Rechtsgespräch und kreativer Dissens: Zugleich ein Beitrag zur Bedeutung der Sprache in der interpretativen Praxis des Zivilprozesses [1 ed.] 9783428503759, 9783428103751

Dem Jehringschen "Kampf um's Recht" ist in der gegenwärtigen Dogmatik des Zivilprozesses eher ein Schatte

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Rechtsgespräch und kreativer Dissens: Zugleich ein Beitrag zur Bedeutung der Sprache in der interpretativen Praxis des Zivilprozesses [1 ed.]
 9783428503759, 9783428103751

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JOACHIM GOEBEL

Rechtsgespräch und kreativer Dissens

Schriften zur Rechtstheorie Heft 200

Rechtsgespräch und kreativer Dissens Zugleich ein Beitrag zur Bedeutung der Sprache in der interpretativen Praxis des Zivilprozesses

Von Joachim Goebel

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Goebel, Joachim: Rechtsgespräch und kreativer Dissens : zugleich ein Beitrag zur Bedeutung der Sprache in der interpretativen Praxis des Zivilprozesses / von Joachim Goebel. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 200) ISBN 3-428-10375-0

Alle Rechte vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-10375-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Gewidmet Marcus und Heike Meinhardt

Vorwort Dem Jheringschen Kampf um's Recht ist derzeit keine große Konjunktur beschieden. Konsensualistische Handlungsformen wie Mediation und gütliche Konfliktbeilegung gelten als effektiver und schneller im Zuge des allgemein propagierten Willens zu einer raschen Interessendurchsetzung. Zudem dominiert die rechtspolitische Agenda derzeit - wie schon so oft - das Schlag wort des Zivilprozesses als , knappe Ressource Recht*. Damit einher wird nach mehr Bürgernähe gerufen - auch dies ist wieder ein Leitwort, welches mehr und mehr die Arenen und Foren der rechtspolitischen Auseinandersetzung über das rechte Verständnis der Aufgaben des heutigen Zivilprozesses beherrscht. Eine auf Konsensfindung ausgerichtete, implizite Teleologie des zivilprozessualen Geschehens wird im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter verfolgt. Vielmehr wird genau dasjenige focussiert, welches oftmals als eine geradezu „abgestandene" Vokabel abgetan und dazu noch als Ausdruck eines unzeitgemäßen altliberalistischen Denkens angeprangert wird: Es ist dies die Metaphorik eines zivilprozessualen „Kampfs" um das Recht - und zwar eines Kampfs, der in der gewaltlosen Form eines prozessualen Rechtsgesprächs stattfindet, in dem die Sprache des Rechts ihre subversive Kraft entfalten kann und darf. Eine derartige Rückbesinnung auf das Jheringsche Kampfmodell hat Gründe: Es wird gezeigt werden, daß dem Rechtsgespräch eine Funktion inhärent ist, die einen weiteren Baustein zu dem zivilverfahrensrechtlichen Projekt liefert, die Figur der unparteilichen Rechtsanwendung für die Bedingungen der prozessualen Moderne zu retten - und zwar so zu retten, daß in der Rechtsanwendungssituation des gerichtlichen Verfahrens das kantische Projekt der Republik, nach der sich die Bürger als gemeinsame Autoren des Rechts begreifen dürfen, nicht verloren geht. Die Idee der Republik und die prozessuale Figur des Rechtsgesprächs sind gewissermaßen verschwistert, um dem Zivilprozeß eine unparteiliche Normanwendung zu sichern. Mit Blick hierauf wird versucht, das Rechtsgespräch als eine genuin zivilprozessuale Figur zu etablieren. Dieser Versuch stand und steht nicht allein in der Landschaft der prozessualen Dogm a t i l Anders ist freilich der Focus, auf den hin die Figur des Rechtsgesprächs in dieser Untersuchung entfaltet wird: Sie ist nicht - wie dies zumeist vorgeschlagen wird - auf einen Konsens zwischen den Parteien ausgerichtet, sondern sucht anhand eines kreativen Dissenses im Rechtsverständnis zwischen dem Gericht und den Parteien jene Kreativitätspotentiale zu bergen, die in den jeweiligen Lebensformen der sich über das rechte Verständnis des Rechts auseinandersetzenden Prozeßbeteiligten angelegt sind. Anhand dieser Kreativitätspotentiale gilt es, die Kraft zu mobilisieren, die eine unparteiliche Normanwendung auch in jener prozessualen Situation wahrscheinlich werden läßt, in der das rechte Verständnis des Rechts über verschiedene Lebensformen hinweg gefunden werden muß. Das Rechtsgespräch hat in die-

8

Vorwort

ser Perspektive nichts mehr mit einer als „Diskursidylle" denunzierten Konzeption des gerichtlichen Verfahrens als schiedlich-friedlichen Diskurs gemein. Die Studie verbindet dezidiert die Theorie und die Dogmatik des Rechts. Dies kommt nicht von ungefähr. Zwar haben sich im innerdisziplinären Diskurs Rechtstheorie und Rechtsdogmatik stellenweise so gegeneinander ausdifferenziert, daß eine wechselseitige Wahrnehmung kaum noch stattfindet. Die heuristischen Potentiale, welche in dem disziplinären Gespräch zwischen Theorie und Dogmatik verborgen sind, bleiben dabei notwendig auf der Strecke. Mit eines der Ziele dieser Arbeit ist es denn auch, die heuristischen Potentiale von Theorie für die praktische Dogmatik an dem Beispiel der praktischen Figur des Rechtsgesprächs aufzuzeigen. Der vornehmliche theoretische Focus der Arbeit ist dabei ein sprachtheoretischer. Auch dies kommt nicht von ungefähr, gilt es doch seit geraumer Zeit nahezu als Allgemeinplatz, daß einer der angemessensten Zugänge auch zu normativen Phänomenen der sprachtheoretische ist. Die Untersuchung entstand im Rahmen der Arbeiten an meiner Habilitation. Es ist mir nicht nur Ausdruck eines guten akademischen Brauchs, sondern auch ein besonderes Anliegen, an dieser Stelle meinem akademischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Peter Gottwald, Universität Regensburg, aufrichtig zu danken. Ihm verdanke ich neben vielen Dingen auch die Einsicht, daß Sprache nicht nur unter dem Blickwinkel ihrer Theorie, sondern auch unter dem ihrer Rhetorik etwas ist, dem ein pfleglicher Umgang beschieden sein sollte. Ich hoffe, daß trotz aller Unzulänglichkeiten meinerseits die Untersuchung eine les- und verstehbare Fassung erhalten hat. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für die Gewährung einer pauschalen Druckkostenbeihilfe. Im Dank einschließen möchte ich schließlich auch den Geschäftsführer des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Prof. Dr. Norbert Simon, für die Aufnahme in die Reihe Schriften zur Rechtstheorie.

