. Rat, Slg. 1988, S. 855, Rn. 24; möglicherweise vorsichtig positiv eingestellt in Rs. 81/72, Kommission ./. Rat, Slg. 1973, S. 575, Rn. 6 f.

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heitsmäßigen Praxis dar. In ihrer Anerkennung in der Beitrittsakte durch die neu beitretenden Mitgliedstaaten als verbindlich könnte jedoch in weiterer Folge die zur Entstehung von Gewohnheitsrecht erforderliche zweite, subjektive Komponente, nämlich die „opinio iuris" gesehen werden. Insoweit würde jedenfalls der „acquis" auch der Diskussion um die Geltung von Gewohnheitsrecht im Rahmen des Europäischen Gemeinschaftsrechts eine neue Fa9ette hinzufügen. 3. Zur Frage von Art und Umfang der Verbindlichkeit des „acquis" a) Sofortige und unmittelbare Anwendbarkeit der „acquis"-Normen und Vorrang vor mitgliedstaatlichem Recht Wie der EuGH in mehreren einschlägigen Urteilen festgestellt hat, werden der „acquis" bzw. die in ihm zusammengefaßten Rechtsnormen für die neu beitretenden Mitgliedstaaten unmittelbar mit deren Beitritt vollständig anwendbar. 37 Dies bedeutet gleichzeitig, daß die betreffenden Normen in der Rechtsordnung der neuen Mitglieder Anwendungsvorrang genießen, d.h. entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht zurückzuweichen hat bzw. im betreffenden Fall unanwendbar wird. Der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts ist seit dem Urteil des EuGH in der Rs. „Costa /E.N.E.L." 3 8 Gemeingut der Gemeinschaftsrechtsordnung und an sich auch für den vorliegenden Zusammenhang nichts Besonderes. In einer Hinsicht jedoch ergibt sich durch die Anwendung der „acquis"-Bestimmungen eine Konsequenz, die hier einen gewissen neuen Akzent setzt. In Art. 4 Abs. 2 der Beitrittsakte werden bestimmte Verträge (Art. 293/220 a.F. EGV; vgl. oben S. 198) als Bestandteil des „acquis" und damit als Bestandteile der Gemeinschaftsrechtsordnung ausgewiesen. In Hinblick auf diese Verträge herrschte im Schrifttum gelegentlich Unsicherheit darüber, ob sie zum Gemeinschaftsrecht gehören und entsprechend auch am Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts teilhaben oder nicht. 39 Anlaß für Zweifel hat insbesondere auch die Rechtsprechung des EuGH gegeben, die nicht immer ganz einheitlich bzw. klar war. 40 Hier bringt nun aber die 37

EuGH, Rs. C-233/97, „KappAhl Oy", Urt. v. 3.12.1998, Rn. 15 (noch nicht in amtl. Slg.); ebenso GA Alber , Schlußantrag v. 19.1.1999, Rs. C-328/96, Kommission ./. Österreich, Rn. 59 (noch nicht in amtl. Slg.); vgl. auch Rs. 44/84, „Hurd/Jones", Slg. 1986, S. 29, Rn. 29. Vgl. hierzu auch Potacs , Erfahrungen eines neuen Mitgliedstaates im Hinblick auf die europäische Rechtseinheit - das Beispiel Österreichs, EuR 1998, Beiheft 1, S. 59. 38

Rs. 6/64, Slg. 1964, S. 1141.

39

Vgl. Oppermann (Fn. 21), Rn. 613; Schwartz , in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann (Hrsg.) - im folgenden: GTE - , Kommentar zum EU/ EG-Vertrag, 5. Aufl. 1997, Art. 220, Rn. 12; Klein , in: Hailbronner / Klein / Magiera / Müller-Graff, Handkommentar zum Vertrag über die Europäische Union (EUV/EGV), Art. 220, Rn. 10. 40 Vgl. Rs. 288/82, „Duinstee/Goderbauer", Slg. 1983, S. 3663, Rn. 12-14, einerseits, sowie Rs. C-398 / 92, „Mund & Fester", Slg. 1994 I, S. 467, Rn. 11 f., 22, andererseits.

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„acquis"-Regelung, zumindest für die neuen Mitglieder, eine gewisse Klarstellung insofern, als sie jene Verträge zunächst zum „acquis" rechnet, sie damit aber in der Folge an den innerstaatlichen Wirkungen des „acquis" in den Mitgliedstaaten teilhaben läßt, zu welchen unmißverständlich auch der Anwendungsvorrang der „acquis"-Normen gehört. b) „ Verdinglichung" einzelner Rechtsakte durch Aufnahme in den „acquis "? Ein gewisses Problem ergibt sich im vorliegenden Zusammenhang dadurch, daß zum „acquis" - wie oben gezeigt - auch Rechtsakte wie die Entscheidungen von EG-Organen, möglicherweise sogar die Urteile des EuGH gehören. Entscheidungen sind grundsätzlich nach ihrem Erlaß lediglich für den betreffenden Einzelfall und nur für den betreffenden Adressaten verbindlich; nicht hingegen entfalten sie dabei generelle Geltung. Aufgrund des Wortlautes des Art. 2 der Beitrittsakte allerdings müssen nun auch die neu beigetretenen Mitgliedstaaten derartige Entscheidungen für sich als verbindlich anerkennen, auch wenn diese ursprünglich und eigentlich nicht an sie gerichtet waren bzw. sind. Damit wird diesen Entscheidungen aber, wenn auch nur für die Neumitglieder, eine allgemeine Gültigkeit zugesprochen. Es findet hier also so etwas wie eine „Verobjektivierung" oder „Verdinglichung" der betreffenden Einzelrechtsakte statt. Die Konsequenzen dessen sind zweierlei Art: Zum einen wird über den Umweg des „acquis" der ursprüngliche Charakter dieser Rechtsakte als Einzelrechtsakte verändert. Zum anderen wird auch eine Zwei-Klassen-Gesellschaft von Mitgliedstaaten geschaffen: Auf der einen Seite stehen die Altmitgliedstaaten, für die jene Rechtsakte nur Geltung und Verbindlichkeit im Einzelfall entfalten bzw., wenn sie an dem betreffenden Verfahren nicht beteiligt waren, eben keine Geltung entfalten; auf der anderen Seite die neu beitretenden Mitgliedstaaten, für die jene Akte - ohne daß sie an dem Verfahren beteiligt gewesen wären - in allgemeiner Weise Geltung und damit Verbindlichkeit entfalten. 41 Ähnliches gilt hinsichtlich der Urteile des EuGH. Nach herrschender Lehre sind Urteile des Gerichtshofes nur im und für den konkreten Ausgangsfall verbindlich, sei es, daß es sich um ein vor dem EuGH durchgeführtes streitiges Verfahren handelt, sei es aber auch, daß es sich um ein Vorlageverfahren gemäß Art. 234 (177 a.F.) EGV handelt. Rechnet man nun aber - in einer entsprechenden Auslegung des in Art. 2 der Beitrittsakte verwendeten Begriffes „Rechtsakte" - zu den zum „acquis" gehörenden Rechtsakten auch Urteile des EuGH, so würde sich diesbezüglich eine etwas merkwürdige Trennungslinie zwischen alten und neu beitretenden Mitgliedstaaten ergeben: Während es für erstere, die nicht auf den entsprechenden „acquis" verpflichtet worden sind, bei der klassischen Wirkung von EuGH-Urteilen bleibt, nämlich dergestalt, daß diese eben nur für den konkreten Anlaßfall verbindlich sind, nicht aber als 41

In diesem Sinne kritisch auch Gialdino (Fn. 1), S. 1098.

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verbindliches Präjudiz für alle anderen gelten, würden sie für die neu beitretenden Mitgliedstaaten im nachhinein alle verbindlich. Um hier nun zu einer tragfahigen Lösung des Problems zu kommen und beiden - durchaus berechtigten - Anliegen gleichermaßen gerecht zu werden, nämlich dem Wunsch nach voller Geltung des „acquis" einerseits sowie der Gleichbehandlung alter und neuer Mitgliedstaaten andererseits, wird man hier eine differenzierende Anwort geben müssen. Einen Ansatzpunkt bietet möglicherweise die oben zitierte Stellungnahme der Kommission zum Beitritt neuer Mitgliedstaaten. Ihrzufolge gehören zum „acquis" gewisse grundlegende Prinzipien der Gemeinschaftsrechtsordnung wie z.B. der Grundsatz der unmittelbaren Anwendbarkeit bestimmter von den EG-Organen erlassener Rechtsakte, die Regel vom Anwendungsvorrang oder der Auslegungsgrundsatz der Effektivität („praktische Wirksamkeit", „effet utile") und Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts, 42 alles Rechtsgrundsätze, die in der Rechtsprechung des EuGH entwickelt worden sind, Geltung jedoch - über die einzelnen konkreten Anlaßfalle hinaus — für die Gesamtrechtsordnung des Gemeinschaftsrechtes beanspruchen. Von diesem Nexus ausgehend könnte nun für den vorliegenden Fall postuliert werden, daß für die neu beitretenden Mitgliedstaaten aufgrund der „acquis"-Bestimmungen in der Tat die genannten Rechtsakte (Entscheidungen, EuGH-Urteile) verbindlich werden, allerdings nicht in ihrer Eigenschaft als einzelne Akte zur Entscheidung eines bestimmten Einzelfalles, sondern nur insofern und soweit, als in ihnen Rechtssätze zum Ausdruck gebracht werden, denen eine über den konkreten Anlaßfall hinausgehende allgemeine Bedeutung zukommt, und die daher allgemeine Geltung beanspruchen können. Verbindlich in diesem Sinne wären also für die Neumitglieder nicht die einzelnen Entscheidungen oder Urteile als solche, sondern lediglich die in ihnen entwickelten und zum Ausdruck gebrachten Grundsätze des Gemeinschaftsrechts. 43 Im einzelnen wären zu diesen Grundsätzen, die in der Rechtsprechung des EuGH entwickelt worden sind, neben den im Vorstehenden bereits genannten Grundsätzen der unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts, des Anwendungsvorranges oder der Effektivität und Einheitlichkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung beispielsweise die zu den einzelnen Grundfreiheiten entwickelten Grundsätze (konkretes Beispiel etwa: die sog. „zwingenden Erfordernisse des Gemeinwohls" als weitere immanente, allerdings eng auszulegende Schranke der Freiheiten) 44 oder die Grundrechtsrechtssprechung des EuGH zu zählen.45 Als Beispiele für in der Entscheidungspraxis der Kommission entwickelte, zum „acquis" gehörende Grundsätze könnten die Regeln über die Rückforderung und 42

Vgl. Verb. Rs. 205-215 / 82, „Deutsches Milchkontor", Slg. 1983, S. 2633.

43

So, bezogen speziell auf Urteile des EuGH, zutreffend auch Gialdino (Fn. 1), S. 1098; Krenzier (Fn. 1), S. 6. 44

Vgl. Schütz , Cassis de Dijon, JURA 1998, 631 (635 f.).

45

Ausfuhrlicher zum ganzen Pescatore (Fn. 1), S. 621 ff.

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Rückzahlung zu Unrecht gewährter Beihilfen genannt werden. 46 Im übrigen aber ist festzuhalten, daß - über die Frage der allgemeinen Geltung und Verbindlichkeit von Einzelentscheidungen und EuGH-Urteilen hinaus - derartige Akte und Urteile stets - und zwar sowohl für Alt- wie Neumitglieder, für erstere seit je her mit ihrem Erlaß, für letztere über den „acquis" — eine allgemeine Wirksamkeit insofern entfalten, als von ihnen eine gewisse Tatbestandswirkung ausgeht. c) „ Verrechtlichung" des „soft law" der EG durch Aufnahme in den „acquis"? Probleme entstehen auch durch die Aufnahme von „soft law"-Akten der Gemeinschaftsorgane in den „acquis". Das gleiche gilt hinsichtlich der aufgrund von Art. 249 (189 a.F.) EGV erlassenen Empfehlungen. Alle diese Akte sind von Haus aus rechtlich unverbindlich. Über den Umweg des „acquis" werden sie jedoch, jedenfalls für die neu beitretenden Mitgliedstaaten, verbindlich gemacht. Dadurch wird jedoch in weiterer Folge - zusätzlich zu dem quellentheoretischen „Fauxpas", der darin besteht, daß ursprünglich unverbindliche Akte mit einem Mal in verbindliche Rechtsakte umgemünzt werden - erneut eine Zwei-Klassen-Gesellschaft von Mitgliedstaaten geschaffen: Auf der einen Seite wiederum die Altmitgliedstaaten, für die es bei der grundsätzlichen Unverbindlichkeit jener Akte bleibt (bzw. die jedenfalls - konkret bezogen auf das „soft law" — weiterhin ihre Auffassung von der grundsätzlichen Unverbindlichkeit des „soft law" vertreten können); auf der anderen Seite die neu beitretenden Mitgliedstaaten, für die dies alles nicht mehr gilt. Eine Auflösung dieses Dilemmas fällt schwer, schwerer jedenfalls als die Auflösung des Dilemmas, welche im vorstehenden Unterabschnitt bzgl. des dort angesprochenen, ähnlich gelagerten Falles versucht worden ist. Als möglicher Ansatzpunkt für eine Lösung könnte hier ein Urteil des EuGH herangezogen werden, welches oben bereits einmal zitiert worden ist. 47 In diesem Verfahren ging es um den Rechtscharakter, insb. die rechtliche Verbindlichkeit eines Beschlusses eines aus je einem Vertreter der ursprünglichen EG-Mitgliedstaaten bestehenden Gremiums, den diese im Rahmen und auf der Grundlage eines von ihnen zuvor abgeschlossenen Übereinkommens zur Einrichtung einer Europäischen Schule getroffen hatten,48 bzw. darum, ob und inwieweit dieser Beschluß durch die Aufnahme in den „Beitritts-Acquis" für die Neumitglieder verbindlich wird. Großbritannien, welches nicht zu den ursprünglichen Mitgliedern gehört, hatte in dem Verfahren zunächst bestritten, daß der betreffende Beschluß überhaupt unter die Bestimmung des Art. 4 Abs. 3 der Beitrittsakte zu subsumieren sei 46

Vgl. Schütz/Dibelius,

47

Rs. 44/84, „Hurd/Jones", Slg. 1986, S. 29.

48

Vgl. noch einmal oben S. 198.

Die verkonsumierte Subvention, JURA 1998, 427 ff.

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und unter die dort genannte Kategorie von Übereinkommen falle; sowie des weiteren vorgebracht, daß jener Beschluß - selbst wenn er grundsätzlich unter diese Kategorie falle — seinerzeit rechtlich unverbindlich war und daher in der Folge auch Großbritannien nicht binden könne. Hierzu stellte der Gerichtshof fest, daß Art. 4 Abs. 3 der Beitrittsakte lediglich das Ziel habe, für die neuen Mitgliedstaaten dieselben Verpflichtungen zu begründen wie für die ursprünglichen Mitgliedstaaten. Allerdings verleihe Art. 4 Abs. 3 den Rechtsakten, auf die er anwendbar ist, keine zusätzliche Rechtswirkungen. Vielmehr bestimme er nur, daß die neuen Mitgliedstaaten die sich aus den Rechtsakten ergebenden Grundsätze und Leitlinien zu beachten und die ggfs. zu deren Durchführung erforderlichen Maßnahmen zu treffen hätten.49 Man könnte diese Aussage des EuGH so interpretieren, daß damit nur eine rein formale Bindung der neu beitretenden Mitgliedstaaten an den „acquis" an sich, d.h. an die einzelnen Kategorien von Rechtsakten postuliert würde, damit aber noch nichts über die Verbindlichkeit einzelner solcher Rechtsakte gesagt würde. Diese würde sich dann nach den allgemeinen, für die einzelnen Rechtsaktekategorien geltenden Verbindlichkeitsregeln bestimmen. Konkretisiert am zuvor angeführten Beispiel würde dies bedeuten, daß die Neumitglieder sich gemäß Art. 4 Abs. 3 der Beitrittsakte einerseits zwar verpflichten, alle Beschlüsse, die unter die obengenannte Kategorie fallen, zu übernehmen; die konkrete Rechtsverbindlichkeit eines bestimmten Beschlusses würde sich andererseits aber danach richten, ob dem betreffenden Beschluß seinerzeit rechtsverbindliche Kraft zugekommen bzw. von den ursprünglichen Mitgliedern beigemessen worden ist oder nicht. Eine solche Interpretation hätte weitreichende Folgen für die Einordnung des „acquis" in das Rechtsquellensystem des Gemeinschaftsrechts. Damit ließe sich ein differenziertes Einordnungsraster erstellen und ein getreues Abbild des anzuwendenden Rechts herstellen. Aber auch eine umgekehrt argumentierende Auslegung implizierte weitreichende Folgen für die Einordnung des „acquis". Würde nämlich die Verpflichtung zur Übernahme des „acquis" auch eine Pflicht zur rechtsverbindlichen Übernahme der Inhalte der betreffenden Rechtsakte enthalten, so könnte sich die Situation ergeben, daß die neu beitretenden Mitgliedstaaten den Inhalt seinerzeit unverbindlicher Beschlüsse nunmehr als verbindlich für sich anerkennen müßten, während es für die ursprünglichen Mitglieder bei der seinerzeitigen Unverbindlichkeit des betreffenden Aktes bliebe. Der Gerichtshof scheint in seinem vorzitierten Urteil allerdings dieser Interpretationsvariante nicht, sondern vielmehr der erstgenannten zu folgen, wenn er sagt, daß Art. 4 Abs. 3 Rechtsakten keine zusätzlichen Rechtswirkungen verleihe. Diese Aussage konterkariert er aber sofort anschließend mit der Feststellung, daß die Neumitglieder gleichwohl die sich daraus ergebenden Grundsätze und Leitlinien zu beachten und die ggfs. zu ihrer Durchführung erforderlichen Maßnahmen zu treffen hätten. Dies läuft — auch wenn nur von 49 A.a.O., Rn. 25, 30. Vgl. auch noch einmal oben den einschlägigen Text des Art. 4 Abs. 3.

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Grundsätzen und Leitlinien gesprochen wird - doch auf eine Bindung an die Inhalte der betreffenden Rechtsakte hinaus, auch wenn es der Gerichtshof dabei vermeidet, ausdrücklich von der Bindung an den konkreten Inhalt des Rechtsaktes zu sprechen. Es zeigt sich also, daß ein Rekurs auf das oben genannte Urteil des EuGH nicht zur Auflösung des bezeichneten Dilemmas beiträgt. Einen Ausweg böte hier aber möglicherweise die weiter oben dargestellte völkergewohnheitsrechtliche Überlegung. Demnach wäre in dem „acquis" der von Haus aus unverbindlichen Empfehlungen, „soft law"-Akte etc. eventuell eine einschlägige, auf die Herausbildung entsprechenden Gewohnheitsrechts gerichtete Übung zu erblicken, der mit der diesbezüglichen Verpflichtung in der Beitrittsakte die noch fehlende „opinio iuris" hinzugefügt würde. Allerdings wäre ein solcher Begründungszusammenhang nur für die neu beitretenden Mitgliedstaaten ableitbar; auf die Altmitgliedstaaten hingegen wäre er nicht anwendbar. Für sie könnte er in weiterer Folge aber u.U. über den „Unions-Acquis" (Art. 2 und 3 EUV) zu konstruieren sein (dazu noch unten III.). d) Zur Unterscheidung „Primärrecht"

und „Sekundärrecht"

Die Unterscheidung zwischen „Primärrecht" und „Sekundärrecht" ist im Gemeinschaftsrecht geläufig. Dabei wird, auch wenn im einzelnen strittig sein mag, was alles zum „Primärrecht" gehört, an diese Unterscheidung die Folge geknüpft, daß das „Primärrecht" dem „Sekundärrecht" vorrangig sei und so etwas wie die „Verfassung" der EG darstelle, an der sich letztlich auch das „Sekundärrecht", also das abgeleitete „einfache" Organrecht messen lassen müsse. Wirft man auf die Bestimmungen der Beitrittsakte auch nur einen oberflächlichen Blick, so fallen sofort einige Normenkomplexe ins Auge, die man ohne zu Zögern als dem „Primärrecht" zugehörig betrachten würde. Ein Beispiel hierfür sind die in Art. 2 der Beitrittsakte angesprochenen „ursprünglichen Verträge", d.h. die EG-Gründungsverträge (siehe noch einmal oben), die in der EuGH-Rechtsprechung durchaus gelegentlich als „Verfassungsurkunde der Gemeinschaft" apostrophiert werden. 50 Ebenfalls wären zum „primärrechtlichen" Gehalt des so betrachteten „acquis" - sofern man überhaupt die Auffassung teilt, der „acquis" umfasse auch die Urteile des EuGH - jedenfalls die Grundsätze der EuGH-Rechtsprechung (siehe noch einmal im Vorstehenden S. 205) zu zählen.51 Über diese traditionelle und an sich unproblematische Sicht der Dinge hinausgehend stellen sich aber weitergehende Fragen. Zunächst könnte die Frage gestellt werden, ob für die neu beitretenden Mitgliedstaaten der „acquis" möglicherweise als solcher und in seiner Gesamtheit, gleichsam das gesamte „acquis50

Vgl. Rs. 294/83, Les Verts ./. Parlament, Slg. 1986, S. 1339, Rn. 23; Gutachten 1/91, ,EWR-Gutachten", Slg. 1990 I, S. 6079, Rn. 21. 51

So Pescatore (Fn. 1), S. 620.

Gestalt und Rechtscharakter des „acquis communautaire"

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Paket", primärrechtlichen Charakter annimmt einschließlich der in diesem Paket enthaltenen, ursprünglich als Sekundärrecht ergangenen Rechtsakte. Die Folge dessen wäre, daß damit nicht nur von Haus aus und genuin primärrechtlichen Normen, sondern auch eigentlich sekundärrechtlichen und damit nachrangigen Vorschriften Vorrang gegenüber später erlassenem Sekundärrecht und damit eine entsprechende Maßstabs- und Sperrfunktion zuwüchse. Jene Frage ist nicht so absurd, wie es auf den ersten Blick erscheinen könnte. Sie entfaltet ihre Virulenz jedoch erst dann richtig, wenn man sie mit einer zweiten Frage verknüpft, welche im Schrifttum gelegentlich formuliert wird: Ist der „acquis" etwas, was festen Bestand hat und was nicht mehr „unterboten", ja noch nicht einmal in Frage gestellt werden dürfe? 52 Konsequent zu Ende gedacht würde dies bedeuten, daß eben alle im „acquis" enthaltenen Normen, also auch diejenigen ursprünglich sekundärrechtlichen (oder - wie das „soft law" — sogar noch geringeren) Charakters, vorrangigen Charakter annähmen und nachfolgend zu erlassende Rechtsakte - möglicherweise auch solche, die an sich der Klasse der Primärrechtsnormen zuzuweisen wären - an ihnen zu messen wären, in jedem Falle aber in ihrer Zielrichtung nicht von ihnen abweichen dürften. Ein Blick indes in die Beitrittsakte führt zu einer schnellen Klärung zumindest eines Teiles der aufgeworfenen Fragen. Gemäß Art. 2 der Beitrittsakte sind ab dem Beitritt „die ursprünglichen Verträge und die vor dem Beitritt erlassenen Rechtsakte der Organe für die neuen Mitgliedstaaten verbindlich". In weiterer Folge heißt es dann aber: „und gelten in diesen Staaten nach Maßgabe der genannten Verträge und dieser Akte". Das bedeutet aber auch, daß das, was von den EG-Organen seinerzeit „nach Maßgabe der Verträge" als Sekundärrecht erlassen worden ist, weiterhin als das „gilt", als was es seinerzeit erlassen worden ist, nämlich als Sekundärrecht. Der „acquis" läßt also insofern die überkommene Unterscheidung zwischen „Primär-" und „Sekundärrecht" unberührt. Auch nach Annahme des „acquis" gilt: Primärrecht bleibt Primärrecht, Sekundärrecht bleibt Sekundärrecht. Noch nicht beantwortet ist damit aber die Frage nach dem Rang des „acquis" an sich. Folgte man der oben dargestellten Auffassung, ergäbe sich die Konsequenz, daß der „acquis" (möglicherweise - gemäß der im vorstehenden Absatz geführten Argumentation - abzüglich seiner Anteile sekundärrechtlichen oder noch „minderen" rechtlichen Charakters) letztlich in der Tat alle möglichen späteren Rechtsentwicklungen determinieren würde einschließlich etwaiger Rechtssetzungsvorgänge im Primärrechtsbereich, insofern also sogar „ÜberPrimärrechts-Rang" annehmen würde. 53 Eine Variante dieser Auffassung ist die, wonach, wenn schon nicht der „acquis" als solcher, so doch zumindest 52 Vgl. etwa Pescatore (Fn. 1), S. 618: „L'acquis ... est plus qu'un simple ,actif. Car un actif peut être dilapidé; l'acquis doit être, à tout prix, préservé et défendu. ... [l'acquis] apparaît comme une conquête définitive, qui ne saurait être remise en question." 53

So auch Gialdino (Fn. 1), S. 1108.

14 GS Jeand' Heur

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gleichsam wie ein unabänderlicher „Verfassungskern" - diejenigen Teile des „acquis" „Über-Primärrechts-Rang" hätten und damit auch jeglichem ändernden Zugriff entzogen wären, welche die grundlegenden Prinzipien der Gemeinschaftsrechtsordnung (Bsp.: Anwendungsvorrang, unmittelbare Geltung des Gemeinschaftsrechts, Demokratieprinzip, Grundrechtsschutz) formulieren. 54 Allerdings lassen sich dem geltenden Recht (bis auf eine Ausnahme vielleicht, auf die gleich noch zurückzukommen sein wird) keinerlei Belege entnehmen, mittels derer eine derartige Bindung der Mitgliedstaaten an den „acquis" zu begründen wäre. Die Beitrittsakte selbst enthält keine Aussagen dieses Inhalts. Im Gegenteil läßt sich Art. 7 der Beitrittsakte durchaus so interpretieren, daß er die diesbezügliche Handlungsfreiheit der Mitgliedstaaten bewahrt. Auch das im vorliegenden Zusammenhang immer wieder als Beleg zitierte erste EWR-Gutachten des EuGH 55 stützt entgegen den Annahmen seiner Proponenten jene Auffassung nicht. 56 Ergibt sich somit aus dem unmittelbaren Kontext des „Beitritts-Acquis" nichts, was für einen „Über-Primärrechts-Rang" und quasi eine Unveränderlichkeits- oder „Ewigkeits"garantie des „acquis" oder von Teilen desselben spräche, ist jedoch fraglich — und damit komme ich zu der zuvor schon kurz erwähnten möglichen Ausnahme zurück - , ob nicht eine Rückkoppelung des „Beitritts-Acquis" zum „Unions-Acquis" der Art. 2 und 3 EUV, insbesondere zu der darin enthaltenen Dynamisierungsklausel, zu einem anderen Ergebnis führt. Darauf ist im gleich folgenden Abschnitt III. noch näher einzugehen. 4. Ausnahmen vom „Britritts-Acquis" Hinzuweisen ist an dieser Stelle noch darauf, daß der „acquis communautaire" nicht für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen gilt. So sind anläßlich des Abschlusses des Vertrages von Maastricht zugunsten einzelner — und dabei handelte es sich um zuvor neu beigetretene — Mitgliedstaaten Vereinbarungen getroffen worden, welche Teile des „acquis" für diese Staaten als unanwendbar erklären. 57 Dies hat zu zum Teil sarkastischer Kritik im Schrifttum und zu solchen Fragen wie „Has the acquis communautaire been hijacked?" und zum Befund eines „Europe of bits and pieces" oder „Europa à la carte" geführt. 58

54

Vgl. Gialdino (Fn. 1), S. 1110 ff.; Curtin, The Constitutional Structure of the Union. A Europe of Bits and Pieces, CMLR 30 (1993), 17 (63 ff.). 55

Gutachten 1 /91, Slg. 1991 I, S. 6079, Rn. 70-72.

56

So zutreffend auch Heintzen, Hierarchisierungsprozesse innerhalb des Primärrechts der Europäischen Gemeinschaft, EuR 29 (1994), 35 (38). 57 Ausführlicher hierzu Curtin (Fn. 54), S. 44 ff.; Gialdino (Fn. 1), S. 1114 ff. - Ähnlich ist beim Abschluß des Vertrages von Amsterdam, zugunsten der gleichen Mitgliedstaaten, in Hinblick auf den „Schengen-Acquis" bzw. die Vergemeinschaftung des „dritten Pfeilers" der EU verfahren worden; vgl. ausführlicher Hailbronner/Thiery (Fn. 9), S. 597 ff., 611 ff. 58

Curtin (Fn. 54), S. 17, 44; Hailbronner/Thiery

(Fn. 9), S. 584, 599.

Gestalt und Rechtscharakter des „acquis communautaire"

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I I I . Z u m Verständnis des „acquis" in A r t . 2 und 3 E U - V e r t r a g I m EU-Vertrag findet sich die bislang einzige Erwähnung (nicht Definition!) des Begriffes „acquis communautaire" in einem rechtsverbindlichen Gemeinschaftsrechtsdokument. So heißt es in Art. 2 (Art. B a.F.), 5. Spiegelstrich: L'Union se donne pour objectifs: — de maintenir intégralement l'acquis communautaire et de le développer afin d'examiner, conformément â la procédure visée â l'article N, paragraphe 2, dans quelle mesure les politiques et formes de coopération instaurées par le présent traité devraient être révisées en vue d'assurer l'efficacité des mécanismes et institutions communautaires. U n d weiter i n Art. 3 (Art. C a.F.) Abs. 1: L'Union dispose d'un cadre institutionnel unique qui assure la cohérence et la continuité des actions menées en vue d'atteindre ses objectifs, tout en respectant et en développant l'acquis communautaire, 59 Was allerdings m i t dem Begriff i m gegebenen Zusammenhang konkret gemeint ist, bleibt zunächst etwas unklar. Auslegungsprobleme ergeben sich als erstes schon daraus, daß in den authentischen Vertragssprachen des EU-Vertrages die Begriffe, m i t denen der „acquis" bezeichnet wird, unterschiedlich weit gefaßt sind. Unproblematisch sind - neben der französischen Fassung zunächst die englische, italienische und niederländische Textfassung, welche einfach den französischen Begriff - ganz oder in Teilen - übernehmen. 6 0 N o c h recht nah an der französischen Wortbedeutung dran sein dürften des weiteren w o h l einerseits die iberischen Bezeichnungen (acervo comunitârio; el acervo comunitario) sowie andererseits der deutsche Begriff „gemeinsamer Besitz-

59

Hervorhebungen durch Verfasser. Der offizielle deutsche Vertragstext lautet jeweils: Artikel 2

Die Union setzt sich folgende Ziele: -

die volle Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstandes und seine Weiterentwicklung, wobei nach dem Verfahren des Artikels N [jetzt: Art. 48 EUV] Absatz 2 geprüft wird, inwieweit die durch diesen Vertrag eingeführten Politiken und Formen der Zusammenarbeit mit dem Ziel zu revidieren sind, die Wirksamkeit der Mechanismen und Organe der Gemeinschaft sicherzustellen. Artikel 3

Die Union verfügt über einen einheitlichen institutionellen Rahmen, der die Kohärenz und Kontinuität der Maßnahmen zur Erreichung ihrer Ziele unter gleichzeitiger Wahrung und Weiterentwicklung des gemeinschaftlichen Besitzstandes sicherstellt. 60 [T]he acquis communautaire (Kursiv im Original); l'„acquis" communitario; het acquis communautaire.

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stand",61 wobei die iberischen Begriffe mehr das prozeßhafte Entstehen und Anwachsen des „acquis" zum Ausdruck bringen, 62 während der deutsche (wie auch der griechische) Begriff eher statisch und in possessiver Ausrichtung auf den Endzustand jenes Vorganges abstellen. Schon sehr viel enger erscheint dagegen der schwedische Begriff („gemenskapens regelverk": „das Regelwerk der Gemeinschaften"); noch enger schließlich der in der dänischen Textfassung verwendete Begriff, der nur mehr vom geltenden Gemeinschaftsrecht spricht (det gaeldende faelleskabsret). Weitere Aufschlüsse über den konkreten Inhalt des in Art. 2 und 3 EUV angesprochenen „acquis" sind diesen Bestimmungen nicht zu entnehmen. Man könnte hier aber zur genaueren Erfassung des Wesens des „Unions-Acquis" folgende zwei Aspekte akzentuieren. Zum einen einen gewissen politischen, genauerhin: „gemeinschafts-" oder integrationspolitischen Aspekt. Im Schrifttum wird im vorliegenden Zusammenhang stets auf die Architektur des EUVertrages und den Zusammenhang der verschiedenen „Pfeiler" des EU-Vertrages hingewiesen, welche einerseits durch ihren klassischen „intergouvernmentalen" Charakter (GASP, ZJI), andererseits durch ihren „vergemeinschafiteten" Charakter (EG-Verträge) gekennzeichnet [gewesen] seien.63 Demnach soll[t]e mit der Beschwörung des „acquis communautaire" im EU-Vertrag bewirkt werden, daß - trotz der Einfügung der intergouvernmentalen Komponenten in das Vertragswerk — die beiden jeweils anders gearteten „Pfeiler" der EU nicht auseinanderstrebten und die EU als ganze nicht hinter den einmal erreichten Integrationsstand zurückfalle, dieser vielmehr gehalten („volle Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstandes"), ja sogar noch weiterentwickelt werde („und seine Weiterentwicklung"). Dahinter standen die Befürchtungen einiger Mitgliedstaaten, daß die intergouvernmentale Methode — in einer Art integrationspolitischem Rückschritt - auch auf den bereits vergemeinschafiteten Bereich ausgedehnt würde und hier ein Abbau des bereits Erreichten erfolgen könnte. In der Folge haben sich diese Befürchtungen jedoch zerstreut und hat insbesondere die in der „acquis"-Klausel enthaltene „Dynamisierungsklausel" („und seine Weiterentwicklung") bereits bewirkt, daß anläßlich der Amsterdamer Vertragskonferenz — im Gegenteil - in der Tat der Integrationsstand auf eine höhere Stufe gehoben wurde, und zwar insofern, als dort auch im GASP- und

Ähnlich die griechische Bezeichnung xo koiüoiikó kskttihevo, der das Verb KSKxrmai („besitzen, eignen") zugrundeliegt und zu der es etwa auch die ähnlich gerichtete Sprachfigur K8Kxr||i£va ÖiKotKönaxa („wohlerworbene Rechte") gibt. 61

62 Im Spanischen liegt dem Hauptwort „el acervo" das Verb „acervar" zugrunde, welches im wesentlichen bedeutungsgleich ist mit dem Verb „amontonar" („anhäufen"). Vgl. auch die Umschreibung des Begriffes „acervo" mit „conjunto de bienes morales o culturales accumulados per tradición o herencia". 63 Vgl. Hilf/Pache , in: Grabitz/Hilf (Fn. 21), Art. B, Rn. 17 ff.; Jacqué , GTE (Fn. 39), Art. B, Rn. 6; Gialdino (Fn. 1), S. 1104 f.

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ZJI-Pfeiler erhebliche Bereiche der Vergemeinschaftung eröffnet wurden. 64 In Hinblick darauf kann demnach festgestellt werden, daß wir es hier wiederum mit einer neuen und unterschiedlichen Ausprägung des „acquis" zu tun haben. Zwar geht es auch hier, wie beim „Beitritts-Acquis", um die Bewahrung, Festigung und hier sogar Weiterentwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Integrationsstandes. Allerdings ist die Akzentuierung und kontextuelle Einbindung eine andere: Während beim „Beitritts-Acquis" das Verhältnis EG / Altmitglieder und der von diesen entwickelte Besitzstand zu den neuen Mitgliedern im Vordergrund steht, bezieht sich der „acquis" der Art. 2 und 3 EUV unter dem hier apostrophierten Aspekt auf das „innereuropäische" Verhältnis zwischen EU und EG bzw. zwischen intergouvernmentalen und vergemeinschafteten Anteilen des Gesamtkonstruktes EU / EG. Neben dem integrationspolitischen Aspekt könnte ein zweiter, rechtlicher, ja „verfassungsrechtlicher" Aspekt ins Auge gefaßt werden. Er hebt auf die Rolle ab, die Art. 2 und 3 EUV bei der „Hierarchisierung" 65 des EG-Rechts spielen könnten. Oben war die Frage angeschnitten worden, ob und inwieweit der „Beitritts-Acquis" für die betreffenden Mitgliedstaaten möglicherweise „ÜberPrimärrechts-Rang" erlangen bzw. einer „Unveränderlichkeits-" oder „Ewigkeitsgarantie" unterfallen könnte. Art. 2 und 3 EUV könnten den Ansatzpunkt für eine derartige Argumentation liefern. Wenn dort nicht nur von der Verpflichtung zur Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstandes, sondern auch von der Pflicht zu dessen Weiterentwicklung gesprochen wird, könnte darin in jedem Falle zum einen die Bestimmung und Festlegung eines unabänderlichen Normenbe(sitz)standes und die Verleihung eines Höchstranges an die betreffenden Normen gesehen werden, 66 zum anderen darüber hinaus aber sogar die Pflicht zur Entwicklung dieses Normenbesitzstandes in eine bestimmte Richtung, nämlich in Richtung auf eine immer umfangreicher und intensiver integrierte („Weiterentwicklung") Europäische Rechtsgemeinschaft. 67 Eine zweite entscheidende Komponente - neben der Erhebung des „acquis" in den Stand eines vorrangigen und unabänderlichen Normenkomplexes - bei dem Ganzen ist, daß über die Konstruktion der Art. 2 und 3 EUV, die nicht zwischen Altund Neumitgliedern unterscheiden, der gesamte „acquis communautaire" auch für die ursprünglichen Mitglieder verbindlich gemacht wird, welche ja bekanntlich von den Verpflichtungen des bzw. auf den „Beitritts-Acquis" nie erfaßt worden waren. Allerdings ist diesbezüglich sicherlich Art. 48 EUV zu beach64

Vgl. zu letzterem noch einmal oben Fn. 7.

65

Vgl. den Titel der Arbeit von Heintzen (Fn. 56).

66

Vgl. in diesem Sinne Gialdino (Fn. 1), S. 1089 f.: „The Maastricht Treaty on European Union has endowed the acquis communautaire with a constitutional status by referring to it . . . i n the common provisions [of] Article B, fifth indent and Article C, first paragraph." Ähnlich Curtin (Fn. 54), S. 45 f. 67

In diesem Sinne etwa Dony (Fn. 1), S. 44 f.

214

Hans-Joachim Schütz

ten. Er bestimmt, insbesondere in Abs. 1 UAbs. 3, daß die Verträge einschließlich des EU-Vertrages von den Mitgliedstaaten geändert werden können. Darin könnte auch die Ermächtigung für die „Herren der Verträge" gesehen werden, über die Änderung beispielsweise der Art. 2 und 3 EUV auch die darin enthaltene „acquis"-Verpflichtung zu eliminieren. Mit dem Wegfall dieser „acquis"Verpflichtung würde aber auch der mit ihr eventuell verbundene „Über-Primärrechts-Rang" bzw. „Ewigkeitscharakter" erloschen sein und wären die Mitgliedstaaten frei, das Vertragswerk in jegliche Richtung hin zu ändern, beispielsweise auch in Richtung auf einen niedrigeren Integrationsstand. Indes darf dabei Art. 48 Abs. 2 EUV nicht übersehen werden. Dort wird für die nächste Konferenz zur Revision der Verträge (Amsterdam) bestimmt, daß diese Revision in Übereinstimmung mit den Zielen der Artikel A und B zu erfolgen habe. Dieser Hinweis u.a. auf Art. B [jetzt: Art. 2] EUV schließt selbstverständlich auch einen Hinweis auf dessen 5. Spiegelstrich und die dort enthaltene „acquis"-Bestimmung ein. Darin aber könnte wiederum eine bewußte Koppelung der Änderungsermächtigung an die „acquis"-Bestimmung gesehen werden, welcher dann in diesem Kontext in der Tat die Funktion einer Änderungssperre zugemessen würde. 68 Über Art. 2 und 3 EUV läßt sich schließlich entlang der im Vorstehenden vorgezeichneten Linien möglicherweise auch die weiter oben dargestellte Verrechtlichung von im „acquis" befindlichen „soft law"-Akten qua völkergewohnheitsrechtlicher Geltung, die sich gemäß der oben vertretenen Auffassung so zunächst nur für neu beitretende Mitgliedstaaten aus dem „Beitritts-Acquis" heraus ableiten ließe, auch auf die ursprünglichen Mitgliedstaaten erstrecken. IV. Der „EWR-Acquis" Als äußerst umfangreich stellt sich der „acquis" dar, den diejenigen EFTAStaaten, welche mit den EG und den Mitgliedstaaten der EG den Vertrag zur Begründung des Europäischen Wirtschaftsraumes geschlossen haben, zu beachten haben. Im vorliegenden Zusammenhang interessiert in erster Linie die Technik, mittels derer der „acquis" in den Geltungsbereich des Vertrages einbezogen wird und somit Rechtspflichten für die nicht der EG angehörenden EFTA-Staaten begründet werden: Im Vertrag finden sich in den verschiedensten Bestimmungen, verstreut über den gesamten Vertrag, Verweise auf in den Protokollen und Annexen des Vertrages genannte Rechtsakte der Gemeinschaften, die dort jeweils mit genauem Titel, genauer Fundstelle im Amtsblatt der EG sowie mit genauer CELEX-Nummer aufgeführt werden. In Art. 7 des Abkommens heißt es dann hierzu: 68 In diesem Sinne etwa auch da Cruz Vilaça / Piçarra, Y a-t-il des limites matérielles à la révision des traités instituant les communautés européennes, CDE 29 (1993), 3 (27 ff.); a.A. Vedder/Folz , in: Grabitz / Hilf (F n. 21), Art. N, Rn. 16; Meng, GTE (Fn. 39), Art. N, Rn. 50 ff.; Heintzen (Fn. 56), S. 48.

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Rechtsakte, auf die in den Anhängen zu diesen Abkommen oder in den Entscheidungen des Gemeinsamen EWR-Ausschusses Bezug genommen wird oder die darin enthalten sind, sind für die Vertragsparteien verbindlich und Teil des innerstaatlichen Rechts oder in innerstaatliches Recht umzusetzen, und zwar wie folgt: a) Ein Rechtsakt, der einer EWG-Verordnung entspricht, wird als solcher in das innerstaatliche Recht der Vertragsparteien übernommen. b) Ein Rechtsakt, der einer EWG-Richtlinie entspricht, überläßt den Behörden der Vertragsparteien die Wahl der Form und Mittel zu ihrer Durchführung. Darüber hinaus bindet Art. 6 des Abkommens die Nicht-EG-Staaten auch an die Rechtsprechung des EuGH, erklärt also gleichsam auch den ,judiziellen acquis communautaire" für verbindlich: Unbeschadet der künftigen Entwicklungen der Rechtsprechung werden die Bestimmungen dieses Abkommens, soweit sie mit den entsprechenden Bestimmungen des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl sowie der aufgrund dieser beiden Verträge erlassenen Rechtsakte in ihrem wesentlichen Gehalt identisch sind, bei ihrer Durchführung und Anwendung im Einklang mit den einschlägigen Entscheidungen ausgelegt, die der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften vor dem Zeitpunkt der Unterzeichnung dieses Abkommens erlassen hat. A l s w i c h t i g hervorzuheben an dem Ganzen ist schließlich, daß hier nicht nur neu in die E U / E G eintretende Staaten auf den „acquis communautaire" verpflichtet werden, sondern auch Staaten, die zwar in eine völkerrechtliche Beziehung m i t den E G treten, ansonsten aber außerhalb derselben verbleiben!

V. Die Anpassungsklauseln in den Europa-Abkommen (Der „Osterweiterungs-Acquis") Die m i t den Beitrittskandidaten Ost-, Mittelost- und Südosteuropas abgeschlossenen sog. Europa-Abkommen 6 9 enthalten jeweils Bestimmungen, in welchen jene Staaten verpflichtet werden, ihre innerstaatlichen Rechtsordnungen an die Rechtsordnung des Gemeinschaftsrechts anzupassen. A l s Beispiele mögen die Art. 68 und 69 des Europa-Abkommens m i t Polen dienen: Kapitel III Angleichung der Rechtsvorschriften Artikel

68

Die Vertragsparteien erkennen an, daß die Angleichung der bestehenden und künftigen Rechtsvorschriften Polens an das Gemeinschaftsrecht eine wesentliche Voraussetzung für die wirtschaftliche Integration Polens in die Gemeinschaft darstellt. Polen wird sich nach Kräften darum bemühen, daß die künftigen Rechtsvorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind.

69

Siehe noch einmal oben Fn. 10.

216

Hans-Joachim Schütz Artikel

69

Die Angleichung der Rechtsvorschriften betrifft insbesondere folgende Bereiche: Zollrecht, Gesellschaftsrecht, Bankenrecht, Rechnungslegung der Unternehmen und Steuern, geistiges Eigentum, Schutz der Arbeitnehmer am Arbeitsplatz, Finanzdienstleistungen, Wettbewerbsregeln, Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren und Pflanzen, Verbraucherschutz, indirekte Steuern, technische Vorschriften und Normen, Verkehr und Umwelt.

Wie bereits oben eingangs festgestellt worden ist, können diese Anpassungsklauseln als Verpflichtung zur Übernahme des - im einzelnen wie auch immer näher zu bestimmenden — „acquis communautaire" aufgefaßt werden. Dabei ähnelt dieser Vorgang in mancher Hinsicht zum einen der Übernahme des „EWR-Acquis", zum anderen der des „Beitritts-Acquis"; in mancher Hinsicht gibt es aber auch wieder wesentliche Unterschiede. Was zunächst die technische Form der Übernahme des „acquis" betrifft, so sind sich „Osterweiterungs-" und „EWR-Acquis" in gewisser Weise ähnlich. In beiden Fällen wird das, was als „acquis" zu übernehmen ist, relativ detailliert bezeichnet, im Fall des „EWR-Acquis" sogar extrem genau, quasi punktuell, während beim „Osterweiterungs-Acquis" diesbezüglich nur grob Übernahmebereiche genannt werden. Völlig anders indessen gestaltet sich die Übernahmetechnik beim „Beitritts-Acquis", wo einfach mehr oder minder global auf Verträge, Rechtsakte usw. verwiesen wird. Außerdem müssen die beitretenden Staaten beim „Beitritts-Acquis" im Grunde den gesamten „acquis" übernehmen, während sowohl „EWR-" als auch „Osterweiterungs-Acquis" selektive Übernahmen darstellen. Ein weiterer Unterschied zwischen „Osterweiterungs-Acquis" und „BeitrittsAcquis" liegt darin, daß dieser von den Beitrittskandidaten erst mit ihrem Beitritt in die EU /EG übernommen werden muß, während im Fall des „Osterweiterungs-Acquis" die Kandidaten den „acquis" vor ihrem Beitritt zu akzeptieren haben („Vör-Beitritts-Acquis"), wobei noch nicht einmal klar ist, ob jeder der Kandidaten, der heute den „acquis" übernimmt, am Ende auch wirklich in die E U / E G aufgenommen wird! Diesbezüglich tritt eine etwas verquere Situation für diejenigen Staaten auf, die sich zwar jetzt auf den Beitritt vorbereiten, am Ende aber nicht beitreten können. Während sich nämlich bei den beitretenden Staaten beim Beitritt und der Übernahme des „acquis" Pflichten (Übernahme des „acquis") und Rechte (z.B. Mitgliedschaftsrechte, Freizügigkeitsregeln usw.) die Waage halten, gehen die Beitrittskandidaten, welche letztlich nicht aufgenommen werden, insoweit „leer" aus: Während sie zwar wesentliche Pflichten übernommen bzw. erfüllt haben, bleiben ihnen umgekehrt wesentliche Rechte vorenthalten. So kommen sie z.B. für ihre Staatsbürger nicht in den Genuß der Freizügigkeitsregeln (Art. 39/48 a.F., 43/52 a.F. und 49/59 a.F. EGV), selbstverständlich stehen ihnen auch die Mitgliedschaftsrechte nicht zu und nehmen sie etwa am EG-Finanzausgleich nicht teil.

Gestalt und Rechtscharakter des „acquis communautaire"

217

Allerdings darf angesichts dieser Mängel nicht übersehen werden, daß der Vorgang der Anpassung der Rechtsordnungen der Beitrittskandidaten an den „acquis" trotzdem, auch wenn einige Staaten am Ende nicht Aufnahme in die EG finden sollten, sowohl für diese als auch für die EG bzw. ihre Mitgliedstaaten sowie für alle Staaten überhaupt ungemeine Vorteile mit sich bringt. So erhalten jene Beitrittskandidaten, selbst wenn sie letztlich nicht zum Kreis der EG-Mitgliedstaaten gehören sollten, durch die Anpassung ihrer Rechtsordnungen an den „acquis" immerhin in weitesten Bereichen eine effektive, insbesondere den Anforderungen des modernen Wirtschaftens angemessene Rechtsordnung. In Hinblick auf diese Vorteile verbietet sich der im gegebenen Zusammenhang gelegentlich artikulierte Gedanke eines „Rechtsimperialismus" der EG wohl in der Tat. 70 Für die anderen Staaten wiederum, welche mit den betreffenden Beitrittskandidaten in Austausch treten, ergibt sich der Vorteil, daß sich die einschlägigen Wirtschafts- und Rechtsbeziehungen auf der Grundlage nicht nur einer modernisierten, sondern ihnen auch altvertrauten Rechtsordnung abspielen. So ist es für den Geschäftspartner aus einem EG-Mitgliedstaat, der mit einem Geschäftspartner aus einem „Noch-nicht-Mitgliedstaat" in geschäftliche Beziehungen tritt, sicherlich vorteilhaft und beruhigend, wenn er weiß, daß sich das Geschäft auf der Basis vertrauter Rechtsregeln abspielt und die beteiligten Akteure (der eigentliche Geschäftspartner, aber auch die Behörden und Gerichte des „Noch-nicht-Mitgliedstaates") den gleichen Rechtsvorstellungen anhängen und die jeweils einschlägigen Rechtsbegriffe und -normen in gleicher Weise interpretieren und anwenden, wie es im Ausgangsland der Fall ist. Diese positive Darstellung soll keineswegs von den Schwierigkeiten ablenken, denen sich die östlichen Beitrittskandidaten mit der Übernahme des „acquis" konfrontiert sehen. Solche ergeben sich sicherlich zum einen aus technischen Problemlagen wie etwa der des Mangels an einem entsprechend ausgebildeten Rechtsstab, einschlägig funktionierenden Institutionen usw. Weitaus gravierender als diese Probleme dürften indes diejenigen Schwierigkeiten sein, die sich bei der Osterweiterung bzw. im Zuge der Übernahme des „Osterweiterungs-Acquis" durch das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Rechtskulturen ergeben. Eine Rechtsordnung besteht ja nicht nur aus dem Ensemble der in Gesetzen, Verordnungen und anderen Rechtsvorschriften niedergelegten positivrechtlichen Regeln, die die einschlägigen Rechtssetzungsorgane erlassen haben. Vielmehr wirken unter der Oberfläche dieses positiv-rechtlichen Normenbestandes in jeder Rechtsordnung gleichsam wie eine Grundströmung tiefer liegende und oftmals tief verwurzelte Rechtsvorstellungen, die man unter den Begriff der Rechtskultur zusammenfassen könnte, welche den Rechtsanwender in seiner täglichen Praxis — oftmals unbewußt - ebenso stark beeinflussen und leiten wie die konkreten, positiv-rechtlich niedergelegten Rechtsregeln. Dies gilt für die

70

Vgl. Knieper , Rechtsimperialismus?, ZRP 1996, 64 ff.

218

Hans-Joachim Schütz

Rechtsordnungen der Beitrittskandidaten 71 ebenso wie für die Rechtsordnung der EG und ihrer Mitgliedstaaten. Beispiele sind die grundlegenden Anschauungen etwa vom Wert des Eigentums,72 der Freiheit und Selbstbestimmung der Person oder der Rechtsstaatlichkeit des Gemeinwesens. Auch hier wird seitens der Beitrittskandidaten eine Anpassung erfolgen müssen, soll das übernommene positive europäische Recht voll seine Wirkung entfalten können. Zwar ist diesbezüglich eine Dramatisierung in der Tat unangebracht, weil eine Reihe der Beitrittsstaaten - hier seien als Beispiel nur die baltischen Staaten oder Ungarn genannt - an eigene, in die Zwischenkriegszeit datierende oder noch ältere Rechtstraditionen anknüpfen können.73 Gleichwohl ist der Neuanfang nicht zu unterschätzen, wird die Umwandlung der Rechtskulturen, weil sie tiefgreifender Natur sein wird und sein muß, sicherlich nicht von heute auf morgen erfolgen. 74 Welche mentalen Probleme hierbei zu bewältigen sind, zeigt das Beispiel der Einfügung des DDR-Beitrittsgebietes in die Rechtsordnung des westlichen Deutschlands. Abschließend kann festgestellt werden, daß sich mit der Anpassung der Rechtsordnungen der Beitrittskandidaten an den „acquis communautaire" in Europa etwas vollzieht, was es im Grunde seit der Verbreitung des Römischen Rechts nicht mehr gegeben hat, nämlich die flächendeckende Herstellung eines einheitlichen Rechtsraumes, in dem gleiche gemeinsame Rechtsvorstellungen nicht nur ungehinderten Handel und Wandel erlauben, sondern sich auch die Vorstellungswelten der betreffenden Bevölkerungen-jedenfalls, soweit sie von rechtlichen Kategorien determiniert werden — einander öffnen und annähern. Daß diese Wirkung nicht nur auf den eigentlichen europäischen Rechtsraum beschränkt ist, sondern über diesen hinausreicht, zeigen die Anpassungsleistungen, die außereuropäische, mit dem EG-Wirtschafts- und Rechtsraum verflochtene Staaten erbringen (müssen), um sich am Austausch mit dem Akteur EU / EG beteiligen zu können. Insoweit wohnt dem Vorgang der Ausbreitung des „acquis communautaire" auch ein gewisser Trend hin zur Globalisierung inne. 75

71 Vgl. hierzu etwa Luts/Sootak, Rechtsreform in Estland als Rezeptions- und Bildungsaufgabe, JZ 1998, 401 (402). 72

Vgl. Roggemann, Zum Verhältnis von Eigentum und Privatisierung in den postsozialistischen Ländern, ROW 1996, 89 ff.; ders., Funktionswandel des Eigentums in Ost und West - vergleichende Anmerkungen zur postsozialistischen Transformation in Ost- und Westeuropa, ROW 1997, 189 ff., 225 ff.; ders. (Hrsg.), Eigentum in Osteuropa, 1996; s.a. Manssen/Banaszak (Hrsg.), Wandel der Eigentumsordnung in Mittel- und Osteuropa, 1998. 73 So zutreffend Hiller, Rechtsangleichung und EU-Assoziierung Ungarns, WiRO 1997, 281 (282); vgl. auch Luts/Sootak (Fn. 71), S. 401. 74 75

Vgl. Krenzier (Fn. 1), S. 10 f.; Luts/Sootak (Fn. 71), S. 403.

Vgl. Delbrück , Globalization of Law, Politics, and Markets - Implications for Domestic Law — A European Perspective, Indiana Journal of Global Legal Studies 1 (1993), 9 (27).

I I I . Staatskirchenrecht

Loyalität im Staatskirchenrecht? Geschriebene und ungeschriebene Voraussetzungen des Körperschaftsstatus nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV Von Stefan Korioth

I. Religion und Staat nach der Aufklärung Die politische Philosophie der Aufklärung hat religiösen Begründungen des Staates ein Ende gesetzt. Die staatliche Ordnung gilt seitdem und unwiderruflich nicht mehr als gottgewollt, sondern als Menschenwerk, das planvoll, rational und zu menschlichen Zwecken zu gestalten ist.1 Diese innerweltliche Legitimation aber hat Religion und Glauben nicht aus dem Staat verdrängt. An die Stelle der Frage nach den Anforderungen religiöser Wahrheit an den Staat und an die Stelle des Bewußtseins der Formung politischer Ordnung durch religiöse Bestimmung trat die Frage nach der rationalen Zuordnung von diesseitiger menschlicher Ordnung und Religion. Bis heute gibt es darauf, vielfach variiert und differenziert, zwei grundlegende Antworten. Die erste geht auf Kant zurück. Die Staatstheorie Kants weist der Religion die Aufgabe der sittlichen Erziehung des Menschen und Bürgers zu. Die aufklärerisch reduzierte „Religion in den Grenzen der bloßen Vernunft" dient dazu, das Bürgerethos zu bilden und zu verinnerlichen. „Religion ist (subjektiv betrachtet) das Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttliches Gebot" 2 . Aber diese Erkenntnis steht außerhalb des Rechts. Es besteht ein Unterschied zwischen Tugendpflichten und Rechtspflichten, Moralität und Legalität. Das Recht regelt das äußere Verhältnis von freier Willkür des einen und des anderen. Ganz anders fallt die zweite grundlegende Antwort aus. Sie stammt von Rousseau, der in seinen berühmten und merkwürdigen Überlegungen zur bürgerlichen Religion im radikal-demokratischen Modell des Gesellschaftsvertrags ein bürgerliches Glaubensbekenntnis nicht etwa als moralische Verpflichtung, sondern als Rechtspflicht dekretiert. Es ist die „Gesinnung des Miteinander, 1 Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders. , Staat - Gesellschaft - Freiheit, 1976, S. 42 ff. 2

Kant , Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), zit. nach: ders., Werke in zehn Bänden (hrsg. von Weischedel), 5. Aufl. 1983, Bd. VII, S. 645 ff., 819 ff. (822).

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ohne die es unmöglich ist, ein guter Bürger [...] zu sein". Diese Haltung soll den einzelnen fähig und bereit machen, „die Gesetze und die Gerechtigkeit ernstlich zu lieben und sein Leben im Notfall der Pflicht zu opfern" 3. Fast drohend benennt Rousseau die notwendigen Konsequenzen dieser bürgerlichen Religion, die zwar den Inhalt der Bekenntnissätze auf ein Minimum reduziert hat, deren Beachtung aber unbedingt verlangt: „Heute, wo es eine ausschließliche Staatsreligion nicht mehr gibt noch geben kann, muß man alle jene tolerieren, die ihrerseits die anderen tolerieren, sofern ihre Dogmen nicht gegen die Pflichten des Bürgers verstoßen. Wer aber zu sagen wagt: ,Es gibt kein Heil außerhalb der Kirche', muß aus dem Staat ausgestoßen werden." 4 Das Rousseausche Toleranzgebot umfaßt die Abweichung von der Zivilreligion ausdrücklich nicht, wer sich zu ihren Glaubensartikeln nicht bekennt, dem fehlt moralische Kompetenz und bürgerliche Gesinnung. Schlimmstenfalls droht die Rechtlosigkeit. Was Kant und Rousseau verbindet, ist die These des weltlichen Nutzens der Religion für den Staat. Sie findet nur vereinzelt Widerspruch. Schopenhauer protestiert grimmig: „Es ist falsch , daß Staat, Recht und Gesetz nicht ohne Beihülfe der Religion und ihrer Glaubensartikel aufrecht erhalten werden können, und daß Justiz und Polizei, um die gesetzliche Ordnung durchzusetzen, der Religion, als ihres nothwendigen Komplementes bedürfen. Falsch ist es, und wenn es hundert Mal wiederholt wird." 5 Aber Schopenhauer weiß hier selbst, daß e r - w i e sooft-gegen den Strom schwimmt. Die Staatsphilosophie seit der Aufklärung behandelt und bewertet Religion - völlig unbeschadet aller Fragen nach metaphysischer Wahrheit - unter dem pragmatischen Aspekt der politischen Zweckmäßigkeit und staatserhaltenden Funktion. Dabei ist es lange Zeit unbestritten, daß Religion und Kirche diesen Nutzen auch im säkularen Staat haben: „Nicht ungestraft kann der Staat die gewaltige sittliche Macht ignorieren, deren Trägerin die Kirche in jeder ihrer Erscheinungsformen ist." 6

3

Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag (1762), zit. nach der Übersetzung von Brockard (1977), Buch IV, Kap. 8 (S. 151). Die Dogmen der bürgerlichen Religion lauten: „Die Existenz der allmächtigen, allwissenden, wohltätigen, vorherrschenden und sorgenden Gottheit, das zukünftige Leben, das Glück der Gerechten und die Bestrafung der Bösen sowie die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze - das sind die positiven Dogmen. Was die negativen Dogmen anbelangt, so beschränke ich sie auf ein einziges: die Intoleranz [...]." 4 Rousseau (Fn. 3), S. 152. Zur „religion civile" bei Rousseau vgl. Fetscher , Rousseaus politische Philosophie, 6. Aufl. 1990, S. 184 ff.; Lübbe, Staat und Zivilreligion. Ein Aspekt politischer Legitimität, in: Achterberg/Krawietz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates (ARSP, Beiheft 15), 1981, S. 40 ff. 5

Schopenhauer , Über Religion, in: Parerga und Paralipomena (1851), zit. nach ders., Werke in fünf Bänden (hrsg. von Lütkehaus), Bd. V, 1988, S. 287 ff. (294). 6 Sohm, Das Verhältnis von Staat und Kirche aus dem Begriff von Staat und Kirche entwickelt, 1873, S. 44.

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Was hat dies mit dem Körperschaftsstatus von Religionsgemeinschaften nach dem geltenden Staatskirchenrecht (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV) zu tun? Es läßt sich zeigen, daß die derzeitige Diskussion um die Voraussetzungen und die „Funktion" des Körperschaftsstatus im säkularen Verfassungsstaat interessante Verbindungen zu diesen beiden Grundpositionen zum Verhältnis von Staat und Religion aufweist. Wurde zu Beginn der Geltung des Grundgesetzes der Körperschaftsstatus als „rätselhafter Ehrentitel" 7 apostrophiert und in den achtziger Jahren empfohlen, in diese rechtliche Qualifikation nicht zu viel hineinzugeheimnissen8, so werden seit kurzer Zeit gegenläufige Tendenzen stärker. Der Ehrentitel erhält mehr oder weniger geheimnisvolles Leben. Er soll verstärkt funktional verstanden werden. Die neu- und wiederentdeckte Funktion weist in die Richtung eines Trägers bürgerlicher Religion für den Staat. Dabei geht es allerdings nicht um staatstheoretische Aussagen zur öffentlichen Bedeutung von Religion, sondern - und darin liegt die Brisanz der neuen Diskussion — um die institutionelle Verankerung von Religionsgemeinschaften im geltenden Verfassungsrecht durch Verfassungsinterpretation. Der interpretatorische Ansatz- und Umschaltpunkt besteht darin, den geschriebenen Voraussetzungen der Verleihung des Körperschaftsstatus nach Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV ungeschriebene Voraussetzungen hinzuzufügen. Sie werden in der neueren Diskussion unterschiedlich formuliert, laufen aber alle auf eine funktionsbezogene Deutung des Körperschaftsstatus hinaus. Was dies bedeuten kann, zeigt ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Juni 19979. Die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas habe keinen Anspruch auf Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts, weil sie dem demokratisch verfaßten Staat nicht die für eine dauerhafte Zusammenarbeit unerläßliche Loyalität entgegenbringe. Der Loyalitätsmangel bestehe darin, daß die Religionsgemeinschaft ihren Mitgliedern die Teilnahme an staatlichen Wahlen prinzipiell verbiete. Ungeschriebene Voraussetzungen des Körperschaftsstatus sind hier erstmals und sogleich in entscheidungsrelevanter Weise praktisch geworden. Sie verwehren der Organisation einer religiösen Minderheit den Zutritt zum öffentlichen Recht. Ob darin eine empfindliche Zurücksetzung und Diskriminierung einer gesellschaftlich kontroversen religiösen Kraft liegt oder nicht, hängt von der verfassungsrechtlichen Bedeutung, den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen und der Legitimation des Körperschaftsstatus ab. Es liegt auf der Hand, daß die 7 Smend, Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz (1951), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Auflage 1968, S. 411 ff (416). 8 Schiaich , Staatskirchenrecht, in: Grimm/Papier und Verwaltungsrecht, 1986, S. 704 ff. (714).

(Hrsg.), Nordrhein-westfälisches Staats-

9 BVerwG, NJW 1997, 2396. Unkritische Zustimmung bei Thüsing , Kirchenautonomie und Staatsloyalität, DÖV 1998, 25 ff.; sorgfaltige Analyse bei Huster , Körperschaftsstatus unter Loyalitätsvorbehalt?, JuS 1998, 117 ff.

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ungeschriebene Loyalitätsforderung im wesentlichen eine Folgerung aus bestimmten Vorstellungen zum Gesamtverständnis des Körperschaftsstatus darstellt. Diese neue Sicht des Körperschaftsstatus und die daraus abgeleitete Loyalitätspflicht sind fragwürdig. Die These, die hier entwickelt und begründet werden soll, lautet: Forderungen nach loyaler Staatsbejahung durch eine Religionsgemeinschaft des öffentlichen Rechts überschreiten den Verfassungsrahmen des religiös und weltanschaulich neutralen Staates. Sie positivieren im Medium des Körperschaftsstatus verfassungsstaatliche Erwartungen an die Religionsgemeinschaft, die zwar sinnvoll und verständlich sind, aber nur als ethische Anforderungen bestehen können, nicht hingegen als verfassungsrechtliche Pflicht. II. Die geschichtliche Entwicklung des Körperschaftsstatus Art. 137 Abs. 5 Satz 1 WRV bestimmt, daß Religionsgesellschaften Körperschaften des öffentlichen Rechts „bleiben", soweit sie solche bisher „waren". Das betraf 1919, bei Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung, im wesentlichen die großen christlichen Kirchen. Nach Satz 2 der Vorschrift sind anderen Religionsgesellschaften auf ihren Antrag hin die gleichen Rechte zu gewähren, wenn sie durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten. Damals wie heute, nach der grundgesetzlichen Inkorporation des Weimarer Religionsrechts durch Art. 140 GG, bildet die öffentlich-rechtliche Stellung die „Crux der staatskirchenrechtlichen Problematik" 10 . Nur in einem besteht Einigkeit: Der staatsorganisationsrechtliche Körperschaftsbegriff - er umgreift rechtsfähige Personenverbände, die unter staatlicher Aufsicht Aufgaben öffentlicher Verwaltung wahrnehmen 11 - paßt nicht (mehr) ins Staatskirchenrecht. Die Religionsgemeinschaften sind nicht Teil des Staates, der Körperschaftsstatus bewirkt keine Eingliederung. 12 Sie stehen funktional außerhalb des staatlichen Organisationsraumes und sind auch kein Träger mittelbarer Staatsgewalt. Die Religionsgemeinschaften mit Körperschaftsstatus wurzeln, aus der Sicht des Verfassungsrechts, in der Sphäre gesellschaftlicher Freiheit. Der 10

Hesse, Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen, ZevKR 11 (1964/65), 337 ff. (357). Naumann bemerkte in der Weimarer Nationalversammlung: „Es handelt sich hier um das schwer definierbare höher stehende Recht (seil, im Vergleich zur Rechtsfähigkeit nach privatem Recht), von dem die Kollegen Mausbach und Kahl mit kirchenrechtlicher Klugheit gesprochen haben und über das kein Mensch in diesem Raum klar zu sein sich rühmen dürfte" (Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, Beratungen des Plenums über den Abschnitt Religion und Religionsgesellschaften in der 59. Sitzung am 17.07.1919, Verhandlungen Bd. 328, Sten. Berichte, S. 1653). 11

Vgl. nur Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Aufl. 1997, Rn. 169; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 11. Aufl. 1997, § 21 Rn. 8. 12 BVerfGE 18, 385 (386 f.); 42, 312 (321); 53, 366 (387); Meyer-Teschendorf, perschaftsstatus der Kirchen, AöR 103 (1978), 289 ff. (294).

Der Kör-

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Grund, warum ihnen dennoch die öffentlich-rechtliche Korporationsform mit den daran anknüpfenden Handlungs- und Gestaltungsformen offensteht, ist bekanntlich zunächst ein historischer. Art. 137 Abs. 5 WRV ist ein Herzstück des Weimarer Kirchenkompromisses. Um das pragmatische Verständnis des Körperschaftsstatus im Jahre 1919 haben sich erst im Verlauf der Entwicklung, vor allem unter der Geltung des Art. 140 GG, weitere Bedeutungs- und Legitimationsschichten gelegt. 1. Im 19. Jahrhundert standen Elemente verschiedener Entwicklungsstufen vom konfessionellen über den christlich-paritätischen zum weltanschaulichneutralen Staat nebeneinander. In den deutschen Einzelstaaten galt anfangs ein weitgehend übereinstimmendes System differenzierter Rechtsstellungen der Religionsgesellschaften. In drei Gruppen abgestuft, die letztlich auf das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 zurückgehen, flankierte es die seit den Anfangstagen des Deutschen Bundes ohne Rücksicht auf das Bekenntnis schrittweise garantierte staatsbürgerliche Gleichheit.13 Die erste Gruppe bildeten die evangelische und katholische Kirche. Sie waren als bevorrechtigte öffentlich-rechtliche Korporationen anerkannt und hatten das Recht der „freien" und „öffentlichen" Religionsausübung. Der Korporationsstatus war für die großen Kirchen aber primär der Schlüssel zur Öffentlichkeit. Er umfaßte deshalb Vorrechte im Bereich der staatlichen Organisation, vor allem im Schulwesen, bedeutete aber auch eine besondere staatliche Kirchenaufsicht. Die zweite Gruppe bildeten weitere öffentlich-rechtliche Korporationen ohne Privilegierung (u.a. Brüdergemeinde, Altlutheraner, Baptisten). Zur dritten Gruppe gehörten die kleinen Religions- und Weltanschauungsgesellschaften des Privatrechts. 14 Bei den letzteren galt bereits eine Trennung von Staat und Kirche. Aber das hieß im Kontext des 19. Jahrhunderts nicht volle Betätigungsfreiheit, sondern Verdrängung in das Private. Vor der Anerkennung voller individueller Glaubensfreiheit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es den kleinen privaten Gemeinschaften — in den Worten des Preußischen Allgemeinen Landrechts — verwehrt, „öffentliche Feyerlichkeiten außerhalb der Mauern ihres Versammlungshauses abzuhalten". Der öffentlich-rechtliche Status erhob die 13

Art. 16 Abs. 1 der Deutschen Bundesakte bestimmte: „Die Verschiedenheit der christlichen Religions-Partheyen kann in den Ländern und Gebiethen des deutschen Bundes keinen Unterschied in dem Genüsse der bürgerlichen und politischen Rechte begründen." Abgedruckt in: Huber (Hrsg.), Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I, 3. Aufl. 1978, Nr. 30. 14

Zu dieser undurchlässigen Stufung: M. Hechel, Zur Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts von der Reformation bis zur Schwelle der Weimarer Verfassung (1966), in: ders ., Gesammelte Schriften, Bd. I, 1989, S. 366 ff., 392 ff. Allerdings: Völlig undurchlässig war das System nicht, lediglich ein Aufstieg in die höchste Gruppe der privilegierten Körperschaften war ausgeschlossen. Die Verleihung der Korporationsrechte war möglich, Art. 13 der Preußischen Verfassung von 1850 verlangte hierfür eine gesetzliche Regelung. Auf dieser Grundlage ergingen die Gesetze von 1874 und 1875, die Korporationsrechte an einzelne Mennoniten- und Baptistengemeinden verliehen (Pr. GS 1874 S. 238, GS 1875 S. 374). 15 GS Jeand' Heur

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Kirche dagegen - neben und mit dem Staat - zum Träger der guten öffentlichen Ordnung. Staat und Kirche waren die beiden öffentlichen Gewalten, die der Gesellschaft gegenüberstanden. 2. Die Weimarer Nationalversammlung war in der Frage der Neugestaltung des Staat-Kirche-Verhältnisses zunächst unversöhnlich gespalten. Die Alternative in ihrer krassesten Form lautete, entweder alles beim alten zu belassen oder alle Religionsgesellschaften gleichmäßig in das Privatrecht zu verweisen. Daraus entstand - angebahnt schon in einem frühen Stadium der Verfassungsverhandlungen — der Weimarer Kirchenkompromiß der gestuften, aber - und das war das entscheidend Neue - durchlässigen Parität in Art. 137 Abs. 5 WRV. Der Abgeordnete Mausbach beschrieb dies als Berichterstatter in der Nationalversammlung: „Gegen die Herabsetzung der christlichen Kirche auf das rein privatrechtliche Niveau hat sich die Mehrheit des Ausschusses von vornherein gesträubt. Von anderer Seite bestand allerdings durchaus keine Neigung, irgendein Vorrecht der christlichen Kirche vor den Sekten oder neu gegründeten Religionsgemeinschaften auszusprechen. Die Lösung dieses Gegensatzes ist in einer Weise gefunden worden, die man in etwa als originell, als geschichtlich und jedenfalls als zeitgeschichtlich bedeutsam bezeichnen kann. Wir haben nicht versucht, die christlichen Kirchen mit ihrer tausendjährigen oder mehrhundertjährigen Vergangenheit, mit ihren wohlerworbenen Rechten einfach auf den Stand eines Privatvereins herabzusetzen. Wir haben umgekehrt auch den Sekten und den religiösen Neubildungen die Möglichkeit gegeben und erleichtert, die gleichen sowohl privaten als öffentlichen Rechte zu erwerben." Letzteres bedeutet nach Mausbach „eine Erhebung beider Teile in eine ideale, kulturbedeutsame und staatsrechtliche Höhe. [...] Aus dieser Lösung der Frage spricht [...] vor allem eine Wertschätzung der sozialen Kräfte der Religion und ihrer Bedeutung für das öffentliche Leben." 15 Die neue Parität bestand nicht in einem Verstoß aller Religionsgemeinschaften aus dem öffentlichen Recht, sondern im Angebot des öffentlich-rechtlichen Status an alle unter den Voraussetzungen des Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV. Diese strikte „Gleichheit des Angebots" 16 wurde in der Weimarer Nationalversammlung ausfuhrlich thematisiert. Friedrich Naumann legte dar, daß der Körperschaftsstatus für den Ausschuß keine Grundlage einer „Klassifikation" sei; er drücke „keine besondere Würde" aus, sei „kein Zeichen besonderer Exzellenz", „kein Ehrenzeugnis für die Kirche, die dessen nicht bedarf". Eine Religionsgemeinschaft, die den Status neu 15 Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung (Fn. 10), Bd. 328, Sten. Berichte, S. 1645. Zu den Beratungen K. Müller , Die Gewährung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an Religionsgesellschaften gemäß Art. 137 V Satz 2 WRV, ZevKR 2 (1952/53), 139 ff., 153 ff.; Held , Die kleinen öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften im Staatskirchenrecht der Bundesrepublik, 1974, S. 21-25. 16

M. Hechel , Die religionsrechtliche Parität, in: Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland (HdbStKirchR), Bd. I, 2. Aufl. 1994, S. 589 ff. (606).

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erwerben wolle, müsse keine bestimmte allgemeine Bedeutung erlangt haben; Naumann forderte allein in Hinsicht auf die schul- und steuerrechtlichen Folgen des Körperschaftserwerbs, daß die antragstellende Religionsgemeinschaft aus dem Stadium der beständig vorhandenen „wolkenartigen Religionsgebilde" herausgekommen und „religiöse Verwaltungsgemeinschaft" geworden sein müsse.17 Naumann endete mit den berühmten Worten: „Da es keine Staatskirche mehr gibt, so sind alle Nebenkirchen gleicher Ehre" und richtete die klarstellende Frage an Hugo Preuß, ob das Recht der öffentlichen Körperschaft den kleineren Kirchen wie Methodisten, Baptisten, Altlutheranern und anderen ohne weiteres zuteil werden solle. Preuß antwortete, daß Sinn und Bedeutung der Bestimmung für die Sekten und Freikirchen „nur so aufgefaßt werden könnten, wie es der Herr Abgeordnete Naumann formuliert hat." 18 Für die Nationalversammlung stand ganz überwiegend außer Zweifel, daß es auf Inhalt, theologische Seriosität, Dignität und Bedeutung des Glaubens einer antragstellenden Religionsgemeinschaft ebensowenig wie auf ihre sonstige Bedeutsamkeit ankommen sollte. So überrascht es nicht, daß die Nationalversammlung der Formulierung der Verleihungsvoraussetzungen in Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV nur wenig Aufmerksamkeit schenkte. Sie wurden als äußerlich greifbare Merkmale dem Erscheinungsbild der Großkirchen nachgebildet. Lediglich das Erfordernis einer Verfassung wurde dem ursprünglich allein die Dauer des Bestehens und die Zahl der Mitglieder berücksichtigenden Entwurf später hinzugefügt 19, was Kahl als Vertreter der Volkspartei zustimmend kommentierte, weil „das Kriterium für die Würdigkeit einer Religionsgesellschaft, öffentliche Korporation zu werden, nicht auf das zufallige äußere Moment der Zeit des Bestehens, sondern auf das tiefere Moment des Inhalts ihrer Verfassung" hinweise.20 Während hier das Merkmal der inhaltlichen Würdigkeit anklingt 21 , herrschte im übrigen die Auffassung vor, der Aufstieg kleinerer Religionsgemeinschaften zur Korporation betreffe nur ein Randproblem. Die Möglichkeit schien offenbar geboten, um eine normativ verfestigte Privilegierung der Großkirchen zu vermeiden. Interessanterweise fand sich noch nach 1945 die dieser Sicht entsprechende 17 Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung (Fn. 10), Bd. 328, S. 1653 f. 18

Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung (Fn. 10), Bd. 328, S. 1654b, 1655; vgl. Müller (Fn. 15), ZevKR 2 (1952/53), 139 ff. (168). 19 In der dritten Lesung im Plenum, dazu Badura , Das Staatskirchenrecht als Gegenstand des Verfassungsrechts, in: HdbStKirchR (Fn. 16), Bd. I, 2. Aufl. 1994, S. 211 ff. (235 m. Fn. 90). 20 21

Israel . Geschichte des Reichskirchenrechts, 1922, S. 35 ff., 49 f., 56 f.

Das zuvor allerdings auch schon von Mausbach herausgestellt worden war, Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung (Fn. 10), Bd. 336, S. 191, Bd. 328, 1645: Beschränkungen bei der Verleihung der Körperschaftsrechte seien Ausdruck der „Wertschätzung der sozialen Kräfte der Religion und ihrer Bedeutung für das öffentliche Leben", auch neu zu beleihende Religionsgemeinschaften müßten „eine erhebliche Bedeutung für das soziale und staatliche Leben erlangt haben".

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Auffassung, das volle Problem „des institutionellen Zusammenhangs von Staat und Kirche sowie die Teilhabe der Kirchen an der öffentlichen Ordnung" erfüllten „nur die Beziehungen zwischen dem Staat und den beiden großen Kirchen". 22 Die kulturelle und soziologische Prägekraft des volkskirchlichen Systems, aber auch die frühere Stufung der Religionsgesellschaften wirkten weiter. 3. Die Weiterwirkung spiegelt sich auch in den Weimarer Diskussionslinien zur Bedeutung des staatskirchenrechtlichen Körperschaftsbegriffs. Hugo Preuß' Warnung, der Körperschaftsstatus nehme einen unklaren Begriff ins Verfassungsrecht auf 23 , erwies sich als nur zu berechtigt. Die frühe Weimarer Lehre stellte fest: „Die Väter des Art. 137 preisen ihr gemeinsames Geisteserzeugnis, ohne über seine rechtliche Bedeutung sich jemals klar ausgesprochen, ohne vielleicht selbst Klarheit erlangt zu haben."24 Schon in der Nationalversammlung wurde die später als „Korrelatentheorie" bezeichnete Auffassung vertreten, die Einfügung von Religionsgesellschaften in das öffentlich-rechtliche Ordnungssystem, „in dem der Staat die übergeordnete Verantwortung" innehabe, sei mit einer besonderen Staatsaufsicht verbunden. „Diese Staatsaufsicht ist das notwendige Korrelat dazu, daß die Kirchengesellschaften öffentliche Korporationsfahigkeit haben."25 Erst später setzte sich die Einsicht durch, daß diese Korrelatenformel vorkonstitutionelles Gedankengut in das Weimarer System übertrug, in dem es mit der Trennung von Staat und Kirche und der Unabhängigkeit aller Religionsgesellschaften (Art. 137 Abs. 1, 3 WRV) nicht zu vereinbaren war. 26 Carl Schmitt fand im kirchenpolitischen System Weimars einen weiteren dilatorischen Formelkompromiß. Einerseits solle keine Staatskirche bestehen. Andererseits seien Staat und Kirche aber auch nicht getrennt. Da die Kirche nicht als private Gesellschaft behandelt werde, sei der Staat nicht laizisiert. „Religion kann nach der Weimarer Verfassung schon deswegen nicht Privatsache sein, weil die Religionsgesellschaften Körperschaften des öffentlichen 22 W. Weber , Staatskirchenrecht, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. IX, 1956, S. 753 ff. (754). 23

Vgl. P Kirchhof, Die Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: HdbStKirchR, Bd. I, 2. Aufl. 1994, S. 651 ff. (662). 24

Giese , Das kirchenpolitische System der Weimarer Verfassung, AöR n.F. 7 (1924), 1 ff.

(30). 25 Kahl, in: Verhandlungen der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, Bd. 328, S. 1647. PrOVGE 82, 196: Die Kirchenhoheit sei ein „der bevorrechtigten Stellung der Kirche entsprechendes besonders geartetes Staatsaufsichtsrecht." Vgl. auch Anschütz , Kommentar zur Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919, 10. Aufl. 1929, Art. 137, S. 551 ff.; Schoen, Der Staat und die Religionsgesellschaften in der Gegenwart, VerwArch 29 (1922), 1 (20 f.). Dazu Jeand'Heur , Der Begriff der „Staatskirche" in seiner historischen Entwicklung, Der Staat 30 (1991), 442 ff. (458 ff). 26

Ebers , Staat und Kirche im neuen Deutschland, 1930, S. 302.

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Rechts bleiben, soweit sie solche bisher waren [...] und nicht einzusehen wäre, was an ihnen ,öffentlich* sein sollte, wenn Religion etwas rein Privates ist". Der christliche Charakter des öffentlichen Lebens in Deutschland werde jedenfalls nicht klar verneint. 27 Bezeichnenderweise erwähnt Schmitt nicht einmal am Rande die Offenheit des Körperschaftsstatus für einen Neuerwerb. Das hätte, zusammen mit Art. 137 Abs. 3 WRV, zumindest am Dilatorischen des Kompromisses Zweifel wecken müssen. Insgesamt finden die Würdigungen des Körperschaftsstatus zur Weimarer Zeit keine klare Linie. Die Einordnung der großen Kirchen und der weiteren Religionsgesellschaften klafft auseinander. Bei den Kirchen wird vielfach am vorkonstitutionellen Traditionsbestand festgehalten. 28 Nur vereinzelt wird das veränderte verfassungsrechtliche Umfeld gesehen. Das belegen die zwar einprägsamen, aber unpräzisen Formeln des kirchenpolitischen „Systems der Trennung eigener Art", des „hinkenden Trennungssystems" oder der „gelockerten Fortsetzung der Verbindung von Staat und Kirche". 29 Die kleinen Gemeinschaften behalten den Beiklang des Außergewöhnlichen, ja Irregulären. Die Verleihungspraxis der Länder war in den Jahren 1918 bis 1933 eher zurückhaltend. 30 4. Die notgedrungene Kompromißformel des Art. 140 GG ist das Ergebnis der Uneinigkeit des Parlamentarischen Rates bei der Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche 31 . Die Inkorporation der Weimarer Kirchenartikel als vollgültiges Verfassungsrecht 32 führte die Weimarer Verlegenheitslösung als nunmehr doppelten Kompromiß weiter. Bei der Interpretation der Regelungen insgesamt und besonders des Art. 137 Abs. 5 WRV aber gelang es in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik, die Weimarer Unsicherheiten zugunsten einer herrschenden Linie zu überwinden. Den ermunternden Anstoß dazu gab Smend mit der These, daß es nicht dasselbe sei, wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagten.33 Smend meinte damit, die Verfassungsinterpretation dürfe die gegenüber 1919 grundsätzlich veränder27

Schmitt , Verfassungslehre (1928), 6. Aufl. 1983, S. 32 ff.

28

PrOVGE 43, 300: „Die christliche Religion ist im preußischen Staat nach seiner geschichtlichen und verfassungsmäßigen Gestaltung ein Teil der öffentlichen Ordnung und daher polizeilichem Schutz unterstellt." 29

Diese und weitere Nachweise bei Jeand'Heur

(Fn. 25), Der Staat 30 (1991), 457 f.

30

Müller (Fn. 15), ZevKR 2 (1952/53), 161, hat insgesamt 39 Verleihungen ermittelt (ohne katholische und jüdische Verbände und Gemeinden). Davon betrafen 29 Brüdergemeinde, ev. Freikirchen, Mennoniten, Baptisten (a.a.O., Fn. 62, 63). 31

Dazu Hesse, Die Entwicklung des Staatskirchenrechts seit 1945, JöR n.F. 10 (1961), 3 ff.; von Doemming/Füsslein/Matz (Hrsg.), Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JöR n.F. 1 (1951), 73 ff. (899 ff.). 32

BVerfGE 19, 206 (219).

33

Smend , Staat und Kirche (Fn. 7), S. 411.

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te vorrechtliche Ausgangslage von Staat und Kirchen nicht unberücksichtigt lassen. Auf Seiten des Staates war Schwäche und Unsicherheit nach dem Unrechtsregime der Jahre 1933 bis 1945 festzustellen, was freilich nicht die Berechtigung des Staates beeinträchtigte, aus eigenem Recht die Grenze zwischen sich und den Kirchen zu ziehen. Auf der anderen Seite galten die Kirchen als ethisch-moralisch unbeschädigte Instanzen. Viel wichtiger aber: Nunmehr fanden beide großen Kirchen dazu, selbstbewußt und selbstbestimmt ihre Rolle im und zum Staat festzulegen. Diese Positionsbestimmung hatte zwar bei der katholischen Kirche schon mit dem Kulturkampf begonnen, aber die evangelische Kirche, bis 1918 durch den Summepiskopat mit dem Staat verbunden 34, hatte in Weimar noch nicht vermocht, die neue Freiheit auszufüllen und aus einer Position freiheitlicher Distanz heraus zu einer Annäherung an die Demokratie und die neue Republik zu finden 35. Erst die Ereignisse der Jahre 1933/34 setzten der konstantinischen Nähe von Staat und evangelischer Kirche ein Ende. Der Rückzug der Kirche auf ihren geistlichen, vom Staat unabhängigen Auftrag, ihre volle innere Unabhängigkeit war der nach 1949 nicht mehr rückgängig zu machende Ertrag des Kirchenkampfes. 36 Methodisch war es fragwürdig, das außerhalb des staatlichen Rechts entwikkelte und durch die kirchlich-theologische Sicht geprägte Vorverständnis der Interpretation des neuen alten Verfassungsrechts zugrunde zu legen.37 Im ersten Überschwang entstand die bis zur Mitte der sechziger Jahre vorherrschende „Koordinationslehre". In betontem Gegensatz zum frühen Weimarer Ansatz vom Fortbestehen der Staatsaufsicht über die Religionsgemeinschaften sollten sich nach diesem Konzept Staat und Kirche auf der Ebene gleichgeordneter Koordination begegnen. Eine rechtliche Überordnung des Staates bestehe nicht, die Kirchen hätten eigene und ursprüngliche Hoheitsgewalt, die vom Staat nicht verliehen, sondern lediglich anerkannt werde. 38 Erst nachdem sich — auch mit

34

„[...] im Gravitationsfeld des Staates verblieben", von Campenhausen, Staatskirchenrecht, 3. Aufl. 1996, S. 38. 35 Scholder , Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, 1977, S. 8 ff.; Nowak, Evangelische Kirche und Weimarer Republik, 2. Aufl. 1988; Smend , Protestantismus und Demokratie (1932), in: ders. (Fn. 7), S. 297 ff.; Jeand'Heur (Fn. 25), S. 462 ff. 36 E. Schlink , Der Ertrag des Kirchenkampfes, 1947, S. 24 ff., der gleichzeitig betönt, daß hier eine neue Möglichkeit entstand, sich dem Staat zuzuwenden. 37 Der etatistisch-positivistische Widerspruch blieb nicht aus: Quaritsch , Kirchen und Staat, Der Staat 1 (1962), 175 ff. Die Betonung des staatlichen Interpretationsmonopols setzte sich aber im Klima der auf harmonische Vermittlung gestimmten frühen Bundesrepublik nicht durch. 38 Vgl. nur Peters , Die Gegenwartslage des Staatskirchenrechts, VVDStRL 11 (1954), 177 ff. (181, 187 f.); Hesse, Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich, 1956, S. 62 (72); Albrecht , Koordination von Staat und Kirche in der Demokratie, 1965, S. 32 ff.

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Hilfe des Bundesverfassungsgerichts 39 - die Auffassung durchgesetzt hatte, daß diese Koordinationslehre mit der Souveränität des Verfassungsstaates nicht vereinbar ist 40 , gelangte die Neuinterpretation der Weimarer Kirchenartikel zu Ergebnissen, die dem säkularen Staat und dem Trennungsgebot von Staat und Kirche entsprachen. Das wichtigste bestand darin, nicht nur die Religionsgemeinschaften des Privatrechts, sondern auch die kirchlichen Korporationen in der Trennung und Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft 41 dem Bereich der Gesellschaft zuzuweisen. Die öffentlich-rechtliche Verfaßtheit verändert die Verwurzelung und den Bewegungsraum der Korporationen in der Sphäre gesellschaftlicher Freiheit nicht. Das institutionelle Staatskirchenrecht der Art. 140 GG, Art. 136 ff. WRV ist kein Annex staatsorganisatorischer Gestaltung und demokratischer Herrschaft, sondern Ergänzung, Präzisierung und Erweiterung grundrechtlicher Freiheit, speziell der in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantierten Glaubens- und Religionsfreiheit. Der Korporationsstatus ist ein spezifisch staatskirchenrechtliches Mittel 42 und der Ausdruck grundrechtlicher Freiheit. Die institutionelle Trennung von Staat und Kirche heißt: Trotz teilweiser personeller Identität stehen auf der einen Seite die öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften und ihre Mitglieder, auf der anderen Seite das Staatsvolk und seine demokratischen Repräsentanten. „Mit gewisser Vereinfachung läßt sich der verfassungsrechtliche Status der Kirche bestimmen als institutionelle Hilfe für die Religionsausübung der Individuen. Die Rechte, die ihr die Verfassung des säkularen Staates gewährleistet, bestehen um der Menschen willen, die sich in ihr zusammenfinden, nicht aber um der Wahrheit willen, die sie verkörpert, und nicht um des Heilsauftrags willen, aus dem sie sich rechtfertigt." 43 Diese Verortung der Korporationen stellt aber auch die Verbindung zum allgemeinen Verständnis grundrechtlicher Freiheit her. Staat und Verfassung nehmen die öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften so, wie sie sich selbst und autonom verfaßt haben. Dies gilt in organisatorischer und inhaltlicher Hinsicht. Grundrechtliche Freiheit heißt Anerkennung der Korporation in ihrem relativen Eigenrecht.

39

Vgl. BVerfGE 18, 385 ff.; 19, 1 ff.; 19, 129 ff.

40

Quaritsch , Neues und Altes über das Verhältnis von Kirchen und Staat, Der Staat 5 (1966), 451 ff. 41 Die Unterscheidung ist noch immer von Bedeutung, vgl. Rupp, Staat und Gesellschaft, in: Isensee /Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, S. 1187 ff.; Böckenförde, Staat und Gesellschaft, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. V, 7. Aufl. 1989, Sp. 228 ff. 42 „Die Institutionen des Staatskirchenrechts sind Medien grundrechtlicher Freiheit", Isensee, Verfassungsstaatliche Erwartungen an die Kirche, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 25 (1991), S. 104 ff. (112). 43

Isensee , Verfassungsstaatliche Erwartungen (Fn. 42), S. 112.

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Auf dieser Grundlage stellt sich freilich die Frage nach dem Unterschied zwischen den Körperschaften und den privatrechtlichen Religionsgemeinschaften. Auch diese wurzeln schließlich in der grundrechtlichen Freiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, auch für sie gilt ein wichtiger Teil des institutionellen Staatskirchenrechts, vorab die Selbstverwaltungsgarantie nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV 4 4 . Wenig überzeugend war deshalb die frühere Deutung des Bundesverfassungsgerichts, die öffentlich-rechtliche Verfaßtheit solle die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Kirche vom Staat sichern 45 - diese Unabhängigkeit, grundrechtlich gesichert, genießen alle Religionsgemeinschaften. Statt dessen zeigen die mit dem Körperschaftsstatus verbundenen Hoheitsrechte 46 - auch wenn von dieser Rechtsfolge nicht auf den Tatbestand des Korporationsstatus geschlossen werden kann —, daß die Korporation dem Staat näher steht als die anderen Religionsgemeinschaften. Im Körperschaftsstatus liegt ein spezifisch staatskirchenrechtlicher „Überhang" 47 an institutioneller Verankerung. Er läßt sich nicht ausschließlich als Ergebnis grundrechtlicher Betätigung erfassen, auch wenn er dort seine Wurzeln hat. Es war folgenreich, daß die Verfassungsinterpretation auch nach Überwindung der Koordinationslehre bei der Bestimmung dieses Überhangs auf das kirchliche, insbesondere evangelische Selbstverständnis zurückgriff. Seit der Barmer Theologischen Erklärung (1934) besteht die evangelische Kirche auf ihren „Öffentlichkeitsanspruch". Sie nimmt als Kirche, gerichtet aber an alle, zu den Fragen von Staat und Gesellschaft Stellung.48 In die Stille und Abgeschlossenheit privater Frömmigkeit läßt sie sich nicht abdrängen. Die katholische Kirche nimmt einen kirchlichen Öffentlichkeitsauftrag schon seit langem als „potestas directiva (indirecta) in temporalibus" in Anspruch. 49 44 Zum Zusammenhang von Art. 4 GG und Art. 137 Abs. 3 WRV vgl. BVerfGE 53, 366 (401); 57, 220 (244); 66, 1 (20); Hollerbach , Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: Isensee/ Kirchhof ( Hrsg.), HStR, Bd. VI, 1989, S. 531 ff. 45 BVerfGE 30, 415 (428); s.a. von Campenhausen, in: von Mangoldt / Klein, Das Bonner Grundgesetz, 3. Aufl. 1991, Art. 140 GG/137 WRV Rn. 148. 46

Dazu R Kirchhof Die Kirchen als Körperschaften (Fn. 23), S. 670 ff.; Held , Die kleinen öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften (Fn. 15), S. 52 ff. 47 Isensee , Verfassungsstaatliche Erwartungen (Fn. 42), S. 113. Richtig Huster (Fn. 9), JuS 1998, 118, der neben dieser grundrechtlichen Deutung noch eine zweite, vom Staat und seinen Interessen abgeleitete Zweckbestimmung des Körperschaftsstatus in der staatskirchenrechtlichen Lehre und der neuen Rechtsprechung des BVerwG sieht. Diese Alternative verkennt die Verschränkung von grundrechtlichem Fundament und organisatorischem Überhang. 48 These 6 der Erklärung: Der „Auftrag der Kirche" ist es, „durch Predigt und Sakrament die Botschaft von der freien Gnade auszurichten an alles Volk". Näher Schiaich , Der Öffentlichkeitsauftrag der Kirchen, in: HdbStKirchR (Fn. 16), Bd. II, 2. Aufl. 1996, S. 131 ff., dort S. 131 f.: „Die Kirchen und die in ihnen versammelten Christen predigen freimütig von der in Christus geoffenbarten Versöhnung Gottes mit der Welt und nehmen mit dem ihnen von daher aufgetragenen Dienst am Nächsten ein Stück Verantwortung für die Welt wahr." 49

Hollerbach , Verträge zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik, 1965, S. 108 ff.

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Bereits 1951 hatte Smend den im Kirchenkampf von der Bekennenden Kirche entwickelten Öffentlichkeitsanspruch mit der öffentlichen Korporationsqualität verbunden 50; 1955, im Loccumer Vertrag zwischen dem Land Niedersachsen und den evangelischen Landeskirchen, fand er erstmals auch vertragliche Anerkennung seitens des Staates.51 Das wurde zum Dreh- und Angelpunkt der grundgesetzlichen Interpretation. „Die Kirchen bewegen sich im Bereich des Öffentlichen. Hier, zwischen den Polen des Staatlich-Hoheitlichen und des Privat-Intimen, verhandelt die Gesellschaft das für das Gemeinwesen Relevante, diskutiert sie den politischen, geistigen und sozialen Standort der res publica." 52 Öffentlich-rechtliche Verfaßtheit eröffnet „eine besondere Zuordnung der Religionsgemeinschaft zum Staat. [...] Kennzeichen von Religionsgemeinschaften, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, ist die Pflege von Gemeinschaftsinteressen im Bereich des Öffentlichen." 53 Der Status anerkennt in den Kirchen „maßgebende Faktoren oder Potenzen des Öffentlichen" 54 , ohne sie auf eine Stufe mit Verbänden und Interessengruppen zu stellen. Im Unterschied zu gesellschaftlichen Interessenten, in Parallele aber zum Staat, beanspruchen die religiösen Körperschaften, den ganzen Menschen anzusprechen und ein Wächteramt über die öffentliche Ordnung auszuüben. Neben dieser materiellen Rechtfertigung des öffentlich-rechtlichen Status der Religionsgemeinschaften mit dem kirchlichen Öffentlichkeitsauftrag bedeutet Art. 137 Abs. 5 WRV in formeller Hinsicht, daß die grundrechtlich legitimierte Teilhabe an der Öffentlichkeit mittels der Rechtsform auch institutionell abgesichert wird. I I I . Ungeschriebene Voraussetzungen des Körperschaftsstatus? 1. Anders als in Weimar führte Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV nach 1949 kein Schattendasein. Es gab zahlreiche neue Bewerber um den Körperschaftsstatus, viele kleinere Religionsgemeinschaften 55 erhielten ihn erstmals 56 oder die Län50 Smend, Staat und Kirche (Fn. 7), S. 420 f.; ders ., Zur Gewährung der Rechte einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an Religionsgemeinschaften gemäß Art. 137 V WRV, ZevKR 2 (1952/53), 374 ff. 51

Schiaich , Der Öffentlichkeitsauftrag (Fn. 48), S. 135 ff.

52

Meyer-Teschendorf

(Fn. 12), AöR 103 (1978), 303.

53

Muckel, Islamische Gemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts, DÖV 1995, 311 ff. (313). Besonders deutlich P Kirchhof Die Kirchen als Körperschaften (Fn. 23), S. 656: „Die rechtliche Qualifikation der Kirchen als öffentlichrechtliche Körperschaften ist somit eine sinnvolle, wenn auch nicht eine notwendige Konsequenz ihrer öffentlichen Bedeutung. Staat und Kirche werden nicht voneinander getrennt, sondern von Verfassungs wegen zur Fortsetzung ihrer Zusammenarbeit verpflichtet." 54 Hollerbach , Die Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 1 (1969), S. 46 ff. (59). 55 Überblick über die Religionsgemeinschaften, die in zumindest einem Bundesland den Körperschaftsstatus haben: P. Kirchhof Die Kirchen als Körperschaften (Fn. 23), S. 678 ff;

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der machten durch Verleihungsakte einen zwangsweisen Entzug der Körperschaftsrechte während der NS-Herrschafit wieder rückgängig 57. Dabei bestand von Beginn an Einigkeit, daß der Körperschaftsstatus grundsätzlich allen Religionsgemeinschaften offensteht. 58 Wenn die tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen, gewährt Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV einen uneingeschränkten, gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf Verleihung der Rechtsstellung. Staatliches Verleihungsermessen gibt es nicht. Die Verleihungsvoraussetzungen wurden lange Zeit formal und in enger Anlehnung an den Verfassungstext interpretiert und angewendet.59 Man wertete sie ähnlich den Anforderungen, die §§57 ff. BGB an die Satzung eingetragener Vereine stellt. Es kam allein darauf an, die organisatorischen Bedürfnisse der Religionsgesellschaften angemessen zu berücksichtigen. Die unbestimmten Rechtsbegriffe des Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV („Religionsgesellschaften"; „Gewähr der Dauer"; „Verfassung"; „Zahl der Mitglieder") unterliegen voller gerichtlicher Nachprüfung. Die Gewähr der Dauer bietet eine Religionsgemeinschaft, die über einen Zeitraum von etwa 30 Jahren bestanden hat. 60 Dies stellt sicher, daß nicht jede religiöse Bewegung den Körperschaftsstatus erhält, die plötzlich auftritt, möglicherweise aber ebenso schnell wieder untergeht. Bei der Mitgliederzahl verlangt das Landesrecht in der Regel ein Tausendstel der Bevölkerung des Landes61. Das Kriterium der Mitgliederauf dem Stand von 1974 und zu den westlichen Ländern Held, Die kleinen öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften (Fn. 15), S. 149 ff. 56

Die Zuständigkeit für die Verleihung liegt bei den Ländern (Art. 137 Abs. 8 WRV). Das Landesrecht sieht teils eine Verleihung durch Gesetz, teils durch Rechtsverordnung oder Verwaltungsakt vor. Der Körperschaftsstatus und die damit verbundenen Rechte (insbesondere das Recht der Steuererhebung, Art. 137 Abs. 6 WRV) besteht im Gebiet des jeweiligen Landes, findet aber Anerkennung im gesamten Bundesgebiet. 57 So bei einzelnen freireligiösen Gemeinden und vor allem den jüdischen Gemeinschaften, denen das Reichsgesetz über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Kultusgemeinden vom 28.3.1938 (RGBl. I S. 338) die Körperschaftsrechte genommen hatte, vgl. hierzu Werner Weber, Die kleinen Religionsgemeinschaften im Staatskirchenrecht des nationalsozialistischen Regimes, in: GedS für Walter Jellinek, 1955, S. 101 ff. 58 von Campenhausen, Staatskirchenrecht, 3. Aufl. 1996, S. 151. Zum Begriff der Religionsgemeinschaft vgl. Held, Die kleinen öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften (Fn. 15), S. 109 ff. 59 Vgl. zur Praxis der westdeutschen Länder in den ersten Jahren nach 1945 Müller (Fn. 15), ZevKR 2 (1952/53), 162. 60 R Kirchhof, Die Kirchen als Körperschaften (Fn. 23) S. 685 m. Anm. 173; Art. 143 Abs. 2 S. 2 BayVerf. setzt lediglich ein fünfjähriges Bestehen voraus; zu weiteren Interpretationsansätzen H. Weber, Körperschaftsstatus für die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland?, ZevKR 41 (1996), 172 ff. (197). 61 H. Weber, Die Verleihung der Körperschaftsrechte an Religionsgemeinschaften, ZevKR 34 (1989), 337 (354 f.). Eine Empfehlung der Kultusministerkonferenz vom 12.3.1954 (abgedruckt bei Weber, S. 377) verlangt, daß „die Mitgliederzahl in dem einzelnen Lande so groß ist, daß die Organisation eine gewisse Bedeutung im öffentlichen Leben erlangt hat".

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zahl impliziert eine mitgliedschaftliche Organisation der Religionsgemeinschaft und klare interne Kriterien über Erwerb und Verlust der Mitgliedschaft. 62 Das Tatbestandsmerkmal der Verfassung zielt auf eine beständige Organisation mit Regelungen über das Verfahren der Willensbildung und die Organe der Religionsgemeinschaft. Die Verfassung bezeichnet ihren „rechtlich greifbaren Gesamtzustand"63. 2. Wenn sich die jüngste staatskirchenrechtliche Diskussion und Rechtsprechung mit diesen im einzelnen schon recht anspruchsvollen 64, insgesamt aber doch formalen Verleihungsvoraussetzungen nicht zufrieden gibt, so ist das nur auf den ersten Blick überraschend. Ungeschriebene oder verfassungsimmanente Voraussetzungen des Körperschaftsstatus spiegeln einen Wandel des religionssoziologischen, theologischen und kulturellen Umfelds der Verfassungsnorm wider. Den Veränderungen soll, entsprechend den seit 1949 vielfach geübten staatskirchenrechtlichen Argumentationsmustern, bei der Verfassungsinterpretation Raum gegeben werden. Der Smendsche Satz von 1951 läßt sich so variieren: Was eine Verfassung sagt, bleibt über die Zeitläufte nicht dasselbe. Zwar hat der doppelte Verfassungskompromiß des Jahres 1949 bis heute Bestand; die einzelnen Plädoyers der 70er Jahre, die Religionsgemeinschaften durchweg in das Privatrecht zu verweisen 65, die im Zuge der deutschen Einigung wiederkehrten 66, blieben ohne Wirkung. Aber schon durch solche Forderungen ist das geltende Staatskirchenrecht unter verstärkten Legitimationsdruck geraten. Hinzu kommt der inzwischen vielfach durchleuchtete Befund, daß sich das auf die christlichen Großkirchen abgestimmte institutionelle Staatskirchenrecht einer zunehmend multireligiösen und areligiösen Gesellschaft gegenübersieht. Es hat seine Folgerichtigkeit, die früher fraglosen, heute brüchig gewordenen außer62

H. Weber (Fn. 60), ZevKR 41 (1996), 199 f.

63

P. Kirchhof Die Kirchen als Körperschaften (Fn. 23), S. 685, mit dem Zusatz, die Verfassung müsse „eine rechtlich faßbare Organisation in Form einer Verwaltungsgemeinschaft mit nach außen vertretungsberechtigten Organen schaffen, eine hinreichende Finanzausstattung belegen, einen genügenden Zeitraum des Bestehens ausweisen, ein intensives religiöses und weltanschauliches Lebenfördern, das sich in regelmäßigen Zusammenkünften der Mitglieder und in einem Mindestmaß an lokaler Gemeindeorganisation zeigt, eine angemessene Versorgung mit gottesdienstlichen und seelsorgerischen Diensten gewährleisten und eine gewisse Bedeutung im öffentlichen Leben dokumentieren". 64

Treffend insoweit Müller (Fn. 15), ZevKR 2 (1952/53), 159: Wenn „die im ganzen schwierigen Anforderungen des Abs. V 2 erfüllt werden, dann wird die sie erfüllende Religionsgemeinschaft in der Regel bereits ein ,Faktor des öffentlichen Lebens' sein, eine ,erhebliche Bedeutung für das öffentliche und soziale Leben' besitzen [...]". 65 So die Thesen der F.D.P. zum Verhältnis von Staat und Kirche (1973), in: Rath (Hrsg.), Trennung von Staat und Kirche?, 1974, S. 11 ff.; Schmidt-Eichstaedt, Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts?, 1975, S. 106; dazu Meyer-Teschendorf (Fn. 12), AöR 103 (1978), 306 ff. 66

Vgl. den Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat, BT-Drs. 12/6000 vom 5.11.1993, S. 106 ff.; Renck, Staatskirchenrecht in den neuen Bundesländern - dargestellt am Beispiel Thüringens, ThürVBl. 1994, 182 ff.

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rechtlichen Voraussetzungen in die Norm selbst aufnehmen zu wollen. Dies bedeutet beim Körperschaftsstatus, die Verleihungsvoraussetzungen enger und strenger zu interpretieren. Die Frage ist nur, ob diese Vorschläge zur teleologischen Reduktion des Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV die anerkannten Regeln der Verfassungsinterpretation einhalten. a) Weitgehend unproblematisch bejahen läßt sich dies beim Erfordernis der Rechtstreue. Eine Religionsgemeinschaft, die „sich in erheblichem Umfang gegen die bestehende staatliche Ordnung" auflehnt oder „deren Betätigung mit dem geltenden Recht unvereinbar ist" 67 , kann den Körperschaftsstatus nicht beanspruchen.68 Das versteht sich im Grunde von selbst. Hier geht es um die Verbindlichkeit des Rechts, der nibelungenhaften Beifügung der „Treue" zum Recht bedarf es nicht; bei richtigem Verständnis findet keine teleologische Reduktion des Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV statt. Nicht ganz einfach ist allerdings die genaue Herleitung und Bestimmung des Umfangs der Rechtstreue. Zunächst: Die allgemeine staatsbürgerliche Pflicht, Gesetz und Recht zu beachten, gilt auch für Religionsgemeinschaften und erst recht für solche, die Körperschaften des öffentlichen Rechts werden wollen. 69 Zu beachten ist aber auch hier, daß der Körperschaftsstatus als Medium grundrechtlicher Freiheit in enger Beziehung zu der in Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG vorbehaltlos gewährleisteten Religionsfreiheit steht. Die Schranken dieses Grundrechts, die auch im Rahmen des Art. 137 Abs. 5 Satz 2 WRV von Bedeutung sind, ergeben sich aus den Grundrechten anderer und sonstigen in der Verfassung geschützten Rechtsgütern. 70 Mißachtet eine Religionsgemeinschaft diese Schranken, steht dies ihrer Rechtstreue entgegen. Eine engste Bestimmung der Rechtstreue folgt aus dem Grundrecht der Vereinigungsfreiheit. Religiöse Vereinigungen können nach Art. 9 Abs. 2 GG verboten werden. 71 Eine Verleihung der Körperschaftsrechte kommt nicht in Betracht, wenn die Verbotsvoraussetzungen vorliegen. Insgesamt muß bei der Forderung nach Rechtstreue der Eigenständigkeit von Religionsgemeinschaften und ihrer Eigenart, den ganzen Menschen zu ergreifen, Rechnung getragen werden. Diese Eigenart schließt in Grenzfallen die Möglich67

Held , Die kleinen öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften (Fn. 15), S. 122.

68

Umfangreiche Nachweise bei H Weber (Fn. 61), ZevKR 34 (1989), 356 m. Anm. 112; ferner Muckel (Fn. 53), DÖV 1995, 315; Ehlers , in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 1996, Art. 140 (Art. 137 WeimRV) Rn. 20; Müller-Volbehr, Rechtstreue und Staatsloyalität: Voraussetzungen für die Verleihung des Körperschaftsstatus an Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, NJW 1997, 3358 ff.; VG Berlin NVwZ 1994, 609 (611); OVG Berlin NVwZ 1996, 478 (480); BVerwG, NJW 1997, 2396 (2397). 69

Vgl. bereits § 18 der Badischen Verfassung vom 21.3.1919: Die Ziele der antragstellenden Gemeinschaft dürfen „den Staatsgesetzen und der Sittlichkeit nicht zuwider" sein. 70 71

BVerfGE 28, 243 (261).

BVerwGE 37, 344; BVerwG, NJW 1992, S. 2496 (2498); von Campenhausen, Staatskirchenrecht (Fn. 58), S. 131; Planker , Das Vereinsverbot - einsatzbereites Instrument gegen verfassungsfeindliche Glaubensgemeinschaften?, DÖV 1997, 101 ff.

Loyalität im Staatskirchenrecht?

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keit des Konfliktes mit der staatlichen Rechtsordnung ein. Hierfür ist die christliche Lehre vom Widerstandsrecht, wonach die Verletzung staatlichen Rechts unter Berufung auf das Gewissen unter Umständen gerechtfertigt oder sogar geboten sein kann 72 , nur das prägnanteste Beispiel. „Rechtstreue" fehlt der antragstellenden Gemeinschaft nur dann, wenn sie im allgemeinen und in erheblichem Umfang mit ihren Zielen und Betätigungen gegen geltendes Recht verstößt 73. Die fallweise Gewährung von Kirchenasyl etwa, sofern sie nicht dem grundrechtlichen Schutz der freien Religionsausübung (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) unterfallt und sofern sie den Verstoß gegen staatliche asylrechtliche Vorschriften in Kauf nimmt, dürfte nicht dazu berechtigen, der asylgewährenden Gemeinde Rechtstreue abzusprechen und ihr Korporationsrechte zu verweigern oder zu entziehen.74 In jedem Fall unzulässig ist es, die Erwartung der Rechtstreue zur umfassenden Kontrolle des Wohlverhaltens der Religionsgesellschaft zu erweitern. Ihr gesellschaftliches Anliegen ist ebensowenig von Belang wie ihr theologisches Gewicht. Eine durchweg kritische Einstellung der Religionsgemeinschaft zum Staat genießt den grundrechtlichen Schutz der Religions- und Meinungsfreiheit und darf nicht zum Anlaß genommen werden, den Körperschaftsstatus zu verweigern. b) Alle über die Rechtstreue hinaus erwogenen ungeschriebenen Verleihungsvoraussetzungen erweisen sich bei näherem Hinsehen als problematisch. Das gilt zunächst für die „Hoheitsfahigkeit", die vor allem Paul Kirchhof verlangt. 75 Der schillernde Begriff zielt zunächst auf die Fähigkeit und den Willen der antragstellenden Religionsgemeinschaft, die mit dem Körperschaftsstatus verbundenen hoheitlichen Befugnisse wahrzunehmen. 76 Schon diese Forderung allerdings geht an der verfassungsrechtlichen Verortung und Ausgestaltung des Körperschaftsstatus vorbei. Die von ihm abhängenden öffentlich-rechtlichen Handlungsbefugnisse, vor allem die Steuererhebung, bestehen fakultativ. Es gibt keine Verpflichtung, sie wahrzunehmen. 77 Da der Körperschaftsstatus keine Eingliederung in den Staat bewirkt, sondern Medium grundrechtlicher Freiheit ist, läßt sich auch keine Parallele zu staatlichen Kompetenzen ziehen, bei denen Befugnis und Pflicht untrennbar zusammenhängen. Eine in die Nähe der Kom72 Starck, Widerstandsrecht, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. V, 7. Aufl. 1989, Sp. 990 f. 73

Held, Die kleinen öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften (Fn. 15), S. 122.

74

Zum Problem des Kirchenasyls: Reuter, Kirchenasyl und staatliches Asylrecht, in: Rau/ Reuter/Schiaich (Hrsg.), Das Recht der Kirche, Bd. III, 1994, S. 574 ff.; Geis, Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, JZ 1997, 60 ff. 75

R Kirchhof,

Die Kirchen als Körperschaften (Fn. 23), S. 682 ff.

76

H Weber (Fn. 61), ZevKR 34 (1989), 357; ders. (Fn. 60), ZevKR 41 (1996), 214, spricht in seiner ablehnenden Stellungnahme hierzu von „Hoheitsfähigkeit im weiteren Sinne". 77

Muckel (Fn. 53), DÖV 1995, 316.

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petenz gerückte „Hoheitsfahigkeit" der Religionsgemeinschaften knüpft aber nicht nur unzulässigerweise an staatsorganisatorische, sondern auch an staatskirchliche Denkformen an. Aus Art. 137 Abs. 1 WRV folgt demgegenüber, daß es einer Religionsgemeinschaft unbenommen bleibt, den Körperschaftsstatus allein wegen des damit verbundenen Prestiges anzustreben. Gibt es Glaubenssätze, die es einer Religionsgemeinschaft verbieten, einzelne oder alle Hoheitsrechte wahrzunehmen, so verstieße es sogar gegen das Selbstbestimmungsrecht (Art. 137 Abs. 3 WRV), der religiösen Vereinigung deswegen den Körperschaftsstatus zu versagen. Schließlich: Art. 137 Abs. 5 Satz 1 WRV verknüpft den Körperschaftsstatus nicht zwingend mit Hoheitsbefügnissen. Im systematischen Zusammenhang der Norm ist es allein Art. 137 Abs. 6 WRV, der ein Hoheitsrecht, und dies schon dem Wortsinn nach als Berechtigung, den Religionsgemeinschaften einräumt. Kirchhof meint freilich noch mehr: Die Vereinigung müsse „grundsätzlich zur grundgesetzkonformen Wahrnehmung der Hoheitsrechte fähig und bereit" sein „und auch ihre Organisations-, Dienstherren- und Rechtsetzungsgewalt im Rahmen des Art. 140 GG gebunden" wissen. Diese inhaltlichen Anforderungen verlangen im Verleihungsverfahren eine Prognoseentscheidung. Sie soll darauf ausgerichtet sein, ob die Gemeinschaft Jedenfalls die Prinzipien von Neutralität, Säkularität, Parität und Toleranz" anerkenne 78. Abgesehen von der Unklarheit, was der „Rahmen" des Art. 140 GG ist, definiert Kirchhof nicht, ob es hier um Prinzipien der inneren Verfaßtheit oder um die Anerkennung staatlicher religionsrechtlicher Grundentscheidungen geht. Auf die innere Verfassung darf sich die Forderung nicht beziehen. Hier ist allein die Selbstbestimmung und das Selbstverständnis der Gemeinschaft maßgebend, von der sich gerade nicht fordern läßt, ihre religiöse Überzeugung und Gebundenheit durch die Verpflichtung zu Säkularität, Parität und Neutralität zu ergänzen. Soweit es dagegen um Prinzipien des staatlichen Rechts geht, führt dies zur Rechtstreue zurück. Selbstverständlich muß die Körperschaft hoheitliche Befugnisse im Einklang mit geltendem Recht ausüben. Zum Zeitpunkt der Verleihungsentscheidung geht es zwar um eine Prognose, aber der eröffnete Einschätzungsbereich ist eng begrenzt. Mit ihrem Antrag bringt die Gemeinschaft zum Ausdruck, öffentlich-rechtliche Befugnisse in Übereinstimmung mit dem geltenden Recht ausüben zu wollen. Eine Verweigerung der Körperschaftsrechte mit einer abweichenden staatlichen Prognose zu begründen, verletzt, von Fällen evidenten Mißbrauchs oder widersprüchlichen Verhaltens der Religionsgemeinschaft abgesehen, die staatliche Verpflichtung zu Neutralität und Parität: Hier fände eine inhaltliche Bewertung der Religionsgemeinschaft mit Blick auf Rechte statt, die sie zuvor noch gar nicht ausüben konnte.79

7R

P. Kirchhof, \ Die Kirchen als Körperschaften (Fn. 23), S. 683.

79

H. Weber (Fn. 60), ZevKR 41 (1996), 216.

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c) In jüngster Zeit haben verschiedene islamische Vereinigungen und im Land Berlin die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas den Körperschaftsstatus beantragt - bislang ohne Erfolg. Während die Gerichte mit islamischen Gruppen bisher noch nicht befaßt waren, hat das Bundesverwaltungsgericht den Körperschaftsrechte ablehnenden Bescheid der Berliner Senatsverwaltung gegenüber den Zeugen Jehovas in letzter Instanz rechtskräftig bestätigt80, die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde ist beim Bundesverfassungsgericht anhängig.81 Vor dem Hintergrund dieser Verfahren ist der Ruf laut geworden, eine „neue Orientierung und Differenzierung" bei der Verleihung der Körperschaftsrechte sei notwendig. Ausdrücklich erklärt wurde die Absicht, „ungerechtfertigte Inanspruchnahmen von Privilegien allein aus eigennützigen Motiven" und durch Religionsgemeinschaften „ohne erkennbaren Gemeinwohlbezug" 82 abzuwehren. Das Resultat der Neuorientierung ist die Kreation weiterer ungeschriebener Verleihungsvoraussetzungen durch Rechtsprechung und Literatur. Teils wird „Anerkennungswürdigkeit" 83 verlangt, nach einem anderen Vorschlag muß der Staat „Qualitätsgesichtspunkte"84 prüfen und kontrollieren. Das Bundesverwaltungsgericht verlangt von der antragstellenden Körperschaft, sie müsse dem Staat ein „Mindestmaß an [...] Respekt" und „die für eine dauerhafte Zusammenarbeit unerläßliche Loyalität" 85 entgegenbringen. Das Kriterium der Anerkennungswürdigkeit basiert auf einem Verständnis des Körperschaftsstatus als „Institution der geistigen Fundierung des politischen 80 BVerwG, NJW 1997, 2396; zustimmend die Besprechung von Hollerbach , JZ 1997, 1117 ff. Anders die Vorinstanzen, VG Berlin, NVwZ 1994, 609, OVG Berlin, NVwZ 1996, 478, die einen Anspruch auf Verleihung des Körperschaftsstatus im Land Berlin zuerkannten; Besprechung dieser Urteile bei Pageis , Die Zuerkennung der Rechte einer öffentlichrechtlichen Körperschaft an eine Religionsgemeinschaft, JuS 1996, 790 ff. 81 Der Gang des Verfahrens ist dokumentiert in: Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland (Hrsg.), Anerkennungsverfahren der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland 1990-1997, 1997, dort auch (S. 15 ff.) der Text der von Hermann Weber begründeten Verfassungsbeschwerde. 82 Reupke , Die Religionskörperschaften des öffentlichen Rechts in der Wertordnung des Grundgesetzes, Kirche und Recht 1997, 91 ff. (210, 7 ff.). 83 Albrecht, Die Verleihung der Körperschaftsrechte an islamische Vereinigungen, Kirche und Recht 1995, 25 ff. (= Nr. 210, 1 ff.). Dieses Kriterium benannte allerdings schon Smend (Fn. 50) ZevKR 2 (1952/53), 377, dort S. 376: „Weil und soweit die Kirchen und die ihnen irgendwie künftig gleichzustellenden Religionsgemeinschaften zu der verfassungsmäßig bejahten und geschützten guten öffentlichen Ordnung des deutschen Gemeinwesens gehören, zu seinem verfassungsmäßig bejahten sachlichen öffentlichen Gesamtstatus, darum werden sie als Mitträger dieses Gesamtstatus an ihrem Teile, d.h. als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannt [...]: auch der freiheitliche moderne Verfassungsstaat, nicht nur der totalitäre Planungsstaat, ist eine grundsätzliche Zusammenordnung vernünftiger Werte und Gemeinzwecke, und nur aus diesem sachlichen Zusammenhang heraus werden die Sätze des Art. 137 V verständlich und anwendbar [...]." 84

Reupke (Fn. 82), S. 101.

85

BVerwG, NJW 1997, 2396 (2398).

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Gemeinwesens". Es gehe um eine besondere staatliche Subvention, die in die Verantwortung des Staates für „die verfassungsrechtliche Kulturbasis" eingebunden sei. Die Bundesrepublik sei eine „eingeschränkte Identitätsgesellschaft", pluralistisch, aber nicht substanzlos. Die Werte „Toleranz, Säkularität, Neutralität, Parität, Trennung von weltlicher und geistlicher Sphäre, [der] Charakter der Bundesrepublik als Zweckgemeinschaft für das Zusammenleben unterschiedlichster Gruppierungen auf der Basis gegenseitiger Akzeptanz" verlangten, daß auch der Körperschaftsstatus nur für „Ziele im Rahmen der verfassungsrechtlichen Kulturbasis" verliehen und genutzt werden dürfe. 86 Der Staat habe nicht nach Laune Privilegien auszuteilen, sondern müsse für „einen gewissen Gesamtbestand religionsgesellschaftlichen Lebens" durch die Anerkennung die Gewähr übernehmen. 87 Soweit diese Dignitätsforderung über die fraglose Rechtsgebundenheit der Religionsgemeinschaft hinausgeht, verfehlt sie die verfassungsrechtliche Eingebundenheit des Körperschaftsstatus. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG schützt religiöse Überzeugungen unabhängig von ihrer Dignität - da Art. 137 Abs. 5 WRV ein Medium grundrechtlicher Freiheit bereithält, muß dieser weite inhaltliche Schutz der Religionsfreiheit auch im öffentlich-rechtlichen Status erhalten bleiben. Schon die Weimarer Nationalversammlung gelangte zu diesem Ergebnis, ohne allerdings den tieferen Grund, den insoweit bestehenden Gleichlauf von Körperschaftsstellung und Grundrecht, zu thematisieren. Die Dignitätsprüfiing verletzt damit die Verpflichtung des Staates zur Neutralität, deren Anerkennung umgekehrt und mit Recht der Religionsgemeinschaft abverlangt wird. Der Körperschaftsstatus darf kein Mittel sein, um die Religionsgemeinschaft auf die Kulturbasis festzulegen, die der Verfassung vorausliegt. Zwar hat das staatliche Recht mit dem Körperschaftsstatus und dem Körperschaftsbegriff überhaupt kirchlich-abendländische Rechtsschöpfungen rezipiert. 88 Aber aus der geschichtlichen Herkunft entsteht keine Verpflichtung heutiger Körperschaften auf die abendländische Kulturbasis, soweit sie über die verfassungsrechtlich normierten Grundentscheidungen hinausgeht. Die vom Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zunächst geforderte, später zu Recht aufgegebene Kulturadäquanzformel 89 hat auch bei Art. 137 Abs. 5 WRV keine Berechtigung. Eine Dignitätsprüfung müßte im Widerspruch hierzu zwangsläufig in eine inhaltliche Wertung der Religionsgemeinschaft ausgreifen. 86

Albrecht (Fn. 83), S. 3.

87

Smend (Fn. 50), S. 377.

88

H. Weber , Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts im System des Grundgesetzes, 1966, S. 51-55. 89 BVerfGE 12, 1 (4): „Das Grundgesetz hat nicht irgendeine, wie auch immer geartete freie Betätigung des Glaubens schützen wollen, sondern nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat."

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Der gleiche Vorwurf trifft die Forderung des Bundesverwaltungsgerichts nach Loyalität der antragstellenden Gemeinschaft gegenüber dem Staat. Allerdings: Die öffentlich-rechtliche Verfaßtheit dokumentiert den Willen und die Fähigkeit der Religionsgemeinschaft, mit dem Staat zusammenzuarbeiten, religiöse Aktivität also nicht nur in privater Abgeschiedenheit, sondern in der Öffentlichkeit und für die Öffentlichkeit zu entfalten. Der Körperschaftsstatus fugt der Grundlage der grundrechtlichen Unabhängigkeit die Möglichkeit des vertieften Miteinander von Staat und Religionsgemeinschaften hinzu. Die Einräumung öffentlich-rechtlicher Befugnisse wird durch die Bereitschaft der Religionsgemeinschaft legitimiert, zusammen mit dem Staat das Gemeinwohl zu fördern. 90 Die Religionsgemeinschaft des öffentlichen Rechts wendet sich dem Staat zu, während alle anderen religiösen Gruppen zum Staat ausschließlich im Verhältnis grundrechtlicher Freiheit stehen. Diese Freiheit mag im Einzelfall nicht nur Abwehr oder Indifferenz im Verhältnis zum Staat bedeuten, sondern auch Kooperation umfassen. Dem Status der grundrechtlichen Freiheit fehlt aber das durchweg prägende Element der Zuwendung zum Staat und zur Sphäre des Öffentlichen. Ob bei den Zeugen Jehovas, über deren Körperschaftsfahigkeit das Bundesverwaltungsgericht zu befinden hatte, dieser Wille zur aktiven Öffentlichkeit gegeben ist, mag durchaus zweifelhaft sein. In der Selbstdarstellung der Religionsgemeinschaft 91 heißt es dazu: „Jehovas Zeugen sind - wie die Bibel es gebietet - ,kein Teil der Welt 4 . Deshalb mischen sie sich nicht in die Politik ein und nehmen auch nicht an nationalen Auseinandersetzungen teil. Sie bleiben in Bezug auf politische und militärische Handlungen der vielen Staaten, in denen sie leben, christlich neutral, wobei sie andere nicht davon abhalten, Militär- oder Kriegsdienst zu leisten, politischen Parteien beizutreten, für ein politisches Amt zu kandidieren und sich an politischen Wahlen zu beteiligen. Dadurch ahmen sie Jesus Christus und die ersten Christen nach". Ein weiterer Satz der Selbstdarstellung steht mit dieser prinzipiellen Distanz zur gesellschaftlichen und staatlichen Öffentlichkeit nicht recht in Einklang: „Jehovas Zeugen werden zur Zusammenarbeit mit dem Staat und dazu angehalten, dem Gemeinwohl zu dienen." Überraschenderweise äußert sich das Gericht zu dieser Frage des Willens und der Bereitschaft zur Öffentlichkeit aber nicht. Es greift statt dessen mit der

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BVerfGE 42, 312 (331): „Notwendigkeit verständiger Kooperation"; Muckel (Fn. 53), DÖV 1995, 331; s.a. Korioth , Islamischer Religionsunterricht und Art. 7 III GG, NVwZ 1997, 1041 ff. (1048) (dort zur Notwendigkeit des Körperschaftsstatus für den Religionsunterricht). 91 Selbstdarstellung der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland, in: Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland (Hrsg.), Kurzdarstellung ihrer inneren Ordnung und ihrer Wirkungsweise, 1994, S. 44 ff.

16 GS Jeand' Heur

242

Stefan Korioth

Loyalitätsforderung, die wie eine „Trumpfkarte" 92 gezogen wird, weit über das Öffentlichkeitskriterium hinaus. Es stuft die Verleihung der Körperschaftsrechte als besonderen Fall staatlicher Förderung religiöser Aktivität ein, die nur solchen Gemeinschaften zukommen könne, „deren Wirken zugleich im Interesse des Staates" liegt. 93 Das indes deutet den Körperschaftsstatus in eine Belohnung für Wohlverhalten um. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt, daß der Körperschaftsstatus den religiösen Interessen der Gemeinschaft und ihrer Mitglieder dient, nicht den Interessen des Staates. Loyalität gegenüber dem Staat fordert das öffentliche Dienstrecht vom Beamten.94 In das Staatskircherirecht, das religiöse Freiheit und Betätigung sichert, paßt die Forderung nicht. Ganz abgesehen davon kann das einzige vom Bundesverwaltungsgericht zur Verneinung der Loyalität herangezogene Kriterium, die Nichtteilnahme der Zeugen Jehovas an staatlichen Wahlen, schon deswegen nicht greifen, weil es keine Rechtspflicht zur Beteiligung an Parlamentswahlen gibt. 95 Die Bereitschaft zur Kooperation mit dem Staat bedeutet nicht, daß die religiösen Körperschaften verfassungsrechtlich verpflichtet wären oder auch nur verpflichtet werden könnten, Werte und Grundhaltungen zu schaffen, die dem harmonischen Funktionieren von Staat und Gesellschaft dienen. Sie sind keine verfassungsrechtlich institutionalisierten Fabrikanten und Lieferanten der Wertfundamente, von denen der Staat zwar abhängt, die der neutrale Staat der Nichtidentifikation selbst aber nicht festlegen darf. Das Grundgesetz weist den Religionsgemeinschaften, auch denen des öffentlichen Rechts, keine Rolle moralischer Instanzen mit der Aufgabe staatsbürgerlicher Erziehung und Bildung staatsbürgerlicher Gesinnung zu. Das Verfassungsrecht kennt keine Zivilreligion aufklärerischer Prägung. Wenn es die Religionsgesellschaften als ihre Aufgabe ansehen, nicht nur öffentlich, sondern auch loyal zum Staat zu wirken, dann genießt dies als Teil ihres religiösen Selbstbestimmungsrechts (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG; Art. 137 Abs. 3 WRV) verfassungsrechtlichen Schutz. Diese Haltung mag auch vom Staat erwünscht sein, eine verfassungsrechtliche Pflicht entsteht daraus aber nicht, allenfalls eine Verfassungserwartung. Die Kategorie der Verfassungserwartung umschreibt vorrechtliche, ethische Anforderungen. Verfassungserwartungen sind weder Teil

92

Hollerbach (Fn. 80), S. 1118.

93

BVerwG, NJW 1997, 2396 (2398).

94

§ 4 Abs. 1 Nr. 2 BRRG, § 7 Abs. 1 Nr. 2 BBG. Zur Verfassungstreue als einem hergebrachten Grundsatz des Beamtenrechts nach Art. 33 Abs. 5 GG die - umstrittene - Entscheidung BVerfGE 39, 334 (347 ff.): Die Staats- und Verfassungstreue des Beamten verlange mehr als eine nur formal korrekte, im übrigen uninteressierte, innerlich distanzierte Haltung; die politische Treuepflicht gebiete, daß sich der Beamte „eindeutig von Gruppen und Bestrebungen distanziert, die diesen Staat, seine verfassungsmäßigen Organe und die geltende Verfassungsordnung angreifen, bekämpfen und diffamieren". 95 Merten , Wahlrecht und Wahlpflicht, in: FS für Johannes Broermann, 1982, S. 301 ff.; Frenz , Wahlrecht - Wahlpflicht?, ZRP 1994, 91 ff.

Loyalität im Staatskirchenrecht?

243

des Verfassungsrechts noch können sie es werden. 96 Sie gehören zur Umwelt der Verfassung, vor allem der Grundrechte. Diese Umwelt ist bedeutungsvoll; natürlich ist der Staat auf ethische Kultur und geistige Substanz angewiesen, Grundrechtsethos und Gemeinwohlaktivität kann der Staat aber weder erzwingen noch durch eigene Leistungen ersetzen. Die Kompetenzen des Verfassungsstaates decken sich nicht mit den Anforderungen des Gemeinwohls. Die Kluft läßt sich durch ungeschriebenes Verfassungsrecht nicht schließen. Solche Versuche sprengen die Prämissen und Grenzen des Verfassungsstaates. Grundrechtliche Freiheit ist formale Freiheit, die Grundrechtsträger entscheiden, ob und wie sie diesen Freiheitsraum ausfüllen. Da der Körperschaftsstatus der Religionsgemeinschaften Medium grundrechtlicher religiöser Freiheit ist, darf die formale Prägung des Freiheitsraumes nicht durch materiale Anforderungen aufgehoben werden. Loyalität kann der Staat dem Amtsträger abverlangen, nicht dem Grundrechtsträger. Es ist dem Staat verwehrt, durch die Festlegung gegenseitiger Rechte und Pflichten in den Bereich der Selbstbestimmung der Religionskörperschaft einzugreifen. „Die Verfassung der Freiheit schützt die Kirche davor, daß der Staat sie beliebig für seine Aufgaben in Pflicht nehmen kann; doch sie hindert sie nicht, sich Aufgaben zu eigen zu machen, die auch im Verantwortungsbereich des Staates liegen." 97 Das bei den Zeugen Jehovas religiös begründete Verbot einer Teilnahme an staatlichen Wahlen und das entsprechende Verhalten der Gläubigen betrifft - solange diese Forderung nicht aggressiv-doktrinär und feindselig über den Bereich der eigenen Religionsgemeinschaft hinaus erhoben wird - den durch Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG, Art. 137 Abs. 3 WRV geschützten Innenbereich. „Konfrontationen im staatsbürgerlichen Bereich" 98 , die das Bundesverwaltungsgericht für diesen und andere Fälle mangelnder Treue und Loyalität zum Staat befürchtet, sind entweder als Ausdruck religiöser Selbstbestimmung hinzunehmen oder bedeuten - je nach Art des Konflikts — einen Verstoß gegen die Rechtsgebundenheit der Religionsgemeinschaft, der im Extremfall zum Entzug der Körperschaftsrechte führen muß.

96 Isensee , Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: Isensee /Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 57 Rn. 86 f.; ders., Verfassungsstaatliche Erwartungen (Fn. 42), S. 118 ff. Etwas weiter faßt die Kategorie der Verfassungserwartungen Krüger , Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: FS für Ulrich Scheuner, 1973, S. 285 ff. (302 ff.), der hierzu auch Verfassungsnormen wie z.B. Art. 14 Abs. 2 GG zählt, zugleich aber feststellt (S. 303): „Die Verwirklichung der Verfassungserwartungen hängt vor allem davon ab, ob es entsprechende gesellschaftliche Verhaltensregeln gibt und wie ernst sie genommen werden." 97

Isensee , Verfassungsstaatliche Erwartungen (Fn. 42), S. 114.

98

BVerwG, NJW 1997, 2396 (2398).

Stefan Korioth

244

IV. Fazit Der Satz Böckenfördes, der freiheitliche säkularisierte Staat lebe „von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann" 99 , wird gern und häufig zitiert, in seiner praktischen Bedeutung aber offenbar leicht verkannt. Nur so erklärt sich die neuere Diskussion um ungeschriebene Voraussetzungen des Körperschaftsstatus nach Art. 137 Abs. 5 WRV. Die Kriterien der „Anerkennungswürdigkeit", „Hoheitsfahigkeit" und „Loyalität" der Religionsgemeinschaften versuchen das, was dem Verfassungsrecht verwehrt ist. Sie wollen die notwendige Differenz zwischen dem Recht und den Voraussetzungen des Rechts überbrücken. In der Sache wird der Körperschaftsstatus zum Privileg erklärt, das nur den Trägern und Gestaltern der guten öffentlichen Ordnung zugute kommt. Das aber ist die Auffassung des 19. Jahrhunderts. Heute gibt es die eine und verbindliche gute Ordnung nicht mehr, die grundgesetzliche Ordnung errichtet eine „privilegienfeindliche Demokratie" 100 . Öffentlich-rechtliche Verfaßtheit verpflichtet nicty auf die Staatsraison. Das Staatskirchenrecht muß auch in dem Teil, in dem es öffentlich-rechtliche Organisationsformen zur Verfügung stellt, der gegenseitigen Freiheit des Staates einerseits, der Religion und Religionsgemeinschaften andererseits Rechnung tragen. Zwar behält der Staat ein besonderes „Verhältnis zu dem, was ihm gegenüber frei ist, nämlich als zu seinen eigenen kulturellen Bedingungen" 101 , rechtliche Bindungen der Religionsgemeinschaften entstehen daraus aber nicht. Der Verzicht des Verfassungsrechts, seine eigenen Legitimitätsgrundlagen rechtlich verbindlich zu normieren, resultiert nicht etwa daraus, daß der neutrale Staat gesellschaftlichkulturell anerkannte, moralische, ethische und religiöse Geltungsansprüche entbehren könnte. Die Distanz des Verfassungsrechts ist geboten, weil es den Staat in die Gefahr weltanschaulicher Identifikation bringt, schlimmstenfalls sogar weltanschauliche Bevormundung bedeuten kann, wenn der Weg Rousseaus beschritten wird und der Staat innerhalb seines rechtlichen und politischen Systems seine eigenen Legitimationsgrundlagen verwaltet und reguliert. Das ist 99

Böckenförde , Die Entstehung des Staates (Fn. 1), S. 60. Der Text fährt fort: „Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von inqen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und - auf säkularisierter Ebene - in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat." Entfaltungen und Variationen des Satzes bei Isensee , Demokratischer Rechtsstaat und staatsfreie Ethik, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 11 (1977), S. 92 ff.; Lübbe (Fn. 4), ARSP-Beiheft 15 (1981), 58 ff. Zur Unterscheidung von Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungspflichten auch Huster (Fn. 9), JuS 1998, 119 ff. 100

BVerfGE 40, 296 (317).

101

Lübbe, Religion nach der Aufklärung, 1986, S. 283.

Loyalität im Staatskirchenrecht?

245

sicherlich nicht das, was dem Bundesverwaltungsgericht als dem Erfinder der Loyalitätsformel vorschwebt. Vielleicht hat das Gericht im Fall der Zeugen Jehovas im Ergebnis auch die richtige Entscheidung getroffen, weil gewichtige Anhaltspunkte dafür sprechen, daß dieser Religionsgemeinschaft der Wille und die Fähigkeit zur Kooperation mit dem Staat fehlen. Die plakative Loyalitätsformel könnte sich aber verselbständigen und dann den Körperschaftsstatus in ein neues, fragwürdiges Licht tauchen. - In jedem Fall bestätigt die neubelebte Diskussion des Körperschaftsstatus eine Feststellung, die Bernd Jeand'Heur kurz vor seinem plötzlichen Tod traf: „Das Staatskirchenrecht zählt gewiß zu den verfassungsdogmatisch und -theoretisch spannendsten Rechtsgebieten, das sich zudem in Zeiten der Auflösung konfessioneller Bindungen an die traditionellen Großkirchen und vor dem Hintergrund eines allgemeinen religionssoziologischen Wandels neuen Herausforderungen gegenüber sieht." 102

102 Jeand'Heur , Buchbesprechung W. Bock, Das für alle geltende Gesetz und die kirchliche Selbstbestimmung, NJW 1997, 182 f.

Individuelle Religionsfreiheit und kirchliches Selbstbestimmungsrecht am Beispiel der karitativen Tätigkeit Von Volker Neumann

I. Vorbemerkung Die Konturen, die das Staatskirchenrecht durch die Verfassungsrechtsprechung erhalten hat, gehen zu einem guten Teil auf Entscheidungen zurück, die Konflikte zwischen dem Staat und den karitativ tätigen Kirchen zum Gegenstand haben.1 So hat das BVerfG am Beispiel der organisierten Caritas 2 den allgemeinen Grundsatz entwickelt, daß auch Vereinigungen, die sich nicht die allseitige, sondern nur die partielle Pflege des religiösen Lebens ihrer Mitglieder zum Ziel gesetzt haben, von der Religionsfreiheit und dem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften geschützt sind.3 Es hat sich in diesen Entscheidungen wiederholt zur Bedeutung und Verbindlichkeit des Selbstverständnisses der Religionsgesellschaften für die Bestimmung des sachlichen Schutzbereichs sowohl der Religionsfreiheit als auch des Selbstbestimmungsrechts geäußert.4 Und es war eine Entscheidung zu einem Konflikt kirchlicher Krankenhäuser mit dem sozialstaatlichen Gesetzgeber, in der erstmals die Schranken-Schranken des Selbstbestimmungsrechts nicht mehr durch eine Bereichsscheidung, sondern durch eine Güterabwägung bestimmt wurden. 5 Der Beitrag der sozialen Dienste und Einrichtungen der Kirchen zum Staatskirchenrecht ist erheblich. 6

1 BVerfGE 24, 236 ff. - Lumpensammler; 46, 73 ff. - Goch; 53, 366 ff. - St. Marien; 57, 220 ff. - Volmarstein; 70, 138 ff. - Kündigungsschutz. 2 Das Wort „Caritas" soll hier die katholische Caritas und die evangelische Diakonie einschließen. 3

BVerfGE 24, 236 (246 f.); 46, 73 (83) 53, 366 (387 f.); 70, 138 (161).

4

BVerfGE 24, 236 (247 f.); 53, 366 (401); 70, 138 (166).

5

BVerfGE 53, 366 (400 f.).

6

Die Relevanz dieses Beitrags war das Thema des letzten Fachgesprächs, das Bernd Jeand'Heur und ich geführt hatten. Wir wollten dieses Gespräch, in dem wir kein Einvernehmen erzielen konnten, fortsetzen.

Volker Neumann

248

Allerdings sind nicht alle Lösungen, die das BVerfG für die Konflikte der organisierten Caritas mit dem planenden und regelnden Sozialstaat gefunden hat, unumstritten geblieben. Streitbefangen ist insbesondere die Rechtsprechung zur Kündigung karitativ tätiger Mitarbeiter der Kirchen. Diese Rechtsprechung lehrt, daß es beim Grundrechtsschutz der karitativen Tätigkeit nicht nur um den Schutz der Freiheit der Kirchen vor staatlichem Zwang gehen kann, sondern zugleich nach dem rechtlichen Schutz der karitativ tätigen Menschen vor kirchlichem Zwang gefragt werden muß. Diese Frage setzt die Klärung des Verhältnisses zwischen dem verfassungsrechtlichen Schutz der individuellen karitativen Tätigkeit und dem der organisierten Caritas voraus. II. Schutz der karitativen Tätigkeit durch die Grundrechte und das Staatskirchenrecht 1. Individuelle Religionsfreiheit Die Einbeziehung der karitativen Tätigkeit des einzelnen in den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG scheint unproblematisch zu sein. Denn die Religionsfreiheit schützt neben der inneren Freiheit zu glauben die nach außen gerichtete Freiheit, den Glauben zu manifestieren, zu bekennen und zu verbreiten. 7 Dazu gehört das Recht des einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seiner religiösen Überzeugung auszurichten und dieser Überzeugung gemäß zu handeln.8 Unstreitig ist die Pflicht zu tätiger Nächstenliebe eine Grundüberzeugung jedenfalls christlicher Glaubensrichtungen. 9 Streitig kann jedoch sein, ob ein soziales, pflegerisches oder medizinisches Handeln der Ausfluß einer solchen Grundüberzeugung ist. Die christliche Liebestätigkeit bedarf also der Abgrenzung von einem „sozialen Vorgang, der sich in der Fürsorge für Arme, Elende und Bedürftige aus Mitverantwortung für den Nächsten im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens im Staat erschöpft". 10 Diese Abgrenzung stößt auf die Schwierigkeit, daß die Sachbereiche, in denen sich das karitative Engagement entfalten kann, also vor allem die soziale Arbeit und die Medizin, soweit professionalisiert sind, daß eine aus religiösen Motiven ausgeübte Tätigkeit nach ihrem äußeren Erscheinungsbild und ihren sozialen Wirkungen regelmäßig nicht von säkular motivierten sozialen Handlungen unterscheidbar ist. 11 Diese UnUnterscheidbarkeit wird als Argument dafür be7

BVerfGE 32, 98 (106 f.); 69, 1 (33 f.).

8

BVerfGE 32, 98 (106); 33, 23 (28); 41, 29 (49).

9

BVerfGE 24, 236 (248); 53, 366 (393); Stolleis, Sozialstaat und karitative Tätigkeit der Kirche, ZevKR 18 (1973), 376 (387 f.); Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I, 3. Aufl. 1985, Art. 4 Abs. 1, 2 Rn. 21. 10 11

BVerfGE 24, 236 (249); vgl. auch BVerfGE 46, 73 (87 f.).

Prägnant Stolleis (Fn. 9), S. 382: „Die tätige Nächstenliebe wird zum austauschbaren Leistungsakt im Sozialstaat."

Individuelle Religionsfreiheit und kirchliches Selbstbestimmungsrecht

249

müht, daß die karitative Tätigkeit des einzelnen nicht von der individuellen Religionsfreiheit, sondern nur mittelbar über ihre Einbindung in die organisierte Caritas vom Schutzbereich des Art. 4 GG erfaßt werde, da andernfalls der Grundrechtsschutz von subjektiven Motiven und unnachprüfbaren Behauptungen abhinge.12 Diese Ableitung des individuellen Grundrechtsschutzes aus dem kollektiven kehrt den Vorrang der individuellen Freiheitsrechte um. 13 Bei der Religionsfreiheit findet sich dieser Vorrang in dem Grundsatz wieder, daß auch die von der offiziellen Lehre der religiösen Vereinigung abweichende Glaubensüberzeugung geschützt ist. 14 Es ist auch nicht so, daß die Bestimmung des Schutzbereichs nach Maßgabe einer „inneren Haltung" ein besonderes Problem der karitativen Tätigkeit wäre. Vielmehr handelt es sich um ein strukturelles Problem sowohl der Religionsfreiheit insgesamt als auch jedes anderen Grundrechts, dessen Schutzbereich wie bei der Kunstfreiheit in besonderem Maße von der subjektiven Haltung des einzelnen abhängt. Weitgehend unstreitig ist, daß das Selbstverständnis dessen, der sich auf ein solches Grundrecht beruft, bei der Bestimmung des Schutzbereichs zu berücksichtigen ist. 15 Das Selbstverständnis soll bei der Religionsfreiheit aber nicht nur ein Auslegungskriterium unter anderen sein, sondern den Schutzbereich verbindlich bestimmen. Begründet wird diese Aussage mit der Pflicht des säkularen Staates zu religiöser Neutralität, die ihm ein striktes Definitionsverbot von Religion auferlege. 16 Diese Aussage kann aber nicht richtig sein, da Rechtsprechung und Verwaltung gemäß Art. 20 Abs. 3 GG an „Gesetz und Recht" gebunden sind und diese Bindung die Auslegung und Anwendung von Rechtsbegriffen mit religiösem Bezug einschließt. Allerdings darf eine Definition nicht nach dem Inhalt der Religion differenzieren, so daß besser von 12 Isensee , Die karitative Tätigkeit der Kirchen und der Verfassungsstaat, in: Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 2. Aufl. 1995 (künftig zitiert: HdbStKirchR II 1995), S. 665 (716 f.). Danach wäre die karitative Tätigkeit von Personen, die wie ehrenamtliche Helfer nicht kirchlich-institutionell eingebunden sind, nur von Art. 2 Abs. 1 GG geschützt. 13

BVerfGE 21, 362 (369); 61, 82 (100 f.); 68, 193 (205 f.). Zum Vorrang der individuellen Religionsfreiheit bereits Zachariä, Enthält der Artikel XVI. der deutschen Bundesacte auch eine Garantie der freien und öffentlichen Religionsausübung für die christlichen Religionsparteien?, Zeitschrift für Deutsches Staatsrecht und Deutsche Verfassungsgeschichte 1 (1867), S. 25 (39): „Der Religionspartei im Ganzen ein Recht zuzusprechen, was den Einzelnen fehlte, ist geradezu widersinnig". 14

BVerfGE 33, 23 (28 f.); BVerwGE 94, 82 (87).

15

Nachweise aus Rechtsprechung und Literatur bei Isak, Das Selbstverständnis der Kirchen und Religionsgemeinschaften und seine Bedeutung für die Auslegung des staatlichen Rechts, 1994, S. 29-102, 105-138. 16 Huber , Kirche und Öffentlichkeit, 1973, S. 531; Isak (Fn. 15), S. 220 f., 267. Vorsichtiger Bock , Das für alle geltende Gesetz und die kirchliche Selbstbestimmung, 1996, S. 172 f.: kein „unbegrenztes Definitionsverbot", sondern eine daraus folgende „zurückhaltendere Schutzbereichsbegrenzung".

Volker Neumann

250

einem Differenzierungsverbot statt von einem Definitionsverbot gesprochen werden sollte. 17 Eine solche inhaltsneutrale Definition des Begriffs „Religion" ist auch kein unmögliches Unterfangen. In Rechtsprechung und Literatur ist eine zunehmende Einigung auf drei Merkmale zu verzeichnen: Religion hat eine mit der Person verknüpfte gesteigerte Verbindlichkeit 18 von Aussagen zu grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz19 zum Gegenstand, wobei diesen Aussagen eine den Menschen überschreitende (transzendente) Wirklichkeit 20 zugrunde liegt. 21 Ob menschliches Handeln diese Voraussetzungen erfüllt, bestimmt sich nach dem Selbstverständnis dessen, der sich auf die Religionsfreiheit beruft. Der staatliche Rechtsanwender darf das behauptete Selbstverständnis jedoch nicht ungeprüft gelten lassen. Denn das Selbstverständnis ist eine „innere Tatsache", für die dem Grundrechtsträger nach den allgemeinen Grundsätzen des Verfahrens- und Beweisrechts die Darlegungs- bzw. Beweislast obliegt. 22 Wer für sein Handeln die Religionsfreiheit in Anspruch nimmt, muß plausibel machen, daß sein Handeln glaubensgeleitet ist. 23 Die karitative Betätigung des einzelnen fällt also in den Schutzbereich der Religionsfreiheit, wenn er nachweisen kann, daß die Tätigkeit einer religiösen Motivation entspringt. Daß so gut wie keine einschlägige Rechtsprechung vorliegt und der Grundrechtsschutz auch in der Literatur allenfalls am Rande thematisiert wird 2 4 , liegt an der geringen Konfliktträchtigkeit der individuellen Caritas. Der Sozialstaat schätzt die private Wohltätigkeit unabhängig von den 17

Fleischer, Der Religionsbegriff des Grundgesetzes, 1989, S. 127.

18

Fleischer (Fn. 17), S. 95-100. Dagegen sprechen BVerfGE 32, 98 (107) und BVerwGE 90, 112 (115) von einer „Gewißheit". Zu Recht erkennt Bock (Fn. 16), S. 175 f. in diesem Merkmal einen „zu weitgehenden Konkretisierungsanspruch" und erweitert das subjektive Merkmal um „Bindung oder gefühlsmäßige Einstellung". 19 BVerfGE 32; 98 (107); BVerwGE 61, 152 (154); 90, 112 (115); VGH Mannheim, NVwZ 1989, 279. 20

BVerwGE 61, 152 (156); 89, 368 (370); 90, 1 (4); 90 112 (115). VGH Mannheim, NVwZ 1989, 279. 21 In der Literatur wird teilweise ein engerer Religionsbegriff vertreten, vgl. z.B. von Campenhausen, Religionsfreiheit, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI, 1989, § 136 Rn. 42: Gottesvorstellung oder ethische oder metaphysische Vorstellung von gewisser Geschlossenheit; Listl, Glaubens-, Bekenntnis- und Kirchenfreiheit, in: Listlf Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskrichenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1994 (künftig zitiert: HdbStKirchR I 1994), S. 439 (463): Kulturvölkervorbehalt. Zur Kritik an diesen - teilweise auch in der (älteren) Rechtsprechung anzutreffenden - Begriffsmerkmalen Fleischer (Fn. 17), S. 82-91, 152-155, und Isak (Fn. 15), S. 205-209. 22

Isak(Fn. 15), S. 160-168.

23

BVerwGE 94, 82 (87); Bock (Fn. 16), S. 177.

24

Vgl. Rinken, Die karitative Betätigung der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Friesenhahn /Scheuner (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1975 (künftig zitiert: HdbStKirchR II 1975), S. 345 (361).

Individuelle Religionsfreiheit und kirchliches Selbstbestimmungsrecht

251

Motiven des Handelnden und seine Regelungen des Sachbereichs Wohlfahrtspflege betreffen regelmäßig nur die organisierte Caritas. Bedeutung kann das Grundrecht auf individuelle karitative Betätigung aber im Konflikt mit dem Träger der karitativen Einrichtung erlangen. 2. Kollektive Religionsfreiheit a) Art. 4 Abs. 1 und 2 GG - ein Doppelgrundrecht? Vereinigungen, deren Zweck die karitative Tätigkeit ist, können Träger des Grundrechts der Religionsfreiheit sein. Strittig bzw. ungeklärt ist allerdings, ob die Grundrechtsträgerschaft wie bei fast allen Grundrechten mit Art. 19 Abs. 3 GG begründet werden muß 25 oder unmittelbar aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG folgt. 26 Das BVerfG zieht in einigen Entscheidungen jedenfalls für privatrechtliche Vereinigungen Art. 19 Abs. 3 GG heran 27, während es in anderen den Grundrechtsschutz der Religionsgesellschaften und anderer juristischer Personen ohne Nennung dieser Vorschrift begründet. 28 In der Lumpensammler-Entscheidung finden sich Ausführungen, die um eine historische Begründung des kollektiven Charakters des Grundrechts bemüht sind. Die besondere Gewährleistung der ungestörten Religionsausübung in Art. 4 Abs. 2 GG erkläre sich aus der historisch überkommenen Vorstellung eines besonderen exercitium religionis und aus der Abwehrhaltung gegenüber den Störungen der Religionsausübung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Da die Freiheit der ungestörten Religionsausübung spätestens seit der Weimarer Reichsverfassung in die Bekenntnisfreiheit aufgegangen sei, komme Art. 4 Abs. 2 GG heute vor allem der Sinn einer Klarstellung zu, daß Träger des Grundrechts auch eine religiöse Gemeinschaft sein kann. 29 Diese historische Begründung der Religionsfreiheit als ein Doppelgrundrecht setzt voraus, daß die Freiheit der ungestörten Religionsausübung schon immer als ein (vorrangig) kollektives Recht verstanden wurde. Das ist aber nicht der Fall. Bereits Zachariä verstand das in Art. 16 der Bundesakte gewährleistete 25 Pieroth / Schlink, Grundrechte, 13. Aufl. 1997, Rn. 517; Isensee , Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, in: Isensee /Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 118 Rn. 67; von Campenhausen (Fn. 21), § 136 Rn. 78. 26 Listl (Fn. 21), S. 461; Starck (Fn. 9) Art. 4 Rn. 41: „Bestätigung in Art. 19 Abs. 3 GG"; Jarass , in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 1997, Art. 4 Rn. 23: Schutz der Religionsgemeinschaften „dürfte" sich unmittelbar aus Art. 4 GG ergeben; Art. 19 Abs. 3 GG sei „insoweit unnötig"; Morlok , in: Dreier , Grundgesetz, 1996, Art. 4 Rn. 76. 27

BVerfGE 53, 366 (386); 70, 138 (160).

28

BVerfGE 19, 129 (132); 24, 236 (245 f.); 83, 341 (353).

29

BVerfGE 24, 236 (245 f.). Ebenso Listl (Fn. 21), S. 461.

252

Volker Neumann

Recht der freien Religionsausübung als ein „Recht des Individuums", während das Recht der Religionspartei „nur der Complex der Rechte der Einzelnen desselben Bekenntnisses (sei)". 30 Anschütz unterschied zwar in der Kommentierung von Art. 12 Satz 1 der Preußischen Verfassung zwischen der Freiheit einerseits der häuslichen und anderseits der öffentlichen Religionsausübung und bezeichnete die erste als ein Individualrecht, die zweite aber als ein Verbandsrecht, das niemals Gegenstand eines Individualrechts sein könne.31 Zwanzig Jahre später sprach jedoch der gleiche Autor von der Freiheit der religiösen Verbände als einer Freiheit nur im weiteren Sinne, die außer Betracht bleiben könne, und legte mit Nachdruck dar, daß die drei Einzelfreiheiten der Religionsfreiheit, also auch die Kultusfreiheit des Art. 135 Satz 2 WRV, schon immer Individualrechte gewesen seien.32 Auch Ebers verstand die Kultusfreiheit in erster Linie als ein Individualrecht. 33 Die Geschichte der Religionsfreiheit im allgemeinen und der Kultusfreiheit im besonderen ist also durch eine deutliche Entwicklung zu einem individuellen Freiheitsverständnis gekennzeichnet. Es gibt weder schutzbereichsspezifische noch systematische Gründe, warum diese historische Entwicklung ausgerechnet unter dem Grundgesetz umgekehrt werden müßte und Art. 19 Abs. 3 GG für die Religionsfreiheit nur noch eine deklaratorische Bedeutung haben sollte. Die der Religionsausübung eigene Gemeinschaftsbezogenheit 34 bedarf keines besonderen Schutzes durch ein Doppelgrundrecht. Erstens ist dieser Aspekt in der je individuellen Religionsfreiheit der Glieder der Gemeinschaft geschützt. Zweitens gewährleistet Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 2 Satz 2 WRV das kollektive Recht zum Zusammenschluß zu Religionsgesellschaften. Und schließlich kann sich jede religiöse Vereinigung, auch die kirchliche Körperschaft, auf die Freiheit der Religionsausübung berufen, wenn sie das von Art. 19 Abs. 3 GG geforderte „personale Substrat" aufweist, d.h. wenn ihre Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung der hinter ihr stehenden Menschen ist. 35 Oder sollte vielleicht der 30 Zachariä (Fn. 13), S. 39. Zur Entwicklung der religiösen Freiheitsrechte seit der Deutschen Bundesakte s. Bernd Jeand'Heur, Der Begriff der „Staatskirche" in seiner historischen Entwicklung, Der Staat 30 (1991), 442 (452-455). 31

Anschütz, Die Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat, 1912, S. 213.

32

Anschütz, Die Religionsfreiheit, in: Anschütz/ Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, 1932, S. 675 (681, 684). Auch die Erläuterungen in: ders., Die Verfassungs des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, Art. 135 Erl. 2 (S. 618) und 5 (S. 620 f.), weisen in die gleiche Richtung. 33 „Nunmehr genießen alle Bewohner des Reiches und damit (Hervorhebung V.N.) alle Religionsgesellschaften das gleiche Recht der vollen öffentlichen Religionsausübung ... In den Kirchenverträgen wird dann diese Kultusfreiheit nicht bloß als individuelles Freiheitsrecht, sondern darüber hinaus als ein Recht der Kirchen selbst anerkannt und vertragsmäßig gesichert", Ebers, Staat und Kirche im neuen Deutschland, 1930, S. 154 f. 34

Bock (Fn. 16), S. 176 unter Berufung auf Scheuner, Die Religionsfreiheit im Grundgesetz, DÖV 1967, 585 (589). 35

BVerfGE 21, 362 (369); 61, 82 (100 f.); 68, 193 (205 f.).

Individuelle Religionsfreiheit und kirchliches Selbstbestimmungsrecht

253

Transzendenzbezug und die damit gelegentlich konnotierte Vorstellung einer „Autorität von oben 36 " der eigentliche Grund sein, warum der in Art. 19 Abs. 3 GG angezeigte Vorrang der individuellen Freiheitssphäre für die Religionsfreiheit abgelehnt wird? Eine solche Vorstellung ist strikt abzulehnen. Denn für das staatliche Recht ist Transzendenz nur dann von Bedeutung, wenn sie von den Menschen sichtbar gemacht wird. b) Sachlicher Schutzbereich Den sachlichen Schutzbereich der kollektiven Religionsfreiheit bestimmt das BVerfG nach dem Selbstverständnis der Vereinigung. 37 Mit der Feststellung, daß nach kirchlichem Selbstverständnis die karitative Tätigkeit zur Religionsausübung gehört, ist jedoch noch nicht geklärt, welche konkreten Handlungsfelder und Verhaltensweisen geschützt sind. Hier zeigt sich das gleiche Problem, dem wir bei der individuellen Religionsfreiheit begegnet sind. Die sozialen Dienste und Einrichtungen der Kirchen sind soweit professionalisiert, daß auf dem ersten Blick keine Unterschiede zu einer säkularen Einrichtung zu erkennen sind. Der Unterschied erweist sich weniger in der medizinisch-therapeutischen Funktionalität der Einrichtung, sondern eher im Atmosphärischen, im „Geist des Hauses".38 Dieser Geist aber entspringt der Motivation der Mitarbeiter, so daß die organisierte Caritas vom karitativen Engagement der einzelnen lebt 39 , womit einmal mehr der Vorrang der individuellen vor der kollektiven Religionsfreiheit bestätigt wird. 3. Selbstbestimmungsrecht der Religionsgesellschaften a) Schutz der organisierten

Caritas durch das Selbstbestimmungsrecht

Die rechtspraktische Bedeutung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG scheint sich für die organisierte Caritas auf dem ersten Blick auf die Eröffnung des Verfassungsrechtswegs zu beschränken. Denn das BVerfG prüft die Begründetheit der Verfassungsbeschwerde nicht am Maßstab dieses Grundrechts, sondern des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV), das den Religionsgesellschaften das Recht gewährleistet, ihre Angele36

Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, 2. Aufl. 1925, S. 45.

37

BVerfGE 24, 236 (247 f.).

38

BVerfGE 46, 73 (95 f.); 70, 138 (171).

39

Friesenhahn, Kirchliche Wohlfahrtspflege unter dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: Festschrift für Hans R. Klecatsky, Bd. I, 1980, S. 247 (266 f.) bezeichnet die Gewinnung von Personal, das von diesem Geist erfüllt ist, als das wahre Problem der kirchlichen Wohlfahrtspflege.

254

Volker Neumann

genheiten in den Schranken des fiir alle geltenden Gesetzes frei von staatlichen Einwirkungen zu ordnen und zu verwalten. Eine Religionsgesellschaft ist „ein die Angehörigen eines und desselben Glaubensbekenntnisses ... für ein Gebiet ... zusammenfassender Verband zu allseitiger Erfüllung der durch das gemeinsame Bekenntnis gestellten Aufgaben". 40 Da karitative Vereinigungen sich nicht der allseitigen, sondern nur der partiellen Erfüllung der religiösen Aufgaben widmen, sind sie keine Religionsgesellschaften 41 und können sich grundsätzlich nicht auf das Selbstbestimmungsrecht des Art. 137 Abs. 3 WRV berufen. Jedoch werden sie durch ihre Zuordnung zu einer Religionsgesellschaft geschützt. Deren Selbstverständnis entscheidet, wer und was zu ihr gehört. 42 Erstmals wurde in der Goch-Entscheidung eine von einer rechtsfähigen Stiftung privaten Rechts getragene karitative Einrichtung der verfaßten Kirche zugeordnet. Nicht nur die organisierte Kirche und ihre rechtlich selbständigen Teile, sondern alle der Kirche in bestimmter Weise zugeordneten Einrichtungen ohne Rücksicht auf ihre Rechtsform sind Objekte, bei deren Ordnung und Verwaltung die Kirche grundsätzlich frei ist, wenn sie nach kirchlichem Selbstverständnis ihrem Zweck oder ihrer Aufgabe entsprechend berufen sind, ein Stück Auftrag der Kirche in dieser Welt wahrzunehmen und zu erfüllen. 43 Kriterien der Zuordnung sind die organisatorische Verbundenheit mit der Amtskirche, wie sie sich im Aufsichts- und Direktionsrecht des Bischofs und in personellen Verflechtungen zeigt, und die Wahrnehmung eines kirchlichen Auftrags. Dabei wird allerdings nicht ganz klar, ob das „und" nicht als „oder" gemeint ist. 44 Das 40

Anschütz, Verfassung (Fn. 32), Art. 137 Erl. 2 (S. 633); ders., Religionsfreiheit (Fn. 32), S. 689; vgl. auch ders., Verfassungsurkunde (Fn. 31), S. 200-202. Diese Definition hat sich in Rechtsprechung und Literatur durchgesetzt: BVerwG v. 19.11.1971, KirchE 12, 319 (321); BVerwGE 99, 1 (3 f.); OVG Berlin v. 25.2.1953, KirchE 2, 26 (30). Ebers (Fn. 33), S. 167170; H. Weber, Die Religionsgemeinschaften als Körperschaften des öffentlichen Rechts im System des Grundgesetzes, 1966, S. 100; Friesenhahn, Die Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts, in: Friesenhahn /Scheuner (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1. Aufl. 1974 (künftig zitiert: HdbStKirchR I 1974), S. 545 (565 f.); Wieland Die Angelegenheiten der Religionsgesellschaften, Der Staat 25 (1986), S. 321 (342); Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgesellschaften, in: HdbStKirchR I 1994, S. 521 (534). - Anders die Autoren, die den Begriff „Religionsgesellschaften" durch „Kirchen" bzw. „Religionsgemeinschaften" ersetzen. Vgl. Hollerbach, Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Staatskirchenrechts, in: HdbStKirchR I 1974, S. 215 (229 f.). 41 So bereits Anschütz, Verfassungsurkunde (Fn. 31), S. 202 zu den „karitativen Vereinen der evangelischen Kirche". 42 Bock, Die Beteiligung kirchlicher Dienste, Werke und Einrichtungen an der Synode, ZevKR 40 (1995), 121 (140-144), weist nach, daß die staatskirchenrechtliche Zuordnung einer karitativen Einrichtung zur Kirche nicht zugleich über ihre kirchenrechtliche Zugehörigkeit zur verfaßten Kirche entscheidet. 43

BVerfGE 46, 73 (85); 53, 366 (391); 57, 220 (242).

44

BVerfGE 46, 73 (87: „oder", 94: „und"); 53, 366 (392: „oder").

Individuelle Religionsfreiheit und kirchliches Selbstbestimmungsrecht

255

Bundesarbeitsgericht geht davon aus, daß beide Kriterien erfüllt sein müssen, also sowohl die Übereinstimmung der Ziele als auch die organisatorische Verbindung mit der Kirche. 45 b) Religionsfreiheit

und Selbstbestimmungsrecht

Das Grundrecht der Religionsfreiheit erlangt für die organisierte Caritas mittelbar über das Selbstbestimmungsrecht dann doch eine materiellrechtliche Bedeutung. Denn das Selbstverständnis der Religionsgesellschaft wird besonders stark geschützt, „soweit es in dem Bereich der durch Art. 4 Abs. 1 GG als unverletztlich gewährleisteten Glaubens- und Bekenntnisfreiheit wurzelt und sich in der durch Art. 4 Abs. 2 GG geschützten Religionsausübung verwirklicht". 46 Der Soweit-Satz setzt voraus, daß sich die sachlichen Schutzbereiche von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und von Art. 137 Abs. 3 WRV nicht decken. Vielmehr soll das selbständige Ordnen und Verwalten der „Freiheit des religiösen Lebens und Wirkens ... die zur Wahrnehmung dieser Aufgaben unerläßliche Freiheit der Bestimmung über Organsitation, Normsetzung und Verwaltung" hinzufügen. 47 In Ansehung der karitativen Tätigkeit umfaßt das Selbstbestimmungsrecht „alle Maßnahmen, die in Verfolgung der vom kirchlichen Grundauftrag her bestimmten diakonischen Aufgaben zu treffen sind, z.B. Vorgaben struktureller Art, die Personalauswahl und die mit diesen Entscheidungen untrennbar verbundene Vorsorge zur Sicherstellung der ,religiösen Dimension4 des Wirkens". 48 So wie die Annexkompetenz die dem Bund zugewiesenen Gesetzgebungsmaterien durch die Einbeziehung von Stadien der Vorbereitung und Durchführung erweitert, so weist das selbständige Ordnen und Verwalten über den Schutzbereich der kollektiven Religionsfreiheit hinaus. Die Schutzbereiche sind auch deshalb nicht deckungsgleich, weil die eigene Angelegenheit keine Materie sein muß, die von der Religionsfreiheit geschützt ist. Der Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und die eigene Angelegenheit des Art. 137 Abs. 3 WRV können, müssen sich aber nicht überschneiden. 49

45

BAG, NJW 1988, 3283 (3284 f.) = RsDE 8 (1989), 90 (97 f.).

46

BVerfGE 53, 366 (401); 83, 341 (356).

47

BVerfGE 53, 366 (401).

48

BVerfGE 57, 220 (243).

49

Gleichwohl räumt Art. 4 GG den Religionsgesellschaften auch für den Fall einer bloßen Beeinträchtigung des Ordnens und Verwaltens die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde ein, da die Beschwerdebefugnis bereits zu bejahen ist, wenn nach substantiiertem kirchlichen Vortrag die Grundrechtsverletzung möglich ist.

Volker Neumann

256

c) Selbstverständnis

und Lebenswirklichkeit

Der Inhalt dieses besonders geschützten Selbstverständnisses soll sich nach den „von der verfaßten Kirche anerkannten Maßstäben" bestimmen.50 Die Frage nach der Objektivierbarkeit dieser Maßstäbe hat das BVerfG im Bahä'i-Beschluß dahin beantwortet, daß allein die „Behauptung und das Selbstverständnis, eine Gemeinschaft bekenne sich zu einer Religion und sei eine Religionsgemeinschaft", nicht die Berufung auf das Grundrecht des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG rechtfertigen könne.51 Bernd Jeand'Heur hat überzeugend dargelegt, daß die Begründung dieses Beschlusses unvollständig ist, weil der einschlägige Art. 137 Abs. 3 GG nicht herangezogen wurde. 52 Der staatliche Rechtsanwender muß also prüfen, ob es sich nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild um eine Religion und eine Religionsgesellschaft handelt. Die vom BVerfG für diese Prüfung aufgestellten Kriterien sind unterschiedlich hilfreich. Die „Kulturtradition" ist hochproblematisch, da sie eine Reminiszens an das längst überholte Merkmal der „Grundanschauungen der heutigen Kulturvölker 53 " ist. Das „allgemeine Verständnis" hilft nicht weiter, weil dieses Verständnis kaum brauchbare Anhaltspunkte für den Begriff von Religion gibt. 54 Auch der Beitrag der „Religionswissenschaft" zu einer Eingrenzung der Begriffe ist eher skeptisch zu beurteilen. 55 Es bleibt das Kriterium der „aktuellen Lebenswirklichkeit" und mit ihm die Frage, ob bereits der ernsthafte Anspruch der Religionsgesellschaft verbindlich ist oder dieser Anspruch auch in der Wirklichkeit eingelöst sein muß. Diese Frage ist gerade für die in vielfaltiger Weise mit dem profanen Sozialstaat verflochtene kirchliche Caritas brisant. Auszugehen ist vom Grundsatz der Widerspruchsfreiheit 56: Die Kirche muß sich die Rückfrage gefallen lassen, wie eine Diskrepanz zwischen Selbstverständnis und kirchlicher Wirklichkeit zu erklären ist. Die Betonung liegt auf dem „Zurückfragen". Da die Sozialgestalt der Kirche nicht mit ihrer Rechtsgestalt zusammenfällt, ist es dem staatlichen Rechtsanwender verwehrt, die Manifestationen kirchlichen Handelns in der Welt als ein Normbereichselement für die Ermittlung des kirchlichen Selbstverständnisses zu verwenden. Er darf aber von der Kirche verlangen, daß sie die 50

BVerfGE 70, 138 (166).

51

BVerfGE 83, 341 (353).

52

Jus divinum oder BGB: Eintragung von Religionsgemeinschaften in das Vereinsregister?, JuS 1992, 830 (832-834). 53

BVerfGE 24, 236 (246).

54

Fleischer (Fn. 17), S. 17-21.

55

Bock (Fn. 16), S. 173-175.

56

Instruktiv zum Widerspruch zwischen dem Selbstverständnis eines kirchlichen Brauereibetriebes und seiner „Erscheinungsform und Struktur" VGH München, BayVBl 1990, 308 (310).

Individuelle Religionsfreiheit und kirchliches Selbstbestimmungsrecht

257

Manifestationen ihres Handelns konsistent aus ihrem Selbstverständnis erklärt. 57 Diese Anforderung ist für die Schlichtung von Konflikten mit den individuellen Freiheitsrechten der Mitarbeiter bedeutsam. I I I . Konfliktke zwischen Selbstbestimmungsrecht und Grundrechten der Mitarbeiter 1. Der Schrankenvorbehalt des „für alle geltenden Gesetzes" Die Personalhoheit der organisierten Caritas schließt das Recht zur Kündigung der Mitarbeiter ein, die in Widerspruch zum religiösen Auftrag der karitativen Einrichtung geraten. Dabei sind jedoch die Kündigungsschutzvorschriften des staatlichen Arbeitsrechts zu beachten, die grundsätzlich auch für die Religionsgesellschaften gelten. Daran haben weder die „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse" 58 noch der „Dritte Weg" etwas geändert. Denn die „Grundordnung" läßt die Geltung des staatlichen Arbeitsrechts grundsätzlich unberührt und stellt ausdrücklich die Zuständigkeit der staatlichen Arbeitsgerichte fest. 59 Und die in paritätisch besetzten Kommissionen beschlossenen Arbeitsvertragsrichtlinien sind keine Rechtsnormen. Sie bedürfen deshalb einer Transformation durch eine arbeitsvertragliche Einbeziehungsabrede. 60 Der Einzelvertrag unterliegt dann zwar keiner Billigkeitskontrolle, jedoch prüfen die Gerichte die Vereinbarkeit der transformierten Richtlinien mit Verfassungs- und zwingendem Gesetzesrecht und den guten Sitten.61 Bei Kündigungen wegen eines Verstoßes gegen kirchliche Loyalitätspflichten kommt also weiterhin das staatliche Kündigungsschutzrecht zur Anwendung und kann als Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht wirken. Dieser Eingriff kann nur gerechtfertigt werden, wenn er dem Schrankenvorbehalt des „für alle geltenden Gesetzes" genügt. Da zu diesen Gesetzen auch solche gehören können, die die grundrechtlichen Positionen der Mitarbeiter schützen, sind 57

Neumann, Freiheitsgefährdung im kooperativen Sozialstaat, 1992, S. 28 f.

58

Vom 22.9.1993, NJW 1994, 1394. Zu dieser kirchenrechtlichen Verlautbarung der katholischen Bischöfe s. Dütz , Neue Grundlagen im Arbeitsrecht der katholischen Kirche, NJW 1994, 1369; Richardis Die Grundordnung der katholischen Kirche für den kirchlichen Dienst im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse, NZA 1994, 19. 59

§ 10 Abs. 1. Die Kirchen sind nach zutreffender Ansicht auch nicht befugt, sich völlig vom staatlichen Arbeitsrecht zu lösen. So Rüfner , Das kirchlich rezipierte und adaptierte Dienst- und Arbeitsrecht der übrigen kirchlichen Bediensteten, in: HdbStKirchR II 1995, S. 877 (877-883). 60 BAGE 66, 314 (320); BAG v. 28.10.1987, AP Nr. 1 zu § 7 AVR Caritasverband m. ablehnender Anmerkung Mayer-Maly\ BAG v. 6.11.1996, AP Nr. 1 zu § 10a AVR Caritasverband. Zum Meinungsstand in der Literatur Rüfner (Fn. 59), S. 889. 61 BAG v. 6.11.1996, AP Nr. 1 zu § 10a AVR Caritasverband; BAG v. 12.2.1992, NZA 1992, 661 (662): Billigkeitskontrolle nach § 315 BGB.

17 GS Jeand' Heur

258

Volker Neumann

die staatlichen Gerichte verpflichtet, den Konflikt zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der organisierten Caritas und den Freiheitsrechten der Mitarbeiter einschließlich ihres Rechts auf karitative Tätigkeit zu schlichten. Der Schrankenvorbehalt des Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV gehört zu den umstrittensten Themen des Staatskirchenrechts. Die Aussage der Bereichsscheidungslehre, es gebe einen Bereich innerkirchlicher Angelegenheiten, der den Schranken des „für alle geltenden Gesetzes" nicht unterliege 62, ist mit dem Wortlaut der Norm kaum zu vereinbaren und fuhrt überdies zu unbefriedigenden Ergebnissen. Das zeigt die St. Marien-Entscheidung zum nordrhein-westfalischen Krankenhausgesetz in aller Deutlichkeit. Nachdem das BVerfG im Goch-Beschluß das Betreiben einer karitativen Einrichtung als eine eigene Angelegenheit der Kirchen gewertet hatte63, hätte die Lehre zu dem widersinnigen Ergebnis geführt, daß dem Sozialstaat die Befugnis zu jeglicher Regelung des kirchlichen Krankenhauswesens fehlt. Mit der - leider nicht endgültigen64 Ersetzung der Lehre durch die Güterabwägung 65 knüpfte der 2. Senat an die vom 1. Senat im Lüth-Urteil grundgelegte Rechtsprechung zum „allgemeinen Gesetz" des Art. 5 Abs. 2 GG an. 66 In der Tat weist der Schranken vorbehält in Art. 137 Abs. 3 WRV die gleiche Regelungstechnik wie die Schranke des „allgemeinen Gesetzes" in Art. 5 Abs. 2 GG auf. 67 Auch die Entwicklung der Dogmatik weist bemerkenswerte Parallelen auf. Das aus Art. 137 Abs. 3 WRV abgeleitete Verbot von Ausnahmegesetzen gegen die Religionsgesellschaften 68 entspricht der zur Meinungsfreiheit entwickelten Sonderrechtslehre. 69 Und Johannes Heckeis materielle Definition des „für alle geltenden Gesetzes" ist nach Funktion und Wortlaut stark an die von Rudolf Smend vorgenommene Materialisierung des „allgemeinen Gesetzes" angelehnt.70

62

BVerfGE 18, 385 (387 f.); 42, 312 (334).

63

BVerfGE 46, 73 (94).

64

BVerfGE 66, 1 (20); 72, 278 (289).

65

BVerfGE 53, 366 (400 f.).

66

BVerfGE 7, 198.

67

W. Weber, „Allgemeines Gesetz" und „für alle geltendes Gesetz", in: Festschrift für Ernst Rudolf Huber, 1973, S. 181; von Campenhausen, Staatskirchenrecht, 2. Aufl. 1983, S. 85. - Hinweise auf die Parallelität von Art. 137 Abs. 3 WRV und Art. 5 Abs. 2 GG finden sich auch bei Hechel, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, in: VVDStRL 26 (1968), S. 5 (43); Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 140/137 WRV Rn. 20; Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: HdbStKirchR I 1974, S. 409 (439 f.). 68 69

Weber (Fn. 67), S. 196 f.

Häntzschel, Das Grundrecht der freien Meinungsäußerung und die Schranke der allgemeinen Gesetze des Art. 118 I der Reichsverfassung, AöR N.F. 10 (1926), 228 (232 f.); Rothenbücher, Das Recht der freien Meinungsäuußerung, VVDStRL 4 (1928), 5 (20).

Individuelle Religionsfreiheit und kirchliches Selbstbestimmungsrecht

259

Das BVerfG hat beide Ansätze zusammengeführt und versteht unter „allgemeinen Gesetzen" solche, „die sich nicht gegen die Äußerung einer Meinung als solche richten, vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen".71 Übertragen auf das „für alle geltende Gesetz" verlangt die Kombinationslehre, daß das Gesetz nicht gegen das Selbstbestimmungsrecht als solches gerichtet ist, vielmehr dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Religionsgesellschaft zu schützenden Rechtsguts dient. Die Folgen der Kombinationslehre sind für Art. 137 Abs. 3 WRV die gleichen wie für Art. 5 Abs. 2 GG: Praktisch jedes Rechtsgut vermag das Selbstbestimmungsrecht einzuschränken, so daß kaum einmal ein schrankenziehendes Gesetz kein „für alle geltendes Gesetz" sein wird. 7 2 Anderes gilt allerdings, wenn der Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht zugleich die Religionsfreiheit betrifft. Dann muß das schützenswerte Rechtsgut den Anforderungen kollidierenden Verfassungsrechts genügen. 2. Verhältnismäßigkeit (Abwägung) Die „für alle geltenden Gesetze" können das Selbstbestimmungsrecht nicht beliebig einschränken. Nach der im Lüth-Urteil entwickelten Wechselwirkungslehre sind die allgemeinen Gesetze ihrerseits aus der Erkenntnis der Bedeutung des Grundrechts im freiheitlich-demokratischen Staat auszulegen und so in ihrer das Grundrecht beschränkenden Wirkung selbst wieder einzuschränken. 73 Die spätere Rechtsprechung stellt klar, daß es dabei um die verfassungsmäßige Zuordnung der grundrechtlichen Freiheit und der durch das eingreifende Gesetz geschützten Rechtsgüter geht und diese Zuordnung nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgt 74 , wobei sich die Prüfung häufig auf die letzte Stufe des Grundsatzes und damit auf die Abwägung zwischen dem beeinträchtigten Grundrecht und dem durch das Gesetz geschützte Rechtsgut beschränkt. 75 70

J. Heckel, Das staatskirchenrechtliche Schrifttum der Jahre 1930 und 1931, VerwArch 37 (1932), 280 (284); Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, VVDStRL 4 (1928), S. 44 (52). 71

BVerfGE 59, 231 (263 f.); 62, 230 (243 f.); 71, 162 (175). Der in der älteren Rechtsprechung anzutreffende Zusatz „dem Schutze eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat" (BVerfGE 7, 198 [209 f.] bis E 50, 234 [240 f.]) ist ein Denkfehler, weil der „Vorrang" das Ergebnis der Güterabwägung (Wechselwirkung) vorwegnimmt, ihr also keinen Raum läßt. Das Zitat „vgl. etwa noch BVerfGE 50, 234 (240 f.)" und der anschließende Satz zur Wechselwirkung in BVerfGE 62, 230 (244) zeigen, daß der 1. Senat die Unstimmigkeit bemerkt und (stillschweigend) korrigiert hat. 72 Zwar sind Normen, die wie § 118 Abs. 2 BetrVerfG eine ausdrückliche Ausnahme zugunsten der Kirchenfreiheit treffen, keine „für alle geltenden Gesetze", BVerfGE 46, 72 (95). Sie bedürfen aber keiner Rechtfertigung, da sie keine Schranken sind. 73

BVerfGE 7, 198 (208 f.); 35, 202 (223 f.); 66, 116 (150); 85, 1 (16); 86, 122 (129 f.).

74

BVerfGE 59, 231 (265); 71, 162 (181); 71, 206 (214); 77, 65 (75).

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Die St. Marien-Entscheidung überträgt die Wechselwirkungslehre und mit ihr den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht, nimmt dabei aber eine Korrektur vor. Bei der geforderten Abwägung zwischen Kirchenfreiheit und Schrankenzweck sei dem Eigenverständnis der Kirchen, „soweit es in dem Bereich der durch Art. 4 Abs. 1 GG als unverletzlich gewährleisteten Glaubens- und Bekenntnisfreiheit wurzelt und sich in der durch Art. 4 Abs. 2 GG geschützen Religionsausübung verwirklicht, ein besonderes Gewicht zuzumessen".76 Diese Verschärfung der Eingriffrechtfertigung läßt sich gut vertreten, da sie der Bedeutung der Religionsfreiheit als einem vorbehaltlosen Grundrecht Rechnung trägt. Voraussetzung ist freilich der Nachweis, daß der Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht wirklich auf die Freiheit der Religionsausübung durchschlägt. Diesen Nachweis hat die St. Marien-Entscheidung nicht erbracht. Die Senatsmehrheit stellt zunächst fest, daß die karitative Betätigung in der Krankenpflege einen „spezifisch-religiösen Inhalt" habe, und behauptet dann, daß dieser Inhalt „sich notwendigerweise auch in der Struktur und Organisation des Krankenhauses niederschlägt". 77 Die Begründung begnügt sich mit dem mageren Hinweis auf die Präambeln von zwei kirchlichen Regelungswerken. Richtigerweise hätte von den Beschwerdeführern verlangt werden müssen, was von jedem natürlichen Grundrechtsträger verlangt wird, nämlich die plausible Darlegung des behaupteten Selbstverständnisses.78 „Sondereingriffe" 79 in religiös imprägnierte Gehalte des Selbstbestimmungsrechts können unter zwei kumulativ zu erfüllenden Voraussetzungen gerechtfertigt werden. Erstens darf nur der Randbereich des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts betroffen sein. Hierzu könnte kritisch nachgefragt werden, wie ein Eingriff in die von der Religionsfreiheit geschützten Gehalte des Selbstbestimmungsrechts zugleich nur dessen Randbereich betreffen kann. Die zweite Voraussetzung verlangt, daß der Eingriff zur Erfüllung der öffentlichen Aufgabe „unumgänglich", d.h. „aus zwingenden Gründen geboten" sein muß. 80 Diese Voraussetzung, zu der sich die Senatsmehrheit gar nicht mehr hätte äußern müssen, nachdem sie die erste begründungslos verneint hat, wird mit dem Argument ausgeschlossen, daß der Gesetzgeber unterlassen habe, den Kirchen 75

BVerfGE 85, 1 (16); 86, 122 (129 f.).

76

BVerfGE 53, 366 (401).

77

BVerfGE 53, 366 (403).

78 „Man wäre durchaus neugierig darauf gewesen zu erfahren, weshalb die Vorschrift im Krankenhausgesetz NW, die die zu gesonderter Berechnung ärztlicher Leistung berechtigten Ärzte verpflichtet, die nachgeordneten Ärzte an den hieraus fließenden Einkünften zu beteiligen, dem kirchlichen Selbstverständnis zuwider lief, Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, 1993, S. 436. 79

So die abweichende Meinung des Richters Rottmann in BVerfGE 53, 408 (415).

80

BVerfGE 53, 366 (402, 405).

Individuelle Religionsfreiheit und kirchliches Selbstbestimmungsrecht

261

„eigene Wege offenzuhalten, auf denen sie die etwa erforderlichen Strukturverbesserungen und Erneuerungen an der Organisation des Krankenhauses unter Berücksichtigung der besonderen kirchlichen Aspekte und in der vom kirchlichen Selbstverständnis gebotenen Form verwirklichen (können)". 81 Zu Recht merkt die abweichende Meinung an, daß die Unterstellung, das Ziel der Strukturregelungen sei „auf eigenen Wegen" erreichbar, jeder Grundlage entbehrt und die Einschätzungsprärogative des Gesetzesgebers noch nicht einmal einer Erwähnung wert befunden wird. 82 3. Verbindlichkeit des kirchlichen Selbstverständnisses für die Abwägung Die Darlegungen in der St. Marien Entscheidung zum kirchlichen Selbstverständnis lassen sich als nachlässige richterliche Beweisführung lesen. Die Entscheidung zur Kündigung kirchlicher Mitarbeiter wegen Verletzung von Loyalitätspflichten zeigt jedoch, daß eine dogmatische Weichenstellung eingeleitet wurde. 83 Der entscheidende Punkt des Beschlusses ist die Verwerfung der Abstufungslehre des Bundesarbeitsgerichts, das die Gerichte für befugt hielt, die Loyalitätspflichten der Mitarbeiter nach Maßgabe ihrer Nähe zu spezifisch kirchlichen Aufgaben abzustufen. 84 Diese Abstufung obliege vielmehr den Kirchen, die befugt seien, verbindlich zu bestimmen, was „die Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Verkündigung erfordere", was „spezifisch kirchliche Aufgaben" seien und was als Verstoß gegen die „wesentlichen Grundsätze der Glaubens- und Sittenlehre" zu werten sei. Die Gerichte seien an diese Bestimmung gebunden, es sei denn, sie begäben sich dadurch in Widerspruch zu den „Grundprinzipien der Rechtsordnung". Der gerichtlichen Prüfung unterliege nur, ob die kirchlichen Einrichtungen im Einzelfall unannehmbare Forderungen an die Loyalitätspflichten stellen. Im übrigen hätten die Gerichte den Sachverhalt festzustellen und „unter die kirchlicherseits vorgegebenen, arbeitsrechtlich abgesicherten Loyalitätsobliegenheiten zu subsumieren". 85 Ist auf der Grundlage dieser Vorgaben eine Abwägung überhaupt noch möglich? Abwägung ist ein Verfahren zur Lösung von Kollisionen zwischen Normzielen. 86 Voraussetzung jeder Abwägung ist die Interpretation der Normen, deren Anwendung die Kollision bewirkt hat. Da den Gerichten - jedenfalls im 81

BVerfGE 56, 366 (405).