Köln und Regensburg, im August 2000

Joachim Goebel

Inhaltsübersicht Einleitung § 1 Rechtsgespräch und der Kampf um's Recht heute

17

Teil 1 Sprache - Rechtsgespräch Kapitel 1 Sprachtheoretische Skizzen § 2 Sprache und Handeln: Versuch einer Skizze

26

§ 3 Die Vertrautheit rechtlichen Sprechens im hermeneutischen Theorienkontext

48

§ 4 Unvertrautheit unserer Praxis als Phänomen der Zerstreuung von Sprache

51

§ 5 Rechtstheoretische Gegenentwürfe zum hiesigen Sprachverständnis

66

Kapitel 2 Diskussion bisheriger Ansätze § 6 Rechtsgespräch und Diskurstheorie des Rechts

88

§7 Rechtsgespräch und zivilprozessualer Kampf

98

§ 8 Rechtsgespräch und Wertungsjurisprudenz: Prozessuale Gerechtigkeit und materielle Prozeßleitung 101 § 9 Rechtsgespräch und Ineinssetzung von Privatautonomie und Recht

103

§10 Ergebnis zur Diskussion bisheriger rechtsdogmatischer Ansätze zum Rechtsgespräch 107 Teil 2 Rechtsgespräch - Interpretative Praxis Kapitel 3 Die interpretative Praxis des Zivilprozesses §11 Die Praxis des Recht-Sprechens

109

§12 Die Normativität des Rechts in der interpretativen Praxis zivilgerichtlicher Verfahren 135

10

Inhaltsübersicht Kapitel 4 Rechtsgespräch und kreativer Dissens

§ 13 Rechtsgespräch und interpretative Praxis des Zivilprozesses

150

§ 14 Exkurs: Zivilprozeß und Rechtswissenschaft

161

§ 15 Die normativen Implikationen der Wahl einer Sprachtheorie

178

§ 16 Rechtsgespräch und kreativer Dissens

184

Schlußbemerkung § 17 Statt einer Zusammenfassung

200

Literaturverzeichnis

203

Personen- und Stichwortverzeichnis

225

Inhaltsverzeichnis Einleitung §1 Rechtsgespräch und der Kampf um's Recht heute I. These: Das Rechtsgespräch als ein semantischer Kampf II. Begrifflichkeit III. Rechtsdogmatische Einwände gegen eine gerichtliche Pflicht zum Rechtsgespräch IV. Weiteres Vorgehen

17 18 21 22 24

Teil 1 Sprache - Rechtsgespräch Kapitel 1 Sprachtheoretische Skizzen § 2 Sprache und Handeln: Versuch einer Skizze I. Nochmals: Warum ein Exkurs? II. Sprache als regelgeleitetes Handeln 1. Regeln des Sprachgebrauchs 2. Sprachspiel und Lebensform 3. Verstehen als Fähigkeit einer korrekten Regelanwendung 4. Sprachliche Regel und Regelformulierung III. Was soll Sprachtheorie leisten? - Kritik an Wittgenstein IV. Was bleibt: Die Frage nach der Vertrautheit von sozialen Praxen

26 26 28 29 32 37 39 42 45

§ 3 Die Vertrautheit rechtlichen Sprechens im hermeneutischen Theorienkontext. I. Die Analogizität von Sprache im Rahmen der Hermeneutik II. Hermeneutisches Praxisvertrauen

48 48 49

§ 4 Unvertrautheit unserer Praxis als Phänomen der Zerstreuung von Sprache .... 51 I. Differenz 52 1. Dekonstruktion und Struktur 52 2. Differenzen - Spuren - différance 53 3. Entgrenzung - Zerstreuung 55 II. Gegenangriff I: Die Kritik durch die Searlsche Sprechakttheorie 56 1. Beherrschbarkeit des Sprachgebrauchs und Sprechakttheorie 57 2. Das Problem des „more or less perfectly" 57 III. Gegenangriff II: Derrida als Protagonist eines aporetischen Denkens? 59 1. Widersprüchlichkeiten im Denken? 60 2. Randgänge 62

12

Inhaltsverzeichnis 3. Verborgene Regeln 4. Puralität und Vernunft

63 65

§ 5 Rechtstheoretische Gegenentwürfe zum hiesigen Sprachverständnis I. Logische Semantik und juristische Methode 1. Das Sprachmodell der Logischen Semantik 2. Kritik II. Sprachanalytik und Rekurs auf den Willen des Gesetzgebers 1. Der Autor als Einheit und Ursprung von Bedeutung 2. Kritik III. Klassische Hermeneutik 1. Überblick 2. Die Klassische Hermeneutik: Emilio Betti 3. Einfrieren von Sprache in der ,Sache Recht'? IV. Vermittlungen: Autor-Intention und Zerstreuung von Sprache? 1. Unhintergehbarkeit der Individualität versus Unhintergehbarkeit der Sprache 2. Sprachtheoretische Leerstellen des Rekurs auf Individualität V. Ergebnis