82

BVerfGE 53, 408 (412 f., 420).

83

BVerfGE 70, 138 = NJW 1986, 367 mit Anmerkung H. Weber.

84

BAGE 34, 195 (204 f.); 45, 250 (255 f.); BAG 21. 10. 1982 DB 1983, 2778.

85

BVerfGE 70, 138 (167 f.).

86

Instruktiv Rühl, Tatsachen - Interpretationen - Wertungen. Grundfragen einer anwendungsorientierten Grundrechtsdogmatik der Meinungsfreiheit, Habilitationsschrift Bielefeld 1997, S. 383-398 (Fn. 130-191).

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Volker Neumann

Grundsatz - die Interpretation einer dieser Normen, nämlich des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts, untersagt wird, ist bereits die Voraussetzung, unter der abgewogen wird, denkbar ungünstig. Was die Abwägung selbst betrifft, so sind mangels einer Wertrangordnung nicht Rechte, Güter oder Interessen als solche zu gewichten. Maßstab der Abwägung sind vielmehr die in einer bestimmten Anwendungssituation kollidierenden Normziele. Also muß der Kontext, die Situation der Kollision herausgearbeitet werden. Auf eben diese Herausarbeitung des Kontextes des Rechtsgebrauchs war die Abstufungslehre des Bundesarbeitsgerichts angelegt. Dieser Kontext darf jetzt nicht mehr herausgearbeitet werden, sondern wird verbindlich von einer Partei mitgeteilt. Herausgearbeitet werden darf der Kontext nur noch in Ansehung der Rechte des gekündigten Mitarbeiters. Damit kann das Ziel der Abwägung, nämlich die Bildung eines Präferenzsatzes über kollidierende Prinzipien in einer bestimmten Situation, nicht erreicht werden, weil dieses Ziel von vornherein feststeht. Die Arbeitsrichter werden diese methodische Überlegung für wenig hilfreich halten. Denn sie müssen unter Beachtung der verfassungsgerichtlichen Vorgaben die Kirchenfreiheit mit den im staatlichen Arbeitsrecht geschützten Rechtspositionen abwägen. Wie sieht diese Abwägung aus? Die Gerichte versuchen die ihnen verbliebenen argumentativen Freiräume auszuschöpfen. Zunächst wird die Rechtsposition des gekündigten Mitarbeiters optimiert, indem etwa die Wiederverheiratung Geschiedener unter den Schutz der Ehe und Familie gestellt wird. 87 Die Ausführungen in einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts geben Anlaß zu der Frage, ob der gekündigte Mitarbeiter sich nicht auf die grundrechtlich geschützte karitative Tätigkeit berufen kann, wenn er „als engagierter Katholik" in einer kirchenrechtlichen Grauzone eine gentechnische Behandlungsmethode für seine Patientinnen entwickelt. 88 Diese Frage, die die Richter dann doch nicht stellen wollten, ist zu bejahen. Denn in kirchlichen Dienst- und Arbeitsverhältnissen schützt das „für alle geltende Gesetz" auch die grundrechtlichen Positionen der Mitarbeiter 89 und dazu gehört das Grundrecht auf karitative Tätigkeit. Zurückhaltung üben die Gerichte gegenüber einer Wertung des Kirchenaustritts als ein Gebrauchmachen der Religions- bzw. Gewissensfreiheit, weil ein staatliches Gericht nicht zur Statuierung einer innerkirchlichen Glaubensfreiheit befugt sei. 90 Diese Zurückhaltung überzeugt nicht, weil es nicht um die Anordnung einer unmittelbaren Grundrechtsbindung der Kirchen, sondern wiederum um die Berücksichtigung einer vom „für alle geltenden Gesetz" gewährleisteten grundrechtlichen Position geht. Ein weiterer Begründungsschritt ist die Herausarbeitung der besonderen Schutzbedürftigkeit des Mitarbeiters aus 87

LAG Rheinland-Pfalz v. 12.9.1991, KirchE 29 (1991), 307 (315 f.).

88

BAGE 74, 325 (341 f.) = KirchE 31 (1993), 438 (451 f.).

89 H. Weber, Bindung der Kirchen an staatliche und innnerkirchliche Grundrechte und das Verhältnis der Grundrechtsgewährleistungen zueinander, ZevKR 42 (1997), 282 (290 f.). 90

LAG Hamm v. 16.8.1988, KirchE 26 (1988), 194 (200 f.).

Individuelle Religionsfreiheit und kirchliches Selbstbestimmungsrecht

263

dem Kontext der kollidierenden Normziele. So wird geprüft, ob die Kündigung mit der Fürsorgepflicht des kirchlichen Arbeitgebers übereinstimmt 91, oder nach der Beschäftigungszeit der gekündigten Mitarbeiterin, nach ihrem Lebensalter und nach Unterhaltspflichten gegenüber Kindern gefragt. 92 Bis hierher werden die vom BVerfG errichteten Grenzen beachtet, aber es hat auch noch keine Abwägung stattgefunden. Sobald das geschieht, sind diese Grenzen gefährdet. Die Frage nach dem Inhalt der im Kirchenaustritt dokumentierten Glaubenszweifel 93 gibt zu erkennen, daß es nicht „schlechterdings undenkbar" sei, daß Gegengründe diesen Kündigungsgrund überwiegen. 94 Die vom Bundesverfassungsgericht den Arbeitsgerichten auferlegte Pflicht, bei der Beurteilung der Schwere des Verstosses gegen die Loyalitätsobliegenheit die kirchenamtliche Stellungnahme zugrunde zu legen, hinderte das Bundesarbeitsgericht nicht, an der Vorwerfbarkeit eines Verstosses zu zweifeln, wenn Äußerungen des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz im Widerspruch zu Verlautbarungen des Lehramts der katholischen Kirche stehen.95 Ein Landesarbeitsgericht erklärte eine Kündigung wegen Wiederverheiratung für sozialwidrig, da der Gemeindepfarrer die geschiedene Mitarbeiterin zur Heirat aufgefordert hatte.96 Ein anderes begnügte sich nicht mit der Mitteilung, daß der Kirchenaustritt nach katholischem Kirchenrecht zu den schwersten Verstößen gegen den Glauben und die Einheit der Kirche gehört, sondern prüfte, ob Kirchenaustritte anderer Mitarbeiter im technischen Bereich der karitativen Einrichtung sanktionslos geblieben seien und gab der Kündigungsschutzklage statt.97 Die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte bestätigt, daß eine Abwägung zwischen konfligierenden Rechtspositionen die Gewichtung aller Positionen nach objektiven Kriterien erforderlich macht. Wenn ein Beteiligter über das Gewicht seiner Position verbindlich entscheidet, kann der Rechtsanwender nicht abwägen. Dem Selbstverständnis des Grundrechtsträgers mag bei der Bestimmung des Schutzbereichs eine mehr oder weniger ausschlaggebende Bedeutung zukommen. Bei der Rechtfertigung des Eingriffs geht es hingegen um die Verträglichkeit der Freiheit des einzelnen mit der Freiheit aller anderen und damit 91

OLG Düsseldorf v. 17.10.1991, KirchE 29 (1991), 354 (358).

92

LAG Hamm v. 16.8.1988, KirchE 26 (1988), 194 (202). - ArbG Herford v. 11.11.1992, KirchE 30 (1992), 393 (395): Eine fristlose Kündigung wegen Kirchenaustritt sei unwirksam, wenn „gravierende, besondere Umstände" zugunsten des Mitarbeiters zu berücksichtigen seien. 93

ArbG Celle v. 12.1.1988, KirchE 26 (1988), 6 (9).

94

So aber Rüfner , Individualrechtliche Aspekte des kirchlichen Dienst- und Arbeitsrechts, in: HdbStKirchR II 1994, S. 901 (918). 95

BAGE 74, 325 (339) = KirchE 31 (1993), 438 (450).

96

LAG Niedersachsen v. 9.3.1989, NJW 1990, 534 f.

97

LAG Hamm v. 16.8.1988, KirchE 26 (1988), 194 (202 f.).

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um die Bedingungen der Funktionsfähigkeit der Rechtsordnung. Die Beurteilung des Rechtsgüterkonflikts aus dem Blickwinkel nur eines Rechtsträgers muß zu seiner unausgewiesenen Bevorzugung fuhren. Deshalb hat der staatliche Rechtsanwender bei der Abwägung das „Recht und die Pflicht zur Letztentscheidung in objektiver Betrachtung". 98 Wenn die Gerichte nur noch befügt wären, soziale Randkorrekturen am ansonsten verbindlichen Kirchenrecht anzubringen, muß sich in der Tat die Frage nach der Verbindlichkeit der staatlichen Rechtsordnung für die Kirche und damit nach der Souveränität des Staates stellen. IV. Schluß Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen schließt das Recht ein, der Gestaltung des kirchlichen Dienstes das besondere Leitbild einer christlichen Dienstgemeinschaft zugrunde zu legen.99 Es ist möglich, diese Gemeinschaft als eine Einheit zu denken. 100 Ein solches Denken legt ein normativ-deduktives Modell der Konfliktbearbeitung nahe, wonach Konflikte nach Maßgabe theologischer Sätze autoritativ und eindeutig entschieden werden. Es gibt jedoch auch ein Verständnis der Dienstgemeinschaft, das die vielfältigen Verflechtungen der Caritas mit dem Sozialstaat anerkennt und die volkskirchlich-säkularen Bedingungen bejaht, unter denen die Mitarbeiter ihren Dienst verrichten. Es denkt die Mitarbeiterschaft nicht als Einheit, sondern als differenzierte Gemeinschaft gleichberechtigter Menschen in einer pluralistischen Volkskirche. Diesem Verständnis entspricht ein Modell der Konfliktbearbeitung, das nicht auf theologische Deduktionen setzt, sondern nach sachangemessenen und einzelfallbezogenen Mischungen von kirchlichem und staatlichem Recht sucht. 101 Dieses Konfliktmodell hat weniger Schwierigkeiten als das erste, den Grundrechtsschutz der karitativ tätigen Mitarbeiter und die Möglichkeit von Konflikten zwischen individueller und kollektiver Religionsfreiheit anzuerkennen. Auch ist ihm das abwägende Denken staatlicher Rechtsanwender vertraut. Es ist zwar richtig, daß dem Kirchenrecht gegenüber dem Staatskirchenrecht eine eigengeartete Existenz zukommt, so daß beide Rechte nicht kompatibel sein müssen. Für die Zusammenarbeit zwischen Sozialstaat und kirchlicher Caritas ist es jedoch zumindest nützlich, wenn das Kirchenrecht, wie dies in der pluralistischen Variante der Dienstgemeinschaft der Fall ist, an den Grundstrukturen des staatlichen Rechts teilhat.

98

Morlok (Fn. 78), S. 425 f., 438.

99

BVerfGE 53, 366 (403 f.); 70, 138 (165).

100 101

Rüfner (Fn. 59), S. 893 m.w.N.

Lienemann, Kirchlicher Dienst zwischen kirchlichem und staatlichem Recht, in: Rau/ Reuter/Schiaich (Hrsg.), Das Recht der Kirche, Bd. III, 1994, S. 495 (520-526).

Die Einschlägigkeit des Art, 141 GG für das Land Brandenburg Von Bodo Pieroth / Thorsten Kingreen

Das Land Brandenburg, wo traditionell jeder nach seiner Fasson glücklich werden soll, ist bei der Gestaltung des Religionsunterrichts eigene Wege gegangen. § 11 BbgSchulG1 hat ein in Deutschland bislang einzigartiges, überkonfessionelles Pflichtfach „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde" (LER) eingeführt. Gemäß § 11 Abs. 2 soll es „Schülerinnen und Schüler in besonderem Maße darin unterstützen, ihr Leben selbstbestimmt und verantwortlich zu gestalten und ihnen helfen, sich in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft mit ihren vielfältigen Wertvorstellungen und Sinnangeboten zunehmend eigenständig und urteilsfähig zu orientieren. Das Fach dient der Vermittlung von Grundlagen für eine wertorientierte Lebensgestaltung, von Wissen über Traditionen philosophischer Ethik und Grundsätzen ethischer Urteilsbildung sowie über Religionen und Weltanschauungen". Anders als Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG normiert § 9 Abs. 2 BbgSchulG den Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen nicht als ordentliches Lehrfach. Er räumt den Kirchen und Religionsgemeinschaften allerdings bedeutsame Rechte bezüglich des Religionsunterrichts in den Schulen ein. In den gegen diese Vorschriften anhängig gemachten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht (Verfassungsbeschwerden und abstrakte Normenkontrolle) wird die Einschlägigkeit des Art. 141 GG im Mittelpunkt stehen,2 nach dem Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG keine Anwendung in einem Lande findet, in dem am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand. Ob das heutige Land Brandenburg unter Art. 141 GG fällt, ist - wie Bernd Jeand'Heur in seinem hinterlassenen Manuskript des Lehrbuchs „Grundzüge des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland" festgestellt hat3 „heiß umstritten". Die Art der von ihm herangezogenen Argumente unter1

Brandenburgisches Schulgesetz vom 12.4.1996 (GVB1. I S. 102).

2

Vgl. Böckenförde, Diskussionsbeitrag, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 32 (1998), S. 117: „Wenn der Art. 141, die sogenannte Bremer Klausel, auf die neuen Bundesländer nicht anwendbar ist, kann das Urteil aus drei Sätzen bestehen." 3 Die folgenden Zitate finden sich auf S. 169-172 des 225 Seiten umfassenden Manuskripts.

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Bodo Pieroth / Thorsten Kingreen

streicht, wie schwer ihm die Stellungnahme zu dieser Streitfrage gefallen ist. Nachdem er den Meinungsstand skizziert hat, bekennt er: „Es fällt schwer, eine der beiden divergierenden, in sich gleichwohl stimmig argumentierenden, Positionen zu favorisieren." Er meint dann aber doch, daß „in der Gesamtschau aller vorgetragenen Konkretisierungsaspekte" die besseren Gründe dafür sprächen, Art. 141 GG im Land Brandenburg nicht für einschlägig zu halten. Was für ihn den Ausschlag gegeben hat, kleidet er in eine rhetorische Frage: „Kann man aber eine an sich eng auszulegende Ausnahmevorschrift wie Art. 141 GG, deren Anwendungsbereich durch die, aufgrund der besonderen Rechtslage Nachkriegsdeutschlands bedingte, territorial begrenzte Regelungskompetenz des vormaligen Verfassungsgebers noch zusätzlich eingeschränkt wurde, auf die nach der Wende dem Geltungsbereich des Grundgesetzes erst beigetretenen Länder übertragen?" Anschließend äußert er noch sein „Unbehagen" darüber, daß angesichts der gegen die Einführung von LER und die Ausgestaltung des Religionsunterrichts angestrengten Verfahren das Bundesverfassungsgericht eine Entscheidung treffen muß, „die — gleich wie sie ausfallt - aufgrund der nicht hinreichenden Normtextvorgaben des Art. 141 GG sowie der konträren, wiewohl jeweils gut vertretbaren Verständnismöglichkeiten, mit Sicherheit heftigen Widerspruch auslösen dürfte". Der Frage, ob die Normtextvorgaben des Art. 141 GG wirklich nicht hinreichen, soll hier nochmals anhand der klassischen Auslegungskriterien nachgegangen werden, an denen sich auch Bernd Jeand'Heur für den vorliegenden Streitfall ausgerichtet hat. I. Vergangenheitsbezogene Normtextelemente 1. Bestehen einer anderen landesrechtlichen Regelung am 1. Januar 1949 Am 1. Januar 1949 war in dem Gebiet des heutigen Landes Brandenburg Art. 66 der Verfassung der Mark Brandenburg vom 6. Februar 1947 (BbgVerf. 1947) in Kraft, der folgenden Wortlaut hatte:4 „(1) Das Recht der Religionsgemeinschaften auf Erteilung von Religionsunterricht in den Räumen der Schule ist gewährleistet. Der Religionsunterricht wird von den durch die Kirchen ausgewählten Kräften erteilt. Niemand darf gezwungen werden, Religionsunterricht zu erteilen. (2) Über die Teilnahme am Religionsunterricht bestimmen die Erziehungsberechtigten."

Dies war eine gegenüber Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG andere Regelung, weil der Religionsunterricht nicht als ordentliches Lehrfach garantiert war. Es war auch eine landesrechtliche Regelung, weil auch Landesverfassungen Landesrecht sind. 4 Wiedergegeben bei Braas, Die Entstehung der Länderverfassungen in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1946/47, 1987, S. 524.

Die Einschlägigkeit des Art. 141 GG für das Land Brandenburg

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Allerdings wird die Ansicht vertreten, die Norm sei kein geeigneter Anknüpfungspunkt für Art. 141 GG, weil sie unter Verletzung freiheitlicher und demokratischer Grundsätze in der damaligen sowjetischen Besatzungszone zustandegekommen sei.5 Eine normative Begründung ist dies nicht, denn Art. 141 GG knüpft an die Existenz und nicht an eine bestimmte Qualität einer Norm an. Normativer Maßstab für die Fortgeltung von vorkonstitutionellem Recht ist allein Art. 123 Abs. 1 GG. 6 Die Vorscfirift befaßt sich zwar mit fortgeltendem vorkonstitutionellem Recht; die dabei entwickelten Grundsätze müssen aber erst recht für außer Kraft getretenes vorkonstitutionelles Recht gelten, auf das geltendes (Verfassungs-)Recht verweist. Nach Art. 123 Abs. 1 GG kommt es allein auf den inhaltlichen Widerspruch einer Norm zum Grundgesetz an.7 Kein Widerspruch liegt also vor, wenn die Vorschrift nicht den formellen Anforderungen des Grundgesetzes für das Zustandekommen von Gesetzen entspricht. 8 Ein gemessen am Grundgesetz fehlerhaftes Zustandekommen von vorkonstitutionellem Recht ist daher irrelevant. Ein materieller Widerspruch von Art. 66 BbgVerf. 1947 zum Grundgesetz läßt sich schon angesichts sehr ähnlicher Regelungen in Bremen und Berlin nur schwerlich konstruieren. Überhaupt ist der gesamte Abschnitt K der Verfassung der Mark Brandenburg deutlich an die Normen der Weimarer Reichsverfassung angelehnt und hat Formulierungen teilweise wörtlich übernommen. Die Verfassung gewährleistet umfassende Glaubens- und Gewissensfreiheit und verbietet Diskriminierungen wegen des religiösen Bekenntnisses. Art. 64 BbgVerf. 1947 über die kollektive Glaubensfreiheit ist deutlich Art. 137 WRV nachgebildet, und Art. 67 BbgVerf. (Anstaltsseelsorge) entspricht Art. 141 WRV fast wörtlich. Ein revolutionärer, atheistischer Impetus ist hier also beim besten Willen nicht zu erkennen.9 Mit der — übrigens nicht nur in diesem Bereich — deutlich erkennbaren Anlehnung an die Weimarer Reichsverfassung steht die Verfassung der Mark Brandenburg nicht in der Tradition der Stalinschen Sowjetverfassung, an der sich die in dieser Zeit verabschiedeten Verfassungen Osteuropas orientierten. 10 Die ostdeutschen Landesverfassungen - so schreibt Josef Isensee zu Recht 5

So z. B. Hechel, Religionsunterricht in Brandenburg, 1998, S. 101; Kremser, Das Verhältnis von Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG zu Art. 141 GG, JZ 1995, 928 (930). 6

Nicht einschlägig ist Art. 9 EV, da er fortgeltendes DDR-Recht betrifft.

7

BVerfGE 10, 354 (361); BGHSt 21, 125 (128); unzutreffend daher Müchl, Staatskirchenrechtliche Regelungen zum Religionsunterricht, AöR 122 (1997), 513 (544). 8 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 1997, Art. 123 Rn. 5 f.: Anderenfalls hätte Art. 129 Abs. 3 GG keinen Sinn. 9

Vgl. Boese, Die Entwicklung des Staatskirchenrechts in der DDR von 1945 bis 1989, 1994, S. 92. 10 Vgl. Brunner, Das Staatsrecht der Deutschen Demokratischen Republik, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 10 Rn. 6.

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Bodo Pieroth / Thorsten Kingreen

„erschienen in ihrer Textgestalt kompatibel denen der Westzonen. Die sozialistische Imprägnierung fiel dort nicht intensiver aus als in den Verfassungen von Hessen und Bremen, die ihrerseits der Mark Brandenburg und Sachsens in vielen Passagen näher standen als den katholisch-konservativ geprägten von Bayern und Rheinland-Pfalz." 11 Ohne Zweifel war zwar die Sowjetunion von vornherein bemüht, nicht nur die ihr zugeschlagene östliche Besatzungszone, sondern ganz Deutschland zu einem sozialistischen Zentralstaat umzuformen. 12 Allerdings war im Potsdamer Abkommen 1945 vereinbart worden, daß ganz Deutschland föderale Strukturen bekommen sollte. Der übermächtige preußische Staat, der als das Zentrum des deutschen Militarismus und Imperialismus galt, sollte endgültig zerschlagen werden. Im Juni 1945 wurden daher in der sowjetischen Besatzungszone die Sowjetischen Militäradministrationen (SMAD) eingerichtet, und bereits einen Monat später entstanden die fünf Länder Mecklenburg-Vorpommern, Provinz Mark-Brandenburg, Provinz Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen.13 Im Oktober 1945 wurde den Landes- und Provinzialverwaltungen die Kompetenz übertragen, Gesetze und Verordnungen zu erlassen, „wenn sie den Gesetzen und Befehlen des Kontrollrates oder den Befehlen der Sowjetischen Militäradministration nicht widersprechen." 14 Dieses Gesetzgebungsrecht gaben sie im November 1946 an die am 20. Oktober 1946 neu gewählten Landtage ab, deren Hauptaufgabe die Ausarbeitung von Landesverfassungen war. Bemerkenswerterweise hatte es die SED in keinem der fünf Länder geschafft, die absolute Mehrheit zu erreichen; gegenüber den vorangegangenen Gemeindewahlen war ihr Stimmenanteil um mehr als 10% zurückgegangen. In Brandenburg hatte die SED 44, die CDU 31, die LDP 20 und die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe 5 Sitze.15 CDU und LDP hatten also im ersten Brandenburger Landtag zusammen die absolute Mehrheit. Zwar versuchte die SED, diese zahlenmäßige Unterlegenheit mit Hilfe der von der SMAD geförderten Blockpolitik zu kompensieren. 16 Dennoch hatte insbesondere die erst am 26. Juni 1945 gegründete CDU — wohl auch für SED und SMAD unvorhergesehen — einen erheblichen Einfluß auf die Ausarbeitung der Landesverfassungen und 11 Isensee, Rechtsstaat - Vorgabe und Aufgabe der Einigung, in: Isensee/Kirchhof Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 1997, § 202 Rn. 41.

{Hrsg.),

12 Dazu Sywottek, Die sowjetische Kriegszielpolitik im Zweiten Weltkrieg 1941 -1945, in: Überschär /Wette (Hrsg.), „Unternehmen Barbarossa". Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion 1941, 1984, S. 237 (249 ff.). 13 Kilian, Wiedererstehen und Aufbau der Länder im Gebiet der vormaligen DDR, in: Isensee /Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII, 1995, § 186 Rn. 1. 14 Befehl Nr. 110 v. 22.10.1945, in: Befehle des Obersten Chefs der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland, Sammelheft 1 /1945, S. 19 f., zitiert nach Boese (Fn. 9), S. 72 f. 15

Zahlen bei Bernet, Aspekte zur Wiedereinführung der Länder, LKV 1991, 2 (4).

16

Dazu eingehend Braas (Fn. 4), S. 106 ff.

Die Einschlägigkeit des Art. 141 GG für das Land Brandenburg

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vermochte in vielen Bereichen eigene Vorstellungen durchzusetzen. Mit den Liberalen zusammen prägten sie Stil und Arbeitsweise der neu konstituierten Landtage und sorgten dafür, daß die von der SMAD eingerichteten Blockausschüsse nicht den gewünschten Einfluß gewinnen konnten.17 Weder CDU noch LDP waren zu dieser Zeit bereits die Blockparteien, die sie später in der DDR wurden. Auch beim Zustandekommen von einfachen Gesetzen herrschte oft keine Einmütigkeit; tradierte parlamentarische Spielregeln waren auch 1947/48 noch teilweise in Kraft. 18 Es spricht daher viel für die Schlußfolgerung von Braas, daß „die Offenheit und gelegentliche Härte der parlamentarischen Auseinandersetzungen um die Verfassungsregelungen" ein sicheres Indiz dafür waren, „daß die letztlich einhellige Zustimmung nicht Ergebnis eines äußeren Zwangs, sondern einer bewußten politischen Entscheidung aller Beteiligten in einer national und international schwer überschaubaren politischen Situation («19

war. Dieser noch vergleichsweise große Einfluß der bürgerlichen Parteien erklärt sich auch aus der Tatsache, daß in den Jahren 1946/47 die entscheidenden Weichen für die weitere Entwicklung Deutschlands noch nicht endgültig gestellt waren. 20 Nach dem Ende des Krieges hielten — in gemeinsamer Gegnerschaft zum Nationalsozialismus - alle maßgeblichen Politiker trotz unterschiedlicher Parteirichtung die Zusammenarbeit aller politischen Kräfte zunächst für unerläßlich. Der einflußreiche Ernst Lemmer (CDU) schrieb damals: „Wir streben über die Grenzen des eigenen Parteiblocks hinaus die enge Zusammenarbeit mit den anderen Parteien der neuen Demokratie an, mit den Kommunisten, mit den Sozialdemokraten, mit allen, die einen wahrhaft demokratischen Staat wollen, und die, jeder in seiner Art, das Beste für den Neubau eines Deutschland geben, das frei, mutig und entschlossen durch eine schwere Gegenwart, den Weg in eine von Tyrannei, Schuld und Gewalttat freie Zukunft gehen wird." 21 Auch die Sowjetunion hatte zu dieser Zeit noch das Ziel eines vereinigten, freilich sozialistischen Deutschlands.22 Die politischen Herausforderungen lagen vor allem in der Außenpolitik, insbesondere bei der Deutschlandfrage; dies ließ innenpolitische Fragen und Programmatik zurücktreten. 23 Die Politik der SED der Jahre 1946/47 war geprägt von der Angst vor einer dau-

17

Braas (Fn. 4), S. 258.

18

Bernet (Fn. 15), S. 4.

19

Braas (Fn. 4), S. 258.

20

Dazu Mußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: Isensee /Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, § 6 Rn. 12 ff. 21

Hier zitiert nach Zieger/Zieger, Die Verfassungsentwicklung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands/ DDR von 1945 bis zum Sommer 1952, 1990, S. 64 f.; dort auch weitere Nachweise auf entsprechende Äußerungen aus den anderen Parteien. 22

Brunner (Fn. 10), § 10 Rn. 6.

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erhaften Spaltung Deutschlands, und dies zwang sie zu Rücksichtnahmen gegenüber den bürgerlich-demokratischen Strömungen nicht nur in der SBZ. Deshalb war bei der SED eine im Vergleich zu späteren Jahren große Verhandlungs- und Kompromißbereitschaft vorhanden. 24 Alle Beteiligten sahen in den Landesverfassungen Wegweiser für eine gesamtdeutsche Verfassung: Die SED änderte ihre Verfassungsentwürfe mehrfach, um den Vorstellungen der CDU entgegenzukommen; der erste Verfassungsentwurf der SED ohne einen Grundrechtsteil wurde zurückgezogen, nachdem ein konkurrierender CDU-Entwurf eben diese Grundrechte vorsah. Die CDU orientierte sich überwiegend an einem für Mecklenburg-Vorpommern ausgearbeiteten Verfassungsentwurf, der unter maßgeblicher Mitarbeit ihres Verfassungsexperten Hans Peters entstanden war. 25 Auch die CDU-Zentrale unter Jakob Kaiser in Berlin war frühzeitig befaßt. In allen Verfassungsentwürfen nahmen familienund religionspolitische Bestimmungen sehr breiten Raum ein, die das Selbstverständnis der CDU als christliche Partei auch in der SBZ verdeutlichen sollten. So trat sie auch dafür ein, daß Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach gleichberechtigt neben anderen Lehrfächern erteilt werden sollte, konnte sich mit dieser Forderung aber in keinem der ostdeutschen Länder durchsetzen. Die SED betonte zwar ihre Toleranz gegenüber den Kirchen, befürchtete aber, daß die CDU-Forderungen zur Konsequenz haben würden, daß ein Zwang zur Teilnahme am Religionsunterricht bestehe. Wenn man bedenkt, daß die ersten SEDEntwürfe zunächst ganz auf Regelungen zum Religionsunterricht verzichten wollten, so ist Art. 66 BgbVerf 1947 ein bedeutender (Teil-) Erfolg der CDU. Immerhin wurde in der Norm festgeschrieben, daß die Religionsgemeinschaften das Recht haben, in den Schulen Religionsunterricht zu erteilen. Schließlich offenbart auch der Vergleich mit der Entwicklung in Berlin, daß Art. 141 GG nicht zwischen ost- und westdeutschen Landesverfassungen differenziert. In Berlin zeigte sich in bezug auf den Religionsunterricht eine mit der SBZ zunächst vergleichbare Entwicklung. Anknüpfungspunkt für Art. 141 GG waren die §§ 13-15 BerlSchulG, die am 26. April 1948 durch die damals noch nicht gespaltene Berliner Stadtverordnetenversammlung erlassen wurden. 26 § 13 S. 1 BerlSchulG erklärte Religionsunterricht zu einer ausschließlichen Angelegenheit der Religionsgemeinschaften; nach § 14 BerlSchulG sollten nur diejenigen Kinder am Religionsunterricht teilnehmen, deren Eltern eine dahingehende Erklärung abgaben, die ab dem 14. Lebensjahr des Kindes in dessen Zuständig23 Sywottek, Zur Einführung: Die Länderverfassungen der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands in der verfassungspolitischen Tradition des Deutschen Reiches, in: Braas (Fn. 4), S. 19. 24

Boese (Fn. 9), S. 107.

25

Eingehend Braas (Fn. 4), S. 75 ff. unter Hinweis auf eigene Gespräche mit Zeitzeugen.

26

Schmoeckel, Der Religionsunterricht, 1964, S. 307 (Wiedergabe der §§ 13-15 BerlSchulG aaO, S. 340).

Die Einschlägigkeit des Art. 141 GG für das Land Brandenburg

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keit fallen sollte. Auch dies war eine gegenüber Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG andere Regelung, so daß die Voraussetzungen des Art. 141 GG vorliegen. Das BerlSchulG ist in der Folgezeit zwar mehrfach geändert worden, Religionsunterricht ist aber auch im wiedervereinigten Berlin weiterhin kein ordentliches Lehrfach (vgl. §§ 2 3 - 2 5 BerlSchulG, die den §§ 13-15 BerlSchulG 1948 entsprechen). Die §§ 13-15 bzw. §§ 2 3 - 2 5 BerlSchulG weisen aber nicht nur inhaltliche Parallelen zu Art. 66 BbgVerf. 1947 auf. Wie in der SBZ geriet der Religionsunterricht nach 1945 auch in Berlin zwischen die politischen Fronten; auch in Berlin war es schließlich die SED und die dahinterstehende SMAD, die verhinderte, daß Religionsunterricht eine Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG entsprechende Stellung in der Schule bekam.27 Freilich wäre es in West-Berlin ein Leichtes gewesen, die einschlägigen Normen zu ändern, anstatt den gewählten schwierigen Umweg über einzelne Vereinbarungen zwischen Kirchen und Senat28 zu gehen; insbesondere nach der Wiedervereinigung der Stadt wäre es aus dieser Sicht geboten gewesen, eine sozialistisch motivierte Regelung nicht ausgerechnet auch noch auf den Ostteil der Stadt auszudehnen. Zu einer Änderung der den Religionsunterricht betreffenden Normen bestand indes kein Anlaß, da nicht davon ausgegangen werden mußte, daß es sich bei ihnen um nicht mit dem Grundgesetz kompatibles Recht handelte. Sie waren und sind ein von Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG abweichender Weg, den Religionsunterricht im Spannungsfeld zwischen Staat, Schule und Kirche zu regeln. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Art. 66 BbgVerf. 1947 war und ist ein geeigneter Anknüpfungspunkt für Art. 141 GG. Am 1. Januar 1949 bestand daher im Gebiet des heutigen Landes Brandenburg eine andere landesrechtliche Regelung i.S.d. Art. 141 GG. 2. Die Mark Brandenburg als Land Gelegentlich wird behauptet, daß Land i.S.d. Art. 141 GG nur die in der Präambel des GG a.F. und in Art. 23 S. 1 GG a.F. genannten westdeutschen Länder waren. 29 Das könnte einmal in dem Sinne verstanden werden, daß außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes kein Kompetenzträger die Qualifikation „Land" beanspruchen könne. Dabei würde aber übersehen, daß es am 1. Januar 1949 überhaupt noch keine Länder der Bundesrepublik Deutschland gab, weder 27 28

Boese (Fn. 9), S. 77 ff.; Schmoeckel (Fn. 26), S. 307.

Dazu Link, Religionsunterricht, in: Listl/Pirson rechts Bd. II, 2. Aufl. 1995, S. 439 (486 f.).

(Hrsg.), Handbuch des Staatskirchen-

29 Hemmrich, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1,4. Aufl. 1992, Art. 7 Rn. 29; vgl. auch Wrege, Zum Religionsunterricht in den neuen Ländern (Art. 7 III 1, 141 GG), LKV 1996, 191 (192).

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im Osten noch im Westen. Am 1. Januar 1949 lag kein Land im Geltungsbereich des Grundgesetzes. Man kann daher auch nicht sagen, Art. 141 GG finde auf nach dem Stichtag hinzugekommene Länder keine Anwendung; alle 16 Länder sind nämlich erst nach dem Stichtag hinzugekommen. Auch sonst spricht das Grundgesetz von früheren Ländern wie z.B. Preußen (vgl. Art. 135a GG) als „Land". Die angebliche Beschränkung auf die westdeutschen Länder könnte zum anderen als Ausklammerung gerade der ostdeutschen Länder verstanden werden. Das aber würde der gesamten Konzeption des Grundgesetzes von 1949 widersprechen. Der Parlamentarische Rat hat das Grundgesetz nicht als Neugründung eines Staates, sondern als Reorganisation eines Teilbereiches des deutschen Staates angesehen.30 Die Westdeutschen haben dabei „auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war" (Satz 2 der Präambel a.F.), und es war unstreitig, daß damit vor allem die Bewohner der sowjetischen Besatzungszone gemeint waren. Diese hatten nach Art. 116 Abs. 1 die deutsche Staatsangehörigkeit 31 und waren damit Träger aller Grundrechte. Territorial waren die ostdeutschen Länder „ein anderer Teil Deutschlands", auf das sich das GG nach ihrem Beitritt erstrecken sollte (Art. 23 S. 2 a.F.); sie waren schon 1949 In-, und nicht Ausland. 32 Das gesamte Grundgesetz war geprägt von dem Ziel der Erreichung der Einheit Deutschlands;33 es stellte eine Ordnung für das gesamte Deutschland dar, deren Vorläufigkeit nur durch die Spaltung des einheitlichen Staatsgebietes begründet war. Dementsprechend waren die in der Präambel a.F. und in Art. 23 S. 1 a.F. genannten Länder zwar diejenigen, auf die sich die bundesdeutsche Hoheitsgewalt „zunächst" (Art. 23 S. 1 a.F., 144 Abs. 1) beschränkte, sie waren aber - wie sich bereits 1956/57 mit dem Beitritt des Saarlandes zeigte — nicht alle Länder, auf das sich das Grundgesetz bezog. „Länder" waren daher auch immer schon die ostdeutschen Länder, die die vom Grundgesetz vermittelten Kompetenzen freilich erst durch ihren Beitritt wahrnehmen konnten. Entsprechende Hinweise finden sich auch für Art. 141 GG in den Beratungen des Parlamentarischen Rates.34 II. Das Land Brandenburg als Normadressat Neben den vergangenheitsbezogenen Normtextelementen setzt Art. 141 GG ein gegenwärtig bestehendes Land voraus, in dem Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG keine 30

BVerfGE 77, 137 (150).

31

BVerfGE 36, 1 (30); 40, 141 (163).

32

BVerfGE 36, 1 (17).

33

Zusammenfassend BVerfGE 36, 1 (15 ff.).

34 Dazu vor allem Schlink, Religionsunterricht in den neuen Ländern, NJW 1992, 1008 (1010 f.) sowie unten II.2.

Die Einschlägigkeit des Art. 141 GG für das Land Brandenburg

273

Anwendung findet. Das gegenwärtig bestehende Land muß auch Hoheitsgewalt in demselben Gebiet ausüben, in dem das frühere Land Hoheitsgewalt besaß. Darüber hinaus wird aber vielfach verlangt, daß das gegenwärtige mit dem früheren Land rechtlich identisch sein müsse bzw. daß das frühere Land nicht im Rechtssinne untergegangen sein dürfe. 35 Keine der anerkannten Methoden der Verfassungsauslegung vermag diese Identitätsprämisse allerdings zu stützen: 1. Wortlaut Der Wortlaut von Art. 141 GG läßt - das gestehen selbst einige Befürworter der Identitätsprämisse zu 36 - eine solche Eingrenzung nicht erkennen. In Art. 141 GG ist von einem Land die Rede, in dem am 1. Januar 1949 und nicht seit dem 1. Januar 1949 eine andere Regelung bestand. Es geht um einen Zeitpunkt, nicht um einen Zeitraum. Dem entspricht es, wenn im Schrifttum einheitlich davon ausgegangen wird, daß selbst ein Land, das unstreitig unter die Bremer Klausel fallt, Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach einführen, diese Entscheidung aber nach Art. 141 GG auch wieder revidieren darf. 37 Ein Land, das einmal unter Art. 141 GG fiel, bleibt Normadressat, solange es den Art. 141 gibt. Des weiteren findet nach Art. 141 GG die Garantie des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach in einem Lande und nicht auf ein Land unter den genannten Voraussetzungen keine Anwendung. Darin kommt der territoriale Bezug zum Ausdruck. So ist es auch herrschende Meinung im Schrifttum, daß die Änderung der Ländergrenzen bis hin zum Wegfall eines Landes an der

35

So etwa Frisch, Die Bremer Klausel und die neuen Bundesländer, DtZ 1992, 144 (145); Kästner, Religiöse Bildung und Erziehung in der öffentlichen Schule - Grundlagen und Tragweite der Verfassungsgarantie staatlichen Religionsunterrichts, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 32 (1998), S. 61 (87 f.); Kremser (Fn. 5), S. 929 f.; Mückl (Fn. 7), S. 542; Tillmanns, Grundzüge des Staatskirchenrechts in den neuen Bundesländern, in: Neumann /Tillmanns (Hrsg.), Verfassungsrechtliche Probleme bei der Konstituierung der neuen Bundesländer, 1997, S. 161 (237); Uhle, Das brandenburgische Lehrfach „Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde" - ein verfassungskonformes Substitut für den Religionsunterricht?, KuR 1996, 15 (18); Winter, Zur Anwendung des Art. 7 III GG in den neuen Ländern der Bundesrepublik Deutschland, NVwZ 1991, 753 (754). 36

von Campenhausen, in: von Mangoldt/Klein /von Campenhausen, Das Bonner Grundgesetz Bd. XIV, 3. Aufl. 1991, Art. 141 Rn. 7; Kästner (Fn. 35), S. 87; Uhle (Fn. 35), 18; Winter (Fn. 35), 754. 37

Hemmrich, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. III, 3. Aufl. 1996, Art. 141 Rn. 5; Schmitt-Kammler, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 1996, Art. 141 Rn. 3; Westerhoff.\ Die Bedeutung der sog. „Bremer Klausel" im Bonner Grundgesetz für die Stellung des Religionsunterrichts in den Ländern der deutschen Bundesrepublik, ArchKathKirchR 126 (1953/54), S. 113 (115); vgl. auch Holtkotten, in: BK, Art. 141 Anm. II. 3. unter Hinweis auf die Beratungen im Parlamentarischen Rat. 18 GS Jeand' Heur

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Einschlägigkeit des Art. 141 GG nichts ändert. 38 Wenn beispielsweise Bremen, das unstreitig unter Art. 141 GG fallt, mit Niedersachsen fusionierte, würde es als Rechtssubjekt untergehen; das neu entstandene Land wäre nicht mehr mit Bremen identisch. Gleichwohl würde nach der herrschenden Meinung im Gebiet des früheren Landes Bremen Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG gem. Art. 141 GG keine Anwendung finden. Gegen den maßgeblichen territorialen Bezug des Art. 141 GG ist eingewendet worden, daß dieser den Begriff „Land" verwende, wo doch das Grundgesetz sonst zwischen den Begriffen „Land" und „Gebiet" unterscheide. 39 Hiergegen ist zweierlei zu sagen: Zum einen ist die Begrifflichkeit des Grundgesetzes hier wie zu vielen anderen Fragen nicht konsistent. So hieß es in Art. 23 S. 1 GG a.F.: „Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder ...". Art. 144 Abs. 2 GG verwies (und verweist) auf eben diesen Art. 23 GG a.F. mit den Worten: „Soweit die Anwendung dieses Grundgesetzes in einem der in Artikel 23 aufgeführten Länder oder in einem Teile eines dieser Länder ..." Diese uneinheitliche Terminologie ist sachlich nachvollziehbar: Zu einem „Land" als staatsrechtliches Subjekt gehört bekanntlich neben einem Volk und einer Staatsgewalt notwendigerweise auch ein Gebiet als konstituierendes Merkmal. Weil zum anderen Art. 141 GG an eine „landesrechtliche Regelung" anknüpft, kann er nur auf eine Körperschaft Bezug nehmen, die derartige Normen auch hervorbringt. Das waren am 1. Januar 1949 und sind heute die Länder, nicht aber etwa Gebiete. Nur die Länder haben die Gesetzgebungskompetenzen für das Schulrecht (Art. 70 GG) und die Religionsgemeinschaften (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 8 WRV). Zusammenfassend läßt sich der Wortlaut des Art. 141 GG problemlos so verstehen (und wurde auch vor Einführung von LER durch Brandenburg einhellig so verstanden), daß in einem heutigen Land Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG keine Anwendung findet, wenn und soweit auf seinem Gebiet am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung bestand. Das Erfordernis rechtlicher Identität des heutigen mit dem früheren Land findet im Wortlaut keinerlei Stütze.

3K Vgl. die Äußerung des Abg. von Brentano im Parlamentarischen Rat (Zweite Lesung, 9. Sitzung v. 6.5.1949, Sten. Ber. S. 192): „Als Berichterstatter habe ich zu Art. 141 folgende Erläuterung zu geben: Unter einer landesrechtlichen Regelung in einem Lande im Sinne dieses Artikels ist nicht nur eine einheitliche Regelung zu verstehen, sondern es kann sich auch um eine differenzierte Regelung handeln." Aus der einhelligen Meinung z.B. von Campenhausen (Fn. 36), Art. 141 Rn. 3; Hemmrich (Fn. 37), Art. 141 Rn. 5; Holtkotten (Fn. 37), Art. 141 Anm. II. 2. a); Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 141 Rn. 5; SchmittKammler (Fn. 37), Art. 141 Rn. 6. 39 Heckel (Fn. 5), 102; de Wall, Zum Verfassungsstreit um den Relgionsunterricht in Brandenburg, ZevKR 42 (1997), 353 (368 f.)

Die Einschlägigkeit des Art. 141 GG für das Land Brandenburg

275

2. Entstehungsgeschichte Die Beratungen im Parlamentarischen Rat machen vor allem den Kompromißcharakter des Art. 141 GG deutlich. 40 Sie sind geprägt von diversen Meinungsverschiedenheiten und stehen damit nur stellvertretend für die grundsätzlichen Differenzen über die Gestaltung des Verhältnisses von Kirche und Staat. Deshalb können die Verfassungsmaterialien gewiß nicht die allein entscheidenden Argumente für die Interpretation der Vorschrift liefern; 41 sie erhellen aber Wortlaut, Kontext und ratio der Vorschrift. 42 Außerdem ist darauf hinzuweisen, daß das Bundesverfassungsgericht trotz seines Bekenntnisses zur sog. objektiven Auslegungstheorie häufig der Entstehungsgeschichte eine führende Rolle zuerkannt hat. 43 Im Parlamentarischen Rat war umstritten, ob der spätere Art. 141 GG nur für Bremen oder auch andere Länder gelten sollte. Die Beschränkung auf Bremen wurde vor allem vom Abg. Kaiser (CDU) gefordert, der sich aber letztlich mit dieser Ansicht nicht durchsetzen konnte.44 Die Problematik des Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG war zwar vom bremischen Abg. Ehlers (SPD) zuerst angesprochen worden; später meldeten sich aber auch Hamburger und hessische Abgeordnete, die einen Dispens von Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG für ihr Land forderten 45 - mitunter durchaus ohne genaue Kenntnis der Regelungen in ihrem Land. Gerade von konservativer Seite wurde daher die Befürchtung geäußert, daß diese allgemein gehaltene Norm sich nicht auf bestimmte Länder beschränken lasse, und in diesem Zusammenhang nannte der Abg. Kaiser (CDU) im Hauptausschuß des Parlamentarischen Rates auch die „Ostzone". 46 Er wertete also die allgemein gehaltene Formulierung als deutlichen Hinweis auf die Offenheit der Norm für andere Länder. Dies war auch der Grund seines politischen Widerstandes, mit dem er aber nicht durchzudringen vermochte. Urheber des Gedankens, den Vorbehalt gegenüber Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG in die Übergangsbestimmungen des GG aufzunehmen, war übrigens der Abg. Heuss (FDP), der betonte, daß damit vor allem der föderative Anspruch auf Gestaltung des Schulwesens in seiner geschichtlichen Entwicklung anerkannt werden sollte. Die Gestaltung der Schulgesetze solle den parteipolitischen Auseinandersetzungen in den Ländern überlassen bleiben.47 In den Äußerungen von 40

Zusammenfassung bei von Doemming / Füsslein / Matz, JöR N.F. 1 (1951), 907 ff.

41

Vgl. BVerfGE 6, 389 (431); 41, 291 (309); 45, 187 (227).

42

Müller, Juristische Methodik, 6. Aufl. 1995, S. 206 f.

43

Vgl. BVerfGE 9, 124 (128); 33, 125 (152); 54, 227 (297 f.); 61, 149 (200).

44

Parlamentarischer Rat, 2. Lesung, 9. Sitzung v. 6.5.1949, Sten. Ber. S. 76 ff.

45

Parlamentarischer Rat, Hauptausschuß, 51. Sitzung am 10.2.1949, S. 684.

46

Wie Fn. 45.

47

von Doemming/Füsslein/Matz

(Fn. 40), S. 909.

276

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Heuss tritt der oft vernachlässigte bundesstaatliche Aspekt des Art. 141 GG deutlich hervor, denn die Festlegung von Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach beschränkte den kultur- und bildungspolitischen Primat der Länder. Mancher Abgeordnete postulierte daher die Geltung des Art. 141 GG auch für sein Land, obwohl dort Religionsunterricht ordentliches Lehrfach war (Hessen, Hamburg). Man darf die Befürworter der Einfügung des Art. 141 GG daher nicht pauschal als Gegner des Religionsunterrichts mißverstehen. Sie waren überzeugte Föderalisten und Verfechter der Eigenständigkeit der Länder. Sie bewiesen damit angesichts vergangener Erfahrungen nicht nur historisches Bewußtsein, sondern hoben sich auch positiv von den zentralistischen Tendenzen der Sowjetunion ab. Dieser Einstellung entsprechend wurde auch nicht etwa für ein Verbot des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach gestritten, sondern für die Kompetenz der Länder, frei über diesen zu bestimmen. Während der Beratungen wurde ferner deutlich, daß es für Art. 141 GG nicht auf die ununterbrochene Existenz des staatsrechtlichen Subjektes „Land", sondern auf das von der Staatsgewalt betroffene Staatsgebiet ankommen sollte. Der Berichterstatter im Plenum des Parlamentarischen Rates von Brentano (CDU), den man ohne weiteres als repräsentativ für die Mehrheitsmeinung im Hauptausschuß ansehen darf, erläuterte, daß Art. 141 GG auch Anwendung finde, „wenn die ,andere landesrechtliche Regelung' nicht in dem Gesamtgebiet eines Landes gilt" 4 8 . Er gelte daher auch „im Falle der Bildung eines größeren Landes aus mehreren früheren Einzelländern" 49. Im entstehungsgeschichtlichen Zusammenhang wird die Ansicht vertreten, daß die Nichterwähnung der Materie im Einigungsvertrag dafür spreche, daß Art. 141 GG auf die neuen Bundesländer keine Anwendung finde. 50 Die hierfür allenfalls anzuführenden Rechtsauffassungen von Staatsorganen, die an der Aushandlung des Einigungsvertrages beteiligt waren, geben aber nur Auskunft darüber, wie sie die Norm verstanden haben, nicht aber darüber, wie sie verstanden werden muß. Der Systematik des Einigungsvertrages entsprechen sie im übrigen ohnehin nicht, denn dieser hat das Grundgesetz nach Art. 3 EV mit den in Art 4 EV abschließend genannten Änderungen auf die neuen Bundesländer übergeleitet. Art. 141 GG wurde nicht geändert und gilt daher ebenso wie Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG in ganz Deutschland, soweit seine Voraussetzungen vorliegen. 51

48

Parlamentarischer Rat (Fn. 44), S. 77.

49

Wie Fn. 48.

50 de Wall (Fn. 39), S. 370; Hechel (Fn. 5), S. 101; Uhle, Die Verfassungsgarantie des Religionsunterrichts und ihre territoriale Reichweite, DÖV 1997, 409 (415); Winter (Fn. 35), 754. 51

von Campenhausen (Fn. 36), Art. 141 Rn. 8.

Die Einschlägigkeit des Art. 141 GG für das Land Brandenburg

277

3. Systematik Es wird die Ansicht vertreten, Art. 141 GG sei eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift, die den Grundsatz des Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG durchbreche. 52 Dies führt allerdings nicht weiter, denn allein an die Ausnahme als Regelungstechnik lassen sich keine inhaltlichen Folgerungen knüpfen; das zeigt in aller Deutlichkeit die Kompetenzordnung des Grundgesetzes, in der die Bundeskompetenzen nur als Ausnahmen von der Länderkompetenz erscheinen. 53 Inhaltlich ist Art. 141 GG als Ausnahme ungenau charakterisiert, weil er einen Kompromiß darstellt. 54 Methodisch verfuhrt daher der bloße Hinweis auf den Ausnahmecharakter zu formalistischen Zirkelschlüssen, von denen die Sachaspekte der Rechtsentscheidung verdeckt werden: „Die Schlußfolgerung, eine Norm habe Ausnahmecharakter, setzt also bereits eine mit allen verfügbaren Konkretisierungselementen erarbeitete Vorklärung darüber voraus, welche normative Wirkung die Rechtsnorm als ,Ausnahmevorschrift 4 kennzeichnen soll." 55 Ferner wird gesagt, daß der in Art. 141 GG formulierte Verfassungsdispens nicht in Art. 7 Abs. 3 GG aufgenommen, sondern in den Übergangsbestimmungen des Grundgesetzes placiert worden sei. Die systematische Stellung des Art. 141 GG bringe deutlich zum Ausdruck, daß er nur aus einer bestimmten historischen Situation heraus verstanden werden dürfe und nur in dieser Beschränkung in die Zukunft hineinwirken könne.56 Damit wird der Bildung des Abschnitts „Übergangs- und Schlußbestimmungen" im Grundgesetz eine Bedeutung zuerkannt, die sie nicht hat. In diesem Abschnitt, und zwar unmittelbar vor Art. 141 GG steht ja auch die Grundsatznorm des geltenden Staatskirchenrechts, von deren Beschränkungen in die Zukunft hinein nirgends die Rede ist. 57 Auch die fundamentale und mehr denn je aktuelle58 Frage des Verhältnisses von Bundes- und Landesgrundrechten ist nicht im Grundrechtsabschnitt, sondern im Schlußabschnitt, und zwar unmittelbar nach Art. 141 GG geregelt. Insofern ist die Stellung von Art. 141 GG zwischen den staatskirchenrechtlichen Bestimmungen des Art. 140 GG und dem bundesstaatlich bedeutsamen 142 GG systematisch durchaus konsequent und kein Beleg für irgendwie beschränkte Rechtswirkungen. 52

Kästner (Fn. 35), S. 86; Muckel/Tillmanns, „Lebensgestaltung/Ethik/Religionskunde" statt Religionsunterricht?, RdJB 1996, 360 (361); Mückl (Fn. 7), S. 543; Wrege (Fn. 29), S. 192; vgl. auch das eingangs wiedergegebene Zitat von Jeand'Heur. 53 Vgl. Pieroth, in: Jarass /Pieroth Art. 92 Rn. 1. 54

Schlink (Fn. 34), S. 1012.

55

Müller (Fn. 42), ebd.

56

Muckel/Tillmanns

(Fn. 8), Art. 30 Rn. 1, Art. 70 Rn. 1, Art. 83 Rn. 1,

(Fn. 52), S. 361 f.

57

Goerlich, Art. 141 GG als zukunftsgerichtete Garantie der neuen Länder und die weltanschauliche Neutralität des Bundes, NVwZ 1998, 819 (821). 58

Vgl. BVerfGE 96, 345.

Bodo Pieroth / Thorsten Kingreen

278

4. Sinn und Zweck Oft heißt es, daß der Sinn und Zweck des Art. 141 GG in der Bewahrung von regionalen Traditionen liege. Wenn das richtig wäre, wären es zumindest sehr unterschiedliche Traditionen. 59 Im Falle von Bremen ist die Tradition, auf die sich der Bremer Abg. Ehlers im Parlamentarischen Rat zur Begründung berufen hatte, zumindest zweifelhaft. 60 Für Berlin wäre die Anwendung von Art. 141 GG auf diese Art und Weise kaum zu begründen, weil es an einer gewachsenen Tradition fehlte. 61 Gerade das Beispiel Berlin offenbart die Identitätsprämisse als normgelöste Zweckerfindung. Zumindest Ost-Berlin wäre ja mit dem heutigen Teil Berlins nicht mehr identisch und hätte die West-Berliner Regelungen zum Religionsunterricht gar nicht übernehmen dürfen. 62 Nach der Identitätsprämisse wäre also in Ost-Berlin verfassungswidrig, was in WestBerlin 50 Jahre lang selbstverständlich als verfassungsgemäß angesehen wurde. Die Tradition war im übrigen auch kein durchgängig tragendes Argument für entsprechende Forderungen aus anderen Ländern. Vielmehr ist Art. 141 GG wie Art. 140 GG das Ergebnis eines Verfassungskompromisses zu einem Gegenstand, für den sich im Parlamentarischen Rat soweit keine Mehrheit finden ließ und an dem das gesamte Verfassungswerk zu scheitern drohte. Anders als bei den in Art. 140 GG niedergelegten Grundsätzen war es beim Religionsunterricht aber möglich, das Problem zu „parzellieren" 63 , weil das Bildungswesen auch nach der Konzeption des Grundgesetzes Ländersache sein sollte. 64 Da auch unter den Abgeordneten letztlich Unklarheiten über den Stand der landesrechtlichen Regelungen herrschte, einigte man sich schließlich darauf, die unterschiedlichen Normen in den Ländern über den Status des Religionsunterrichts entscheiden zu lassen. Um aber Art. 7 Abs. 3 S. 1 GG nicht zur völligen Disposition der Länder zu stellen - was insbesondere die konservativen Abgeordneten nicht wollten —, wurde ein Stichtag festgesetzt, der die Zahl der auch in Zukunft für Art. 141 GG in Frage kommenden Länder voraussehbar begrenzte. Auf diese Art und Weise konnte ein für beide Seiten akzeptabler Kompromiß zwischen regionaler Vielfalt und dem Wunsch nach Bewahrung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach gefunden werden.

59

Vgl. Schmoeckel (Fn. 26), S. 306.

60

Näher Schlink (Fn. 34), S. 1011 f.

61

Vgl. bereits oben 1.1.

62

Weber, Diskussionsbeitrag, in: Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche 32 (1998), S. 116. 63 64

Schlink (Fn. 34), S. 1012.

So auch der Abg. Heuß (FDP), der daraufhinwies, daß in Art. 141 GG der föderative Anspruch auf Gestaltung des Bildungswesens in seiner geschichtlichen Entwicklung anerkannt werden solle (von Doemming/Füsslein /Matz [Fn. 40], S. 909).

Die Einschlägigkeit des Art. 141 GG für das Land Brandenburg

279

I I I . Ergebnis Keines der klassischen Auslegungskriterien gibt etwas her für ein über den Wortlaut des Art. 141 G G hinausgehendes Erfordernis rechtlicher Identität des früheren Landes m i t dem heutigen Land bzw. des NichtUntergangs des früheren Landes. Daher ist Art. 141 G G für das Land Brandenburg einschlägig. Dieses ist nicht verpflichtet, Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach i.S.d. Art. 7 Abs. 3 S. 1 G G einzuführen. 6 5

65

Ebenso Franke, Vorgaben des Grundgesetzes für den Religionsunterricht, in: Simon/ Franke/Sachs (Hrsg.), Handbuch der Verfassung des Landes Brandenburg, 1994, § 6 Rn. 37 ff.; Goerlich (Fn. 57), S. 819 ff.; Leistikow/Krzyweck, Der Religionsunterricht in den neuen Bundesländern, RdJB 1992, 308 ff.; Lörler, Verfassungsrechtliche Maßgaben für den Religionsunterricht in Brandenburg, ZRP 1996, 121 (123); Pieroth, in: Jarass /Pieroth (Fn. 8), Art. 141 Rn. 1; Renck, Religionsunterricht in den neuen Bundesländern, LKV 1993, 88 f.; dersRechtsfragen des Religionsunterrichts an den öffentlichen Schulen der neuen Bundesländer, ThürVBl. 1993, 102 ff.; ders., Relgionsunterricht in Brandenburg?, LKV 1997, 81 ff.; Schlink (Fn. 34), 1008 ff.; Schmitt-Kammler (Fn. 37), Art. 141 Rn. 10; Weber, ZevKR (36) 1991, 253 (269); Wißmann, Art. 141 GG als „Brandenburger Klausel"?, RdJB 1996, 368 ff.

Städtische Patronate in den neuen Bundesländern und ihre rechtliche Verbindlichkeit, dargestellt am Beispiel der Hansestadt Rostock Von Ralph Weber

I. Problemstellung Die aus den städtischen Patronaten resultierenden meist nicht unerheblichen finanziellen Pflichten wurden seitens der meisten Patronatspflichtigen bis etwa zum Ablauf des ersten Drittels dieses Jahrhunderts unangefochten erfüllt. Insoweit fragt sich zunächst, ob dem eine fortdauernde Rechtspflicht zugrundelag. Sofern man diese „äußerst schwierige, weil unübersichtliche" Frage1 bejaht, ist weiter zu klären, ob die gravierenden Veränderungen der tatsächlichen und staatskirchenrechtlichen Verhältnisse im letzten Jahrhundert es angezeigt erscheinen lassen, die Frage des weiterhin unveränderten Fortbestandes dieser altrechtlichen Verpflichtungen neu zu stellen. Besondere Relevanz kommt dieser Frage angesichts der tiefgreifenden konfessionellen Umschichtung der Bevölkerung in den neuen Bundesländern zu, zumal hier die Kirchenbaulasten angesichts des bedrohlichen baulichen Zustands vieler unter dem SED-Regime stark vernachlässigter Kirchen das Budget vieler kommunaler Haushalte deutlich übersteigt. Dies untersucht der vorliegende Beitrag, der zugleich einen neuerlichen Beweis für das unterdessen schon geflügelte Wort von Adalbert Erler liefert, der die Kirchenbaulasten als „Quelle unendlicher Streitigkeiten" beschrieben hat.2 Dies zeigt sich auch daran, daß Fragen zur Fortgeltung derartiger überkommener Baulastverpflichtungen seit nunmehr schon weit über 50 Jahren die weltlichen Gerichte beschäftigen, ohne daß bis heute eine grundsätzliche Klärung gelungen zu sein scheint. Und zugleich widerlegt dies eindrucksvoll die Ansicht von Meurer, der das Recht der Kirchenbaulasten — wie sich zeigt - zu Unrecht als „äußerst spröde Materie" bezeichnet hatte.3

1

So Baumeister , Besprechung von Lindner, Baulasten an kirchlichen Gebäuden, DÖV 1997, 351. 2 3

Erler , Kirchenrecht, 5. Aufl. 1983, S. 63.

Meurer , Die Rechtsfähigkeit und Baulast auf dem Gebiet der Kirche in Bayern, 1919, S. 3.

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Ralph Weber

II. Patronate als Rechtsbegriff 1. Vorbemerkung Seit Karl Martell (715-742) haben weltliche Herrscher in Zeiten wirklicher oder behaupteter Finanznot immer wieder auf das Kirchenvermögen zurückgegriffen, bis in Form der Säkularisation eine weitmaschige Verstaatlichung der Kirchengüter diesen Begehrlichkeiten mangels Masse vorerst faktische Grenzen setzte. Verblieben ist den Kirchen regelmäßig (nur) noch das Eigentum an den Kirchengrundstücken samt Gebäuden (Kirchen, Kindergärten, Krankenhäuser, Altenheime) und eventuellen Nebengebäuden (Pfarrhäuser, Verwaltungsgebäude), die indessen wegen ihrer Zweckbindung ein „fressendes", d.h. zuschußbedürftiges und daher nicht rentables, für Begehrlichkeiten uninteressantes Vermögen darstellen. Auch die nur noch rudimentär vorhandene Pfründeverwaltung spielt heute angesichts der Bedeutungslosigkeit der Pachtverträge nurmehr eine sehr bescheidene Rolle.4 Heute dagegen vergewärtigen wir einen gegenläufigen Prozeß fortwährender staatlicher und kommunaler Zuzahlungen für Kirchen und kirchliche Einrichtungen, die oftmals an den Grenzen der Leistungsfähigkeit der verwaltenden Einheiten, insbesondere der verpflichteten Gemeinden rütteln. 5 Deshalb - und nicht „weil unsere Zeit geschichtsfeindlich und nicht bereit ist, alte ererbte Verbindlichkeiten zu übernehmen" 6 — kommt es zunehmend zu einem rechtlichen Überdenken dieser altrechtlichen Verpflichtungen. Die damit aufgeworfenen Rechtsfragen bewegen sich auf der Scheidelinie zwischen Vertragsrecht, Rechtsgeschichte und Staatskirchenrecht. Für die Städte und Gemeinden haben dabei insbesondere deren patronatische Kirchenbaulasten eine besondere Bedeutung erlangt. Bis zum heutigen Tage bestehen in zahlreichen Städten und Gemeinden patronatische Baulastverpflichtungen an kirchlichen Gebäuden. Solche Kirchenbaulasten politischer Gemeinden können auf Vertrag oder rechtlichen Verpflichtungen anderer Art beruhen, wobei der Gestaltungsvielfalt aufgrund regional völlig unterschiedlicher Rechtskreise kaum Grenzen gesetzt sind.7 „In keinem anderen Bereich der geltenden Rechtsordnung dürfte sich heute noch ein ähnlich buntes Bild zeigen, daß die deutsche Rechtskultur in ihrer historischen wie territorialen Mannigfaltigkeit 4 Die in den Haushalten der meisten Landeskirchen kaum mehr die Promillegrenze der Einnahmen übersteigt. 5 Vgl. dazu den guten Überblick bei Lindner , Baulasten an kirchlichen Gebäuden, 1995, S. 16 ff. 6

So aber von Campenhausen, Staatskirchenrecht, 2. Aufl. 1993, § 23, S. 197; ähnlich Scheuner , Fortfall gemeindlicher Kirchenbaulasten, ZevKR 14 (1968/69), 353 ff. (355), der von „unserer unhistorischen Zeit" spricht, die „gegenüber älteren, nur mehr geschichtlich zu rechtfertigenden Rechtsbeständen unduldsam" sei. 7

So beträgt allein der geschätzte Sanierungsbedarf der Kirchenbauten in den neuen Bundesländern 10,7 Mrd. DM, vgl. F.A.Z. Nr. 83 v. 7.4.1995, S. 6.

Städtische Patronate in den neuen Bundesländern

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widerspiegelt." 8 Da sich oftmals die Ursprünge derartiger Leistungen nicht mehr nahtlos zurückverfolgen lassen, sondern „in das geschichtliche Dunkel des Unvordenklichen zurückreichen" 9 und häufig große Schwierigkeiten bei der Beschaffung der entsprechenden vertraglichen Patronatsurkunden bestehen, weil diese in den Wirren der Jahrhunderte sehr häufig zerstört wurden oder verschwunden sind, läßt sich über die exakte vertragliche Gestaltung der Patronate in vielen Fällen nichts Genaueres sagen. Da sich andererseits aber in den meisten Fällen immerhin über einen langen Zeitraum die tatsächliche Leistungserbringung durch die Gemeinde nachweisen läßt, hat die Rechtsprechung Rechtsinstitute wie die örtliche Observanz, rechtsbegründendes Herkommen oder die unvordenkliche Verjährung ausgebildet beziehungsweise für die insoweit auftauchenden Nachweisprobleme nutzbar gemacht. Deren Eingreifen hat zum Ziel, die Suche nach dem konkreten vertraglichen Entstehungsgrund der Leistungsverpflichtung entbehrlich zu machen und allein aus deren tatsächlicher langandauernder Bewirkung entsprechende Rechtsansprüche auch für die Zukunft zu begründen. Zwar sind Gemeinden und Kirchen bemüht, durch entgeltliche vertragliche Ablösung (insbesondere in Gestalt von Staatskirchenverträgen) die Zahl der Patronate zu verringern, aber dennoch ist deren praktische Bedeutung noch beachtlich. 2. Entstehungsgründe Patronate sind als Rechtsfiguren Schöpfungen des kanonischen Rechts im späten 11. und 12. Jahrhundert, 10 stammen also aus dem älteren katholischen Kirchenrecht. 11 Sie wurzeln in der Tatsache, daß das kanonische Recht bestrebt war, das Eigentum von Laien an Kirchen und deren Ausstattung (das sogenannte Eigenkirchenwesen) einzudämmen12 und vor allem nicht weiterhin neu entstehen zu lassen, andererseits aber an der finanziellen Beteiligung von Kirchen8

So zutreffend Isensee, Staatsleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften, in: Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1994, § 35, S. 1029. 9

Ebenfalls Isensee, Staatsleistungen (Fn. 8), S. 1029.

10

Ausführlich Landau, Ius Patronatus, 1975, S. 8 ff.

11

Vgl. ausfuhrlich speziell für Mecklenburg Maybaum, Kirchgründungen und Kirchenpatronate in der Kirchenprovinz Hamburg-Bremen während des Mittelalters, ZRG KA 56 (1936), 355 ff. (insb. 433 ff.), und Buchka, Das Recht der kirchlichen Baulast im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin, Zeitschrift für Rechtspflege Mecklenburg 1927, 290 ff. sowie vgl. dazu, daß dies „wegen des damaligen Geistes der Zeit" zu Beginn des Patronatswesens aufgrund hinreichender freiwilliger Beiträge in Mecklenburg nicht der Hauptbeweggrund war, Schulze, Erörterung der Frage: Wem liegt bei unzureichendem Kirchen-Aerarium die Verbindlichkeit ob, zum Bau und Unterhalt der Kirchen- und Pfarrgebäude beizutragen? - Mit besonderer Rücksicht auf Mecklenburg - , Rostock 1806. 12

Vgl. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte, 5. Aufl. 1972, S. 148 f., 257 ff.

284

Ralph Weber

gründern ein erhebliches Interesse hatte.13 Umgekehrt galt es für die Patronatsherren, über diese Patronate auch innerhalb der vormals mächtigen Kirchenverwaltung Fuß zu fassen und eigenen Einfluß insbesondere auch auf die kirchliche Ständebank innerhalb der Landstände ausüben zu können. Die Patronate späterer Prägung waren damit das Ergebnis eines innerkirchlichen Kompromisses zwischen dem Interesse der Kirche an einer freien Kollatur und dem Begehren nach finanzieller Förderung von außerkirchlicher Seite. Die Patronate, die für die Praxis des kirchlichen Lebens von sehr großer Bedeutung wurden, siedelten in dieser Zwiespältigkeit. Sie sind damit Produkte einer kirchlichen Praxis, die - unbekümmert von theoretischen Konstruktionen - jahrhundertelang ein Sonderdasein geführt haben. Obgleich ihre Rechtsgrundlagen meist in vorreformatorischer Zeit lagen, wurde das katholisch-kirchliche Recht der Patronate gerade auch von den lutherisch-reformierten Landesherren übernommen und darauf verzichtet, ein eigenes evangelisches Patronatsrecht zu schaffen. 14 Das ehemals kanonische Patronatsrecht wurde so zu einem Institut eines gemeinsamen überkonfessionellen gemeinen Kirchenrechts. 15 Denn dieses überkommene Patronatsrecht wurde auch und besonders von den reformierten Landesfürsten gezielt als Instrument zur Einflußnahme auf die Kirchenverwaltung benutzt.16 Denn der Einfluß, welchen der Fürst damals auf das Kirchenwesen seines Landes ausüben konnte, gründete sich zu einem erheblichen Teil auf Patronate über (wichtige) Kirchenämter seines Territoriums und der Loyalität des patronatischen Kirchenklerus, wobei meist auch die hierarchische Binnenordnung der Kirche übergangen wurde, so daß die Gemeindepfarrer geradezu wie ein landesherrlicher, gutsherrlicher oder städtische Beamter und als Teil der ausschließlichen Verwaltung der Kirchengüter durch den Patron erschienen. 17 Diese Entwicklung wurde auch durch die Reformation nicht gebremst, sondern im Gegenteil mangels einer zumindest anfänglich festgefügten Ordnung innerhalb der reformierten Kirchen eher noch intensiviert, war doch der Gemeindepfarrer hinsichtlich seines eigenen Auskommens und der Dotation seiner Kirche dem Patron gegenüber weit mehr abhängig als einer faktisch doch recht wenig mächtigen inneren Kirchenverwaltung. Auch hier galt demnach der Satz „Wess Brot ich eß, dess Lied ich sing". Insoweit und deshalb wetteiferten mit den Landesfürsten auch der Adel und die Städte um derartige Patronate und deren Einfluß auf die kirchliche Bank in den Landtagen der Ständestaaten. 13

Schulze, Erörterung (Fn. 11), S. 10 f.

14

Vgl. Albrecht, Das Patronatswesen, in: Listl/Pirson chenrechts, Bd. I, 2. Aufl. 1994, § 22, S. 167 ff. (184). 15

(Hrsg.), Handbuch des Staatskir-

Lindner, Baulasten (Fn. 5), S. 44 ff.

16

Vgl. dazu ausführlich Hechel, Die Besetzung fiskalischer Patronatsstellen in der Evangelischen Landeskirche und in den katholischen Diözesen Altpreußens, ZRG KA 46 (1926), 200 ff. 17 So Schultze, Stadtgemeinde und Kirche im Mittelalter, in: Festgabe für Rudolf Sohm, 1914, S. 103 ff. (125).

Städtische Patronate in den neuen Bundesländern

285

Denn derselbe Dualismus der Gewalten, der für das politische Leben des Ständestaates so bezeichnend war, beherrschte auch die Kirchenverwaltung und damit das gesamte Kirchenwesen selbst. So gewannen insbesondere die Landesfürsten zunehmend mehr Einfluß auf das Kirchenwesen, indem sie die Zahl ihrer Patronate vermehrten. Zunächst unbemerkt änderte das Patronat damit auch wie kein anderes kirchliches Institut seinen rechtlichen Charakter von einem Institut des inneren Kirchenrechts zu einer staatskirchenrechtlichen Rechtsfigur. Dies bewirkte, daß partikularrechtlich schon früh die Möglichkeit der Lastenbefreiung durch einseitigen Verzicht des Patrons aus fiskalischen Gründen versperrt wurde. 18 3. Begriffsinhalte a) Begriffsdefinition Nach der in der Kirchenrechtslehre zu weitester Anerkennung gelangten und insbesondere auch von der Rechtsprechung staatlicher Gerichte übernommenen grundlegenden Definition von Hinschius19 ist das Patronat (ius patronatus) „der Inbegriff von Befugnissen und Pflichten, welche einer Person in bezug auf eine Kirche oder ein kirchliches Amt aus einem besonderen, von ihrer Stellung in der (Kirchen-)Hierarchie unabhängigen Rechtsgrund zustehen". Jedes Patronat bezieht sich dabei grundsätzlich nur auf eine bestimmte Kirche. Ein sogenanntes einheitliches Patronat über mehrere, auch verbundene Kirchen kann es daher de iure nicht geben. Solche Gebilde stellen rechtlich vielmehr mehrere gesonderte Patronate dar. Deshalb sind sämtliche Patronatspflichten grundsätzlich kirchenbezogen und nicht patronatsherrenbezogen zu klären. 20 Grundinhalte des Patronats sind damit einerseits diverse Pflichten, vor allem finanzieller Art gegenüber der Kirche, insbesondere die sogenannten Baulastverpflichtungen, andererseits aber auch die damit verbundenen Rechte des Patronatsherrn. Befugnisse und Pflichten entsprechen dabei einander mindestens in dem Sinne, daß die Kirche bei Erfüllung der Pflichten auch die Gewährung der Privilegien schuldet.21 Hinsichtlich der Pflichten des Patrons läßt sich ungeachtet partikularer Besonderheiten doch immerhin folgender nahezu unbestrittene einheitliche Grundinhalt feststellen.

18

Vgl. deutlich PrOVG, ArchEvKR 4 (1940), 113 (in Leitsatz 3).

19

Hinschius , Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten in Deutschland, Berlin 1883, Bd. III, S. 6 mit einer Zusammenstellung und Kritik älterer abweichender Definitionsversuche in Anm. 1. 20

So PrOVG, ArchEvKR 4 (1940), 90 f.; 113 ff. (dort in Leitsatz 4).

21

Vgl. PrOVGE 101, 94 ff. (95, 96).

Ralph Weber

286

b) Pflichten

des Patrons

aa) Kirchenbaulast Unter der Kirchenbaulast - heute neutral (und damit einem fragwürdigen Zeitgeist folgend) oftmals als Kultusbaulast bezeichnet - versteht man die Verpflichtung, ein zu gottesdienstlichen Zwecken bestimmtes Gebäude nebst solcher Gebäude, die auf Dauer zur Wohnung des Pfarrers bestimmt sind, 22 zu errichten und baulich zu unterhalten, einschließlich der Pflicht zu erforderlichen Erweiterungen oder eines notwendigen Wiederaufbaus. 23 Diese Last wurde durch Kanon 1477 § 2 Satz 1 Corpus Iuris Canonici mit gewissen Modifikationen auch auf die zugehörigen Pfarrhäuser und etwaige Nebengebäude erstreckt. 24 Solche Baulastverpflichtungen waren schon immer eine echte schuldrechtliche Kostentragungspflicht und keine Leistung nach Art der kirchengemeindlichen Hand- und Spanndienste der Eingepfarrten. Die Kirchenbaulast hatte daher niemals zum Inhalt, die erforderlichen Bauten und Reparaturen selbst vorzunehmen oder auch nur vornehmen zu lassen, sondern erschöpfte sich in der Verpflichtung, die dafür erforderlichen Kosten zu erstatten. Die Kirchenbaulast war daher niemals Wahlschuld im Sinne von § 262 BGB. Dieser Verpflichtung konnte sich der Patron deshalb auch nicht dadurch entziehen, daß er der Kirche ein anderes Gebäude als Versammlungsraum zur Verfügung stellte.25 bb) Sonstige Dotationen Die in den einschlägigen Verträgen und Regularien oftmals enthaltenen weiteren Dotationszusagen, insbesondere über die Gewährung von Zuschüssen für die Ausgaben der Kirchenregie betreffen nicht mehr die Fragen der Kirchenbaulast, sondern sind ein weiterer, zu der Baulast oftmals hinzutretender, aber nicht begriffsnotwendiger Teil der Patronate. Zu diesen Kosten der Kirchenregie rechnen alle Ausgaben, die nicht zum Bauunterhalt gehören, insbesondere also die Ausgaben für die Gestaltung des Gottesdienstes und der weitgefaßte Bereich der (mitunter auch als bauliche Maßnahme verkleideten) Kirchenzierden. Deshalb ergibt sich allein aus der Übernahme der Kirchenbaulast auch keine Verpflichtung, auch die Kosten für Altäre (mit Ausnahme des 22 Dazu Wiesenberger, 1981, S. 21.

Kirchenbaulasten politischer Gemeinden und Gewohnheitsrecht,

23 Vgl. statt vieler nur Böttcher, Art und Rechtsgrund kommunaler Kirchenbaulasten, in: Festschrift für Klaus Obermayer, 1986, S. 155 ff. (156); Sperl, Stichwort „Baulast" in: Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Sp. 125 ff. (125) und die umfangreichen Nachweise bei Lindner, Baulasten (Fn. 5), S. 1 (in Fn. 1). 24

Vgl. speziell für Mecklenburg Schulze, Erörterung (Fn. 11), S. 10 ff. (insb. S. 13 ff.).

25

Vgl. PrOVG, ArchEvKR 4 (1940), 122 ff. (Leitsatz 3).

Städtische Patronate in den neuen Bundesländern

287

gemauerten oder steinernen Altartisches), Chor-, Beicht- und Kirchenstühle, Kanzel, Taufbecken, Orgel und Kirchenuhr oder den Unterhalt beziehungsweise die Umwehrung der Kirchhöfe usw. zu tragen. 26 Das gilt auch für den Einbau von Heizungsanlagen; auch diese gehören nicht zu den von der Kirchenbaulast abgedeckten Erhaltungsobliegenheiten. 27 Für diese Kosten gibt - wie gesagt die Übernahme der Baulast allein keine Rechtsgrundlage, wenn und w e i l sie nicht „durch das kirchliche Bedürfnis geboten" und damit „Pertinenzen des Kirchengebäudes" 2 8 sind; 2 9 sie müssen sich aus davon zu trennenden weiteren Vereinbarungen der Patronate ergeben. 30 Schon diese eigene, vom BGB gerade nicht angetastete patronatsrechtliche Begrifflichkeit31 zeigt, daß die zivilrechtlichen Vorschriften über die wesentlichen Bestandteile (§§93 ff. BGB) und das Zubehör (§§ 97 f. BGB) keine geeigneten Anknüpfungspunkte über die Festlegung der von der Kirchenbaulast erfaßten Gebäudeteile und Gegenstände bilden. Denn dies wäre ein Überstülpen neuartiger Rechtsbegriffe auf gewachsene Rechtsbestände, die weder deren historischer Entwicklung noch den besonderen Zwekken des Kirchenbaulastrechtes gerecht würde, da die Regelungen des BGB streng objektbezogen, die innere Ordnung des Kirchenbaulastrechts dagegen rein zweckbezogen ist.32 c) Rechte des Patrons A u c h wenn die Zweckbindung des Patronats nicht zwingend auf ein Gegenseitigkeitsverhältnis

i m Sinne eines synallagmatischen

Leistungsaustauschs

gerichtet war, sondern die „Fürsorge für die K i r c h e " und gerade „nicht besondere persönliche

Nutzungsrechte"

im

Mittelpunkt

dieses

Rechtsinstituts

standen, 33 ergaben sich aus dem Patronat auch Rechte des Patrons gegenüber der Kirche.

26 Vgl. PrOVG, ArchEvKR 1 (1937), 141 f. m.w.N.; eine Ausnahme sah man allerdings zuweilen bei solchen Kirchhöfen vor, die das Kirchengebäude unmittelbar umgaben, vgl. Buchka , Baulast (Fn. 11), S. 300. 27

Vgl. Albrecht , Patronatswesen (Fn. 14), S. 190 f.

28

Vgl. Albrecht , Patronatswesen (Fn. 14), S. 191.

29

Vgl. Albrecht , Patronatswesen (Fn. 14), S. 190.

30

Vgl. die umfangreichen Nachweise bei Zängl , Staatliche Baulast an Kultusgebäuden im Rechtskreis des gemeinen Rechts, BayVBl. 1988, 609 ff. (650 f., dort insb. ab Fn. 124). 31

Vgl. Art. 132 EGBGB.

32

Dies verkennt Lecheler , Der Gegenstand der staatlichen Baulast nach dem gemeinen Recht, in: Festschrift für Klaus Obermayer, 1986, S. 217 ff., der zur inhaltlichen Bestimmung der kirchenbaulastpflichtigen Gegenstände und Gebäudeteile auf die §§93 ff. BGB abstellt. 33

Deshalb gegen eine solche synallagmatische Verknüpfung Leisching , in: Erler/Kaufmann (Hrsg.), HRG, Bd. III, Stichwort „Patronat", Sp. 1558 ff. (1559); dafür Albrecht, Patronatswesen (Fn. 14), S. 173 f., jeweils m.w.N.

Ralph Weber

288

aa) Präsentationsrecht Kernbestandteil und „Hauptrecht" 34 des Patronatsrechts war das Recht des Patrons zur Präsentation eines Geistlichen,35 d.h. das Recht, bei der Besetzung eines Kirchenamtes (i.d.R. einer Pfarrstelle) oder der Verleihung eines Benefiziums den zuständigen Kirchenbehörden 36 binnen bestimmter Frist eine geeignete Person vorzuschlagen. 37 Zwar wurde das Kirchenamt ursprünglich noch allein von dem kollationsberechtigten kirchlichen Würdenträger verliehen, dieser war dabei aber an den Vorschlag des Patrons gebunden. Die besondere Bedeutung gerade dieses Rechts erhellt daraus, daß es im klassischen Patronatsrecht als ein besonderer Beendigungsgrund anerkannt war, wenn der Laienpatron 30 Jahre 38 hindurch das Präsentationsrecht nicht mehr ausgeübt oder der Bischof die Ausübung nicht zugelassen hatte.39 bb) Vermögensaufsicht Hinzu treten Aufsichtsbefugnisse über die Verwaltung und Verwendung des Kirchenvermögens. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts wird für die Wahrnehmung dieser Aufsichtsbefugnisse sogar ein besonderes Laienamt geschaffen, welches unter einer schillernden Begriffsvielfalt 40 in den Städten und Gemeinden heimisch und weit verbreitet wird. 41 Hierbei handelt es sich um besondere patronatische Verwaltungsbefugnisse, die über eine Verwendungskontrolle die Berechtigung der Inanspruchnahme des Patrons für diesen durchschaubar machen sollen. cc) Weitere Rechte Ergänzend hinzu traten weitere Rechte, unter denen die besondere Pflicht der Kirche zur Unterstützung des Patrons hervorzuheben ist, denn diese Fürsorgepflicht umfaßte ausdrücklich auch ein Recht auf Unterhalt (Alimentation) im Notfall. Hinzu traten durchaus noch weitere Rechte, die aber nur im innerkirch34

So Schultze, Stadtgemeinde (Fn. 17), S. 124.

35

Dazu ausführlich Landau, Ius Patronatus (Fn. 10), S. 145-205.

36

Den kollationsberechtigten kirchlichen Oberen, ursprünglich dem Bischof.

37

So Böttcher, Stichwort „Patronat", in: EvStL, 3. Aufl. 1987, Bd. II, Sp. 2453.

38

Geistliche Patronate 40 Jahre.

39

Sog. usucapió libertatis.

40

Provisores, magistri fabricae, Kirchenvorsteher, Kirchengeschworene, Gotteshausmeister

usw. 41 Vgl. zu weiteren Benennungen dieser Verwaltungsperson die vielen Beispiele bei Schultze, Stadtgemeinde (Fn. 17), S. 129.

Städtische Patronate in den neuen Bundesländern

289

liehen Bereich Relevanz hatten und auch nach früherem Verständnis nur die Rolle von Nebenrechten eingenommen haben. Insbesondere betrifft dies das Recht auf Aufnahme des Patrons in die Fürbitte beim Kirchengebet und auf Kirchentrauer im Falle seines Versterbens. 42 4. Grundsatz der Subsidiarität und Notwendigkeit a) Subsidiarität Ein fester Bestandteil des Patronatsrechts war von Anfang an der Grundsatz der Subsidiarität. Dieser besagt, daß die Kirchenbaulasten auch bei bestehenden Patronaten vorrangig aus dem Kirchenvermögen 43 zu bestreiten sind. Denn schon das Konzil von Trient (1545 bis 1563)44 hat aus dem geschichtlich gewachsenen und sich regional unterschiedlich entwickelnden Baulastrecht ein erstes umfassenderes Baulastgesetz von allgemeiner Gültigkeit geschaffen, 45 welches durch Kanon 1186 § 2 Bestandteil des Corpus iuris Canonici geworden ist. Danach obliegt die Baulast zunächst dem Gotteshausvermögen. 46 Nur wenn dieses Vermögen nicht ausreichend ist, hat der Patron die Lasten subsidiär zu übernehmen. An dritter Stelle sind sodann all diejenigen baulastpflichtig, die von der Kirche Einkünfte beziehen und erst an letzter Stelle sollen sodann die Eingepfarrten 47 zur Baulast herangezogen werden. Diese baulastrechtlichen Vorschriften des tridentinischen Konzils wurden sodann von den katholischen Staaten als allgemeines positives Recht rezipiert und galten mindestens subsidiär neben dem geltenden Partikularrecht. 48 Auch wenn eine formelle allgemeine Rezeption dieser Baulastnormen in den protestantischen Territorien nicht erfolgte und es ein gemeines evangelisches Kirchenrecht schon wegen des Fehlens einer Gesamtkirche nicht gab, alles evangelische Kirchenrecht vielmehr partikulares Recht der einzelnen Landeskirchen war, 49 wurde auch dort jedoch nach denselben Grundsätzen verfahren, 50 so daß die tridentinischen Regeln insoweit noch als Allgemeingut der Kirchen angesehen werden konnten.51 Diese 42

Vgl. Albrecht , Patronatswesen (Fn. 14), S. 169.

43

Kirchenaerar.

44

Vgl. dazu genauer Jedin , in: LThK, Stichwort „Trient II", Spalte 342 ff.

45

Vgl. Sess XXI Cap 7 de reform.

46

Der fabrica ecclesiae, also dem Kirchenvermögen.

47

Das sind die der Pfarrei angehörigen Kirchenmitglieder.

48

Vgl. Zängl , Staatliche Baulast (Fn. 30), S. 609.

49

So zutreffend auch RGZ 125, 186 (188).

50

Vgl. nur Bayr. OGHZ 3, 245.

51

Vgl. Permaneder , Die kirchliche Baulast, 3. Aufl. 1890, S. 6 mit Fn. 48 und 49 und die Übernahme dieser Aussage durch eine Entscheidung des BayVGH vom 26.10.1984, BayVBl. 1985, 303. 19 GS Jeand' Heur

Ralph Weber

290

Baulastregeln galten als Bestandteil des gemeinen Rechts.52 Dort wurde allerdings nur die Baulastpflicht an den Kirchengebäuden selbst53 geregelt. Diese somit von alters her dem Patronat innewohnende Subsidiarität fand dann für Mecklenburg eine ausdrückliche legislative Bestätigung in der „Verordnung, betreffend das Patronatswesen" vom 27. Dezember 1824.54 Dies bedeutet, daß primär auch bei bestehendem Patronat die Kirchengemeinde verpflichtet ist, mit den Mitteln des Kirchenvermögens selbst für den Unterhalt der betreffenden Kirchen zu sorgen. Diese hatte jedoch schon seit den Regelungen des gemeinen Rechts nur die verfügbaren Renten [Erträgnisse] heranzuziehen, jedoch nicht das Stammvermögen anzugreifen. 55 Suffizienz des Kirchenvermögens bedeutete also schon früh nur eine Suffizienz der Einnahmen.56 Jedoch war die Kirchengemeinde gehalten, durch die Anlegung eines Baufonds Rücklagen für spätere Bauvorhaben zu schaffen. 57 Hat sie die zumutbare Ansammlung eines solchen Zweckvermögens (als primär baulastpflichtigen Teil des Kirchenvermögens) unterlassen, so verringert auch dies die Baulastpflichtigkeit des Patrons. 58 b) Begrenzung auf die „ Notwendigkeit" Eine Verpflichtung des Patrons aus dem eingegangenen Patronat bestand schon nach altem Recht, spätestens seit den tridentinischen Baulastregelungen dann nicht, wenn die Gebäude nicht für gottesdienstliche Zwecke oder zur religiösen Unterweisung benötigt wurden 59 oder der sonstige bauliche Aufwand nicht „unumgänglich notwendig" 60 war. Dieser Grundsatz beherrscht die gesamte ältere Rechtsprechung zum Kirchenbaulastrecht, und dies ohne Rücksicht auf die im einzelnen maßgebliche Rechtsgrundlage gleichermaßen im gemeinen Recht und unter der Geltung des preußischen ALR. 6 1 Als „nötige Gotteshäuser" aber galten stets nur solche, in denen regelmäßig Gottesdienst abgehalten wird. An den insoweit nicht erfaßten „Kirchen" ohne gottesdienstliche Nutzung 62 52

Wiesenberger,

53

Sog. parochiales ecclesias.

Kirchenbaulasten (Fn. 22), S. 23.

54

Abgedruckt bei Germius, Bd. I, S. 10 ff., sowie bei Beyer, Repertorium der Gesetzgebung für die Mecklenburg-Schwerinschen Lande, von 1824 bis 1834 incl., Parchim 1836, S. 436. 55 56

Vgl. Permaneder, Baulast (Fn. 51), S. 8.

Vgl. Albrecht, S. 312 ff.

Patronatswesen (Fn. 14), S. 192 sowie Buchka, Baulast (Fn. 11),

57

ZängU Staatliche Baulast (Fn. 30), S. 611.

58

Vgl. Albrecht, Patronatswesen (Fn. 14), S. 194.

59

Vgl. zur näheren Auslegung dieser Begriffe nur RFH, ArchEvKR 4 (1940), 101 ff.

60

So BayVGH, BayVBl. 1985, 303 (Leitsatz 2).

61

So auch BayVGH, BayVBl. 1985, 303 (305).

62

Dazu auch Erler, Artikel „Kirche", in: HRG, Bd. II, Sp. 744 ff. (744).

Städtische Patronate in den neuen Bundesländern

291

bestand daher schon seit den tridentinischen Regelungen keine Baulast.63 Denn nicht die Erhaltung des Gebäudes als solches, sondern nur die Ermöglichung des Gottesdienstes durch einen geeigneten Versammlungsraum für die Gläubigen ist der Zweck der Kirchenbaulast. 64 Erst recht gilt dies für sonstige Gebäude, die zwar kirchlichen Zwecken (insbesondere auf caritativem oder verwaltendem Gebiet) dienen, denen aber die unmittelbare Beziehung zum christlichen Kultus fehlt. 65 Die Beurteilung dieser Notwendigkeit unterliegt dabei nicht dem kirchlichen Ermessen, sondern ist als Rechtsbegriff an den objektiven Gegebenheiten auszurichten und voll justiziabel. 66 I I I . Geschichtliche Grundlage der Kirchenbaulasten der Hansestadt Rostock Als um die Mitte des 16. Jahrhunderts mit fortschreitender Durchführung der Reformation in den beiden mecklenburgischen Herzogtümern die Klöster und geistlichen Stiftungen in umfassender Weise - zunächst noch gegen den heftigen Widerstand der Landstände - säkularisiert wurden, betraf dies nur die Güter solcher geistlichen Einrichtungen, die unter dem Einfluß der neuen Lehre ihre Existenzberechtigung verloren hatten, nicht hingegen die zahlreichen Pfarrkirchen und sonstigen, vor allem in den Städten vorhandenen lokalen kirchlichen Stiftungen. Schon früh aber mußte man erkennen, daß unter diesen von Grund auf geänderten kirchlichen Verhältnissen die Einkünfte der bestehen gebliebenen kirchlichen Stiftungen und Pfarren nicht ausreichten, um die kirchlichen Bedürfnisse in genügender Weise zu befriedigen. Hierauf gründet es, daß sämtliche mecklenburgische Kirchenordnungen seit dem Jahre 1552 Vorschriften über die sekundäre Heranziehung der Gemeinden zu Bauleistungen der Kirche enthielten.67 Primär aber wurde als „Gegenleistung" zu dem Säkularisationsgewinn in beiden mecklenburgischen Ländern (Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin und Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz) das bis zum Untergang des Ständestaates im Jahre 1918 bestehende landesherrliche Patronat der Großherzöge begründet, die als „summus episcopus" Oberhaupt der evangelischen Kirche ihres jeweiligen Herrschaftsgebietes waren. Das städtische Patronat der Hansestadt Rostock dagegen gründet in dem Erbvertrag zwischen den Herzögen von Mecklenburg und der Stadt Rostock, 63 Ebenso im Ergebnis Isensee , Staatsleistungen (Fn. 8), S. 1024; Albrecht , Patronatswesen (Fn. 14), S. 192. 64

Zängl, Staatliche Baulast (Fn. 30), S. 650; Wiesenberger , Kirchenbaulasten (Fn. 22),

S. 21. 65

Wiesenberger , Kirchenbaulasten (Fn. 22), S. 21.

66

So schon PrOVG, ArchEvKR 2 (1938), 34 ff. (35).

67

Vgl. dazu ausfuhrlich Buchka , Baulast (Fn. 11), S. 293 m.N.

292

Ralph Weber

der am 21. September 1573 zu Güstrow geschlossen wurde. Mit diesem Vertrag sollte der Streit um das seit der Reformation in Mecklenburg (in Rostock im Jahre 1531) von den Herzögen beanspruchte volle Patronat über die Rostokker Kirchen und die Universität sowie alle Stiftungen kirchlichen Ursprungs beigelegt werden. 68 Die Stadt Rostock nämlich verweigerte den mecklenburgischen Herzögen die Ausübung ihrer Patronate unter Berufung auf ihre alten Privilegien und ihr Aufsichtsrecht als städtische Obrigkeit. Mit dem genannten Erbvertrag verglich man sich dahin, daß nunmehr einheitlich alle Geistlichen der Pfarr- und Diakonatsstellen der Stadt durch den Rat der Stadt Rostock berufen und beim Landesherrn nominiert werden sollten, der den Kandidaten dann konfirmierte, also in sein Amt einführte und dem Geistlichen Ministerium der Stadt vorstellte. Zugleich wurde damit auch die Verpflichtung der Stadt Rostock begründet, für die „Kirchendiener, welche von dem Rath angenommen werden, item der Organisten, cüster, pulsanten und calcanten Unterhaltung getreulich" zu sorgen. 69 Wegen der ebenfalls von der Stadt Rostock beanspruchten Superintendantur für die Rostocker Kirchen konnte man sich als Kompromiß dahin einigen, daß das Geistliche Ministerium zusammen mit zwei Ratsherren der Stadt Rostock von den vier Pfarrherren den tüchtigsten zum Superintendanten wählte und diesen dem Landesherrn benannte, der den Ausgewählten bestätigen und konfirmieren sollte. Durch das Bestätigungserfordernis bewahrte sich damit der Landesherr bei der Besetzung dieses wichtigen Postens seine Einflußmöglichkeiten. Zugleich verzichtete der Landesherr in diesem Vertrag auf die Inspektion und Rechnungslegung der geistlichen Güter, die zum Bau und zur Erhaltung der Kirchengebäude und zur Unterhaltung der vom Rat bestallten Kirchen- und Schuldiener bestimmt waren. Damit wurde der Stadt Rostock nach heutigem Sprachgebrauch die Finanzhoheit in Hinblick auf Bau und Unterhalt der Kirchengebäude und der von ihr ernannten Kirchenbediensteten mit allen Rechten der Einnahmeverwaltung, aber eben auch in Hinblick auf die finanziellen Lasten der Erhaltung und Errichtung der Kirchenbauten gegeben und das Patronat der Stadt Rostock über die vier damaligen Rostocker Kirchen 70 begründet. Der ergänzende Erbvertrag aus dem Jahre 1584 bescherte dem Rat der Stadt dann das Recht, begüterte Bürger aus der Kirchengemeinde zu Kirchenvorstehern zu bestellen, die zu jährlicher Rechnungslegung verpflichtet waren. Der Erbvertrag des Jahres 1788 schließlich regelte in insgesamt 32 Paragraphen die geistigen Angelegenheiten der Stadt und bestätigte im Kern das 1573 begründete Patronatsrecht der Stadt an den Rostocker Kirchen. Er bestätigte M

Vgl. dazu genauer Pettke, Zur Rolle Johann Oldendorps bei der offiziellen Durchfuhrung der Reformation in Rostock, ZRG KA 70 (1984), 339 ff. 69

Hier ist bewußt der Originalwortlaut des Erbvertrages wiedergegeben worden.

70

Die 4 Rostocker Hauptkirchen waren St. Jacobi, St. Nikolai, St. Petri und St. Marien.

Städtische Patronate in den neuen Bundesländern

293

und begründete zum Teil neu neben dem althergebrachten Repräsentationsrecht des Patrons besondere Verwaltungsbefugnisse, gerade auch in Hinblick auf die Verwaltung kirchlichen Vermögens und betreffs der Bauangelegenheiten. Nach der Errichtung der weiteren (fünften) Rostocker Stadtkirche 71 wurde in einem Änderungs vertrag zu den Rostocker Erb Verträgen vom 22. April/ 7. Mai des Jahres 1909 auch für diese Kirche das städtische Patronat übernommen, wobei ausdrücklich für diese Kirche „dem Umfange und Inhalte nach ganz dieselben Patronatsrechte und sonstigen Befugnisse" zuerkannt wurden, „wie sie der Stadt und ihrem Rate bezüglich der übrigen vier Stadtkirchen und Kirchengemeinden, deren Prediger, Kirchenbeamten und Kirchendiener gesetzlich, erbvertrags- und observanzmäßig zukommen." 72 Diese Formulierung ist in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich. Zum einen wird darin das Patronat der Stadt Rostock nochmals deutlich bestätigt, zum anderen aber soll der eigentliche Rechtsgrund bewußt offen gelassen und die Patronatsverpflichtung erkennbar aufgrund aller damals denkbaren Grundlagen, nämlich Vertrag, Gesetz oder Observanz begründet und abgesichert werden. Auch inhaltlich bringt dieser Änderungsvertrag dadurch Interessantes, daß die aufsichtsrechtlichen Befugnisse der Stadt Rostock nochmals erweitert wurden, indem nunmehr die Veräußerung kirchlicher Grundstücke oder von Kircheninventar sowie die Vornahme außerordentlicher Maßnahmen an kirchlichen Bauwerken der Genehmigung der Stadt Rostock bedurfte. 73 Dies belegt den bis in unser Jahrhundert noch aufrecht erhaltenen inneren Zusammenhang zwischen den Aufsichts- und Kontrollrechten des Patronats und den aus diesen folgenden finanziellen Belastungen. Dieser Vertrag wurde am 21. Dezember 1909 vom Großherzog Friedrich Franz von Mecklenburg-Schwerin ausdrücklich genehmigt und „in verbindliche Kraft" gesetzt.74 Zugleich ist kraft dieses Änderungsvertrages die Personalhoheit über die Kirchenbediensteten vom Landesherren auf den Landessuperintendenten übergegangen und damit die Besoldungsfrage an die Kirche und deren Institutionen zurückgefallen. Darüber hinaus erscheint es an dieser Stelle nicht erforderlich, noch weitere Details aus der Entstehungsgeschichte der angesprochenen Patronate darzustellen, da deren Entstehen und Bestand jedenfalls für die Zeit vor dem Inkrafttreten des BGB nicht anzuzweifeln ist und ausweislich der Haushaltsbelege auch von keiner Seite in Frage gestellt wurde. Die Erbverträge aus den Jahren 1573 und 1584 sowie von 1788 und deren Abänderung und Bestätigung im Jahre 1909 sind insoweit eindeutig und wurden bis heute niemals förmlich aufgehoben oder außer Kraft gesetzt.

71

Heiligen-Geist-Kirche.

72

Vgl. § 1 des Vertrages vom 22.4./7.5.1909.

73

Vgl. § 4 des Vertrages vom 22.4./7.5.1909.

74

Vgl. Reg-Bl. Mecklenburg-Schwerin 1910, 1

294

Ralph Weber

IV. Rechtsgeschichtliche Überlegungen zum Untergang sämtlicher Patronatsverpflichtungen aufgrund der vielschichtigen Rechtsänderungen bis heute? 1. Wegfall im Geltungsbereich des Gemeinen Rechts? Von einem grundlegenden Wegfall bestehender Baulastverpflichtungen gegenüber den Kirchen unter der Geltung des Gemeinen Rechts kann grundsätzlich nicht ausgegangen werden, vielmehr wurde das vom Konzil von Trient (1545 —1563)75 geformte 76 Patronatsrecht 77 seinerseits selbst Teil des Gemeinen Rechts und blieb so über Jahrhunderte gültig. Zwar hat, vor allem seit dem 18. Jahrhundert die weltliche Gewalt unter dem steigenden Einfluß staatskirchenrechtlicher Rechtsauffassungen das Patronat teilweise auch zum Teil ihrer Gesetzgebung gemacht. Umfassende Regelungen aus jener Zeit waren für Preußen die Formulierung eines Abschnitts Patronatsrecht als Teil des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 und für die habsburgisehen Lande der „Tractatus de iuribus incorporalibus" von 1679. Im Gebiete der beiden mecklenburgischen Großherzogtümer galt aber bis zum Inkrafttreten des BGB Gemeines Recht - und mithin auch das von derartigen Kodifikationen unbeeinflußte Patronatsrecht, 78 zuletzt in der Fassung der „Verordnung, betreffend das Patronatswesen" vom 27. Dezember 1824. 2. Wegfall durch das Inkrafttreten des BGB? Zur Frage, ob patronatische Lasten durch das Inkrafttreten des BGB in Wegfall gekommen sein könnten, ist ein kurzer Hinweis auf die Art. 3 und 132 EGBGB ausreichend. Zufolge des Art. 132 EGBGB 79 sollten die zersplitterten landesrechtlichen Bestimmungen über die Kirchenbaulast grundsätzlich vom BGB unberührt bleiben. 80 Art. 3 EGBGB überließ es daher dem Landesgesetzgeber, bezüglich der weitergeltenden landesrechtlichen Vorschriften neue gesetzliche Regelungen zu erlassen. Mecklenburg hat von dieser Ermächtigung in Hinblick auf die Vorschriften über die Kirchenbaulasten indessen keinen Gebrauch gemacht. Damit blieben bis zum Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung (und der Verfassung des Freistaates Mecklenburg vom 17. Mai 75

Dazu allg. Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte (Fn. 12), S. 302 ff.

76

Conc. Trid. Sess. XXI dec. de ref. cap 7 - 9 .

77

Vgl. dazu Schulze, Erörterung (Fn. 11), S. 17 m.w.N. in Fn. 25, und Lindner, Baulasten (Fn. 5), S. 104 ff. 78

Vgl. genauer Schulze, Erörterung (Fn. 11), S. 13 ff. (Ergebnis auf S. 38).

79

„Unberührt bleiben die landesgesetzlichen Vorschriften über die Kirchenbaulast und die Schulbaulast." 80

Vgl. dazu grundsätzlich von Campenhausen, Staatskirchenrecht (Fn. 6), S. 188 f.

Städtische Patronate in den neuen Bundesländern

295

1920) die Kirchenbaulasten, soweit sie nicht durch die Pflichtigen vertraglich abgelöst wurden, von einer gesetzlichen Regelung ausgespart und daher in ihrem bisherigen Umfang bestehen.81 3. Wegfall durch die Weimarer Reichsverfassung? a) Grundüberlegung Von den grundlegenden Umwälzungen der staatsrechtlichen Ordnung Deutschlands nach dem Ende des ersten Weltkriegs und dem damit verbundenen Übergang von der konstitutionellen Monarchie (in den mecklenburgischen Großherzogtümern gar noch vom Ständestaat) zu einer demokratischen Staatsform blieb an sich auch das Verhältnis zwischen Kirche und Staat nicht ausgespart, 82 doch änderte dies an dem überlieferten Zustand des Kirchenbaulastrechts nur wenig. Die ausschlaggebende Entscheidung über die Gestaltung des Staatskirchenrechts in der Weimarer Verfassung fiel mit dem Beschluß vom 17. März 1919, wonach nunmehr nicht mehr den einzelnen Ländern, sondern dem Reich das Recht zustehen sollte, im Wege der Gesetzgebung Grundsätze für die Rechte und Pflichten der Religionsgemeinschaften aufzustellen. 83 Diese neuartige Kompetenzerweiterung zugunsten der Reichsgesetzgebung beließ den Ländern zwar die grundsätzliche Gesetzgebungs- und Vertragszuständigkeit auf dem Gebiet des Staatskirchenrechts, gab aber dem Reich ein sich in der Folge als wichtig erweisendes Vorrecht für die Regelung der staatskirchenrechtlichen Grundlagen. Hierzu zählten insbesondere die vermögensrechtlichen Beziehungen zwischen Staat und Kirche, deren Regelung den Verfassungsvätern der Weimarer Reichsverfassung wichtig genug erschien, um deren Grundlegung in den Art. 135 ff. in der Verfassung selbst vorzunehmen. Insbesondere in den Art. 137 f. der Weimarer Reichsverfassung „lebt bis in die Formulierung hinein die alte, aber durchaus nicht überholte Verfassungsgarantie von § 63 des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 in unserer Zeit fort". 84 So wurde mit Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung vom 11. August 1919 nicht nur erstmals reichseinheitlich das Kirchensteuerrecht der Religionsgesellschaften gewährt, sondern auch und vor allem hat Art. 137 Weimarer Reichsverfassung mit der Selbstverwaltungsgarantie der Kirchen 85 einen beachtlichen Teil der aus dem Patronat 81

Vgl. auch PrOVGE 82, 196.

82

Vgl. dazu statt aller Huber , Verfassungsgeschichte, Bd. V, 1978, S. 873 ff.

83

Vgl. Art. 9b Nr. 1 Entwurf, später Art. 10 Nr. 1 der Weimarer Reichsverfassung.

84

So von Campenhausen, Staatskirchenrecht (Fn. 6), § 22, S. 186 f.

85

„Jede Religionsgesellschaft verleiht ihre Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde."

296

Ralph Weber

sich ergebenden Rechte des Patronatsherrn kompensationslos beseitigt, die diesbezüglichen Pflichten aber über Art. 138 Weimarer Reichsverfassung ausdrücklich weiter festgeschrieben und bestätigt. b) Kirchenbaulasten

und Art. 138 Weimarer

Reichsverfassung

Zwar verlangte Art. 138 I Satz 1 der Weimarer Reichsverfassung die Ablösung der auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften durch die Landesgesetzgebung. Auf den ersten Blick schien es hier zunächst, als habe die alte laizistische Forderung, daß für Kirchen keine öffentlichen Mittel aufgewendet werden sollten, als Kompensation gegenüber der verfassungskräftigen Absicherung des kirchlichen Steuerrechts einen Sieg errungen, der sich jedoch bei genauerer Betrachtung noch nicht einmal als Pyrrhussieg bezeichnen läßt. Bringt man den Inhalt dieser Regelungen auf einen kurzen Punkt, so wurde schon damit ein ersatzloser Wegfall der Staatsleistungen an die Religionsgemeinschaften von Verfassungs wegen ausgeschlossen. Aber damit nicht genug. Denn Art. 138 I Satz 2 der Weimarer Reichsverfassung verlangte als Voraussetzung für eine solche landesrechtliche Ablösungsregelung einschränkend eine Grundsatzregelung des Reiches. Zwar war dies von den Verfassungsvätern nur als ein Provisorium des Verfassungsrechts gedacht, „das sich aber nach nunmehr über 75 Jahren als recht dauerhaft erwiesen hat". 86 Da es zu einer solchen Aufstellung der Ablösungsgrundsätze durch das Reich niemals gekommen ist und landesgesetzliche Zwischenlösungen ausdrücklich ausgeschlossen waren, 87 hat sich der primäre Inhalt dieser Norm entscheidend gewandelt. Hatte Art. 138 I Weimarer Reichsverfassung ursprünglich für gewisse staatliche Leistungen an die Religionsgesellschaften einen Ablöseauftrag statuiert, fungiert diese Norm heute praktisch als Sperrvorschrift und bewirkt damit faktisch eine „Status-quo-Garantie". Dies betonte die Weimarer Reichsverfassung zudem noch - an sich überflüssig, aber als Verstärkung der Aussage der Verfassung dennoch wirkungsvoll 88 — durch Art. 173 der Weimarer Reichsverfassung, welcher klargestellt hat, daß die Länder ihre entsprechenden Verpflichtungen gegenüber den Religionsgesellschaften bis zur Ablösung weiter zu bewirken haben. Somit kann dieses hier knapp skizzierte Gesamtbild der Regelungen der Weimarer Reichsverfassung zu den staatskirchenrechtlichen Leistungsverpflichtungen nicht anders als ein voller Erfolg der kirchlichen Vorstellungen bezeichnet werden, der außerdem hinsichtlich der großen christlichen Kirchen maßgeblich durch die Konkordate und Kirchenverträge komplettiert wurde. 86

So Isensee, Staatsleistungen (Fn. 8), S. 1049.

87

Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl. 1933, Art. 138 Anm. 4. 88

Vgl. etwa Anschütz, Verfassung (Fn. 87), Art. 138 Anm. 3 und Art. 173 Anm. 1.

Städtische Patronate in den neuen Bundesländern

297

Zwar wird insoweit immer wieder die Frage aufgeworfen, ob unter diesen Bestandsschutz des Art. 138 I der Weimarer Reichsverfassung auch die Aufwendungen aufgrund der landesherrlichen und sonst staatlichen Patronatsverpflichtungen zu rechnen waren, da sich hier die Rolle des Staates in nichts von einem Privaten in entsprechender Rolle unterschied.89 Jedoch stellt insoweit ein Blick in die Verfassungsberatungen klar, daß durch Art. 138 I Weimarer Reichsverfassung nicht in die Verpflichtungen aus den Patronaten eingegriffen werden sollte,90 so daß auch deren einfachrechtliche Ablösung ohne entsprechende reichsrechtliche Ablösungsgrundsätze ausgeschlossen war. Besonderes mußte aber insoweit für die Leistungen aufgrund kommunalen Patronate gelten, die nach herrschender Ansicht vom Bestandsschutz des Art. 138 I Weimarer Reichsverfassung nicht erfaßt werden. 91 Denn die Leistungen der kommunalen Gebietskörperschaften werden in diesem Sinne nicht als Staatsleistungen angesehen. Gegen diese enge Sicht erhoben sich zwar schon früh Bedenken, da die Gewährleistung kirchlichen Vermögens in Art. 138 I Weimarer Reichsverfassung sich nicht nur auf die Staatsleistungen beschränkt, sondern auch die sonstigen Vermögenswerten Rechte der Kirche erfaßt und sich damit auch auf die Leistungen der Gemeinden und Gemeindeverbände erstreckt. 92 Diese weitere Ansicht konnte sich jedoch unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung nicht durchsetzen, da ein entsprechendes Bedürfnis nicht zu sehen war. Denn in Rechtsprechung und Literatur bestand weitgehend Einigkeit darüber, daß zu den durch Art. 138 II der Weimarer Reichs Verfassung geschützten und weit auszulegenden „Eigentum und sonstigen Rechten" der Kirchen und Religionsgesellschaften „alle Vermögensgegenstände (Sachen und Rechte), welche kirchlichen Zwecken zu dienen bestimmt sind" 93 und damit gerade auch die historisch gewachsenen Kirchenbaulasten der Städte und Gemeinden zu rechnen sind und diese damit ebenfalls verfassungskräftig gewährleistet waren. 94 Denn nach heute ganz herrschender Auffassung schützt Art. 138 II Weimarer Reichsverfassung nicht nur wie Art. 14 GG den substantiellen oder wertmäßigen Bestand des kirchlichen Vermögens — denn insoweit wäre er neben Art. 14 GG unbedeutend geworden —, sondern die öffentliche Funktion

89

Vgl. Isensee , Staatsleistungen (Fn. 8), S. 1018.

90

Vgl. dazu genauer Israel , Geschichte des Reichskirchenrechts, Berlin 1922, S. 41 f. mit Nachweisen. 91

Vgl. Anschütz , Verfassung (Fn. 87), Art. 138 Anm. 4 a.E.; ebenso RGZ 111, 146; 113, 397; 125, 189 und die umfangreichen Nachweise bei Isensee , Staatsleistungen (Fn. 8), S. 1031 Fn. 89 und S. 1048 Fn. 149 a.E. sowie bei Lindner , Baulasten (Fn. 5), S. 197 ff. und 206 ff. und Scheuner , Fortfall (Fn. 6), 359 Fn. 254. 92 Vgl. Huber , Die Garantie der kirchlichen Vermögensrechte in der Weimarer Reichsverfassung, 1927, S. 62; Werner , Die Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften, 1948, S. 54. 93 So Anschütz , Verfassung (Fn. 87), Art. 138 Anm. 6; von Campenhausen, Staatskirchenrecht (Fn. 6), § 22, S. 190; Scheuner , Fortfall (Fn. 6), S. 359, je m.w.N. 94

von Campenhausen, Staatskirchenrecht (Fn. 6), § 22, S. 187 f.

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dieses Kirchenvermögens vor Zugriffen der staatlichen Gewalt. 95 Insoweit steht, wie schon Konrad Hesse richtig anmerkte, 96 Art. 138 II Weimarer Reichs Verfassung in innerer untrennbarer Verbindung mit dessen Art. 137. Deshalb kann man für die Schutzwürdigkeit gewisser Vermögensteile nicht - wie bei Art. 14 GG - danach fragen, ob diese von den Religionsgemeinschaften quasi „durch eigene Leistung erdient" sind; dies würde die historisch ganz andere Ausrichtung dieser Norm verkennen. Man hat vielmehr zu fragen, ob die zugrundeliegende Leistung dem Kirchenvermögen um seiner selbst willen, d.h. zur Wahrung kirchlicher Zwecke zugute kommt - und daran kann bei Kirchenbaulastverpflichtungen kein Zweifel bestehen. Auch sonst enthält die Weimarer Reichsverfassung keine Bestimmungen, die der Fortdauer derartiger kommunaler Verpflichtungen entgegenstünden. Daran hat auch die nationalsozialistische Zeit trotz ihrer zunehmend kirchenfeindlicheren Politik entgegen einer vereinzelt geäußerten Ansicht97 nichts geändert, da diese Vorschriften und insbesondere „die Rechtseinrichtung der Patronate in keinem Widerspruch zur nationalsozialistischen Rechtsanschauung und zum gesunden Volksempfinden" 98 standen.99 Die überkommenen Kirchenbaulastansprüche werden daher auch in der Zeit des Nationalsozialismus weiterhin anerkannt. 100

4. Wegfall durch mecklenburgische Verfassungen? a) Verfassung

des Freistaates Mecklenburg vom 17. Mai 1920

§ 21 der Verfassung des Freistaates Mecklenburg vom 17. Mai 1920 bestimmte zwar in Einklang mit der damals herrschenden verfassungsrechtlichen Auffassung zum Verhältnis von Kirche und Staat: „Es besteht keine Staatskirche". Weitere Ausführungen zum Verhältnis zwischen Staat und Kirche im Gebiet des Freistaates Mecklenburg enthielt die Verfassung indessen nicht, insbesondere enthielt sie sich bewußt einer Regelung der finanziellen Fragen des Staatskirchenrechts. Daß man sich indessen in Einklang mit der Regelung der Weimarer Reichsverfassung jeder Antastung kirchlichen Besitzstandes und eines Eindringens in die vor allem auch vermögensrechtlichen Fragen des Staatskirchenrechts enthalten sollte, belegen jedoch hinlänglich die Übergangsbestimmungen des mecklenburgischen Gesetzes zur Einführung der Verfassung 95

Vgl. statt vieler nur Maunz, in: Maunz/Dürig,

96

ZevKR 5 (1960), 62 ff. (74).

Grundgesetz, Art. 138 WRV Rn. 10.

97 Vgl. dazu Ansorge, Die neueste Rechtsprechung auf dem Gebiet der Patronatsbaulast, ArchEvKR 5 (1941), 43 ff. (43). 98

So PrOVG, ArchEvKR 4 (1940), 113 (in Leitsatz 2).

99

Ebenso Lindner, Baulasten (Fn. 5), S. 67 f.

100 Vgl. Volkmann, Die Rechtsprechung staatlicher Gerichte in Kirchensachen 1933-1945, 1978, S. 130 ff.

Städtische Patronate in den neuen Bundesländern

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vom 17. Mai 1920, in deren Artikel 8 es ausdrücklich heißt: „Die auf kirchlichen Gebieten liegenden Sonderrechte sind bis zur anderweitigen gesetzlichen Regelung von der Aufhebung ausgeschlossen ...". b) Wegfall durch die Verfassung für das Land Mecklenburg vom 16. Januar 1947? Der erneute grundlegende staatsrechtliche Umbruch nach dem Ende des zweiten Weltkriegs und die damit einhergehenden fundamentalen Umgestaltungen der staatsrechtlichen Struktur Deutschlands gibt erneut Veranlassung, nach dem rechtlichen Schicksal der patronatischen Kirchenbaulasten zu fragen. Speziell für die Patronatspflichten der Hansestadt Rostock wirft dies die Frage auf, ob nicht durch die Verfassung für das Land Mecklenburg vom 16. Januar 1947 die bislang bestehenden Patronatsverpflichtungen abgeschafft worden sind. Immerhin besagte deren Art. 88 Abs. 4 Satz 2, „alle anderen steuerähnlichen Leistungen an die Kirche, wie insbesondere die Observanzen sind damit abgeschafft". 101 Zugleich aber hatte auch diese Landesverfassung in ihrem Art. 9 die Weimarer Kirchenrechtsartikel als Bestandteil der Landesverfassung übernommen und anerkannt. Da zudem die nur bei entsprechendem Bedarf, unregelmäßig und in situationsbedingt stets wechselnder Höhe abgerufenen Leistungen aufgrund patronatischer Kirchenbaulastverpflichtungen nach unbestrittener Ansicht nicht als steuerähnliche Leistungen angesehen werden konnten, wurden diese Lasten durch die Verfassung des Jahres 1947 für den Freistaat Mecklenburg auch dann nicht abgeschafft, wenn man diese Regelung für wirksam erachten würde - ein näheres Eingehen auf die damit aufgeworfenen schwierigen verfassungsdogmatischen Fragen zum Verhältnis dieser Regelung zu den staatskirchenrechtlichen Artikeln der Weimarer Reichsverfassung ist damit entbehrlich.

Damit gingen also auch die Verfassungen des Landes Mecklenburg, ebenso wie übrigens alle anderen Verfassungen der Länder der späteren DDR 1 0 2 konsequent davon aus, daß die bestehenden Verträge und mithin auch die daraus resultierenden finanziellen Verpflichtungen gegenüber den Kirchen weiter bestehen bleiben sollten.

101 Dies war als Kompensation zu dem den Kirchen durch Art. 89 zugestandenen Recht zu verstehen, Kirchensteuern erheben zu dürfen. 102

Vgl. Art. 65 der Verfassung der Mark Brandenburg vom 6.2.1947; Art. 92 der Verfassung von Sachsen vom 15.3.1947; Art. 92 der Verfassung von Sachsen-Anhalt vom 18.1. 1947, und Art. 76 der Verfassung von Thüringen vom 20.12.1946.

300

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5. Wegfall durch die Verfassung(en) der „DDR"? 103 Auch die sowjetische Besatzungsmacht tastete das von ihm vorgefundene System der vermögensrechtlichen Beziehungen zwischen Staat und Kirche im Grunde nicht an; ja die Regelung des Art. 138 Weimarer Reichsverfassung wurde von der SED in ihren Musterentwurf einer Verfassung vom 14. November 1946 sogar ausdrücklich übernommen. Auch die erste (sog. Volksrats-)Verfassung der DDR vom 7. Oktober 1949 hat die Regelung des Art. 138 Weimarer Reichsverfassung durch deren Art. 45 I ebenfalls übernommen. Dort hieß es: „Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden öffentlichen Leistungen an die Religionsgemeinschaften werden durch Gesetz abgelöst". Hieraus ist zwingend zweierlei zu folgern: Schon nach den allgemeinen Gesetzen der Logik setzt diese Ablöseregelung zum einen die grundsätzliche Anerkennungen der überkommenen staatskirchenrechtlichen Verpflichtungen und damit den Rechtsbestand der nicht zuvor kraft Vertrags oder entgegenstehenden Gewohnheitsrechts schon untergegangenen Baulastverpflichtungen des Staates und seiner Gliederungen gegenüber den Kirchen voraus. Das damit verfassungsrechtlich vorgenommene Anerkenntnis war zumindest auch für das quasi völkerrechtliche Verhältnis zu den Kirchen maßgebend und hatte damit unmittelbare Wirkung gegenüber den Vertragspartnern der Staatskirchenverträge. 104 Des weiteren aber beinhaltet diese Verfassungsaussage zugleich auch den weiteren Kernsatz, daß zumindest durch diese erste Verfassung der DDR selbst eine Ablösung der entsprechenden Verpflichtungen nicht vorgenommen und auch deren ersatzloser Wegfall nicht geregelt worden ist. Im Unterschied zu der Regelung der Weimarer Reichsverfassung sprach diese erste Verfassung der DDR auch nicht von staatlichen, sondern weitergehend von öffentlichen Leistungen an die Religionsgemeinschaften und schloß daher schon vom Wortlaut her auch die Leistungen der Kommunen sowie anderer öffentlich-rechtlicher Träger in den Bestandsschutz der Leistungsgewährung ein. 105 Überraschenderweise läßt sich damit feststellen, daß die erste Verfassung der DDR den Schutz kirchlichen Vermögens sogar noch über die Regelungen der Weimarer Reichsverfassung und damit - dies sei hier bereits im Vorgriff erwähnt - auch über die entsprechenden Schutzregelungen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland hinaus erweitert hat. Bei den späteren Novellierungen der Verfassung (zweite Verfassung der DDR von 1968/74) ist das gesamte Thema der Staatsleistungen ausgespart und 103 Dazu ausführlich Boese, Die Entwicklung des Staatskirchenrechts in der DDR von 1945-1989, 1994. 104

Ebenso Depenbrock, Fortgeltung des Reichskonkordats und des Preußenkonkordats in den neuen Bundesländern, NVwZ 1992, 736 (740). 105

113 f.

So zutreffend Jacobi, Staat und Kirche nach der Verfassung der DDR, ZevKR 1 (1951),

Städtische Patronate in den neuen Bundesländern

301

daher auch die Regelung des früheren Art. 45 I nicht mehr übernommen worden. Da aber auch keine gegenteiligen Bestimmung in diese weiteren Verfassungen aufgenommen worden sind, ergibt sich hieraus, daß damit der frühere Rechtszustand einfach-gesetzlich fortbestand. Da die Regierung der DDR auch niemals förmlich alle aus der früheren Übernahme von Art. 138 Weimarer Reichsverfassung durch Art. 45 I der ersten Verfassung der DDR überkommenen Verpflichtungen gegenüber den Religionsgemeinschaften von sich gewiesen hat, ist es auch faktisch nicht zu einem Untergang dieser Leistungsverpflichtungen gekommen. Soweit die DDR entsprechende Verpflichtungen ruhen ließ, stornierte oder kürzte, berief sie sich-wie interessanterweise zuvor bereits das nationalsozialistische Deutschland 106 - nicht auf einen fehlenden Rechtsgrund für die Forderungen der Religionsgemeinschaften, sondern auf die „Knappheit der Mittel". Dies war faktisch ausreichend, weil den Kirchen der Rechtsweg zur Durchsetzung ihrer Forderungen verschlossen war, 107 ohne indessen de iure den kirchlichen Zahlungsanspruch anzutasten. Die Kirchen ihrerseits waren klug genug, nicht auf vorbehaltloser Einhaltung der Zahlungsverpflichtungen zu bestehen, sondern sich mit dem zu begnügen, was die DDR ab Juni 1953 ab der Proklamation des „Neuen Kurses" - zu zahlen geneigt war, um zu verhindern, daß diese rein formal alle Verpflichtungen kraft Gesetzes für erloschen erklärte. Auch dies ist ein Beleg dafür, daß es der DDR nicht gelungen ist, die in Anspruch genommene Totalität gegenüber der Kirche durchzusetzen, was sich als Katalysator für den Untergang der DDR erwies.

Dabei blieb es im Kern bis zur Wiedervereinigung. Entscheidend daran ist, daß die DDR als Einheitsstaat und mithin einzig möglicher (Nachfolge-)Schuldner der überkommenen Staatsleistungen an die Kirchen diese nicht abschaffte und die Kirchen ihrerseits formal auf ihren Rechtsansprüchen beharrten, auch wenn sie diese nicht mit Nachdruck einzutreiben versuchten. Sie verhinderten damit immerhin eine ablösende Regelung ebenso wirksam wie die Entstehung entgegenstehenden Gewohnheitsrechts. 6. Wegfall durch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland a) Grundüberlegung Die staatskirchenrechtlichen Regelungen der Weimarer Reichsverfassung hat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 im Ergebnis unverändert als „fortgeltendes vollgültiges Verfassungsrecht" 108 übernommen. Dies betrifft insbesondere die vorstehend bereits in ihrer wesentlichen Bedeutung für den Fortbestand der Patronatspflichten dargelegten Art. 137 106

Vgl. insoweit BVerfGE 6, 309 (334 ff.).

107

Vgl. Oberstes Gericht der DDR in Zivilsachen, OGHZ 2 (1954), 155 f.

108

BVerfGE 19, 206 (219); 57, 220 ff.

302

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und 138 Weimarer Reichsverfassung. Diese an sich irreguläre Inkorporation aus Vorschriften einer explizit gerade nicht mehr geltenden Verfassung ist um so überraschender, als im Parlamentarischen Rat zunächst Einmütigkeit darüber bestand, daß das Staatskirchenrecht Ländersache sein sollte. 109 Deshalb wollte auch noch der Herrenchiemseer Verfassungskonvent in Art. 6 (nur) die ungestörte Religionsausübung gewährleisten, sich aber ansonsten jeglicher staatskirchenrechtlicher Regelungen und Gewährleistungen enthalten. Hiergegen wandten sich jedoch die evangelischen Landeskirchen und die katholischen Bischöfe Deutschlands, die durch Eingaben vom Oktober und November 1948 insbesondere die Garantie der kirchlichen Selbstbestimmung und eine Sicherung der Vermögensrechte der Kirchen als Teil der Verfassung verwirklicht sehen wollten. Nachdem es über diese Frage zu längeren Auseinandersetzungen gekommen110 und ein Kompromiß über eine entsprechende Verfassungsregelung nicht in Sicht war, einigte man sich auf die Beibehaltung der staatskirchenrechtlichen Aussagen der Weimarer Reichsverfassung, die über Art. 140 GG in das Grundgesetz Eingang fanden und so die Vermögensbeziehungen von Bund und Ländern zu den Religionsgemeinschaften jedenfalls legislativ „fossilierten". 111 Die Bestätigung und der verfassungskräftige Schutz der — wie gezeigt auch kommunalen - Kirchenbaulasten durch Art. 138 II Weimarer Reichsverfassung ist damit auch heute geltendes Verfassungsrecht. b) Kommunale Kirchenbaulasten als Verstoß gegen andere Schutznormen des Grundgesetzes Es stellt sich daher allenfalls die Frage, ob kommunale Kirchenbaulasten vielleicht wegen Verstoßes gegen andere Vorschriften des Grundgesetzes als in ihrem Fortbestand verfassungswidrig anzusehen sind und ob dies deshalb zur Annahme ihres Erlöschens zwingt. Insoweit werden immer wieder Verstöße der fortgeltenden Kirchenbaulasten gerade der Städte und Gemeinden gegen Vorschriften des Grundgesetzes unter mehreren Aspekten streitig diskutiert. aa) Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierte kommunale Selbstverwaltung Ob durch kommunale Kirchenbaulasten, die entweder auf vertraglichem oder ortsgewohnheitsrechtlichem Patronat gründen, überhaupt ein Eingriff in die 109 Vgl. dazu genauer Badura, Staatskirchenrecht als Gegenstand des Verfassungsrechts, in: Listl/Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1994, S. 211 ff. (236 f.). 110 Vgl. zu den Diskussionen in dieser Frage ausführlich Badura, (Fn. 109), S. 211 ff. (236 f.) mit umfangreichen w.N. 1,1

Ausdruck von Isensee, Staatsleistungen (Fn. 8), S. 1050.

Staatskirchenrecht

Städtische Patronate in den neuen Bundesländern

303

verfassungsrechtlich durch Art. 28 II 1 GG garantierte kommunale Selbstverwaltung begründet werden kann, erscheint schon vom Grundansatz her sehr fraglich. Denn sowohl die zugrundeliegende vertragliche oder örtlich-gewohnheitsrechtliche Verpflichtung beruht ja gerade auf gemeindeeigenem, d.h. von dem autonomen Verband der örtlichen Gemeinschaft mit Wirkung für den örtlichen Bereich gesetzten Recht. Hiermit macht die Gemeinde aber gerade von ihrem Recht Gebrauch, ihre Angelegenheiten im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln. Es handelt sich also um eine Last, die die Gemeinde sich selbst in ihrem Recht auferlegt. Ob es daher schon nach Überlegungen der Logik möglich erscheint, durch eigenes autonom rechtssetzendes Handeln der Gemeinde in späteren Zeiten in eben diesem Handeln einen Eingriff in ihr Selbstverwaltungsrecht zu erblicken, muß sehr zweifelhaft erscheinen. 112 Vielmehr ist mit dieser Garantie kein Schutz der Gemeinde vor sich selbst und ihrem eigenverantwortlichen Handeln in früheren Zeiten, sondern wohl nur gegenüber einengender Gesetzgebung durch Bund oder Länder gemeint. 113 Selbst wenn man sich aber darüber noch hinwegsetzen wollte, würde eine solche Auslegung auch die Reichweite des Art. 28 GG übersteigen. Denn diese Norm soll die Gemeinde in ihrer administrativen und finanziellen Eigenständigkeit gegenüber der unmittelbaren Staatsgewalt schützen, kann sie aber nicht von (selbst) rechtswirksam eingegangenen Verbindlichkeiten gegenüber Dritten befreien, selbst wenn dadurch die finanzielle Handlungsfreiheit im Kern berührt würde. Insoweit steht die Gemeinde nicht anders als jeder Bürger in der vertraglichen Verantwortung des „pacta sunt servanda". 114 Ob diese Beurteilung dann zu ändern ist, wenn der betroffenen Gemeinde eine nach früherem Recht mögliche Abkehr von diesen Verpflichtungen durch eine landes- oder bundes(hier: reichs-)rechtliche Regelung, vorliegend in Gestalt der Bestandsgarantie des Art. 138 Weimarer Reichsverfassung aus der Hand genommen wird, erscheint sehr zweifelhaft, kann hier aber schon deshalb offengelassen werden, weil sich die Patronatsherren auch nach früherem Recht nicht einseitig wirksam von ihren Verpflichtungen hätten lösen können, sondern dazu stets eine Ablösungsvereinbarung mit der betreffenden Kirche nötig gewesen wäre. Dieser Weg aber steht auch heute noch offen.

Somit bleibt als Zwischenergebnis festzuhalten, daß der Fortbestand der durch Art. 140 GG gesicherten altrechtlichen kommunalen Kirchenbaulasten selbst dann nicht als verfassungswidriger Eingriff in die Selbstverwaltungsgarantie des Art. 28 II GG qualififiert werden kann, wenn die dazu aufzubringenden Geldmittel eine erhebliche Mittelbindung bei den patronatslastigen Städten und Gemeinden bewirken und damit deren finanzpolitischer Freiraum erheblich eingeschränkt würde. 115 1,2

Zweifelnd auch BVerwG, DVB1. 1979, 116 ff. (117).

113

So auch Stern , in: BK, Art. 28 Rn. 113 (116 ff.) und Lindner , Baulasten (Fn. 5), S. 189 f. 114 Im Ergebnis ebenso Wiesenberger DÖV 1983, 28 ff. (30).

(Fn. 22), S. 185 ff.; Rüfner , Anm. zu NRW VerfGH,

304

Ralph Weber bb) Verstoß gegen Art. 3 G G

A u c h ein Verstoß gegen Art. 3 G G w i r d bei der Aufrechterhaltung der Zahlungspflichten aufgrund kommunaler Patronate in mehrerer Hinsicht diskutiert, die jedoch - u m das Ergebnis bereits vorwegzunehmen - allesamt nicht stichhaltig sind. Dies betrifft z u m einen den Einwand, daß derartige Patronate von solchen Städten übernommen wurden, die nicht in gleicher Weise wie die unmittelbar der Landesherrschaft unterstehenden Städte zu Abgaben herangezogen und damit finanziell besser gestellt waren. So besaß etwa die Hansestadt Rostock aufgrund ihrer Sonderstellung außerhalb der Landstände erhebliche eigenständige Einnahmequellen (insbesondere aus dem Z o l l - und Hospitalienwesen) und landesherrliche Privilegien sowie Steuerbefreiungen, die eine i m Vergleich zu vielen anderen Städten ungleich bessere Finanzausstattung der Stadt erlaubten. So war Rostock seit der „Convention zwischen Herzog Christian Ludwig und der Stadt Rostock" aus dem Jahre 1748 Jetzt und künftig von allen ordinairen und extraordinairen Landes-Kontributionen, Reichs-, Crayss-, Fräulein- und Türkensteuem, von Fortifications- und Legationskosten und Kammer-Zielern, auch von dem Beytrag der Landes-Defension, mithin von allen anderen Abgiften und Anlagen zur Regulierung der hypothecierten Aemter und Abtragung anderer des herzoglichen Hauses oder LandesSchulden, wie sie Namen haben, oder etwa erdacht werden und entstehen mögen" befreit. Zudem erhielt die Stadt Rostock ab 1788 regelmäßig wiederkehrende feste Einnahmen aus den Überschüssen einer landesherrlichen Lotterie. Seit dem 19. Jahrhundert wurden diese besonderen Einnahmequellen der Stadt zwar immer mehr beschränkt und eingeengt. So verzichtete die Hansestadt Rostock durch Vergleich mit dem Großherzog Friedrich Franz vom 14. März 1827 auf die meisten der oben erwähnten Privilegien, blieb dafür aber von der ordentlichen Landescontribution befreit und erhielt für diesen Verzicht fest planbare regelmäßige finanzielle Ablösezahlungen seitens des Landes. Mit dem Beitritt zum mecklenburgischen Zollsystem durch Vereinbarung mit der „Allerhöchsten Landesherrschaft" vom 7. März 1863 verzichtete die Hansestadt Rostock auch noch auf die Erhebung der Accise, das Brückengeld, den Dammzoll und das Sperrgeld, erhielt aber auch dafür regelmäßig wiederkehrende und damit planbare Ablösezahlungen aus der großherzoglichen Kasse. Mit dem Beitritt zu der neuen Steuergesetzgebung durch Vereinbarung zwischen der „Allerhöchsten Landesherrschaft" und der Hansestadt Rostock vom 28. Juli 1870 verzichtete letztere schließlich auch noch auf die Handelssteuer und weitere städtische Hebungen, blieb dafür jedoch von der Zahlung der Contribution auf Häuser und Ländereien befreit und erhielt weitere Ablösezahlungen. Im Jahre 1904 schließlich verzichtete die Stadt Rostock in einem Staatsvertrag zwischen der mecklenburgischen und der preußischen Regierung auch auf die 1788 begründeten Lotterierechte, ebenfalls wiederum gegen eine jährliche Ablösezahlung. Trotz des weitgehenden Wegfalls ihrer Privilegien im Verlaufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts blieb die finanzielle Sonderstellung der Stadt Rostock gegenüber anderen Städten auf der Einnahmenseite infolge der haushaltstechnisch zudem besser planbaren und damit einsetzbaren - jährlichen Ablösezahlungen zumindest bis zum Jahre 1918 weitgehend erhalten. 1,5

BVerwG, ZevKR 24 (1979), 398 ff.; ZevKR 29 (1984), 626 ff. (627).

Städtische Patronate in den neuen Bundesländern

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Da all diese Besserstellungen aufgrund der gleichen Verteilung des Steueraufkommens zwischen Bund, Ländern und Gemeinden heute nicht mehr existieren, komme es zu einer angeblichen Ungleichbehandlung mit den Gemeinden, in denen Kirchenbaulastzahlungen nicht anfallen. Diese Argumentation ist indessen unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 GG nicht stichhaltig. Denn dieses Grundrecht verbietet damit nur willkürliche Ungleichbehandlung.116 Da aber für diese anderen Gemeinden niemals eine Kirchenbaulastverpflichtung bestand, kann in deren fehlender finanziellen Belastung nach der Neuregelung keine Ungleichbehandlung, sondern vielmehr nur die konsequente Fortentwicklung des bereits früher bestehenden Zustandes gesehen werden. Nicht der rechtliche Status der einzelnen Gemeinden ist also der Grund für deren unterschiedliche Belastung mit Kirchenbaulastverpflichtungen, sondern die unterschiedlichen Voraussetzungen sind es, die zudem noch von den betroffenen Gemeinden in früherer Zeit selbst gesetzt wurden und die die Gemeinden daher in sich tragen, die hier die sachliche Ungleichheit bedingen. Dies gilt aber ebenso in Hinblick auf den staatskirchenrechtlichen Grundsatz der Parität. Zwischen den verschiedenen „Religionsparteien" des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation galt es nach den „Reichsgrundgesetzen" des Augsburger Religionsfriedens von 1555 und des Westfälischen Friedens im Jahre 1648 Parität zu schaffen und zu wahren. 117 Dieses Paritätsdogma entwikkelte sich zu einem allgemeinen Grundsatz des Staatskirchenrechts 118 und fand seither seinen Niederschlag in den deutschen Verfassungen. 119 Zwar wird der Begriff der Parität im Grundgesetz selbst nicht verwendet, jedoch wird als normative Grundlage des Paritätsgrundsatzes des Staatskirchenrechts heute allgemein Art. 3 I GG angesehen.120 Diesem Begriff wohnt daher die notwendige inhaltliche Unbestimmtheit des allgemeinen Gleichheitssatzes ebenso inne, 121 so daß schon aus diesem Grunde ein vorsichtiger Umgang mit der Behauptung angeblicher Verfassungsverstöße wegen paritätswidriger Leistungen angezeigt erscheint. Dennoch aber wird zum Teil 122 vertreten, daß auch bei den von alters her bestehenden Verpflichtungen der Gemeinden zur Kirchenbaulast ein Ver116

BVerfGE 3, 58 ff. (135); 4, 144 ff. (155), seitdem st. Rspr.

117

Auf die rechtsgeschichtlich umstrittene Frage, ob die Parität bereits im Augsburger Religionsfrieden oder erst im Westfälischen Frieden voll verwirklicht wurde, ist hier nicht näher einzugehen. 118

Vgl. dazu genauer Badura , Staatskirchenrecht (Fn. 109), S. 234 f.

119

Vgl. wegweisend die Verfassung des Deutschen Reiches vom 28.3.1849, deren § 147 II lautete: „Keine Religionsgemeinschaft genießt vor anderen Vorrechte durch den Staat." 120

Vgl. BVerfGE 19, 1 ff. (8 f.); BVerfGE 19, 129 ff. (134 f.); BVerfGE 24, 236 ff. (246); BVerfGE 38, 76 ff. (80). 121 Vgl. dazu Heckel, Parität, ZRG KA 80 (1963), 241 ff., sowie Maunz, (unveröff.) Rechtsgutachten über die Verfassungsmäßigkeit des Bestandes von Kirchenbaulasten politischer Gemeinden, 1970, S. 11. 122

So insbesondere OVG Münster, ZevKR 12 (1966/67), 274 ff. (275 f.).

20 GS Jeand' Heur

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stoß gegen diesen Paritätsgedanken und damit gegen Art. 3 GG vorläge, wenn diese in ihrem Anwendungsbereich jeweils nur eine Konfession begünstigten. Richtig ist daran aber nur, daß allein die Berufung auf die Tradition eine vor dem Grundgesetz beachtliche Ungleichbehandlung nicht rechtfertigen kann. 123 Dies führt aber nicht zu dem vom OVG Münster für richtig befundenen Ergebnis eines Verfassungsverstoßes derartiger fortbestehender Kirchenbaulasten als Verletzung des Paritätsgrundsatzes. 124 Denn zum einen kann hier nicht die je einzelne Belastung der Gemeinden isoliert betrachtet werden, sondern es muß vielmehr eine Gesamtschau der globalen Kirchenbaulastberechtigten erfolgen 125 - insoweit aber werden sich die Leistungen an die beiden großen Kirchen in etwa (exakt wird dies kaum zu bestimmen sein) die Waage halten und beide daher in etwa gleich begünstigt. Es handelt sich damit um die Wahrung der hier ausreichenden sogenannten reziproken Gleichheit, so daß die Kirchenbaulasten insgesamt einen bekenntnisneutralen Anwendungsbereich aufweisen. Schon dies aber schließt nach richtig verstandenem Paritätsgebot einen Verstoß gegen Art. 3 GG (in Verbindung mit Art. 140 GG, 137 I Weimarer Reichs Verfassung) aus. 126 Daran kann auch eine soziologische Verschiebung des Beziehungssystems zwischen Kirche und Staat seit den Tagen der Weimarer Reichsverfassung nichts ändern, zumal das Bundesverfassungsgericht gerade die „religiöse und konfessionelle Neutralität des Staates" als eine grundlegende Gemeinsamkeit der Bundesrepublik Deutschland mit der Weimarer Republik bezeichnet hat. 127 Auch heute wird zu Recht nicht an eine paritätswidrige Privilegierung gedacht, wenn Bund, Länder oder Gemeinden Verträge mit einer einzelnen Religionsgemeinschaft abschließen, wenn und soweit es mit dieser besondere Rechtsverhältnisse zu regeln gibt, während es für vergleichbare Verträge mit anderen Religionsgemeinschaften nach Zielsetzung oder Tätigkeit keine Basis gibt. 128

Vor allem aber ist zu berücksichtigen, daß Art. 3 I GG zwar den normativen Anknüpfungspunkt des staatsverfassungsrechtlichen Paritätsgebotes bildet, 129 über Art. 140 GG aber eben auch die spezielleren Paritätsregelungen der Weimarer Reichsverfassung und die hierzu ausgebildete allgemeine Paritätsüberzeugung ebenfalls Teil dieses verfassungskräftigen Gebotes geworden sind, 130 die zugleich zu einer Konkretisierung und Begrenzung des allgemeinen Gleich123

Vgl. grundlegend BVerfGE 19, 1 ff. (11).

124

So aber OVG Münster, ZevKR 12 (1966/67), 274 ff. (276 f.).

125

Vgl. Hesse, Schematische Parität der Religionsgemeinschaften nach dem Bonner Grundgesetz, ZevKR 3 (1954), 188 ff. 126 So zutreffend BVerwGE 38, 76 ff. (78, 80); kritisch aber Lindner, Baulasten (Fn. 5), S. 181 f. 127

Vgl. BVerfGE 18, 385.

128

Daraufhat bereits Maunz, Rechtsgutachten (Fn. 121), S. 12 zutreffend hingewiesen.

129

BVerfGE 19, 1 ff. (6 ff.); BVerwGE 38, 76 (80).

130

Dazu entgegen der h.M. kritisch Obermayer, in: BK, Art. 140 Rn. 87.

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heitssatzes aus Art. 3 I GG hinsichtlich der Ausgestaltungen der Parität fuhren. 131 Insoweit aber sind die zumindest durch Art. 138 II Weimarer Reichsverfassung geschützten Kirchenbaulasten als Teil des kirchlichen Vermögens in ihrem Bestand garantiert und konkretisieren damit zugleich Art. 3 I GG dahingehend, daß jedenfalls diese verfassungskräftig garantierten bestehenden Baulasten nicht wiederum wegen eines angeblichen Paritätsverstoßes an Art. 3 I GG scheitern können. 132 Gerade diese Argumentation ist wegen Art. 140 GG ausgeschlossen.133 Zum Teil wird des weiteren gegen die Fortgeltung patronatischer kommunaler Baulastverpflichtungen vorgebracht, durch diese würden infolge der zunehmenden konfessionellen Durchmischung der Bevölkerung und dem damit einhergehenden Auseinanderfallen von politischer Gemeinde und Kirchengemeinde immer mehr Bürger bei den Zahlungen aus der Gemeindekasse (mittelbar) mit Zahlungen an eine fremde Konfession belastet, da die Gemeinde diese Beträge aus ihrem Haushalt, in erster Linie also aus dem allgemeinen Steueraufkommen zu bestreiten hat. 134 Denn Inhalt dieser verfassungskräftig garantierten negativen Religionsfreiheit sei auch eine „negative religiöse Finanzierungsfreiheit", 135 die verletzt werde, wenn immer mehr Bürger über ihre Steuern zu Leistungen an die Religionsgemeinschaften gezwungen werden, denen sie indifferend oder gar ablehnend gegenüberstehen. Auch dem kann indessen nicht beigetreten werden. Denn eine solche „negative religiöse Finanzierungsfreiheit" kann nur die unmittelbare Inanspruchnahme der Bürger für Leistungen an die Religionsgemeinschaften betreffen, wie aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Kirchensteuerproblematik überzeugend hervorgeht. 136 Dagegen wird über die Verwendung allgemeiner staatlicher und gemeindlicher Steuereinnahmen stets durch die zuständigen staatlichen oder gemeindlichen Organe entschieden, ohne daß der einzelne Steuerbürger hierauf unmittelbar - auch nicht durch die Rüge einer Verletzung von Art. 3 oder 4 GG - Einfluß nehmen kann. 137 Hier anders zu entscheiden, hieße das gesamte öffentliche Finanzierungssystem in Frage zu stellen. 138

131

Wiesenberger , Kirchenbaulasten (Fn. 22), S. 161 f.

132

Im Ergebnis ähnlich schon Maunz, Rechtsgutachten (Fn. 121), S. 5.

133

Ebenso schon BVerwG, DVB1. 1979, 116; ZevKR 29 (1984), 626 (627).

134

Zustimmend OVG Münster, ZevKR 12 (1966/67), 274 ff. (279).

135

OVG Münster, ZevKR 12 (1966/67), 274 ff. (279).

136

Vgl. BVerfGE 19, 206 ff.; 19, 226 ff.; 19, 268 ff.; 20, 40 ff., seitdem st. Rspr.

137

Vgl. neuerdings BVerfG, NJW 1993, 455 f.

138

Ebenso Lindner , Baulasten (Fn. 5), S. 172 f.

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7. Wegfall durch den „Güstrower" Staatskirchenvertrag vom 20. Januar 1994 Aufgrund der Ausarbeitungen einer gemeinsamen Arbeitsgruppe „Staatsleistungen" unter Federführung des Kultusministeriums des Landes Mecklenburg-Vorpommern unter Beteiligung des Innen-, Finanz- und Justizministeriums sowie der beiden Kirchen (der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Mecklenburgs und der Pommerschen Evangelischen Kirche) 139 ist eine Stellungnahme zustandegekommen, die Grundlage der beiden Verhandlungsdelegationen für die Formulierung des Güstrower Staatskirchen Vertrages 140 vom 20. Januar 1994141 und dort insbesondere des hier einschlägigen Art. 13 dieses Vertrages geworden ist. Dieser lautet: An die Stelle aller bisherigen kirchlichen Ansprüche aus den staatlichen Patronaten tritt eine hälftige Beteiligung des Landes an den Baulasten solcher kirchlichen Gebäude, die bislang dem Patronat unterstanden.

Damit wird schon im Wortlaut deutlich nur von den staatlichen Patronaten gesprochen, d.h. solcher Patronatsverpflichtungen, die an die Stelle der früheren landesherrlichen Patronate getreten sind. Diese aber sind von den kommunalen Patronaten ebenso wie von den rein privaten Patronaten gutsherrlicher Familien schon von je her unterschieden worden. Zwar gibt es gewisse Anhaltspunkte dafür, daß die Landesregierung bei der Aushandlung und Abfassung dieses Vertrages der (irrigen) Meinung war, daß sämtliche und damit eben auch die kommunalen Patronate in Mecklenburg-Vorpommern durch diesen Staatskirchenvertrag abgegolten sein sollten.142 Dem würde auch eine entsprechende Länderkompetenz zum Vertragsabschluß zur Seite stehen, da sich diese nicht nur auf die eigenen Verpflichtungen des Landes, sondern auch auf die Verpflichtungen der Verwaltungssubjekte erstreckt, die ihrer Hoheitsgewalt unterliegen, also gerade auch der kommunalen Gebietskörperschaften. Einer solchen Auslegung trat jedoch der Kirchenreferent im Kultusministerium von Anfang an entgegen und betonte, daß nur die landesherrlichen Patronate als mit diesem Vertrag abgelöst angesehen werden können.

Angesichts des Gleichlaufs der in diesem Vertrag verwendeten Formulierung mit der Terminologie der Regelungen in Art. 138 der Weimarer Reichsverfassung und der auch sonst strengen Trennung zwischen landesrechtlichen und 139

Vgl. zum hier nicht weiter interessierenden Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Mecklenburg-Vorpommern vom 15.9.1997 (GVB1. 1997 S. 2 ff.) nur Kremser, Der Vertrag zwischen dem Hl. Stuhl und dem Land Mecklenburg-Vorpommern, LKV 1998, 300 ff. 140 Vgl. zur rechtsdogmatischen Einordnung solcher Verträge Renck, Der sogenannte Rang der Kirchenverträge, DÖV 1997, 929 ff. 141 Vgl. GVOB1. M-V 1994, 560 ff. und dazu von Campenhausen, Der Güstrower Vertrag - ein Schritt zur Normalisierung des Verhältnisses von Kirche und Staat, LKV 1995, 233 ff. 142 Vgl. die Aktennotiz des Oberbürgermeisters der Hansestadt Rostock über ein Gespräch mit dem Staatssekretär im Kultusministerium, Herr de Maiziere, vom 23.6.1994.

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kommunalen Bereichen vermag eine Einbeziehung auch der kommunalen Patronate unter diese Regelung nicht überzeugen. Hinzu tritt erschwerend, daß in der Begründung der Landesregierung zu dem Vertragsgesetz ausdrücklich festgestellt wird (S. 7), daß „eventuelle Verpflichtungen Dritter aus Patronaten hierdurch nicht berührt werden". Dies läßt sich unschwer gerade auch für das Bestehenbleiben der kommunalen Patronatsverpflichtungen in Ansatz bringen. Entsprechend wirkt auch die authentische Interpretation dieses Vertragsteils durch ein Schreiben des insoweit zuständigen Innenministers des Landes Mecklenburg» Vorpommern (vom 21. Juli 1995) an den Städte- und Gemeindetag Mecklenburg-Vorpommerns, worin ausdrücklich betont wird, daß bei der Behandlung der Patronate „eine grundsätzliche Trennung der Zuständigkeiten bei staatlichen und städtischen Patronaten beachtet werden muß". Dieser Ansicht ist auch einer der Mitgestalter dieses Vertrages, der sich hierzu literarisch geäußert hat. 143 Selbst wenn also seitens der Landesregierung bei der Vertragsabfassung ein entsprechender Irrtum über die Einbeziehung auch der kommunalen Patronate vorgelegen haben sollte, wird dieser von den zuständigen Stellen nunmehr in Abrede gestellt und die gewählte Formulierung als bewußt verwendet dargelegt, damit aber ist die Argumentationsbasis für einen Einbeziehungswillen auch der städtischen Patronate durch die Landesregierung entfallen und eine Neuverhandlung wegen Dissens nicht durchsetzbar.

Mithin hat auch der „Güstrower" Staatskirchenvertrag die kommunalen Kirchenbaulasten in toto und damit auch die patronatisch begründeten Kirchenbaulasten der Hansestadt Rostock in ihrem Bestand unberührt gelassen. V. Rechtliche Einwendungen gegen die dem Grunde nach bestehenden Patronatsverpflichtungen in den neuen Bundesländern wegen grundlegender Änderung der Verhältnisse? 1. Grundüberlegung Grundsätzlich verlangt die Sicherheit des Rechtsverkehrs, daß bestehende Ansprüche und Verpflichtungen auch dann aufrechterhalten bleiben, wenn sich die zugrundeliegenden Sachverhalte ändern. Erst recht muß dies bei normativ begründeten Ansprüchen und solchen Dauerschuldverhältnissen gelten, die ihrem Wesen nach auf eine lange Laufzeit angelegt sind, da hier gerade wegen des von Anfang an einbezogenen langen Zeitraums der Norm- bzw. Vertragsgeltung mit Änderungen der zugrundeliegenden Sachverhalte in gewissen Maße stets zu rechnen ist. Ob deshalb aber der gemeinrechtliche Grundsatz „cessante ratione legis cessat lex ipsa"144 im modernen Gesetzesstaat tatsächlich nicht mehr anwendbar ist, 145 mag bei 143

Vgl. von Campenhausen, Güstrower Vertrag (Fn. 141), 233 ff.

144

Dazu ausführlich Löwer , Cessante ratione legis cessat lex ipsa, Berlin 1989.

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einer festzustellenden wesentliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse zweifelhaft erscheinen, kann hier im Ergebnis aber durchaus dahinstehen. Denn ebenso ist es heute anerkannt, daß zumindest bei so wesentlichen und fur alle Beteiligten bei Eingehung der Verpflichtung bzw. beim Erlaß der N o r m nicht vorhersehbaren tatsächlichen Änderungen, die den Sinngehalt der Regelung in Frage stellen und deshalb den elementaren Forderungen ausgleichender Gerechtigkeit eklatant widersprechen, eine unveränderte Fortschreibung derart unhaltbar gewordener Zustände nicht mehr zumutbar ist. Dieser allgemeine Rechtsgedanke w i r d heutzutage durch die vertragsrechtliche Lehre von der Clausula rebus sie stantibus 1 4 6 oder dem Institut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage 1 4 7 ausgedrückt 1 4 8 und hat nahezu allgemeine Anerkennung gefunden. Die früher i m Mittelpunkt einer lebhaften Auseinandersetzung stehende Frage, ob diese Grundsätze auch für öffentlich-rechtliche Verträge 1 4 9 und auch auf normative Leistungsverpflichtungen Anwendung finden können, wurde mittlerweile v o m Bundesverwaltungsgericht grundsätzlich bejaht. 1 5 0 Schon daher kann es auch für diese Erörterung hier im Ergebnis offengelassen werden, ob die fragliche patronatische Kirchenbaulast der Städte und Gemeinden aufgrund ihrer geschichtlichen Entstehung allein vertragsrechtlich begründet sind und somit den Grundsätzen der clausula rebus sie stantibus bzw. den Regelungen zum Wegfall der Geschäftsgrundlage ohnehin unterfallen würden oder wegen der langjährigen praktischen Anerkennung als örtliches Gewohnheitsrecht (Observanz) einzustufen odej wegen un145

So Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 351.

146

Friedberg, Die Möglichkeitrichterlicher Vertragsänderung auf Grund der clausula rebus sie stantibus, Diss. Stettin 1923; Krückmann, Clausula rebus sie stantibus, Kriegsklausel, Streitklausel, AcP 116 (1918), 157 ff.; Schoop, Die clausula rebus sie stantibus in der Zivilgesetzgebung des deutschen Sprachkreises, 1927; Stahl, Die sog. clausula rebus sie stantibus im BGB, 1909. 147

Vgl. dazu grundlegend Beuthien, Zweckerreichung und Zweckstörung im Schuldverhältnis, 1969; Esser, Fortschritte und Grenzen der Theorie von der Geschäftsgrundlage, JZ 1958, 113 ff; Häsemeyer, Geschäftsgrundlage und Vertragsgerechtigkeit, in: Festschrift für Wilhelm Weitnauer, 1980, S. 67 ff.; Hilger, Vertragsauslegung und Wegfall der Geschäftsgrundlage, in: Festschrift für Karl Larenz, 1983, S. 241 ff; Köhler, Unmöglichkeit und Geschäftsgrundlage bei Zweckstörungen im Schuldverhältnis, 1971; Medicus, Vertragsauslegung und Geschäftsgrundlage, in: Festschrift für Werner Flume, Bd. I, 1978, S. 629 ff.; Nipperdey, Vertragstreue und Nichtzumutbarkeit der Leistung, 1921; RGZ 1, 109; 94, 65; 105, 406; 141, 212; 147, 286; BGH zuerst in: NJW 1951, 603, seitdem st. Rspr. 148 Die vor allem entstehungsgeschichtlich problematische Unterscheidung beider Institute (vgl. dazu BVerfGE 34, 216 [229 ff.]) spielt vorliegend keine Rolle; beide Begriffe werden deshalb im folgenden synonym verwendet. 149 Littbarski, Der Wegfall der Geschäftsgrundlage im öffentlichen Recht, 1982; Stern, Die clausula rebus sie stantibus im Verwaltungsrecht, in: Festschrift für Paul Mikat, 1989, S. 775 ff; Tober, Die „clausula rebus sie stantibus" bei verwaltungsrechtlichen Verträgen, 1970. 150 BVerwGE 28, 179 ff. (183); kritisch weiterhin Scheuner, Schriften zum Staatskirchenrecht, 1973, S. 263 ff. und Weidemann, Anmerkung zur Entscheidung des BVerwG vom 23.4.1971 - VII C 4/70, DVB1. 1972, 334 (336), die ihre Gegenansicht unzutreffend als einhellige Meinung bezeichnen.

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vordenklichen Herkommens heute normativ begründet oder jedenfalls normativ überwölbt sind. Denn auch dann findet - wie gezeigt - dieser Grundsatz schon deshalb ebenfalls Anwendung, weil auch eine solche normative Erhöhung an der im Kern vertragsrechtlichen Grundlage der Verpflichtung nichts ändert. 151

Letztlich kann und soll es hier aber offenbleiben, ob das konkrete Anpassungsbegehren auf die clausula rebus sie stantibus, die Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage oder auf § 60 VwVfG gestützt werden soll. Dem allen liegt nämlich der einheitliche rechtsstaatliche Grundgedanke, den schon die Pandektenwissenschaft 152 prägte, zugrunde, wonach in den Fällen, in denen sich die Verhältnisse, die für die Festsetzung des Vertragsinhalts eines Dauerschuldverhältnisses maßgebend gewesen sind, seit dem Abschluß des Vertrages so wesentlich und für die Vertragsparteien nicht vorhersehbar geändert haben, daß das Gleichgewicht zwischen Leistung und Gegenleistung so erheblich gestört ist, daß einer Vertragspartei ein Festhalten an der ursprünglichen vertraglichen Regelung nicht mehr zuzumuten ist, dieser ein Ausbrechen aus der vertraglichen Bindung ermöglicht werden muß. 153 Diesen gemeinsamen Grundgedanken hat auch das Bundesverfassungsgericht (auf der Grundlage der clausula rebus sie stantibus) als eine allgemeine Rechtsregel bezeichnet, die in den verschiedensten Rechtsgebieten in unterschiedlichster Ausprägung Anwendung findet und als Ausnahmeregelung zu dem ebenfalls allgemeinen Rechtssatz „pacta sunt servanda" anzusehen ist. Danach kommt diesem allgemeinen Lösungsgedanken der Rang eines ungeschriebenen Verfassungssatzes zu. 154 Tatsächliche Voraussetzung ist aber eine während der Geltungsdauer der Verpflichtung eingetretene, nicht vorhersehbare und so wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, daß ein Festhalten an der bisherigen Regelung für mindestens eine der Parteien unzumutbar wäre und dem korrespondierend seitens der begünstigten Partei als unzulässige Rechtsausübung erscheint. Insoweit stellt die Rechtsprechung wegen der grundsätzlichen Verbindlichkeiten des gesetzten Rechts ebenso wie vertraglicher Regelungen zu recht hohe Anforderungen. Anerkannt wird dies im wesentlich einmal dann, wenn eine vorausgesetzte grundsätzliche Gleichwertigkeit von gegenseitigen Rechten und Pflichten durch eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse verloren gegangen ist (sogenannte Äquivalenzstörung) oder zum anderen, wenn die Erreichung des ursprünglich vorgestellten Zwecks der Regelung durch geänderte Verhältnisse weitgehend oder gänzlich unmöglich geworden ist (sogenannte Zweckvereite151

Ebenso Albrecht , Patronatswesen (Fn. 14), S. 179 f.

152

Vgl. etwa von Wächter , Pandekten, Bd. I, 1880, S. 153 ff.

153 Vgl. zu den Wurzeln dieses Rechtsgedankens genauer Fikentscher , Die Geschäftsgrundlage als Frage des Vertragsrisikos, S. 1 ff. und MünchKomm/Zto/A, BGB, Bd. II, 2. Aufl. 1985, § 242 Rn. 469 ff. 154 BVerfG, NJW 1973, 609 ff. (610), und eingehend Groebe , Die clausula - ein ungeschriebener Bestandteil des Bundesverfassungsrechts, DöV 1974, 196 ff.

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lung). Entsprechendes gilt auch dann, wenn die der einen Seite obliegenden finanziellen Lasten durch eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse einen solchen Umfang angenommen haben, daß sie jedenfalls in der ursprünglich vorgesehenen Art dem Verpflichteten nicht mehr zugemutet werden können (sogenannte überobligationsmäßige Belastung). Diese Varianten der relevanten Verschiebungen zugrundeliegender tatsächlicher Verhältnisse können auch kumulativ auftreten und einander ergänzend zum Wegfall der Verbindlichkeit führen. Allerdings gilt es hier zu beachten, daß diese Lehre auch dann, wenn wegen einer Änderung der bei Vertragsschluß oder beim Normerlaß vorausgesetzten Verhältnisse einer Seite aus den genannten Gründen das Festhalten an den unveränderten Vertragspflichten unzumutbar wird, regelmäßig nicht zum gänzlichen Wegfall des Vertrages oder der Verpflichtungen führt, sondern nur zu einer Anpassung dieses Regelwerkes an die neue Lage zwingt, um das ursprünglich vorgesehene Äquivalenzverhältnis wieder herzustellen. Nur in besonders krassen Fällen, in denen eine inhaltliche Anpassung an die neuen Verhältnisse bei grundsätzlicher Beibehaltung des Regelungskerns nicht durchführbar ist, kann diese Änderung der tatsächlichen Verhältnisse auch zu einer Ablösung der Dauerverpflichtung durch eine einmalige Geldabfindung führen. 155 Gegen eine solche grundsätzliche Möglichkeit des Wegfallens der Patronatsverpflichtungen oder zumindest deren Anpassung (d.h. erhebliche Reduzierung) wegen grundlegend geänderter tatsächlicher Verhältnisse läßt sich auch die Schutzwirkung des Art. 138 Weimarer Reichsverfassung nicht mit Erfolg geltend machen. 156 Denn diese verfassungskräftige Schutzwirkung greift nur gegen konkrete hoheitliche (und insoweit als Teil der Staatsgewalt eben auch gemeindliche) Eingriffe ein, schützt jedoch nicht gegen das Erlöschen entsprechender Verpflichtungen aufgrund grundlegend geänderter tatsächlicher Verhältnisse.157 Insoweit liegt nämlich bereits kein Eingriff in das Eigentum oder eigentumsgleich gewährleistete Rechte vor, da derartige Erlöschenstatbestände jedweder Rechtsposition von Natur aus innewohnen und damit als Schranken des Eigentums oder eigentumsgleicher Berechtigungen anzusehen sind. 158 Deshalb unterläuft diese Ansicht auch keineswegs verfassungsrechtliche Garantien. 159

155

BVerfGE 34, 216 (232 f.).

156

Unzutreffend daher Scheuner, Fortfall (Fn. 6), 354.

157

So schon BVerwGE 25, 299 ff.; BVerwGE 28, 179 ff. (183); BVerwGE 38, 76 ff.; BVerwG, DVB1. 1979, 116; kritisch aber Baldus, Zur Baulast der politischen Gemeinden an Kirchengebäuden in Nordrhein-Westfalen, JR 1970, 52 ff. (55), und Scheuner, Fortfall (Fn. 6), S. 354. 158

Ähnlich BVerwGE 28, 179 ff. (183).

159

So aber Scheuner, Fortfall (Fn. 6), S. 353 ff.

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2. Tatsächliche Grundüberlegung Kommunale Kirchenbaulasten sind überwiegend in einer Zeit entstanden, in denen der Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat nicht nur rechtlich noch weitgehend unbekannt war, sondern auch faktisch nicht den realen gesellschaftlichen Verhältnissen entsprochen hätte, da Kirchengemeinde und politische Gemeinde noch (mindestens weitgehend) identisch waren, ja selbst der Gedanke an eine solche Trennung sich noch nicht ausgeprägt hatte, 160 und der Kirche eine bestimmende Bedeutung im öffentlichen- und damit gerade auch im gemeindepolitischen Leben zukam. Hinzu trat, daß damals auch eine Eigenfinanzierung der Kirche durch die Erhebung von Kirchensteuern weitgehend noch nicht eingeführt war. In all diesen Punkten haben sich Kirche und politische Gemeinde indessen mittlerweile weit auseinanderbewegt, so daß heute die Kirchengemeinde und die politische Gemeinde nicht mehr als nahezu identisch angesehen werden können. In den neuen Bundesländern ist sogar meist nur noch eine kleinere Minderheit der Gemeindeeinwohner zugleich Mitglied der Kirchengemeinde. In mindestens gleichem Ausmaß hat auch die politische und gesellschaftliche Bedeutung der Kirchen für das Gemeindeleben nachgelassen, und eine mittelbare Staatsfinanzierung der Kirchen findet überdies seit der Einführung des Kirchensteuerrechts ohnehin statt. Es fragt sich daher, ob nicht dies alles eine so wesentliche Änderung der Verhältnisse im Vergleich zu den Verhältnissen zur Zeit der Begründung der Kirchenbaulasten bewirkt hat, daß eine Fortsetzung oder zumindest unveränderte Aufrechterhaltung dieser kommunalen Lasten den Städten und Gemeinden heute rechtlich nicht mehr zumutbar ist. 161 3. Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse im einzelnen Zuzugeben ist kritischen Stimmen in der Literatur, 162 daß es sich bei der „völligen Veränderung der Verhältnisse" um keinen besonders prägnanten oder durch Begriffsschärfe imponierenden Rechtsbegriff handelt, daß hier vielmehr maßgebend auf die konkrete Einzelfallsituation abzustellen ist. Außerdem ist insoweit ein strenger Maßstab anzulegen.

160 Vgl. dazu Eichmann-Mörsdorf,\ Lehrbuch des Kirchenrechts auf Grund des CIC, Bd. II, 11. Aufl. 1967, S. 329 ff., wo nachgewiesen wird, daß sich der Prozeß der Trennung zwischen politischer Gemeinde und Kirchengemeinde erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts erkennen läßt. 161

Vgl. BVerwGE 28, 179 ff.

162

Vgl. etwa Weidemann , Anmerkung (Fn. 150), S. 336 m.w.N.

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a) Einführung

des Kirchensteuerrechts?

Fest steht heute grundsätzlich, daß allein durch die Einführung flächendekkender genereller Kirchensteuern (und damit auch nicht durch deren Wiedereinführung in den neuen Bundesländern) die bestehenden staatlichen und kommunalen Kirchenbaulasten keinesfalls quasi automatisch untergegangen oder durch diese Steuerberechtigung abgelöst worden sind. Denn dieser Gedankengang ist seit 1945 schon oftmals vorgetragen, stets aber von den Gerichten zurückgewiesen worden. 163 Ein solches Kompensationsgeschäft würde gegen die historischen Tatsachen gleichermaßen wie gegen Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 138 II Weimarer Reichsverfassung verstoßen. Denn obgleich Kirchensteuerrechte bereits seit deren erstmaliger Einführung in den reformierten Gemeinden der Rheinprovinz als Kirchengemeindesteuer und deren Anerkennung durch die für das Kirchenwesen wichtige Synode zu Emden im Jahre 1571 jedenfalls subsidiär bei unzureichenden sonstigen Einnahmen für ortskirchliche Bedürfnisse bekannt sind,164 stellen diese Berechtigungen lediglich eine Neuregelung hinsichtlich des kirchlichen Aufkommens und einen Ausgleich für in Wegfall gekommene andere Einnahmequellen und in Fortfall geratene Pfründe aus säkularisiertem Grundbesitz dar, durch welche fortbestehende Verpflichtungen Dritter nicht berührt werden. 165 Das hat auch schon das Preußische Oberverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung166 festgestellt.

Fraglich könnte allenfalls sein, ob sich gerade in Bezug auf die Patronate im Gebiete Mecklenburgs nicht deshalb etwas anderes ergibt, weil in den beiden mecklenburgischen Großherzogtümern ein kirchliches Besteuerungsrecht sowohl der evangelischen als auch der katholischen Kirche unbekannt geblieben ist und dies gerade damit begründet wurde, daß durch das „wohl ausgebildete Patronats- und Pfründewesen für die Deckung der kirchlichen Bedürfnisse in genügendem Maße gesorgt ist". 1 6 7 Diese finanzielle Sonder- und Besserstellung der mecklenburgischen Landeskirche und/oder der betroffenen Ortskirchen ist aber jedenfalls mit dem endgültigen Untergang des Ständestaates auch in Mecklenburg durch den Zusammenbruch des Jahres 1918 und die Ausbildung der auch in diesem Teil des Deutschen Reiches in Geltung gesetzten Weimarer Reichsverfassung weggefallen. Nunmehr galt auch hier uneingeschränkt das Staatskirchenrecht der Weimarer Verfassung mitsamt der Kirchensteuerberechtigung. Da also jedenfalls heute nicht mehr von einer solchen finanziellen Sonder- und Besserstellung der kirchlichen Versorgung ausgegangen werden kann, 163

Vgl. grundlegend BVerwGE 38, 76 ff.

164

Vgl. dazu Giese, Deutsches Kirchensteuerrecht, Stuttgart 1910, S. 26 f.

165

Ebenso Maunz, Rechtsgutachten (Fn. 121), S. 16 ff.

166

Vgl. nur PrOVGE 56, 821; ArchEvKR 1 (1937), 62 ff. (63); 4 (1940), 113 ff. (in Leitsatz 10). 167

Vgl. dazu Giese, Kirchensteuerrecht (Fn. 164), S. 199 f.

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ist auch kein Grund mehr ersichtlich, hinsichtlich der Frage der Zurechnung von Kirchensteueraufkommen im Lande Mecklenburg anders als anderswo in Deutschland zu verfahren. b) Änderung der konfessionellen

Zusammensetzung

Aber gerade auch in Hinblick auf die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung haben sich - insbesondere in den 40 Jahren „DDR" - wie überall in den neuen Bundesländern so auch im Bereich der Hansestadt Rostock grundlegende Veränderungen ergeben, die in Hinblick auf konfessionsgebundene patronatische Kirchenbaulastverpflichtungen sicherlich als Grundlage der historischen Vereinbarung nicht außer Betracht bleiben können. So hatte bereits 1971 das Bundesverwaltungsgericht einen Wegfall kommunaler Kirchenbaulasten wegen einer grundlegenden Veränderung der Verhältnisse bei einer erheblichen Verschiebung der konfessionellen Zusammensetzung für möglich gehalten. 168 aa) Innerkonfessionelle Verschiebungen Ob eine bloße Änderung der innerkonfessionellen Zusammensetzung der Gemeinden bei in etwa gleichbleibendem Grad der Kirchenanbindung überhaupt als eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, die der Patronatsverpflichtung stillschweigend zugrundeliegen, angesehen werden kann, 169 erscheint in dieser Allgemeinheit fraglich. Denn jedenfalls der Verfassungsgeber von 1949 konnte, nachdem die zunehmenden Bevölkerungsbewegungen seit Jahrzehnten bekannt und insbesondere die grundlegenden Umwälzungen der Bevölkerungsschichtung durch Flucht und Vertreibung seit 1945 in vollem Gange waren, kaum mehr von einem Fortbestand althergebrachter konfessioneller Homogenität der Städte und Gemeinden ausgehen, sondern mußte gerade auch in dieser Hinsicht eine gesellschaftliche Durchmischung beachten. 170 Wenn dennoch über Art. 140 GG die Staatsleistungen an die Religionsgemeinschaften im bisherigen Umfange festgeschrieben wurden, sollte dies kaum an den Fortbestand einer mehr oder minder bestehenden konfessionellen Homogenität der Gemeinden gebunden sein. 171

168

BVeiwGE 38, 76 ff.

169

So insbesondere HessVGH, ZevKR 28 (1983), 428 (428 im Leitsatz, 433).

170

So Isensee , Staatsleistungen (Fn. 8), S. 1051 ff.

171

Ebenso Wiesenberger , Kirchenbaulasten (Fn. 22), S. 196 f.

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bb) Minderung des überhaupt konfessionell gebundenen Bevölkerungsanteils Fraglich wird dies aber dann, wenn nicht nur innerhalb der Bindung an die großen christlichen Kirchen ein erheblicher Wandel eingetreten ist, der sich durch die Durchmischung überregional ja immerhin im Grunde wieder ausgleichen mußte, sondern die Zugehörigkeit überhaupt zu einer der Religionsgemeinschaften diesem Wandel unterworfen ist. Denn eine solche Entwicklung, wie sie diesbezüglich in dem Staatsgebiet der ehemaligen DDR insgesamt und gerade auch innerhalb der Hansestadt Rostock zu verzeichnen war, war auch dem Verfassungsgeber von 1949 nicht erkennbar. Gehörten im Jahre 1925 noch 91,7% der Bevölkerung der Hansestadt Rostock der evangelischen und weitere 2,5% der römisch-katholischen Kirche an, rechneten sich also 94,2% der Bevölkerung den beiden großen christlichen Konfessionen zu, änderte sich daran in den ersten Jahren der DDR wenig. So waren im Jahre 1961 noch 82,4% der Stadtbevölkerung evangelisch und weitere 10,5% römisch-katholisch, so daß noch immer 92,9% der Bevölkerung einer der beiden großen christlichen Kirchen angehörten. In den ersten Jahren der DDR war damit der weit überwiegende Teil der Bevölkerung weiterhin christlich-konfessionell gebunden. Dann aber begann die kirchenfeindliche Politik der DDR Wirkung zu zeigen. So waren 1978 bereits nur noch 39,2% der Bevölkerung der Hansestadt Rostock evangelisch und 6,5% rechneten sich zum römisch-katholischen Glauben, während aber schon 53% und damit erstmals mehr als die Hälfte der Bevölkerung keiner Konfession mehr angehörte. 1994 schließlich waren nur noch 8,5% der Bevölkerung der Hansestadt Rostock evangelisch, weitere 1,9% waren katholisch, während mit 86,9% der überwiegende Teil der Bevölkerung keiner Konfession mehr zugehörte. Zumindest diese radikale Entwicklung und Umkehrung der Verhältnisse, nämlich eine weitgehende Entkirchlichung der Gemeinden in den neuen Bundesländern, muß jedenfalls als eine solche wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, die der Patronatsverpflichtung stillschweigend zugrundeliegen, angesehen werden. 172 Gerade angesichts des weiten Auseinanderfallens zwischen politischer Gemeinde und Kirchengemeinde muß diesem gesellschaftlichen Aspekt in den neuen Bundesländern eine besondere Bedeutung beigemessen werden. Entsprechende Rechtsprechung hierzu liegt - soweit ersichtlich - bislang noch nicht vor. Aber auch für den Bereich der „alten Bundesländer" hat schon vor über 20 Jahren der Hessische Verwaltungsgerichtshof 173 bei einem Anstieg des Anteils der nichtprotestantischen Einwohner an der Gesamteinwohnerschaft einer Gemeinde von 10% auf 25% zwar eine so wesentliche Änderung, die zum Erlöschen der Kirchenbaulast der Gemeinde 172 Ebenso Sperling/Weidemann, Zum Fortbestand herkömmlicher Kirchenbaulasten der politischen Gemeinden, DöV 1973, 269 ff. (271); Rüfner, Anmerkung zur Entscheidung des Verfassungsgerichts NW vom 16.4.1982 - VerfGH 17/78, DöV 1983, 30 ff. (31). 173

HessVGH, Urteil vom 7. Mai 1973 - VI OE 49/71.

Städtische Patronate in den neuen Bundesländern

317

hätte führen können, noch nicht angenommen, aber immerhin bereits eine anteilige Kürzung der kommunalen Baulastverpflichtungen für angezeigt erachtet. Dies entspricht auch schon der Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts 174 aus dem Jahre 1927, welches bei einer Reduzierung der konfessionsgebundenen Einwohnerschaft um mehr als absolute 20% der Gesamteinwohner von einer so wesentlichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse ausgegangen ist, daß es zu einer Anpassung der Kirchenbaulast kommen mußte. 175 Dies bedeutet, daß wegen dieses unvorhersehbaren und zugleich grundlegenden Wandels der tatsächlichen Verhältnisse ein unverändertes Fortbestehen der patronatischen Kirchenbaulasten in den neuen Bundesländern und insbesondere der Hansestadt Rostock nicht mehr angenommen werden kann. Angesichts der tiefgreifenden, nahezu umstürzenden Umkehr der konfessionellen Entbindung der Bevölkerung erscheint es angezeigt, von einer weitgehenden Entleerung dieser Pflichten auszugehen und daher - wenn nicht gar vom endgültigen Wegfall dieser Verpflichtungen, so doch mindestens von einer weit reduzierten Pflichtigkeit auszugehen. VI. Ergebnisse 1. Patronate sind als Rechtsfiguren Schöpfungen des kanonischen Rechts im späten 11. und 12. Jahrhundert, stammen also aus dem älteren katholischen Kirchenrecht, wurden jedoch auch von den lutherisch-reformierten Landesherren übernommen. Das ehemals kanonische Patronatsrecht wurde so zu einem Institut eines gemeinsamen überkonfessionellen gemeinen Kirchenrechts. 2. Grundinhalte des Patronats sind einerseits diverse Pflichten, vor allem finanzieller Art gegenüber der Kirche, insbesondere die sogenannten Baulastverpflichtungen, andererseits aber auch die damit verbundenen Rechte des Patronatsherrn. Befugnisse und Pflichten entsprechen dabei einander mindestens in dem Sinne, daß die Kirche bei Erfüllung der Pflichten auch die Gewährung der Privilegien schuldet. 3. Aufgrund rechtlicher Änderungen sind die Patronatslasten der Hansestadt Rostock nicht untergegangen. 4. In dem Fortbestand dieser patronatischen Pflichten zu Lasten der Hansestadt Rostock kann auch kein Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierte kommunale Selbstverwaltung nach Art. 28 II GG oder ein Verstoß gegen die Wahrung der (negativen) Religionsfreiheit des Art. 4 I GG gesehen werden. Ebensowenig wird dadurch der in Art. 3 GG angesiedelte Grundsatz der Parität 174

PrOVGE 101, 94 ff.

175

Kritisch aber Isensee , Staatsleistungen (Fn. 8), S. 1047.

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verletzt. Auch eine Gleichstellung mit anderen Gemeinden auf der Grundlage des Art. 3 GG kann die Hansestadt Rostock nicht verlangen, da nicht der rechtliche Status der einzelnen Gemeinden der Grund für deren unterschiedliche Belastung mit Kirchenbaulastverpflichtungen ist, sondern die unterschiedlichen tatsächlichen Voraussetzungen, die zudem noch von den betroffenen Gemeinden in früherer Zeit selbst gesetzt wurden, bedingen hier die sachliche Ungleichheit. 5. Von besonderer Bedeutung für den Fortbestand der Patronatslasten sind aber insgesamt in den neuen Bundesländern und speziell auch für die Hansestadt Rostock die weitreichenden Änderungen der konfessionellen Zusammensetzung der Bevölkerung. Denn in Zusammenhang mit der weitgehenden „Entkirchlichung" der Bevölkerung muß von einer so wesentlichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, die der Patronatsverpflichtung stillschweigend zugrundeliegen, ausgegangen werden, daß es mindestens zu einer deutlichen Reduzierung der patronatischen Kirchenbaulast kommen muß; ja es wäre selbst deren völliger Wegfall zu diskutieren.

IV. Kindschafts- und Schulrecht

Sponsoring in der Schule Einige verfassungsrechtliche Anmerkungen Von Hermann Avenarius

I. Einführung Bis vor wenigen Jahren war Werbung für wirtschaftliche Zwecke in der Schule in sämtlichen Bundesländern verboten. Das Verbot wurde im wesentlichen wie folgt begründet: Die Inanspruchnahme von Werbung sei zwar durch das Grundrecht des Schülers auf Informationsfreiheit geschützt, doch müsse dieses Recht gegenüber der Fürsorgepflicht der Schule für ihre Schüler zurückstehen. Kinder und Jugendliche seien wegen ihrer leichten Beeinflußbarkeit begehrte Werbeadressaten, die Schule daher als Werbungsort außerordentlich attraktiv; demgegenüber müßten die Eltern sichergehen können, ihre Kinder in der Schule nicht eigennütziger Information Dritter ausgesetzt zu sehen.1 Noch heute hält die Mehrzahl der Länder in ihren Rechts- und Verwaltungsvorschriften an dem Werbeverbot fest. 2 Doch zeichnet sich unverkennbar eine Tendenz ab, die bislang strikte Linie zu lockern. So erklären Bremen, Sachsen und Thüringen Werbung in Schülerzeitungen ausdrücklich für zulässig, sofern sie maßvoll ist (Bremen), nicht gegen die Bestimmungen für Schülerzeitschriften verstößt (Sachsen) bzw. mit dem schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrag vereinbar ist (Thüringen). Niedersachsen, das Werbung grundsätzlich nur dann gestattet, wenn sie eindeutig dem Bildungsauftrag der Schule zuzurechnen 1

So z.B. der Brem. RdErl. vom 1.9.1987 (Brem. Schulblatt 544.02).

2

Nr. 16 bbg. VV-Schulbetrieb vom 1.12.2997 (ABl. S. 894), geänd. durch VV vom 11.2. 1998 (ABl. S. 111) mit der selbstverständlichen Ausnahme, daß die Einbeziehung von Werbeschriften in den Unterricht erlaubt ist, sofern dies den Zielen von Erziehung und Bildung dient; brem RdErl. vom 1.9.1987 (Anm. 1); Nr. 21 Abs. 2 hmb. SchulO i.d.F. vom 5.3.1970 (MBlSchul S. 36), zul. geänd. durch VV vom 5.11.1979 (MBlSchul S. 71); § 10 hess. Dienstordnung für Lehrkräfte u.a. vom 8.7.1993 (ABl. S. 691); Nr. 2.1 m-v. Erl. KM vom 8.11. 1993 (Mittbl. M-V KM S. 475); §§ 47 Abs. 3 und 4, 48 Abs. 1 und 3 nrw. ASchO; § 62 r-p. Schulordnung für die öffentlichen Grundschulen vom 21.7.1988 (GVB1. S. 155) und die entsprechenden Vorschriften in den Verordnungen für die übrigen Schularten; § 7 saarl. Allg. Dienstordnung für Lehrer vom 10.11.1975 (GMB1. S. 896) und saarl. Erl. vom 25.4.1968 (GMB1. S. 90); Nr. 1 sächs. VV über Werbung, Wettbewerbe und Erhebungen in Schulen vom 20.8.1992 (ABl. S. 16); sachs.-anhalt. RdErl. vom 16.1.1992, GültL 56/10; § 49 Abs. 1 s-h. SchulG; § 56 Abs. 3 Hs. 1 ThürSchulG. 21 GS Jeand' Heur

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Hermann Avenarius

ist und die jeweiligen rechtlichen Vorgaben beachtet werden, erkennt gleichwohl die Notwendigkeit, daß sich die Schule angesichts neuer Lernformen und um des Prinzips „Öffnung von Schulen" willen außerschulischen Lernorten öffnet und dabei neue Wege beschreitet; allerdings muß ein anerkennungswürdiges pädagogisches Ziel verfolgt werden. 3 In Baden-Württemberg ist Werbung zwar verboten. Es bleibt den Schulen jedoch unbenommen, Spenden auch dann entgegenzunehmen, wenn sie zum Zweck der Werbung gegeben werden; Voraussetzung ist, daß die Spenden pädagogischen Zwecken dienen und demgegenüber der Werbecharakter deutlich zurücktritt und einen geringen Umfang hat.4 Diskret versteckt unter dem vertrauenerweckenden Begriff Spenden, erscheint somit auch im Schulbereich ein Phänomen, das in der Alltagssprache als Sponsoring bezeichnet wird. Auch das bayerische Schulrecht bahnt nunmehr dem Sponsoring den Weg. Nach den Bestimmungen der verschiedenen Schulordnungen des Freistaats kann eine Schule, die bei der Erfüllung ihrer Aufgaben durch erhebliche Zuwendungen Dritter oder die Bereitstellung pädagogisch förderlicher Gegenstände unterstützt wird, auf Antrag des Dritten hierauf in geeigneter Weise, z.B. durch Anbringen des Firmenzeichens, hinweisen; unzulässig ist nur eine über die Nennung des Zuwenders, der Art und des Umfangs der Zuwendung hinausgehende Produktwerbung. 5 Einen erheblichen Schritt weiter geht Berlin. Die Allgemeine Anweisung über Werbung, Handel, Sammlungen und politische Betätigung in und mit Einrichtungen des Landes Berlin 6 gilt für sämtliche Dienstgrundstücke, -gebäude und -räume sowie für sonstiges zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben des Landes verfügbares Vermögen und Material. Sie geht von der grundsätzlich wünschenswerten wirtschaftlichen Nutzung öffentlicher Einrichtungen mit dem Ziel der Ausschöpfung aller vertretbaren Einnahmequellen aus. Allerdings ist dieser Grundsatz in mehrfacher Hinsicht, u.a. durch das Gebot der Unparteilichkeit und Uneigennützigkeit der Verwaltung, eingeschränkt. Im übrigen darf prinzipiell auch für kommerzielle Zwecke geworben werden, solange dies nicht der Würde und Widmung der öffentlichen Einrichtung zuwiderläuft und die Werbung als solche deutlich gekennzeichnet ist. Schließlich heißt es, daß für 3 Nr. 1 nds. Erl. vom 7.9.1994 (SVB1. S. 290). Vgl. auch Niedersächsisches Kultusministerium, Berichte zur Schul(verwaltungs)reform. Ergebnisse des Projektvorhabens „Schulverwaltungsreform" des Niedersächsischen Kultusministeriums, Sept. 1997, unter Nr. 8. 4 Nr. 1 und 2.2 der VV über Werbung, Wettbewerbe und Erhebungen in Schulen vom 19.10.1995 (ABl. S. 554). Im übrigen kann nach Nr. 2.1 der VV auf Veranstaltungen, die geeignet sind, den Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule wesentlich zufördern, und nicht einseitigen Zielen dienen, durch Plakate oder sonstige Druckwerke hingewiesen werden. 5 § 67 Abs. 3 Volksschulordnung und die entsprechenden Vorschriften der übrigen Schulordnungen. 6

Vom 10.6.1997 (ABl. S. 3074).

Sponsoring in der Schule

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kommerzielle Werbung in und mit Einrichtungen des Landes eine angemessene marktgerechte Vergütung erhoben werden muß, für sonstige Werbung erhoben werden kann. Für Schulen gelten bislang keine besonderen Regelungen. Sie sind daher im Rahmen der Allgemeinen Anweisung weitgehend frei, sich zusätzliche Einnahmen dadurch zu beschaffen, daß sie ihre Einrichtungen für Werbezwecke zur Verfügung stellen, sich insbesondere das Sponsoring zunutze machen. Daß den Schulen zunehmend die Möglichkeit eröffnet wird, sich auf dem freien Markt zusätzliche Finanzmittel zu erschließen, beruht vor allem auf zwei bildungspolitisch relevanten Entwicklungen der letzten Jahre: der Mittelknappheit in den öffentlichen Haushalten, die den Schulbereich nicht verschont, und der - nicht zuletzt durch diese Mittelknappheit ausgelösten - Tendenz, den Schulen ein höheres Maß an Eigenverantwortung auch im wirtschaftlichen Bereich einzuräumen. Dieser Tendenz tragen inzwischen einige Länder in ihren Schulgesetzen Rechnung.7 So nimmt es nicht wunder, daß z.B. die Bildungskommission NRW in ihrer Denkschrift „Zukunft der Bildung — Schule der Zukunft" 8 , die für eine „Teilautonomie" der Schule eintritt, nachdrücklich dafür plädiert, den Schulen das Recht einzuräumen, sich zusätzlich zur Grundausstattung weitere, auch private Mittel, zum Beispiel durch Sponsoring oder durch „Verkauf 4 pädagogischer Leistungen auf dem Bildungsmarkt, zu beschaffen. 9 Darin schlägt sich zugleich eine allgemeine Trendwende im Verständnis der Rolle der öffentlichen Verwaltung nieder, die auf einen „schlanken Staat", auf Rationalisierung, Modernisierung und Privatisierung der Verwaltung zielt. 10 7

So insbesondere Berlin, Brandenburg, Bremen und Hessen.

8

1995, S. 163, 214 f.