66 67 67 69 73 73 74 78 78 79 81 82 83 84 86

Kapitel 2 Diskussion bisheriger Ansätze § 6 Rechtsgespräch und Diskurstheorie des Rechts I. Theoretischer Focus: Konsens II. Recht und kommunikativen Handeln: Eine sinnvolle Verschränkung? 1. Restriktionen des kommunikativen Handelns a) Diskurs und Lebensform b) Richterliche Entscheidung und praktische Richtigkeit 2. Residualkategorie: Dissens und Institution a) Strategisches Handeln b) Welche Faktizität? c) Prozeß und Vergleich

88 88 90 91 92 93 95 95 97 97

§ 7 Rechtsgespräch und zivilprozessualer Kampf I. Theoretischer Focus: Strategischer Dissens II. Die Heuristik des Kampfmodells

98 98 99

§ 8 Rechtsgespräch und Wertungsjurisprudenz: Prozessuale Gerechtigkeit und materielle Prozeßleitung 101 I. Theoretischer Focus: Die rechtsdogmatische Begründungstradition 101 II. Das Verhältnis von richterlicher Fürsorge und Privatautonomie 102 § 9 Rechtsgespräch und Ineinssetzung von Privatautonomie und Recht I. Theoretischer Focus: Ineinssetzung von Privatautonomie und Recht II. Restriktionen und Residualkategorien eines idealistischen Ansatzes

103 103 105

§ 10 Ergebnis zur Diskussion bisheriger rechtsdogmatischer Ansätze zum Rechtsgespräch 107 I. Zusammenfassung 107 II. Weiteres Vorgehen 107

Inhaltsverzeichnis Teil 2 Rechtsgespräch - Interpretative Praxis Kapitel 3 Die interpretative Praxis des Zivilprozesses § 11 Die Praxis des Recht-Sprechens I. Der implizite Focus der herrschenden prozessualen Rechtsanwendungslehre ... II. Die sprachtheoretische Verunsicherung des herrschenden Rechtsparadigmas ... 1. Das Spiel um Bedeutung 2. Regelskeptizismus? III. Recht und juristische Praxis 1. Verweis des Rechts auf Praxis 2. Verschwinden des Rechts in der reinen auctoritas? IV. Die Destabilisierung des Gebrauchs sprachlicher Regeln: Was dann? 1. Blinde Macht versus reflektierte Macht des Recht-Sprechens 2. „Reflexion" im Gebrauch sprachlicher Regeln 3. Kontexte und ihre Überschreitung a) Versionen von Kontexten des Sprechens aa) Absoluter Kontext - partikularistischer Kontext bb) Der transformative Kontext des Recht-Sprechens b) Beispiele für die Vorstellung eines rigiden Kontextsrichterlichen Sprechens c) Rechtfertigung oder Rhetorik?

109 109 112 112 114 116 116 118 121 121 122 125 125 126 128 130 133

§ 12 Die Normativität des Rechts in der interpretativen Praxis zivilgerichtlicher Verfahren 135 I. Das Gebot unparteilicher Normanwendung 135 1. Angemessenheit und Norm 136 a) Normbegründung und Normanwendung 136 b) Unparteiliche Normanwendung I: Die Anwendung 137 c) Unparteiliche Normanwendung II: Die Unparteilichkeit 139 2. Unparteilichkeit als Aufruf zur Übersteigung von Lebensformen 140 3. Unparteiliche Normanwendung III: Die Norm 144 II. Produktive Unruhe im Rechtssystem 145 1. Die Ordnungsleistung des Rechts: Schwankungen 146 2. Ergänzung 147 Kapitel 4 Rechtsgespräch und kreativer Dissens §13 Rechtsgespräch und interpretative Praxis des Zivilprozesses I. Rechtsgespräch als Konfrontation von Lebensformen 1. Das Rechtsgespräch als Transfermedium zwischen Lebensformen 2. Prozeßrecht als Informationsrecht 3. Prozeßrecht und responsive Rationalität

150 150 150 152 152

14

Inhaltsverzeichnis 4. Die Kompetenz der Parteien

154

II. Zivilprozeß und die gemeinsame Normbetroffenheit aller Bürger: Die interpretative Praxis des Rechts 155 1. Zivilprozeß und das Projekt der Verfassung a) Unparteilichkeit in der Abfolge zivilgerichtlicher Verfahren

155 155

b) Verflüssigungen

156

c) Mechanismen zum Schutz der destabilisierenden Einstellung

159

2. Rechtsgespräch und Demokratie § 14 Exkurs: Zivilprozeß und Rechtswissenschaft I. Die Idee einer differenzorientierten Rechtswissenschaft 1. Das destabilisierende Potential der Rechtswissenschaft

160 161 162 162

2. Plädoyer für freirechtliches Denken und für eine Destruktion des Rechts? .. 166 3. Überbordende Theorie?

169

4. Jenseits von konservativistisch oder traditionsvergessen

170

5. Absicherung

171

II. Ergänzungen 1. Die Betonung des Anderen

172 173

2. Teilsystemspezifische Rechtsdogmatiken

174

3. Verlust der Handlungs- und Entscheidungswissenschaft des Rechts?

175

§ 15 Die normativen Implikationen der Wahl einer Sprachtheorie I. Alter Wein in neuen Schläuchen? II. Chancen § 16 Rechtsgespräch und kreativer Dissens I. Jenseits diskursiver Idyllen und strategischer Kämpfe

178 178 180 184 184

1. Das Rechtsgespräch als kreativer Dissens

184

2. Residualkategorien?

185

II. Die Implementation des Rechtsgesprächs im zivilprozessualen Rechtstext

186

1. Diskussion möglicher zivilprozeßrechtlicher Grundlagen einer richterlichen Pflicht zum Rechtsgespräch 187 a) § 504 ZPO, § 139 II ZPO, § 278 II 2 ZPO b) §278 III ZPO c) §1391 ZPO d) §278 I I ZPO