9

Denkschrift, S. 213, 214 f. - Zu den verfassungsrechtlichen Fragen der sog. Schulautonomie s. Avenarius , Schulische Selbstverwaltung - Grenzen und Möglichkeiten, RdJB 1994, 256 ff.; ders., Schulische Selbstverwaltung und Demokratieprinzip, in: Eichel / Möller (Hrsg.), 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen. Eine Festschrift, 1997, S. 178 ff.; Höfling , Demokratiewidrige Schulautonomie? Die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung zum Demokratieprinzip und die neuere Schulgesetzgebung, RdJB 1997, 361 ff.; Püttner , Schulautonomie und Verfassungsanspruch, in: Schlaffke/ Westphalen (Hrsg.), Denkschrift NRW - Hat Bildung in Schule Zukunft?, 1996; Stern , Autonomie der Schule?, in: Mertens u.a. (Hrsg.), Der Verwaltungsstaat im Wandel. Festschrift für Franz Knöpfte zum 70. Geburtstag, 1996, S. 333 ff.; Dittmann , Schulautonomie in juristischer Sicht — grundgesetzliche Grenzen schulischer Gestaltungsfreiheit der Länder, in: Beinke u.a. (Hrsg.), Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft? Zur Diskussion um die Denkschrift der Bildungskommission NRW, 1996, S. 53 ff. 10 Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Sachverständigenrat „Schlanker Staat". Zwischenergebnisse (Stand: Dez. 1996). Die Einsetzung des Sachverständigenrats geht auf die Koalitionsvereinbarung der Regierungsparteien vom November 1994 zurück. Vgl. Meyer-Teschendorf I Hofmann, Zwischenergebnisse des Sachverständigenrats „Schlanker Staat", DÖV 1997, 268 ff. - Vgl. in diesem Zusammenhang ferner Schoch, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, DVB1. 1994, 962 ff.; Peine , Grenzen der Privatisierung - verwaltungsrechtliche Aspekte, DÖV 1997, 353 ff.; Gusy , Privatisierung und parlamentarische Kontrolle, ZRP 1998, 265 ff.; König , Verwaltungsmodernisierung im internationalen Vergleich, DÖV 1997, 265 ff.;

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Bernd Jeand'Heur hat daraufhingewiesen, daß sogar originäre staatliche Angelegenheiten wie die Aufgaben der Gefahrenabwehr inzwischen vom privaten Sicherungsgewerbe übernommen werden. 11 Viele Schulen haben sich selbst in den Ländern, die ein uneingeschränktes Werbeverbot erlassen haben, längst über die noch geltenden Restriktionen hinweggesetzt. Dankbar nehmen sie z.B. die Unterstützung der örtlichen Sparkasse entgegen, die ihnen aus Anlaß eines Sportfestes Trikots mit dem Aufdruck ihres Logos überläßt. Ein Elektrogeschäfit installiert für das Schulfest eine Verstärkeranlage; der Schulleiter versäumt in seiner Begrüßungsrede nicht, diese großzügige Geste lobend hervorzuheben. Daß Büro- und Computerfirmen Schulen Personalcomputer mit deutlich sichtbarem Firmenzeichen für den Informatikunterricht schenken oder zu Vorzugspreisen überlassen — in der Hoffnung, die Schüler als potentielle Käufer anzusprechen - , gehört inzwischen zum Alltag nicht weniger Schulen. Man kann die Zahl der Beispiele vermehren. Ihnen allen ist gemeinsam, daß Handel, Industrie und Dienstleistungsunternehmen die Schulen als Werbeträger entdeckt haben und daß die Schulen ihrerseits diese Tatsache dazu nutzen, sich zusätzliche Finanzierungsquellen zu erschließen. Im übrigen gibt es in den Kultusministerien der Länder, in denen bislang noch ein striktes Werbeverbot gilt, Bestrebungen, diesen Realitäten Rechnung zu tragen und flexiblere Regelungen zu erlassen.12 II. Begriffsklärungen Bislang war von Werbung, Sponsoring und Spenden die Rede, ohne daß der Bedeutungsgehalt der Begriffe präzisiert wurde. 13 Werbung in ihrer herkömmlichen Form ist darauf gerichtet, die Konsumenten über ein bestimmtes Produkt zu informieren und sie zu dessen Kauf zu motivieren. Auch der Sponsor will einen Werbeeffekt erreichen, strebt ihn aber eher indirekt an: Er stellt Geld, Sachmittel oder Dienstleistungen zur Förderung Wallerath, Verwaltungserneuerung. Auf dem Weg zu einer neuen Verwaltungskultur, VerwArch. 88 (1997), 1 ff.; Klie/Meysen: Neues Steuerungsmodell und Bürgerschaftliches Engagement - Konkurrierende oder synergetische Programme zur Verwaltungsmodernisierung - , DÖV 1998, 452 ff. 11

Jeand'Heur, Von der Gefahrenabwehr als staatlicher Angelegenheit zum Einsatz privater Sicherheitskräfte - einige rechtspolitische und verfassungsrechtliche Anmerkungen, AöR 119 (1994), 107 ff. 12 13

Meyer-Albrecht,

Werbung und Sponsoring in der Schule, SchulRecht 1998, 19 (20).

Zur Abgrenzung der Begriffe s. Bruhn, Sponsoring. Systematische Planung und integrativer Ansatz. 3. Aufl. 1998, S. 19 ff.; Weiand, Rechtliche Aspekte des Sponsoring, NJW 1994, 227 ff; ferner - vor allem hinsichtlich der steuerlichen Folgen - Heuer, Kulturfinanzierung durch Sponsoring - steuerliche Konsequenzen beim Sponsor und beim Gesponserten, DStR 1996, 1789 ff.

Sponsoring in der Schule

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von Personen, Gruppen oder Organisationen im sportlichen, kulturellen und/ oder sozialen Bereich bereit; um diese Unterstützung zu erhalten, bietet der Gesponserte seinerseits dem Sponsor die Möglichkeit, im Rahmen der geförderten Aktivitäten oder Einrichtungen die kommunikativen Ziele des Sponsors, sein „Image", zu unterstützen. Sponsoring beruht mithin auf dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung. Spenden wiederum werden vorrangig aus altruistischen Motiven gewährt. Vom Geförderten werden Gegenleistungen nicht erwartet. Der Vorteil des Spenders besteht allein in der Möglichkeit, die Spende ggf. steuerlich geltend zu machen. Zwischen Werbung, Sponsoring und Spenden gibt es fließende Übergänge: Wenn die Schule einem Sportgeschäft gegen Entgelt gestattet, die Umzäunung des Sportplatzes mit Tüchern, auf denen der Firmenname aufgedruckt ist, zu bespannen, läßt sich nur schwer die Grenze zwischen Werbung und Sponsoring ziehen, und offensichtlich verliert eine Spende ihren Charakter als Spende nicht dadurch, daß sie (auch) zum Zweck der Werbung gegeben wird (s. die Regelung in Baden-Württemberg). 14 Für den Fortgang der Überlegungen kommt es nicht auf eine trennscharfe Unterscheidung zwischen den Begriffen an. Gegenstand der Erörterung soll vielmehr jede vertraglich begründete Zuwendung eines privaten Dritten an die Schule sein, mit der der Zuwendende zugleich eigene Interessen verfolgt. Dieses Rechtsverhältnis wird im folgenden als Sponsoring bezeichnet. Der Sponsoringvertrag ist privatrechtlicher Natur. Er begründet Rechte und Pflichten, die außerhalb des öffentlich-rechtlichen Bereichs liegen.15 Die Praxis des Schulsponsoring ist dadurch gekennzeichnet, daß die darauf gerichteten Verträge zumeist formlos zwischen Sponsor und Schulleiter geschlossen werden. Wenn wir von „Schule" sprechen, ist ausschließlich die öffentliche Schule gemeint. Diese ist als Einrichtung des kommunalen Schulträgers eine nichtrechtsfähige Anstalt des öffentlichen Rechts; zugleich unterliegt sie der staatlichen Schulaufsicht im Sinne des Art. 7 Abs. 1 GG. Während also die Kommune als Schulträger für die Errichtung, Organisation, Unterhaltung und Verwaltung der einzelnen Schule sorgt, ist der Staat für die Lehr- und Lernprozesse und somit für Inhalte, Methoden und Strukturen der Schule sowie das pädagogische Personal verantwortlich. 16 14 Die noch geltenden Werbeverbote werden in der Praxis häufig dadurch umgangen, daß das werbende Unternehmen Geldleistungen dem bei den meisten Schulen bestehenden Schulförderverein als Spenden zukommen läßt. Diese Art der Zuwendungen hat jedoch den Nachteil, daß sie nicht als unbegrenzt abziehbare Bertriebsausgaben (§ 4 Abs. 1 EStG) oder Werbungskosten (§ 9 Abs. 1 S. 1 EStG), sondern nur als nach § 10b EStG im Rahmen bestimmter Höchstgrenzen berücksichtungsfähige Sonderausgaben steuerlich geltend gemacht werden können. 15

Zur Unterscheidung zwischen öffentlich-rechtlichem (verwaltungsrechtlichem) und privatrechtlichem Vertrag Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht. 11. Aufl. 1997, S. 348 ff. 16 Zur Rechtsstellung der Schule HeckeilAvenarius, S. 67 f., 102.

Schulrechtskunde. 6. Aufl. 1986,

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Als nichtrechtsfähige Anstalt kann die Schule Sponsoringverträge nicht aus eigenem Recht, sondern nur mit Vollmacht des Schulträgers abschließen. Diese Vollmacht kann ihr allgemein oder für den Einzelfall erteilt werden. 17 Da Zuwendungen an die Schule in das Eigentum des Schulträgers fließen, sind sie für die begünstigte Schule nur dann von Interesse, wenn sie selbst darüber verfügen darf und wenn sie nicht zu Lasten der für sie bestimmten Mittel im Haushalt des kommunalen Schulträgers verwendet werden. Der Schulträger ist nicht gehindert, der Schule zu gestatten, eigenverantwortlich über solche Einnahmen zu verfügen und sie sich auf einem Schulkonto gutschreiben zu lassen. I I I . Verfassungsrechtliche Fragen Der Beitrag beschränkt sich auf die Erörterung einiger verfassungsrechtliche Probleme des Schulsponsoring im Verhältnis zwischen der Schule einerseits, Eltern und Schülern andererseits. 1. Staatlicher Bildungs- und Erziehungsauftrag, Identifikationsverbot Der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des Sponsoring in der Schule könnte Art. 7 Abs. 1 GG entgegenstehen, der dem Staat die Aufsicht über das Schulwesen zuweist. Diese umfaßt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die „Gesamtheit der staatlichen Befugnisse zur Organisation, Planung, Leitung und Beaufsichtigung des Schulwesens".18 Ähnlich formuliert es das Bundesverfassungsgericht: „ Die Schulaufsicht im Sinne des Art. 7 Abs. 1 GG umfaßt die Befugnis des Staates zur Planung und Organisation des Schulwesens mit dem Ziel, ein Schulsystem zu gewährleisten, das allen jungen Bürgern gemäß ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten eröffnet. Die organisatorische Gliederung der Schule und die strukturellen Festlegungen des Ausbildungssystems, das inhaltliche und didaktische Programm der Lernvorgänge und das Setzen der Lernziele sowie die Entscheidung darüber, ob und wieweit diese Ziele vom Schüler erreicht worden sind, gehören zu dem staatlichen Gestaltungsbereich". 19 Dabei ist zu beachten, daß sich Art. 7 Abs. 1 GG nicht auf die Zuweisung dieser Kompetenz an den Staat beschränkt, sondern dem Staat zugleich die Pflicht auferlegt, die ihm eingeräumte Kompetenz auch wahrzunehmen. 20 17

Vgl. etwa § 21 Abs. 1 S. 2 Schulverwaltungsgesetz Bremen, wonach die Schule auf der Grundlage einer allgemeinen Zustimmung der Stadtgemeinde im Rahmen der ihr zur Verfugung stehenden Mittel Rechtsgeschäfte mit Wirkung für die Stadtgemeinde abschließen und für sie im Rahmen dieser Mittel Verpflichtungen eingehen oder Nutzungsverträge über ihre Räume oder ihr Grundstück abschließen kann. 18

BVerwGE 6, 101 (104); st. Rspr.

19

BVerfGE 59, 360 (377); so schon BVerfGE 34, 165 (181 f.), 47, 46 (71 f.).

Sponsoring in der Schule

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Mit diesen Aussagen zur staatlichen Verantwortung hat die höchstrichterliche Rechtsprechung die Zuständigkeitsbereiche im Schulwesen zwischen Staat und Eltern abgegrenzt. 21 Wenn die Schule somit in ihrer Struktur, ihrer inhaltlichen Prägung und in ihren Qualitätsansprüchen von bestimmender Einwirkung der Eltern freizuhalten ist, dann dürfen um so weniger anderen - schulferneren Personen und Gruppen solche Einwirkungsmöglichkeiten eingeräumt werden. Hier ist vor allem an die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates (Art. 4 Abs. 1 GG) zu erinnern. Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ist es nicht gestattet, außerhalb des Religionsunterrichts und außerhalb der nach dem jeweiligen Landesrecht zulässigen christlichen Prägung der Schule auf Erziehung und Unterricht Einfluß zu nehmen.22 Die Schule muß vermeiden, daß sie in der von ihr wahrzunehmenden Werteerziehung in den Sog konkurrierender religiös-weltanschaulicher Richtungen gerät. Deshalb darf in der Schule für weltanschauliche Ziele nicht, auch nicht indirekt durch Sponsoring, geworben werden. Gleiches gilt für politische Parteien und Gruppen. Zwar wirken die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mit (Art. 21 Abs. 1 GG). Darauf aber ist ihre Rolle beschränkt. Sie können auf die Gestaltung des Rechts, das Grundlage, der schulischen Arbeit ist, namentlich auf die Gesetze, einwirken. Unmittelbarer Einfluß auf die konkrete Arbeit der Schule steht ihnen indes nicht zu. Dort findet zwar politische Bildung, aber keine politische Willensbildung des Volkes statt. Politische Werbung in der Schule, auch in Form des Sponsoring, verbietet sich daher. Auch darüber hinaus muß sich die Schule wie andere öffentlich-rechtliche Einrichtungen der Identifikation mit gesellschaftlichen Partikularinteressen enthalten. Der hergebrachte, in den Beamtengesetzen bekräftigte Grundsatz des Berufsbeamtentums, wonach Beamte verpflichtet sind, ihre Aufgaben unparteiisch und gerecht zu erfüllen und bei ihrer Amtsführung auf das Wohl der Allgemeinheit Bedacht zu nehmen (Art. 33 Abs. 5 GG, vgl. § 35 Abs. 1 S. 2 BRRG), ist eine Ausprägung dieses Identifikationsverbots. Beamte sind zur Unparteilichkeit und zur Wahrung des Gemeinwohls verpflichtet, weil der Staat, dem sie dienen, nicht für beliebige Interessen instrumentalisiert, nicht „vergesellschaftet" werden darf. 23 Das gilt auch und vor allem für die Schule.24 20 Pieroth , Erziehungsauftrag und Erziehungsmaßstab der Schule im freiheitlichen Verfassungsstaat, DVB1. 1994, 949 (951); vgl. auch BayVerfGH, DVB1. 1995, 419 (420). 21

So z.B. das BVerfG in seiner Sexualkundeentscheidung, BVerfGE 47, 46 ff.

22

Auf die im Zusammenhang mit der religiös-weltanschaulichen Neutralität bestehenden besonderen Aspekte (Religionsunterricht, Schulgebet, Kruzifix u.a.) kann hier nicht eingegangen werden. 23 Insoweit behält die Unterscheidung von „Staat" und „Gesellschaft" auch in einem demokratisch verfaßten Gemeinwesen weiterhin ihre Bedeutung. Zu diesem Problemkreis insbesondere Böckenförde , Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: ders ., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 209 ff.; Ehmke , „Staat" und „Gesellschaft" als verfassungstheoretisches Problem, in: ders., Beiträge zur Verfassungs-

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Das führt zu der Frage, ob der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag, der eine Vereinnahmung der Schule durch Private oder für private Interessen also beispielsweise für Interessen von Wirtschaftsunternehmen - verbietet, der Zulässigkeit des Schulsponsoring entgegensteht. Bei der Beantwortung dieser Frage muß man der Tatsache Rechnung tragen, daß die Menschen, auch die der Schule anvertrauten jungen Menschen heutzutage von direkter oder indirekter kommerzieller Werbung geradezu überschüttet werden. Größere Sport- und Kulturveranstaltungen lassen sich im allgemeinen ohne Sponsoring nicht mehr finanzieren. Keine Übertragung bedeutender Sportereignisse im Fernsehen ohne den Hinweis, daß die Sendung von dieser Brauerei oder jenem Autounternehmen präsentiert wurde. Kein Verein der Fußball-Bundesliga, kein populärer Tennisprofi, der sich die Chance entgehen ließe, durch medienwirksamen Aufdruck eines oder mehrerer Firmenlogos auf dem Trikot zusätzliche Einnahmen zu erzielen. Kaum ein Musikfestival, in dessen Veranstaltungsprogramm nicht die Förderung durch eine Sparkasse, eine Bank oder ein anderes Unternehmen erwähnt würde. Auch Museen, Theater und Orchester in kommunaler und staatlicher Trägerschaft nutzen längst die Vorteile des Sponsoring, dies ganz unabhängig davon, ob sie öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich betrieben werden. Die Tatsache, daß beispielsweise auf der Eintrittskarte der Name des Sponsors erscheint, mag seinem Kommunikationsinteresse forderlich sein, bedeutet aber nicht zwangsläufig, daß die Kultureinrichtung sich in ihrem Programm und der Art der Darbietung von dem fördernden Unternehmen beeinflussen ließe. Besucher und Öffentlichkeit dürften eher dankbar registrieren, daß sich überhaupt jemand bereit gefunden hat, die Ausstellung oder Aufführung durch eine finanzielle Beihilfe zu ermöglichen. Der dafür zu entrichtende „Preis", der Hinweis auf den Sponsor, wird als selbstverständlich in Kauf genommen. Jedenfalls ist in all diesen Fällen eine Vereinnahmung der Kultureinrichtung durch Partikularinteressen nicht zu besorgen. Schulen unterscheiden sich von den erwähnten Kultureinrichtungen nicht zuletzt dadurch, daß die Schüler sie besuchen müssen, und zwar aufgrund der Schulpflicht oder, jenseits der Schulpflicht, um den angestrebten Abschluß zu erreichen; sie sind daher Zwangskonsumenten der mit dem Sponsoring verbundenen Imagewerbung. Doch ist der Unterschied nicht so erheblich, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn auch für den Theater-, Opern- oder Konzertliebhaber, für den begeisterten Museumsbesucher kann die Nutzung dieser kulturellen Angebote ein existentielles Bedürfnis sein, das er ohne Hinnahme des Sponsoring nicht zu befriedigen vermag. theorie und Verfassungspolitik, 1981, S. 300 ff; Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, S. 1187. 24

So betont Bayer, Werbung, Sponsoring und kommunales Haushaltsinteresse, SchulRecht 1998, 51 (54), zu Recht, daß das Schulehalten einer „Vergesellschaftung" nicht zugänglich sei.

Sponsoring in der Schule

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Zudem lebt die Schule nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum. Ob Nike, Reebok oder Adidas, ob Diesel, Replay oder Calvin Klein: diese Produkte sind auch in der Schule präsent. Der Einfluß, den Sponsoren der Schule auf das Konsumverhalten junger Menschen ausüben, dürfte erheblich geringer sein als die Modepräferenzen beliebter Mitschüler. Niemand wird ernstlich die Forderung erheben, den Schülern das Tragen von Kleidung mit Firmenlogo in der Schule zu verbieten. Deshalb erscheint auch die Sorge, die Öffnung der Schule für das Sponsoring verstoße gegen ihren „Anstaltszweck" 25 , überzogen. Nicht schon der Umstand, daß sich die Schule, um zusätzliche Einnahmen zu erzielen, als Kommunikationsmedium für fremdnützige Interessen zur Verfügung stellt, macht das Sponsoring unzulässig. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, ob sie sich durch diese Interessen instrumentalisieren läßt oder nicht. Damit sind zugleich die verfassungsrechtlichen Grenzen aufgezeigt, die Art. 7 Abs. 1 GG und das in diesem Rahmen zu beachtende Identifikationsverbot dem Schulsponsoring ziehen. Nicht erlaubt sind Zuwendungen, die an die Bedingung geknüpft sind, Unterrichtsinhalte und Unterrichtsgestaltung im Sinne des Sponsors zu bestimmen.26 Der aus den Niederlanden berichtete Fall, daß die Imbißkette „Burger King" längere Pausen an Schulen durchsetzte, um die Konsumzeit der Schüler auszuweiten27, darf daher an deutschen Schulen keine Parallele finden. Nicht gestattet im Rahmen eines Sponsoring sind auch solche Aktivitäten der Schule, die mit ihrem Erziehungs- und Bildungsauftrags nichts zu tun haben. So mag es zwar dem Ziel der Öffnung der Schule zu ihrem Umfeld entsprechen, wenn sie mit den örtlichen Vereinen zusammenarbeitet; dies darf aber nicht dazu führen, daß sie ihre Schüler beispielsweise dazu veranlaßt, sich Woche um Woche bei den Vorbereitungsarbeiten zum lOOj ährigen Jubiläum des örtlichen Schützenvereins zu engagieren, selbst wenn als Gegenleistung eine generöse Spende für den Kauf von Musikinstrumenten in Aussicht gestellt wird. Unzulässig ist vor allem ein Sponsoring, das mit seiner Imagewerbung den von der Schule anzustrebenden Bildungszielen widerspricht. 28 Wie groß auch immer der Geldbetrag ist, mit dem der Sponsor winkt: die Schule darf keineswegs zulassen, daß auf ihrem Gelände für alkoholische Getränke und Zigaretten geworben wird.

25

So aber Bayer , SchulRecht 1998, 51 (53).

26

Andererseits ist nichts dagegen einzuwenden, wenn ein Sponsor der Schule und ihren Schülern ein freiwillig wahrzunehmendes zusätzliches Bildungsangebot unterbreitet, wenn z.B. eine Computerfirma einen ihrer Experten zur Verfügung stellt, um die Schüler am unterrichtsfreien Nachmittag in den Gebrauch der von der Firma gesponserten PCs einzuweisen. 27 28

Siehe Frankfurter Rundschau vom 17.10.1997.

Elser , Wirtschaftliche Werbung in Schulen durch Spenden / Sponsoring, Schul Verwaltung BW 1997, 129 ff; Meyer-Albrecht, Sponsoring und Werbung. Überlegungen zu einem „heiklen" Thema, SchulVerwaltung MO 1996, 155 (156).

330

Hermann Avenarius

Im übrigen ist darauf zu achten, daß die Zuwendung der Aufgabenwahrnehmung der Schule tatsächlich zugute kommt. Der Nutzen für die Schule muß in einem angemessenen Verhältnis zum Nutzen für den Sponsor stehen: die Zuwendung darf nicht nahezu ausschließlich der Werbung für seine Zwecke dienen.29 2. Grundrechtliche Aspekte a) Eltern- und Schülerrechte auf eine „werbefreie"

Schule?

Zwar ist dem Staat im Schulbereich durch Art. 7 Abs. 1 GG ein eigenständiger Erziehungsauftrag zugewiesen, der dem elterlichen Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 GG) nicht nach-, sondern gleichgeordnet ist. Doch muß der Staat „die Verantwortung der Eltern für den Gesamtplan der Erziehung ihrer Kinder achten". 30 Die Eltern haben ein Recht darauf, daß die Schule ihre Art der Erziehung soweit wie möglich respektiert, daß sie insbesondere das Toleranzgebot wahrt. Dieses Recht geht unter den heutigen Verhältnissen indes nicht so weit, daß sie der Schule ein pädagogisch verträgliches Sponsoring untersagen könnten. Solange die Schule dabei die ihr durch das Identifikationsverbot gezogenen Grenzen einhält (dazu oben, III. 1), handelt sie dem Elternrecht nicht zuwider. Eine andere Frage ist, ob die Eltern es hinnehmen müssen, daß ihr Kind nicht nur der mit dem Sponsoring verbundenen Imagewerbung ausgesetzt ist, sondern von der Schule zur aktiven Mitwirkung bei dieser Werbung angehalten wird. Man denke etwa an einen Sportwettkampf zwischen mehreren Schulen, bei dem die teilnehmenden Schüler der Schule X in einheitlichen, vom ortsansässigen Sportausstattungsgeschäft „gespendeten" Trainingsanzügen und Trikots antreten sollen, die deutlich sichtbar dessen Namen oder Emblem aufweisen. In einem solchen Fall kommt die Zuwendung des Sponsors, die ein geschlossenes Erscheinungsbild der Schüler ermöglicht, auch dem Ansehen der Schule in der Öffentlichkeit zugute; dadurch wird zugleich die Identifikation der Schüler mit ihrer Schule gefördert. Solange die Mitwirkung der Schüler auf die Schule und den allgemeinen Schulbetrieb beschränkt bleibt, ist sie den Eltern zumutbar. Es mag Grenzsituationen geben, z.B. dann, wenn Eltern die Erziehung ihres Kindes konsequent auf Konsumaskese ausrichten, es von Einflüssen der Werbung, wo immer möglich, fernzuhalten suchen und aus diesem Grund eine aktive Beteiligung an der Förderung des Kommunikationsinteresses des Sponsors ablehnen. Dann hat die Schule auf den Willen der Eltern Rücksicht zu nehmen. Im übrigen wäre es mit dem Elternrecht nicht vereinbar, daß die Schule — etwa aufgrund einer entsprechenden Verpflichtung im Sponsoringvertrag - die Schüler zu konformistischen Äußerungen im Interesse des Spon29

So zutreffend Elser, Schul Verwaltung BW 1997, 129.

30

BVerfGE 34, 165 (183); 47, 46 (75), st. Rspr.

Sponsoring in der Schule

331

sors und seiner Produkte oder Dienstleistungen anhält. Abgesehen davon, daß sie mit einer solchen Maßnahme gegen das Identifikationsverbot verstieße, überschritte sie dadurch die Grenzen, die ihr durch die den Eltern vorbehaltene Erziehungsverantwortung gezogen sind. Die Schüler können sich gegenüber Maßnahmen der Schule auf das Recht der freien Persönlichkeitsentfaltung (Art. 2 Abs. 1 GG), insbesondere auf das durch Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht berufen. Dieses Recht dient der Selbstbestimmung, der Selbstbewahrung und der Selbstdarstellung des Einzelnen.31 „Der Einzelne soll selbst darüber befinden dürfen, wie er sich gegenüber Dritten oder der Öffentlichkeit darstellen will, was seinen sozialen Geltungsanspruch ausmachen soll und ob und inwieweit Dritte über seine Persönlichkeit verfügen können, indem sie diese zum Gegenstand öffentlicher Erörterung machen ...". 3 2 Doch gilt auch dieses Grundrecht nicht absolut. Auch der Schüler muß es dulden, daß die Schule, sofern sie das Identifikationsverbot beachtet, sich in pädagogisch vertretbarer Weise dem Sponsoring öffnet. Auch er ist zu aktiver Mitwirkung an schulischen Veranstaltungen, die zugleich dem Kommunikationsinteresse des Sponsors dienen, verpflichtet, solange ihm nicht abverlangt wird, gegen seine Grundüberzeugung zu handeln. Hingegen kann die Schule nicht von ihm verlangen, sich durch Kritikverzicht oder gar durch belobigende Äußerungen den Interessen des Sponsors dienstbar zu machen. Gegen ein solches Ansinnen kann sich der Schüler aufgrund seines durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Rechts auf Meinungsfreiheit zur Wehr setzen. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß es geradezu die Aufgabe der Schule ist, ihre Schüler zur Kritikfähigkeit zu erziehen. Dieser Aufgabe würde sie zuwiderhandeln, wenn sie den Schülern konformes Verhalten aufdrängte. b) Eltern- und Schülerrechte auf Umverteilung von Sponsorengeldern? Je mehr das Sponsoring um sich greift, desto mehr ist zu erwarten, daß die Schulen davon in unterschiedlichem Maße profitieren. Möglicherweise werden Schulen mit bürgerlich geprägtem Einzugsbereich eher in der Lage sein, sich diese Finanzierungsquelle zu erschließen als Schulen in großstädtischen Problemzonen. Das kann zur Folge haben, daß „reiche" und „arme", demgemäß „gute" und „schlechte" Schulen entstehen. Eine solche Entwicklung bliebe nicht ohne Auswirkungen auf die Bildungschancen junger Menschen, hängt doch die 31

Pieroth /Schlink, Staatsrecht II - Grundrechte, 13. Aufl. 1997, S. 86; s.a. Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte. 4. Aufl. 1997, S. 557 ff., 607 ff. 32

BVerfGE 63, 131 (142).

332

Hermann Avenarius

Qualität ihrer Ausbildung und damit ihr künftiges Lebensschicksal in hohem Maße von der Qualität der besuchten Schule ab. Der Hinweis darauf, daß sie bzw. ihre Eltern in den meisten Bundesländern die weiterfuhrende Schule frei wählen können 33 , löst das Problem nicht. Abgesehen davon, daß der Besuch wohnortferner Schulen mit zusätzlichen Aufwendungen verbunden ist - ein Anspruch auf Fahrkostenerstattung besteht im allgemeinen nur für den Weg zur nächstgelegenen Schule der gewählten Schulart - , bleibt ja die Tatsache der geringeren Schulqualität für diejenigen bestehen, die aus welchen Gründen auch immer eine schlechter ausgestattete Schule besuchen. Somit ist zu klären, ob die betroffenen Schüler bzw. ihre Eltern sich unter Berufung auf den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) gegen die Schlechterstellung wehren können, ob sie also verlangen können, daß Schulträger und Staat in geeigneter Weise für einen Ausgleich der Vorteile sorgen, die die durch Sponsoring begünstigten Schulen genießen. Art. 3 Abs. 1 GG verbietet es, daß durch eine rechtliche Regelung Sachverhalte, die im wesentlichen gleich sind, ungleich behandelt werden, ohne daß ein rechtfertigender Grund für die Ungleichbehandlung vorliegt. 34 Soweit staatliche Bestimmungen das Schulsponsoring gestatten, gelten sie freilich für alle Schulen und alle Schüler eines Landes gleichermaßen. Die Unterschiede in der Ausstattung der Schulen sind nicht durch rechtliche Regelungen, sondern durch faktische Umstände - das größere oder geringere Ausmaß privater Zuwendungen an die einzelnen Schulen — bedingt. Gegenüber tatsächlicher Benachteiligung in der Qualität des schulischen Angebots können sich Schüler und Eltern nicht auf Art. 3 Abs. 1 GG berufen. 35 33

Dazu Avenarius/Jeand'Heur, Elternwille und staatliches Bestimmungsrecht bei der Wahl der Schullaufbahn. Die gesetzlichen Grundlagen und Grenzen der Ausgestaltung von Aufnahme- bzw. Übergangsverfahren für den Besuch weiterführender Schulen, 1992. 34

Dazu Pieroth / Schlink (Fn. 31), S. 102 ff.; Jarass I Pieroth, Grundgesetz, 4. Aufl. 1997, Art. 3 Rn. 5 ff.; Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, 1996, Art. 3 Rn. 21 ff. 35 Hier liegen zwei Einwände nahe. Zum einen kann eingewandt werden, daß zwar alle Schulen rechtlich gleichbehandelt werden, die staatlichen Bestimmungen aber zu tatsächlichen Ungleichheiten fuhren. Berücksichtigt man nämlich die Folgen der rechtlichen Regelung, so ist zu erwarten, daß bestimmte Schulen aufgrund ihres sozialen Umfelds bessere Chancen haben, Sponsorengelder zu erhalten, als andere Schulen. Zum anderen läßt sich einwenden, daß Art. 3 Abs. 1 GG nicht nur gebietet, wesentlich Gleiches gleich zu behandeln, sondern auch, wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (vgl. BVerfGE 86, 81 [87 m.w.N.]). Demzufolge könnte eine Regelung geboten sein, die die schlechter gestellten Schulen bevorzugt. Auf diese Einwände kann hier nicht näher eingegangen werden. Ohnehin ist folgendes zu beachten: Selbst wenn eine Bestimmung, die allen staatlichen Schulen gleichermaßen das Sponsoring erlaubt, mit dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht zu vereinbaren wäre, hätten die Eltern und Schüler der benachteiligten Schulen keinen Anspruch auf eine bestimmte Art des Vorteilsausgleichs, z. B. auf öffentliche Gelder in Höhe der der Sponsorengelder für die bevorzugten Schulen. Denn im allgemeinen obliegt es dem Gesetzgeber zu entscheiden, auf welche Weise eine Verletzung des Gleichheitssatzes behoben wird (dazu Pieroth /Schlink (Fn. 34], S. 114 ff.).

Sponsoring in der Schule

333

Es bleibt zu prüfen, ob Schüler (und Eltern) an Schulen, die durch das Sponsoring zugunsten anderer Schulen schlechtergestellt sind, aus ihrem Recht auf Bildung einen Anspruch auf Ausgleichsmaßnahmen herleiten können. In mehreren Landesverfassungen ist das Recht auf Bildung ausdrücklich gewährleistet 36; auch das Grundgesetz enthält ein solches aus Art. 2 Abs. 1 oder 12 Abs. 1 in Verbindung mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1) und dem Sozialstaatsgebot (Art. 20 , 28 Abs. 1) ableitbares Recht.37 Das Recht auf Bildung erschöpft sich jedoch in einem Anspruch auf gleiche Teilhabe an den vorhandenen Bildungseinrichtungen. Es gewährt - außer in extremen Sonderfallen - keinen einklagbaren Anspruch, von der öffentlichen Hand bestimmte Leistungen zu verlangen. 38 Wohl aber weist das Recht auf Bildung eine objektiv-rechtliche Dimension auf. Danach ist das zuständige Gemeinwesen verpflichtet, in seinem jeweiligen Verantwortungsbereich für ein leistungsfähiges und sozial gerechtes Schulwesen zu sorgen, das den Schülern weitgehend gleiche Bildungschancen einräumt. 39 Demgemäß könnte ein Ausgleichsverfahren geboten sein, das die Vorteile des Sponsoring gewissermaßen sozialisiert. So wäre beispielsweise zu erwägen, finanzielle Zuwendungen an eine Schule ganz oder teilweise einem gemeinsamen Fonds des Schulträgers zu übertragen, an dem sämtliche Schulen derselben Schulart je nach Anzahl der Schüler partizipieren. Dieser Überlegung ist jedoch entgegenzuhalten, daß der Sponsor das Geld erfahrungsgemäß zumeist einer ganz bestimmten Schule zukommen lassen will und daß Schule und Schulträger an seine Zweckbestimmung gebunden sind. Dieses Hindernis ließe sich allerdings dadurch ausräumen, daß von vornherein durch staatliche oder kommunale Regelung bestimmt wird, Geldleistungen an einzelne Schulen insgesamt oder zu einem bestimmten Anteil in einen gemeinsamen Pool fließen zu lassen. Welche Auswirkungen dies auf die Spendenbereitschaft potentieller Sponsoren hätte, steht auf einem anderen Blatt. 40 Soweit es sich um Fördermaßnahmen des Sponsors durch Bereitstellung von Geräten oder Dienstleistungen handelt, ist eine „Vergemeinschaftung" ohnehin in der Regel praktisch nicht möglich. 36 Z.B. Art. 11 Abs. 1 b-w. Verf, Art. 128 bay. Verf, Art. 29 Abs. 1 bbg. Verf, Art. 27 brem. Verf, Art. 25 Abs. 1 sachs.-anhalt. Verf, Art. 20 S. 1 thür. Verf. 37

Vgl. Hechel/Avenarius

(Fn. 16), S. 21 f.

38

Oppermann , Nach welchen rechtlichen Grundsätzen sind das öffentliche Schulwesen und die Stellung der an ihm Beteiligten zu ordnen? Gutachten C zum 51. DJT, C 86 ff; Niehues , Schul- und Prüfungsrecht, 2. Aufl. 1983, S. 145 ff. 39 40

Hechel/Avenarius

(Fn. 16), S. 22.

So meint Elser, SchulVerwaltung BW 1997, 129 (130), die Spendenbereitschaft sinke, wenn die Bedachten anonym blieben.

334

Hermann Avenarius

Im übrigen wäre es widersprüchlich, die Schulen einerseits zu mehr Eigenverantwortung auch in finanzieller Hinsicht aufzurufen und es ihnen andererseits durch einschränkende Regelungen zu erschweren, sich zusätzliche eigene Mittel im Wege des Sponsoring zu beschaffen. Darüber hinaus darf nicht außer acht gelassen werden, daß mit der zunehmenden (auch) finanziellen Selbständigkeit der Schulen, wie sie neuerdings in mehreren Ländern durch Gesetz eingeführt ist 41 , ein Wettbewerb im Bildungsbereich gefördert werden soll. Diese Konkurrenz muß nicht zwangsläufig zum Nachteil von Schulen in einem schwierigen sozialen Umfeld ausgehen. Auch sie haben die Chance, durch ein originelles Schulprogramm, durch pädagogische Innovationen in der Öffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen und auf diese Weise Sponsoren zu gewinnen. Könnten sie von vornherein damit rechnen, daß sie an den Sponsorengeldern anderer Schulen partizipieren, bestünde ihrerseits wenig Interesse, sich um die Erschließung zusätzlicher Finanzquellen zu bemühen. Eine andere Form des Ausgleichsmechanismus könnte darin bestehen, daß der Schulträger die Vorteile, die den durch Sponsoring begünstigten Schulen zufließen, durch zusätzliche Förderung der anderen Schulen aus öffentlichen Mitteln kompensiert. Dagegen spricht, daß er dann nicht mehr in der Lage wäre, eigenständig über Art und Ausmaß der materiellen Ausstattung der Schulen zu entscheiden, sondern letztlich vom Handeln privater Förderer abhängig würde. Je mehr Geld, Sachmittel oder Dienstleistungen Sponsoren einzelnen Schulen gewähren, desto mehr müßte der Schulträger an zusätzlichen Mitteln für andere Schulen aufbringen. Insoweit wäre es nicht die gewählte kommunale Vertretungskörperschaft, wären es vielmehr private Personen oder Gruppen, die die schulbezogenen Aktivitäten der Kommune bestimmten. Eine solche Entwicklung wäre im Hinblick auf das Demokratieprinzip, das auch für die Kommunen verbindlich ist (Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG), nicht unproblematisch. Im übrigen hätte auch dieses Verfahren zur Folge, daß die von den Kompensationsmaßnahmen des Schulträgers profitierenden Schulen wenig Anlaß sähen, Eigeninitiative zu entfalten und sich selbst um Drittmittel zu bemühen. Die Verpflichtung des Staates und der Schulträger, für ein leistungsfähiges und gerechtes Schulwesen zu sorgen, verliert deshalb keineswegs an Bedeutung. Trotz der Engpässe in den öffentlichen Haushalten dürfen sie nämlich ihre Verantwortung fur eine angemessene Personal- und Sachausstattung der Schulen nicht mit dem Argument vernachlässigen, diese müßten einen Teil der erforderlichen Gelder durch Drittmittel, etwa durch Sponsoring, selbst akquirie41 Die Selbstbewirtschaftung von Schulen ist z. B. ausdrücklich vorgesehen in § 18a Abs. 3 und 4 bin. SchulG; § 7 Abs. 2 und 3 bbg. SchulG; § 9 Abs. 1 S. 2 brem. SchulG, § 21 brem. SchVwG; § 127a Abs. 3 hess. SchulG. Sie kann den Schulen in allen Ländern auf der Grundlage des § 15 Abs. 2 der jeweiligen Landeshaushaltsordnung eingeräumt werden.

Sponsoring in der Schule

335

ren. „Low-budget-Schulen" sind verfassungswidrig. Jede Schule muß über eine angemessene Grundausstattung verfügen, die sie in die Lage versetzt, ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag zu erfüllen. Dabei sind Schulen, die in einem schwierigen sozialen Umfeld arbeiten und deshalb über das Normalmaß hinausgehende pädagogische Herausforderungen zu bewältigen haben, in besonderer Weise zu fordern. Das aber hat nichts mit Umverteilung von und mit Kompensation für Sponsorengelder zu tun, sondern gehört zu den genuinen Aufgaben der für das Schulwesen verantwortlichen staatlichen und kommunalen Stellen.42 3. Regelungsbedarf Soll den Schulen das Sponsoring gestattet werden, dann genügt es nicht, bisher bestehende Werbeverbote einfach aufzuheben. Vielmehr bedarf es einer Normierung, die klarstellt, in welchen Grenzen das Sponsoring erlaubt sein soll. Soweit der Staat sich dieser Materie selbst annimmt, erscheint eine Regelung durch Rechtssatz, gar durch ein formelles Gesetz, nicht erforderlich. Die Öffnung der Schule für das Sponsoring birgt, jedenfalls gegenwärtig, kein derart großes Gefahrenpotential für die pädagogische Arbeit der Schule und für die Grundrechte von Eltern und Schülern in sich, daß sie im Sinne der „Wesentlichkeitstheorie" des Bundesverfassungsgerichts eine „wesentliche Entscheidung" notwendig machte, die dem Parlament - sei es auch nur in Form einer Verordnungsermächtigung - vorbehalten bleiben müßte.43 Vielmehr dürfte der Erlaß einer Verwaltungsvorschrift genügen, zumal diese Form der Normierung eine flexiblere und schnellere Reaktion auf sich wandelnde Verhältnisse im Bereich des Schulsponsoring ermöglicht als ein Gesetz oder auch eine Rechtsverordnung. 44 Dieser Gesichtspunkt ist gerade im Blick auf die Sicherung der Grundrechte der Eltern und Schüler bedeutsam. Eine andere Frage ist, ob und wieweit der Gesetzgeber der Schulkonferenz die Befugnis einräumen kann, die Zulässigkeitsvoraussetzungen für das Sponso42

So auch Meyer-Albrecht,

SchulRecht 1998, 19 (21).

43

Auf die Wesentlichkeitstheorie in ihrer Bedeutung für das Schulrecht kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Dazu Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis, 1986; aus neuerer Zeit Wimmer, Ein halbes Jahrhundert Gesetzesvorbehalt im Schulwesen, RdJB 1997, 15 ff. Bis heute ist im übrigen unklar, welche Entscheidungen „wesentlich" sind. Ossenbühly Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, S. 315 (338), vertritt die These, es bestehe weitgehend Einigkeit darüber, daß es kaum gelingen werde, generelle Kriterien für die Wesentlichkeit einer Entscheidung zu entwickeln. Letztlich dürfte das wesentlich sein, was das BVerfG als wesentlich erachtet. Das ist gerade in jüngster Zeit bei der Antwort auf die vom BVerfG verneinte Frage, ob die Rechtschreibreform einer Regelung durchförmliches Gesetz bedarf (BVerfG, Urt. vom 14.7.1998, EuGRZ 1998, 395 ff.), deutlich geworden. 44

So ist in Baden-Württemberg und Berlin die Zulässigkeit des Sponsoring durch Verwaltungsvorschriften, in Bayern durch Schulordnungen, also durch Rechtsverordnungen, geregelt.

336

Hermann Avenarius

ring zu regeln. Die Schulkonferenz ist ein aus Vertretern der Lehrer, Schüler und Eltern gebildetes Organ der Schule, das in den meisten Ländern die wichtigen Angelegenheiten der Schule berät und entscheidet.45 Das Demokratieprinzip steht der Delegation der Entscheidungskompetenz an die Schulkonferenz nicht entgegen. Zwar ist dieses Gremium nach den Kriterien des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit des schleswig-holsteinischen Gesetzes über die Mitbestimmung der Personalräte 46 demokratisch nicht legitimiert, weil es — zumindest soweit es die ihm angehörenden Schüler und Eltern betrifft — aus Mitgliedern besteht, deren Bestellung sich nicht auf das Staatsvolk zurückführen läßt. Da aber die Fachaufsicht der Schulverwaltungsbehörden über die Entscheidungen der Schulkonferenz gewahrt bleibt, ist die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Letztentscheidung eines dem Parlament verantwortlichen Verwaltungsträgers gesichert. 47

45

Z.B. §§ 128 ff. hess. SchulG.

46

Vom 24.5.1994, BVerfGE 93, 37.

47

Vgl. BVerfGE 93, 37 (70). Zur Vereinbarkeit der sog. Schulautonomie mit dem Demokratieprinzip vgl. Höfling, RdJB 1997, 361 ff.; Avenarius, Schulische Selbstverwaltung und Demokratieprinzip (Fn. 9), S. 185 ff.

Behinderung und freie Schulartwahl Von Jan Castendiek

I . Einleitung I m Rahmen der Verfassungsreform v o m 27. Oktober 1994 wurde an Art. 3 Abs. 3 G G ein Satz 2 angefugt. Diese Bestimmung lautet: „ N i e m a n d darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." 1 In der Diskussion über die Auslegung der neuen Grundrechtsnorm war praktischer Anknüpfungspunkt häufig die Überweisung eines behinderten Kindes in eine Förderschule 2 ; auch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts liegt hierzu mittlerweile vor. 3 Die Auslegung des Benachteiligungsbegriffs in der genannten Konstellation ist das Thema der folgenden Untersuchung. I m Schulbereich besteht für Schüler und Eltern grundsätzlich ein freies Wahlrecht unter den angebotenen Schularten. 4 Dies folgt aus dem Grundrecht des Schülers auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit gemäß Art. 2 Abs. 1 G G 5 in Verbindung m i t dem elterlichen Erziehungsrecht nach Art. 6 Abs. 2 G G . 6 D e m Staat k o m m t gemäß Art. 7 Abs. 1 G G die Aufgabe der Organisa1 Zur Entstehungsgeschichte A. Jürgens , Der Diskriminierungsschutz im Grundgesetz, DVB1. 1997, 410 (410 f.); Sachs, Das Grundrecht der Behinderten aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, RdJB 1996, 154 (155). 2 Eine Benachteiligung Behinderter durch Überweisung in eine Förderschule verneinend OVG Lüneburg, DVB1. 1997, 623 ff; VGH München, DVB1. 1997, 627 (Ls.); Dirnaicher , Bayerisches Schulrecht: Keine Benachteiligung Behinderter, BayVBl. 1997, 545 ff.; Engelken , Nochmals: Der Diskriminierungsschutz Behinderter im Grundgesetz, DVB1. 1997, 762 f. (m.w.N.); a.A. A. Jürgens (Fn. 1), 411; ders.: Vom Umgang mit Benachteiligungen, DVB1. 1997, 764; A. Jürgens/G. Jürgens, Sonderschulzuweisung als verbotene Benachteiligung Behinderter, NJW 1997, 1052 f. Vgl. auch Dietze, Einweisung behinderter Schüler in Sonderschulen oder Integration durch Besuch von Normalschulen?, JZ 1996, 1074 f. 3

Beschluß des 1. Senats des BVerfG - 1 BvR 9/97 - vom 8.10.1997, NJW 1998, 131 ff.

4

Bei den Entscheidungen der Schüler und Eltern ist ein eindeutiger Trend zu höherer Schulbildung erkennbar, Avenarius/Jeand'Heur, Elternwille und staatliches Bestimmungsrecht bei der Wahl der Schullaufbahn, 1992, S. 9 f. 5 Ein besonderes Grundrecht auf Bildung ist dem Grundgesetz nicht zu entnehmen: vgl. BVerfGE 58, 257 (272), BVerfGE 34, 165 (195). 6 Püttner, in: Achterberg / Püttner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 1990, Kap. 3/2, Rn. 289. Eine Ablehnung aus Kapazitätsgründen kommt insoweit grundsätzlich nicht in Betracht, Avenarius / Jeand'Heur (Fn. 4), S. 53 ff.

22 GS Jeand' Heur

338

Jan Castendiek

tion, Leitung und Planung des Schulwesens zu.7 Die insoweit zuständigen Länder nehmen hierbei zugleich die kollidierenden Interessen anderer Eltern und Schüler wahr, deren durch Art. 2 Abs. 1 GG geschütztes Interesse an optimalen Entfaltungsmöglichkeiten das Erfordernis von Zugangsbeschränkungen statuiert. Hierdurch werden staatliche Letztentscheidungsbefugnisse gerechtfertigt. 8 Eine entsprechende Konfliktlage ergibt sich bisweilen bei der Entscheidung der Bildungsbehörde, einen behinderten Schüler einer Förderschule zuzuweisen. Mit der Wahl des Bildungsweges wird weitgehend über den künftigen Lebensweg entschieden9; daher kommt dieser Entscheidung besondere Relevanz für die individuelle Persönlichkeitsentfaltung zu. Dies gilt in verstärktem Maße für die Entscheidung über den Besuch einer Regelschule oder einer Förderschule 10. Hierbei ist nämlich zusätzlich zu berücksichtigen, daß auch abgesehen von der Frage nach erreichbaren Schulabschlüssen der tägliche Kontakt in der Schule entweder mit Gruppen von gesunden Kindern oder mit aufgrund bestimmter „Normabweichungen" besonders selektierten Gruppen - die betreffenden Schüler in entscheidender Weise für ihr Leben prägt. Die anzuwendenden Verfassungsnormen sind zunächst einmal dieselben. Hinzu treten allerdings weitere Verfassungsgüter. Auf Seiten der Betroffenen gewinnt der Gleichheitssatz des Art. 3 GG große Bedeutung. Dessen Abs. 1 verbot schon seit Inkrafttreten des Grundgesetzes Ungleichbehandlungen im Sinne einer willkürlichen Selektion Behinderter. Nunmehr tritt das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hinzu. Zum Persönlichkeitsrecht der anderen Schüler aus Art. 2 Abs. 1 GG als dem für Ablehnungsentscheidungen weiterführenden Schulbesuchs letztlich allein rechtfertigenden Kriterium 11 tritt die Budgethoheit des Parlaments, die Grundlage allgemeiner Zurückhaltung bei der Anerkennung grundrechtlich gebotener originärer Leistungsrechte ist. Integrative Beschulung erfordert oftmals erhebliche zusätzliche Mittel. Auch wenn man davon ausgeht, daß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gegenüber der Schulverwaltung grundsätzlich keine Leistungsan-

7

Pieroth, in: Jarass/Pieroth,

8

Avenarius/Jeand'Heur

9

Püttner (Fn. 6), Rn. 289.

Grundgesetz, Art. 7 Rn. 3 m.w.N.

(Fn. 4), S. 44 f. m.w.N. in Fn. 93 auf S. 45.

10

Synonym gebraucht werden für den hier verwandten Begriff der „Regelschule" derjenige der „allgemeinen Schule", so etwa BVerfG, NJW 1998, 131 (133); VGH München, BayVBl. 1997, 561; und für denjenigen der „Förderschule", wie er etwa in § 36 SchulG M-V Verwendung findet, der in vielen landesrechtlichen Schulgesetzen enthaltene überkommene Terminus der „Sonderschule". 11 Die Bestimmung des Art. 7 Abs. 1 GG vermag Grundrechtsbeschränkungen nicht als eigenständiges Verfassungsgut zu rechtfertigen, vielmehr stellt auch die staatliche Schulaufsicht an die Grundrechte gebundene Ausübung von Staatsgewalt dar: Vgl. BVerfG, NJW 1998, 131 (134 f.).

Behinderung und freie Schulartwahl

339

Sprüche auf Bereitstellung zusätzlicher Ressourcen gewährt 12 , so kann hieraus doch keinesfalls die generelle Annahme gestützt werden, individuelle Ansprüche auf integrative Beschulung kämen nicht oder nur in seltenen Ausnahmekonstellationen in Betracht. Dies zeigt die spezielle Erwähnung der Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung in § 40 Abs. 1 Ziff. 3 BSHG im Rahmen der Vorschriften über die Eingliederungshilfe für Behinderte. Hinzu kommt das Wunsch- und Wahlrecht des § 3 Abs. 2 BSHG. Hiernach soll Wünschen des Hilfeempfängers, die sich auf die Gestaltung der Hilfe richten, entsprochen werden, soweit sie angemessen sind. Die Einräumung dieser sozialrechtlichen Ansprüche führt dazu, daß die Fälle, in denen die integrative Beschulung für die - über die Zulassung des Betroffenen zur Regelschule entscheidende — Schulverwaltung kostenneutral ausfällt, durchaus eine erhebliche praktische Relevanz aufweisen. Die Kostenübernahme erfolgt in diesen Fällen durch den zuständigen Träger der Sozialhilfe. Hinsichtlich entstehender Mehrkosten der integrativen Beschulung findet § 3 Abs. 2 Satz 3 BSHG Anwendung, wonach der Sozialhilfeträger Wünschen des Hilfeempfängers insoweit nicht zu entsprechen braucht, als diese mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sind. Im Umkehrschluß folgt daraus allerdings auch, daß verhältnismäßige Mehrkosten einer Bewilligung nicht entgegenstehen. Die effektive Umsetzung solcher Wahlmöglichkeiten ist um so mehr in Ländern geboten, in denen die Landesverfassung ein Gebot besonderen Schutzes behinderter Menschen beinhaltet.13 Die Entscheidung über Förderschule oder integrative Beschulung fällt somit nicht selten aufgrund einer Abwägung zwischen dem Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und dem Grundrecht der anderen Schüler auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit, die im Wege praktischer Konkordanz zum Ausgleich zu bringen sind. Daß diese Abwägung häufig zum Vorrang integrativer Beschulung führt, wird noch aufzuzeigen sein. Die Anwendung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG allerdings setzt voraus, daß der Normbereich dieser Bestimmung tangiert ist. Hierfür ist das Verständnis des Benachteiligungsbegriffs von entscheidender Bedeutung.

12

Beschluß des BVerwG vom 14.8.1997 - 6 B 34.97 S. 8 m.w.N.; Sachs (Fn. 1), 171; Klein, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein, Kommentar zum Grundgesetz,, 8. Aufl. 1995, Art. 3 Rn. 42a; Osterloh, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 1996, Art. 3 Rn. 305; A. Jürgens (Fn. 1), 412; Engelken (Fn. 2), 763. 13 Vgl. Art. 17 Abs. 2 Verf. M-V: „Land, Gemeinden und Kreise gewähren alten und behinderten Menschen besonderen Schutz."

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II. Die speziellen Gleichheitsanforderungen des Art. 3 Abs. 3 GG 1. Zur Struktur des Gleichheitssatzes Das Eingriffs- und Schrankenschema der Freiheitsgrundrechte soll sich nach bislang h.M. 1 4 auf Gleichheitsprüfungen nicht übertragen lassen. Vielmehr soll der Gleichheitssatz hiernach nur gegen unsachliche Differenzierungen schützen. Demzufolge wird zwischen Schutzbereich und Eingriff nicht unterschieden. Bei Vorliegen hinreichender sachlicher Gründe für eine Differenzierung soll vielmehr eine für Art. 3 Abs. 1 GG relevante Ungleichbehandlung bereits tatbestandlich nicht gegeben sein 15 . Dies liegt im Bereich des Art. 3 Abs. 1 GG deshalb nahe, weil das gesamte Recht aus Ausdifferenzierungen und mithin der Ungleichbehandlung verschieden gelagerter Sachverhalte besteht. Die geschilderte Eingrenzung des Schutzbereichs durch Anerkennung „negativer Tatbestandsmerkmale des Gleichheitssatzes", zu denen insbesondere die Willkür gehört 16 , birgt allerdings die Gefahr einer Vermengung der Grenzen individuellen Grundrechtsschutzes und vernünftiger oder gebotener Erwägungen des Gemeinwohls. Dies ist allenfalls dann zu rechtfertigen, wenn der individuelle Grundrechtsschutz im Einzelfall über den Schutz vor willkürlicher Ungleichbehandlung gegenüber gleichgelagerten Fällen nicht hinausreicht, was im Bereich des Art. 3 Abs. 1 GG naheliegt. Etwas anderes aber muß in den Fällen gelten, in denen ein weiteres Rechtsgut als geschütztes Interesse isolierbar ist. So schützt Art. 3 Abs. 3 GG nicht nur vor willkürlicher Ungleichbehandlung aufgrund der dort genannten Merkmale, sondern generell vor Ungleichbehandlungen, zu denen diese Merkmale herangezogen werden. Geschützt ist hier zusätzlich das individuelle Interesse des betroffenen Grundrechtsträgers, wegen der dort genannten Kriterien von der Staatsgewalt nicht anders als sonstige Regelungsadressaten behandelt zu werden. Eine Trennung der Gleichheitsprü14

Nachweise bei Huster, Gleichheit und Verhältnismäßigkeit, JZ 1994, 541 (dort Fn. 10).

15

Vgl. statt aller Kirchhof, Der allgemeine Gleichheitssatz, in: Isensee /Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, S. 837 (965 f.). Anders hingegen Huster (Fn. 14), 547 ff. sowie Pieroth/Schlink, Staatsrecht II - Grundrechte, 12. Aufl. 1996, Rn. 471 ff., die ausdrücklich in „Ungleichbehandlung" und „Verfassungsrechtliche Rechtfertigung" untergliedern, obwohl die Verwendung der Terminologie „Eingriff in den Schutzbereich" für den Gleichheitssatz auch dort abgelehnt wird (ebd., Rn. 10). Für eine Verwendung des Begriffs „Schutzbereich" demgegenüber Jarass (Fn. 7), vor Art. 1 Rn. 13. Die Terminologie der Prüfung Gleichheitssatzes zeigt insgesamt ein ebenso verwirrendes Bild wie die Frage nach den Kriterien dieser Prüfung. 16

Gubelt, in: von Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 4. Aufl. 1992, Art. 3 Rn. 13; je nach Auffassung wird man hierzu weitere Voraussetzungen etwa im Sinne der „Art-und-Gewicht-Formel" des 1. Senats des BVerfG zu zählen haben. Grundlegend zur „Artund- Gewicht- Formel" BVerfGE 55, 72 (88); umfangreiche weitere Nachweise aus der Rspr. des BVerfG bei Sachs, Die Maßstäbe des allgemeinen Gleichheitssatzes - Willkürverbot und sogenannte neue Formel, JuS 1997, 124 (126), bzw. bei Huster (Fn. 14), S. 542.

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fiing in die Feststellung des Eingriffs in dieses Schutzgut und anschließend die Untersuchung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung ist hier ohne weiteres möglich. 17 2. Art. 3 Abs. 3 GG als „absolutes" Differenzierungsverbot Welche Berührung mit den Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 GG eine Maßnahme aufweisen muß, damit in dieser ein Eingriff in den Schutzbereich dieser Bestimmung erblickt werden kann, wird nicht einheitlich beantwortet. Unterschieden werden hier insbesondere das Anknüpfungsverbot und das Begründungsverbot. 18 Unzulässig ist insbesondere die tatbestandliche Verwendung eines der Merkmale des Art. 3 Abs. 3 GG als gesetzliche Voraussetzung einer Differenzierung („Anknüpfungs verbot"). Diese Betrachtungsweise allein wird allerdings dem Sinn der Vorschrift nicht gerecht. Auch die mittelbare Differenzierung aufgrund neutral formulierter Kriterien, die jedoch in gewisser Regelhaftigkeit mit den Kriterien des Abs. 3 in Verbindung stehen und sich somit als von Art. 3 Abs. 3 GG erfaßte Ungleichbehandlung auswirkt, ist schon aus Gründen effektiven Grundrechtsschutzes ohne entsprechende Rechtfertigung untersagt. Bei der Begründung einer Ungleichbehandlung darf also nicht auf die in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Kriterien abgestellt werden („Begründungsverbot"). Eine Differenzierung nach den Merkmalen des Art. 3 Abs. 3 GG ist folglich auch ohne ihre ausdrückliche Nennung im Normtext unzulässig. Die Intention der Bestimmung verbietet jegliche Form der Differenzierung nach den dort genannten Kriterien, da anderenfalls die Gefahr einer Umgehung, sei es durch Vorschieben anderer Gründe 19 oder durch Zugrundelegung des Inhalts verfestigter Vorurteile, erheblich wäre. 20 Es handelt sich um absolute Differenzierungsverbote in dem Sinne, daß grundsätzlich keine Ungleichbehandlung aufgrund dieser Kriterien stattfinden darf. 21 Die mit der Differenzierung verfolgten Zwekke sind dabei unerheblich. Dieser Auffassung hat sich mittlerweile auch das BVerfG angeschlossen.22 17 Angesichts deutlich abgrenzbarer Schutzgüter ist auch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung hier ohne weiteres durchführbar: zu Problemen der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des Gleichheitssatzes instruktiv Huster (Fn. 14), S. 541 ff. 18 Ausführlich hierzu Heun, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. I, 1996, Art. 3 Rn. 108 ff. 19

Hieraufstellt Gubelt (Fn. 16), Art. 3 Rn. 104, ab.

20

Jarass (Fn. 15), Art. 3 Rn. 74 m.w.N.; in diesem Sinne auch Pieroth/Schlink (Fn. 15), Rn. 491; Sachs, in: Isensee /Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 126 Rn. 74; Gubelt (Fn. 16), Art. 3 Rn. 104 mit Nachweisen aus der älteren Rspr. zur Gegenauffassung, die er - unzutreffend - als die „wohl h.M." bezeichnet; A.A. Klein (Fn. 12), Art. 3 Rn. 40 f. m.w.N. 21

Jarass (Fn. 15), Art. 3 Rn. 68.

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Ausnahmen vom Differenzierungsverbot bestehen in zwei Fallgruppen. Erstens können kollidierende Verfassungsbestimmungen wie etwa Art. 12a GG als Spezialvorschriften vom allgemeineren Differenzierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG eine Ausnahme konstituieren. Zweitens sind Ausnahmen aus der „Natur der Sache" anzuerkennen, was in der Praxis wiederum vorwiegend die Differenzierung von Mann und Frau betrifft. Gemeint ist hier die zwingende Notwendigkeit einer Ungleichbehandlung aufgrund wissenschaftlich unbestritten feststehender Unterschiede. 23 Auf Wertungsfreiheit der Differenzierung und ihrer Auswirkungen ist aufgrund der Intention des Abs. 3 hierbei allerdings besonders zu achten.24 3. Die Anerkennung von Rechtfertigungen Darüber hinaus ist eine Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen nur in engen Grenzen anzuerkennen. Hier ist darauf abzustellen, daß die Bestimmung anderen vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten entspricht. Wie diese ist sie nach Maßgabe verfassungsimmanenter Grenzen im Rahmen einer „strengen" Verhältnismäßigkeitsprüfüng 25 zu konkretisieren. Bei zwingender Erforderlichkeit einer Differenzierung kann diese zum Schutz im Einzelfall vorrangiger Gemeinwohlbelange zulässig sein.26 Die Möglichkeit der Rechtfertigung folgt aus der Erwägung, daß dem Grundrecht auf Gleichbehandlung auch in seiner speziellen Ausprägung des Art. 3 Abs. 3 GG kein Rang zukommt, der wie etwa der Schutz der Menschenwürde alle anderen Gemeinschaftswerte überragt.

22

BVerfGE 85, 191 (206); anders noch BVerfGE 75, 40 (70) m.w.N.

23

Zu den Ausnahmen insgesamt Heun (Fn. 18), Art. 3 Rn. 122; Gubelt (Fn. 16), Art. 3 Rn. 104, 87 ff.; speziell zu Ausnahmen aufgrund „Natur der Sache" Gubelt a.a.O. Rn. 89. Ausnahmen ablehnend Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 795 ff. 24 Angesichts der Schutzrichtung des Art. 3 Abs. 3 GG kann erwogen werden, eine naturwissenschaftliche Belegbarkeit des Erfordernisses unterschiedlicher Behandlung zu fordern, die als allgemein anerkannt und wissenschaftlich gesichert bezeichnet werden kann. Eine geisteswissenschaftliche Belegbarkeit ist problematischer, da es selbstverständlich nicht Gegenstand dieser auf atypische Konstellationen abstellenden Öffnung der speziellen Gleichheitssätze ist, etwa tradierte Vorstellungen von Geschlechterrollen weiterzuführen oder gar Vorstellungen bestimmter Eigenschaften verschiedener Völkergruppen Vorschub zu leisten. 25 Osterloh (Fn. 12), Art. 3 Rn. 254 m.w.N.; vgl. auch Pieroth/Schlink (Fn. 15), Rn. 497. Die Rechtsgüterabwägung im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfüng ist hier auch ohne weiteres möglich. Der Umstand, daß. bei der Prüfung einer Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes nicht immer klar bestimmbare Rechtsgüterkonflikte auszumachen sind, was zu Problemen der Verhältnismäßigkeitsprüfüng führt, gilt nicht in gleicher Weise für Art. 3 Abs. 3 GG. 26

So Jarass (Fn. 15), Art. 3 Rn. 78; Katz, Staatsrecht, Rn. 706. Dies gilt für mittelbare Auswirkungen. Eine Differenzierung unter unmittelbarer Heranziehung der Kriterien des Art. 3 Abs. 3 GG ist hingegen grundsätzlich ausgeschlossen: Sachs (Fn. 20), § 126 Rn. 59 ff.

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4. Besonderheiten im Bereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG Kollidierende verfassungsrechtliche Spezialvorschriften als Ausnahmen vom Differenzierungsverbot wären auch im Regelungsbereich des Satzes 2 heranziehbar. Sie existieren allerdings faktisch nicht. Eine solche Spezialbestimmung ist jedenfalls nicht die Anordnung der staatlichen Schulaufsicht in Art. 7 Abs. 1 GG. Hierbei handelt es sich um Ausübung von durch die Grundrechte gebundener Staatsgewalt und keineswegs um einen von dieser Bindung gelösten Verfassungswert, der Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG entgegengehalten werden könnte. 27 Die Ausnahme, die für Fälle wissenschaftlicher Belegbarkeit von Unterschieden hinsichtlich sachgerechter und wertfreier Differenzierungen im Bereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG anerkannt werden kann, läßt sich auf den Regelungsbereich des Benachteiligungsverbotes nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG hingegen nicht übertragen. 28 Der Begriff der Behinderung 29 nämlich setzt eine wissenschaftliche Belegbarkeit von Unterschieden, an die sachlich gebotene Differenzierungen angeknüpft werden können, geradezu voraus. Das in Satz 1 diesbezüglich vorgefundene Regel-Ausnahme-Verhältnis ist vollständig aufgehoben. Während dort eine Absage an Vorurteile, überlieferte Verständnisse von gesellschaftlichen Rollen oder gar an Vorstellungen verschiedener Wertigkeiten erteilt wird, weitgehend ohne daß dort naturwissenschaftlich greifbare Unterschiede bestehen, ist der Ausgangspunkt hier vollkommen anders. Bei der differenzierten Behandlung Behinderter wird regelmäßig an wissenschaftlich belegbare Unterschiede angeknüpft, ohne die keine Behinderung feststellbar ist. Die Erlangung eines derartigen Belegs ist angesichts der regelmäßig damit verbundenen Leistungsansprüche in der Praxis durchaus begehrt. Die Einräumung solcher Ansprüche wiederum beruht regelmäßig auf dem Gedanken des Nachteilsausgleichs. Auch in anderen Fällen einer Anknüpfung an den Behinderungsbegriff liegen regelmäßig wertneutrale Sacherwägungen zugrunde. Derartige gegenüber der Behinderung wertfreie Differenzierungen können im Bereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG somit keine Ausnahmen rechtfertigen, da sie die Regel darstellen. Eine staatliche Andersbehandlung von Behinderten berührt somit regelmäßig den Schutzbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, soweit darin eine Benachteiligung zu erblicken ist. Falls eine Differenzierung im Einzelfall benachteiligend wirkt, ist hiermit allerdings das verfassungsrechtliche Unwerturteil noch nicht gefallt. Vielmehr ist in solchen Fällen die Ebene von Eingriffen in den Regelungsbereich er27 So zutreffend BVerfG, NJW 1998, 131 (134 f.) entgegen OVG Lüneburg, NJW 1997, 1087 (1089); VGH München, BayVBl. 1997, 561 (563); BayVBl. 1998, 180 (183); Dirnaichner (Fn. 2), 551. 28 29

A.A. offenbar Sachs (Fn. 1), 169.

Hierzu Heun (Fn. 18), Art. 3 Rn. 121; Sachs (Fn. 1), 163 ff.; Osterloh (Fn. 12), Art. 3 Rn. 308 ff. m.w.N.; A. Jürgens (Fn. 1), 411.

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reicht. Solche Eingriffe bedürfen verfassungsrechtlicher Rechtfertigung. Es bedarf der Benennung kollidierender verfassungsrechtlicher Rechtspositionen30, deren Verwirklichung im Rahmen einer Abwägung als vorrangig erscheint. Wie oben dargelegt, begründen Defizite in der Leistungsfähigkeit die Annahme einer Behinderung überhaupt erst. Das Benachteiligungsverbot verlöre somit seinen Sinn, ließe sich eine Schlechterstellung allein mit dieser geringeren Leistungsfähigkeit begründen. Bei der Vergabe öffentlicher Ämter stellt Art. 33 Abs. 2 GG insoweit allerdings einen eigenständigen Verfassungsbelang dar, der mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG abgewogen werden muß. Andere nachteilige Differenzierungen aufgrund von Behinderung müssen aber ebenfalls auf Verfassungsbestimmungen gestützt werden können: Ist etwa die Nichterteilung eines Kfz- Führerscheins an Blinde bei einer Abwägung mit dem Grundrecht anderer Verkehrsteilnehmer auf Leben und körperliche Unversehrtheit noch unmittelbar einsichtig, so ist dies bei einem Tauben, dessen andere Sinneswahrnehmungen regelmäßig gegenüber Gesunden noch geschärft sind, schon wesentlich problematischer. Auch hier allerdings kann letztlich allein Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG die Nichterteilung der Fahrerlaubnis rechtfertigen. Nach Art und Maß der verminderten Leistungsfähigkeit entscheidet sich im Einzelfall, ob die verfolgten Gemeinwohlerwägungen eine Andersbehandlung begründen können. All dies gilt allerdings nur für solche Differenzierungen, die eine Benachteiligung darstellen. I I I . Der Begriff der Benachteiligung Es überrascht kaum, daß der Begriff der Benachteiligung alles andere als klar ist. Zwar ist er in Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG schon länger enthalten, jedoch kommt ihm dort nicht die gleiche Tragweite zu, da diese Bestimmung neben Benachteiligungen auch jede Bevorzugung verbietet und somit mit dem Begriff der Differenzierung operiert werden kann.31 Dieses „absolute" Differenzierungsverbot zwingt nicht zu einer genauen Bestimmung des Benachteiligungsbegriffs. 32 Im Bereich des Satzes 2 kommt ihm eine wesentlich weitreichendere Bedeutung zu. 33

30 Vgl. Sachs (Fn. 1), 172; instruktiv ferner VGH München, BayVBl. 1998, 180 (183), allerdings unzulässigeiweise unter Heranziehung der staatlichen Schulaufsicht nach Art. 7 Abs. 1 GG als kollidierendes Verfassungsrecht. 31 32

Vgl. exemplarisch Guhelt (Fn. 16), Art. 3 Rn. 104.

Der Begriff wurde dort immer nur im Rahmen der Prüfung von auf dem Gedanken des Rechtsschutzbedürfnisses aufbauenden Zulässigkeitskriterien der Verfassungsbeschwerde, konkret der Beschwerdebefugnis, relevant: BVerfGE 79, 1 (17) im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde; BVerfGE 67, 239 (244) betrifft eine unzulässige Vorlage im Verfahren der konkreten Normenkontrolle; es genügt jeder Nachteil, also die Beeinträchtigung eines beliebigen Interesses, Jarass (Fn. 15), Art. 3 Rn. 75.

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1. Objektive oder subjektive Betrachtungsweise? Zunächst fragt sich, ob der Begriff objektiv oder subjektiv zu verstehen ist. Dies ist insbesondere bei Differenzierungen relevant, die nicht lediglich Vorteile - wie beispielsweise die Möglichkeit kostenloser Beförderung Behinderter in öffentlichen Verkehrsmitteln (§§ 59 ff. SchwbG) — oder nicht lediglich Nachteile — wie etwa die bereits erwähnte Weigerung der Erteilung einer Kfz-Fahrerlaubnis — mit sich bringen. In solchen Fällen sind die Ergebnisse objektiver und subjektiver Betrachtung deckungsgleich. Dies allerdings gilt nicht mehr, wenn eine unterschiedliche Behandlung teils Vorteile, teils Nachteile mit sich bringt, wie dies etwa bei isolierter Betrachtung des Kündigungsschutzes nach §§ 15 ff. SchwbG der Fall ist. Ohne flankierende Maßnahmen etwa der §§ 5 ff. SchwbG könnte eine solche zunächst begünstigende Regelung eine faktische Verschließung des Arbeitsmarktes für Behinderte zur Folge haben. Von besonderer Bedeutung wird die Unterscheidung der objektiven und der subjektiven Betrachtungsweise dann, wenn eine gänzlich andere Behandlung zwei unterschiedliche Sachverhaltskomplexe schafft, die einer Aufspaltung in einzelne Vor- und Nachteile kaum noch zugänglich sind, wie dies etwa bei der integrativen Beschulung und dem Besuch einer Förderschule der Fall ist. Weist schon der Begriff der „Benachteiligung" eine deutliche subjektive Prägung auf 34 , wird man auch angesichts der Bedeutung der Grundrechte als Individualrechtspositionen die subjektive Betrachtungsweise bevorzugen müssen. Das der Verfassung zugrundeliegende Bild des Menschen als zur individuellen Selbstbestimmung fähiges und berufenes Rechtssubjekt läßt eine objektive Betrachtungsweise nicht zu, da die Entscheidung für die Inkaufnahme von Nachteilen zur Erlangung andersartiger Vorteile niemals vollkommen objektiv sein kann. Vielmehr setzen bei der „objektiven" Betrachtungsweise andere Subjekte ihre Wertungen an die Stelle deijenigen des Betroffenen. Eine derartige Betrachtung im Sinne eines wohlverstandenen Interesses erinnert an Bevormundung. Das Grundgesetz hingegen billigt dem jeweiligen Grundrechtsträger zu, in den Grenzen kollidierender Verfassungsgüter seine eigene Wertordnung zugrundezulegen und sein Verhalten hieran auszurichten; dies zeigt vor allem die Gewährung der Glaubens- und Gewissensfreiheit in Art. 4 Abs. 1, 2 GG. Gewissensentscheidungen etwa können nicht nach objektiven Wahrheitsmaßstäben überprüft und als „richtig" oder „falsch" erachtet werden; allein eine Plausibilitätskontrolle ihrer Ernsthaftigkeit ist möglich. In deren Grenzen ist das Selbstverständnis des Grundrechtsinhabers maßgeblich.35 Eine 33 Die bevorzugte Behandlung von Behinderten, etwa an Behinderung anknüpfende allein vorteilhafte Regelungen wie etwa die Gewährung sozialrechtlicher Ansprüche, ist nach allgemeiner Meinung schon nach dem Regelungsbereich dieser Vorschrift nicht erfaßt: vgl. Ipsen (Fn. 23), Rn. 809 m.w.N. 34

So zutreffend Dirnaichner (Fn. 2), 549, der allerdings ohne verwertbare Begründung zu vollkommen anderen Ergebnissen kommt. 35

Morlok, in: Dreier, Grundgesetz, Bd. I, 1996, Art. 4 Rn. 22.

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Differenzierung wirkt sich unter Zugrundelegung dieser Wertmaßstäbe nachteilig aus, wenn sie subjektiv vom Betroffenen so empfunden wird 3 6 , falls nicht und dies ist das einzig anzuerkennende objektive Element des Begriffs - ein Nachteil schon nach dem Regelungsgehalt nicht ernstlich in Betracht kommen kann. 37 Letztere Überlegung greift jedoch im wesentlichen nur bei der Einräumung von Leistungsansprüchen. 2. Intensität Eine Benachteiligung setzt somit eine Differenzierung voraus, die subjektiv vom Betroffenen als nachteilig empfunden wird. Besondere Anforderungen an die Schwere dieses Nachteils sind nicht zu stellen.38 Entsprechend der zu den Freiheitsgrundrechten entwickelten Eingriffsdogmatik wird man bloße Lästigkeiten und Empfindlichkeiten ausklammern müssen. Hingegen bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß jenseits dieser Bagatellschwelle weitere Anforderungen hinsichtlich der Schwere nachteiliger Betroffenheit bestehen. Keinesfalls ist eine Auslegung vertretbar, die den Benachteiligungsbegriff mit einer Behandlung gleichsetzt, nach welcher der Betroffene „als Mensch und Person in seiner Würde verletzt oder herabgesetzt" wird. 39 Eine derartige Behandlung wäre zudem schon nach Art. 1 Abs. 1 GG unzulässig. 3. Nichtgewährung von Vorteilen als Benachteiligung? Nach absolut herrschender, wenn nicht einhelliger Meinung 40 vermag die Versagung einer Vorteilsgewährung für sich allein genommen keine Benachteiligung zu begründen. Dieser Auffassung ist angesichts des vorrangigen Cha36 So auch Sachs (Fn. 1), 168; a.A. Engelken (Fn. 2), 762 f. - Soweit Engelken a.a.O. S. 763 allerdings ausfuhrt, eine Benachteiligung setze die objektive Möglichkeit der Regelbeschulung voraus, und für die Frage nach dem Vorliegen der objektiven Möglichkeit sei wiederum von den landesrechtlichen Vorgaben auszugehen, gesteht er unzulässigerweise der Landesgesetzgebung die Entscheidung über die faktische Reichweite des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu. Dies kann bei Teilhaberechten zwar in Betracht kommen, im übrigen aber ist eine entsprechende Definitionsmacht des einfachen Gesetzgebers abzulehnen: Zutreffend die Kritik bei A. Jürgens (Fn. 2), 764. 37

Sachs (Fn. 1), 168 will gar „irrationale Interessen" einbeziehen, was allerdings zu weit gehen dürfte: Subjektive Empfindlichkeiten vermögen auch sonst keine Eingriffe in Grundrechte zu konstituieren. Wenn die Maßnahme ausschließlich einen Vorteil gewährt, wird sie auch dann nicht zur Benachteiligung, wenn sich einzelne Betroffene gleichwohl aufgrund der Andersbehandlung diskriminiert fühlen. 38 Osterloh (Fn. 12), Art. 3 Rn. 311, 84; Jarass, in: Jarass /Pieroth, 1997, Art. 3 Rn. 75, 82. 39 40

Grundgesetz, 4. Aufl.

So aber - ohne nähere Begründung - Dirnaichner (Fn. 2), S. 549 f.

Klein (Fn. 12), Art. 3 Rn. 42a; Osterloh (Fn. 12), Art. 3 Rn. 305; A. Jürgens (Fn. 1), S. 412; Engelken (Fn. 2), S. 763.

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rakters der Grundrechte als Abwehrrechte im Grundsatz zuzustimmen. Eine grundrechtliche Gewährung originärer Leistungsrechte kommt nur in äußerst engen Grenzen in Betracht, da anderenfalls die faktischen Handlungsmöglichkeiten der Staatsgewalt angesichts begrenzter finanzieller Ressourcen in unvertretbarer Weise eingeengt würden. 41 In diese Richtung weist auch die Parallelbetrachtung der gleichzeitig eingefügten Bestimmung des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG, wonach der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Mann und Frau fördert und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinwirkt. Eine entsprechende Bestimmung fehlt beim Benachteiligungsverbot Behinderter. Allerdings ist diese Ausklammerung der Leistungen aus dem Schutzbereich, so sehr sie allgemeiner Grundrechtsdogmatik entspricht, nicht so selbstverständlich, wie dies auf den ersten Blick den Anschein hat. Bedenken ergeben sich zunächst aus dem Zweck der Bestimmung: Das Benachteiligungsverbot soll dazu beitragen, weitestgehende Integration und gleiche Teilnahmemöglichkeiten Behinderter in allen Lebensbereichen zu verwirklichen. 42 Dies aber ist ohne den Einsatz finanzieller Mittel nicht realisierbar. Zudem ist ein Vergleich mit der Situation bei anderen Grundrechten noch aufgrund einer weiteren Überlegung ungenau. Die Integration Behinderter ist Anliegen auch des Sozialstaatsprinzips. Nach der Ausgestaltung des Prinzips in der Rechtsprechung des BVerfG schließt die Fürsorge für Hilfsbedürftige, die zu den selbstverständlichen Pflichten eines Sozialstaats gehört, notwendig die soziale Hilfe für Personen ein, die wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen an ihrer Entfaltung gehindert sind. Hiernach muß sich der Staat auch bemühen, die betroffenen Menschen soweit wie möglich in die Gesellschaft einzugliedern. 43 Die Eingliederungshilfe für Behinderte nach §§39 ff. BSHG ist somit durch das Sozialstaatsprinzip geboten. Daß den individuellen Vorstellungen des Betroffenen verfassungsrechtliches Gewicht zukommt, wurde bereits dargelegt und ist einfachrechtlich durch das Wunsch- und Wahlrecht des § 3 Abs. 2 BSHG umgesetzt. Die Herleitung von Leistungsansprüchen aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip ist folglich alles andere als abwegig. Zumindest wird man hier eine Geringfügigkeitsschwelle annehmen müssen, die eingreift, wenn die zur Wahrung der Interessen Behinderter erforderlichen 41

Demgegenüber werden Teilhaberechte, auch „derivative Leistungsrechte" genannt, durch Art. 3 Abs. 1 GG generell geschützt. Dieser Grundsatz, daß jeder betroffene Grundrechtsträger einen individuellen Anspruch auf gleichen Zugang zu den tatsächlich der Allgemeinheit zur Verfugung gestellten staatlichen Leistungen hat, gilt selbstverständlich auch im Bereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Eine Benachteiligung stellt somit auch der gleichheitswidrige Ausschluß von solchen Leistungen dar. 42 43

Sachs (Fn. 1), 161.

BVerfGE 44, 353 (375) m.w.N.; Jarass (Fn. 15), Art. 20 Rn. 74; Klein (Fn. 12), Art. 20 Rn. 20a.

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Mehrkosten die Gesamtkosten einer Maßnahme nur unerheblich erhöhen. Auch ein Abstellen auf „nicht unverhältnismäßige" Mehrkosten bietet sich an. Dies folgt aus einer Parallelbetrachtung des in § 3 Abs. 2 Satz 3 BSHG enthaltenen sozialhilferechtlichen Mehrkostenvorbehalts, wonach zur Realisierung besonderer Wünsche des Hilfeempfängers bei der Ausgestaltung der Hilfe Mehrkosten in ebendiesem Umfang zu übernehmen sind. Ein effektiver Grundrechtsschutz gebietet insoweit etwa — die Probleme bei der Abgrenzung des Kreises der subjektiv Berechtigten seien hier einmal ausgeklammert 44 - eine behindertengerechte Ausstattung neu angeschaffter öffentlicher Verkehrsmittel oder die Zugänglichkeit öffentlicher Neubauten, mögen derartige Vorrichtungen auch zu geringfügigen Mehrkosten führen 45, die aber im Verhältnis zur Gesamtinvestition nicht sonderlich ins Gewicht fallen. Auf den Bereich der integrativen Beschulung läßt sich letztere Überlegung freilich nicht übertragen. In welchen Fällen in einer Versagung von Unterstützungsleistungen für die Durchführung integrativer Beschulung eine Benachteiligung erblickt werden kann, ist eine diffizile Frage, der hier nicht weiter nachgegangen werden kann, zumal sie genauere Kenntnisse der Kostensituation im Einzelfall erfordert. 4. Normbereichsbeschränkung durch Kompensation der Benachteiligung? In seiner Entscheidung vom 8. Oktober 199746 geht das BVerfG von der grundsätzlich gegebenen Möglichkeit aus, die Benachteiligung durch individuelle Kompensation wieder zu beseitigen.47 Ein besonderes Element des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG sei gegenüber den Merkmalen des Satzes 1 der Umstand, daß die Behinderung unabhängig von gesellschaftlichen Auffassungen die Lebensführung für den Betroffenen grundsätzlich schwieriger mache.48 Somit

44

Einen Versuch hierzu unternimmt für den Bereich der behindertengerechten Ausstattung öffentlicher Bauten Grams, Anspruch auf behindertengerechten Zugang zu öffentlichen Einrichtungen?, BauR 1995, 195 (199, 203). 45

Zu dieser Problematik Osterloh (Fn. 12), Art. 3 Rn. 306. Inwieweit aus der objektivrechtlichen Dimension der Bestimmung das Gebot der Bereitstellung behindertengerechter Infrastruktur folgt, ist für diese Abhandlung nicht von Bedeutung; vgl. hierzu Osterloh a.a.O. Rn. 307. Das Erfordernis einer entsprechenden Ausgestaltung der Rechtsgrundlagen etwa im Bereich des Baurechts und eine Berücksichtigung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG bei exekutivischen Entscheidungen aller Art, etwa bei der Anschaffung neuer Linienbusse, dürfte allerdings zu bejahen sein; die Frage des individuellen Rechtsschutzes insoweit ist freilich eine andere. Ungenau insoweit allerdings das Beispiel bei A. Jürgens (Fn. 2), 764: Zwar muß nach hier vertretener Auffassung bei der Anschaffimg neuer Busse das Interesse der Behinderten berücksichtigt werden, eine Entscheidung gegen die Anschaffung neuer Busse überhaupt ist ausfiskalischen Erwägungen dagegen ohne weiteres legitim. 46 47

Fn. 3.

In diesem Sinne auch Engelken (Fn. 2), 763; wie hier dagegen Sachs (Fn. 20), § 126 Rn. 55.

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könne eine Benachteiligung auch bei einem Ausschluß von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein, falls eine hinreichende Kompensation durch eine auf die Behinderung bezogene Fördermaßnahme nicht erfolge. Wann eine solche Kompensation für das Nichtvorliegen einer Benachteiligung ausreichend sei, lasse sich nicht generell und abstrakt bestimmen. Dies hänge einzelfallbezogen von Wertungen, wissenschaftlichen Erkenntnissen und prognostischen Einschätzungen ab. 49 Ein Ausschluß wirkt hiernach also nicht benachteiligend, wenn er kompensiert wird. Dieser Auffassung kann allenfalls für die Fälle zugestimmt werden, in denen ein subjektiv empfundener Nachteil der Differenzierung gegenüber Nichtbehinderten aufgrund der Kompensationsmaßnahme nicht mehr verbleibt. 50 Anderenfalls aber reicht Kompensation nicht aus, um eine Benachteiligung tatbestandlich zu verneinen. Ein Blick auf die Zielrichtung der Beschränkung des Differenzierungsverbots auf „Benachteiligungen" schafft hier Klarheit. Diese Beschränkung diente nämlich allein dazu, Bevorzugungen wegen Behinderung nicht zu untersagen 51, ohne daß hierdurch das für Art. 3 Abs. 3 GG typische grundsätzliche Verbot unterschiedlicher Behandlung aufgegeben und die Beurteilung auf eine völlig neue Ebene transferiert werden sollte. Allerdings kann eine interessengerechte Kompensation bei der Abwägung mit kollidierenden Verfassungsgütern berücksichtigt werden, wenn und soweit die Schwere des Eingriffs hierdurch abnimmt. 52 In zwei Entscheidungen führt demgegenüber der VGH München in hier einschlägigem Zusammenhang mit Verweis auf die Zielsetzung des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG zutreffend aus, durch den Besuch verschiedener Schulen würden behinderte und nichtbehinderte Schüler ungleich behandelt, und diese Differenzierung indiziere bereits die Benachteiligung.53 Die Bestimmung solle nämlich Ausgrenzungen Behinderter verhindern. Bei der Überweisung auf eine Förderschule werde ein Kind gegen seinen Willen aus seinem bisherigen sozialen Umfeld herausgenommen. Die Bestimmung des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verbiete nicht nur sachwidrige Differenzierungen, sondern schließe grundsätzlich Differenzierungen aus, die an personenbezogene Merkmale anknüpften. 54 48 BVerfG, NJW 1998, 131 (132). Das BVerfG stellt nochmals klar, daß aus der Sonderstellung in Satz 2 folgt, daß Bevorzugungen mit dem Ziel einer Angleichung der Verhältnisse von Behinderten und Nichtbehinderten erlaubt seien, allerdings seien sie „nicht ohne weiteres auch verfassungsrechtlich geboten". 49

BVerfG, NJW 1998, 131 (132).

50

Zutreffend auf den „ausschließlich rechtlichen Vorteil" abstellend auch Sachs (Fn. 1), S. 168. 51

Sachs (Fn. 1), S. 167.

52

Der wohl bekannteste Anwendungsbereich dieser Konstellation ist die „ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung" im Rahmen des Art. 14 GG: Hierzu Jarass (Fn. 15), Art. 14 Rn. 32. 53

VGH München, BayVBl. 1998, 180 (183); BayVBl. 1997, 561 (563).

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Eine Kompensation durch Förderbeschulung bewirkt eben nicht, daß die Ungleichbehandlung beseitigt wird. 55 Die tatbestandsausschließende Zulassung von Kompensationsmaßnahmen ist wiederum das Einfallstor für die Ersetzung des Selbstbestimmungsrechts durch das wohlverstandene Interesse, also letztlich durch Fremdbestimmung, und ist als solche abzulehnen. Besonders problematisch ist dies, wenn hierdurch eine Ausgrenzung begründet werden soll. Das BVerfG selbst verweist insoweit auf die Entstehungsgeschichte der Bestimmung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG 56 , welcher die Anerkennung der besonderen Situation der Betroffenen zugrunde liegt. Bei einer Behinderung handelt es sich um eine Eigenschaft, die die Lebensführung grundsätzlich schwieriger macht und die nicht zu gesellschaftlichen oder rechtlichen Ausgrenzungen führen soll. Diese sollten vielmehr verhindert oder überwunden werden. Eine sachgerechte Kompensation einer Ausgrenzungsmaßnahme von einigem Gewicht, wie sie etwa die Förderschulüberweisung darstellt, ist ohnehin schwer vorstellbar. Das Konstrukt der normbereichsbeschränkenden Kompensation ist folglich abzulehnen, da es mit dem durch die Einfügung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verfolgten Ziel der Integration 57 ebenso wie mit der systematischen Stellung der Norm unvereinbar ist. 5. Ergebnis Eine Benachteiligung ist - unabhängig von etwaiger Kompensation durch ausgleichende Fördermaßnahmen - in jeder hoheitlichen Maßnahme zu erblikken, die Behinderte anders als Nichtbehinderte behandelt, wenn die Ungleichbehandlung vom Behinderten subjektiv als nachteilig empfunden wird. Unberücksichtigt bleiben allein Nachteile unterhalb einer Bagatellgrenze. Hiermit verwandt sind die Fälle subjektiver Empfindlichkeiten, in denen der Betroffene eine objektiv allein vorteilhaft wirkende Differenzierung als nachteilig auffaßt. Die Versagung von Leistungen kann in diesem Sinne ebenfalls benachteiligend wirken, soweit die begehrte Leistung vom im Sozialstaatsprinzip verankerten Gebot der Förderung benachteiligter Personen erfaßt ist, das durch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG eine neue grundrechtliche Dimension erhält.

54 VGH München, BayVBl. 1997, 561 (563); in den weiteren Ausführungen überzeugt die Entscheidung allerdings nicht mehr; dies gilt insbesondere für die Ausfuhrungen zur „praktischen Konkordanz" zwischen Art. 7 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, ebd., S. 563 f. 55 So auch Osterloh (Fn. 12), Art. 3 Rn. 312; A. Jürgens (Fn. 1), 411; A. Jürgens/G. Jürgens (Fn. 2), 1053; im Ergebnis ferner VGH Mannheim, Beschluß v. 3.9.1996 - 9 S 1971/96-, S. 7. 56

BT- Drucks. 12/8165, S. 28; angegeben bei BVerfG, NJW 1998, 131 (132).

57

Vgl. Sachs (Fn. 1), 161.

Behinderung und freie Schulartwahl

351

IV. Benachteiligung durch Förderschulüberweisung Ob eine Förderschulüberweisung gegen den Willen des betroffenen Schülers eine derartige Benachteiligung darstellt, wird uneinheitlich beantwortet. 58 Die Frage entscheidet sich daran, ob sie eine Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte darstellt. In diesem Falle entscheidet über die Qualifikation als Benachteiligung das subjektive Empfinden des Betroffenen.

1. Vergleichbarkeit Das Vorliegen einer Benachteiligung setzt eine Differenzierung, also eine Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte voraus. Diese Vergleichbarkeit ist auch bei Annahme erheblich unterschiedlicher Leistungsfähigkeit eindeutig gegeben, wie eine Betrachtung der landesrechtlichen Regelungen zu schulischem Auftrag und Lernzielen, etwa §§ 2 f. SchulG M-V, zeigt. Die schulische Ausbildung ist keineswegs allein leistungsorientiert, sondern dient umfassend der Persönlichkeitsentfaltung. 59 Probleme hinsichtlich der grundsätzlichen Vergleichbarkeit der Sachverhalte stellen sich im schulischen Bereich allenfalls partiell, nämlich hinsichtlich gewisser behinderungsspezifischer Leistungsdifferenzierungen. So dürfen zum Beispiel die normalen Zeitanforderungen im 100-m-Lauf an den gehbehinderten Schüler nicht gleichermaßen gestellt werden. Zeigt sich dies auch im Sportunterricht am plastischsten, so gilt doch in den anderen Unterrichtsfächern grundsätzlich Entsprechendes, ist dort auch bisweilen für Außenstehende schwer feststellbar, ob eine bestimmte Lernschwäche behinderungsbedingt ist. 60 Inwieweit diese Leistungsdifferenzierung aber innerhalb des Regelschulbetriebs im Wege integrativer Beschulung stattfinden sollte oder nicht, ist eine ganz andere Frage, für deren Beantwortung bisher keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse bestehen61 und deren Beantwortung somit nicht frei von subjektiver Einschätzung ist. Diese Einschätzung steht allein den Betroffenen zu. Im Ausgangspunkt kommt mithin eine Benachteiligung in Betracht, da bei der Zuweisung an eine Förderschule Vergleichbares unterschiedlich behandelt wird. 58

Grundsätzlich dafür A. Jürgens (Fn. 1), 411; grundsätzlich dagegen Dirnaichner (Fn. 2), S. 549 f.; differenzierend BVerfG, NJW 1998, 131 (132 ff.). 59

Dies verkennt Dirnaichner (Fn. 2), S. 549.

60

Im Fall BVerfG, NJW 1998, 131 ff. benötigte die körperbehinderte Beschwerdeführerin umfangreichen sonderpädagogischen Förderunterricht in Mathematik. Ausgeprägte Lernschwächen im Schulfach Mathematik allerdings sind ein verbreitetes Phänomen auch unter nichtbehinderten Schülern; eine Verknüpfung von Behinderung und Lernschwäche erscheint in vielen Fällen nicht unbedingt als naheliegend. 61 Überwiegend wird die integrative Beschulung positiv beurteilt: vgl. BVerfG, NJW 1998, 131 (132).