187 188 188 : 189

e) Art. 103 I G G als Schutznorm 189 2. Art. 103 I GG als grundlegende Verfahrensnorm - die materielle Prozeßleitung des Gerichts 192 3. Umfang und Grenzen der zivilprozessualen Pflicht zum Rechtsgespräch

193

a) Die Unbestimmtheit der richterlichen Pflicht zum Rechtsgespräch

194

b) Rechtsgespräch undrichterliche Unparteilichkeit

196

c) Sonstige Kritik gegenüber der Rechtsfigur „Rechtsgespräch"

197

d) Rechtsgespräch und Rechtmittel 4. Ergebnis zur Dogmatik des Rechtsgesprächs

198 198

Inhaltsverzeichnis

15

Schlußbemerkung § 17 Statt einer Zusammenfassung

200

Literaturverzeichnis

203

Personen- und Stichwortverzeichnis

225

„Es ist alles subjektiv" sagt ihr: aber schon Das ist Auslegung. Das „Subjekt" ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, Dahinter-Gestecktes. - Ist es zuletzt nöthig, den Interpreten noch hinter die Interpretation zu setzen? Schon Das ist Dichtung, Hypothese. Soweit überhaupt das Wort „Erkenntnis" Sinn hat, ist die Welt unerkennbar: aber sie ist anders deutbar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne. - „Perspektivismus". Unsere Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen; unsere Triebe und deren Für und Wider. Jeder Trieb ist eine Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive, welche er als Norm allen übrigen Trieben aufzwängen möchte. Friedrich

Nietzsche

Einleitung § 1 Rechtsgespräch und der Kampf um's Recht heute Die „Behauptung der Person selbst und ihres Rechtsgefühls", heißt es in der Kampfschrift Jherings2, sei dem Kläger idealer Zweck des Zivilprozesses. Damit „das Recht sich verwirkliche", wäre ihm daher der Kampf um das Recht als „Pflicht des Berechtigten gegen sich selbst" aufgegeben 3. Durch diese Metaphorik des funktional auf Verwirklichung des objektiven Rechts gerichteten Kampfes des einzelnen schimmert ein Prozeßverständnis durch, das aus heutiger Sicht und nach zahlreichen Prozeßrechtsnovellen oftmals befremdlich wirkt. Für den „Zivilprozeß der Zukunft" wird mehr und mehr der konsensuale Aspekt gerichtlicher Verfahren unterstrichen4 und das Streitige im Rechtsstreit nicht mehr ohne weiteres mit »Kampf übersetzt5. Alternativen im und zum Recht standen und stehen mehr denn je auf der Agenda nicht nur des politischen Handelns, sondern auch auf dem Tableau rechtsdogmatischer Reflexionen über Sinn und Unsinn streitigen Verhandeins vor Gericht 6. Dem Jheringschen Kampf scheint damit heute ein rechtsdogmatisches Schattendasein beschieden zu sein. Doch ist in der Gesamttendenz die zivilprozessuale 1

Nietzsche, Der Wille zur Macht, 337. Rudolf von Jhering, Der Kampf um's Recht, 78. 3 Jhering, Der Kampf um's Recht, 80. 4 Siehe etwa die bundesrechtlich in § 15 a EGZPO (Art. 1 des Gesetzes zur Föderung der außergerichtlichen Streitbeilegung, BGBl. 11999, 2400) den Ländern eingeräumte Möglichkeit, bei bestimmten Konstellationen vor dem streitigen Verfahren einen Güteversuch vorzusehen. 5 Aus dem reichhaltigen Schriftum siehe nur jüngst/?. Greger, JZ 1997, 1077 ff. (1077 das Zitat). 6 Siehe zu Alternativen im und zum Recht die Übersicht bei Goebel y Zivilprozeßrechtsdogmatik und Verfahrenssoziologie, 241 ff., 269ff., 289ff. 2

2 Goebel

1

18

Einleitung

Distanz zu Jhering der richtige Weg? Genauer: Gilt die Abkehr von Jhering auch für die prozessuale Situation, in der die Interpretation des materiellen und formellen Rechts zur Rede steht? Kann und muß der Jheringsche Ansatz für diese prozessuale Situation nicht so reformuliert werden, daß er einen sinnvollen Baustein für eine angemessene zeitgenössische Theorie des Zivilprozesses bereitstellen kann? Mit diesen Fragen ist eine zentrale Stelle des heutigen Prozeßverständnisses markiert: Wie verhält sich der rechtsprechende Staat (der Richter) zu seinen Bürgern (die Prozeßparteien), wenn im Prozeß die aufgegebene Ordnung des „gemeinsamen Richtigen"7 (das Recht) gesucht wird? Kann dieses Verhältnis auch heute noch - wenigstens in bestimmter Hinsicht - als (i) Rechtsan wendung vor dem Hintergrund (ii) eines Kampfes der Parteien rekonstruiert werden?

I. These: Das Rechtsgespräch als ein semantischer Kampf Dieses Verhältnis von Rechtsanwendung und Parteienkampf soll im folgenden anhand einer Rechtsfigur diskutiert werden, die sowohl für Konsens und Dissens offen ist als auch einen Bezug zur richterlichen Interpretation des Rechts aufweist. Eine derartige Rechtsfigur ist das „Rechtsgespräch". Es wird gezeigt werden, daß das Rechtsgespräch8 als Ausdruck eines semantischen Kampfes um das Recht im Rahmen einer interpretativen Praxis des Zivilprozesses konzipiert zu werden vermag. Was heißt das? Semantischer Kampf bedeutet hier nichts anderes als ein Streit um die Gebrauchsweise eines gesetzlichen Ausdrucks 9, mithin als die Verwandlung des harrschen Widerstreits zwischen den Parteien um ihr Recht in einen geregelten Konflikt über die Bedeutung des Normtexts 10. Der Jheringsche Interessen- und Rechtsstreit wird damit als ein semantischer Kampf reformuliert. Dies allein wäre freilich weniger interessant. Wichtiger ist, daß das Rechtsgespräch als ein semantischer Kampf konzipiert werden kann, welcher rechtlich als genuin positiv zu bewerten ist. Und dies wiederum liegt daran, daß - wie ebenfalls demonstriert werden wird - dieser Kampf im wesentlichen das Kreativitätspotential des Sprechens über Recht für den Prozeß fruchtbar macht, welches in dem Dissens der Parteien über die rechte Interpretation des gegebenen Normbestandes kulminiert: Es gilt, den kreativen Dissens der Parteien für den Zivilprozeß produktiv einzubringen. Dies: daß der (semantische) Kampfs um's Recht zivilprozessual genuin positiv zu bewerten ist, ist die eine Zentralthese dieser Arbeit. Die weitere Zentralthese lautet: Der Richter ist von Gesetzes wegen verpflichtet, mit den Parteien ein Rechtsgespräch zu führen, wenn diese es verlangen - wobei Genaueres zu Art und Umfang dieser Pflicht hier noch offen bleiben soll und erst später geklärt werden wird. 7

Hans Ryffel Rechts- und Staatsphilosophie, insbes. 289ff., 338 ff. Siehe zur genaueren Begriffsbestimmung sogleich. 9 Definition nach Wimmer/Christensen, in: Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 27 (40 f.). 10 Friedrich Müller/Christensen/Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 55. 8

§ 1 Rechtsgespräch und der Kampf um's Recht heute

19

Die geschilderte Funktion des Rechtsgesprächs ist überaus wichtig: Es wird gezeigt werden, daß Recht und Gesetz nicht in Texten lokalisiert werden kann, sondern in der Praxis des sozialen Handelns situiert: in der Praxis des Sprechens über Recht, mithin etwa im Handeln der Rechtsprechung oder im Diskurs der Rechtswissenschaft. Mit dieser Einsicht ist zugleich die weitere Erkenntnis verbunden, daß bei einer Gründung des Rechts in Praxis die Gefahr besteht, daß das Rechtliche im Recht (also der Bezug von Recht und Gesetz auf das, was man gemeinhin mit „Gerechtigkeit" bezeichnet: die rechtsphilosophisch verstandene Geltung des Rechts; das richtige Recht) in der reinen Faktizität einer Machtökonomie des Recht-Sprechens verschwindet. Mit Blick auf diese Gefahr wird sodann herausgearbeitet werden, daß das Rechtsgespräch einen Baustein bereitstellt, damit das in der Praxis des Rechts eingeschlossene Rechtliche eben gerade nicht in der reinen Faktizität einer Rechtsprechungsmacht verschwindet. Das ist der eine Aspekt. Darüberhinaus ist das Rechtsgespräch auch ein wichtiges Instrument, um dem Gebot unparteilicher Normanwendung in praxi zu seinem Recht zu verhelfen: Es wird sich als ein gewichtiges Medium erweisen, welches dem Richter prozessual die Möglichkeit verbessert, diesem Gebot in seinem Handeln (Recht-Sprechen) Rechnung zu tragen. Das klingt alles reichlich kryptisch. Die Begrifflichkeiten „semantischer" Kampf, „interpretative" Praxis, „Kreativitätspotential" des Sprechens, „Recht-Sprechen", „Gebot unparteilicher Normanwendung" und ähnliches mehr entziehen sich bisher noch einer näheren Bestimmung. Ähnliches gilt für den Rekurs auf die „Faktizität einer Machtökonomie" und die Verbindung von Rechtsgespräch und unparteiliche Normanwendung. Die genauere Erläuterung, was mit all dem gemeint ist, soll nicht weiter im Rahmen dieser einleitenden Worte, sondern erst später aufgegriffen werden. Zu vieles müßte schon hier erläutert und ausführlich dargelegt werden. Allein der Begriff des „Recht-Sprechens" sei schon hier präzisiert: Die schon etymologisch im Begriff der Rechtsprechung durchschimmernde Verbindung von Recht und Sprechen wird üblicherweise nicht besonderes hervorgehoben. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit hingegen wird es gerade umgekehrt sein: Es wird viel von dem in der Sprache (und damit verbunden: von dem im Sprechen) verborgenen Potential die Rede sein. Insofern rückt „Recht-Sprechen" die Sprachlichkeit des Vorgangs „Rechtsprechung" und die hieraus sich ergebenden Implikationen in den Vorderpunkt der weiteren Betrachtungen. Der Begriff „Recht-Sprechen" ist daher mit Bedacht gewählt. Ansonsten sei vorerst als Fazit im Vorgriff auf das Ergebnis dieser Studie notiert: Es wird sich zeigen lassen, daß der im Rechtsgespräch verkörperte semantische Kampf zwischen den Parteien und dem Gericht sich zu Recht in die Praxis des Zivilprozesses und seiner Normen als ein normativer Standard des zivilprozessualen Umgangs mit dem Recht einschreibt. Die These, das Rechtsgespräch sei als ein semantischer Kampf zu konzipieren, wird in einer zwar nicht eine schiedlich-friedliche Diskursidylle bemühenden, aber durchaus zwischen Konsens (Vergleich, Konfliktlösung) und Konflikt changieren2*