352

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2. Nachteil Wendet man das unter III. gefundene Ergebnis auf den Fall der Überweisung eines behinderten Schülers an eine Förderschule an, so stellt die Überweisung eine Benachteiligung immer dann dar, wenn der Schüler - oder in Wahrnehmung des Erziehungsrechts nach Art. 6 Abs. 2 GG dessen Eltern - diese Entscheidung als nachteilig empfinden. Es handelt sich hier um eine weit jenseits aller Bagatellgrenzen liegende Maßnahme, die den Betroffenen gegenüber Nichtbehinderten anders behandelt und die seinen Lebensweg entscheidend prägt. Das Vorliegen einer Benachteiligung ist in den strittigen Fällen also regelmäßig zu bejahen.62 Ein derartiges Ergebnis läge im übrigen auch dann nahe, wenn der Benachteiligungsbegriff entgegen der hier vertretenen Auffassung objektiv verstanden wird. Zu der Nachteilhaftigkeit eventuell erforderlicher Internatsunterbringung oder zeitintensiverer Schulwege tritt insbesondere das nicht zu unterschätzende Problem der Erschwerung oder Zerstörung gewachsener sozialer Kontakte. An deren Stelle treten zwar möglicherweise neue Kontakte zu Personen mit im wesentlichen gleichartiger Behinderung. Diese allerdings sind gerade für behinderte Schüler wegen typischerweise weit größerer Entfernungen außerschulisch schwieriger zu pflegen und vermögen Kontakte zu Nichtbehinderten auch im Lichte des Integrationsziels der Vorschrift nicht zu ersetzen. Die Förderschule markiert insoweit oftmals den Beginn eines Lebens in Sondereinrichtungen. 63 Auch eine Gleichwertigkeit der Abschlüsse ist in keiner Weise gegeben.64 Die Finanzierung allerdings ist aufgrund der verfassungsrechtlich unbedenklichen Zuständigkeitsverteilung von den Betroffenen mit der Sozialverwaltung zu klären. Sind - wie meist - kostenauslösende Maßnahmen für die integrative Beschulung erforderlich, so können sie aus fiskalischen Erwägungen von der Schulbehörde in Ausübung pflichtgemäßen Ermessens, das wiederum die Wertung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG zu berücksichtigen hat, abgelehnt werden, wenn das Sozialamt die Kostenübernahme verweigert hat. 65 62 Diese Einschätzung teilend Sachs (Fn. 1), 168; Osterloh (Fn. 12), Art. 3 Rn. 312 m.w.N.; tendenziell auch VGH Mannheim, Beschluß v. 3.9.1996 - 9 S 1971/96 - , S. 7 m.w.N. 63

A. Jürgens (Fn. 1), 411.

64

A. Jürgens, ebd.; das Gegenteil versucht Dirnaichner (Fn. 2), S. 550 zu suggerieren.

65

Vgl. hierzu den bei A. Jürgens (Fn. 1), 414 angegebenen Fall OVG Lüneburg, Beschluß vom 26.10.1995 - 13 M 6129/95 - : Hier hatten die Eltern erreicht, daß der zuständige Sozialhilfeträger im Rahmen der Eingliederungshilfe für Behinderte die Kosten für eine Stützkraft übernehmen wollte. Der Schulträger weigerte sich, die Stützkraft zum Unterricht zuzulassen; ein hiergegen gerichteter Antrag auf einstweilige Anordnung wurde vom OVG Lüneburg abgewiesen. Der Einschätzung von A. Jürgens a.a.O., es handle sich um eine „krasse Fehlentscheidung", ist beizupflichten.

Behinderung und freie Schulartwahl

353

3. Erforderlichkeit einer Interessenabwägung in den verbleibenden Fällen In den verbleibenden Fällen kommt allein eine Rechtfertigung zwangsweiser Förderschulüberweisung durch kollidierendes Verfassungsrecht in Betracht. Solche Erwägungen wie etwa diejenige, es müsse „ein ausgewogenes Verhältnis von Behinderten und Nichtbehinderten bestehen" oder ein Abstellen auf im Verhältnis zur drohenden Ausgrenzung des Betroffenen eher als marginal anzusehende Erschwerungen für Mitschüler und Lehrkräfte sind für sich allein genommen nicht zulässig.66 Eine Rechtfertigung von Benachteiligungen kann nur dann in Betracht kommen, wenn die entgegenstehenden Rechtsgüter überwiegen, was angesichts der einschneidenden Bedeutung der Entscheidung für den Betroffen nur der Fall ist, wenn die Gründe als zwingend anzusehen sind. 67 Nicht zulässig ist es demgegenüber, allein unter Verweis auf bestehende Kollisionen das Grundrecht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vorschnell zurücktreten zu lassen. Zu berücksichtigen sind die erheblichen Auswirkungen für den gesamten Lebensweg des Betroffenen, wobei die grundsätzliche Entscheidung für größtmögliche Integration durch die Zielrichtung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG getroffen ist und ein Verweis auf ein „fachlich hohes Niveau" der Förderschulen ebensowenig weiterführt, wie der Hinweis auf deren angebliche Integrationskraft 68 offenkundig fehlgeht. Es bedarf vielmehr sorgfältiger Abwägung und Darlegung der zwingenden Gründe im Einzelfall. 69 Für entsprechende Fälle gesunder Schüler wurde von Hermann Avenarius und Bernd Jeand'Heur dargelegt, daß weiterführender Schulbesuch zu versagen ist, wenn feststeht, daß die Teilnahme des Betroffenen am Unterricht die Mitschüler dauerhaft und nachhaltig in ihrer Entwicklung hemmt. 70 In diesen Fällen kommt dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht der Mitschüler in der Regel der Vorrang zu. So problematisch eine Begründung der Ausgrenzung Behinderter mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gesunder Mitmenschen auch ist, so ist hier doch die relevante verfassungsrechtliche Grundrechtskonkurrenz zu verorten. Die einschneidende Bedeutung der Maßnahme für den betroffenen Schüler allerdings fuhrt in Verbindung mit der gebotenen Toleranz gegenüber Behinderten dazu, daß dem Benachteiligungsverbot im Rahmen dieser Abwägung eine starke Position zukommt. Eine ablehnende Haltung von Mitschülern bzw. deren Eltern gegenüber lernzieldifferenzierter Integration ist ebensowenig 66

Engelken (Fn. 2), S. 763; A. Jürgens (Fn. 1), S. 412.

67

Vgl. A. Jürgens (Fn. 1), S. 412.

68

So Dirnaichner (Fn. 2), S. 550: Die Schulart Förderschule diene „als Gesamtsystem vielmehr gerade der Integration der Behinderten in Schule, Beruf, Gesellschaft und Arbeitsleben". 69

Zur gesteigerten Begründungspflicht BVerfG, NJW 1998, 131 (134).

70

Avenarius/Jeand'Heur

23 GS Jeand' Heur

(Fn. 4), S. 44 f.

354

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von Belang wie etwa unvermeidbare und vergleichsweise nicht erhebliche Verzögerungen im Unterrichtsablauf. Vielmehr muß die Beeinträchtigung der Lernmöglichkeiten für die betreffenden Mitschüler so gravierend sein, daß sie in ihrem geschütztem Interesse am Erhalt einer ihren Fähigkeiten entsprechenden Schulbildung ernstlich betroffen sind. Ist dies nicht der Fall, so steht auch ein landesrechtlicher Ausschluß lernzieldifferenzierter Integration der integrativen Beschulung nicht entgegen, da ein solcher angesichts der darin zu erblickenden Benachteiligung Behinderter bei gleichzeitigem Fehlen kollidierenden Verfassungsguts unzulässig ist. 71 Die Ablehnung der Aufnahme eines behinderten Schülers an eine Regelschule stellt dann eine Benachteiligung gemäß Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG dar, die mangels Rechtfertigung als Verfassungsverstoß zu werten ist.

71

Vgl. BVerfG, NJW 1998, 131 (132); a.A. VGH München, BayVBl. 1997, 561 (562 f.).

Die Reformen des Kindschaftsrechts und die Schule Von Ingo Richter

Bernd Jeand'Heur ging es in seiner 1993 veröffentlichten Habilitationsschrift 1 darum, verfassungsrechtlich zu begründen, daß der Staat das Wohl der Kinder schützen muß, wenn die Eltern dieses Wohl nicht hinreichend gewährleisten. Er interpretierte Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG als Garantienorm, die den Staat unter bestimmten Voraussetzungen zur Intervention verpflichtet. In Anknüpfung an die strukturierende Rechtslehre skizzierte Jeand'Heur in seiner Normbereichsanalyse Wandlungen der Familie und des Eltern-Kind-Verhältnisses, und er thematisierte in diesem Zusammenhang auch den Wandel der Partnerschaftsverhältnisse, Trennung und Scheidung einerseits und nichteheliche Elternschaft andererseits. Hieraus folgerte er jedoch nicht, daß es sich vielleicht um einen Garantiefall handeln könnte, daß dem Staat die Verpflichtung zuwachsen könnte, durch Neuregelungen des Sorgerechts einzugreifen und das Wohl des Kindes durch eine „Garantie der Elternschaft" zu sichern, wenn sich die Strukturen der Elternschaft so stark wandeln, daß das Wohl des Kindes gefährdet erscheint. Aus diesem Grunde fehlt in dem Buch eigentlich ein Kapitel „Das gemeinsame Sorgerecht zur Gewährleistung des Kindeswohls". Bernd Jeand'Heur traf zu Recht deutlich die Unterscheidung zwischen dem rechtsdogmatischen Charakter des „Wächteramtes" nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG und dem staatlichen Erziehungsauftrag nach Art. 7 Abs. 1 GG. Es ist nicht die primäre Aufgabe der Schule, die staatliche Verpflichtung zur Gewährleistung des Kindeswohls zu erfüllen. Dennoch sah Jeand'Heur angesichts der Erstreckung des Elternrechts auf die Schule durchaus auch die Möglichkeit, daß seine Auslegung des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG für die Schule relevant werden könnte. Er schrieb „(...) die Einräumung des staatlichen Wächteramtes macht nur hinsichtlich der Kontrollfunktion elterlicher Erziehungsrechte Sinn, während die staatliche Gemeinschaft auf dem Schulsektor davon verschiedene, nämlich weitergehende Pflichten und Kompetenzen auszuüben hat. Hier erwächst dem Staat qua Schulhoheit neben, aber anders als in Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG, ein eigenständiger Erziehungsauftrag, der ,in seinem Bereich dem elterlichen Erziehungsrecht nicht nach - sondern gleichgeordnet ist4 (...). Mithin nehmen die Normprogramme von Art. 6 Abs. 2 bzw. Art. 7 Abs. 1 GG 1 Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum Wohl des Kindes und staatliche Interventionspflichten aus der Garantienorm des Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG, 1993.

356

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auf jeweils unterschiedliche Normbereiche Bezug. Sachdaten aus dem Wirklichkeitsbereich Schule können demnach im vorliegenden Zusammenhang unberücksichtigt bleiben, es sei denn sie betreffen Fragen des teilweise in die staatliche Schulhoheit hineinwirkenden elterlichen Erziehungsrechts, so daß im Einzelfall eine Überschneidung der grundsätzlich spezifischen Regelungsbereiche feststellbar wäre." 2

Bernd Jeand'Heur hat sich diesen Fragen der Überschneidung in seinem Buch jedoch nicht gewidmet; so fehlt ein Kapitel „Die Bedeutung von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG als Garantienorm für das elterliche Erziehungsrecht in der Schule". Die Feststellung, daß Bernd Jeand'Heurs Habitationsschrift also eigentlich zwei Kapitel fehlen, ist jedoch nicht kritisch gemeint, sondern soll ganz im Gegenteil sagen, daß der verfassungsdogmatische Ansatz dieser Schrift noch über die Operationalisierung des zweiten und dritten Teils des Buches hinausreicht. Vielleicht hätte Bernd Jeand'Heur Rechtsentwicklungen der letzten Jahre in den Blick genommen, wenn er dazu noch die Chance gehabt hätte. Der folgende kleine Beitrag will und kann dies nicht leisten; er soll jedoch aus diesem Grunde als Hommage an Bernd Jeand'Heur verstanden werden. Ich werde im folgenden 1. das neue Kindschaftsrecht skizzieren, soweit es für meine Fragestellung wichtig ist, 2. die schulischen Entscheidungen identifizieren, bei denen eine Beteiligung der Schüler und Eltern eine Rolle spielt, 3. die Auswirkungen des neuen Kindschaftsrechts auf die Beteiligung der Eltern und Kinder an diesen Entscheidungen prüfen und 4. die Frage beantworten, ob diese Entwicklungen als Ausdruck einer staatlichen Gewährleistung des Kindeswohls im Sinne der These von Bernd Jeand' Heurs angesehen werden können. Ich spreche im folgenden stets von Kindern, wenn ich junge Menschen im Alter von 0 bis 18 Jahren meine; ich verwende also den familienrechtlichen Begriff und nicht den jugendrechtlichen Begriff; ich spreche insofern auch von Kindern, wenn es sich im jugendrechtlichen Sinne um Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren handelt. I. Neues Kindschaftsrecht Was ist neu am Neuen Kindschaftsrecht? Im Jahre 1998 ist das Kindschaftsrecht durch das Kindschaftsrechtsreformgesetz (KindRG) vom 16. Dezember 2

A.a.O. S. 35.

Die Reformen des Kindschaftsrechts und die Schule

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1997 (BGBl I S. 2942) in mehrfacher Hinsicht novelliert worden. In unserem Zusammenhang kommt es dabei nur auf die Regelung des gemeinsamen Sorgerechts im Falle von Trennung und Scheidung der Eltern einerseits und von Nichtehelichkeit der Geburt eines Kindes andererseits an, dazu sogleich. Es wäre aber zu kurz gegriffen, wenn wir nur diese Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge in ihrer Bedeutung für die Schule ins Auge fassen würden. Die grundlegende Neuregelung des Rechtsverhältnisses zwischen Kindern und Eltern erfolgte bereits durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechts zur elterlichen Sorge vom 18. Juli 1979 (BGBl I S. 1061), durch die das Recht der elterlichen Sorge im Gegensatz zum Recht der elterlichen Gewalt überhaupt erst geschaffen wurde. Ich werde diese beiden Umgestaltungen des traditionellen Kindschaftsrechts zum Neuen Kindschaftsrecht holzschnittartig kennzeichnen: 1. Von der elterlichen Gewalt zur elterlichen Sorge (1979) Bis zum Jahre 1979 stand das mindeijährige Kind unter der „elterlichen Gewalt des Vaters und der Mutter" (§ 1626 Abs. 1 a.F. BGB). Die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der familiären Erziehung hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits durchgesetzt; diese Entwicklung soll hier nicht nachgezeichnet werden. Die Eltern hatten die elterliche Gewalt „zum Wohle der Kinder" auszuüben (§ 1627 a.F. BGB); im Falle einer Gefährdung des Kindeswohls durch die Eltern drohte unter bestimmten Voraussetzungen die Entziehung oder Einschränkung der elterlichen Gewalt nach § 1666 a.F. BGB. Eine Beteiligung des Kindes an der Ausübung der elterlichen Gewalt war im Gesetz nicht vorgesehen, und zwar überhaupt nicht. Sie widersprach auch der Vorstellung davon, was elterliche Gewalt war, nämlich die Erziehung der Kinder aufgrund und nach Maßgabe des nach Art. 6 Abs. 2 GG geschützten Elternrechts. Zwar wurde dieses Elternrecht auch schon damals als treuhänderisches Recht für das Kind angesehen, wofür eine Vielzahl dogmatischer Konstruktionen entwickelt worden waren; 3 doch die Bestimmung darüber, was das Wohl des Kindes letztlich war, oblag den Eltern und niemandem sonst, weder der Schule noch dem Jugendamt und schon gar nicht den Kindern selber, dazu wurden sie gar nicht gefragt. Begrenzt wurde die Auslegung der elterlichen Gewalt zugunsten des Kindeswohls ausschließlich durch gerichtliche Entscheidungen; doch auch den Gerichten war angesichts der Auslegung des Elternrechtes durch das Bundesverfassungsgericht zugunsten der Eltern 4 Zurückhaltung auferlegt. 3 Richter, in: Kommentar zum Grundgesetz (Reihe Alternativkommentare), 2. Aufl. 1989, Art. 6 Rn. 34a. 4 Insbesondere durch BVerfGE 7, 320 ff. - Freikörperkultur - und 59, 360 ff. - Schweigepflicht.

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Die Ersetzung des Rechts der elterlichen Gewalt durch das Recht der elterlichen Sorge, die der verfassungsrechtlichen Fassung des Elternrechts als treuhänderisches Recht (s.o.) auf der Ebene des einfachen Rechts folgte, sollte nicht nur ein Lippenbekenntnis sein, nicht lediglich der Austausch des Wortes „Gewalt" durch das Wort „Sorge". Im neuen Recht der elterlichen Sorge sollten die Eltern ihr Recht wirklich im Interesse ihrer Kinder ausüben, und zwar -

durch die Beteiligung des Kindes an ihren Entscheidungen, („sie besprechen mit dem Kind - soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen an" - § 1626 Abs. 2 S. 2 n.F. BGB) und

— durch die Anerkennung eigener Entscheidungs- und Handlungsspielräume der Kinder (die Eltern berücksichtigen „die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewußtem Handeln " - § 1626 Abs. 2 S. 1 n.F. BGB). Beides war damals gänzlich neu, sowohl die Beteiligung wie die Selbständigkeit. Auch wenn die indikativische Formulierung auf „soft-law" schließen ließ, auch wenn die „Reifeklauseln" („wachsen" - „Entwicklungsstand") die Entscheidung über Beteiligung und Selbständigkeit zunächst einmal den Eltern anvertrauten, das Recht der elterlichen Sorge unterschied sich grundsätzlich vom Recht der elterlichen Gewalt. Das Herrschaftsverhältnis wurde durch ein Partnerschaftsverhältnis ersetzt. Hierin kam die Anerkennung einer verfassungsrechtlichen Grundtatsache zum Ausdruck, daß nämlich neben dem Grundrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 GG das Persönlichkeitsrecht des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 GG steht, welches sich zwar mangels „Drittwirkung" nicht unmittelbar gegen die Eltern richtet, das der Gesetzgeber jedoch mit dem Grundrecht der Eltern zu einem Ausgleich bringen muß. Das neue Recht der elterlichen Sorge von 1979 war der Versuch eines solchen Ausgleichs. Es ist hier nicht der Ort, darüber zu befinden, ob dieser Ausgleich auch faktisch gelungen ist, ob zwischen Eltern und Kindern ein partnerschaftliches Verhältnis auch wirklich entstanden ist.5 Für den Zusammenhang dieses Beitrages genügt die Feststellung, daß der Gesetzgeber 1979 das Kindschaftsrecht des BGB durch Einführung des Rechtes der elterlichen Sorge auf eine neue, eine partnerschaftliche Grundlage gestellt hat. - Gemeint ist hiermit die Partnerschaft zwischen Eltern und Kindern, nicht die Partnerschaft zwischen den Eltern, von der nun die Rede sein wird.

5 Die neuesten zusammenfassenden Darstellungen und Bewertungen sind enthalten in: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Kinder und ihre Kindheit in Deutschland. Eine Politik für Kinder im Kontext von Familienpolitik, 1998; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Kinder und ihre Kindheit in Deutschland, 10. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation von Kindern und die Leistungen der Kinderhilfen in Deutschland, BT-Drs. 13/11368 vom 25.08.1998.

Die Reformen des Kindschaftsrechts und die Schule

359

2. Von der elterlichen Sorge der Ehegatten zur elterlichen Sorge von Partnern (1998) Das Recht der elterlichen Sorge nach Maßgabe des BGB stand - wie das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 GG - den miteinander verheirateten leiblichen Eltern des Kindes zu, im Falle der Adoption auch den Adoptiveltern, denn durch Adoption erlangte das angenommene Kind die rechtliche Stellung eines „gemeinschaftlichen ehelichen Kindes der Ehegatten" (§ 1754 BGB). Waren Mutter und Vater dagegen nicht miteinander verheiratet, hatten sie nicht das Recht einer gemeinsamen elterlichen Sorge, und sie konnten dieses auch nicht erlangen, und zwar unter keinerlei Umständen, z.B. auch nicht, wenn sie in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft zusammenlebten. Das Recht der elterlichen Sorge kam vielmehr ausschließlich und unter allen Umständen allein der Mutter und nicht dem nichtehelichen Vater zu (§ 1705 a.F. BGB). Dieser konnte das elterliche Sorgerecht für sein Kind vielmehr nur erlangen, wenn er die Mutter heiratete (§ 1719 a.F. BGB) oder es mit Zustimmung der Mutter für ehelich erklären ließ (§ 1723 a.F. BGB), aber in diesem zweiten Fall handelte es sich nicht um die elterliche Sorge von Vater und Mutter. Wurde die Ehe der Eltern des Kindes geschieden, so wurde die elterliche Sorge durch das Familiengericht einem Elternteil allein übertragen; bis zum Jahre 1982 war die Aufrechterhaltung einer gemeinsamen elterlichen Sorge nach der Scheidung gesetzlich nicht vorgesehen (§ 1671 Abs. 4 a.F. BGB). Solange die Eltern aber verheiratet blieben und die Ehe nicht geschieden wurde, solange blieb auch das gemeinsame Sorgerecht der Eltern erhalten, und zwar auch, wenn die Eltern dauerhaft getrennt lebten, es sei denn, daß einem Elternteil auf Antrag das alleinige Sorgerecht durch die Entscheidung des Familiengerichts übertragen wurde (§ 1672 a.F. BGB). Die gemeinsame elterliche Sorge war also - sieht man von diesem Trennungsfall einmal ab - an die Ehe der Eltern gebunden. Waren die Eltern verheiratet, hatten sie das gemeinsame Sorgerecht; waren sie nicht oder nicht mehr verheiratet, hatten sie ein gemeinsames Sorgerecht nicht. Diese Bindung der elterlichen Sorge an eine bestehende Ehe der Eltern hat der Gesetzgeber im Jahre 1998 aufgehoben, denn die Ehe ist nun nicht mehr die grundsätzliche regelhafte Voraussetzung der Ausübung einer gemeinsamen elterlichen Sorge. Dieser Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge waren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vorangegangen, die den Gesetzgeber auf diesen Weg zwangen: -

1982 entschied das Bundesverfassungsgericht, daß auch im Falle der Scheidung ein gemeinschaftliches Sorgerecht möglich sein müsse,6

-

1991 entschied das Bundesverfassungsgericht, daß auch dem nichtehelichen Vater das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 GG zusteht und daß der Gesetzgeber 6

BVerfGE 61, 358.

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deshalb eine Regelung für die Form der Ausübung dieses Elternrechts treffen müsse.7 Es kam hinzu, daß die UN-Kinderkonvention von 1989 (Übereinkommen über die Rechte des Kindes, BGBl. 1990 II S. 121) die Bundesrepublik verpflichtete, das Recht der elterlichen Sorge von der bestehenden Ehe der Eltern zu lösen, denn Art. 9 Abs. 3 der Konvention sieht ein Recht des Kindes auf regelmäßige persönliche Beziehungen und unmittelbaren Kontakt zu beiden Eltern vor. Der deutsche Gesetzgeber hat sich nun den internationalrechtlichen und verfassungsrechtlichen Verpflichtungen gebeugt und das elterliche Sorgerecht in dem Sinne neu geregelt, daß die bestehende Ehe nicht mehr die Voraussetzung für die Ausübung der elterlichen Sorge ist, denn nach dem neuen Kindschaftsrecht können Vater und Mutter eines Kindes das gemeinschaftliche Sorgerecht ausüben, -

auch wenn sie nicht verheiratet sind, unter der Voraussetzung, daß sie die Sorge gemeinsam übernehmen wollen und dies in entsprechenden Sorgerechtserklärungen zum Ausdruck bringen (§ 1626a n.F. BGB), und

-

auch wenn sie getrennt oder geschieden sind, es sei denn, daß ein Elternteil die Aufrechterhaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge nicht mehr will und einen erfolgreichen Antrag auf Übertragung der elterlichen Sorge auf sich allein stellt (§ 1671 n.F. BGB).

An die Stelle der ehelichen elterlichen Sorge tritt also eine partnerschaftliche elterliche Sorge. Wenn sich die Partner einer Beziehung, aus der ein Kind hervorgegangen ist, darüber einig sind, daß sie die elterliche Sorge gemeinsam ausüben wollen, dann löst sich das Recht der elterlichen Sorge vom Bestehen einer Ehe. Die partnerschaftliche Sorge tritt dann an die Stelle der ehelichen Sorge für die gemeinsamen Kinder. Das Modell der partnerschaftlichen Sorge klingt gut; es scheint der Wirklichkeit der Beziehungsstrukturen besser gerecht zu werden als ein eheliches Sorgerecht. Nun mag es zwar sein, daß ein Recht der Partnerschaft den heutigen Beziehungsstrukturen zwischen Erwachsenen besser gerecht wird als das traditionelle Eherecht. Dies gilt jedoch nicht notwendigerweise auch für die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Eltern, die unverheiratet sind, leben nicht notwendigerweise in nichtehelichen Lebensgemeinschaften, und Eltern, die getrennt leben oder geschieden sind, erhalten sehr häufig gerade nicht solche Beziehungen aufrecht, die die Ausübung des gemeinsamen Sorgerechts auch tatsächlich gestatten. Deshalb hat der Gesetzgeber die Rechtsfigur der „tatsächlichen Sorge" geschaffen (§ 1687 n.F. BGB); auch wenn an sich ein gemeinsames Sorgerecht besteht, hat deijenige Elternteil, bei dem das Kind lebt, das Recht der tatsächlichen Sorge, d.h. dieser Elternteil ist berechtigt, die 7

BVerfGE 92, 158.

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Alltagsentscheidungen zu treffen, während dem anderen Elternteil die Beteiligung an den wesentlichen Entscheidungen vorbehalten bleibt. Die Frage, was „wesentliche Entscheidungen" sind, stellt sich insbesondere in der Erziehung, und zwar auch im Verhältnis von Elternhaus und Schule. II. Elternhaus und Schule Das Elternrecht des Art. 6 Abs. 2 GG bezieht sich nicht nur auf die Erziehung in der Familie, sondern auch auf die Bildung und Erziehung in der Schule. Diese Auslegung des Art. 6 Abs. 2 GG ist seit der Förderstufenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts 8 völlig unumstritten. Bevor wir uns also der Frage zuwenden, wie sich das Neue Kindschaftsrecht auf das Schulrecht auswirkt, gilt es festzustellen, bei welchen schulischen Entscheidungen sich die Änderungen des Familienrechts überhaupt auswirken können. Im Hinblick auf die elterliche Beteiligung lassen sich im Schulwesen derzeit die folgenden Unterscheidungen treffen: 1. Einzelentscheidungen 1.1 Wahl des äußeren Bildungsweges (Bildungslaufbahnentscheidungen) 1.1.1 Wahl einer öffentlichen oder einer privaten Schule9 1.1.2 Wahl einer Tageseinrichtung (Krippe, Hort, Kindergarten) nach der Trägerschaft (öffentlich oder frei sowie unter verschiedenen freien Trägern), auch wenn es sich hierbei nicht eigentlich um Schulen handelt 1.1.3 Wahl der Grundschule, soweit ein Wahlrecht eingeräumt ist 10 1.1.4 Wahl einer Schule der Sekundarstufe I, und zwar nach Schulart wie Schulort 11 1.1.5 Wahl einer Ausbildung in der Sekundarstufe II, d.h. entweder Fortsetzung der gymnasialen Bildung bzw. Übergang in die gym8

BVerfGE 34, 165.

9

Dieses Wahlrecht folgt aus Art. 7 Abs. 4 GG und ist vom Bundesverfassungsgericht immer wieder deutlich herausgestellt worden, z. B. in BVerfGE 34, 165 ff. - Förderstufe. 10

Das Schulrecht sieht grundsätzlich die sogenannte „Sprengelpflicht" vor, d. h. die Eltern haben ihre Kinder bei der örtlich zuständigen Grundschule anzumelden. Hiervon gibt es jedoch Ausnahmen, z.B. im Falle der Wahl einer Privatschule. 11

Es geht in der Regel bei der Schulart um Gymnasium, Realschule, Hauptschule oder Gesamtschule; soweit Orientierungs- oder Förderstufen eingerichtet sind, wird die Wahl der Schulart entweder verschoben oder sie werden neben den herkömmlichen Schularten zur Wahl gestellt. In der Regel besteht bei den Schulen der Sekundarstrufe I keine „Sprengelpflicht"; Ausnahmen gibt es im Hauptschulbereich.

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nasiale Oberstufe, Wahl einer beruflichen Vollzeitschule oder Wahl der dualen Berufsausbildung, was mittelbar die Wahl einer Berufsschule einschließt, und auch hier wiederum bezogen auf die Schulart und den Schulort 1.1.6 Wahl einer Sonderschule oder sonstigen Fördereinrichtungen, auch wenn in der Regel eine Zuweisung erfolgt, so daß sich die Frage einer Wahl gar nicht stellt Die Wahl einer Bildungseinrichtung jenseits der Sekundarstufe I kann hier unberücksichtigt bleiben, weil die Entscheidungen auf dieser Stufe von volljährigen Schülerinnen und Schülern getroffen werden. Bei der Wahl kann es sich sowohl um eine Zugangsentscheidung wie auch um eine Abgangsentscheidung handeln 1.2 Entscheidungen bei innerer Differenzierung 1.2.1 Wenn der Unterricht nach Kursen differenziert erteilt wird, geht es um die Kurswahl (Zugang wie Abgang) unabhängig davon, ob es sich um Leistungs- oder Neigungskurse handelt 1.2.2 Soweit Fächer zur Wahl gestellt werden, z.B. eine von drei Naturwissenschaften, oder wenn bestimmte Fächer abgewählt werden können, z.B. der Religionsunterricht (Art. 7 Abs. 2 GG) 1.2.3 Soweit in der Schule neben Unterricht Zusatzangebote in Form von Arbeitsgemeinschaften, Interessengruppen, in freien Formen oder ähnlich angeboten werden 1.3 Entscheidungen im Schulalltag 1.3.1 Elternhausbezogene Entscheidungen, z.B. Schulwegentscheidungen, Teilnahme an Schulausflügen, Anschaffung von Zusatzlernmitteln, z.B. bestimmten Büchern oder Taschenrechnern 1.3.2 Unterrichtsbezogene Entscheidungen, z.B. Sitzplätze in der Klasse, Themenwahl bei Aufgaben 2. Entscheidungen im Rahmen der Elternmitbestimmung in der Schule 2.1 Teilnahme an Elternversammlungen unter Einschluß von Abstimmungen 2.2 Wahlen zu den schulischen Gremien, z.B. Schulkonferenz oder Elternbeirat.

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I I I . Die Beteiligung der Eltern oder der Kinder Die Frage, ob die Eltern oder die Kinder entscheiden, stellt sich nicht bei den Entscheidungen im Rahmen der Mitbestimmung in der Schule (s.o. Nr. 2). Das Schulverfassungsrecht unterscheidet zwischen der Eltern- und der Schülermitbestimmung. Die Mitbestimmungsrechte der Eltern werden durch die Eltern ausgeübt, nicht durch ihre Kinder. § 1626 Abs. 2 BGB, der die Beteiligung der Kinder an der Ausübung der elterlichen Sorge vorsieht, findet keine Anwendung, denn den Kindern werden durch das Schulverfassungsrecht als Schülerinnen und Schülern eigene Mitbestimmungsrechte eingeräumt. Diese werden durch die Schülerinnen und Schüler selber ausgeübt. Die Eltern können die Mitbestimmungsrechte ihrer Kinder in der Schule nicht ausüben, obwohl das Sorgerecht nach § 1629 BGB das Recht zur Vertretung des Kindes umfaßt. Mitbestimmungsrechte sind höchstpersönliche Rechte; eine Ausübung durch die Eltern aufgrund des elterlichen Sorgerechts scheidet daher aus. Die Frage, ob die Kinder oder die Eltern entscheiden, stellt sich also bei den Einzelentscheidungen (s.o. Nr. 1). Das Schulrecht, das die Entscheidungsverfahren regelt, geht als das speziellere Recht hierbei an sich dem familiären Elternrecht vor, soweit es nicht gegen das höherrangige verfassungsrechtliche Elternrecht verstößt. Doch das Schulrecht regelt die Entscheidungsmacht der Schüler und Eltern bei schulischen Entscheidungen nicht ausdrücklich. Es ergeben sich allerdings Zuordnungen aus der pädagogischen Sachlogik: Entscheidungen über den Bildungsgang der Kinder (s.o. Nr. 1.1) treffen die Eltern kraft ihres elterlichen Sorgerechts; Entscheidungen auf der Grundlage individueller Fähigkeiten und Neigungen (s.o. Nr. 1.2.3) treffen die Schülerinnen und Schüler. Bei den Schulalltagsentscheidungen kommt es darauf an, ob sie eher elternhaus- oder unterrichtsbezogen sind (s.o. Nr. 1.3); die ersten treffen die Eltern, die letzten treffen die Schülerinnen und Schüler. So bleibt zwischen den Bildungsgang- und den interessenbezogenen Entscheidungen ein unklarer Bereich der inneren Differenzierung (s.o. Nr. 1.2.1 und 1.2.2). Hier haben die Gesetzgeber bei der Entscheidung über den Religionsunterricht klare, wenn auch unterschiedliche Entscheidungen getroffen, indem sie alterspezifische Unterscheidungen getroffen haben, in Hamburg z.B. treffen die Schülerinnen und Schüler die Entscheidungen von der Vollendung des 14. Lebensjahres ab selber, in Bayern von der Völlendung des 18. Lebensjahres ab. Doch die Kurs- und die Fächerwahl darüberhinaus bleibt zunächst offen. Die Zuordnung der Entscheidungsmacht zu Eltern oder Schülern richtet sich nach der Bildungswegrelevanz. Bestimmt die Kurs- oder Fächerwahl den Bildungsgang mit, d.h. den höchstmöglichen Abschluß, dann entscheiden die Eltern; tut sie das nicht, verbleibt die Entscheidung den Schülerinnen und Schülern. Somit lassen sich die Entscheidungen nach Nr. 1.1.1 bis 1.1.6, 1.2.1 bis 1.2.2 sowie nach 1.3.1 den Eltern, die Entscheidungen nach Nr. 1.2.3 und 1.3.2. den Schülerinnen und Schülern zuweisen.

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Eine ganz andere Frage ist dagegen, ob und wie die Eltern ihre Kinder an ihren Entscheidungen beteiligen. Die wachsenden Fähigkeiten und Bedürfnisse der Kinder zur Selbst- und Mitbestimmung, von denen § 1626 Abs. 2 BGB spricht, wirken sich ohne Frage insbesondere bei Bildungslaufbahnentscheidungen aus. Kinder können und wollen an diesen Entscheidungen über ihren Lebensweg mitwirken, sie nicht gänzlich den Eltern überlassen. Der Einvernehmensregelung des § 1626 Abs. 2 BGB kommt deshalb bei diesen Entscheidungen eine besondere Bedeutung zu. Da das Einvernehmen aber gerade bei diesen Entscheidungen nicht einfach unterstellt werden kann, trifft § 1631a BGB für Ausbildungs- und Berufsentscheidungen eine besondere Regelung, die § 1626 Abs. 2 BGB vorgeht. Nehmen die Eltern bei diesen Entscheidungen auf die Eignung und Neigung des Kindes keine Rücksicht, kann das Vormundschaftsgericht angerufen werden, welches anstelle der Eltern entscheiden kann, d.h. die Kinder können ihren Willen mit Hilfe des Vormundschaftsgerichtes gegen die Eltern durchsetzen. Der Begriff der Ausbildung im Sinne von § 1631a BGB umfaßt auch die schulische Bildung. Selbst wenn von dieser Möglichkeit in der Wirklichkeit wenig Gebrauch gemacht werden wird, liegt doch im Unterschied zu § 1626 BGB eine klare Verfahrensregelung vor, die die Rechte der Eltern einschränkt. IV. Die Auswirkungen des partnerschaftlichen Elternrechts Leben die Eltern, denen das gemeinsame Sorgerecht zusteht, zusammen, so gilt die Grundregel des § 1627 BGB, wonach sie im Falle von Meinungsverschiedenheiten versuchen müssen, sich zu einigen; schlimmstenfalls müssen sie ihren Streit vor dem Familiengericht austragen, das die Entscheidung einem Elternteil überträgt und den Streit dadurch faktisch selbst entscheidet. Dies gilt auch für das gemeinsame Sorgerecht von Eltern, die nicht miteinander verheiratet sind, und von getrennt lebenden oder geschiedenen Eltern, die das gemeinsame Sorgerecht aufrechterhalten. Insoweit unterscheidet sich das partnerschaftliche Elternrecht nicht vom ehelichen Elternrecht. Für die Schule bedeutet dies, daß das Familiengericht über die Wahrnehmung der Elternrechte in der Schule entscheidet, wovon man allerdings in der Praxis wenig gehört hat. Schwieriger ist der Fall jedoch, wenn die Eltern, denen das gemeinsame Sorgerecht zusteht, „nicht nur vorübergehend getrennt" leben. Das gilt für unverheiratete Paare mit gemeinsamen Kindern, die zwar nicht in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft leben, sich aber dennoch für das gemeinsame Sorgerecht entschieden haben. Das gilt auch für verheiratete Paare, die sich getrennt haben und (noch) nicht geschieden sind, und das gilt für geschiedene Paare; in den letzten beiden Fällen jedoch nur, wenn keiner der beiden Partner das alleinige Sorgerecht auf Antrag übertragen wurde. In diesen Fällen beschränkt sich nach § 1687 BGB das gemeinsame Sorgerecht faktisch auf die

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Entscheidung in Angelegenheiten, die für die Kinder „von erheblicher Bedeutung" sind, denn nur in diesen Fällen ist „gegenseitiges Einvernehmen" erforderlich. In allen anderen Fällen, die der Gesetzgeber die „Angelegenheiten des täglichen Lebens" nennt, entscheidet der Elternteil, bei dem sich das Kind „gewöhnlich aufhält". Der Gesetzgeber definiert die Angelegenheiten des „täglichen Lebens" als solche, die „häufig vorkommen" und die „keine schwer zu ändernden Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes" haben. Entscheidungen von „erheblicher Bedeutung" wären demgemäß solche, die nicht so häufig vorkommen und keine schwer zu ändernden Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes haben. Das Gesetz sagt eigentlich relativ klar, welche Entscheidungen bei gemeinsamer Sorge getrennt lebender Partner getroffen werden müssen, nämlich die wesentlichen Entscheidungen, die aufgrund ihrer Dauer und ihrer Bedeutung für die kindliche Entwicklung wichtig sind. Die Bildungslaufbahnentscheidungen gehören dazu, also die Entscheidungen über die Wahl des äußeren Bildungsweges, denn sie besitzen langfristige Wirkungen und beeinflussen die Entwicklung des Kindes tiefgreifend. 12 Bei den Entscheidungen im Rahmen der inneren Differenzierung gilt dasselbe. Soweit diese Entscheidungen wegen ihrer Bildungslaufbahnrelevanz überhaupt den Eltern zugeordnet werden, fallen sie in den Bereich des gemeinsamen, nicht des tatsächlichen Sorgerechts. Stehen die Entscheidungen im Rahmen der inneren Differenzierung sowieso Schülerinnen und Schülern zu, stellt sich die Frage auf der Ebene der Eltern nicht. Bei den Entscheidungen im Schulalltag fallen die unterrichtsbezogenen Entscheidungen aus, d.h. soweit die Schülerinnen und Schüler die Entscheidungen sowieso selber treffen, stellt sich die Frage auf der Ebene der Eltern ebenfalls nicht. Bei den elternhausbezogenen Schulalltagsentscheidungen geht es dagegen typischerweise um Entscheidungen der tatsächlichen Sorge, d.h. daß diese Entscheidung von demjenigen Elternteil getroffen werden, bei dem das Kind lebt. V. Kindschaftsrechte und Kindeswohl im Schulrecht Art. 6 Abs. 2 GG soll nach der Auslegung, die Bernd Jeand'Heur dem Grundrecht gegeben hat, eine Garantienorm zum Schutz des Kindeswohls sein. Der Gesetzgeber hat das Kindschaftsrecht in zwei Schritten grundlegend reformiert, und zwar zunächst durch die Schaffung eines Rechts der elterlichen Sorge, das den Kindern die Beteiligung an der Ausübung der elterlichen Sorge und eine gewisse wachsende Selbständigkeit einräumt, und sodann durch die Erstreckung des gemeinsamen elterlichen Sorgerechts auf Partnerschaften nicht 12 Dies entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers, s. BT-Drs. 13/4899, S. 61, der in der Begründung des Entwurfes Entscheidungen im „schulischen Bereich" als Entscheidungen von grundsätzlicher Bedeutung angesehen hat, die nicht Alltagsentscheidungen im Sinne von § 1687 zuzuordnen seien.

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oder nicht mehr verheirateter Eltern. Im Schulrecht wirken sich diese beiden Reformen so aus, daß die Eltern bei den Bildungslaufbahnentscheidungen die Kinder beteiligen, daß unter bestimmten Voraussetzungen das Familiengericht zugunsten der Kinder gegen die Eltern entscheiden kann und daß diese Entscheidungen im Falle eines gemeinsamen Sorgerechts nicht bzw. nicht mehr verheirateter Eltern von beiden Elternteilen gemeinsam getroffen werden müssen, während die schulischen Alltagsentscheidungen von dem Elternteil getroffen werden, bei dem das Kind lebt. Kann man nun in den beiden Reformen des Kindschaftsrechts und ihren Auswirkungen auf das Schulrecht eine Intervention des Gesetzgebers zur Gewährleistung des Kindeswohls im Sinne von Art. 6 Abs. 2 GG sehen? Ich klammere die Grundsatzfragen aus, die in beiden Reformdiskussionen heiß umstrittenen Fragen, ob die partnerschaftliche Konzeption des Sorgerechts durch das Kindeswohl geboten war und ihr dient 13 und ob die Lösung des gemeinsamen Sorgerechts vom Bestand der Ehe durch das Kindeswohl gefordert war und ihm dient. 14 Ich beschränke mich vielmehr auf die Frage: Kindeswohl und Schulrecht. Hierbei ist zu unterscheiden: 1. Die Beteiligung der Kinder an den Bildungslaufbahnentscheidungen Bildungslaufbahnentscheidungen hängen von Fähigkeiten und Neigungen der Schülerinnen und Schüler ab. Auch wenn Motivation und Interesse vielfach durch das Umfeld der Kinder bedingt und mitbestimmt sind, geht es bei den Neigungen letztlich doch um das Individuum, um die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler. Eine gesetzgeberische Entscheidung, die die Eltern zur Berücksichtigung der Neigung der Kinder verpflichtet, wie es § 1631a n.F. BGB ausdrücklich verlangt, kann deshalb als eine Entscheidung zugunsten des Kindeswohls angesehen werden. Nicht ganz so eindeutig fallt die Beurteilung der anderen Seite der Bildungslaufbahnentscheidungen aus, der Entscheidung nach Maßgabe der Fähigkeiten. Es geht hierbei nicht um die Frage, ob die 13

Dieckmann, Betrachtungen zum Recht der elterlichen Sorge, AcP 178 (1978), 298 ff.; Zenz, Zur Reform der elterlichen Gewalt, AcP 173 (1973), 527; ff. Becker, Die Eigen-Entscheidung des jungen Menschen, in: Festschrift für Friedrich Wilhelm Bosch, 1976, S. 37 ff.; Giesen, Familienrechtsreform zum Wohl des Kindes?, FamRZ 1978, 59 ff.; Diederichsen, Zur Reform des Eltern-Kind-Verhältnisses, FamRZ 1978, 461 ff.; Lüderitz, Neues elterliches Sorgerecht, FamRZ 1978, 475 ff. (zum Alternativentwurf der Familienrechtskommission des Juristenbundes); Beitzke, Nochmals zur Reform des elterlichen Sorgerechts, FamRZ 1979, 8 ff. 14

Eckart-Schirmer, Gemeinsames Sorgerecht nach der Scheidung: Leitbild oder soziale Realität?, FuR 1996, 205 ff.; Coester, Die Reform des Kindschaftsrecht - ein privatrechtlicher Überblick, RdJB 1996, 430 ff; Schwab, Einführung in das neue Kindschaftsrecht, FamRZ 1997, 1377 ff.; Büdenbender, Elterliche Entscheidungsautonomie für die elterliche Sorge nach geltendem Recht und nach dem Entwurf eines Kindschaftsrechtsreformgesetzes, AcP 197 (1997), 197 ff.

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Beurteilung der Fähigkeiten der Schule oder dem Elternhaus zukommt. Diesen Streit hat das Bundesverfassungsgericht vor langer Zeit bei Bildungslaufbahnentscheidungen zugunsten der Eltern entschieden. Es geht vielmehr um die Frage, ob die Eltern über die Fähigkeiten ihrer Kinder allein entscheiden oder ob sie die Selbsteinschätzung der Kinder zu berücksichtigen haben, ob gegebenenfalls das Vormundschaftsgericht im Rahmen einer Entscheidung nach § 1631a BGB die Selbstbeurteilung der Kinder zugrundelegen darf oder sogar muß. Man wird dem Gesetzgeber zubilligen können, daß er in dieser Beziehung im Sinne des Kindeswohls zu handeln meinte, als er den Eltern die Beteiligung der Kinder an ihren Entscheidungen aufgab. Eine elterliche Entscheidung über die Fähigkeiten von Kindern, die unter Berücksichtigung der Selbsteinschätzung der Kinder erfolgt,' wird immer eine bessere Entscheidung sein als eine einseitig getroffene Entscheidung der Eltern. Insofern wird man sagen können, daß die Umsetzung der gesetzgeberischen Entscheidung sich mit großer Wahrscheinlichkeit zugunsten des Kindeswohls auswirken wird. Andererseits wird man nicht sagen können, daß der Gesetzgeber wegen einer Gefahrdung des Kindeswohls tätig werden mußte, daß also im Sinne der Garantienormauslegung des Art. 6 Abs. 2 GG ein Interventionsfall vorlag. 2. Bildungslaufbahnentscheidungen und gemeinsames Sorgerecht Bei der Zuordnung der Bildungslaufbahnentscheidungen im Rahmen des gemeinsamen Sorgerechts der Eltern, insbesondere im Falle nicht (mehr) verheirateter Eltern, müssen wieder Neigungen und Fähigkeiten der Kinder betrachtet werden. Bei den Neigungen wird man davon ausgehen können, daß auch ein Elternteil, bei dem das Kind nicht wohnt, der aber im Rahmen des gemeinsamen Sorgerechts an den schulischen Entscheidungen nach § 1687 BGB mitwirkt, Motivation und Interesse des Kindes beurteilen kann. Dies gilt insbesondere im Falle von Trennung und Scheidung, denn die Neigungen des Kindes werden sich häufig bereits vor Trennung und Scheidung entwickelt haben. Dies wird häufig auch bei nichtverheirateten Partnern der Fall sein, denn die Mutter wird der Einräumung des gemeinsamen Sorgerechts in der Regel nur zustimmen, wenn der nichteheliche Vater das Kind gut kennt, also auch Aussagen über seine Neigungen machen kann. Insoweit wird man also von einer Entscheidung des Gesetzgebers zugunsten des Kindeswohls ausgehen können. Bei der Beurteilung der Fähigkeiten von Kindern im Rahmen von Bildungslaufbahnentscheidungen würde ich weiter gehen wollen. Der Gesetzgeber müßte dafür Sorge tragen, daß die Beurteilung der Fähigkeiten von Kindern bei Bildungslaufbahnentscheidungen nicht allein dem Elternteil überlassen bleibt, bei dem das Kind wohnt, sondern daß der andere Elternteil daran beteiligt wird. Man könnte sogar noch weiter gehen und die Frage stellen, ob es bei Bildungslaufbahnentscheidungen aufgrund des Kindeswohls nicht geboten wäre, auch nicht sorgeberechtigte Elternteile zu beteiligen. Dies wäre dann

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wirklich eine Frage an die weitere Operationalisierung der Lehre von der Garantienorm, die Bernd Jeand'Heur für die Auslegung des Art. 6 Abs. 2 GG entwickelt hat. Diese Frage will ich aber nicht beantworten, sondern sie der weiteren Diskussion überlassen.

Zur Problematik der Unterrichtsgenehmigung für Lehrer an Ersatzschulen Von Johann Peter Vogel

Bernd Jeand'Heurs letzte, posthum veröffentlichte wissenschaftliche Arbeit galt dem Recht der Freien Schulen1 , dem er sich auch früher schon zugewandt hatte.2 Daran möchte dieser Beitrag in freundschaftlicher Kollegialität erinnern. I. Die Problematik Das Grundgesetz behandelt in Art. 7 Abs. 4 und 5 das Grundrecht auf Errichtung und Betrieb von Schulen in freier Trägerschaft und stellt für Schulen als Ersatz für staatliche Schulen Genehmigungsvoraussetzungen auf, die für „Volksschulen" (Grundschulen) noch erweitert werden. In diesem Rahmen werden Lehrer an Ersatzschulen zweimal erwähnt: zum einen darf ihre wissenschaftliche Ausbildung nicht hinter der von Lehrern an staatlichen Schulen zurückstehen, und zum anderen müssen sie rechtlich und wirtschaftlich genügend gesichert sein. Im allgemeinen bereiten diese Bestimmungen keine größeren Schwierigkeiten, weil der weitaus größte Teil der Schulen — die in katholischer und evangelischer Trägerschaft, aber auch solche, die in ihrer Konzeption nur geringfügig von staatlichen Schulen abweichen - im wesentlichen Lehrer mit staatlichen Examina wie staatliche Schulen beschäftigen und entweder Beamtenverhältnisse wie der Staat oder Angestelltenverhältnisse, die dem öffentlichen Dienst nahe sind, begründen. Die Probleme beginnen da, wo Schulen besonderer pädagogischer Prägung (Alternativschulen, Landerziehungsheime, Montessorischulen, Waldorfschulen) Lehrer beschäftigen möchten, die nicht die staatliche Lehrerbildung durchlaufen haben, und die Lehrer nach eigenen Tarifordnungen vergüten. Landerziehungsheime bevorzugen „Menschen mit Biographie", also Erfahrungen aus anderer Berufstätigkeit gegenüber Lehrern, die in ihrem Leben lediglich „von der einen Seite des Katheders auf die ande1 Zulassung privater Grundschulen, in: Jach/Jenkner (Hrsg.), Autonomie der staatlichen Schule und freies Schulwesen. Festschrift zum 65. Geburtstag von J.P. Vogel, 1998, S. 105 ff. 2

Methodische Analyse, freiheitsrechtliche und leistungsrechtliche Konsequenzen des Finanzhilfe-Urteils, in: Müller (Hrsg.), Zukunftsperspektiven der Freien Schule, 1988, S. 67 ff. (wieder veröffentlicht in: Müller/Jeand'Heur, Zukunftsperspektiven der Freien Schule, 2. Aufl. 1996, S. 47 ff. 24 GS Jeand' Heur

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re" gewechselt sind; Alternativschulen und Montessorischulen müssen staatlich ausgebildete Lehrer für ihre besonderen Erfordernisse fortbilden, und die Waldorfschulen als die größte reformpädagogische Schulgruppe haben sogar Seminare geschaffen, an denen Waldorflehrer grundständig ausgebildet oder staatlich ausgebildete Lehrer für die Waldorfpädagogik umgeschult werden. Sie durchbrechen damit das faktische Lehrerausbildungsmonopol des Staates und stellen dieser ihre eigene Lehrerausbildung gegenüber, die reformatorische Züge i.S. der öffentlichen Kritik an der staatlichen Lehrerausbildung trägt. 3 Mit der staatlichen Lehrerbildung als Maßstab der Qualifikation von Lehrern an Ersatzschulen ist sie formal kaum vergleichbar. In allen Fällen abweichender Qualifikation stellt sich die Frage der Gleichwertigkeit unterschiedlicher Ausbildungen. Liest man die im Grundgesetz formulierten Genehmigungsvorschriften für sog. Ersatzschulen, ahnt man nicht ohne weiteres die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. Die Schule darf u.a. „in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen" (Art. 7 Abs. 4 Satz 3). Aber gerade diese wenigen Worte sind auf Betreiben der Schulverwaltungen von den Landesgesetzgebern nach verschiedenen Richtungen hin „aufgeladen" worden: -

Die „wissenschaftliche" Ausbildung wurde bereits in der Weimarer Zeit zu einer „fachliche(n), pädagogische(n) unterrichtspraktische(n) Vor- und Ausbildung" nebst abgelegten Prüfungen und ging in dieser Form in die Ländervereinbarung der K M K vom 10./11. August 1951 ein (§ IIb). Nicht nur der wissenschaftliche Ausbildungsteil im engeren Sinne, sondern die gesamte staatliche Lehrerausbildung mit ihrer zweiphasigen Struktur wird zum Maßstab gleichwertiger Ausbildung.

-

Aus einer Genehmigungsvoraussetzung der Schule neben den Bildungszielen und Einrichtungen, die ebenfalls nicht hinter staatlichen Schulen zurückstehen dürfen, ist weithin eine Unterrichtsgenehmigung für jeden einzelnen Lehrer geworden. Statt daß die Schulverwaltung aufgrund der verfassungsrechtlich sie treffenden „Argumentationslast" jeweils zu prüfen hat, ob die Schule in den drei Genehmigungspunkten nicht hinter einer entsprechenden staatlichen Schule zurücksteht, muß die Schule bei jedem neuen Lehrer eine Unterrichtsgenehmigung einholen und die Gleichwertigkeit seiner Ausbildung nachweisen. Analog dazu, daß eine genehmigungspflichtige Schule ihren Betrieb nicht aufnehmen darf, bevor sie genehmigt ist, darf ein Lehrer nicht eingesetzt werden, bevor er genehmigt ist.

So interpretiert, muß für jeden Lehrer der Nachweis erbracht werden, daß er eine Ausbildung besitzt, die nach Struktur und Inhalt einer entsprechenden 3

Zur Kritik an der staatlichen Lehrerbildung sei hier stellvertretend genannt die Denkschrift der Bildungskommission NRW: Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft, 1995, S. 308 f.

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Staatsschullehrerausbildung entspricht. Die Rechtsprechung hat die „Fliegenbeinzählerei" der Schulverwaltungen übernommen; die Qualifikation des Lehrers wird also in allen Einzelteilen — Zugangsvoraussetzungen, Inhalten, Strukturen, Stundenzahlen, Prüfungsanforderungen - mit den Anforderungen der jeweiligen Landeslehrerausbildungsordnung verglichen, so, als wolle der Lehrer in den Staatsdienst eintreten und nicht an einer pädagogisch ganz anders geprägten Ersatzschule tätig werden. Dies trifft auch die eigene Lehreraus- und -fortbildung der Waldorfbewegung. Problematisch ist nicht die Forderung des GG, die Lehrer dürften in ihrer wissenschaftlichen Ausbildung nicht hinter Lehrern an staatlichen Schulen zurückstehen, sondern die detaillierte Ausfüllung dessen, was unter wissenschaftlicher Ausbildung zu verstehen ist; sie führt zu einer weitgehenden Anpassung an die jeweilige staatliche Ausbildung und ihr Niveau und damit zu einer Verhinderung von Konkurrenz und Innovation in der Lehrerbildung. Mag die staatliche Lehrerbildung umstritten sein wie sie will, sie gilt als ins einzelne gehender Maßstab für die Qualifikation der Lehrer an Ersatzschulen. Flankiert wird dieser Ausbau des Nichtzurückstehens in der wissenschaftlichen Ausbildung von einer erweiternden Interpretation dessen, was unter „genügender rechtlicher und wirtschaftlicher Sicherung" der Lehrer zu verstehen ist. Aus einer relativ offenen Bestimmung wird eine weitere, die in Relation zu staatlichen Beschäftigungsverhältnissen steht: die Vergütung darf „nicht wesentlich" hinter der staatlicher Lehrer zurückbleiben. Das geht in Nordrhein-Westfalen so weit, daß an Ersatzschulen ein Planstellensystem geschaffen wird, das de facto beamtenähnliche Verhältnisse der Lehrer schafft. Auch wenn die Kosten dieses Systems im wesentlichen vom Staat finanziert werden, läßt das System für eigene Tarifordnungen keinen Raum und führt zu weiteren Genehmigungsnotwendigkeiten, die über das Nichtzurückstehen in der Ausbildung deutlich hinausgehen. Das Bemühen um eigene Profile hat inzwischen auch das staatliche Schulwesen erreicht; 4 im Bereich der freien Trägerschaft gehörte es von Anfang an; die Errichtungsgarantie dieser Schulen hat ihre Wurzel im Verfassungsprinzip der Vielfalt im Schulwesen.5 Es ist deshalb an der Zeit, sich auf den Text des Grundgesetzes zurück zu besinnen, um so ein Bewußtsein für Sinn und Funktion der Bestimmungen zu gewinnen, das der neuen Situation unterschiedlicher Qualifikationen und eigener Lehrerausbildungen besser gerecht wird als die derzeitige Auslegung, die letztlich nur die historisch begründete Fortsetzung von Regelungen aus der Kaiserzeit und der Funktion von Schulen in freier Trägerschaft auf der Basis der Errichtungsgarantie des Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG nicht adäquat ist. 4

Programmatisch die Denkschrift NRW (Fn. 3); in der Gesetzgebung z.B. § 127b hess. SchG. 5

BVerfGE 75, 40 ff. (C II 2 a).

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II. Rechtsgrundlagen zur Qualifikation von Lehrern an Ersatzschulen Verfassungsgrundlage ist die Errichtungsgarantie für Schulen in freier Trägerschaft (Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG). Sie bedeutet, daß es in der Bundesrepublik kein staatliches Schulmonopol gibt und die Schulen in freier Trägerschaft gleichberechtigt mit staatlichen Schulen dem öffentlichen Auftrag dienen, die dem pluralistischen Geist der Verfassung und den individuellen Grundrechten der Bürger entsprechende Vielfalt im Schulwesen herzustellen. 6 Für Schulen „als Ersatz für öffentliche Schulen" gilt eine im GG fixierte Einschränkung der Errichtungsfreiheit, eine „verfassungsunmittelbare Gewährleistungsschranke": sie bedürfen einer Genehmigung (Art. 7 Abs. 4 Satz 2 GG). Es besteht ein Anspruch des Trägers einer solchen Schule auf ihre Genehmigung spätestens dann, wenn er alle Genehmigungsvoraussetzungen erfüllt. 7 Neben den Voraussetzungen, daß die Schüler nicht nach ihren Besitzverhältnissen gesondert werden dürfen (freier Zugang ohne Rücksicht auf die finanziellen Verhältnisse8 - Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG) und daß die Lehrer wirtschaftlich und rechtlich genügend gesichert werden müssen (Art. 7 Abs. 4 Satz 4 GG), stehen die qualitativen Voraussetzungen: das Nichtzurückstehen der Schule „in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte" (Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG). Die Genehmigungsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 4 GG haben unterschiedliche Normzwecke: -

Das Nichtzurückstehen in den Bildungszielen, Einrichtungen und in der wissenschaftlichen Ausbildung der Lehrer sollen die Öffentlichkeit, insbesondere aber die Schüler vor unqualifizierter Schule schützen. Es soll keine Substituierung staatlicher Schulen durch unzulängliche Ersatzschulen geben9. Im Falle der Lehrerausbildung soll der Schüler vor unzulänglich ausgebildeten Lehrern geschützt werden. Das Nichtzurückstehen gewährleistet zugleich das Recht zu gleichwertiger Abweichung und im Falle der Lehrkräfte die Sicherung der Einstellung von wissenschaftlich und pädagogisch befähigten Persönlichkeiten mit gegenüber der staatlichen Lehrerbildung abweichendem Werdegang. 10 6

BVerfGE 75, 40 ff.

7

Für Grundschulen („Volksschulen") gilt die Ausnahme des Art. 7 Abs. 5 GG (dazu BVerfGE 88, 40 ff.). 8

BVerfGE 75, 40 ff.

9

BVerwGE vom 13.4.1988, SPE 240, S. 45 ff.

10 BVerwGE 17, 236 vom 6.4.1990 - 7 B 44.90; OVG NW vom 7.4.1992, SPE 240, S. 30 ff; Grewe, Die Rechtsstellung der Privatschule nach dem Grundgesetz, DÖV 1950, 33 ff.; Maunz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 7 Rn. 75 ff; Petermann, Die Verfassungspflicht

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-

Die genügende wirtschaftliche und rechtliche Sicherung der Lehrer dient dem Schutz der Lehrer vor Ausbeutung und der standesgemäßen Sicherung und Arbeitsfähigkeit, damit auch wieder dem Schutz der Schüler und der Allgemeinheit; hier wird aber weder Gleichwertigkeit noch Gleichartigkeit des Leistungsentgeltes gefordert. 11

-

Das Verbot der Sonderung der Schüler nach ihren Besitzverhältnissen dient der Verhinderung exklusiver Schulen (Plutokratenschulen) und gewährleistet durch das Verbot sozial nicht verträglicher Schulgelder die allgemeine Zugänglichkeit der Schulen unabhängig von den finanziellen Verhältnissen der Schüler. 12

So sehr die Neigung besteht, die drei qualitativen Voraussetzungen des Nichtzurückstehens zu einer Rundum-Voraussetzung hinsichtlich des gesamten „inneren und äußeren Schulbetriebs" 13 zu machen, so ist doch immer wieder zu betonen, daß sich die Anforderungen lediglich auf drei, wenn auch gewichtige Facetten des ganzen Schulbetriebs beziehen. Lassen wir in unserem Zusammenhang die „Einrichtungen" einmal beiseite, so ist mit den „Lehrzielen" zweifelsfrei nur das Bildungsziel der Schule, allenfalls einzelner Schulstufen gemeint; der Weg dorthin, „die Entscheidung über eine besondere pädagogische, religiöse oder weltanschauliche Prägung, die Festlegung der Lehr- und Unterrichtsmethoden und der Lehrinhalte", liegt außerhalb der Genehmigungsvoraussetzungen.14 Diese Unterscheidung von Ziel und Weg ist im Zusammenhang auch der Unterrrichtsgenehmigungen von entscheidender Bedeutung. Zur Genehmigung der Lehrer findet sich in allen Landesgesetzen in der Folge der Ländervereinbarung der K M K 1951 eine Auslegung: „Die Anforderungen an die wissenschaftliche Ausbildung der Lehrer sind erfüllt, wenn eine fachliche und pädagogische Ausbildung und Prüfungen nachgewiesen werden, die der Ausbildung und den Prüfungen der Lehrer an entsprechenden öffentlichen Schulen im Werte gleichkommen. Auf diesen Nachweis kann verzichtet werden, wenn die wissenschaftliche, künstlerische oder technische Ausbildung und die pädagogische Eignung des Lehrers anderweitig nachgewiesen wird 4 (z.B. § 5 Abs. 3 PSchG BW). Der letzte Satz wird in verschiedenen Gesetzen modifiziert: das „anderweitig" wird durch „freie Leistungen" ersetzt, die wieder des Staates zur Privatschulfinanzierung, NVwZ 1987, 205 ff.; Müller. Das Recht der Freien Schule nach dem Grundgesetz, 1982, S. 137 ff., 143 ff.; Müller/Pieroth /Fohmann, Leistungsrechte im Normbereich einer Freiheitsgarantie, 1982, S. 141 ff.; Pieroth, Zulässige Eignungsanforderungen bei der Genehmigung von Lehrern an Ersatzschulen, NWVB1. 1993, 201 ff. 11

Müller (Fn. 10), S. 150 ff.

12

BVerfGE 75, 40 ff.

13

So schon § IIa KMK-LV 1951.

14

So § 167 Abs. 1 hess. SchG und ihm folgend alle neuen Bundesländer.

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in einigen Ländern nur „ausnahmsweise" möglich sind. 15 Diese freien Leistungen können in der Regel durch Tätigkeit an der Schule im Rahmen einer befristeten Unterrichtsgenehmigung erbracht werden; in einigen Ländern kann durch freie Leistungen der Nachweis lediglich der pädagogischen Eignung erbracht werden. 16 Grundlage der Gesetzesformulierungen ist die historische Interpretation, die gerade im Schulrecht auch andernorts mächtig ist. 17 Es war schon immer so. So gehörte z.B. zum gegenüber den Privatschulen äußerst rigiden Regelwerk der Preußischen Ministerialinstruktion von 1839, daß die Lehrer dieselbe Ausbildung wie Staatslehrer haben müssen (I § 2). Ähnlich formulieren auch § 133 Abs. 2 Nr. 2 des Badischen Schulgesetzes von 1910 und § 4 Abs. 3 der bayrischen EUV 1933.18 Die KMK-Ländervereinbarung von 1930 fordert in der Regel die gleiche wissenschaftliche Ausbildung wie für Staatslehrer mit Ausnahmen „in besonderen Fällen" (§ 8 Abs. 2), und die KMK-Ländervereinbarung von 1951 weitet in Fortsetzung dieser Tradition die „wissenschaftliche Ausbildung" auf eine „fachliche, pädagogische unterrichtspraktische Vor- und Ausbildung sowie die Ablegung von Prüfungen" aus, die denen staatlicher Lehrer im Wert gleichkommen (§ 11). Heckel 19 begründet seine umfassende Interpretation unter Hinweis auf die Quellen zum Badischen Privatschulgesetz 1950 , die als Quelle für die Interpretation des GG freilich nicht infrage kommen kann. Es ist bezeichnend, daß von Vertretern der traditionellen Interpretation - quasi als Ausgleich- immer wieder daraufhingewiesen wird, daß diese Genehmigungsvoraussetzung von der Verwaltung möglichst großzügig praktiziert werden soll 20 - allerdings mit relativ geringem Erfolg.

15 § 4 Abs. 2b PSchG Bln.; § 5 Abs. 4 brem. PSchG; § 7 Abs. 3 hamb. PSchG; § 174 Abs. 1 hess. SchG; § 120 Abs. 2 m-v. SchG; § 37 Abs. 3b n-w. SchOG; § 23 Abs. 2 r-p. PSchG; § 23 Abs. 2 saarl. PSchG; § 86 Abs. 2 s-h. SchG. 16 Z.B. Art. 94 Abs. 3 bay. EUG; früher erworbene fachliche Qualifikationen sollen dadurch aber nicht von einer Berücksichtigung ausgeschlossen werden (BayVGH vom 27.7.1994-7 B 93.1536). 17 Dazu Vogel, Das „herkömmliche Bild der Privatschule", RdJB 1998, S. 206 ff. zur Finanzhilferechtsprechung des BVerfG; oder BVerfGE 27, 195 ff. zur Frage des Berechtigungswesens. IX Dazu Vogel, Verfassungswille und Verwaltungswirklichkeit im Privatschulrecht. RdJB 1983, 170 ff. (171). 19 20

Heckel, Deutsches Privatschulrecht, 1955, S. 281.

z.B. Heckel (Fn. 19), S. 281, der aus dem Recht des Schulträgers auf freie Lehrerwahl folgert, „daß die Schulbehörde gerade hier mit jeder denkbaren Großzügigkeit vorzugehen habe". Ebenso weist die bayrische Rechtsprechung ständig daraufhin, daß die Gleichwertigkeitsprüfung nicht „zu eng" erfolgen darf (s.o). S.a. Grewe (Fn. 10), S. 35; Süsterhenn, Schäfer,, Kommentar zur Verfassung Rheinland-Pfalz, 1950, S. 161, Anm. 2c; Plümer, Verfassungsrechtliche Grundlagen und Rechtsnatur der Privatschulverhältnisse, 1970, S. 71; Pfau, Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Ersatzschullehrer, Diss. Hamburg 1995, S. 28 f.

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Maßstab des Nichtzurückstehens der Lehrerausbildung ist danach die staatliche Lehrerausbildung, wie sie in den Lehrerbildungsgesetzen der Länder niedergelegt ist. 21 Diese Lehrerbildung ist üblicherweise zweiphasig und zerfällt in einen fachlich wissenschaftlichen (Hochschul-) und einen praktisch pädagogischen Teil, jeweils mit einem Staatsexamen als Abschluß. In der Realität gibt es keine ähnlich strukturierte andere Ausbildung; für das Nichtzurückstehen kommen deshalb nur Ausbildungskombinationen infrage: abgeschlossene Hochschulstudien in den Fächern, für die die Unterrichtsgenehmigung des Lehrers beantragt wird, und ein der zweiten Phase gleichwertiger Nachweis der pädagogischen Eignung. Viele Bundesländer haben die Praxis ausgebildet, das Hochschulstudium nach Unterrichtsgegenständen und Vorlesungsstundenzahl minutiös mit den Unterrichtsgegenständen und Stundenzahlen der Lehrerausbildung zu vergleichen; das kann im Einzelfall dazu führen, daß die staatliche Lehrerausbildung des einen Bundeslandes im anderen nicht als ausreichend für die Tätigkeit an einer „Ersatzschule" angesehen wird! 2 2 Pädagogische Eignung kann genau genommen nur an einer Schule gewonnen werden; hier ist das Hauptfeld der „freien Leistungen". Ausländische Ausbildungen kommen nur infrage, wenn sie von der K M K als gleichwertig der deutschen Lehrerausbildung befunden werden. 23 Verschiedene Länder sehen ausdrücklich eine Unterrichtsgenehmigung für jeden Lehrer vor, ohne die er nicht tätig werden darf. 24 Aber auch ohne gesetzliche Gundlage verfahrt die Schulverwaltung so.25 Die Unterrichtsgenehmigung gilt jeweils nur für das Fach und die Schulstufe, für die sie ausgesprochen wird; manche Länder haben, vor allem im beruflichen Schulwesen, noch einge21 Überwiegende Auffassung: Hechel (Fn. 19), S. 282; Maunz (Fn. 19), Art. 7 Rn. 74, 76; Niehues, Schul- und Prüfungsrecht, 2. Aufl. 1983, Rn. 159b; Müller (Fn. 10), S. 143 ff.; Pieroth (Fn. 10), 203. Ebenso die Rechtsprechung: BVerfGE 35, 79; BVerwG vom 27.4. 1987, SPE 240, S. 42 ff.; OVG RP vom 20.12.1983, SPE VIII C X , S. 1; OVG NW vom 20.3.1992, SPE 240, S. 20 ff.; BayVGH vom 27.7.1994 - 7 B 93.1536. 22

VG München vom 3 0 . 5 . 1 9 9 4 - M 3 K 92.4580.

23

Avenarius u.a., Mobilitätschancen für Lehrer in Deutschland und Europa, 1996, S. 34 ff.

24 Nr. 6 b-w. VVPSchG; Art. 94 Abs. 4 BayEUG; § 4 Abs. 2 berl. PSchG; § 11 Abs. 3 brem. PSchG; § 121 Abs. 4 brb. SchG; § 167 Abs. 2 nds. SchG; § 23 Abs. 1 r-p. PSchG; § 23 Abs. 1 saarl. PSchG; § 86 Abs. 1 s-h. SchG. § 41 n-w. SchOG sieht sogar eine Tätigkeitsgenehmigung für Lehrer und Schulleiter vor, die dazu führt, daß auch die Ernennung zum stellvertretenden Schulleiter einer Genehmigung unterworfen wird (BVerwG vom 6.4. 1990, SPE 240, S. 48 ff. in Bestätigung von OVG NW vom 10.1.1990, SPE 240, S. 2 ff.). Wenigstens die tarifliche Heraufsetzung eines Lehrers ist nicht genehmigungspflichtig (OVG NW vom 13.12.1991 - 19 A 2530/89). Die überaus starke Befassung des OVG NW mit Genehmigungsfragen rührt daher, daß Genehmigungs- und Finanzhilfefragen in NW eng miteinander verwoben sind und über die Finanzhilferegelungen zusätzliche Anforderungen an den Lehrerstatus gestellt werden. 25

Ausnahme Hessen, das lediglich eine Meldung jedes neuen Lehrers verlangt und nur bei freien Leistungen eine befristete Unterrichtserlaubnis erteilt (Runderlaß des Hessischen Kultusministeriums vom 29.8.1994).

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schränktere Formen der Genehmigung.26 Freilich: der Unterrichtsgenehmigung korrespondiert ein Recht des Trägers und des Lehrers auf Genehmigung, sobald die Qualitätsanforderungen erfüllt sind; angenommen wird ein Unterrichtsverbot; die Unterrichtsgenehmigung ist Instrument eines Erlaubnisvorbehalts. 27 Die Rechtsprechung spiegelt und bestätigt diese Praxis 28 : Das Nichtzurückstehen in der wissenschaftlichen Ausbildung bedeutet das Recht auf Lehrer mit einer der staatlichen Lehrerausbildung gleichwertigen Ausbildung; 29 die Genehmigungsvoraussetzung darf nicht zu eng ausgelegt werden; maßgeblich sind die wesentlichen Elemente der Ausbildung wie Zulassungsvoraussetzungen, Ausbildungsdauer, Ausbildungsfacher und die Prüfungsvoraussetzungen in ihrer Gesamtheit.30 Das besondere Anforderungsproiii der Schule ist nicht maßgeblich. Wenn keine Zuordnung der Schulform, etwa der der Waldorfschule, zu einer staatlichen Schulform möglich ist, sind die Anforderungen mehrerer entsprechender staatlicher Ausbildungen zugrundezulegen. 31 Auch die freien Leistungen sind nicht zu eng,32 aber am Maßstab der staatlichen Lehrerausbildung zu beurteilen. 33 Diese freien Leistungen können unterschiedlichste Nachweise sein und sie können sich auf alle Phasen der Vorleistungen beziehen. Entscheidend ist allein das Nichtzurückstehen hinter der staatlichen Ausbildung. 34 Ungeachtet dieser Vorgaben werden detaillierte Vergleiche angestellt, die mindestens strukturell eine weitgehende Gleichartigkeit zur Folge haben.35 Immerhin mußten Gerichte darauf hinweisen, daß weder auf dem Studium von zwei Fächern (wie in der staatlichen Ausbildung) noch auf einer Begründung bestanden werden darf, weshalb eine staatliche Ausbildung nicht gewählt wurde; das Ausnahmsweise der freien Leistungen wird, wo es gesetzlich vorgesehen ist, 26

Z.B. § 143 Abs. 2 nds. SchG.

27

OVG RP vom 20.12.1983, SPE VIII C X S. 1. Im Gegensatz dazu steht die „Argumentationslastregel" Müllers (Fn. 10), S. 137. 28

OVG Münster vom 20.3.1992, SPE 240, S. 20 ff.

29

BVerwGE 17, 236; vom 6.4.1990 - 7 B 44.90; OVG NW vom 7.4.1992, SPE 240, S. 30 ff.; Grewe (Fn. 10), 33; Maunz (Fn. 10), Rn. 75 ff.; Petermann, NVwZ 1987, 205 ff.; Müller (Fn. 10), S. 137 ff., 143 ff; Pieroth (Fn. 10), S. 201 ff. 30

Pieroth (Fn. 10), S. 201 ff.; BayVGH vom 27.7.1994 - 7 B 93.1536, unter II.4.d).

31

OVG NW vom 20.3.1992, SPE 240, S. 20 ff.

32

BayVGH vom 27.7.1994 - 7 B 93.1936, unter II.5.

33

OVG NW vom 7.4.1992, SPE 240, S. 30 ff.

34

OVG NW vom 7.4.1992, SPE 240, S. 30 ff.; BayVGH vom 27.7.1994 - 7 B 93.1936, unter II.5.a). 35

z.B. OVG NW vom 20.3.1992, SPE 240, S. 20 ff.; VG München vom 30.5.1994 - M 3 K 92.4580 (die staatliche nordrhein-westfälische Sportlehrerausbildung für die Sekundarstufe II reicht in Bayern nur zur Genehmigung für die Sekundarstufe II des Gymnasiums; eine niedersächsische Unterrichtsgenehmigung gilt in Bayern wegen eines Vorbehalts im KMKBeschluß vom 5.10.1990 nicht); VG Berlin vom 21.6.1996 - VG 3 A 863.94.

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weitgehend aufgelöst. 36 Auch auf der Hochschulreife wird nicht bestanden, wenn die Ausbildung im übrigen und freie Leistungen gleichwertig sind. 37 Schließlich wird die Erstreckung des Nachweises freier Leistungen auf alle Phasen der Vor- und Ausbildung selbst da, wo sie gesetzlich auf den pädagogisch-praktischen Ausbildungsteil beschränkt ist, uminterpretiert. 38 Der besonderen Situation von an Waldorfseminaren ausgebildeten Waldorflehrern („Klassenlehrer") tragen besondere Regelungen in einzelnen Bundesländern Rechnung. So sieht die baden-württembergische VO über die freien Waldorfschulen vom 13. November 1973 grundsätzlich „eine abgeschlossene fachliche und pädagogische Ausbildung" vor und meint damit (auch) die Waldorfeigene Ausbildung. - Die ESchVO NW vom 27. September 1994 sieht eine besondere Bestimmung für die Behandlung von an Waldorf-Einrichtungen ausgebildeten Klassenlehrern vor, in der der Abschluß einer bestimmten vierjährigen Ausbildung der Ersten Staatsprüfung gleichgestellt wird. Für diese Lehrer wird eine befristete Unterrichtsgenehmigung erteilt, um praktische Unterrichtserfahrung zu sammeln. - In Hamburg gilt eine Quotenregelung, wonach zwei Drittel eines Kollegiums eine gleichwertige fachliche und pädagogische Ausbildung besitzen müssen, während ein Drittel nach Kriterien eingestellt werden kann, die die Waldorfschule für ihre pädagogische Arbeit für angemessen hält. In die Zwei-Drittel-Quote fallen auch Lehrer, bei denen der Besuch eines Waldorfseminars die praktische Ausbildung ersetzt. 39 - In Berlin und Hessen wird Waldorflehrern mit abgeschlossenem Hochschulstudium und einer Waldorf-Zusatzausbildung eine befristete Erlaubnis zur Prüfung der Eignung gegeben.40 Die grundsätzliche Ausweitung des Erfordernisses der wissenschaftlichen Ausbildung hat ihre Analogie in der Ausweitung der Erfordernisse „Lehrziele und Einrichtungen" zum „inneren und äußeren Schulbetrieb"; 41 die Herkunft all dieser Ausweitungen von der Preußischen Ministerialinstruktion von 1839 ist unverkennbar und steht im Widerspruch zur verfassungsrechtlich garantierten Errichtungs- und Gestaltungsfreiheit. 42

36

So auch Müller (Fn. 10), S. 145.

37

OVG NW vom 7.4.1992, SPE 240, S. 30 ff.

3K

BayVGH vom 27.7.1994 - 7 B 93.1936, unter II.5.c).

39

Bescheid der Behörde für Schule und Berufsbildung vom 29.1.1986.

40

Runderlaß des Hessischen Kultusministeriums vom 3.1.1995; in Berlin neuere Verwaltungsübung. 41 Z.B. § 5 Abs. 2 b-w. PSchG; § 2 2. DVO berl. PSchG. Noch weiter geht die allerdings nicht mehr angewendete Bestimmung des Art. 134 Abs. 1 BayVerf. 1946. Kritisch wie hier Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentags, Entwurf für ein Landesschulgesetz, 1981, S. 394. 42

Vogel, RdJB 1983, 170 ff.

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I I I . Die Lehrergenehmigung im Rahmen der Schulgenehmigung des Art. 7 Abs. 4 GG Die Genehmigungsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 4 GG treffen zunächst einmal die Situation bei Errichtung der Schule. Der Schulträger richtet einen einzigen auf die Schule insgesamt gerichteten Genehmigungsantrag an die Schulverwaltung. Bei der Genehmigung handelt es sich um eine solche für eine Schule, nicht fiir einzelne Abschnitte oder Stufen einer Schule.43 Die Schule als institutionelle Einheit darf in ihren Lehrzielen, Einrichtungen und in der Ausbildung ihrer Lehrer nicht hinter entsprechenden staatlichen Schulen zurückstehen, die Schüler nicht nach ihren Besitzverhältnissen sondern und muß ihre Lehrer wirtschaftlich und rechtlich genügend sichern. Der Verfassunggeber geht von einer alle Genehmigungsvoraussetzungen umfassenden Genehmigung aus, die spätestens zu erteilen ist, wenn alle diese Genehmigungsvoraussetzungen erfüllt sind. 44 Festzuhalten bleibt, daß Art. 7 Abs. 4 GG keine Einzel(unterrichts)genehmigungen vorsieht, sondern das Lehrerkollegium als Ganzes zusammen mit Lehrzielen und Einrichtungen einem zusammenfassenden Genehmigungsverfahren unterwirft. Zweifellos hat die Schulverwaltung die Aufgabe, während des weiteren Betriebs der Schule zu überwachen, ob die Genehmigungsvoraussetzungen ständig erfüllt werden. Aus dem oben Festgestellten folgt, daß der Schulträger alle Veränderungen in Lehrzielen, Einrichtungen und beim pädagogischen Personal der Schulverwaltung mitteilen muß. Das kann aber nicht bedeuten, daß jede Veränderung einen Antrag auf Änderung der Schulgenehmigung oder Anträge auf zusätzliche Genehmigungen der Änderungen voraussetzt oder jede Änderungsmitteilung zugleich als Antrag auf Genehmigung zu behandeln wäre - es sei denn, die Veränderungen wären so gravierend, daß faktisch eine andere Schulform errichtet werden soll. Vielmehr hätte das Verfahren bei Veränderungen so auszusehen, daß die Schulverwaltung, wenn sie begründete Einwände für ein Zurückstehen in einem oder mehreren der drei Bereiche hat, dies bis hin zum Genehmigungsentzug verfolgen kann. Die Formulierung „nicht zurückstehen" bedeutet die Ausnahme von der Grundannahme, daß im Zweifel vom Freiheitsrecht, also von der Erfüllung der Genehmigungsvoraussetzungen auszugehen ist; die Schulverwaltung hat einzuschreiten, wenn sie Nachweise dafür hat, daß die Schule in den Genehmigungspunkten zurücksteht (bloße Zweifel an 43 Fragwürdig ist deshalb die Praxis z.B. in Bayern, die Genehmigung für eine Waldorfschule aufzuteilen in eine für den Grundschulteil und eine für den Oberschulteil. Die Begründung dafür, die unterschiedliche Zuständigkeit des Regierungsbezirks für Grundschulen, des Landes für Oberschulen, kann nicht überzeugen, denn die Schulabteilung des Regierungsbezirks ist insoweit dem Kultusministerium unterstellt. 44

Einige Bundesländer sehen eine vorläufige, befristete Genehmigung vor, wenn die Voraussetzungen noch nicht sämtlich erfüllt sind, aber erwartet werden kann, daß sie erfüllt werden (Art. 98 Abs. 1 bay. EUG; § 37 Abs. 4 n-w. SchOG; § 6 Abs. 3 r-p. PSchG).

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der Gleichwertigkeit genügen nicht). 45 Dabei sind „die Lehrer" als eine Einheit genauso wie „die Lehrziele" und „die Einrichtungen" anzusehen. Genau so wenig wie jedes einzelne Lehrziel und jede einzelne Einrichtung genehmigungsfähig ist (etwas anderes gilt für die bau- und gesundheitspolizeilichen Entscheidungen), ist es auch die Ausbildung eines einzelnen Lehrers. Nur dann, wenn das Lehrerkollegium in seinen Ausbildungen insgesamt hinter dem eines Kollegiums einer staatlichen Schule zurücksteht, kann die Schulverwaltung Abhilfe von Seiten des Schulträgers verlangen. 46 Gegenüber der üblichen traditionellen Verwaltungspraxis ändert sich damit ein entscheidender Punkt: der Schulträger ist frei in der Zusammenstellung seines Kollegiums, er riskiert allerdings ggf. eine Beanstandung der Schulverwaltung, wenn er mit der Einstellung eines oder mehrerer unqualifizierter Lehrer die Qualifikation seines Kollegiums insgesamt beeinträchtigt und müßte ggf. bereits angestellte Lehrkräfte wieder entlassen. Die traditionelle Praxis der Unterrichtsgenehmigungen hat für den Schulträger den Vorteil, daß er nach Genehmigung risikolos Arbeitsverträge abschließen und die Einzelentscheidung der Verwaltung rechtlich anfechten kann, ohne die Schulgenehmigung zu gefährden, er nimmt freilich damit in Kauf, daß die Schulverwaltung in einem Anfechtungsverfahren im Vorteil ist: solange nicht rechtskräftig entschieden ist, kann der Lehrer nicht eingesetzt werden mit der Folge, daß er nach einer positiven Entscheidung für den Schulträger wegen der langen Dauer heutiger Gerichtsverfahren nicht mehr zur Verfugung steht. Immerhin: unter rein praktischen Erwägungen wäre das Instrument der Unterrichtsgenehmigung hinzunehmen, obwohl es verfassungsrechtlich fragwürdig ist. IV. Die „wissenschaftliche Ausbildung" der Lehrer So selbstverständlich, wie die überwiegende Meinung 47 und die Schulverwaltungen die Formulierung „wissenschaftliche" Ausbildung als Bezeichnung der gesamten Ausbildung - also fachlich wissenschaftliche und praktisch pädagogische Ausbildung eines Lehrers mit entsprechenden Abschlüssen - ansehen, ist diese Interpretation nicht. Mit den Genehmigungsvoraussetzungen wer45

„Argumentationslastverteilung", so Müller (Fn. 10), S. 137 ff. A.A. OVG NW vom 20.3. 1992, SPE 240, S. 20 ff., das die Möglichkeit nachträglicher Beanstandung für unzureichend hält; die Sicherung der Qualität der Lehrer müsse bereits bei Einstellung stattfinden. Zutreffender wäre die Begründung, daß die in NW mit der Finanzhilfe verbundene Einsetzung in eine beamtenähnliche Planstelle an der Ersatzschule eine vorgehende Genehmigung erforderlich mache; hier ist ein Punkt, wo das NW Finanzhilferecht verfassungsrechtlich außerordentlich bedenklich ist (Müller [Fn. 10], S. 150 ff.); Vogel, Bildung und Erziehung in Freier Trägerschaft (BEFT), Oz. 28. 10. 1 d). 46 47

In diese Richtung weist die Hamburger Quotenregelung (s.o. 3).

Siehe Fn. 21. Typisch für die Unbefragtheit der Auffassung BVerwG vom 27.4.1987, SPE 240, S. 42 ff. (44) die Formulierung „zwanglos".

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den Ausnahmen vom Grundrecht, Schulen in freier Trägerschaft zu errichten und zu betreiben, formuliert; bei ihrer Ausweitung im Wege der Interpretation muß deshalb außerordentlich behutsam vorgegangen werden. Nehmen wir den grammatikalischen Wortlaut des GG ernst, ist nicht eine (Lehrer)Ausbildung schlechthin, sondern ausdrücklich eine spezifische Ausbildung bezeichnet, eine „wissenschaftliche". Hätte der Weimarer Verfassunggeber die gesamte wissenschaftlich fachliche und pädagogisch praktische Ausbildung in die Genehmigungsvoraussetzung aufnehmen wollen, z.B. unter dem Gesichtspunkt, daß die gesamte Lehrerausbildung auf wissenschaftlicher Grundlage, aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse und mit wissenschaftlicher Methodik erfolge, hätte er das Wort „wissenschaftlich" weglassen können; es hätte sich von selbst verstanden. Wenn er also das Wissenschaftliche ausdrücklich in die Formulierung aufnahm, mußte er eine spezifische Lehrerbildung damit gemeint haben. Was liegt da näher als die Annahme, daß ein im Sprachgebrauch nicht als „wissenschaftlich" bezeichneter Abschnitt der Lehrerausbildung, z.B. der praktisch pädagogische, nicht in das Genehmigungsverfahren einbezogen werden sollte?48 Friedrich Müller interpretiert „wissenschaftliche Ausbildung" systematisch, indem er den Begriff „Wissenschaft" als Oberbegriff von Forschung und Lehre aus Art. 5 Abs. 3 GG auf die wissenschaftlich-fachliche Lehrerausbildung überträgt und auf die Fähigkeit, die so qualifizierten Inhalte in angemessener Form durch Lehre zu vermitteln. 49 Freilich trifft er, wenn Lehrerausbildung insgesamt wissenschaftlich ist, wieder auf die Frage, warum die Wissenschaftlichkeit im Falle der Lehrerausbildung so ausdrücklich vorgeschrieben ist. Ein systematischer Hinweis für die Interpretation des Wissenschaftlichen im Zusammenhang mit der Lehrerbildung ist dem Ensemble der Genehmigungsvoraussetzungen zu entnehmen. Wie bereits oben ausgeführt, darf die Schule nicht zurückstehen u.a. in ihren Lehrzielen; diese Beschränkung der Voraussetzung auf das pädagogische Ziel läßt den pädagogischen Weg zur Disposition des Trägers frei. Gerade diese Freigabe ist Ausfluß des Grundprinzips der Schulvielfalt, die der eigentliche Verfassungsgrund für die Errichtungsgarantie der Schulen in freier Trägerschaft ist. Insbesondere die Unterrichtsmethode neben abweichenden Inhalten - charakterisiert nicht nur die besondere Prägung, sie ist auch einer der Kernpunkte, in denen der Träger autonom entscheidet. Besondere Unterrichtsmethoden bedürfen einer darauf abstellenden Lehrerausbildung, mindestens sind sie mit der staatlichen, auf eine andere Methodik und Didaktik ausgerichteten unterrichtspraktischen Ausbildung nicht gewährleistet. Während die fachlich-wissenschaftliche Hochschulausbildung in ihrer Abstraktheit einen Kenntnisstand vermittelt, der auch auf abweichende Unterrichtsinhalte anwendbar ist, ist eine nicht auf die Methodik der Ersatzschule abgestellte 4X

So schon Grewe (Fn. 10), 35.

49

Müller (Fn. 10), S. 143 f.; so auch Pieroth (Fn. 10), S. 201 ff.; Pfau (Fn. 20), S. 23 ff.

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pädagogisch-unterrichtspraktische Ausbildung für die Tätigkeit an der Ersatzschule inadäquat. Es muß als wahrscheinlich unterstellt werden (die Materialien bleiben zur Formulierung des Art. 7 Abs. 4 GG wie schon zur Weimarer Verfassung in den wesentlichen Punkten stumm), daß die Verfassungsväter so, wie sie auf die Lehrziele, nicht auf den Weg dahin- Lehrpläne und Didaktik- abstellten, sachlogisch bei der Lehrerausbildung auf die fachlich-wissenschaftliche Qualifikation abstellten, nicht aber auf methodisch-unterrichtspraktische Fähigkeit und Kenntnis. Letztere sind für das Schulehalten so wichtig wie das Vorhandensein von Lehrplänen, aber der Verfassunggeber sah davon ab, auch diese in die bewußt punktuellen, sich auf die entscheidenden Elemente der Schule beschränkenden Genehmigungsvoraussetzungen einzubeziehen, um den Kernbereich der Autonomie der Schule in freier Trägerschaft nicht einzuschränken. Die Tradition der Schulverwaltung aufgrund der Preußischen Ministerialinstruktion kann zur Interpretation nicht herangezogen werden, denn es ist ja gerade das Neue an der Weimarer Verfassung (und dann am Grundgesetz), daß der Gedanke des Nichtzurückstehens, also der Gleichwertigkeit der bisherigen Regel der Gleichartigkeit mit Ausnahmen entgegen gestellt wird. 50 Die Beschränkung des Wissenschaftlichen der Lehrerausbildung auf den fachlich-wissenschaftlichen Teil der Ausbildung ergibt auch einen Sinn von daher, daß der unterrichtspraktische Teil der Ausbildung herkömmlicherweise an den schulnahen, nur der staatlichen Lehrerbildung gewidmeten Studienseminaren und nicht an der allgemein zugänglichen Hochschule durchlaufen wird. Ein Pendant dazu außerhalb der staatlichen Lehrerausbildung gab es zur Zeit der Entstehung des GG nicht (nur eine inzwischen 165 Schulen umfassende Gruppe freier Schulen wie die Waldorfschulen kann sich eine eigene Lehrerausbildung leisten). Wo - außer an Schulen — könnte eine für die Lehrertätigkeit erforderliche gleichwertige pädagogische Fähigkeit erlernt werden? Wo — außer in der staatlichen Lehrerausbildung - kann eine die pädagogische Fähigkeit nachweisende Prüfung gemacht werden? Die umfassend interpretierte Genehmigungsvoraussetzung könnte nicht erfüllt werden, ohne daß die zweite Phase der staatlichen Lehrerausbildung durchlaufen wird. Das vom GG intendierte Nichtzurückstehen würde aufgehoben und durch Gleichartigkeit ersetzt. Die Verwaltungen und Landesgesetzgeber behelfen sich hier einsichtig mit freien Leistungen und erteilen befristete Genehmigungen, um bei Ablauf der Frist die pädagogischen Fähigkeiten des Kandidaten zu prüfen. Dabei bleibt zum einen der Vorbehalt der endgültigen Genehmigung unbefriedigend, aber auch die Tatsache, daß staatlich ausgebildete Schulaufsichtsbeamten über eine anders ausgerichtete Didaktik und Methodik zu entscheiden haben (im allgemeinen wird hier denn auch großzügig verfahren). Zudem geraten Verwaltungen in Schwierigkeiten dort, wo freie Leistungen nur ausnahmsweise zugelas50

Vogel (Fn. 42), S. 172.