Einleitung

20 11

den Dogmatik des Zivilprozesses wohl auf breiten Widerstand stoßen. Die These gilt es daher besonders abzusichern. Die Absicherung greift hierbei - für einen dogmatischen Gestus eher unüblich - recht weit auf solche Überlegungen zurück, die von der ein oder anderen Warte aus als „rein theoretisch" ins Abseits zivilprozessualer Betrachtungen verwiesen werden könnten - freilich zu unrecht. Denn der Lauf der Überlegungen wird zeigen, wie stark Theorie und Dogmatik intern im Problem des Rechtsgesprächs untrennbar miteinander verklammert sind. Im Durchgang durch die Probleme, die die Rechtsfigur »Rechtsgespräch4 aufweist, wird es sich deshalb als unumgänglich zeigen, größere sprach- und rechtstheoretische Exkurse einzustreuen. Ansonsten bliebe der hier vertretene Standpunkt zum Rechtsgespräch unverständlich und fordert Kritik geradezu heraus, wenn nicht die grundlegenden Überlegungen, auf denen er ruht, ausführlich dargelegt sind. Die eingestreuten Exkurse dienen also sowohl der Absicherung gegen Kritik als auch dem Unterfangen, den hier vertretenen Standpunkt plastischer zu konturieren. Damit verbietet sich eine kurzgehaltene, bloß schlagwortartige Umschreibung der aus hiesiger Sicht für notwendig erachteten theoretischen Grundlagen des Rechtsgesprächs von selbst. Derartige Kurzformeln haben so ihre Tücken: Bloße Schlagwörter verdecken häufig mehr als sie klären. Zudem tragen sie zur Gefahr bei, in ihrem feuilletonistischen Gestus persuasiv zu wirken. Schließlich schöpfen sie nicht das Differenzierungspotential aus, welches adäquate Theorie zur Erleichterung der dogmatischen Arbeit am Recht bereitstellen kann. Daraus folgt zugleich, daß nur bei einer relativ ausführlichen Beschäftigung mit den Dingen diejenigen Leitentscheidungen zur Kenntnis genommen werden können, die den Eigenwert des jeweiligen Denkens ausmacht. Dies kann an einem Beispiel gezeigt werden, welches mit dem Rechtsgespräch selbst nichts zu tun hat, welches aber gleichwohl die Kosten einer zu abstrakten Herangehensweise an die Prismen der Theorie gut veranschaulichen kann. Es ist dies das Verhältnis des Kritischen Rationalismus und der Hermeneutik im Hinblick auf die Probleme rechtsdogmatischer Arbeit. So kann durchaus zwischen dem Vorhaben des Kritischen Rationalismus und dem der Hermeneutik bei hinreichender Abstraktion eine vermeintlich lapidare Gemeinsamkeit (die Subjektbezogenheit wissenschaftlicher Erkenntnis) festgestellt werden. Diese Gemeinsamkeit nimmt dann aber leicht den Charakter alltäglichen Wissens an und erscheint als eine „Allerweltswahrheit", für die man kaum auf eine Theorie zurückgreifen bräuchte. Es besteht dann die Gefahr, den theoretischen Aufwand als völlig unverhältnismäßig zum praktischen Ertrag zu sehen12. Bei derartigen Abstraktionen 11

Dazu nur Peter Gottwald, ZZP 95 (1982), 245 (260f.). Unklar deshalb Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 66f., hinsichtlich der philosophischen Hermeneutik Gadamers und des Kritischen Rationalismus Poppers. Für den Nutzen von Sprachtheorie für die dogmatische Detailarbeit, siehe etwa die auf der Basis Wittgensteins entwickelten Überlegungen Grasnicks, in: Simon/Stegmaier (Hrsg.), Fremde Vernunft, 194 (222 ff.), zum Nachweis des strafrechtlich relevanten Vorsatzes, oder die Erwägungen Alwarts, Recht und Handlung, 1987, zum strafrechtlichen Handungsbegriff. Zu Bydlinski siehe ansonsten nur Hans Albert, Kritik der reinen Hermeneutik, 177 Fn.25 m.w. Nachw. 12

§ 1 Rechtsgespräch und der Kampf um's Recht heute

21

wird aber übersehen, daß bei Zugrundelegung etwa des Kritischen Rationalismus oder der Hermeneutik je andere Dinge gesehen, andere Unterscheidungen und theoretische Schnitte getroffen und andere Wertungen letztlich auch vorgenommen werden können. Gerade eine normativ orientierte Wissenschaft, wie sie die Rechtswissenschaft zu sein für sich reklamiert, sollte derartige Unterschiede nicht im Unbestimmten verschwimmen lassen, sondern die Mühen interdisziplinären Arbeitens um der Sache selbst (das Recht) willen auf sich nehmen. Die folgenden Exkurse sind daher relativ ausführlich gehalten - für den ein oder anderen Geschmack wohl zu ausführlich. Es wird gewissermaßen ein Buch in einem Buch geschrieben. Die mit den Exkursen verbundenen sprach- und rechtstheoretischen Exerzitien sollten nicht abschrecken. Randgänge an den Säumen der Disziplinen waren schon immer von einer mehr oder minder großen Rezeptionsambivalenz geprägt. Der eine sieht nur Bekanntes, während der andere den rechten Konnex zu seiner juristischen Praxis nicht finden kann, deren normative Implikationen - und nicht irgendeine Theorie - seinem Handeln Richtschnur sein sollen. Der Heuristik von Interdisziplinarität sollte all dies keinen Abbruch tun. II. Begrifflichkeit Nicht jeder versteht unter einem »Rechtsgespräch' das gleiche. Während durchweg Übereinstimmung darüber besteht, daß (i) die Lehre vom Rechtsgespräch Handlungsanweisungen an das Gericht der Art formuliert 13, der Richter müsse ein Gespräch mit den Parteien führen, und daß es (ii) in diesem Gespräch um die Erörterung rechtlicher Gesichtspunkte des Streitfalles geht, sind darüberhinaus die Meinungen geteilt, bei welchem notwendigen Inhalt, Anlaß und Reichweite von einem ,Rechtsgespräch4 die Rede sein soll 14 . Während einige ein Rechtsgespräch nur in einer Erörterung sämtlicher rechtlicher Gesichtspunkte sehen, nehmen andere nur bei bestimmten prozessualen Situationen, etwa der Veränderung eines rechtlichen Gesichtspunkts, eine Verpflichtung des Gerichts an, auf seine Rechtsauffassung hinzuweisen. Wieder andere differenzieren nach der „Tiefe" der Rechtsausführungen und wollen entweder die Besprechung einzelner Rechtsfragen gar nicht oder nur dann unter die Rubrik ,Rechtsgespräch4 fassen, wenn sie eingehend sind. Definitorische Vorgaben können Probleme vorentscheiden. Begriffsfassungen sind deshalb auch eine Frage der zweckmäßigen Öffnung in Richtung Bewältigung von Problemen. Für die Intention dieser Untersuchung ist es zweckmäßig, die Begriffsbildung daran auszurichten, daß am Beispiel der Rechtsfigur »Rechtsgespräch4 das Verhältnis von Rechtsanwendung und Parteienkampf sinnvoll diskutiert werden kann. Mit Blick hierauf wird an dieser Stelle unter einem Rechtsgespräch 13