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sen werden. An Waldorfschulen ist die Ausnahme die Regel. Man kann, wie Friedrich Müller, die Ausnahme statt auf das Ersatzschulwesen auf das gesamte Schulwesen beziehen und das Anderssein der Ersatzschulen als Ausnahme interpretieren. 51 Was soll sie dann aber? Einen vernünftigen Sinn ergäbe die Ausnahme, wenn sie nur auf die wissenschaftlich-fachliche Ausbildung bezogen würde und „originäre Lehrerpersönlichkeiten" 52 ohne ausreichende wissenschaftliche Ausbildung i.e.S. auf diese Weise zugelassen werden sollten. Grundsätzlich sind die nicht im GG vorgesehenen „freien Leistungen" von den Schulverwaltungen nur deshalb erfunden worden, um die Härten, die durch die Erweiterung der Wissenschaftlichkeit auf die gesamte Lehrerausbildung entstehen, abzumildern. Sie sind aber nicht geeignet, diese Ausweitung rechtlich zu stützen. Das BVerfG hat in ständiger Rechtsprechung nicht nur den hohen Grad der Gewährleistung der Errichtungsfreiheit des Art. 7 Abs. 4 Satz 1 GG nachhaltig ins Bewußtsein gehoben; es hat auch wiederholt festgestellt, daß die Schulen in freier Trägerschaft nicht wegen ihrer Andersartigkeit benachteiligt werden dürfen. 53 Eine Benachteiligung ist aber in einer Interpretation der wissenschaftlichen Ausbildung zu sehen, die die gesamte Lehrerbildung in ihrer Struktur und in ihren Details zum Maßstab macht und damit Schulen besonderer pädagogischer Prägung zwingt, Lehrer zu beschäftigen, die für die besonderen Inhalte und Methoden der Ersatzschule nicht qualifiziert sind und umgeschult werden müssen. Angesichts der entscheidenden Aussagen des BVerfG ist es m.E. nicht mehr möglich, eine historische Interpretation fortzuführen, die einen Bewußtseinsstand aus der Zeit vor der Weimarer Verfassung und dem GG wiedergibt. Es ergibt also durchaus einen Sinn, die „wissenschaftliche Ausbildung" des Lehrers in Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG beim Wort zu nehmen und auf die fachlich-wissenschaftliche Ausbildungsphase der Lehrerausbildung zu beschränken 54 ; dieser Sinn steht mit Sinn und Zweck der Verfassungsbestimmung im Einklang, entspricht dem Normzweck und läßt erst die Schulvielfalt zu, die der Verfassungsgrund der Errichtungsgarantie der Freien Schule ist. V. Die Schulform als Anknüpfungspunkt des Nichtzurückstehens der Lehrer Das Nichtzurückstehen der Ersatzschule in der Ausbildung ihrer Lehrer bezieht sich auf eine entsprechende staatliche Lehrerausbildung. Diese ist für 51

Müller (Fn. 10), S. 145 ff.

52

Hechel (Fn. 19), S. 282; Maunz (Fn. 10), Rn. 76; Müller (Fn. 10), S. 144 f.

53

Z.B. BVerfGE 27, 195 ff.; 75, 40 ff.

54

So auch die Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentags, a.a.O., § 105 Abs. 2 Satz 2 und S. 394.

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unterschiedliche Schulformen unterschiedlich. Der Gleichwertigkeitsvergleich der jeweiligen Ausbildung erfolgt deshalb schulformspezifisch, die Anforderungen an die Lehrerbildung ergeben sich aus einem Vergleich mit den Anforderungen an staatliche Lehrer der entsprechenden Schulform. Dies erscheint unproblematisch, wo Schulformen der Ersatzschulen staatlichen Schulformen entsprechen. Die Problematik zeigt sich da, wo Schulformen nicht zur Deckung zu bringen sind. So gibt es die Schulform „Waldorfschule" im staatlichen Schulwesen nicht. Sie wird verschiedentlich als „Einheitliche Volks- und Höhere Schule" umschrieben, man könnte auch von einer integrierten Gesamtschule der Klassen 1 bis 12 sprechen. Solange die Ausbildung von Fachlehrern an Waldorfschulen zu prüfen ist, ist der Vergleich entweder mit Grundschuloder Sekundarschullehrern (in den obersten Klassen mit Gymnasiallehrern) möglich. Schwierig wird es beim „Klassenlehrer" an Waldorfschulen; er wird grundständig in einem vierjährigen Ausbildungsgang an bestimmten WaldorfSeminaren (Hochschulen) ausgebildet und führt grundsätzlich seine Klasse von der 1. bis zur 8. Klassenstufe als Universalist (alle Fächer mit Ausnahme der Fremdsprache, Mathematik und später der Naturwissenschaften). Ein Verfahren, in dem er mit den Ausbildungen sowohl des Grundschul- als auch des Fachlehrers der Sekundarstufe verglichen wird, führt zu inadäquaten Anforderungen, die dem Bild eines Ersatzlehrers einer staatlichen Schulform, die es nicht gibt, entsprechen. Sachgerecht wäre allein ein funktionaler Vergleich, mit dem festgestellt wird, ob der so ausgebildete Lehrer die Aufgabe erfüllen kann, für die er ausgebildet wird, und ob damit ein gleichwertiges Lernziel erreicht werden kann. Dieser funktionale Vergleich steckt im derzeitigen Verfahren auch schon, denn etwa der staatlich ausgebildete Realschullehrer wird ja nicht für eine Lehrertätigkeit schlechthin, sondern für eine bestimmte Tätigkeit in einer Realschule ausgebildet, mit der die Lernziele der Realschule erreicht werden sollen. Dies gilt genau so für den Waldorflehrer, der für eine bestimmte Tätigkeit in der Waldorfschule ausgebildet wird. Anstelle des „Fliegenbeinzählens" zum Zwecke des Vergleichs unterschiedlicher Qualifikationen sollte die Rückbesinnung auf den funktionalen Vergleich treten. Genau darauf weist der Musterschulgesetz der Kommission Schulrecht des Deutschen Juristentags hin, wo es in § 105 Abs. 2 heißt: „Die Genehmigung [der Ersatzschule] ist zu erteilen, wenn 1. die Ersatzschule die allgemeinen Bildungs- und Unterrichtsziele anstrebt, 2. die schulischen Einrichtungen und die Ausbildung der Lehrkräfte gewährleisten, daß diese Ziele erreicht werden können ..."

In der Begründung für diese Formulierung wird ausgeführt, daß die in Art. 7 Abs. 4 Satz 3 GG geforderte Gleichwertigkeit sich inhaltlich näher bestimmen lasse durch eine Orientierung des Nichtzurückstehens von Einrichtungen und Ausbildungen an den zu erreichenden Bildungszielen (S. 394). M.a.W.: Das

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Nichtzurückstehen der Ausbildung wird definiert von den Zielen her, die die Schule erreichen will und derentwegen sie als Ersatzschule genehmigt ist. Zweifellos haben die drei Vergleichselemente- Bildungsziele, Einrichtungen, Lehrerausbildung- unterschiedliches Gewicht: eine Ersatzschule könnte bei nicht völlig gleichwertigem Vorhandensein von Einrichtungen und Lehrkräften vorläufig genehmigt werden; 55 eine nicht vollständige Darstellung der Bildungsziele kann zu keiner, auch keiner vorläufigen Genehmigung führen. Das Schwergewicht liegt mithin bei den Bildungszielen, die auch entscheidend für die Schulform und damit für die Zuordnung als Ersatz- oder Ergänzungsschule sind. Auf sie haben sich Einrichtungen und Lehrerausbildung zu beziehen. Die funktionale Gleichwertigkeitsprüfung einer Lehrerausbildung bezieht sich dann darauf, ob sie Hochschulcharakter besitzt,56 und ob sie vom Inhalt her gewährleistet, daß der Lehrer mit ihr Schüler zu den genehmigten Bildungszielen führen kann. V I . Die genügende Sicherung der Lehrer Die Frage, wann eine rechtliche und wirtschaftliche Sicherung der Lehrer „genügt", wurde von der K M K 1950 den Landesunterrichtsverwaltungen überlassen. Die Landesgesetzgebung hat eine relativ einheitliche Regelung geschaffen, die besagt, daß ein schriftlicher Anstellungsvertrag vorliegen müsse, der Arbeitsumfang, Urlaub und Kündigungsbestimmungen enthält, und hinsichtlich der Vergütung festhält, daß sie „nicht wesentlich" hinter der von Lehrern an vergleichbaren staatlichen Schulen zurückbleibt. 57 In einzelnen Ländern wird dies präzisiert: die Vergütung muß mindestens 75% entsprechender staatlicher Bezüge und mindestens 90% des Anfangsgehalts entsprechender staatlicher Bezüge betragen. 58 Am weitesten geht Nordrhein-Westfalen mit der Festlegung, daß 4 / 5 der hauptberuflichen Lehrkräfte „Planstelleninhaber" sein sollen; der Planstellenvertrag muß demjenigen eines Beamten auf Lebenszeit vergleichbar sein.59 Damit werden die Ersatzschulen festgelegt auf Stellenkegel, Vergütungen und Anstellungsbedingungen, die denen staatlicher Schulen gleichartig 55

Z.B. Art. 98 Abs. 1 bay. EUG; § 37 Abs. 4 n-w. SchOG; § 6 Abs. 3 r-p. PSchG.

56

Die Freie Hochschule Stuttgart des Bundes der freien Waldorfschulen ist hinsichtlich ihrer Klassenlehrerausbildung (BVerwG vom 23.6.1993 - H C 11.92) und hinsichtlich des Studiengangs zum Oberstufenlehrer (BVerwG vom 23.6.1993 - H C 12.92) einer Hochschule gemäß der Definition nach § 2 Abs. 1 HRG gleichwertig i.S. des § 2 Abs. 3 BaföG. Die Entscheidung des OVG NW vom 20.3.1992 (SPE 240, S. 20 ff), wonach der Ausbildung zum Klassenlehrer am Waldorfseminar Witten-Annen kein Hochschulcharakter zukommt, ist inzwischen durch die ESchVO NW vom 27.11.1994 (§ 8 Abs. 2 und 4) überholt. 57

So z.B. Art. 97 bay. EUG, § 145 Abs. 2 nds. SchG.

5S

So z.B. § 4 Abs. 1 2. DVO berl. PSchG, § 2 Abs. 5 brb. ESchVO.

59

§ 8 ESchFinG.

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sind, allerdings auch im wesentlichen aus öffentlichen Mitteln refinanziert werden. Abgesehen davon, daß diese Regelung in der Reglementierung weit über die grundgesetzliche Norm hinausgeht, werden Ersatzschulen mit staatsgleicher Schulstruktur davon kaum beeinträchtigt; für abweichende Schulmodelle (wieder sind es die Waldorfschulen mit eigener Tarifordnung) ist die Regelung außerordentlich problematisch und nur durch interne kostenintensive Vereinbarungen zu bewältigen. Mit der staatsgleichen Vergütung geht allerdings auch eine Anpassung der zulässigen Abweichungen in den Qualifikationen der Lehrer einher, sodaß die Regelung auch die Freiheit des Nichtzurückstehens in der wisenschaftlichen Ausbildung mit der Tendenz zur Gleichartigkeit begrenzt. 60 Spätestens hier zeigt sich die verfassungsrechtliche Fragwürdigkeit dieser, aber auch der anderen Landesregelungen. Ausdrücklich sieht der Verfassungsgeber im Punkt der Sicherung der Lehrer ab von einer wie immer gearteten Vergleichbarkeit mit staatlichen Maßstäben, wie dies im Falle des Nichtzurückstehens in Bildungszielen, Einrichtungen und Lehrerausbildung geschieht. Dafür stärkt er diese Voraussetzung dadurch, daß sie für eine Genehmigung unverzichtbar ist. Ohnehin würde der Vergleich immer schon grundsätzlich hinken, weil ein Beamtenverhältnis von Schulen, die nicht von Kirchen oder Orden getragen werden, nicht begründbar wäre, die meisten Staatslehrer aber Beamte sind. Da zudem die Schule im Organisationsbereich, also auch im Stellenkegel und in der Einstufung ihrer Lehrer nach dem Willen des GG autonom sein soll, darf man vermuten, daß ausdrücklich auf eine Ankoppelung der Bezüge an staatliche Verhältnisse verzichtet wurde. Indem Landesgesetzgeber diese einführen, verstoßen sie gegen den klaren Wilen der Verfassung. Im Falle der genügenden Sicherung der Lehrer ist der Staat auf die Mißbrauchsabwehr beschränkt; 61 er ist nicht der verlängerte Arm der Gewerkschaften. Was aber heißt dann „genügende Sicherung"? Auf der rechtlichen Seite verlangt die Sicherung einen schriftlichen Anstellungsvertrag, der den Beschäftigungsumfang, eine tarifliche Einstufung oder eine bestimmte Vergütung, Urlaubs- und Versorgungsansprüche sowie Kündigungsbestimmungen enthält. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Sicherung ist eine Vergütungshöhe „genügend", die eine hauptamtliche Tätigkeit (bei Teilzeitkräften eine Teilzeitbeschäftigung) sichert; der Lehrer soll nicht auf dem Existenzminimum ausgebeutet werden oder in eine Notlage geraten, sondern von seinen Bezügen auskömmlich leben können; seine Arbeitskraft soll nicht durch zusätzlichen notwendigen Gelderwerb von der Schultätigkeit abgezogen werden. 62 Man kann die genügende Sicherung gleichsam pauschal durch einen Vergleich der Tarif60

Siehe Fn. 45.

61

Grundsätzlich dazu BVerwGE 40, 347 ff. (350 f.). Wie hier auch Müller (Fn. 10), S. 150 ff. 62

So auch Müller (Fn. 10), S. 157 f.

25 GS Jeand' Heur

386

Johann Peter Vogel

systeme einschätzen, eine schematische Ankoppelung mit gewissen Abstrichen an staatliche Gehälter im konkreten Einzelfall überschreitet jedoch die Verfassungsvorgabe. Dies muß insbesondere dort gelten, wo - wie bei Waldorfschulen - die Lehrer selbst Träger ihrer Schule sind und gemeinsam ihre Bezüge festsetzen. Genau genommen besteht hier kein Arbeitgeber/Arbeitnehmer-Verhältnis, sondern eher ein Gesellschafter-Verhältnis, in dem die Gesellschafter untereinander die Mittel verteilen, die nach Deckung der Schulausgaben übrig bleiben. 63 Insofern stellt sich die Frage, wer hier vor wem mit dem Mittel der Mißbrauchsabwehr geschützt werden müßte oder könnte. Die selbst ruinöse Verfügung über eigene Mittel kann Lehrern als Privatpersonen nicht verboten werden. Hier dürfte die Forderung nach genügender Sicherung der Lehrer an ihre Grenzen stoßen. VI. Zusammenfassung Bei einer näheren Überprüfung der Praxis bei den Lehrergenehmigungen an Ersatzschulen zeigt sich die auch sonst im Recht der Schulen in freier Trägerschaft feststellbare Tendenz, die Genehmigungsvoraussetzungen so zu interpretieren, daß der Staat mehr Eingriffsmöglichkeiten erhält als das GG vorsieht, wenn die Genehmigungsvoraussetzungen als Einschränkungen des Freiheitsrechts auf Gründung und Betrieb einer Ersatzschule restriktiv verstanden werden. Fragwürdig ist schon, ob die gesonderte Unterichtsgenehmigung mit den auf eine Schulgenehmigung ausgerichteten Genehmigungsvoraussetzungen vereinbar ist. Immerhin ist das Verfahren aus praktischer Sicht vertretbar. Fragwürdig ist weiter die Erstreckung der Wissenschaftlichkeit auf die gesamte Lehrerausbildung. Sie entspricht m.E. nicht dem Normzweck und dem Sinnzusammenhang der Genehmigungsvoraussetzungen, denn sie führt zur Zulassung nur solcher Qualifikationen, die der Struktur der staatlichen Lehrerausbildung entsprechen und verhindert die Anerkennung von abweichenden Ausbildungen und damit Konkurrenz und Innovation auch im Bereich der Lehrerbildung. Unterichtspraktische und -methodische Fähigkeiten eines Lehrers gehören ebenso wie der inhaltliche und methodische Weg zu den vergleichbaren Bildungszielen zu den Elementen der Schule, in denen diese autonom ist und das Unternehmerrisiko zu tragen hat. 63 Diese Situation rechtfertigt noch am ehesten die Argumentation des BVerfG (E 90, 107 ff., unter C.I.3.d).bb)), wenn es für die Dauer der Aufbauphase das Sonderungsverbot aufhebt und (in entsprechender Anwendung) auch die genügende Sicherung der Lehrer relativiert, indem es vom Schulträger, auch wenn er aus Lehrern besteht, in der Gründungsphase ein zusätzliches bildungspolitisches Engagement als Bestandteil der Finanzierung der Schule fordert. Für die Dauer der Wartefrist wäre demnach auch eine Minderung der Bezüge zulässig.

Zur Problematik der Unterrichtsgenehmigung für Lehrer an Ersatzschulen

387

Fragwürdig ist die Anknüpfung des Vergleichs unterschiedlicher Ausbildungen an Struktur und Details staatlicher Ausbildungen. Die Schulrechtskommission des Deutschen Juristentags eröffnet Formen funktionalen Vergleichs hinsichtlich der Geeignetheit der Ausbildung im Blick auf die Verwirklichung der angestrebten Bildungsziele. Fragwürdig ist schließlich die Anknüpfung der genügenden Sicherung der Lehrer an die Bezüge staatlicher Lehrer. Die Forderung des GG dient der Mißbrauchsabwehr und darf auch nicht über Finanzhilferegelungen in ein Vergleichskorsett gezwungen werden. „Genügend" bedeutet Bezüge, mit denen verhindert wird, daß der Lehrer in eine Notlage gerät, und von denen er auskömmlich leben kann. Die Forderung kommt da um ihre Zielsetzung, wo Lehrer als Schulträger ihre Bezüge selbst beschließen. Die sich ausbreitende Profilierung der Einzelschule auch im staatlichen Bereich und das damit ausgedrückte Bekenntnis zur Vielfalt im Schulwesen drängen zur Revision bisheriger Gesetzgebung und Praxis auch hinsichtlich der Genehmigung von Lehrern mit dem Ziel, den Schulen den Gestaltungsspielraum zu geben, der ihnen vom GG vorgegeben ist.

V. Verwaltungsrecht

Zur verfassungsrechtlichen (Un-)Zulässigkeit der materiellen Einwenderpräklusion im Planfeststellungsrecht Von Wilfried Erbguth

I. Einleitung Den viel zu früh von uns gegangenen Kollegen Bernd Jeand'Heur zeichnete es aus, in seinem weitgefächerten wissenschaftlichen Werk scheinbar festgefugte rechtliche Bastionen mit Überzeugungskraft und zugleich spielerisch ins Wanken zu bringen, wie nicht zuletzt sein Beitrag zu der schon begrifflichen Diametrie sog. deklaratorischer Innenbereichssatzungen im Geltungsbereich des § 34 BauGB erweist. 1 Der nachfolgende Beitrag versucht, hierzu anhand der erweiterten Einwenderpräklusion im Planfeststellungsrecht mit einem Teil der jüngeren Literatur ein Scherflein beizusteuern — ob mit Überzeugungskraft oder gar spielerisch, mag der Leser für sich entscheiden. II. Hauptteil Die im Gefolge der fach(planungs)gesetzlich erweiterten Ausschlußwirkung verfristeter Einwendungen zwischenzeitlich für jegliche Planfeststellung in § 73 Abs. 4 S. 3 VwVfG eingeführte materielle Präklusionswirkung 2 schneidet nach herkömmlicher Meinung Tatsachenvorbringen im (weiteren) Verwaltungsverfahren, insbesondere aber im und für den verwaltungsgerichtlichen Prozeß ab.3 Sie beschränkt die Durchsetzung subjektiver Rechte, indem das verfristete Vorbringen in Abweichung vom Grundsatz vollständiger tatsächlicher und rechtlicher Kontrolle der Verwaltungsmaßnahme als Gegenstand der Entscheidungsfindung durch das Gericht ausfällt. 4 1 Jeand'Heur, Gibt es Satzungen mit nur „deklaratorischem" Gehalt?, NVwZ 1995, 1174 ff.; Erbguth /Wagner, Bauplanungsrecht, 3. Aufl. 1998, Rn. 397 mit Fn. 64. 2 Vgl. dazu Erbguth, Zur Vereinbarkeit der jüngeren Deregulierungsgesetzgebung im Umweltrecht mit dem Verfassungs- und Europarecht - am Beispiel des Planfeststellungsrechts (i.E.), unter l.b)dd) sowie l.d)dd). 3 Wie vor sowie Röhl /Ladenburger, waltungsrecht, 1997, S. 28 ff., 47 ff. 4

So zurecht Röhl/Ladenburger

Die materielle Präklusion im raumbezogenen Ver-

(Fn. 3), S. 47 f. m.w.N.

392

Wilfried Erbguth

Vor diesem Hintergrund ist verfassungsrechtlicher Maßstab für die Zulässigkeit materieller Präklusionsvorschriften zuvörderst Art. 19 Abs. 4 GG 5 — freilich nicht in einem verallgemeinernden Sinne, sondern in bereichsspezifischer Differenzierung, weil es „den" Einwendungsausschluß rechtlich nicht gibt. 6 Aus letzterem folgt zugleich, daß sich die rechtliche Problematik materieller Präklusionsregelungen keineswegs mit der Sasbach-Entscheidung des BVerfG 7 erledigt hat; das erweisen nicht nur Stimmen in der Literatur 8, sondern auch jüngere Entscheidungen des BVerwG 9 , die gegenüber dem zum Atomrecht ergangenen (damaligen) Beschluß des BVerfG 10 fachplanungsrechtliche Verwirkungsvorschriften mit verwaltungsprozessualen Konsequenzen einer spezifischen Überprüfung unterziehen. 1. Zur neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts Nun hat das BVerwG insbesondere in seinem Urteil vom 24.05.199611, wenngleich unter Aufgabe des zuvor üblichen Verweises bei fachplanungsrechtlichen Präklusionsvorschriften auf besagte Sasbach-Entscheidung12, die Regelung der im Wege des Dritten Rechtsbereinigungsgesetzes in § 17 Abs. 4 S. 1 FStrG eingeführten Einwenderpräklusion vor dem Hintergrund der Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG als verfassungsrechtlich unbedenklich eingestuft. Zur Begründung 13 verweist es zum einen darauf, die Präklusionsregelung stelle eine ordnungsgemäße Ausgestaltung der verfahrens5

Röhl / Ladenburger (Fn. 3), S. 48; vgl. auch Siegel , Verfahrensbeschleunigung in der Verkehrswegeplanung, 1997, insb. S. 196 ff. 6 Brandt , Präklusion im Verwaltungsverfahren, NVwZ 1997, 233 (234 ff., 237); Röhl/Ladenburger (Fn. 3), S. 14 f. 7

BVerfG, Beschl. v. 08.07.1982 - 2 BvR 1187/80 -, E 61, 82 ff.; vgl. zuvor die WhylEntscheidung des BVerwG, Urt. v. 17.07.1980 - I C 101.78 -, E 60, 297 ff.; zu alldem kritisch Erbguth , Rechtssystematische Grundfragen des Umweltrechts, 1987, S. 258 ff, 264 ff. m.w.N. 8 Siegel (Fn. 5). S. 196 ff., 208 ff. unter Rückgriff auf die Maastricht-Entscheidung des BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 - 2 BvR 2134/92, 2159/92 - , NJW 1993, 3047 (3051); Röhl/ Ladenburger (Fn. 3), S. 14 ff; besonders deutlich Solveen , Zur materiellen Präklusion im Fernstraßenrecht, DVB1. 1997, 803 (804) in Abgrenzung der rechtlichen Gegebenheiten im Fernstraßenplanungsrecht von denjenigen im Anlagenzulassungsrecht; anders Brandt (Fn. 6), S. 237: Verfassungsmäßigkeit geklärt. 9 Vgl. vor allem BVerwG, Urt. v. 24.05.1996 - 4 A 38.95 - , DVB1. 1997, 51 (51 f.); w.N. bei Solveen (Fn. 8), S. 803 mit Fn. 1 f., nachfolgend im Text. 10

Vgl. Erbguth (Fn. 2), bei Fn. 98.

11

Vgl. wie vor, in Fn. 380.

12 BVerwG, Urt. v. 06.08.1982 - 4 C 66.79 - , E 66, 99 (106); Anklänge insoweit auch noch bei BVerwG, Beschl. v. 12.02.1996 - 4 A 38/95 - , NVwZ 1997, 171 (172), Ii. Sp., unten. 13

BVerwG, Urt. v. 24.05.1996 - 4 A 38.95 - , DVB1. 1997, 51 (51 f.).

Materielle Einwenderpräklusion im Planfeststellungsrecht

393

mäßigen Durchsetzung bestehender Eigentümerpositionen i.S.d. Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG 1 4 dar, weil sie - unter Berücksichtigung der sozialen Funktion des Grundeigentums bei der Fernstraßenplanung — in einem angemessenen Verhältnis zu dem gesetzlich verfolgten Ziel stehe. Jene legitimen (Gesetzes-)Ziele sieht das Gericht angesichts der Spannungslage bei wichtigen Infrastrukturmaßnahmen zwischen Bürgerbeteiligung, planerischer Informationsaufbereitung sowie effektivem Rechtsschutz einerseits und „dem Ziel einer behördlichen Verfahrensbeschleunigung und der Rechtssicherheit der Planungsentscheidung andererseits" im Ausgleich der gegenläufigen Interessen.15 § 17 Abs. 4 S. 1 FStrG beschneide dem Bürger die Verfolgung seiner Interessen und Rechte weder sachwidrig noch unzumutbar. Die Weite der möglichen Einbringung von Bürgerbelangen (auch anderweitige Rechte und öffentliche Belange) rechtfertige verfahrensmäßige Beschränkungen zugunsten wichtiger Gemeinwohlbelange (zeit- und kostenaufwendiger Vorgang der Planfeststellung/Bindung sachkundigen Personals und finanzieller Mittel in erheblicher Weise als Investitionen zur Lösung oder Verbesserung von Infrastrukturproblemen, die nicht ohne hinreichenden Grund in Frage gestellt werden sollen). Zum anderen richte sich ein berechtigtes Anliegen darauf, gerade bei „komplexen Planungsverfahren" Bedenken und Anregungen etc. möglichst frühzeitig zu erfahren, um die Planung in ihrer Durchführung und Ausgewogenheit zu „erleichtern". Solches stehe auch im wohlverstandenen Interesse der Bürger selbst, weil die Chance der Einflußnahme ihres Vorbringens in einem späteren (Verfahrens-)Stadium aufgrund zunehmender planerischer Verfestigung abnehme. Ferner verfolge der Gesetzgeber durch die von ihm eröffnete effektive Beteiligung des Bürgers am Verfahren den Gedanken vorverlagerten Rechtsschutzes16, weil in Anbetracht der begrenzten rechtlichen Strukturierbarkeit planerischer Abwägungsentscheidungen und (dem)entsprechend eingeschränkter gerichtlicher Kontrollmöglichkeiten der sachgerechten Aufbereitung des Abwägungsmaterials besondere Bedeutung zukomme.17 Des weiteren rechtfertige sich die dem Bürger durch die Sanktion der materiellen Präklusion auferlegte Mitwirkungslast aus dem kooperativen Verständnis der Konfliktbewältigung bei großflächige Planungen typisierenden Problemen: Die Verwaltung habe nicht nur ein berechtigtes Interesse an frühzeitiger Information über ggfls. erörterungsbedürftige individuell berührte Interessen; gerade bei Massenverfahren der vorliegenden Art werde 14 Unter Hinweis auf BVerfG, Beschl. v. 23.04.1974 - 1 BvR 6/74, 2270/73 - , E 37, 132 ff. 15

BVerwG, Urt. v. 24.05.1996 - 4 A 38.95 - , DVB1. 1997, 51 (52).

16

Unter Hinweis auf BVerfG, Beschl. v. 20.12.1979 - 1 BvR 385/77 - , E 53, 30 (65); BVerfG, Beschl. v. 23.04.1974 - 1 BvR 6/74, 2270/73 - , E 37, 132 (141); BVerfG, Beschl. v. 07.12.1977 - 1 BvR 734/77 - , E 46, 325 (334). 17

BVerwG, Urt. v. 24.05.1996 - 4 A 38.95 - , DVB1. 1997, 51 (52) unter Hinweis auf BVerwG, Urt. v. 12.12.1969 - 4 C 105.66 - , E 34, 301 ff.; BVerwG, Urt. v. 05.07.1974 - 4 C 50.72 - , E 45, 309 ff.; BVerwG, Urt. v. 05.12.1986 - 4 C 13.85 - , E 75, 214 ff.

394

Wilfried Erbguth

die dergestalt konzentrierte Ermittlung der abwägungserheblichen Belange auch von einer legitimen Zielsetzung getragen. Die nähere Ausgestaltung der fernstraßenrechtlichen Präklusionsvorschrifit findet sich ebensowenig beanstandet.18 Der Gesetzgeber habe das Maß der Zumutbarkeit nicht überschritten; besonders schwierig für den Bürger zu erfüllende Anforderungen fanden sich nicht aufgestellt. Die vorgesehenen Fristen und Erörterungsmöglichkeiten seien nicht so kurz und begrenzend, daß sie die rechtsstaatlich gebotene Heranziehung „sachkundiger Hilfe Dritter" für die Erhebung der Einwendungen ausschlössen. Überdies verlange § 17 Abs. 4 S. 2 FStrG ausdrücklich den Hinweis auf die Folgen der Fristversäumnis, und zwar in ortsüblicher Bekanntmachung, die konkret sowie allgemeinverständlich sein und dem Bürger die Kenntnis eröffnen können müsse, „daß die vorgesehene Planung möglicherweise seine Interessen betrifft und er damit aufgerufen ist, sich um seine Belange zu kümmern". 19 2. Grundsätzliche Kritik der Rechtsprechung Die auf das Fachplanungsrecht i.ü. und dessen - sonstige - (Einwendungs)Ausschlußnormen übertragungsfähige Rechtsprechung 20 entspricht damit doch weitgehend den zum Atomrecht verfolgten gerichtlichen Sichtweisen21, so daß nicht nur die hiergegen gerichtete Kritik 2 2 erneut virulent wird - was insbesondere den - wiederum - verfehlten, Kompensationsvorstellungen im Verhältnis von verfahrensrechtlichem und prozessualem Rechtsschutz implizierenden Topos des vorverlagerten Rechtsschutzes23 als argumentative Grundlage betrifft. Es werden damit vielmehr auch rechtsdogmatische Unterschiede zwischen Anlagenzulassungs- und Fachplanungsrecht und deren Konsequenzen jedenfalls für die verfahrensrechtliche Ausgestaltung des Präklusionseintritts 24 übergangen. Was sodann die rechtsstaatliche Beurteilung der näheren Ausgestaltung des § 17 Abs. 4 FStrG durch das BVerwG anbelangt, so erweist die voranstehende Wiedergabe des diesbzgl. Entscheidungsinhalts25, daß die ausreichende Bemes18

BVerwG, Urt. v. 24.05.1996 - 4 A 38.95 - , DVB1. 1997, 51 (52), re. Sp.

19

BVerwG, ebd., mit ergänzendem Hinweis auf die nach Maßgabe des § 32 VwVfG eröffnete Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. 20

So auch die Sichtweise bei Röhl / Ladenburger (Fn. 3), S. 49 mit Fn. 10, S. 57 mit Fn. 39-41. 21

Näher dazu Erbguth (Fn. 7), S. 258 ff., insb. S. 259.

22

Erbguth , ebd., S. 264 ff. m.w.N.

23

Vgl. die Kritik bei de Witt , Anm. zu BVerwG v. 17.07.1980, DVB1. 1980, 1006 (1008); Metz , Zulässigkeit und Grenzen formeller und materieller Präklusion, 1983, S. 108 f.; Wahl, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VVDStRL 41 (1983), S. 151 (161); Erbguth (Fn. 7), S. 242 ff.; zuletzt Röhl / Ladenburger (Fn. 3), S. 49 f. 24

Solveen (Fn. 8), S. 803 (805 ff.).

25

Vgl. Erbguth (Fn. 2), nach Fn. 389.

Materielle Einwenderpräklusion im Planfeststellungsrecht

395

senheit der Fristen, gerade auch mit Blick auf die Hinzuziehung besagter sachkundiger Hilfe Dritter, lediglich behauptet, in keinerlei Hinsicht indes begründet wird; daß — des weiteren - die ortsübliche Bekanntmachung der Belehrung nach § 17 Abs. 4 S. 2 FStrG „sowohl hinreichend konkret als auch allgemeinverständlich" 26 zu sein hat, wird, zumal die Vorschrift hierzu schweigt 27 , ohne rechtliche Absicherung (etwa) anhand allgemeiner Rechtsgrundsätze oder des Verfassungsrechts in den Raum gestellt. Vor allem aber ist es angesichts Art. 19 Abs. 4 GG als verfassungsrechtlichem, genauer: grundrechtsbewehrtem Maßstab der Präklusionsvorschrift, wovon auch das BVerwG ausgeht28, unzureichend resp. unzulässig, unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten zur Legitimierung des Einwendungsausschlusses auf verwaltungsökonomisch bzw. kooperativ ausgerichtete Gemeinwohlbelange29 abzuheben, ohne deren verfassungsrechtliche Radizierung auch nur ansatzweise mitzuliefern. Letzteres war schon deshalb geboten, weil es sich bei Art. 19 Abs. 4 GG bekanntlich um ein schrankenlos gewährleistetes Grundrecht handelt, das nur in Abwägung mit Grundrechten Dritter oder mit Rechtsgütern von Verfassungsrang einschränkbar ist. 30 Ist demzufolge die neuere Verwirkungsrechtsprechung im Fachplanungsrecht nicht zuletzt angesichts der fehlenden konstitutionellen Absicherung des in den Präklusionsvorschriften gesehenen Ausgleichs mit anderen privaten und öffentlichen Belangen dem Grundsätzlichen nach kritikwürdig, so darf doch nicht übersehen werden, daß sich jene verfassungsrechtliche Situierung durchaus plausibel herleiten läßt.31 Die vom BVerwG angeführten Gesichtspunkte der administrativen Verfahrenskapazität, des frühzeitigen und damit effektiveren Einbringens von Bürgerbelangen, der rechtlichen Offenheit des planerischen Entscheidungsprogramms sowie der kooperativen Sachverhaltsermittlung können als rechtsstaatlich-gewaltenteilende Ausprägungen unter das „Gebot institutioneller Rücksichtnahme" im Verhältnis von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren gefaßt und damit verfassungsrechtlich abgesichert werden. 32 Soweit

26

Ebd.

27

Zum Problem der tatsächlichen Zugänglich- und Verständlichkeit der Bekanntmachung Siegel (Fn. 5), S. 208 ff. anhand der Maastricht-Entscheidung des BVerfG (vgl. Fn. 8): Staatskommunikation mit dem Bürger „in seiner Sprache". 28

I.V.m. Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG, vgl. Erbguth (Fn. 2), nach Fn. 384.

29

Ebd., nach Fn. 384.

30 Vgl. nur Jarass, in: Jarass /Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 4. Aufl. 1997, vor Art. 1 Rn. 37 f., Art. 19 Rn. 45; Siegel (Fn. 5), S. 199 ff. 31 32

Vgl. Röhl/Ladenburger

(Fn. 3), S. 50 ff. m.w.N.

Röhl / Ladenburger (Fn. 3), S. 50 ff. mit weiterem Hinweis auf die Großräumigkeit der Auswirkungen komplexer Verwaltungsentscheidungen; zur gewaltenteilenden Zuordnung insoweit Schmidt-Aßmann , in: Schoch u.a. (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung, Lbl. Stand 1998, Einl. Rn. 197.

396

Wilfried Erbguth

- etwa in Fällen privatnütziger Planfeststellung 33 - gegenläufige Rechtspositionen des Antragstellers beachtlich sind, lassen sich diese wie im Anlagenzulassungsrecht als Grundrechte Dritter in Art. 19 Abs. 4 GG einbringen - und läßt sich die - dann - vorzunehmende Abwägung als Ausdruck des (verfassungsrechtlichen) Grundsatzes ausgewogenen Rechtsschutzes begreifen 34, dies freilich entgegen der Rechtsprechung aufgrund zwischenzeitlich eingeführter Zustellungsfiktion nicht i.S. einer Bestandskraftsicherung der Entscheidung, sondern einer relativen Planungssicherheit zugunsten des Vorhabenträgers. 35 Verfassungsrechtlich nicht zu verorten sind indes die vom BVerwG herangezogenen Aspekte der Verfahrensbeschleunigung 36 und der konzentrierten Ermittlung 37 abwägungserheblicher Belange.38 Hätte das Gericht allein hierauf die Rechtfertigung materieller Präklusion gestützt, wäre dies mit Art. 19 Abs. 4 GG nicht zu vereinbaren gewesen.39 3. Weitere Bedenken Bedenken verbleiben freilich mit Blick die Zumutbarkeit der Frist(enlänge) für die Einwendungen und hinsichtlich der mangelnden Berücksichtigung von Besonderheiten des Verkehrswegeplanungsrechts. 40 Schließlich ist die verallgemeinernde Einführung der materiellen Präklusion in § 73 Abs. 4 S. 3 VwVfG nicht unproblematisch. 41 Was zunächst die vom BVerwG als nicht zu kurz und begrenzend apostrophierte Einwendungsfrist 42 von zwei Wochen (nach Ablauf der Auslegungsfrist) 43 anbelangt, so lassen sich ohne rechtstatsächliche Untersuchungen ins33

Dazu Achenbach, Zur Frage der selbständigen Bedeutung der privatnützigen Planfeststellung, 1992. 34

Röhl /Ladenburger

35

Röhl / Ladenburger, ebd. sowie S. 24 mit Fn. 37.

(Fn. 3), S. 54 m.w.N.

36

Vgl. vor Fn. 15; kritisch auch Wahl, Neues Verfahrensrecht für Planfeststellung und Anlagengenehmigung - Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrens oder bereichsspezifische Sonderordnung?, in: Blümel / Pitschas (Hrsg.), Reform des Verwaltungsverfahrensrechts, 1994, S. 84, 115. 37

Vgl. nach Fn. 17.

38

Röhl/Ladenburger

39

Ahnliche Bedenken bei Röhl / Ladenburger (Fn. 3), S. 55.

40

Dazu vorstehend im Text.

(Fn. 3), S. 54 f.

41

Vgl. bereits Röhl / Ladenburger (Fn. 3), S. 57 f.; auch Steinbeiß-Winkelmann, Verfassungsrechtliche Vorgaben und Grenzen der Verfahrensbeschleunigung, DVB1. 1998, 809 (815 f.): Mißachtung des Differenzierungsgebots. 42 43

Vgl. vorstehend unter 1.

§ 73 Abs. 4 S. 1 VwVfG wirkt insoweit wegen des spezialgesetzlichen Schweigens bzw. Rückverweises auf die allgemeine Bestimmung in die Fachplanungsgesetze hinein, vgl. etwa

Materielle Einwenderpräklusion im Planfeststellungsrecht

397

besondere dahingehend, ob die Frist ausreicht, um sich - wie das BVerwG behauptet44 - „auch sachkundiger Hilfe Dritter zu versichern", nur bedingt rechtliche Gewißheiten zur legislativen Wahrung der verfahrensrechtlichen Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes 45 gewinnen. Immerhin bleibt zum einen festzustellen, daß die Einwendungsfrist des § 73 Abs. 4 S. 1 VwVfG trotz der Erweiterung der früheren formellen Präklusion um eine solche materieller Art in ihrer Länge nicht nur beibehalten, sondern der zeitliche Druck auf die Artikulation potentieller Einwender insgesamt noch erhöht worden ist, indem die Änderung des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts die bisherige Mindestfrist von einer Woche zwischen der Bekanntmachung der künftigen Auslegung und dem Beginn der Auslegung durch Änderung von § 73 Abs. 5 VwVfG beseitigt hat; mithin ist nunmehr die Bekanntmachung von dem Beginn der Auslegung der Planunterlagen auch nur einen Tag vor Einsetzen der Auslegung zulässig46 — was bereits an Monitum nach sich gezogen hat, es könne nicht verkannt werden, „daß die für die Planeinsicht und Erhebung von Einwendungen zur Verfügung stehende Zeit damit faktisch verkürzt wird". 4 7 Schon vor diesem Hintergrund dürfte die Einwendungsfrist des § 73 Abs. 4 S. 1 VwVfG, die im Falle des nach a.F. der Vorschrift lediglich für das Verwaltungsverfahren eintretenden Einwendungsausschlusses unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten bzw. jenen des Art. 19 Abs. 4 GG akzeptabel war 48 , aufgrund des nunmehr eingeführten Damoklesschwerts materieller Präklusion 49 kaum mit jenen verfassungsrechtlichen Maßstäben in Einklang zu bringen sein.50 In diesem Zusammenhang ist ferner nicht ohne Berechtigung betont worden, es komme wegen Art. 19 Abs. 4 GG vornehmlich darauf an, daß der in die Bekanntmachung der Auslegung (bzw. in die Bekanntgabe der Einwendungsfrist) nach § 73 Abs. 4 S. 3 VwVfG aufzunehmende Hinweis auf den drohenden gänzlichen Einwendungsausschluß die Betroffenen auch erreichen müsse51; § 17 WaStrG, § 18 Abs. 1 AEG, § 29 Abs. la PBefG, § 17 Abs. 3c S. 1, Abs. 4 S. 1 FStrG; zur Lückenschließung durch das VwVfG nur Bonk, in: Stelkens /Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 5. Aufl. 1998, § 1 Rn. 209 ff. 44

Vgl. vorstehend unter 1.

45

Vgl. dazu Siegel (Fn. 5), S. 204 ff.

46

Bonk (Fn. 43), § 73 Rn. 46.

47

Ebd.

48 Zumal die Anhörungsbehörde auch verfristete Einwendungen berücksichtigen konnte, vgl. Bonk (Fn. 43), § 73 Rn. 43, 51 m.w.N. 49 Mit dem schon früher auch von der Rechtsprechung postulierten Gebot, den Betroffenen hinreichende Gelegenheit zur Äußerung zu geben, vgl. näher Bonk (Fn. 43), § 73 Rn. 51. 50 51

Ähnliche Gedanken bei Siegel (Fn. 5), S. 210; vgl. ferner sogleich nachstehend im Text.

Streinz, Materielle Präklusion und Verfahrensbeteiligung im Verwaltungsrecht, VerwArch 79 (1988), 272 (278 ff.); ihm folgend Siegel (Fn. 5), S. 207.

398

Wilfried Erbguth

nur dann könne von einer „Anstoßfunktion" i.S.d. Rechtsprechung 52 die Rede sein.53 Im Lichte effektiven Rechtsschutzes müßten um so höhere Anforderungen an die konkrete Ausgestaltung der Bekanntgabe gestellt werden, je gewichtiger die Auswirkungen staatlichen Handelns für die Rechtspositionen des Bürgers sein können.54 Angesichts der weitreichenden Konsequenzen eines Einwendungsausschlusses im (Verwaltungs-)Prozeß genüge die im Anhörungsverfahren der Planfeststellung vorgesehene ortsübliche Bekanntmachung, die sich an sämtliche in der Gegend lebenden Menschen richte, nicht; vielmehr fordere das Gebot effektiven Rechtsschutzes weitergehend eine möglichst zuverlässige Unterrichtung der Betroffenen 55: Veröffentlichung im redaktionellen Teil der Tagespresse, von den staatlichen Stellen initiierte Rundfunkhinweise, ggfls. auch öffentliche Aushänge in den jeweiligen Gebietskörperschaften. 56 Im Wege einer dahingehenden verfassungskonformen Auslegung der gesetzlichen Vorschriften über die öffentliche Bekanntmachung der Planauslegung dürfte diesen verfahrensrechtlichen Ausgleichsmaßnahmen für die mit der Präkludierung einhergehende Rechtsbeeinträchtigung freilich nicht - mehr - Rechnung zu tragen sein 57 : § 73 Abs. 5 VwVfG verweist insoweit auf Formen der ortsüblichen Bekanntmachung - und damit auf die Maßgaben des einschlägigen Landes- oder Ortsrechts, das zwar eine gewisse Variationsbreite, nicht aber allgemeine Öffnungen bzw. Weiterungen der Unterrichtung im vorstehend verfolgten Sinne vorhält. 58 Konsequenz wäre demzufolge die Verfassungswidrigkeit der Bekanntgaberegelungen in Ermangelung einer zureichenden Rechtsschutzgewährung 59 gegenüber den präklusionsbedrohten Betroffenen. Man mag jener Auffassung von einer kompensatorischen Steigerung der Unterrichtungspflichten eine gewisse argumentativ-begriffliche Überzeichnung vorhalten können, etwa wenn ortsüblichen Bekanntmachungen und diesbzgl. überwiegend eingeforderten Informationspflichten der Bürger entgegengehalten wird: „Diese technokratische Sichtweise ist aber nicht mehr sachgerecht, soweit sich die Kommunikation der Exekutive mit den betroffenen Bürgern auf Verlautbarungen amtlicher Publikationsorgane beschränkt. Denn die Art und Weise der öffentlichen Bekanntmachung ist häufig nicht dazu angetan, daß" (richtig: 52

Vgl. dazu nur Erbguth (Fn. 7), S. 270.

53

Vgl. in Fn. 51 sowie Erbguth , ebd., S. 269.

54

Siegel (Fn. 5), S. 210 mit der auf die Maastricht-Entscheidung des BVerfG bezogenen Begrifflichkeit der „Kommunikationsmechanismen"; auch in Fn. 27. 55

Streinz (Fn. 51), S. 300.

56

Näher Siegel (Fn. 5), S. 207 ff., 210.

57

So aber Streinz (Fn. 51), S. 300.

58

Vgl. nur Bonk (Fn. 43), § 73 Rn. 47.

59

Zur Vorwirkung des Art. 19 Abs. 4 GG für das (Verwaltungs-)Verfahren vgl. Erbguth (Fn. 2), nach Fn. 83 m.w.N.

Materielle Einwenderpräklusion im Planfeststellungsrecht

399

das) „Interesse einzelner Bevölkerungskreise an den politischen und rechtlichen Vorgängen in ihren Gemeinden zu wecken. Da jeder einzelne Betroffene aber mit seinen Einwendungen zwangsläufig präkludiert wird, wenn er die kleingedruckte Anzeige der öffentlichen Planauslegung in seiner Zeitung überblättert und infolgedessen die Anhörungsfristen versäumt, stellt sich im Kontext der eingangs herangezogenen Rechtsprechung des BVerfG und BVerwG zur materiellen Präklusion die Frage der Zumutbarkeit in einem neuen Lichte". 60 Sachlich unberechtigt ist sie indes nicht, berücksichtigt man die allgemein bekannten Schwierigkeiten der Umsetzung technischer Fachsprache in für den Bürger verständliche und nachvollziehbare Darlegungen 61, insbesondere aber, daß der hierauf gerichtete gerichtliche „Ausgleich" im Wege niedriger Anforderungen an die Substantiierungslast 62 zwischenzeitlich, und zwar im Fachplanungsrecht, deutlich zurückgenommen 63, die Einwendungslast mithin — auch in ihrer zeitlichen Dimension - deutlich verschärft worden ist. 4. Bedeutung der enteignenden Vorwirkung Letztendlich bedarf die Frage in ihrer Allgemeinheit keiner vertieften Behandlung, bei der bereichsspezifischen Differenzieren der Präklusionsregelungen 64 gebührend nachzugehen wäre. Für das hier vornehmlich interessierende Fachplanungsrecht hat das BVerwG bei der weitgehenden Übertragung seiner (Präklusions-)Rechtsprechung zum atomrechtlichen Verfahren eine qualifizierende Besonderheit ungewürdigt gelassen, nämlich die enteignungsrechtliche Vorwirkung des Planfeststellungsbeschlusses, die das Recht der Anlagenzulassung nicht kennt. 65 Das Gericht stellt lediglich fest, die materielle Verwirkungspräklusion nach § 17 Abs. 4 S. 1 FStrG sei auch dann grundgesetzgemäß, wenn sie sich im Ergebnis auf eine Enteignung i.S.d. Art. 14 Abs. 3 GG bezie-

60

Siegel (Fn. 5), S. 209.

61

Gerade in hochtechnischen bzw. -komplexen Zulassungsverfahren, vgl. bereits Wilfried Erbguth (Fn. 7), S. 269. 62

Vgl. dazu ebd., S. 269 f.

63

BVerwG, Beschl. v. 12.02.1996 - 4 A 38.95 - , NVwZ 1997, 171 (172): „Eine Einwendung muß erkennen lassen, in welcher Hinsicht Bedenken gegen die in Aussicht genommene Planfeststellung - aus der Sicht des Einwendenden - bestehen könnten. Das Vorbringen muß so konkret sein, daß die Planfeststellungsbehörde erkennen kann, in welcher Weise sie bestimmte Belange einer näheren Betrachtung unterziehen soll."-zu § 17 Abs. 4 S. 1 FStrG; kritisch Solveen (Fn. 8), 806; zum Danaer-Geschenk der früher großzügigeren Anforderungen der Rechtsprechung an die Substantiierungspflicht freilich Erbguth (Fn. 7), S. 270; ferner BVerwG, Urt. v. 27.08.1997- 11 A 18.96-NuR 1998, 199: Hinweis auf frühere Stellungnahmen genügt nicht. 64

Vgl. Brandt (Fn. 6), S. 234 ff.

65

Vgl. zurecht Solveen (Fn. 8), S. 803.

400

Wilfried Erbguth

he 66 , betont ferner in allgemeiner Form, daß die Intensität des Eingriffs in einen grundrechtlichen Schutzbereich die Voraussetzungen, unter denen der Gesetzgeber eine materielle Präklusion regeln darf, beeinflußt, geht dem indes nicht weiter nach, sondern konstatiert ohne weitere Begründung 67, solches hindere eine Präklusion „ebensowenig wie beispielsweise die Regelung der Klagefrist. Auch diese kann bei objektiver Betrachtung im Ergebnis ,rechtsvernichtend' sein". 68 Abgesehen davon, daß die Parallele zur Klagefrist rechtsdogmatisch verfehlt ist 69 , hätte gerichtlicherseits vom eigenen Ausgangspunkt her und unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung zum umfassenden und effektiven Rechtsschutz des von einer enteignungsrechtlichen Vorwirkung Betroffenen 70 überprüft werden müssen, ob die für jeglichen „Nachbarn" geltenden verfahrensrechtlichen Kautelen des Einwendungsausschlusses auch jener hervorgehobenen Rechtsstellung des Eigentumsbetroffenen angemessen sind. Letzteres läßt sich mit guten Gründen, die zugleich der administrativen Verfahrenskapazität Rechnung tragen, verneinen. 71 So werden angesichts des faktischen Umstandes, daß jeder öffentlichen Bekanntmachung, gerade in sog. Massenverfahren, das Risiko des Ausfalls der Kenntniserlangung innewohnt, und der (grund)rechtlichen Gegebenheit, daß der Eigentumsentzug die intensivste Form des Grundrechtseingriffs in Art. 14 GG 7 2 darstellt 73, nur konsequent alle zumutbaren Maßnahmen angemahnt, „um eine Beteiligung des Enteignungsbetroffenen am Verwaltungsverfahren zu ermöglichen bzw. ein unfreiwilliges Versäumen der Teilnahme zu vermeiden". 74 Dazu zählen — eine individuelle Benachrichtigung der von besagter enteignungsrechtlicher Vorwirkung Betroffenen, wobei deren personelle Feststellung unschwer anhand des Grunderwerbsverzeichnisses möglich ist. -

eine Belehrung jener Personengruppe über den erforderlichen Mindestinhalt einer Einwendung - dies jedenfalls, nachdem das BVerwG die Substantiierungslast verschärft hat. 75

66 BVerwG, Urt. v. 24.05.1996 - 4 A 38.95 - , UPR 1996, 386 (388); insoweit in DVB1. 1997, 51 f. nicht abgedruckt. 67

So auch Solveen (Fn. 8), 804, Ii. Sp., oben.

68

BVerwG, Urt. v. 24.05.1996 - 4 A 38.95 - , UPR 1996, 386 (388).

69

Dazu Erbguth (Fn. 7), S. 272 f.

70

Näher Solveen (Fn. 8), S. 804.

71

Vgl. Solveen (Fn. 8), S. 804 ff., insb. S. 805 f., auch zum Nachfolgenden.

72

Zu § 19 FStrG näher Solveen , ebd., S. 804; insoweit handelt es sich um Konstellationen im Einzelfall, so daß Art. 19 Abs. 4 GG Platz greifen kann, vgl. näher Erbguth (Fn. 2), bei und nach Fn. 65, 78, 80. 73

Solveen (Fn. 8), S. 805.

74

Ebd.

75

Vgl. bei und in Fn. 63.

Materielle Einwenderpräklusion im Planfeststellungsrecht

-

401

eine Belehrung über die Reichweite des Einwendungsausschlusses, die über den Wortlaut bspw. des § 17 Abs. 4 S. 1 FStrG oder des § 73 Abs. 4 S. 3, 4 VwVfG hinausgehend konkret auf die (verwaltungsprozessualen Konsequenzen hinweist 76 .

Diesen sich aus Art. 19 Abs. 4 bzw. Art. 14 GG 7 7 ableitenden besonderen verfahrensrechtlichen Sicherungen der Enteignungsbetroffenen werden die auf ortsübliche Bekanntmachung und auf den bloßen Ausschluß nicht näher definierter Einwendungen gerichteten fachplanungsrechtlichen Präklusionsvorschriften in ihrer partiellen Ergänzung durch § 73 Abs. 4 VwVfG nicht gerecht. Sie sind entsprechend fortschreibungsbedürftig, in ihrer gegenwärtigen Verfaßtheit mithin nicht verfassungskonform. 5. Kritik der legislativen Verallgemeinerung Ein weiteres Bedenken stellt sich gegenüber dem verallgemeinernden Transfer der zuvor spezialgesetzlich geregelten materiellen Präklusion in das Planfeststellungsrecht des VwVfG ein. 78 Äußerst zweifelhaft ist nämlich, ob bei jeglicher Planfeststellung die einen materiellen Einwendungsausschluß verfassungsrechtlich rechtfertigenden Besonderheiten, insbesondere diejenigen der Komplexität und des Planungscharakters der materiellen Entscheidung, gegeben sind. Eindeutig nicht der Fall ist dies etwa in Fällen gebundener Entscheidungen, die lediglich in das Gewand der Planfeststellung gekleidet sind — damit aber dem Geltungsanspruch des § 73 VwVfG, insbesondere seines Abs. 4, unterfallen. Dazu zählen die bergrechtliche Planfeststellung 79 und der Ausbau eines Gewässers nach § 31 WHG. 8 0 Solche „Ausreißer" mit der Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers rechtfertigen oder wegen des literarischen Rufs nach einer Vereinheitlichung des Verwaltungsverfahrensrechts auf mittlerer Ebene akzeptieren zu wollen 81 , dürfte kaum überzeugend sein - schon deshalb nicht, weil der Gesetzgeber nicht mit (dem)entsprechenden Intentionen § 73 Abs. 4 76

Zum Vorstehenden näher Solveen (Fn. 8), 806 ff.; zu undifferenziert daher Bonk (Fn. 43), § 73 Rn. 78 ff., insb. zu letzterer Belehrung ebd., Rn. 83, 50. 77 Nach der hier zugrunde gelegten Auffassung findet Art. 19 Abs. 4 GG auf Grundrechtseinschränkungen durch Parlamentsgesetze keine Anwendung, vgl. Erbguth (Fn. 2), bei und nach Fn. 65, 78, 80; es gilt dann aber der Grundrechtsschutz, hier des Art. 14 GG, vgl. wie vor, nach Fn. 97; zur vorliegenden Besonderheit, die für Art. 19 Abs. 4 GG streitet, vgl. ebenfalls wie vor, in Fn. 443 und - hier - in Fn. 72. 78

Vgl. auch Röhl/Ladenburger

(Fn. 3), S. 57 f.; Steinbeiß-Winkelmann

(Fn. 41), S. 815 f.

79

Unstrittig, vgl. nur Erbguth, Zulassungsverfahren des Bergrechts und Raumordnung, VerwArch 87 (1996), 258 (264 m.w.N.). 80

Röhl/Ladenburger

81

(Fn. 3), S. 57 m.w.N.

So Röhl/Ladenburger, ebd., S. 58; zur gesetzlichen Typisierungsbefugnis eingehend zuletzt Weyreuther, Gleichbehandlung und Typisierung, DÖV 1997, 521 ff. 26 GS Jeand' Heur

402

Wilfried Erbguth

S. 3 und 4 in das VwVfG eingefugt hat, sondern aus verfassungsrechtlich gerade nicht präklusionslegitimierenden Gründen der Beschleunigung82: Der materielle Einwendungsausschluß sei ein verfassungsrechtlich abgesichertes Institut und zur Verhinderung von Verfahrensverzögerungen eine notwendige Regelung, da oftmals erstmals in Verwaltungsprozessen neue Klagegründe vorgebracht würden. 83 In Anbetracht dessen steht die generelle Anordnung der (planfeststellungsrechtlichen) Präklusionswirkung im Widerspruch zum Verfassungsrecht, soweit sie auch Zulassungen der genannten Art erfaßt.

82 83

Vgl. oben bei Fn. 36.

Begr. RegE, BT-Drs. 11/6805, S. 72; ferner RegE, BT-Drs. 13/3995, S. 10: Straffung des Anhörungsverfahrens; dazu Bonk (Fn. 43), § 73 Rn. 78.

Die Erosion des klassischen Polizeirechts durch die polizeiliche Informationsvorsorge Von Hans-Heinrich Trute Schon immer hat die Polizei nicht allein auf ihr bekanntgewordene Störungen oder Gefahren reagiert, sondern Informationen gesammelt, um gewappnet zu sein und rechtzeitig eingreifen zu können.1 Sie hat also in gewisser Weise immer schon Informationsvorsorge betrieben. Vor diesem Hintergrund erscheinen die mittlerweile in die Polizeigesetze aufgenommenen Normen, wonach die Polizei nicht nur die Aufgabe hat, Gefahren für die Sicherheit und Ordnung abzuwehren, sondern auch dem Entstehen von Gefahren vorzubeugen,2 nicht als grundsätzlich neue Aufgabenbestimmung und Aufgabenerweiterung der Polizei, sondern eher als eine Bestätigung der vorhandenen und eingeübten, in den rechtsstaatlichen Grundkategorien domestizierten polizeilichen Tätigkeit. 3 Die in den letzten Jahren erfolgte Regelung der polizeilichen Informationserhebung scheint allein dem mit dem Volkszählungsurteil erfolgten Durchbruch der Erkenntnis des Eingriffscharakters der Informationserhebung geschuldet zu sein, ohne an den Grundstrukturen des rechtsstaatlichen Polizeirechts zu rühren. 4 Doch ist, mustert man die neuen Informationseingriffsbefugnisse der Polizei, nicht zu übersehen, daß nicht nur - wie beim sog. Lauschangriff 5 — wichtige 1 Siehe nur Busch /Funk/Narr/ 1988, S. 115 ff.

Werkentin,

Die Polizei in der Bundesrepublik Deutschland,

2

§ 1 Abs. 3 ASOG Bin; § 1 Abs. 1 BbgPolG; § 1 Abs. 1 Nr. 1 HmbgPolDVG; § 1 Abs. 4 HSOG; § 1 Abs. 1 NGefAG; § 1 Abs. 1 S. 2 NWPolG; § 2 Abs. 1 SOG LSA; § 1 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, 3 SächsPolG; § 2 Abs. 1 S. 2 ThürPAG. 3

So erweckt der Vorentwurf zur Änderung des Musterentwurfs eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder in der Fassung vom 12. März 1986 (VE ME-PolG) den Eindruck, die vorgeschlagene Ergänzung der polizeilichen Aufgabenstellung sei eine Klarstellung; vgl. Kniesel/Vahle, Polizeiliche Informationsverarbeitung und Datenschutz im künftigen Polizeirecht, 1990, S. 50; zum ganzen Neumann, Vorsorge und Verhältnismäßigkeit, 1994, S. 46 ff. 4 Dahingehend etwa Götz, Die Entwicklung des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts, NVwZ 1998, 679. 5 Dazu nunmehr Art. 13 Abs. 3 - 6 GG i.d.F. des Gesetzes v. 26.3.1998 (BGBl. I S. 610). - Aus der dadurch weithin überholten Literatur s. nur Raum /Palm, Zur verfassungsrechtlichen Problematik des „Großen Lauschangriffs", JZ 1994, 447 ff.; Kutscha, Der Lauschangriff im Polizeirecht der Länder, NJW 1994, 85 ff.; Guttenberg, Die heimliche Überwachung von Wohnungen, NJW 1993, 567 ff, sowie Cassard, Zur Aufklärung mit technischen Mitteln in Wohnungen, ZRP 1997, 370 ff.

404

Hans-Heinrich Trute

Rechtsgüter dem polizeilichen Zugriff geöffnet werden, sondern daß die Grundstrukturen des Polizeirechts Änderungen erfahren, deren rechtsstaatliche Einbettung Probleme aufwirft. Das polizeiliche Informationshandeln ist dabei allerdings nicht isoliert zu betrachten. In ihm drückt sich vielmehr eine veränderte Funktion der Polizei aus. Die Polizei soll mit dem Informationserhebungsinstrumentarium in die Lage versetzt werden, modernen Erscheinungen der Kriminalität wirksamer als bisher zu begegnen. Diese neuen Formen der Kriminalität sind oftmals durch ein Oszillieren zwischen legaler und illegaler Tätigkeit, eine Akkumulation von Kapital und dessen Einsatz in legalen wie illegalen Tätigkeitsfeldern, die Ausprägung von geschlossenen, hierarchischen Organisationsformen mit einer arbeitsteiligen Tätigkeit, eine hohe Gewaltbereitschaft zur Sanktionierung abweichenden Verhaltens sowie durch legale wie illegale Einflußnahmen auf politische und exekutivische Entscheidungen gekennzeichnet.6 Diese mit dem Wort „organisierte Kriminalität" bezeichneten neuen Erscheinungsformen lassen nach Auffassung des Polizeigesetzgeber die bisherigen Reaktionsmöglichkeiten auf Straftaten als unzureichend erscheinen und sollen neue Instrumente operativen polizeilichen Handelns erforderlich machen, die auf die Aufhellung von Milieus, Szenen und Strukturen gerichtet sind und damit weit in das Vorfeld der eigentlichen Gefahrenabwehr hineinreichen. Diese Vörverlagerung polizeilichen Handelns ging mit Befürchtungen einher, hier schicke sich der Staat an, zum Überwachungsstaat zu werden — Befürchtungen, die genährt wurden von Theoretikern der Polizei, die von einer gesellschaftssanitären Rolle der Polizei träumten, die sie durch die modernen Informationstechniken in greifbare Nähe gerückt wähnten.7 Ist hier also endlich der Bereich staatlichen Handelns entdeckt, in dem der moderne Staat nicht zum nützlichen Haustier mutiert, sondern noch fürchterregender Leviathan ist? Führt die zunehmende Präventionsorientierung im Sicherheitsrecht zu einer Reetatisierung, zu einem starken Staat, der der Staatsrechtslehre in anderen Bereichen abhanden gekommen ist?

6 Zu den Merkmalen Gusy, Beobachtung organisierter Kriminalität durch den Verfassungsschutz?, StV 1995, 320 (321). S.a. Organisierte Kriminalität (BKA-Forschungsreihe, Bd. 43), 1997; Sieber, Logistik der Organisierten Kriminalität in der Bundesrepublik Deutschland, JZ 1995, 758 ff.; Bogel, Strukturen und Systemanalyse der Organisierten Kriminalität in Deutschland, 1994. 7

Früher schon Herold, Gesellschaftlicher Wandel - Chance der Polizei?, in: Schäfer (Hrsg.), Kriminalstrategie und Kriminaltaktik, 1973, S. 13 (22 ff.); Stümper, Prävention und Repression als überholte Unterscheidung?, Kriminalistik, 1975, 49 ff.

Die Erosion des Polizeirechts durch die polizeiliche Informationsvorsorge

405

I. Präventionsorientierung des staatlichen Handelns Die Gründe für die allgemein konstatierte Zunahme der Präventionsorientierung des staatlichen Handelns sind vielfach beschrieben worden. 8 Der moderne Staat übernimmt die Aufgabe der komplexen Zukunftsgestaltung zur Kompensation wirklicher oder vermeintlicher gesellschaftlicher Defizite. Waren es mit Beginn der Industrialisierung zunächst die sozialen Modernisierungsfolgen, die eine vorsorgende und fürsorgende Abstützung individueller Lebensrisiken erforderlich machten und von der Armenpolizei und Armenhilfe zur Ausbildung der modernen, vorsorgeorientierten sozialen Systeme führten, so machten später die Folgeprobleme der wissenschaftlich-technischen Entwicklung eine Vorverlagerung des staatlichen Steuerungsansatzes erforderlich. Mit zunehmender Differenzierung der sozialen Strukturen und Funktionen, die die Gesellschaft zwar insgesamt leistungsfähiger machten, zugleich aber deren Störanfälligkeit ebenso erhöhten wie die individuellen Schutzmöglichkeiten verringerten, wuchs das Bedürfnis nach staatlicher Prävention über das bisher gekannte Instrumentarium der Gefahrenabwehr hinaus. Die Konsequenzen der Präventionsorientierung für die staatliche Steuerung sind oft beschrieben und für das Umweltrecht als Präventionsrecht par excellence in den Grundzügen zumindest unstrittig. Die Vorverlagerung des staatlichen Steuerungsansatzes verändert das Verhältnis der Staatsfunktionen zueinander und auch die Rolle des Gesetzes. Die Steuerung im Präventionsbereich wird in der Regel nicht mit gleicher Sicherheit in abstracto vorgenommen werden können, weil Rahmenbedingungen und Situation exekutivischen Handelns nicht von vornherein feststehen, sondern Maßstäbe und Ziele erst situativ und operativ konkretisiert werden müssen. Nicht nur der Umweltbereich, sondern auch bestimmte Felder der Sozialpolitik sind exemplarisch für in hohem Maße variable Anwendungssituationen. In beiden Fällen verändern sich Erkenntnisse und Sachbereich laufend, so daß die gesetzliche Steuerung oft auf rahmenartige Vorgaben beschränkt bleibt, die Anwendung des Gesetzes eher experimentelle Züge trägt, das eigentliche Programm oft unter der Beteiligung einer Vielzahl von staatlichen und privaten Akteuren im Prozeß der Applikation hergestellt und laufend justiert wird. Die Konsequenzen für das Demokratieund Rechtsstaatsprinzip liegen auf der Hand. Demokratische Legitimation und daran anknüpfende Steuerung wird ausgedünnt, wo die Exekutive situativ im Rahmen vager gesetzlicher Vorgaben das eigentliche Handlungsprogramm maßgeblich selbst konkretisiert. Die gerichtliche Kontrolle geht ihres Maßstabs verlustig und findet sich vor die gleichermaßen unbefriedigende Alternative gestellt, entweder sich auf die Kontrolle des gesetzlichen Handlungsprogramms 8 Vgl. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, S. 197 ff.; Denninger, Der PräventionsStaat, KJ 21 (1988), 1 ff.; ausführlich Wahl/Appel, Prävention und Vorsorge, in: Wahl (Hrsg.), Prävention und Vorsorge, 1995, S. 1 ff.

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zu beschränken und damit die Kontrolldichte gegenüber dem exekutivischen Handeln zurückzunehmen oder aber eine intensivere Kontrolle vorzunehmen, die an die Stelle gesetzlich dicht umschriebener Maßstäbe eine eigene situative Konkretisierung setzt, aber damit ernste Fragen nach der Legitimation ihres Handelns aufwirft. 9 Freilich hat diese skeptische Diagnose längst die Suche nach anderen Formen staatlicher Steuerung ausgelöst. Die Diskussionen um veränderte Handlungsformen des Staates, das Interesse an informalen und kooperativen Formen der Steuerung, die Prozeduralisierung des staatlichen Steuerungsansatzes, die Staatsentlastung durch Privatisierung wie überhaupt die Diskussion um die Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts und die Reform der Verwaltung lassen sich als Reaktion auf die Veränderung der Bedingungen staatlichen Handels verstehen. 10 Wird also, so mag man fragen, auch das klassische Polizeirecht diesen Weg gehen? Stehen also aufgrund der Vorverlagerung des staatlichen Steuerungsansatzes dem Polizeirecht Erosionen staatlicher Steuerung bevor, die die vorgebliche Stärkung des Staates schnell als Überforderung ausweisen? Die Anwort darauf verlangt zunächst einen Blick auf die Regelungen und die mit ihnen verbundenen Probleme. I I . Das polizeirechtliche Informationsinstrumentarium im Lichte des klassischen Polizeirechts 1. Die Erosion der Gefahrensch welle Die erste wichtige Veränderung ist die Erosion der Gefahrenschwelle. Mit dem Begriff der Gefahr wird traditionell die Grenze zwischen Freiheit und Pflichtigkeit, Verantwortung des Individuums und Verantwortung der Allge9 10

Grimm (Fn. 8), S. 217 ff.

Mit Nuancen im einzelnen vgl. etwa Scharpf Versuch über Demokratie im verhandelnden Staat, in: Czada/Schmidt (Hrsg.), Verhandlungsdemokratie, Interessenvermittlung, Regierbarkeit, 1993, S. 25 ff.; Grimm (Fn. 8), S. 410 ff., P Kirchhof Verwalten durch mittelbares Einwirken, 1977; Schulze-Fielitz, Der Leviathan auf dem Weg zum nützlichen Haustier? in: Voigt (Hrsg.), Abschied vom Staat - Rückkehr zum Staat?, 1993, S. 95 (96 ff.); Ritter, Das Recht als Steuerungsmedium im kooperativen Staat, in: Grimm (Hrsg), Wachsende Staatsaufgaben - sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 69 ff.; Dreier, Informales Verwaltungshandeln, StWuStP 4 (1993), S. 647 ff.; Schulte, Schlichtes Verwaltungshandeln, 1995, S. 71 ff.; Ladeur, Das Umweltrecht der Wissensgesellschaft, 1995; ders., Offentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und die prozedurale Rationalität des Umweltrechts, in: Roßnagel/Neuser (Hrsg.), Reformperspektiven im Umweltrecht, 1996, S. 171 ff; Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 1993; Hengstschläger / Osterloh/Bauer, Die Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, VVDStRL 54 (1995), 165 ff., 204 ff., 243 ff.; Benz, Privatisierung und Deregulierung Abbau von Staatsaufgaben, Die Verwaltung 28 (1995), 337 ff.

Die Erosion des Polizeirechts durch die polizeiliche Informationsvorsorge

407

meinheit umschrieben. Der Gefahrenbegriff stellt bekanntlich auf eine Kombination von Schaden und der Wahrscheinlichkeit seines Eintritts ab. Nicht schon jede Möglichkeit, also Denkbarkeit eines schadensstiftenden Kausalverlaufs reicht für die Annahme einer Gefahr aus, sondern nur eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, die über eine Abwägung von Schutzgut, Eingriffsgut und Schadensintensität zu bestimmen ist. 11 Die rechtsstaatliche Basis besteht nicht zuletzt darin, den Zeitpunkt der Gefahrenabwehrmaßnahmen so zu bestimmen, daß weiteres Zuwarten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zum Schadenseintritt führt. 12 Die Differenzierung zwischen Primär- und Sekundärebene von Gefahrenabwehr und Kostenerstattung in Fällen des Gefahrenverdachts und der Anscheingefahr zeigt zwar Veränderungen an,13 die aber im Grundsatz im Rahmen des herkömmlichen Modells verarbeitet werden können. Die in den Gefahreneingriff eingeschriebene zeitliche Dimension hat erhebliche Bedeutung für den Freiheitsschutz, weil sie das Vorfeld der Gefahr grundsätzlich frei von Eingriffen, allerdings nicht unbedingt frei von Beoabachtung stellt, solange diese nicht mit Eingriffen in Rechtspositionen der Bürger einhergeht. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß die Informationserhebungstatbestände nicht mehr durchgängig unter den Gefahrenbegriff zu subsumieren sind. Sofern sie nicht explizit an das Vorliegen einer Gefahr anknüpfen, setzen sie voraus, daß Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß Personen Straftaten begehen werden oder Straftaten an bestimmten Orten begangen werden, oder daß nach der Gesamtwürdigung einer Person und der bisher von ihr begangenen Straftaten diese auch künftig Straftaten begehen wird. 14 Zwar arbeitet auch die Strafprozeßordnung, die einen hinreichend konkreten Tatverdacht voraussetzt, mit diesem begrifflichen Instrumentarium, 15 gleichwohl besteht schon deshalb keine Vergleichbarkeit, weil dieses Instrumentarium dort auf den Verdacht einer schon begangenen Straftat und insofern auf eine eingegrenzte Situationen bezogen ist. Im Polizeirecht geht es dagegen um zukünftig mögliche Straftaten, deren zeitlicher Rahmen nicht näher umschrieben wird. Räumlich, personell und sachlich erscheint daher die an diese Tatbestände anknüpfende polizeiliche Informationserhebung entgrenzt.

11

Drews/Wacke/Vogel /Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl. 1986, S. 220 ff.; Denninger, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 2. Aufl. 1994, Rn. E 30 ff.; Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 12. Aufl. 1995, Rn. 115 ff; Gusy, Polizeirecht, 2. Aufl. 1994, Rn. 108 ff.; Hansen-Dix, Die Gefahr im Polizeirecht, im Ordnungsrecht und im technischen Sicherheitsrecht, 1982, S. 21 ff.; Darnstädt, Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge, 1983, S. 35 ff. 12

Dazu Neumann (Fn. 2), S. 54 f.

13

Dazu etwa Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 12. Aufl. 1995, Rn. 154 ff.

14

Siehe nur § 39 Abs. 1 Nr. 2, § 40 Abs. 1 Nr. 2 SächsPolG.

15

Siehe etwa §§ 98a Abs. 1 S. 1, 100a S. 1, 100c Abs. 1 Nr. 2, 3 StPO.

408

Hans-Heinrich Trute

Diese Handlungssituation ist dogmatisch auch nicht mit der Kategorie des Gefahrenverdachts 16 zu verarbeiten, die zwar darauf bezogen ist, die Wissensgrundlage polizeilicher Gefahrenbeurteilungen durch Aufklärungsmaßnahmen zu verbessern, aber letztlich dem Modell des klassischen Gefahrenbegriffs folgt, wenn auch die Wahrscheinlichkeit als Kriterium der Handlungsauslösung abgesenkt wird. 17 Denn es bleibt die Verbindung zur Gefahr erhalten und damit die Notwendigkeit, das Gefahrenurteil auf einen konkreten Sachverhalt zu beziehen. Die Situation von Informationserhebungstatbeständen im Vorfeld von Gefahren ist demgegenüber eine andere: Im Zeitpunkt des polizeilichen Zugriffs sind weder Taten noch Täter mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu benennen, allenfalls bestehen Anhaltspunkte für eine Verstrickung einer bestimmten Szene, über die man Informationen sammeln muß, um ihre Kriminogenität überhaupt beurteilen zu können, damit sie in einem geeigneten späteren Zeitpunkt zerschlagen oder zumindest in ihren Funktionen gestört werden kann. Auch der gelegentlich ins Spiel gebrachte, allerdings nur semantisch auf den klassischen Gefahrenbegriff bezogene Begriff der allgemeinen Gefahr ist letztlich keine geeignete dogmatische Kategorie, wenn damit eine Sachlage bezeichnet wird, die sich nach allgemeiner Lebenserfahrung zu einer konkreten Gefahr entwikkeln kann. 18 Denn eine solche allgemeine Lebenserfahrung liegt in diesen Konstellationen gerade nicht vor. Vielmehr geht es um die Ausforschung von Strukturen und Szenen, um deren Illegalität erst beurteilen zu können. Die Komplexität der sozialen Zusammenhänge, die Vermischung von Legalität und vermuteter Illegalität des Handelns und die Reaktions- und Ausweichfähigkeit der Akteure gestatten keine sichere Prognose des Verhaltens und der Entwicklung. Sie erfordern daher eine Beobachtung und Informationssammlung, um zu den nötigen Unterscheidungen von Legalität und Illegalität und ihnen entsprechenden Abwehrstrategien zu kommen. 19 Man betreibt — mit anderen Worten staatliche Informationsvorsorge in bestimmten Milieus und Szenen. 2. Die Operationalisierungsschwächen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Die Vorverlagerung des rechtlichen Steuerungsansatzes geht fast zwangsläufig mit einer Operationalisierungsschwäche des Verhältnismäßigkeitsgrund16 Dazu Di Fabio, Gefahr, Vorsorge, Risiko, Jura 1996, 566 (568); Götz (Fn. 13), Rn. 128; Hansen-Dix (Fn. 11), S. 61 ff.; Darnstädt (Fn. 11) S. 94 ff. 17

In diesem Sinne zutreffend Neumann (Fn. 2), S. 58 f.

18

Vgl. etwa Art. 2 Abs. 1 BayPAG. - Dazu BayVerfGH, DVBl. 1995, 347 (348 f.); Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 1998, Rn. 63; Gallwas/Mößle, Bayerisches Polizei- und Sicherheitsrecht, 2. Aufl. 1996, Rn. 62 f.; dazu auch Trute, Das Polizei- und Ordnungsrecht im Spiegel der Rechtsprechung, DVBl. 1999, 91 ff. 19

Neumann (Fn. 2), S. 85 f.

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satzes einher. Diesem kommt allerdings im klassischen Polizeirecht die Funktion eines maßgeblichen Eingrenzungskriteriums der Rechtsanwendung zu. Indes belehrt die Diskussion um die rechtsstaatliche Eingrenzung im Umweltrecht darüber, daß die Schutzfunktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes fur Individualrechtspositionen gerade im Vorsorgebereich abnimmt. 20 Das ZweckMittel-Schema, das dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zugrunde liegt, verliert seine Begrenzungsfünktion, wenn die Kausalbeziehungen kaum noch aufklärbar sind und zudem der Zweck so weit ist, daß er entsprechend viele Mittel heiligt. 21 Der Grundsatz löst sich auf in eine allgemeine und generalisierende Abwägung der Vor- und Nachteile von Maßnahmen, deren gesetzliche Steuerung nicht zuletzt davon abhängt, daß der Gesetzgeber die abwägungsrelevanten Aspekte näher umschreibt. A m Beispiel des Immissionsrechts läßt sich dieses zeigen: Folgt man der Unterscheidung von risikobezogener und raumbezogener Vorsorge, 22 dann wird deutlich, daß im Bereich der risikobezogenen Vorsorge eine individualbezogene Schutzfunktion zugunsten einer abstrakten und typisierenden Betrachtung der exekutivischen Maßnahmen eingezogenen ist und die gleichmäßige Anwendung des Vorsorgegrundsatzes nur über formulierte Eigenkonzepte der Exekutive sichergestellt werden kann. Dagegen hat die raumbezogene Vorsorge einen Bezugspunkt in der spezifischen Immissionssituation des Belastungsgebietes und ermöglicht hier wegen des vorhandenen Kausalbezuges von Anlage und Situation Begrenzungen der Vorsorgemaßnahmen nach Maßgabe des individuellen Beitrages. Nimmt man die Lärmvorsorge mit ihren kleinräumigen Kausalverhältnissen in den Vergleich auf, wird deutlich, daß die Begrenzungsfunktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes von der Spezifität der Anwendungsbedingungen abhängt.23 Bei den polizeilichen Informationsvorsorgetatbeständen zeigen sich ähnliche Operationalisierungsschwächen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Der Grund dafür liegt in dem Verzicht auf eine Wahrscheinlichkeitsprognose, der nur vagen Beschreibung der Handlungsvoraussetzungen und einer letztlich wenig instruktiven Zweckbestimmung, die eben nur darin besteht, dem Begehen künftiger Straftaten vorzubeugen. Der Einsatz des Vörfeldinstrumentariums knüpft nicht an manifeste Handlungen und bestimmte Straftaten, sondern an Dispositionen von Individuen und Orten, an vermutete kriminogene soziale Zusammenhänge und Szenen an. Wer in seinen Einzugsbereich gerät, ist unabhängig von seinem konkreten Beitrag Gegenstand polizeilicher Informationserhebung. Dieser ist daher eine Breitflächigkeit eigen, die Personen ungeachtet 20

Trute, Vorsorgestrukturen und Luftreinhalteplanung, 1989, S. 72 ff.

21

Neumann (Fn. 2), S. 133 f.

22

Dazu Trute, Vorsorgestrukturen (Fn. 20), S. 54 ff., 112 ff.

23

Eingehend dazu Trute, Vorsorgestrukturen (Fn. 20), S. 54 ff., 112 ff., 158 ff.

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ihrer wirklichen Gefährlichkeit mit in die Überwachung einbezieht. Sind die möglichen Straftaten im Zeitpunkt des Zugriffs weder zeitlich, sachlich noch räumlich hinreichend bestimmt, so besteht auch kein Ansatzpunkt für eine genaue Verhältnismäßigkeitsbestimmung. Mit nur mäßiger Überspitzung kann man sagen, daß die Rechtfertigung des Einsatzes am Ende desselben, nicht aber an dessen Beginn steht. Auch hier erweist sich die in der umweltrechtlichen Diskussion gewonnene Erkenntnis als hilfreich, daß Vorsorgetatbestände ohne zusätzliche Eingrenzungen die Tendenz haben, uferlos zu werden, also staatliche Eingriffe ins „Blaue" hinein zu ermöglichen. Anders als im Umweltrecht kommt aber im Polizeirecht hinzu, daß der Einsatz eines gesetzlich nur schwach gesteuerten Instrumentariums nicht etwa durch die Referenz auf externen Sachverstand und der Regelung ihrer Rezeption rationalisiert 24 und durch ein Konzept gesteuert 25 und nachträglich evaluierbar wird, sondern im wesentlichen auf kriminalistischer Erfahrung und Efftzienzüberlegungen beruht. Im Ergebnis gilt jedenfalls: Je weiter das Vorfeld abgedeckt wird, je komplexer der soziale Zusammenhang ist, desto weniger läßt sich über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Einzelfall der Einsatz des Informationserhebungsinstrumentariums steuern. Dies drängt auf eine bereits im Gesetz vorgenommene, am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte Abstufung des Eingriffsinstrumentariums, vor allem aber darauf, dass Konzepte der Verbindung von normativen Erwartungen und Situationen Aspekte polizeilichen Handelns entwickelt werden, die Rechtssicherheit und gerichtliche Kontrolle ermöglichen. 26 3. Die Erosion des Störerbegriffs Dies leitet bereits zu einem weiteren Punkt über: der Erosion des Störerbegriffs. Dieser markiert im klassischen Polizeirecht die Schwelle von Freiheit und Verantwortlichkeit, von individuellen Pflichtigkeiten und Lasten der Allgemeinheit. Nur unter besonderen Bedingungen ist es möglich, auf einen Nichtstörer zuzugreifen und diesen gefahrenpflichtig zu stellen, der dann freilich in eine Aufopferungslage gerät, weil er als Individuum die Lasten der Allgemeinheit in einem Einzelfall tragen muß. 27 Auf der Grundlage eines normativ angereicherten, am Kausalschema orientierten Zurechnungsprinzips werden in diesem rechtsstaatlichen Grundmodell feinsinnig die Lasten des Individuums und der Allgemeinheit verteilt. Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, daß dem Störermodell die im materiellen Rechtsstaatsprinzip verankerte rechtsethische 24

Allgemein dazu Ladeur, Umweltrecht (Fn. 10), S. 118 ff., 141 ff.

25

In Konzepten und ihren Funktionen Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 1998, § 2 Rn. 24, § 3 Rn. 35, 83. 26 Dazu Ladeur, Recht und Verwaltung, in: Dammann/Grunow/Japp waltung des politischen Systems, 1994, S. 99 ff. 27

Vgl. Drews/ Wache /Vogel /Martens

(Fn. 11), S. 664 f.

(Hrsg.), Die Ver-

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Maxime zugrunde liegt, eine Verantwortlichkeit nur für ein eigenes Verhalten oder den Zustand einer tatsächlich existenten und dem Verantwortlichen rechtlich zuordenbaren Sache zu begründen. 28 Schon die Bezugnahme des Störerbegriffs auf das Kausalschema29 macht deutlich, daß die Zurechnung auf dieser Grundlage versagen muß, wo der Beitrag des Individuums zu einer künftigen Gefahrenlage nicht feststeht. Dies gilt zumal, wenn nicht einmal sicher ist, daß künftig eine Gefahrenlage entsteht, an der dieses Individuum beteiligt ist. Zwar gibt es auch im Anwendungsbereich des Informationsinstrumentariums Gefahrentatbestände, in deren Einzugsbereich das klassische Zurechnungsschema eine angemessene Lastenverteilung ermöglicht. Doch wird im Vorfeld von Gefahren, vor allem dann, wenn es um die Aufklärung von diffusen sozialen Zusammenhängen geht, mit dem Kausalschema auch das Zurechnungsmodell des klassischen Polizeirechts geschwächt. Nicht nur werden Personen zu Adressaten von Informationseingriffen, bei denen im oben genannten Sinne Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß sie künftig Straftaten begehen werden, vielmehr werden auch Dritte einbezogen. Soweit es sich dabei um unvermeidlich von einer Informationserhebung Mitbetroffene handelt, mag man dies mit der Breitenwirkung des Instrumentariums erklären. Wichtiger noch ist die Kategorie der Kontakt- und Begleitpersonen, die gleichsam das funktionale Äquivalent für den Nichtstörer im Vorfeldbereich darstellen und entsprechend diffus definiert werden als Personen, die mit einer Person, bei der tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, daß diese Person Straftaten begehen wird, in einer Weise in Verbindung stehen, die die Erhebung von Daten zur vorbeugenden Bekämpfung der Straftaten zwingend erfordert. 30 Ist schon die eigentliche Zielperson eine solche, die im Vörfeldbereich agiert, deren Inanspruchnahme nur von tatsächlichen Anhaltspunkten für die Annahme künftiger Straftatbegehung abhängt, so wird die eigentliche Beziehung zwischen ihr und der Kontakt- und Begleitperson nicht weiter operationalisiert, sondern allein von der Erforderlichkeit der vorbeugenden Straftatenbekämpfung bestimmt. Ob der Inanspruchnahme beliebiger Personen durch das Merkmal einer nicht näher qualifizierten Verbindung mit Zielpersonen tatsächlich noch eine Grenze gesetzt wird, ist zweifelhaft. Dem Ziel der Aufklärung von sozialen Zusammenhängen kann damit gewiß Rechnung getragen werden, allerdings um den Preis, in die Nähe einer polizeilichen Jedermann-Verantwortlichkeit zu geraten und damit die zu Recht zu rechtsstaatlichen Grundkategorien gezählten Bestimmungen über Störer und Nichtstörer-Inanspruchnahme einzuebnen.31 28 Schenke /Ruthig, (1996), 329 (346 f.).

Rechtsscheinhaftung im Polizei-und Ordnungsrecht, VerwArch 87

29 Siehe nur § 4 Abs. 1 SächsPolG. - Allgemein zur Kausalität im Polizeirecht Drews/ Wacke / Vogel/Martens (Fn. 11), S. 310 ff. - Krit. Lindner, Die verfassungsrechtliche Dimension der allgemeinen polizeirechtlichen Adressatenpflichten, 1997, S. 40 f. 30

Vgl. etwa § 36 Abs. 3 SächsPolG.

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4. Die Erosion der Kontrollen polizeilichen Handelns Ein letzter Punkt hängt nur teilweise mit dem spezifischen Vorfeld-Charakter der polizeilichen Tätigkeit zusammen, zum Teil auch mit der Tatsache verdeckter Informationsgewinnung. Auch wenn man den Vorrang offener Informationserhebung betont,32 wird der Regelfall in der Bekämpfung der organisierten Kriminalität die verdeckte Datenerhebung sein. Die nachträgliche Benachrichtigung der Zielpersonen steht notwendigerweise unter dem Vorbehalt, daß dies nicht zu einer Gefährdung des Zwecks der Datenerhebung führt. 33 Gerade in den Fällen, in denen es um die Bekämpfung der organisierten Kriminalität geht, wird es regelmäßig und oftmals auf lange Zeit nicht zu einer Benachrichtigung kommen. Damit fallen die ansonsten selbstverständlichen rechtsstaatlichen Sicherungen und Kontrollen aus. Dies gilt für die Partizipation der Betroffenen im Verwaltungsverfahren, die eine andere Sichtweise in die polizeilichen Entscheidungsprozesse einspiegeln könnte und zur Präzisierung der höchst unbestimmten Rechtsgrundlagen beitragen könnten, wie auch für den nachträglichen Rechtsschutz im Interesse der Betroffenen. Auch die Kontrolle durch das Parlament fällt weitgehend aus, da dieser Bereich nicht zuletzt aus Gründen der Sicherheit oftmals ohne zusätzliche Vorkehrungen abgeschottet wird. Eine Kontrolle durch die Öffentlichkeit findet ebenfalls, wenn überhaupt, nur sehr reduziert statt. Damit aber wird dieser Bereich im wesentlichen von der polizeilichen Realitätswahrnehmung beherrscht, die wenig Notwendigkeit und Gelegenheit hat, sich mit anderen Deutungen der Realität auseinandersetzen zu müssen. Neigen Organisationen ohnehin dazu, eine eigene und von den internen Handlungsbedingungen wesentlich beeinflußte Wahrnehmung und Handlungsweise zu entwickeln, 34 so wird diese Abschließungstendenz befördert, wenn andere Sichtweisen - derart institutionell abgesichert - wenig Chancen haben, in die Organisation einzudringen und ihre Wahrnehmungen zu beeinflussen. I I I . Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen der Prävention Angesichts der erheblichen Änderungen, die die Grundstrukturen des klassischen Polizeirechts durch die polizeilichen Informationserhebungsbefugnisse erfahren, ist nach den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen der Vor31

Dazu Lisken, „Verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrollen zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität"?, NVwZ 1998, 22 ff. 32

Vgl. etwa § 37 Abs. 5 SächsPolG.

33

Vgl. etwa §§ 40 Abs. 4, 41 Abs. 4 SächsPolG.

34

Allgemein dazu Trute, Funktionen der Organisation und ihre Abbildung im Recht, in: Hoffmann-Riem /Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1997, S. 249 ff.

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Verlagerung staatlichen Handelns in diesem Bereich zu fragen, von denen hier freilich angesichts der verästelten Diskussion nur einige Aspekte behandelt werden können. 1. Sicherheitsgewährleistung als Staatsaufgabe Die Gewährleistung von Sicherheit ist wohl unbestritten eine fundamentale Staatsaufgabe, die Komplement des staatlichen Gewaltmonopols ist. 35 Das Abstellen auf Staatszwecke ist freilich im demokratischen Verfassungsstaat mit Begründungsproblemen verbunden, denen die mit ökologischen Risiken befaßte Debatte überwiegend durch den Rekurs auf die objektiv-rechtlichen Dimensionen der Grundrechte Rechnung zu tragen sucht. In diesem Kontext spielt allerdings die Bezugnahme auf das staatliche Gewaltmonopol und die Sicherheitsgewährleistung als fundamentaler Staatszweck wiederum die Rolle eines wichtigen Begründungselements. 36 Staatliche Schutzpflichten beinhalten insofern eine Inpflichtnahme des Staates zum Schutze der Bürger vor Beeinträchtigungen Dritter. Diese ist nicht nur im Kontext staatlichen Schutzes vor ökologischen Risiken von Bedeutung, sondern selbstverständlich auch vor sonstigen beeinträchtigenden Handlungen Dritter. 37 Freilich wird diese individualbezogene Begründungslinie die Sicherheitsgewährleistungsfünktion kaum erschöpfen, da sie zumindest auch das Interesse des Staates an sich selbst umfassen muß. Staatlicher Schutz muß sich auch daran bewähren, die Möglichkeit demokratischer Willensbildung und daran anschließender Entscheidung und Implementation zu erhalten. Dies zu betonen ist zumal im Kontext der Bekämpfung organisierter Kriminalität nicht bloße Selbstverständlichkeit oder etatistische Attitüde, sondern Ausdruck realer Gefährdungen. 2. Die Zulässigkeit der Vorverlagerung staatlichen Eingreifens Mit der Begründung einer solchen Staatsaufgabe ist über die Reichweite und die Mittel ihrer Erfüllung indes noch nichts gesagt. Die Reichweite der staatlichen Schutzgewährleistungsverpflichtung wird traditionell über den Begriff der Gefahr beschrieben. 38 Daran anknüpfend finden sich immer wieder Stimmen in 35

Zur Sicherheitsgewährleistung als Staatszweck vgl. Isensee, Gemeinwohl und Staatsaufgaben im Verfassungsstaat, in: Isensee / Kirchhof {Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 57 Rn. 44 ff.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 121 ff.; Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 88 ff. 36 Vgl. bereits Alexy, Theorie der Grundrechte, 1986, S. 414 f.; Klein, Grundrechtliche Schutzpflichten des Staates, NJW 1989, 1633 (1635 f.); Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992, S. 21 ff. 37

Vgl. nur BVerfGE 46, 160 (164).

38

Vgl. Murswiek (Fn. 35), S. 140 ff.

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der Literatur, die die Erstreckung des polizeilichen Handlungsinstrumentariums in das Vorfeld der Gefahr für verfassungsrechtlich unzulässig halten. So soll die heimliche Informationserhebung grundsätzlich, jedenfalls aber diejenige durch die Polizei den Grundsätzen der Demokratie und des Rechtsstaates widersprechen, weil der Staat grundsätzlich auf offenes Handeln festgelegt sei. Es soll einen Menschenwürdeverstoß darstellen, wenn der Staat jedermann als potentiellen Straftäter ungeachtet seines wirklichen oder doch zumindest vermuteten Tatbeitrags in die staatliche Überwachung einbezieht. Die Inanspruchnahme mangels Zurechenbarkeit von Gefahrenbeiträgen soll schließlich eine rechtsstaatswidrige Jedermannverantwortlichkeit begründen. 39 Der aus dem Demokratie- wie Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Grundsatz offenen staatlichen Handelns dürfte jedenfalls in dem Umfang Einschränkungen zugänglich sein, wie es zum Schutz anderer verfassungsrechtlich ebenfalls geschützter Rechtspositionen erforderlich ist, zumal dann, wenn kompensatorisch ergänzende institutionelle Sicherungen vorgesehen werden, auf die noch zurückzukommen sein wird. 40 Im übrigen wird durch das Informationserhebungsinstrumentarium nicht etwa jedermann menschenwürdewidrig als potentieller Straftäter behandelt. Das Gesetz sieht vielmehr eine Inanspruchnahme vor, obwohl der einzelnen gerade nicht als Straftäter oder potentieller Straftäter angesehen wird, sondern weil Informationen über ihn erforderlich sind, um bestimmte soziale Zusammenhänge aufzuklären. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit dürfte sich daher auch kaum an der Menschenwürde, wohl aber an der Verhältnismäßigkeit der gesetzlichen Einschränkung anderer grundrechtlicher Gewährleistungen entscheiden.41 Im übrigen vermag hier ein Blick auf die umweltrechtliche Diskussion deutlich zu machen, daß die Vorverlagerung staatlicher Steuerung einschließlich der damit einhergehenden Schwierigkeiten bei der Zurechenbarkeit von individuellen Beiträgen nicht per se verfassungsrechtlich unzulässig ist. Dort ist immerhin anerkannt, daß der Schutz bis zur Gefahrenschwelle jedenfalls überall dort unzureichend ist, wo soziale Lagen aus sich heraus Gefährdungen mit sich bringen, denen im Zeitpunkt eines begründeten Gefahrenurteils nicht mehr wirksam begegnet werden kann. Insofern gibt die umweltrechtliche Diskussion genügend Hinweise für eine Schutzerweiterung in den Vorsorgebereich jedenfalls dort, wo die Kenntnisse über komplexe Wirkungszusammenhänge begrenzt sind.42 Ob allerdings diese Überlegun39

Vgl. etwa Müller, Abschied von der konkreten Gefahr als polizeiliche Eingriffsbefugnis, StV 1995, 602 (604 f.). 40

S.u. IV.

41

Zu Recht in diesem Sinne Geiger, Verfassungsfragen zur polizeilichen Anwendung der Video-Überwachungstechnologie bei der Straftatbekämpfung, 1994, S. 228 f. 42

Dazu bereits Trute, Vorsorgestrukturen (Fn. 20) S. 230 ff.; Kunig, in: von Münch /Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 4. Aufl. 1992, Art. 2 Rn. 68; Dietlein (Fn. 36), S. 108 ff.

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gen ohne weiteres auf den gesamten Bereich polizeilicher Informationsvorsorge übertragen werden können, bedürfte im einzelnen noch genauerer Prüfung. An der grundsätzlichen Möglichkeit, Schutzpflichten gegebenenfalls durch ein Ausgreifen der staatlichen Eingriffsbeflignisse in das Gefahrenvorfeld Rechnung zu tragen, kann kein Zweifel bestehen. Jedenfalls aber ist die Annahme nicht von vornherein fehlerhaft, daß den neuen Formen der Kriminalität, denen das Informationserhebungsinstrumentarium gilt, wirksam nur durch eine Vörverlagerung staatlicher Handlungsbefugnisse begegnet werden kann. Auch wenn die Eignung in jedem einzelnen Fall aufgrund der genannten Operationalisierungsschwächen nur schwer zu beurteilen ist, wird man angesichts des gegenwärtigen Standes der Erkenntnis hierin kaum eine gesetzgeberische Fehleinschätzung sehen können, sondern den im Grundsatz legitimen Versuch, Gefährdungen wirksam zu begegnen. Selbst wo eine staatliche Schutzpflicht nicht besteht, ist es dem Staat nicht verwehrt, ein weitergehendes Schutzniveau vorzuhalten und erhöhte Duldungspflichten zu begründen, sofern er einen verhältnismäßigen Ausgleich von Schutz und Eingriff bewirkt. 3. Experimentierspielraum des Gesetzgebers Bedenken werden allerdings immer wieder hinsichtlich der Eignung, jedenfalls der Erforderlichkeit eines solchen Instrumentariums geäußert. In der Tat ist nicht sicher, ob die polizeiliche Effizienz dadurch wirklich verbessert wird, oder ob die Polizei nicht mit dem Präventionsansatz nachgerade überfordert wird, 43 und ob wirklich die Organisationen erreicht werden, deren Gefährlichkeit mit dem Begriff der organisierten Kriminalität in der Öffentlichkeit beschworen wird. 44 Indes kann es dem Gesetzgeber angesichts der ungewissen Entwicklungen im Kriminalitätsbereich nicht verwehrt sein, ein ihm aufgrund nicht offensichtlich fehlsamer Prognose geeignet und erforderlich erscheinendes Instrumentarium zur Verfugung zu stellen. Kompensat seiner Handlungsbefugnisse in Situationen tatsächlicher Ungewißheit über die Wirksamkeit und Erforderlichkeit von Handlungsmöglichkeiten ist dann allerdings seine Bereitschaft zu lernen, d.h. Informationen über die Eignung und Wirksamkeit des Instrumentariums zu sammeln und auf dieser Grundlage sein Weiterbestehen zu überprüfen und gegebenenfalls seine Anwendungsbedingungen zu präzisieren und zu modifizieren. Experimenteller Gesetzgebung geht es darum, die Entscheidungssituation partiell von der Ungewißheit der Handlungsgrundlagen und Unbestimmtheit der Anwendungsbedingungen zu entlasten, Erfahrungen zu 43 Vgl. Gusy, Polizei und Nachrichtendienste im Kampf gegen die organisierte Kriminalität, KritV 77 (1994), 242 (249). 44 Begründete Skepsis bei Paeffgen, „Verpolizeilichung" des Strafprozesses - Chimäre oder Gefahr?, in: Wolter (Hrsg.), Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 1995, S. 13 (33 f.).

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sammeln und die Angreifbarkeit legislativer Prognosen zu mindern, indem auf den aktuellen Handlungsbedarf einerseits, die Revisionsbereitschaft andererseits abgestellt wird. 45 Angesichts der erheblichen Eingriffsmöglichkeiten in die Rechtspositionen von Personen auf ungesicherter Tatsachengrundlage und der tatbestandlich allenfalls vage umschriebenen Anwendungsvoraussetzungen wird man schon unter Verhältnismäßigkeitsaspekten eine solche Revisionsbereitschaft und ihr entsprechende Evaluationspflichten mit darauf gerichteten Berichtspflichten an das Parlament annehmen müssen, wie sie in einigen neueren Polizeigesetzen auch vorgesehen sind. 46 4. Abstufung der Eingriffstatbestände Angesichts der erheblichen Eingriffsintensität, der Hochrangigkeit der geschützten Rechtsgüter und der Schwierigkeit, die Gesetzesanwendung über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz hinreichend zu steuern, kommt der gesetzlichen Abschichtung der Erhebungstatbestände erhebliche Bedeutung zu. Erforderlich ist hier eine je nach Verdachts- und Eingriffsintensität und Eingriffs- und Schutzgut gestufte Normierung von Eingriffstatbeständen, 47 wie sie im Ansatz auch in den Polizeigesetzen vorgesehen ist. Das läßt sich hier nur skizzieren. Schwierigkeiten bereitet dabei insbesondere der Schutz von Kernbereichen der Privatheit, da im Zeitpunkt des Informationseingriffs oftmals nicht sicher zu beurteilen ist, ob eine absolut geschützte Kommunikationssituation vorliegt. Hier wird man dann jedenfalls Abbruchpflichten und sofortige Löschungspflichten sowie deren institutionelle Absicherung für erforderlich halten müssen. Im Hinblick auf die erheblichen Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung bedarf es im übrigen hinreichend gewichtiger Schutzgüter, zugunsten derer eine Vorverlagerung des Eingriffsinstrumentariums vorgesehen wird. Zweifel wecken insoweit die teilweise großzügige Aufnahme von Vermögens- und Eigentumsschutzinteressen,48 soweit diese jedenfalls nicht dem typischen Bereich der organisierten Kriminalität zuzurechnen sind.

45 Zur experimentellen Gesetzgebung vgl. Hoffmann-Riem, Experimentelle Gesetzgebung, in: Festschrift für Werner Thieme, 1993, S. 55 ff.; Schulze-Fielitz, Zeitoffene Gesetzgebung, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, S. 139 (162 ff.), dort auch zu den (notwendigen) Restriktionen einer solchen Pflicht. 46 § 37a NGefAG; § 34 Abs. 7 SOG M-V. - Nunmehr auch Art. 34 Abs. 6 BayPAG in Ausführung des Art. 13 Abs. 6 S. 3 GG. 47

Denninger, Verfassungsschutz, Polizei und die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, KritV 77 (1994), 232 (234). 48

Vgl. etwa § 39 Abs. 1 Nr. 2a SächsPolG; dazu SächsVerfGH, LKV 1996, 273 (282 f.).

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Zweifel an der Verhältnismäßigkeit tauchen überall dort auf, wo eine Inpflichtnahme im Vorfeld erfolgt, ohne daß der Beitrag der Personen zur Gefahrenlage ex ante näher spezifiziert werden kann. Dies betrifft zu einen die Kontakt- und Begleitpersonen im Vorfeldbereich. Bei ihnen läßt sich ihr Beitrag zur Gefährdungssituation ex ante gerade nicht bestimmen. Die Datenerhebung erfolgt allein zur Aufklärung, ob eine Beziehung zur vermuteten Gefährdungslage besteht oder nicht. Noch deutlicher wird dies dort, wo eine Datenerhebung in geschützte Bereiche eindringt und eine Inpflichtnahme allein deshalb erfolgt, weil vermutet wird, daß in diesen geschützten Bereichen Daten über bestimmte Zielobjekte verfugbar sind. Ein Beispiel wäre der Lauschangriff in Wohnungen, weil dort relevante Kommunikationen über Zielpersonen stattfindet, ohne daß der Wohnungsinhaber eine wie auch immer geartete Beziehung zu den betreffenden Zielpersonen haben muß. Solche Inpflichtnahmen laufen auf eine Jedermann-Verantwortlichkeit aus Effizienzgründen, auf eine allgemeine Polizeipflichtigkeit hinaus, nur weil vermutet wird, daß es in den geschützten Bereichen relevante Informationen geben wird. Damit aber wird die rechtsstaatliche bedeutsame Schwelle der Unterscheidung von Gefahrverursachung und Notstandsinanspruchnahme von Nichtverursachern letztlich eingeebnet. Hier liegen angesichts der regelmäßig ex ante gar nicht präzisierbaren Gefahrdungen denn auch notwendige Grenzen einer Inanspruchnahme. 49 5. Schutz von Vertrauensverhältnissen Wenig Aufmerksamkeit haben die Polizeigesetzgeber bisher den Grenzen der polizeilichen Informationsvorsorge im Hinblick auf den Schutz von Vertrauensverhältnissen geschenkt. So als sei es selbstverständlich, daß Strafrecht und Strafprozeßrecht mit hohem Aufwand einzelne Kommunikationsverhältnisse vor staatlichem Eindringen schützen, polizeiliche Zugriffe aber ohne weiteres möglich sind. Freilich besteht ein grundlegender Unterschied in den Zwecken: Auf die staatliche Strafverfolgung mag im Einzelfall verzichtet werden, weil die notwendigen Informationen zur Überführung des Täters der verfassungsrechtlich geschützten Kommunikationsbeziehungen entstammen. Ein anderes ist es, ein bedrohtes Rechtsgut deswegen nicht zu schützen und damit einem Verlust auszusetzen, der durchaus noch verhindert werden könnte. Schon diese Überlegung zeigt, daß ein absoluter Schutz dieser Vertrauensverhältnisse polizeirechtlich jedenfalls insoweit nicht zu rechtfertigen ist, wie grundrechtliche Schutzpflichten zugunsten situativ zumindest gleichgewichtiger Rechtsgüter bestehen. Jenseits dessen fällt die Rechtfertigung freilich schwer. Wenn es zutreffend ist, daß, wie der Bundesgerichtshof zu Ausforschung und Verrat von Informationen aus dem Verhältnis zwischen Rechtsanwalt und Man49

Vgl. Lisken, in: Lisken /Denninger (Fn. 11), Rn. D 10 f.

27 GS Jeand' Heur

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dant ausgeführt hat, der Schutz dieses Vertrauensverhältnisses zu den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit gehört, 50 dann wird man entsprechend gewichtige Gründe für ein polizeiliches Eindringen verlangen müssen. Hier wird es vor allem auf die Konkretisierung des Verdachts, die mögliche Verstrickung der Ausforschungspersonen und die Gründe für den verfassungsrechtlichen Schutz der Kommunikationsbeziehungen ankommen. Dabei darf nicht unbeachtet bleiben, daß die mögliche Öffnung von Vertrauensbeziehungen für verdeckte polizeiliche Informationserhebung erhebliche Konsequenzen, nämlich die Entwertung dieser Institutionen nach sich ziehen kann.51 Hier wird es mehr als bisher erforderlich sein, eine Dogmatik der Vertrauensverhältnisse zu entwickeln. Daß dies bisher nicht geschehen ist, dürfte seinen Grund vor allem darin haben, daß mit der Gefahrenschwelle und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eingespielte Dogmen zur Verfügung standen, um die Fälle offener Zugriffe zu bewältigen. Für die verdeckte Informationserhebung liegen ähnlich gesicherte Dogmen jedoch nicht vor. Da es hier um den Ausgleich gewichtiger konkurrierender Grundrechtspositionen und öffentlicher Interessen geht, ist es Aufgabe des Gesetzgebers, die Kriterien zu bestimmen, unter denen ein Eingriff in die Vertrauensverhältnisse zulässig sein soll. Diese Bewertung in die Entscheidung über die Anordnung heimlicher Informationseingriffe zu verlagern, wie es derzeit — sofern ein hinreichendes Problembewußtsein besteht — geschieht, setzt ein hohes Vertrauen in die rechtsstaatliche Sensibilität der an der effizienten Aufgabenerledigung interessierten Exekutivevoraus, sondern verkennt im übrigen auch die Anforderungen der Wesentlichkeitslehre. IV. Institutionelle Sicherungen des polizeilichen Informationshandelns Vorsorgende Staatstätigkeit entzieht sich ungleich stärker rechtlicher Regelung und Kontrolle als die klassische Gefahrenabwehr. Akzeptiert man aber, daß die polizeiliche Vorfeldermittlung im Grundsatz eine legitime Aufgabe ist, wird man nach geeigneten institutionellen Vorkehrungen suchen müssen, um eine rechtsstaatliche Bindung polizeilichen Handelns unter veränderten Bedingungen zu gewährleisten. 52

50

BGH DtZ 1995, 58 (59); DtZ 1995, 335 (336).

51

Zum Vertrauensschutz der Presse und Rundfunkarbeit vgl. etwa BVerfGE 20, 162, (176); 66, 116 (133); 77, 65 (74 f.); auch Deutsch, Die heimliche Erhebung von Informationen und deren Aufbewahrung durch die Polizei, 1992, S. 96 ff. 52 Zur umweltrechtlichen Thematik in diesem Zusammenhang ausführlich Wahl/Appel (Fn. 8), S. 1 (25 ff.).

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1. Reduzierung der Unbestimmtheit durch Organisation und Verfahren Es gehört zu den gesicherten Erkenntnissen der Verwaltungswissenschaft, daß die gerade im Vorsorgebereich bestehende Unbestimmtheit der materiellen gesetzlichen Grundlagen für exekutivisches Handeln durch Anforderungen an Organisation und Verfahren der Exekutive ein Stück weit kompensiert werden kann. Daß Organisation und Verfahren eigenständige Entscheidungsprämissen sein können, wie im übrigen das Personal auch, wird von der neueren Grundrechtsdogmatik bekanntlich aufgenommen. 53 Vor allem unter dem Eindruck der Risikoproblematik im Umweltbereich hat dies dazu Anlaß gegeben, den wirklichen oder vermeintlichen Steuerungsschwächen des materiellen Risikorechts durch eine Prozeduralisierung entgegenzuwirken. Diese Debatte muß hier in ihren theoretischen Grundlagen nicht aufgenommen werden. Wohl aber gibt die Spezifik des Sachbereichs hier Anlaß, nach geeigneten kompensatorischen Verfahrensanforderungen zu suchen. a) Die Repräsentation der Interessen der Eingriffsbetroffenen Im Ausgangspunkt dürfte unbestritten sein, daß ein grundrechtlicher Verfahrensschutz überall dort erforderlich ist, wo der Gesetzgeber in komplexen, entwicklungsoffenen Bereichen materielle Eingriffsprogramme und damit die Voraussetzungen für Grundrechtseingriffe nur anhand unbestimmter Gesetzesbegriffe umschreiben kann. Je weniger sich die Vorausetzungen von Eingriffen ex ante umschreiben lassen, desto größere Bedeutung erlangen Verwaltungsverfahren und gerichtliches Verfahren für die Interessendarstellung der Betroffenen. Hier freilich zeigt sich die Problematik des polizeilichen Informationserhebungssinstrumentariums in aller Deutlichkeit, weil aufgrund des heimlichen Charakters und der oft lang fortwirkenden Verdecktheit seines Einsatzes eine Beteiligung und eine nachträgliche Kontrolle durch den Betroffenen nicht möglich, jedenfalls aber nicht effektiv sein wird. Die an sich rechtsstaatlich und grundrechtlich unabdingbare Beteiligung potentiell und aktuell grundrechtlich Betroffener fällt oftmals aus. Ist auf der einen Seite die Heimlichkeit des Instrumentariums notwendige Bedingung des Einsatzes, auf der anderen Seite die grundrechtliche Beteiligung 53 Zum Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren Denninger, Staatliche Hilfe zur Grundrechtsausübung durch Verfahren, Organisation und Finanzierung, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992, § 113; Schmidt-Aßmann, Verwaltungsverfahren, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 70 Rn. 15 ff.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III /1, 1988, S. 953 ff.; Alexy (Fn. 36), S. 428 ff.; Lerche/Schmitt Glaeser/Schmidt-Aßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984; Wahl /Pietzcker, Verwaltungsverfahren zwischen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, VVDStRL 41 (1983), S. 151 (166 ff.), S. 192 (207 ff.).

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aber im Ausgangspunkt ein rechtsstaatliches Minimum, dann bedarf es geeigneter Vorkehrungen, um hier einen Ausgleich zu schaffen. Dieser kann, soll die Anwendung heimlicher Informationsbeschaffung nicht vollständig inhibiert werden, nur darin liegen, daß grundrechtlich geschützte Interessen im Verfahren der Entscheidungsfindung zu repräsentieren, das heißt, soweit möglich, von unabhängigen Dritten zur Geltung zu bringen sind. Hierfür spricht im übrigen auch die Überlegung, daß, solange die Entscheidung im ausschließlichen Verantwortungsbereich der Polizei verbleibt, ohnehin deren Wirklichkeitskonstruktion das Verfahren dominiert und damit eine Abschließung der Organisation stattfindet. Eine Beteiligung Dritter, wie sie immerhin im Bereich der Strafverfolgung mit der de iure bestehenden Verfahrensherrschaft der Staatsanwaltschaft vorgesehen ist, findet hier bislang nicht statt. Auch insoweit mag die Einspiegelung von Differenz in das Verfahren der Entscheidungsfindung ungeachtet der Schutzfunktion für die Belange Eingriffsbetroffener eine rationalisierende Wirkung haben. Den dadurch naturgemäß auftretenden und auch verfassungsrechtlich Berücksichtigung erheischenden Sicherheitsproblemen läßt sich durch eine geeignete Verfahrensgestaltung wirksam entgegenkommen. Keinesfalls geht es an, den in gewissem Umfang verständlichen und legitimen polizeilichen Abschottungsinteressen bereits von vornherein den Vorrang einräumen zu wollen. Bei der Auflösung des Interessenkonflikts dürfte der Gesetzgeber einen erheblichen Spielraum haben. Geeignete Instrumente dafür werden in der Literatur bereits vielfältig diskutiert und sind teilweise auch gesetzlich vorgesehen: der Richtervorbehalt, die Beteiligung des Datenschutzbeauftragten, die Verfahrensherrschaft der Staatsanwaltschaft oder ein Ministervorbehalt. 54 Diese sind 54 Während die Polizeigesetze für den sog. großen Lauschangriff schon vor der jüngst erfolgten Änderung des Art. 13 GG (s.o. Fn. 5) Richtervorbehalte vorgesehen haben (s. nur § 23 Abs. 2 PolG BW, § 25 Abs. 5 ASOG Bin, § 10 Abs. 3 HmbgPolDVG, § 15 Abs. 5 HSOG, § 34 Abs. 3 SOG M-V, § 34 Abs. 3 NGefAG, § 18 Abs. 3 NWPolG, § 28 Abs. 4 SaarlPG, § 40 Abs. 2 SächsPolG, § 17 Abs. 5 SOG LSA, § 35 Abs. 2 ThürPAG), ordnen sie gelegentlich auch für längerfristige Observation (§ 34 Abs. 2 NGefAG), Einsatz technischer Mittel (§ 34 Abs. 3 NGefAG) oder verdeckter Ermittler (§ 36a Abs. 3 NGefAG, § 28 Abs. 3 SaarlPG), polizeiliche Beobachtung (§ 35 Abs. 2 SOG M-V, § 21 Abs. 3 NWPolG, § 19 Abs. 4, 5 SOG LSA), Eingriff in Vertrauensverhältnisse (§ 34 Abs. 3 SOG M-V), Rasterfahndung (§ 47 Abs. 4 ASOG Bin, § 26 Abs. 4 HSOG, § 31 Abs. 4 NWPolG, § 31 Abs. 4 SOG LSA) das Erfordernis richterlicher Zustimmung an; meist aber bestehen - unterschiedlich gefaßte - Behördenleitervorbehalte (§§ 22 Abs. 6, 25 Abs. 3, 40 Abs. 3 PolG BW; Art. 33 Abs. 5, 36 Abs. 3, 44 Abs. 2 BayPAG; §§ 26 Abs. 4, 27 Abs. 3 ASOG Bin; §§ 9 Abs. 2, 11 Abs. 2, 12 Abs. 4, 13 Abs. 3 HmbgPolDVG; §§ 15 Abs. 3, 17 Abs. 4 HSOG; §§ 34 Abs. 1, 35 Abs. 2, SOG M-V; §§ 36 Abs. 3, 37 Abs. 3 NGefAG; §§ 16 Abs. 2, 17 Abs. 3, 18 Abs. 3, 19 Abs. 2, 20 Abs. 4 NWPolG; §§ 28 Abs. 3, 29 Abs. 2, 37 Abs. 4 SaarlPG; §§ 39 Abs. 3, 41 Abs. 3, 42 Abs. 2, 47 Abs. 3 SächsPolG; §§ 17 Abs. 2 S. 3, 18 Abs. 5, 19 Abs. 4 SOG LSA; §§ 34 Abs. 6, 37 Abs. 3, ThürPAG); nur gelegentlich wird die Zustimmung des Innenministers (§ 23 Abs. 4 HmbgPolDVG, § 44 Abs. 4 SOG M-V, § 44 Abs. 4 ThürPAG bei Rasterfahndung, § 15 Abs. 3 HSOG, § 17 Abs. 2 S. 4 bei Observationen über 3 Monate hinaus, § 18 Abs. 5 SOG LSA bei Einsatz von V-Leuten und verdeckten Ermittlern über

Die Erosion des Polizeirechts durch die polizeiliche Informationsvorsorge

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allerdings auf unterschiedliche Ziele bezogen und nicht in gleicher Weise geeignet, Interessen Eingriffsbetroffener zu repräsentieren. So mag ein Ministervorbehalt im Hinblick auf politische Risiken eher begrenzende Wirkungen haben, die Interessen Dritter aber nicht notwendig in das Verfahren einspiegeln. Bei der Staatsanwaltschaft mag vor allem eine andere, konkretere Straftatorientierung vorherrschen und diese zur Veränderung der polizeilichen Handlungsrationalität beitragen. Auch der Richtervorbehalt ist gewiß kein Allheilmittel, wenn Verfahren und Besetzung letztlich in einer Weise gestaltet sind, daß de facto eine wirksame Repräsentation der Interessen nicht stattfindet. 55 Aus der Perspektive der Eingriffsbetroffenen dürfte von der Ausrichtung noch am ehesten der Datenschutzbeauftrage für die Repräsentation der Interessen der Eingriffsbetroffenen sorgen können. b) Vorkehrungen

zur Gewährleistung nachträglicher

Kontrolle

Die Heimlichkeit der Informationserhebung hat zur Folge, daß der Betroffene wirksam nachträgliche Kontrolle nur unter engen Voraussetzungen erlangen kann. Zur Absicherung der auch verfassungsrechtlich gebotenen Kontrolle, insbesondere der gerichtlichen Kontrolle, ist indes nicht nur das allgemeine datenschutzrechtliche Auskunftsinstrumentarium notwendig, sondern darüber hinaus eine Benachrichtigungspflicht, die in der Lage ist, einen dem offenen Handeln entsprechenden Rechtsschutzinitiativeffekt auszulösen.56 Dies dürfte verfassungsrechtlich schon als Vorwirkung des Art. 19 Abs. 4 GG und entsprechender Regelungen in den Länderverfassungen geboten sein. Dabei wird man freilich zu überlegen haben, ob das prozessuale Instrumentarium auf diese Situationen hinreichend zugeschnitten ist. Ob unter Zugrundelegung der bisherigen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zur Fortsetzungsfeststellungsklage, die angesichts der Heimlichkeit des Zugriffs als prozessuale Aktion in Betracht kommt, stets ein Feststellungsinteresse gegeben ist, mag zweifelhaft sein. Indes dient es weder der Präzisierung der Anwendungsbedingungen der Eingriffsnormen noch der Akzeptanz polizeilichen Handelns im Vorfeldbereich,

3 Monate hinaus) oder der Staatsanwaltschaft (§ 12 Abs. 1 S. 2 HmbgPolDVG, § 18 Abs. 5 SOG LSA bei Einsatz verdeckter Ermittler) verlangt. - Weitergehend zu diesen Vorbehalten Neumann (Fn. 2), S. 187 ff.; Lisken/Mokros, Richter- und Behördenleitervorbehalte im neuen Polizeirecht, NVwZ 1991, 609 ff.; Boldt, in: Lisken/Denninger (Fn. 11), Rn. A 96. 55 Vgl. Böttger/Pfeiffer, Der Lauschangriff in den USA und Deutschland, ZRP 1994, 7 ff. - Ferner ist es ein offenes Geheimnis, daß die Beteiligung der FG-Richter bei Freiheitsentziehungen im Gewahrsamsbereich wenig kontrollintensiv ist. Nimmt man hinzu, daß die FGRichterstellen gerade in den neuen Ländern oftmals mit Richtern besetzt werden, die in der allgemeinen Zivilgerichtsbarkeit keine Verwendungfinden sollen, läßt sich die Ineffektivität des Instrumentariums erahnen. Auch hier kommt es folgerichtig auf eine hinreichend effektive Gestaltung der Verfahren an. 56

Dazu Deutsch (Fn. 51), S. 24 f.

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wenn die nachträgliche Kontrolle schon deswegen unmöglich sein soll, weil sich der Eingriff erledigt hat. 57 c) Löschungspflichten und ihre institutionelle Kontrolle als Kompensat der Zugriffsmöglichkeiten unter Unsicherheit Informationserhebungstatbestände im Vorfeldbereich eröffnen Zugriffsmöglichkeiten auf Rechtspositionen, die sich für eine wirksame Gefahrenabwehr nach dem Eingriff als nicht erforderlich erweisen. Sie können zu Daten fuhren, die sich normativ schon deshalb nicht verwerten lassen, weil sie dem absolut geschützten Bereich der Persönlichkeitssphäre entstammen oder aus verfassungsrechtlich geschützten Vertrauensbeziehungen entstammen. In all diesen Fällen bedarf es eines wirksamen Löschungsinstrumentariums als Kompensat für einseitige Zugriffsmöglichkeiten und einer wirksamen institutionellen Kontrolle der Durchführung der Löschungen, wie auch etwaiger Zweckumwidmungen. Hierbei muß jeder Anschein vermieden werden, daß eine zögerliche Löschung nur deshalb erfolgt, um einmal gewonnene Daten für andere Zwecke nutzen zu können. Eine Zweckumwidmung ist gerade bei Daten, die über Dritte und Kontakt- und Begleitpersonen gewonnen wurden, regelmäßig unverhältnismäßig, da sie bei Kenntnis des ex post-Status der Betroffenen ex ante regelmäßig nicht hätten erhoben werden können. Hier zeigt sich etwas von der Spezifik des Risikorecht insofern, als eine Temporalisierung der Handlungsmöglichkeiten nach Maßgabe des jeweiligen Erkenntnisstandes erfolgen muß. d) Entschädigungspflichten

bei der Vorfeldinanspruchnahme

Im übrigen mag man darüber nachdenken, ob nicht eine Erweiterung der Entschädigungspflicht für die Inanspruchnahme von Nichtstörern, insbesondere auch ein Schadensersatz für Nichtvermögensschäden bei einer schweren Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts durch die Präventionswirkung des Haftungsrechts zu einer Restriktion der Inanspruchnahme genutzt werden kann. Vorbilder gibt es insoweit in der Gefahrdungshaftung des allgemeinen Datenschutzrechts, aber auch in den Fällen von Gefahrenverdacht und Anscheingefahr. 58 Es gehört zu den selbstverständlichen Ausprägungen des rechtsstaatlichen Handlungsmodells des klassischen Polizeirechts, daß der Inanspruchnahme des Nichtstörers im Regelfall eine Entschädigungspflicht des Staates auslöst, weil er sich in einer Aufopferungslage befindet. Auf das Vorfeldinstrumentarium sind diese Entschädigungspflichten bisher nicht zugeschnitten, nicht zuletzt 57

Zu den Anforderungen des Art. 19 Abs. 4 GG in vergleichbaren Konstellationen jetzt BVerwGE 96, 27 (40) sowie Trute (o. Fn. 18), S. 90. 58

Vgl. § 7 Abs. 2 BDSG, § 21 Abs. 2 SächsDSG.

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deshalb, weil es selten zu Vermögensschäden durch Informationserlangung kommt, vielleicht aber auch deshalb, weil letztlich die Eingriffsbetroffenen mit potentiellen Tätern gleichgesetzt werden, wie es nicht in der beliebten Redeweise, Datenschutz dürfe kein Täterschutz sein,59 zum Ausdruck kommt. Indes ist nicht zu übersehen, daß die normative Lage eine durchaus andere ist. Sofern Dritte oder Kontakt- und Begleitpersonen in Anspruch genommen werden, bei denen sich herausstellt, daß sie keinen Beitrag zur künftigen Gefahrenlage leisten, kann nicht zweifelhaft sein, daß sie zwar nach der Rechtslage rechtmäßig in Anspruch genommen werden, sich aber in einer der Aufopferungslage vergleichbaren Situation befinden. Insofern sollte einer Anwendung der Entschädigungpflicht nichts entgegenstehen. 2. Verstärkung der institutionellen Kontrolle der Polizei Die Reduzierung der individuellen Schutz- und Kontrollmöglichkeiten geht einher mit einer Reduzierung der institutionellen Kontrollmöglichkeiten. Die Gründe sind im wesentlichen dieselben: — Die reduzierten Steuerungsleistungen des Gesetzes im Vorfeldbereich führen zu einer vergrößerten Eigenständigkeit der Exekutive. Dies ist ein allgemeines, aus der Risikovorsorge im Umweltrecht bekanntes Phänomen. Während dort die Intensität der Vorsorge im wesentlichen der Konzeptbildung der Exekutive anheimgegeben ist, fehlt es an funktionalen Äquivalenten im Bereich der polizeilichen Vorfeldermittlungen. Einigkeit besteht jedenfalls darüber, daß dabei eine Verschiebung zwischen den Gewalten stattfindet, die im Umweltrecht hinsichtlich der gerichtlichen Kontrolle über Bestehen und Umfang von Beurteilungsermächtigungen, im Verhältnis zum Gesetzgeber unter dem Stichwort des Parlamentsvorbehalts diskutiert wird. 60 — Nichts anderes gilt im Hinblick auf die Heimlichkeit der Ermittlungen. Auch diese führt zwangsläufig zu einer Reduktion der Kontrolle der Exekutive, die durch Abschottungen innerhalb der Exekutive noch weiter verstärkt wird. Es bedarf daher verstärkter Anstrengungen, um eine demokratische Kontrolle und rechtsstaatlicher Verfassung dieser Vorfeldtätigkeit der Polizei institutionell abzusichern.

59 Diese Redeweise hat sogar Eingang in die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung gefunden (s. BayVerfGH, DVB1. 1995, 349 [353]). 60

Vgl. dazu Wahl/Appel

(Fn. 8), S. 112 ff.

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a) Verfassungsrechtliches Gebot eines hinreichenden Kontrollniveaus Auch wenn heimliche Informationserhebungen durch die Exekutive nicht per se verfassungswidrig sind, so darf ein bestimmtes Kontrollniveau jedoch nicht unterschritten werden. Das Demokratieprinzip verlangt grundsätzlich eine offene, das Rechtsstaatsprinzip eine transparente Vorgehensweise der Exekutive. 61 Ein hinreichend wirksamer Steuerungszusammenhang von Parlament und Exekutive ist essentielles Element des Demokratieprinzips. 62 Dem wirken freilich die Abschottungen innerhalb der Exekutive, wie sie etwa beim Einsatz verdeckter Ermittler unabweisbar sind, ebenso entgegen, wie der Ausfall öffentlicher Kontrollen, die häufig erst Anlaß für einen Kontrollzugriff des Parlaments sind. Es ist schwer vorstellbar, wie unter den Bedingungen heimlicher Informationserhebung im Vorfeld von Gefahren demokratische Kontrolle und rechtsstaatliche Verfassung dieser Arbeit institutionell gesichert werden können. Zweifellos ist es auch schwierig, aus verfassungsrechtlichen Strukturprinzipien detaillierte Anforderungen an die Verwaltungsorganisation ableiten zu wollen. Es mag eines sein, Steuerungs- und Kontrolldefizite festzustellen, ein anderes ist es allerdings, hieraus auf zwingende Anforderungen schließen zu wollen. Dies gilt zumal in einem Bereich, der sozial- und verwaltungswissenschaftlich wenig durchleuchtet ist und in dem sich daher wenig Ansatzpunkte für schütz- und kontrollintensivere Organisationsgestaltungen finden. Hier wird man dem Gesetzgeber daher einen breiten Experimentierspielraum zugestehen, aber Vorkehrungen möglicherweise auch abverlangen müssen, wenn man sich nicht mit dem rechtsstaatlich wenig befriedigenden Befund abfinden will, daß veränderte Kriminalitätsformen nun einmal auch Opfer auf Seiten der Bürger verlangen. b) Parlamentarische

Kontrolle der Polizei

Mit der jüngst erfolgten Änderung des Art. 13 GG hat nicht allein der sog. Lauschangriff eine verfassungsrechtliche Regelung erfahren, 63 sondern neben 61

Vgl. dazu Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 364 ff.

62

In Einzelheiten dieser unter dem Aspekt der demokratischen Legitimation zu erörternden Anforderungen Schmidt-Aßmann (Fn. 25), § 2 Rn. 80 ff.; Trute, Funktionen der Organisation und ihre Abbildung im Recht, in: Hoffmann-Riem /Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsressource, 1997, S. 249 (272 ff.). 63 Allerdings stellt sich im polizeilichen Bereich angesichts des Festhaltens am Begriff der dringenden Gefahr im neuen Abs. 4 des Art. 13 GG die Frage nach der Tauglichkeit dieser Änderung für die Informationserhebung im Gefahrenvorfeld. Dazu daß diese nicht von dem mit Art. 13 Abs. 3 GG a.F./Art. 13 Abs. 7 GG n.F. wortgleichen Art. 30 Abs. 3 SächsVerf erfaßt wird, SächsVerfGH, LKV 1996, 273, (292). Das Argument, mit „ Verhütung dringender Gefahren" sei eben auch das Gefahrenvorfeld mit umfaßt (so etwa Schenke, Verfassungsrechtliche Probleme polizeilichen Gewahrsams und polizeilicher Informationseingriffe, DVB1. 1996, 1393 [1399 f.]), entbehrt nunmehr in Anbetracht der Rede des neuen Art. 13 Abs. 3 GG von der Abwehr dringender Gefahren" der Grundlage.

Die Erosion des Polizeirechts durch die polizeiliche Informationsvorsorge

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einem ausdifferenzierten Richtervorbehalt auch das Gebot, eine parlamentarische Kontrolle über den Einsatz des Informationserhebungsinstumentariums in Wohnungen zu institutionalisieren, Einzug in die Verfassung gefunden. Diese Kontrolle soll zwar auf der Grundlage von Berichten der Regierung erfolgen; sie begnügt sich aber keineswegs mit der allgemeinen Tätigkeit der Sicherheitsbehörden, wie dies bisher vielfach bei der parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste der Fall war. 64 Über das auch gegenüber den Ländern bestehenden Gebot parlamentarischer Kontrolle der Informationserhebung aus Wohnungen hinaus kennen nur wenige Verfassungen eine dem Art. 83 Abs. 3 SächsVerf vergleichbare Regelung, die den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel einer Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane unterstellt, sofern dieser nicht richterlicher Kontrolle unterlegen hat, und die sich auf nachrichtendienstliches Handeln der Polizei interpretativ erstrecken läßt. 65 Damit ist gewiß eine Intensivierung der parlamentarischen Kontrolle verbunden. Eine ähnliche Zweckrichtung verfolgen einzelne Polizeigesetze, die Berichtspflichten gegenüber dem Parlament statuieren, um damit eine kontinuierliche und erhöhte parlamentarische Aufmerksamkeit zu ermöglichen.66 Diese kann mit den grundrechtlich entwickelten Evaluations- und Nachbesserungspflichten 67 sinnvoll abgestimmt werden. c) Organisationsinteme

Kontrollen

In die richtige Richtung weisen auch die vielfältigen Behördenleiter- und Ministervorbehalte, 68 die durch die Hochstufung der Entscheidungsbefugnisse eine Einzelfalldistanz und damit auch eine konzeptionell ausgerichtete Anwendung befördern können und zudem innerorganisatorisch den Entscheidungen ein anderes Gewicht und damit auch eine höhere Aufmerksamkeit für den rechtmäßigen Einsatz verleihen können.69 Ergänzend wird man darüber nachzudenken haben, Kontrollen innerhalb der Verwaltung durch die Bildung von mehr 64 Vgl. § 2 Abs. 1 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes i.d.F. des Gesetzes vom 27.5.1992 (BGBl. I S. 997). 65 SächsVerfGH, LKV 1996, 273 (289); zuvor schon Wahl, Polizei und Geheimdienste in der Sächsischen Verfassung, SächsVBl. 1996, 77 ff. 66

§ 37a NGefAG; § 34 Abs. 7 SOG M-V. - Nunmehr auch Art. 34 Abs. 6 BayPAG in Ausführung des Art. 13 Abs. 6 S. 3 GG. 67

S.o. III. 3.

68

S.o. Fn. 54.

69

Allerdings bestehen gerade bei den Behördenleitervorbehalten erhebliche Unterschiede: Auch wenn man Bestimmungen, nach denen der Einsatz des Informationserhebungsinstrumentariums nur von Beamten des höheren Diensts angeordnet werden kann (§ 25 Abs. 3 ASOG Bin), nicht zu den Behördenleitervorbehalten zählt, so reichen diese doch von der Entscheidungsbefugnis der Dienststellenleiter (§37 Abs. 3 ThürPAG) bis zu der der Polizeipräsidenten (so etwa §§ 9 Abs. 2, 11 Abs. 2, 12 Abs. 4, 13 Abs. 3 HmbgPolDVG).

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oder weniger unabhängigen Kontrastorganen oder Instituten zu stärken, an deren Tätigkeit externe Kontrolle anknüpfen kann; Vorbilder dafür gibt es etwa in Frankreich. 70 Die Aufgaben solcher Kontrastorgane müßten vor allem auch in der Evaluierung der Einsatzstrategien und Prioritäten sowie der Ergebnisse polizeilichen Handelns in diesem Bereich bestehen, um so zu einer Rationalisierung des Mitteleinsatzes beizutragen. Für den Bereich der Nachrichtendienste ist jüngst eine Systematisierung der Kontrolle gefordert worden, um bestehende Leistungsdefizite aufzudecken. Dabei wurde gerade auf die negativen Folgen der Geheimhaltung hingewiesen, auf den fehlenden Ideenaustausch über die Grenzen der Dienste hinaus und auf die Abkapselung ihrer Organisation, die bewirkt, daß auch andauernde Erfolglosigkeit ohne Konsequenzen bleibt. 71 Aus einer prinzipiell gegen heimliche Informationserhebung gerichteten Perspektive mögen diese Effizienzverluste insgeheim begrüßt werden. Aus einer Steuerungsperspektive geht dies aber nicht an; ihr müssen die durch Intransparenz und Kontrollausfall ermöglichten Ineffizienzen auch als Herausforderung erscheinen. d) Das Trennungsgebot Ohne Zweifel hatte das Trennungsgebot die Funktion einer rechtsstaatlichen Sicherung, 72 die neuerdings auch vom Bundesverfassungsgericht nachhaltig betont wird. 73 Durch Separierung von Informationssammlung im Bereich der politischen Sicherheit und polizeilichen Eingriffsbefugnissen werden institutionelle Handlungsschwellen, wenn auch nicht notwendig Informationsbarrieren gelegt. Ungeachtet der nicht ganz einfachen Frage einer verfassungsrechtlichen Verortung des Trennungsgebotes74 haben sich diese Schwellen freilich als wenig wirksam erwiesen. Es kann kein Zweifel bestehen, daß die Polizei für ihren Handlungsbereich nachgerüstet hat und im wesentlichen über nachrichtendienstliche Mittel verfugt, die Nachrichtendienste aber zunehmend mit Aufgaben versehen werden, die dem polizeilichen Bereich entstammen.75 Freilich wird 70 71

Dazu Paeffgen

(Fn. 44), S. 42 f. mit Fn. 103 f.

Borgs-Maciejewski, 361 ff.

Zur parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste, ZRP 1997,

72

Dazu Denninger, KritV 77 (1994), 232 (237 f.).

73

BVerfGE 97, 198 (217).

74

Siehe dazu jüngst BVerfGE 97, 198 (217), sowie Albert, Das „Trennungsgebot" - ein für Polizei und Verfassungsschutz überholtes Entwicklungskonzept, ZRP 1995, 105 ff.; Götz, Innere Sicherheit, in: Isensee /Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 1988, § 79 Rn. 42 f.; Gusy, Das verfassungsrechtliche Gebot der Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten, ZRP 1987, 45 ff.; Roewer, Trennung von Polizei und Verfassungsschutzbehörden, DVB1. 1986, 205 ff.; Borgs, in: Borgs/Ebert, Das Recht der Geheimdienste, 1986, BVerfSchG § 3 Rn. 125 ff.; Denninger, Die Trennung von Verfassungsschutz und Polizei und das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, ZRP 1981, 231 ff. 75

Dazu Gusy, KritV 77 (1994), 242 ff.; Denninger, KritV 77 (1994), 232 ff.

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man darauf dringen können, gerade im Bereich der politisch motivierten Delikte an den rechtsstaatlichen Sicherungen durch Trennung von Informationserhebung und polizeilicher Exekutivmittel festzuhalten und insbesondere den Verfassungsschutzbehörden eine Expansion in das Feld polizeilicher Aufgaben zu untersagen. Im eigentlichen Feld der organisierten Kriminalität versagt demgegenüber die Trennung durch Befugniserweiterungen der Polizei, die letztlich der veränderten Kriminalitätsstruktur Rechnung tragen. V. Ausblick Das Ergebnis ist zweifellos noch nicht befriedigend. Worum es letztlich geht, ist die Entwicklung institutioneller Sicherungen bei Tätigkeiten im Vorfeld unter den Bedingungen ihrer Heimlichkeit. Hierfür stellt der auf Offenheit und Transparenz gegründete Rechtsstaat zunächst einmal wenig Institutionen zur Verfügung. Deren Entwicklung entspricht freilich nicht nur einem Bedürfnis der Sicherung gegenüber der Ausbildung letztlich unkontrollierter Staatsgewalt, sondern auch der Gewährleistung der Effizienz und Akzeptanz dieses Instrumentariums, wenn es denn für erforderlich gehalten wird. Eine sinnvolle rechtliche Konzeption bleibt hier freilich, wie anderwärts auch, auf eine Aufklärung über die Sachbereiche selber, nicht zuletzt durch die Sozial- und Verwaltungswissenschaften angewiesen. Insoweit ist es erstaunlich, daß die Verwaltung des staatlichen Monopols legitimen physischen Zwangs nicht in gleicher Weise Aufmerksamkeit findet, wie der für die Exemplifizierung von Steuerungstheorien offenbar ungleich attraktivere Bereich des Umweltrechts oder der Informationstechnologien. Dabei wird man freilich bei genauerem Hinsehen auch im einst so klassisch eingriffsrechtlich strukturierten Polizeirecht viele anderwärts beobachtbaren Entwicklungen nachzeichnen können. Stichworte wären etwa die Globalisierung der Problemursachen und die Schwierigkeit nationalstaatlicher Lösungsansätze,76 die Europäisierung, 77 die Privatisierung und kooperative Sicherheitsgewährleistungen wie sog. Sicherheitspartnerschaften. 78 Das mag dafür sprechen, daß hier ähnliche Steuerungsprobleme staatlichen Handelns beobachtbar sein werden und Theorien zum Überwa76

Vgl. Pitschas, Innere Sicherheit und internationale Verbrechensbekämpfung als Verantwortung des demokratischen Verfassungsstaates, JZ 1993, 857 ff. 77 S. nur Werner, Schengen und Europa, CR 1997, 34 ff.; Waechter, Demokratische Steuerung und Kontrolle einer europäischen Polizei, ZRP 1996, 167 ff.; Wittkämper/Krevert/Kohl, Europa und die innere Sicherheit (BKA-Forschungsreihe, Bd. 35), 1996; Pitschas, Integrationsprobleme des Polizeirechts in Europa, NVwZ 1994, 625 ff. 78

Grundlegend Jeand'Heur, Von der Gefahrenabwehr als staatlicher Angelegenheit zum Einsatz privater Sicherheitskräfte, AöR 119 (1994), 107 ff.; Pitschas, Gefahrenabwehr durch private Sicherheitsdienste?, DÖV 1997,393 ff. - S. ferner Stober, Staatliches Gewaltmonopol und privates Sicherheitsgewerbe, NJW 1997, 889 ff.; Schulte, Gefahrenabwehr durch private Sicherheitskräfte im Licht des staatlichen Gewaltmonopols, DVB1. 1995, 130 ff.

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chungsstaat ihre Überzeugungskraft durchaus selektiv aus dem hier im Mittelpunkt stehenden Feld polizeilichen Handeln beziehen. Das mag einstweilen dahinstehen. Unübersehbar scheint allerdings, daß eine Reihe der aus dem klassischen Polizeirecht ausgewanderten Fragestellungen in verändertem Gewände wieder in das allgemeine Polizeirecht zurückkehren. Sie mit der andernwärts entwickelten Dogmatik intensiver zu konfrontieren als es hier möglich war, kann dazu beitragen, die Suche nach geeigneten Formen einer rechtsstaatlichen Durchformung jenseits der unfruchtbaren Frontstellung von Überwachungsstaat und effektiver Kriminalitätsbekämpfung anzuregen.

VI. Juristenausbildung

Juristenausbildung: Zwischen Resignation und Hoffnung Von Ingo von Münch

I. Einleitung Bernd Jeand'Heur, zu dessen Gedenken wir uns hier zusammgefunden haben, hat „Das Studium der Rechtswissenschaften zwischen Effizienzdenken, arbeitsmarktpolitischen Überlegungen und rechtsstaatlichen Anforderungen" zum Gegenstand seiner Antrittsvorlesung in Rostock gemacht, fast auf den Tag genau vor einem Jahr.1 Bernd Jeand'Heur gab damit zu erkennen, daß die Juristenausbildung sich nicht nur in Wissensvermittlung erschöpfen sollte, sondern daß wir alle - immer wieder von neuem - die Art und Weise der Juristenausbildung infrage stellen müssen. Die Einladung der Rostocker Juristischen Fakultät zu der heutigen Gedächtnisvorlesung für Bernd Jeand'Heur verstehe ich deshalb als Auftrag, in seinem Geiste Fragen zu stellen. Auch wenn sich dabei weder die blaue Blume der Erkenntnis offenbaren wird 2 noch schnelle Patentlösungen angeboten werden können, so gilt: Wenn noch Fragen gestellt werden, 3 gibt es nicht nur Resignation, sondern auch Hoffnung.

* Der folgende Beitrag ist der (um Anmerkungen ergänzte) Text des Vortrages, den der Verf. als 1. Gedächtnisvorlesung für Bernd Jeand'Heur am 16.1.1998 in Rostock gehalten hat. Die Form des Vortrages ist beibehalten. 1

Veröffentlicht in: Koch (Hrsg.), Herausforderungen an das Recht: Alte Antworten auf neue Fragen? Rostocker Antrittsvorlesungen 1993-1997, 1997, S. 53 ff. 2 Zu der sich nicht offenbaren wollenden blauen Blume der Erkenntnis: Jeand'Heur (Fn. 1), S. 53. 3

An Erörterungen zur Juristenausbildung fehlt es nicht. Vgl. dazu z.B. Böckenförde, Juristenausbildung - auf dem Weg in's Abseits?, JZ 1997, 317 ff.; Böttcher, Empfiehlt es sich, die Juristenausbildung nach Abschluß des Studiums neu zu regeln?, NJW 1998, H. 23, Beil. 24* ff; Bork, Die „große Vorlesung" für Juristen - Handreichungen für eine Massenveranstaltung, JuS 1999, 413 ff.; Flessner, Deutsche Juristenausbildung, JZ 1996, 689 ff.; Foerste, Reform des Jurastudiums im Interesse der Rechtspflege, Jura 1999, 122 ff.; Hesse, Juristenausbildungsreform und kein Ende, ZRP 1995, 401; von Münch, Juristenausbildung, NJW 1998, 2324 ff.; Ranieri, Juristen für Europa: Wahre und falsche Probleme in der derzeitigen Reformdiskussion zur deutschen Juristenausbildung, JZ 1997, 801 ff.; Reifner, Juristenausbildungsdiskussion am Ende?, ZRP 1999, 43 ff.

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Ingo von Münch

II. Lebensalter Keine Frage sondern ein Faktum ist, daß die deutschen Juristen am Ende ihrer Ausbildung älter sind als ihre Kollegen und Kolleginnen in anderen Staaten.4 Das war nicht immer so. Im Jahre 1951 konnte ich mit 18 Jahren das Abitur machen (weil es nur zwölf Schuljahre gab); eine Wehrpflicht existierte damals nicht — wir waren „weiße Jahrgänge" - „zu jung für den vergangenen Krieg, zu alt für den nächsten Krieg". Nach sechs Semestern konnte man sich in Frankfurt am Main, wo ich studierte, zum Examen melden. Das tat ich, und so hatte ich mit 21 das Referendarexamen in der Tasche. Die Wartezeit zwischen bestandenem Referendarexamen und Eintritt in den Vorbereitungsdienst betrug damals, anders als heute, nur wenige Monate. So kam es, daß ich noch mit 25 das Assessorexamen ablegen konnte, dies obwohl die Dauer des Vorbereitungsdienstes damals nicht wie heute 2 Jahre sondern 3 1/2 Jahre währte (zwischenzeitlich wurde noch — mit 24 - promoviert, wobei allerdings die Anforderungen an eine Doktorarbeit damals geringer waren als heute). Die Kürze dieser (meiner) Ausbildungsreise hatte ihren Grund nicht in besonderen Geistesgaben oder übersinnlichen Fähigkeiten, sondern schlicht in zu jener Zeit anderen Regelungen als heute. Die Schulzeit bis zum Abitur wurde im Westen Deutschlands erst 1952 von zwölf auf dreizehn Jahre verlängert. Dies war schon damals ein Fehler. Deshalb ist es umso bedauerlicher, daß nach der Wiedervereinigung Deutschlands auch in den meisten neuen Bundesländern die dreizehnjährige Schulzeit entweder bereits eingeführt wurde oder ihre Einführung beschlossen ist.5 Nur Thüringen und Sachsen sind bisher standhaft bei zwölf Schuljahren - der Regelung zu Zeiten der DDR - geblieben. Fragt man nach den Gründen für die Verlängerung der Schulzeit, so ist die nicht offen gegebene, aber wahre Antwort die, daß damit Arbeitsplätze für Lehrer gesichert werden sollen. Das ist zwar ein verständliches, aber kein billigenswertes Argument; denn: Könnte dieselbe Zahl von Lehrern nicht kleinere Klassen unterrichten? Und: Hat die Entscheidung über die Dauer der Schulzeit sich vorrangig an den Interessen der Lehrer zu orientieren oder - wie ich meine — an den Interessen der Schüler? Das Lebensalter der deutschen Juristen bei Eintritt in den Beruf wird auch durch die in einigen Bundesländern extrem lange Dauer des Verfahrens der Ersten Juristischen Staatsprüfung und durch die in einigen Bundesländern skan4 Vgl. dazu Hoffmann-Riem / Willand, 209 (212). 5

Neue Perspektiven der Juristenausbildung, JuS 1997,

Nicht überzeugend in der Begründung: Birthler, Die Reform der ostdeutschen Schulen im Prozeß der deutschen Einheit - Erfahrungen nicht nur aus Brandenburg, in: Einheit in der Vielfalt. 50 Jahre Kultusministerkonferenz 1948-1998. Hrsg. vom Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 1998, S. 101 ff. (S. 115).

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dalös langen Wartezeiten bis zur Einstellung in den Juristischen Vorbereitungsdienst heraufgeschraubt. 6 Das vergleichsweise hohe Lebensalter der deutschen Jura-Berufsanfänger ist deshalb keine Bagatelle, weil die deutschen Juristen sich mehr und mehr dem europäischen Wettbewerb ausgesetzt sehen werden, in internationalen Anwaltsbüros, internationalen Unternehmen und internationalen Organisationen auch dem Wettbewerb mit ihren erheblich jüngeren amerikanischen Kollegen. I I I . Aufnahmeprüfung Nicht nur für diejenigen Abiturienten, die Jura studieren wollen, aber auch für sie, wird im politischen Raum die Einführung einer Aufnahmeprüfung diskutiert. Die Professoren sollen sich ihre Studenten selbst aussuchen können ist ein vielfach gebrauchtes Argument. Als Vorbild hierfür werden - wie so häufig, aber nicht immer richtig - die USA genannt. Auch in Polen und in der Tschechischen Republik gibt es solche Prüfungen für die Zulassung zum Jurastudium.7 Die Frage ist, ob eine solche Aufnahmeprüfung sinnvoll ist.8 Ich möchte diese Frage jedenfalls für das Jurastudium verneinen, womit - wegen dieser Beschränkung auf das Jurastudium - nichts zum Nutzen oder NichtNutzen von Aufnahmeprüfungen für andere Studienfacher, wie z.B. Medizin oder künstlerische Fächer, ausgesagt wird. Das Jurastudium setzt, anders als das Studium künstlerischer oder naturwissenschaftlicher Fächer, nicht ganz besondere, spezifische Fähigkeiten und Begabungen voraus. Weil dem so ist, vermag ich nicht zu sehen, wie eine sinnvolle Aufnahmeprüfung für Jurastudenten aussehen könnte, wenn sie nicht bloße Allgemeinbildung oder bloßes Geschichtswissen abfragt. Es macht wohl auch einen Unterschied, ob man in einer Fernsehsendung mit dem Thema „Wie würden Sie entscheiden?" auf einen „Ja" oder „Nein"-Knopf oder auf einen „Schuldig" oder „Unschuldig"-Knopf drückt, oder ob ein Bewerber für das Jurastudium in einer Aufnahmeprüfung einen Rechtsfall argumentativ lösen soll. In der Praxis würde die Einführung von Aufnahmeprüfungen zu massenhaften Vielfachbewerbungen und zu einem Bewerbungstourismus führen, von der zusätzlichen Belastung der Prüferprofessoren ganz abgesehen. Solange das Grundgesetz in Artikel 12 Absatz 1 die freie Wahl der Ausbildungsstätte garan6

Vgl. dazu von Münch, Auf der Suche nach der gestohlenen Zeit, NJW 1996, 1390 ff.

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Bejahend z.B.: Simitis/Stolleis, Erneuerung, aber welche? Zur Reform der Juristenausbildung - Eine Antwort, F.A.Z. Nr. 265 v. 14.11.1997, S. 44. 8

Lt. Auskunft des Prodekans der Juristischen Fakultät der Karls-Universität Prag, Jiri Zemänek, bewerben sich an dieser Fakultät jährlich 6.000 Studienbewerber; von ihnen werden 700 aufgenommen. 28 GS Jeand' Heur

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tiert, und solange der Staat für die Juristenausbildung das Ausbildungsmonopol besitzt,9 sollten Türen nicht zu früh verschlossen werden. Ich bin gegen verschlossene Türen. Wer Jura studieren will, sollte jedenfalls die Möglichkeit haben, dieses Studium zu beginnen.10 Das bedeutet keinen einklagbaren Rechtsanspruch auf einen späteren Arbeitsplatz in einem juristischen oder in einem anderen Beruf, nicht einmal einen Anspruch auf Bestehen des Examens. Aber überhaupt das Jurastudium aufnehmen zu können bedeutet die Chance, sich selber zu testen, sich zu entwickeln oder sich für einen anderen beruflichen Lebensweg zu entscheiden, aber allerdings auch das Risiko des Scheiterns. Es gibt keine Freiheit ohne Risiko. Das Huhn, das frei herumläuft, kann vom Habicht geschlagen werden, nur das Huhn in der Legehennenbatterie nicht. IV. Universitäres Abschlußexamen Nicht aus dem Bereich der Politik, sondern aus dem der Jurafakultäten selbst kommt die neuerdings wieder erhobene Forderung, das Referendarexamen — korrekt formuliert: die Erste juristische Staatsprüfung - durch ein Universitätsabschlußexamen zu ersetzen. Einer der prominentesten Vertreter dieser Auffassung, der Hamburger Zivilrechtler Hein Kötz, leitet seinen diesbezüglichen Aufsatz „Zehn Thesen zum Elend der deutschen Juristenausbildung" in der Zeitschrift für Europäisches Privatrecht wie folgt ein: „Jeder weiß, daß die deutsche Juristenausbildung an schweren Mängeln leidet. Aber nicht jeder weiß, daß diese Mängel letztlich eine einzige Ursache haben. Sie liegt darin, daß die juristische Ausbildung zwar an einer Universität stattfindet, daß aber über den Erfolg der Ausbildung eine Staatsprüfimg entscheidet, die von einer Prüfüngsbehörde abgenommen wird und deren Inhalt bis ins letzte Detail durch staatliche Vorschriften reguliert ist. Die deutsche Juristenausbildung wird sich erst dann von ihren Mängeln befreien, modernisieren und international wettbewerbsfähig machen lassen, wenn dieser entscheidende Strukturfehler beseitigt, nämlich die Staatsprüfung durch ein Universitätsexamen ersetzt ist, dessen Abschlußnote sich aus dem gewichteten artithmetischen Mittel der Noten ergibt, die der Student während der gesamten Dauer seines Studiums in den Einzelprüfungen am Schluß der von ihm besuchten Lehrveranstaltungen erzielt hat". 11

9 Dieses Ausbildungsmonopol wird auf die Dauer nicht aufrechterhalten werden können. In vielen anderen europäischen (und außereuropäischen) Ländern gibt es längst private Universitäten mit juristischen Fakultäten, z.B. in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal. Überlegungen zur Gründung der ersten privaten Law School in Deutschland stellt seit 1997 die ZEIT-Stiftung an. 10 Deshalb bin ich ein strikter Gegner des Numerus clausus; vgl. dazu von Münch, Liberale Hochschulpolitik - was ist das?, liberal 1978, 353 ff. 11

In: ZEuP 1996, 565 ff. (565).

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Keine Frage ist, daß die Juristenausbildung an unseren Universitäten Mängel aufweist. 12 Keine Frage ist auch, daß die während des Studiums erbrachten Leistungen zu wenig in die Note der Ersten juristischen Staatsprüfung einfließen. Aber die Frage ist, ob allein deshalb das bestehende Staatsexamen zugunsten eines neu zu schaffenden Universitätsabschlußexamens abgeschafft werden sollte. 13 Im Ergebnis möchte ich — obwohl ich etliche Gedanken in der Argumentation von Hein Kötz für sehr beachtlich halte — die Frage verneinen, also am Ersten juristischen Staatsexamen festhalten, und zwar aus folgenden Gründen: 1. Solange der Vorbereitungsdienst für das Zweite juristische Staatsexamen (also der Referendardienst) existiert, wird der Staat auf eine Eingangsprüfung für diesen „seinen" Vorbereitungsdienst nicht verzichten wollen und können. Das bedeutet im Ergebnis, daß ein Universitätsabschlußexamen nicht an die Stelle der Ersten juristischen Staatsprüfung treten wird, sondern zusätzlich eingeführt werden wird. Ein Examen mehr ist eine Schinderei mehr. Aus dem alten Griechenland ist zwar der Spruch überliefert: „Der nicht geschundene Mensch ist nicht erzogen". Aber dies ist gewiß nicht die klügste Lebensweisheit. 2. Recht kommt von gerecht. Prüflingen von Studenten der Rechtswissenschaft müssen, soweit wie irgendmöglich, gerecht sein. Die Erste juristische Staatsprüfung mit ihren anonymisierten schriftlichen Arbeiten und einer gemischten Prüferbank von Universitätsprofessoren und Praktikern im mündlichen Examen ist das gerechteste Prüfungsverfahren, das ich kenne. Es gibt hier anders als bei Universitätsabschlußexamen - keine persönliche Abhängigkeit von einem bestimmten Prüfer. Auch kann man sich im juristischen Staatsexamen — anders als bei den Universitätsexamen — den Prüfer nicht danach aussuchen, ob er ein „Softie" ist (dann Zulauf) oder ein „Rasiermesser" (dann kein Zulauf). Jedenfalls ist die Erste juristische Staatsprüfung noch eine wirklich echte Prüfung, mit einer differenzierten Notenvergabe und dem nicht seltenen Ausgang des Nichtbestehens. Wer die erste juristische Staatsprüfung bestanden hat, ist durch einen Härtetest gegangen, wie es ihn jedenfalls im Prüfungsbereich der Geisteswissenschaften kaum woanders gibt. 14 Ein „ausreichend" in Jura ist eine bessere Note als in vielen anderen Fächern. Ich kann dies deshalb beurteilen, weil ich seit vielen Jahren in Hamburg Studenten der Politikwissen12 Ein unübersehbares Zeichen dafür ist der Zulauf zum Repetitor, den es in dieser Form in keinem anderen Studienfach gibt. 13

Ernsthaft erwogen sollte dagegen werden, ob nicht anstelle der Ersten juristischen Staatsprüfung sondern als zusätzliche, alternative Möglichkeit ein Universitätsabschlußexamen eingeführt werden sollte, z.B. für nicht in Deutschland ständig lebende Ausländer, die erfahrungsgemäß große Schwierigkeiten haben, das Referendarexamen zu bestehen. 14 Lt. Jahresbericht des Landesjustizprüfungsamtes Mecklenburg-Vorpommern haben im Prüfungstermin Winter 1997 45,26 % der Kandidaten in Greifswald und 43,41 % in Rostock, im Prüfungstermin Sommer 1997 49,66 % in Greifswald und 51,28 % in Rostock die Erste juristische Staatsprüfung nicht bestanden.

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schaft, der Geschichte, der Germanistik, Anglistik, Romanistik, Islamwissenschaft, Psychologie und Völkerkunde in dem von ihnen gewählten Nebenfach „Öffentliches Recht" prüfe. Fast immer ist die Note im Hauptfach jenes Universitätsabschlußexamens (Magister oder Diplom) „Sehr Gut" oder „Gut". Als ich kürzlich einer Studentin der Politikwissenschaft in dem von mir geprüften Nebenfach „Öffentliches Recht" „nur" die Note „Gut" gab, fing sie an zu weinen. Ich wußte nicht, wie ich sie trösten sollte. Am liebsten hätte ich ihr gesagt: „Wenn Sie eine Juristin wären und im Referendarexamen ,Gut' bekommen hätten, würden Sie auch weinen, allerdings nicht aus Enttäuschung sondern aus Freude." 15 V. Spezialisierung Keine Freude können dagegen Erwägungen bereiten, die in jüngster Zeit angestellt werden, und die auf eine frühe Spezialisierung hinzielen. 16 Nach diesen Vorstellungen soll sich schon der Student spezialisieren. Es geht also nicht darum, daß der Student - was wünschenwert ist — sich für ein Wahlfach interessiert, sondern es geht darum, daß die Kernfacher Zivilrecht, Strafrecht und Öffentliches Recht nicht mehr entscheidend sein sollen. Dies kann weder für den später im Beruf tätigen Juristen selber noch für die Rechtskultur als Teil des Zusammenlebens aller Menschen in einer Gesellschaft, gleichgültig ob Juristen oder Nichtjuristen, sinnvoll sein. Es kann auch - das Ideal von Wilhelm von Humboldt hin oder her - nicht Sinn einer universitären Ausbildung sein, schon im 5. Semester den Spezialisten für das Recht der GmbH & Co KG auszubilden. Wollen wir eine Universität, wollen wir eine juristische Fakultät, die einen jungen Studenten zum „Rechtswirt für Weinrecht" ausbildet?17 Ich meine: nein. Der Überblick über das Ganze ist gerade für junge Juristen allemal wichtiger als der Einblick in Einzelheiten. Jede zu frühe Spezialisierung vermindert die beruflichen Chancen der jungen Juristen. Wichtig ist, daß der junge Jurist sich möglichst viele Optionen offenhalten kann. Auch birgt eine zu frühe Spezialisierung die Gefahr, daß der Student sich auf ein Fach wirft, das z.Zt. gerade „in" ist, also auf ein modisches Fach.18 Schließlich: es kann nicht Sinn einer vernünftigen Juristenausbildung sein, sog. Fachidioten zu züchten. 15 Von den insgesamt 365 Kandidaten, die im Jahre 1997 an der Ersten juristischen Staatsprüfung in Mecklenburg-Vorpommern teilnahmen, erreichten nur vier Kandidaten die Note „gut", also weniger als 1,1 % (Quelle wie oben, Fn. 14). 16 In diese Richtung zielen wohl die Vorschläge von Hoffmann-Riem / Willand (Fn. 4), 209: „ausdifferenzierte Ausbildungsgänge". 17

Dies ist kein ausgedachtes Beispiel, sondern ein Hinweis auf tatsächlich vorhandene Erwägungen zur Einfuhrung eines universitären Abschlußexamens im Weinrecht. 18 Nicht auszuschließen ist auch die Gefahr, daß Hochschullehrer, die ein spezielles Fach vertreten, aus „Fachegoismus" zu einer Spezialisierung raten.

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VI. Einheitlicher Vorbereitungsdienst Abzulehnen sind deshalb auch neuere Pläne, welche die einheitliche Ausbildung im Vorbereitungsdienst abschaffen wollen zugunsten einer Aufspaltung in eine Ausbildung für Anwaltsjuristen einerseits und Justiz- und Verwaltungsjuristen andererseits. 19 Eine solche frühe Spezialisierung verengt nicht nur die späteren Optionsmöglichkeiten des Berufsanfangers, sondern schafft auch Barrieren zwischen Anwälten einerseits und Richtern und Verwaltungsbeamten andererseits, die nicht nur für die betreffenden Berufe selbst, sondern auch für die „Kunden" (Klienten etc.) aller juristischen Berufe von Nachteil sind. Ich selbst bin jedenfalls noch heute dankbar für die breitgefacherte Ausbildung, die ich während meiner Referendarausbildung erhalten habe. Dies gilt gerade auch für solche Ausbildungsstationen, die für meine spätere berufliche Tätigkeit nicht von unmittelbarem Nutzen waren. Ich habe z.B. weder als Staatsrechtsund Völkerrechtslehrer noch als zeitweilig in der Politik Tätiger beruflich etwas mit Gefangnissen (heutige Bezeichnung: Justizvollzugsanstalten) zu tun gehabt. Dennoch — oder vielleicht gerade deshalb - möchte ich die Zeit nicht missen, die ich als Referendar in einem Jugendgefangnis (zur Ausbildung, nicht als Insasse) verbracht habe. Es gibt im Leben jedes Menschen Eindrücke und Erlebnisse, die wichtig sind, auch wenn sich daraus keine klingende Münze schlagen läßt. Nie vergessen werde ich im Zuchthaus Butzbach in Hessen, das ich im Zuge jener Ausbildungsstation besuchte, einen halbdunklen Raum, in dem mehr als ein Dutzend Männer Körbe flochten. Die Atmosphäre in dem Raum schien mir besonders dumpf und bedrückend zu sein. Auf meine Frage an den Aufsicht fuhrenden Beamten, um was für Strafgefangene es sich handele, kam die Auskunft „alles Lebenslängliche". Auch das werde ich nicht vergessen. Den einheitlichen juristischen Vorbereitungsdienst abzuschaffen wäre m.E. ein großer Fehler. 20 V I I . Verbesserungen im Studium Die Ausbildung des Juristen während des Vorbereitungsdienstes hat der Staat in der Hand, konkret die Justizverwaltung, nicht die Universität. Was könnte die Universität für die Zeit des Studiums an Veränderungen andenken? In der Zeit, in der ich in Hamburg als Senator für Wissenschaft und Forschung tätig war (1987-1991), habe ich dem dortigen Fachbereich Rechts19

Solche Pläne werden vor allem vom Deutschen Anwaltverein und den Präsidenten der Anwaltskammern gehegt (veröffentlicht in AnwBl. 1997, 102 f.). 20 Vgl. dazu z.B. Hattenhauer, Einheit des Juristenstandes und Einheit der Rechtsordnung, ZRP 1997, 234 ff.; von Münch, Flut und Ebbe in der Juristenausbildungsreform, NJW 1997, 2576 ff.; ders., Abschied vom Referendar?, NJW 1999, 618 ff.

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Wissenschaft I einen Modellversuch vorgeschlagen, der die Einteilung des Studienjahres in zwei Semester zugunsten von drei Semestern (Trimester) ändern sollte. Mein Beweggrund dafür war nicht, künstlich zusätzlich Lehrkapazitäten zu schaffen, sondern eine stärkere Konzentration der Hochschullehrer auf die Lehre einerseits und auf die Forschung andererseits zu ermöglichen. Ich weiß nicht, ob meine Kollegen und Kolleginnen an der Juristischen Fakultät in Rostock dies genau so sehen: Was uns streßt, was uns fast kaputt macht, ist das dauernde Umschaltenmüssen von Forschung auf Lehre und von Lehre auf Forschung: man arbeitet an einem schon lange versprochenen Aufsatz für eine Fachzeitschrift und hat dabei ein schlechtes Gewissen, weil man eigentlich die Vorlesungen vorbereiten muß. Man bereitet die Vorlesung vor und hat ein schlechtes Gewissen, weil man eigentlich eine längst fallige Buchbesprechung abliefern muß. Man arbeitet an der Buchbesprechung und hat ein schlechtes Gewissen, weil man eigentlich einen Vortrag ausarbeiten muß. Man arbeitet an einem Vortrag und hat ein schlechtes Gewissen, weil man eigentlich den Aufsatz fertigstellen müßte. Das permanente schlechte Gewissen ist eine Schraube ohne Ende. Wenn man stattdessen das Jahr - so war meine Überlegung — in zwei Lehrsemester und ein Forschungssemester aufteilen würde, käme man aus dieser Schraube vielleicht heraus.21 Der Fachbereich hat diese Anregung damals nicht aufgenommen. Es ist alles beim alten geblieben. Das Problem des Dauernd-Umschalten-Müssens bei der herkömmlichen Vorlesungsverteilung stellt sich aber nicht nur für die Hochschullehrer sondern auch für die Studenten: Der Student hat an einer normalen deutschen Jura-Fakultät an ein und demselben Tag vielleicht zwei Stunden Öffentliches Recht, zwei Stunden Zivilrecht und zwei Stunden Strafrecht zu hören. 22 Das bedeutet: Einschalten, abschalten, umschalten. Mir kommt das so vor, als ob jemand an ein und demselben Tag ein Jazzkonzert, eine Oper und ein Volkslied anhören soll. Ein Hamburger Student, der ein Gutachten für eine Bewerbung nach USA von mir haben wollte, erläuterte mir seinen freien Freitag damit: „Es lohnt sich für mich zeitlich nicht, von Ohlsdorf zur Universität nur wegen zwei Stunden Vorlesung zu fahren". 23 Wir sind in Deutschland Gefangene des Prinzips der SWS (Semesterwochenstunden): Jeder Hochschullehrer muß pro Woche acht Stunden Lehrveranstaltungen halten (das bedeutet nicht: nur acht Stunden Arbeitszeit; auch der Journalist arbeitet mehr als nur die Stunden, in denen er 21

Wenn ich richtig informiert bin, gibt es dieses Modell bereits in den Niederlanden. - Die jährliche Lehrverpflichtung der Hochschullehrer sollte sich damit jedoch nicht verringern, d.h. die zwei Lehrsemester würden mit einer entsprechend höheren Lehrverpflichtung verbunden sein. 22 Ein Mißstand der Studienplangestaltung ist, daß die Stundenpläne der Fakultäten sich in der Regel mehr nach den Wünschen und Eigenheiten der Hochschullehrer richten als nach den Bedürfnissen der Studenten. 23 In Ohlsdorf befindet sich der zentrale Friedhof der Stadt Hamburg. Dieser war aber damit nicht gemeint, sondern der Stadtteil, in dem jener Student wohnte.

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schreibt, und der Berufsfußballspieler arbeitet mehr als 90 Minuten pro Woche). In Südafrika haben die Hochschullehrer nicht eine nach Wochenstunden festgelegte Lehrverpflichtung, sondern eine bestimmte Lehrverpflichtung pro Jahr. Das ermöglicht z.B. das Blocken von Lehrveranstaltungen in speziell zugeschnittenen Zeiteinheiten. Ist es nicht vielleicht sinnvoller, eine Vorlesung statt drei Monate lang je eine oder zwei oder drei Stunden zu halten, diese in einem kürzeren Zeitraum mit dann eben mehr Wochenstunden an die Studenten zu bringen? Auch stellt sich die Frage, ob die Einteilung der Vorlesungen auf einzelne Semester sinnvoll ist. Ich möchte dies am Beispiel des Staatsrechtes erläutern (ich bin sicher, daß man dasselbe Beispiel für alle anderen Rechtsgebiete, übrigens auch für die Wahlfacher, nehmen könnte): Worum geht es konkret? Nach den Studienplänen der meisten Jura-Fakultäten in Deutschland ist das Staatsrecht nach dem 2. Semester zu Ende: Es ist „abgehakt". Im 3. Semester kommt noch die Übung im Öffentlichen Recht für Anfänger und am Ende des Studiums ein Wiederholungskurs. Dazwischen - also zwischen 2. / 3. und 7. / 8. Semester ist im Staatsrecht das große Loch, herrscht insoweit die gähnende Leere. Und: In der staatsrechtlichen Vorlesung „Die Grundrechte" (an einigen Jura-Fakultäten im Studienplan des ersten Semesters, an anderen Jura-Fakultäten im Studienplan des zweiten Semesters) soll ich das Grundrecht auf Ehe und Familie erläutern. Die Vorlesung Familienrecht ist aber erst im 3. oder 4. Semester „dran". Ich soll das Grundrecht des Eigentums und des Erbrechts erläutern. Erbrecht ist aber wieder erst im 3. oder 4. oder vielleicht erst im 5. Semester vorgesehen. Wie soll ich im ersten oder zweiten Semester das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit von Arbeitnehmern und Arbeitgebern (die sog. Koalitionsfreiheit) erklären, wenn die Studenten noch kein kollektives Arbeitsrecht gehört haben? Ich soll die Einschränkungen des Grundrechts des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses erläutern — aber die Vorlesungsteilnehmer wissen noch nichts vom Strafprozeßrecht — usw. usw. Die Reform müßte dahingehen, daß wir durchgehend vom 1.-8. Semester jedenfalls die Hauptvorlesungen anbieten, in Stufen, die vom Einfachen in's Schwierige klettern, koordiniert mit dem Stufenbau der anderen Fächer. Dieses Modell setzt eine enge Kooperation zwischen den Kollegen voraus. Der deutsche Professor ist ein Einzelkämpfer. Am liebsten sitzt er am Schreibtisch seines Stübchens, umgeben von vielen Büchern (von denen er tatsächlich nur wenige braucht; deshalb könnte er etliche seiner Bücher der Universitätsbibliothek schenken. Oder wie wär's wenigstens mit einer Leihgabe?).24 24 Leihgaben von Hochschullehrern an die Bibliothek ihrer Fakultät sind selten. Umgekehrt leihen Hochschullehrer und wissenschaftliche Mitarbeiter nicht selten Bücher schamlos lange aus, die dann den Studenten und vor allem den Examenskandidaten fehlen. Wenn ausgeliehene Bücher mit einem sich mit wachsendem Zeitablauf versehenen Summerton versehen wären, herrschte in etlichen Wohnungen der Ausleiher ein ziemlicher Geräuschpegel.

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Jeder einzelne ist liebenswert und sympathisch, viele sind excellente Forscher. Nur mit dem pädagogischen Geschick und der Zuwendung an Studenten hapert es gelegentlich. Seit vielen Jahren lasse ich mir in dem Vorstellungsgespräch der Kandidaten der mündlichen Examenstermine berichten, wie die Studenten ihr Jurastudium empfunden haben, und was sie Positives und Negatives referieren könnten. Die Berichte sind z.T. vernichtend. Hier einige Beispiele dafür: „Das Jurastudium war einschläfernd". „Der Anspruch im Examen deckte sich nicht mit dem, was an der Universität gelehrt wurde". „Während des Studiums geht die Fähigkeit zu sprechen verloren: In den großen Vorlesungen gibt es eine Hemmschwelle vor dem Sich-Melden; auch will man nicht aufhalten". „Das Studium ist unpersönlich. Von einigen Professoren geht eine Welle des Desinteresses aus". Aber auch: „Viele Studenten fühlen sich in dem Massenbetrieb wohl, weil sie nicht arbeiten wollen". „Viele Professoren sind offensichtlich an Kontakten mit Studenten nicht interessiert. Wenn man als Student diese Tendenz spürt, schottet man sich ab". „Seminare waren die einzige Lehrveranstaltung, wo man sich wohlgefuhlt hat". „Einige Hochschullehrer sind in der Lehre so schwach, daß es sich nicht lohnt, in ihre Vorlesungen zu gehen". Und besonders hart: „Einige Professoren sind in der Lehre schlicht unfähig; sie sollten entlassen werden". 25 Pädagogisches Geschick hat jemand, oder er/sie hat es nicht. 26 Jedenfalls gilt: Auch als Schwimmlehrer wird nicht jemand eingestellt, weil er Bücher über Schwimmen geschrieben hat, sondern weil er /sie das Schwimmen beibringen kann. Bernd Jeand'Heur war, so wird überliefert, ein begeisterter Lehrer. Vom heiligen Augustinus stammt das Wort: „Wer selbst nicht brennt (gemeint ist: vor Leidenschaft), wird andere nicht anstecken" (gemeint ist: motivieren). Bernd Jeand'Heur war ein solcher leidenschaftlicher Rechtslehrer, der seine Studenten motiviert hat. Eine Gedächtnisvorlesung soll an die Vergangenheit erinnern, aber auch in die Zukunft weisen. Versuchen wir deshalb, es Bernd Jeand'Heur hierin nachzutun.

25 26

Alle diese Zitate sind wörtliche, also authentische Wiedergaben.

Von dem früheren Rostocker Strafrechtslehrer Urs Kindhäuser stammt der zutreffende Spruch: „Der eine kann's, der andere kann's nicht"; zitiert bei von Münch, Das Studium als Abbruchunternehmen. Wie verbessert man die Hochschullehre?, F.A.Z. Nr. 81 vom 6.4.1993, S. 33.

Schriftenverzeichnis Bernd JeancTHeur* I. Monographien, Bücher 1. Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit (Dissertation), Berlin 1989, 211 S. 2. Der Kindeswohl-Begriff aus verfassungsrechtlicher Sicht. Ein Rechtsgutachten, Bonn (Verlag Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe) 1991, 72 S. 3. Elternwille und staatliches Bestimmungsrecht bei der Wahl der Schullaufbahn. Die gesetzlichen Grundlagen und Grenzen der Ausgestaltung von Aufnahme- bzw. Übergangsverfahren für den Besuch weiterführender Schulen (zusammen mit H. Avenarius), Berlin 1992, 82 S. 4. Verfassungsrechtliche Schutzgebote zum Wohl des Kindes und staatliche Interventionspflichten aus der Garantienorm des Art. 6 Abs. 2 S. 2 GG (Habilitation), Berlin 1993, 331 S. 5. Nordrhein-Westfälisches Verwaltungsrecht. Übungs- und Examensklausurenkurs (zusammen mit R. Christensen), Stuttgart 1995, 223 S. 6. Zukunftsperspektiven der Freien Schule - Dokumentation, Diskussion und praktische Folgen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit dem Finanzhilfe-Urteil (hrsg. zusammen mit F. Müller), 2. Aufl. Berlin 1996, 274 S. 7. Lehrbuch des Staatskirchenrechts (zusammen mit Stefan Korioth), Stuttgart (in Vorbereitung)

II. Aufsätze, Fallbearbeitungen, Urteilsanmerkungen 8. Methodische Analyse, freiheitsrechtliche und leistungsrechtliche Konsequenzen des Finanzhilfe-Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 8.4.1987, in: F. Müller (Hrsg.), Zukunftsperspektiven der Freien Schule, Berlin 1988, S. 67-115; zugleich abgedruckt in Nr. 6 (dort S. 4 7 - 9 1 ) 9. Themen einer problembezogenen Zusammenarbeit zwischen Rechtstheorie und Linguistik (zusammen mit R. Christensen), in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, Berlin 1989, S. 9 - 1 3 10. Gemeinsame Probleme der Sprach- und Rechtswissenschaft aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, Berlin 1989, S. 17-27 * Erstellt von Friedrich

Müller, Stand: Mai 1999.

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Schriftenverzeichnis Bernd Jeand'Heur

11. Der Normtext: Schwer von Begriff oder Über das Suchen und Finden von Begriffsmerkmalen. Einige Bemerkungen zum Referenzverhältnis von Normtext und Sachverhalt, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, Berlin 1989, S. 1 4 9 - 1 8 9 12. Privatschulgarantie und Sozialhilfe (zusammen mit R. Christensen), in: Beiträge zum Recht der sozialen Dienste und Einrichtungen, H. 9, 1990, S. 5 3 - 6 7 13. Weitergeltung des Grundgesetzes oder Verabschiedung einer neuen Verfassung in einem vereinigten Deutschland?, in: DÖV, 1990, Heft 20, S. 873-879 14. Aktenzeichen Y X ... noch immer ungelöst? (zusammen mit D. Czybulka), in: Juristische Arbeitsblätter (JA) 1990, Heft 12, S. 240-246 15. Urteilsanmerkung zu BGH, Urt. v. 21.6.1990 (Henry Miller - Opus pistorum/ Kunstfreiheit und Jugendschutz bei pornographischen Schriften), in: StrafVerteidiger, 1991, Heft 4, S. 165-167 16. Der Begriff der „Staatskirche" in seiner historischen Entwicklung. Die Interpretation von Artikel 137 Absatz 1 WRV im Zeitpunkt seines Inkrafttretens und sein Einfluß auf die politische Einstellung erheblicher Teile des deutschen Protestantismus zum Verfassungs„system" von Weimar, in: Der Staat 30 (1991), Heft 3, S. 442-467 17. Das Amtshaftungsrecht in der Fallbearbeitung (zusammen mit D. Czybulka), in: JuS, 1992, Heft 5, S. 396-401 18. Kindeswohl, staatliches Wächteramt und Reform des Kinder- und Jugendhilferechts. Zur garantienormrechtlichen Dimensionserweiterung von Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG und ihren Auswirkungen auf die Interpretation des KJHG, in: RdJB 1992, Heft 2, S. 165-175 19. Jus divinum oder BGB: Eintragung von Religionsgemeinschaften in das Vereinsregister? Entscheidungsrenzension zu BVerfGE 83, 341, in: JuS, 1992, Heft 10, S. 830-834 20. Kooperation und Koordination von Weiterbildungsträgem (zusammen mit Richter), in: I. Richter, Recht der Weiterbildung, Baden-Baden 1993, 5. Kap., S. 195-236 21. Von der Gefahrenabwehr als staatlicher Angelegenheit zum Einsatz privater Sicherheitskräfte. Einige rechtspolitische und verfassungsrechtliche Anmerkungen, in: AöR 119 (1994), Heft 1, S. 107-136 22. Grundrechte, staatliche Schutzpflichten und Untermaßverbot (zu BVerfGE 88, 203 - 2. Urteil zum Schwangerschaftsabbruch), in: RdJB 1994, Heft 1, S. 9 1 - 9 9 23. „Der große Wurf* — Übungsklausur Öffentliches Recht für Fortgeschrittene (zusammen mit R. Christensen), in: Jura 1994, Heft 6, S. 327-331 24. Würde und Wohl des Kindes im Verfassungsrecht, in: Bienemann u.a. (Hrsg.), Handbuch des Kinder- und Jugendschutzes, Münster 1995, S. 14-16 25. Grundrechte im Spannungsverhältnis zwischen subjektiven Freiheitsgarantien und objektiven Grundsatznormen. Zur Erweiterung der Grundrechtsfünktionen und deren Auswirkungen auf die Grundrechtsdogmatik, in: JZ 1995, Heft 4, S. 161 — 167

Schriftenverzeichnis Bernd Jeand'Heur 26. Bestimmtheitsgrundsatz und Gesetzesauslegung. Das BVerfG korrigiert seine Interpretation des Gewalt-Begriffs in § 240 Abs. 1 StGB, in: NJ 1995, Heft 9, S. 4 6 5 467 27. Formales oder materiales Konsensprinzip? Die Frage nach der Legitimation des Staates vor dem Hintergrund der neueren Sozialkontraktstheorien, in: ARSP 81 (1995), Heft 4, S. 453-464 28. Gibt es Satzungen mit nur „deklaratorischem" Gehalt? Zugleich ein Beitrag zur Auslegung von § 34 IV Nr. 1 BauGB, in: NVwZ 1995, Heft 12, S. 1174-1178 29. Der praktische Fall - Öffentliches Recht: Verbraucherschutz vor Mikrowellen (mit V.M. Jorczyk), in: JuS 1997, Heft 8, S. 728 - 734 30. Die neuere Fachsprache der juristischen Wissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung von Verfassungsrecht und Rechtsmethodik, in: H. Hoffmann/H. Kalverkämpfer/H.E. Wiegand (Hrsg.), Fachsprachen, 1. Halbband, Berlin/New York 1998, S. 1286 - 1295 31. Bedeutungstheorie in Sprachwissenschaft und Rechtswissenschaft. Der KruzifixBeschluß aus rechtslinguistischer Sicht, in: W. Brugger /St. Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule. Zur religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, Baden-Baden 1998, S. 155 - 164 32. Zulassung privater Grundschulen, in: F.-R. Jach/S. Jenker (Hrsg.), Autonomie der staatlichen Schule und freies Schulwesen. Festschrift zum 65. Geburtstag von J.P. Vogel, Berlin 1998, S. 105 - 120 33. Das Studium der Rechtswissenschaften zwischen Effizienzdenken, arbeitsmarktpolitischen Überlegungen und rechtsstaatlichen Anforderungen, in: Herausforderungen an das Recht - alte Antworten auf neue Fragen? Rostocker Antrittsvorlesungen 1993 - 1997, hrsg. im Auftrag der Juristischen Fakultät der Universität Rostock von H. Koch, Berlin 1997, S. 5 3 - 7 6 34. dass., in: JuS 1999, Heft 5, S. 423-429 35. Science du langage et science du droit: problèmes communs du point de vue de la théorie structurante du droit (Gemeinsame Probleme der Sprach- und Rechtswissenschaft aus der Sicht der Strukturierenden Rechtslehre, vgl. Nr. 9), übersetzt von O. Jouanjan und F. Müller, in: DROITS. Revue Française de Théorie Juridique, Nr. 29, 1999 (im Erscheinen) 36. Der praktische Fall - Öffentliches Recht: Warnungen vor Sekten (zusammen mit W. Cremer), in JuS 1999 (erscheint demnächst) I I I . Buchbesprechungen, Berichte u.a. 37. Bildung, Planung und Zukunft. Bericht von der 12. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Bildungsverwaltung, in: Deutsche Lehrerzeitung (DLZ) 1991, Heft 47, S. 5, bzw.: Zeitschrift für Bildungsverwaltung (ZBV) 1991, Heft 2 / 3 , S. 108-110 38. Franz Ferdinand Siegfried, Ver sacrum. Fünf Skizzen zur Entstehungsgeschichte und Bedeutung des demokratischen und sozialen Rechtsstaates. Rezension, in: Neue Justiz 1992, Heft 5, S. 211

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Schriftenverzeichnis Bernd Jeand'Heur

39. Rechtsexpertenforum des Hessischen Kultusministeriums zum Entwurf für ein Hessisches Schulgesetz - ein Bericht, in: Im Gespräch - Mit dem Hessischen Kultusminister, Heft 2: Rechtswissenschaftler zum Schulgesetz, Wiesbaden 1992, S. 4 3 - 6 9 40. Joseph Listl / Dietrich Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Erster Band, Beriin 1994. Rezension, in: AöR 120 (1995), Heft 1, S. 1 4 3 - 1 4 8 41. Hermann Butzer/Volker Epping, Arbeitstechnik im Öffentlichen Recht - Vom Sachverhalt zur Lösung, Stuttgart 1994. Rezension, in: NWVB1. 1995, Heft 7, S. 280 42. Holger Matuschak, Europäisches Gemeinschaftsrecht im Verhältnis zum deutschen Städtebaurecht, Münster 1994. Rezension, in: Zeitschrift für angewandte Umweltforschung (ZAU), 1995, Heft 8, S. 418-419 43. Günther Winkler, Rechtswissenschaft und Rechtserfahrung - Methoden und erkenntniskritische Gedanken über Hans Kelsens Lehre und das Verwaltungsrecht, Wien u.a. 1994. Rezension, in: AöR, 120 (1995), Heft 4, S. 635-638. 44. Gregor Bachmann, Probleme des Rechtsschutzes gegen Grundrechtseingriffe im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, Berlin 1994. Besprechung, in: AöR 120 (1995), Heft 4, S. 663-665. 45. Sönke Anders, Die Schulgesetzgebung der neuen Bundesländer. Eine verfassungsrechtliche Untersuchung über die vorläufige Schulgesetzgebung nach Maßgabe des Einigungsvertrages, Weinheim u.a. 1995. Rezension, in: Landes- und Kommunalverwaltung (LKV) 1996, Heft 3, S. 99 46. Wolfgang Bock, Das für alle geltende Gesetz und die kirchliche Selbstbestimmung. Eine verfassungsrechtliche Untersuchung am Beispiel des Amtsrechts der evangelischen Kirchen (Jus Ecclesiastieum, Bd. 55), Tübingen 1996. Rezension, in: NJW 1997, Heft 3, S. 182-183 47. Peter M. Huber (Hrsg.), Das Ziel der europäischen Integration (Schriften des Hellmuth-Loening-Zentrums für Staatswissenschaften Jena, Bd. 2), Berlin 1996. Rezension in: AöR 122 (1997), Heft 3, S. 493 ff

IV. Widmungen 1. F. Müller/R. Christensen/M. Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit. Zum Gedenken an Bernd Jeand'Heur 1956-1997, Berlin 1997 2. H. Fetzer, Der Tausendsakerment! Bildung, Recht und Verwaltung im Spiegel von Rezensionen. Für Prof. Dr. Bernd Jeand'Heur 1956 bis 1997, Frankfurt a.M. 1997 3. F. Müller/R. Wimmer (Hrsg.), Neue Untersuchungen zur Rechtslinguistik. Dem Gedenken an Bernd Jeand'Heur (in Vorbereitung)

V. Würdigungen 1. W. Erbguth, Bernd Jeand'Heur * 6.2.1956, 115.2.1997, in: Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Anlage zum Rundschreiben Nr. 1 /1997

Schriftenverzeichnis Bernd Jeand'Heur 2. F. Müller, Bernd Jeand'Heur f, in: NJW 1997, S. 1549 3. H. Avenarius, In memoriam Bernd Jeand'Heur (1956 - 1997), in: Zeitschrift für internationale erziehungs- und sozialwissenschaftliche Forschung, 14. Jg. 1997, S. 387 - 3 8 8 4. O. Jouanjan /F. Müller, Bernd Jeand'Heur (1956-1997), in: DROITS. Revue Française de Théorie Juridique, Nr. 29, 1999, S. 141 f.

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Hermann Avenarius, Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung, Frankfurt a.M. Jan Castendiek, Wiss. Angestellter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Sozialrecht, Juristische Fakultät der Universität Rostock Dr. iur. Dr. phil. Ralph Christensen, tätig im Sprachvollzug als Repetitor in Köln, Bonn und Würzburg Dr. Wolfram Cremer, Wiss. Assistent am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte, Juristische Fakultät der Universität Rostock Prof. Dr. Detlef Czybulka, Universität Rostock, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für allgemeines und besonderes Verwaltungsrecht, Verwaltungslehre, Staats- und Finanzrecht; Richter am Oberverwaltungsgericht Mecklenburg-Vorpommern Prof. Dr. Wilfried Erbguth, Universität Rostock, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht unter besonderer Berücksichtigung des Verwaltungsrechts; Geschäftsführender Direktor des Ostseeinstituts für Seerecht und Umweltrecht Torsten Keim, Wiss. Assistent am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte, Juristische Fakultät der Universität Rostock Dr. Thorsten Kingreen, Wiss. Assistent am Institut für Öffentliches Recht und Politik, Juristische Fakultät der Universität Münster Prof. Dr. Hans-Joachim Koch, Universität Hamburg, Fachbereich Rechtswissenschaft, Geschäftsführender Direktor der Forschungsstelle Umweltrecht; Richter am Oberverwaltungsgericht Hamburg a.D. Prof. Dr. Stefan Korioth, Universität Greifswald, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht (Staatsrecht, Verfassungsgeschichte, Staatslehre) Prof. Dr. Friedrich Müller, Universität Heidelberg, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Staatsrecht, Verwaltungsrecht, Kirchenrecht, Rechts- und Staatsphilosophie, Rechtstheorie (1971 -1989) Prof. (emerit.) Dr. Ingo von Münch, Universität Hamburg

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Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Volker Neumann, Universität Rostock, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Sozialrecht Prof. Dr. Bodo Pieroth, Universität Münster, Juristische Fakultät, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Politik Prof. Dr. Ingo Richter, Direktor des Deutschen Jugendinstituts München, Honorarprofessor an der Universität Tübingen Prof. Dr. Bernhard Schlink, Humboldt-Universität Berlin, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie Prof. Dr. Hans-Joachim Schütz, Universität Rostock, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht und Internationale Beziehungen Prof. Dr. Reinhard Singer, Universität Rostock, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Arbeits- und Handelsrecht sowie juristische Methodenlehre Michael Sokolowski,

Germanist und freier Schriftsteller in Heidelberg

Prof. Dr. Hans-Heinrich Trute, Technische Universität Dresden, Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Verwaltungsrecht sowie Verwaltungswissenschaften und Rechtsvergleichung Prof. Dr. Johann Peter Vogel, Rechtsanwalt (Schul- und Bildungsrecht), Berlin Prof. Dr. Ralph Weber, Universität Rostock, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht und Rechtsgeschichte