So auch Laumen, Das Rechtsgespräch im Zivilprozeß, 41. Der Streitstand ist umfassend aufgearbeitet bei Laumen, Rechtsgespräch, 41 ff.; siehe auch die Nachw bei Waldner, Aktuelle Probleme des rechtlichen Gehörs im Zivilprozeß, 120 Fn. 20. Von einem eingehenden Nachweis des Streitstands wird hier daher abgesehen. 14

Einleitung

22

die dialogische Erörterung eines rechtlichen Gesichtspunktes15 oder deren mehrere zwischen dem Gericht und den Parteien im Zivilprozeß verstanden, die zwischen den Parteien oder zwischen den Parteien und dem Gericht umstritten sind16. Erörterung heißt hierbei: mündlicher oder schriftlicher Austausch von Rede und Gegenrede, von Argument und Gegenargument, und unterscheidet sich von einem monologischen Prozeßgeschehen, seien es Parteivorträge, seien es gerichtliche Ausführungen. Ein Rechtsgespräch ist daher nicht schon jede Äußerung des Gerichts zur rechtlichen Seite des Streitgegenstands unter Gewährung einer Gelegenheit zur Stellungnahme durch die Prozeßparteien 17. Hier kommt das dialogische Moment, das prozeßhafte und konfliktive Geschehen des Rechtsgesprächs zu wenig zum Ausdruck. Ebenso sind kein Rechtsgespräch die in § 137 I I ZPO und § 554 I I Nr. 3 ZPO genannten Rechtsausführungen der Parteien18. Mit einem Dialog haben derartige Ausführungen nichts zu schaffen.

I I I . Rechtsdogmatische Einwände gegen eine gerichtliche Pflicht zum Rechtsgespräch Ganz überwiegend wird ein dialogisch verfaßtes Rechtsgespräch als ein bloßes nobile officium des Gerichts erachtet19, welches die Kritikfähigkeit des Richters erhöhe, zur Verfahrensbeschleunigung beitrage, die Transparenz des gerichtlichen Erkenntnisbildungs- und Entscheidungsprozesses fördere, zu einer dauerhaften Konfliktbewältigung beisteuere und nicht zuletzt die Vergleichsbereitschaft der Parteien stärke 20. Dieser Konsens zerbricht jedoch, sobald eine gerichtliche Verpflichtung zum Rechtsgespräch zur Rede steht. Die herrschende Meinung sieht hierfür de lege lata keinen rechten Anhaltspunkt im Normenbestand der ZPO 21 . Zumeist wird darauf verwiesen, der Richter tue gut daran, seine Rechtsauffassung den Parteien be15

Als da sind: die Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit einer positivrechtlichen, gewohnheitsrechtlichen oder vertraglichen Norm, einer in Rechtsprechung oder Rechtslehre vertretenen Ansicht, eines rechtlichen Arguments oder des Zuschnitts eines rechtlichen Begriffs u.ä. 16 Ähnlich Bottke, Materielle und formelle Verfahrensgerechtigkeit im demokratischen Rechtsstaat, 38. 17 So aber Laumen, Rechtsgespräch, 148. 18 Angedeutet anders aufgrund einer andersartigen Begrifflichkeit „Rechtsgespräch" Stürner/Stadler, in: Gilles (Hrsg.), Anwaltsberuf und Richterberuf in der heutigen Gesellschaft, 173 (191). 19 Siehe aus der Fülle der Literatur nur die Nachweise bei Laumen, Rechtsgespräch, 10 Fn. 46. Aus neuerer Zeit siehe etwa S türner/Stadler, in: Gilles (Hrsg.), Anwaltsberuf und Richterberuf in der heutigen Gesellschaft, 173 (191), die eine Pflicht des Richters zur Diskussion über seine Rechtsansicht verneinen. 20 Laumen, Rechtsgespräch, 11 f. 21 Siehe die umfassenden Nachweise bei Laumen, Rechtsgespräch, 149 Fn. 1 und 2; sowie jüngst allg. zurrichterlichen Aufklärungspflicht SpickhoffRichterliche Aufklärungspflicht und materielles Recht, 1999.

§ 1 Rechtsgespräch und der Kampf um's Recht heute

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kannt zu geben, um dem Verdikt einer Überraschungsentscheidung nach § 278 ΠΙ ZPO zu entgehen22. Ein Rechtsgespräch ist all dies freilich aufgrund des eher monologischen Geschehens des »Bekanntgebens' und ,Stellungnehmens4 noch nicht. Auch ansonsten sind die Überlegungen in Rechtsprechung und Schriftum zu den zivilprozessualen Regelungen, in denen eine Verpflichtung zu einem Rechtsgespräch verankert sein könnte (§§ 504, 139 II, 278 III, 139 I, 278 11 und 278 I I 2 ZPO), durchweg davon geprägt, daß das Gericht sich hinsichtlich der jeweils in den verschiedenen Normen angesprochenen Thematiken bloß erklären und den Parteien Gelegenheit zur Äußerung oder zu der jeweilig vorgesehenen prozessualen Reaktion (etwa Ergänzung der Anträge, neuer Tatsachenvortrag) geben muß. Auch das rechtliche Gehör (Art. 103 I GG) wird durchweg als Recht der Parteien zugeschnitten, sich zu den einschlägigen Rechtsfragen zu äußern23. Mit dem oben skizzierten prozeßhaften Bild einer fortschreitenden Rede - Gegenrede - Rede - Gegenrede hat all dies wenig zu tun. Diese Enthaltsamkeit gegenüber der richterlichen Pficht zu einem konsequent dialogisch verfaßten Rechtsgespräch beruht vor allem auf zwei Erwägungen. Einmal wird befürchtet, ein dezidiertes Rechtsgespräch begründe die Besorgnis der Befangenheit wegen eines etwaigen Anscheins richterlicher Parteilichkeit 24. Nun könnte diesem Einwand entgegnet werden, eine Besorgnis der Befangenheit entfiele schon dann, wenn das Rechtsgespräch richterliche Pflicht sei25 - was demnach zu prüfen bliebe. Die Gefahr der Parteilichkeit würden dann allenfalls eine Grenze des Rechtsgesprächs konstituieren, die es im weiteren genauer auszuloten gälte. Dieser „Einwand gegen den Einwand" ist aber dann nicht durchgreifend, wenn davon ausgegangen wird, der richterlichen Unparteilichkeit und Neutralität käme der Vorrang gegenüber richterlichen Hinweispflichten und einer etwaigen Verpflichtung zum Rechtsgespräch zu 26 . Denn dann müßte gegebenenfalls eine richterliche Pflicht zum Rechtsgespräch verfassungskonform so eng verstanden werden, daß praktisch von einem Rechtsgespräch nach hiesigem Zuschnitt nichts mehr übrig bliebe. Ein Argument gegen den Einwand, ein Rechtsgespräch begründe zumeist die Besorgnis der 22

Siehe etwa Jauernig, Zivilprozeßrecht, §29 IV; Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 297. 23 BVerfGE 9, 231 (236); 55,1 (6); Schilken, Gerichtsverfassungsrecht, Rn. 140. 24 Diese Befürchtung wurde prominent im Rahmen der Debatte um den „Richter als Sozialingenieur" vorgetragen, siehe Arens, in: Gilles (Hrsg.), Humane Justiz, 1 (10); Fritz Baur, Festschrift Tübinger Juristenfakultät, 159 (171); ders., in: Deutsche zivil- und kollisionsrechtliche Beiträge, 187 (191); Hensen, Festschrift Reimers, 169 (175); Stemmler, Befangenheit im Richteramt, 207 ff. Siehe ansonsten im Rahmen der richterlichen Aufklärungspflicht nur jüngst Spickhoff\ Richterliche Aufklärungspflicht und materielles Recht, 47 f., 49ff. 25 Siehe zur Ansicht, ein rechtlich gebotenes Verhalten könne nicht gleichzeitig dazu führen, daß das Verhalten als unsachlich oder als parteilich qualifiziert werden könne, nur Riedel, Unparteilichkeit, 168; Laumen, Rechtsgespräch, 275; MünchKomm-ZPO-Fe/for, §42 Rn. 31. 26 Für einen Vorrang derrichterlichen Unparteilichkeit und Neutralität gegenüber der richterlichen Pflicht aus § 139 ZPO Prutting, in: Schmidt (Hrsg.), Arbeitsrecht und Arbeitsgerichtsbarkeit, 565 (570).

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Einleitung

Befangenheit, muß demnach anders ansetzen. Im Rahmen dieser Untersuchung wird es an der Unparteilichkeit und Unbefangenheit des Richters ansetzen: Es wird gezeigt werden, daß gerade ein Rechtsgespräch die Unparteilichkeit und Unbefangenheit des Richters sichern hilft - mehr noch: Daß ohne ein von den Parteien gewünschtes Rechtsgespräch der Richter notwendig parteilich handelt. Ein weiterer Einwand gegen eine richterliche Verpflichtung zum Rechtsgespräch wurde in dem Gedanken der Selbstverantwortung der Parteien gefunden. Diese sei ihnen als Korrelat ihrer prozessualen Autonomie und der damit verbundenen Subjektstellung im Verfahren aufgegeben. Vor deren Hintergrund wiederum könne ein Rechtsgespräch als eine Art prozessualer Bevormundung erscheinen27. Mit einem derartigen Einwand wird mehreres übersehen. Einmal bleibt schon unklar, mit welchem Verständnis von Privatautonomie hier operiert wird; gilt doch dem einen schon als Bevormundung, was dem anderen unter Schutzgesichtspunkten als genuiner Ausdruck einer recht verstandenen Privatautonomie gilt. Darüberhinaus berührt eine richterliche Pflicht zum Rechtsgespräch den topos »Selbstverantwortung 1 schon deshalb nicht, da die Pflicht nicht etwa beinhaltet, die Parteien zu Rechtsausführungen zu drängen, sondern gerade umgekehrt der Parteiwille den Richter zur dialogischen Erörterung strittiger rechtlicher Gesichtspunkte anhalten soll. Schließlich liegt es dem Einwand, die Privatautonomie der Parteien würde durch eine richterlich Pflicht zum Rechtsgespräch untergraben, geradezu auf der Hand, daß eine derartige Pflicht mit dem Gedanken der Privatautonomie in Beziehung gesetzt werden kann. Wenn sich zeigen läßt - und daß dies gezeigt werden kann, wird sich erweisen - daß die richterliche Pflicht und die prozessuale Autonomie der Parteien überhaupt keine normativen Berührungspunkte aufweisen, geht der „Privatautonomie-Einwand" vollends ins Leere. Die tradierten Einwände gegenüber einer richterlichen Pflicht zum Rechtsgespräch greifen nach all dem nicht durch. Dies wiederum scheint auf eine grundlegende Unsicherheit über den normativen Status der Figur „Rechtsgespräch" zu deuten.

IV. Weiteres Vorgehen In dieser Situation bietet es sich an, in systematischer Absicht die bisherigen Ansätze zum Rechtsgespräch anhand zweier Gesichtspunkte zu diskutieren. Einmal soll ein Blick auf die Restriktionen geworfen werden, mit denen die bisherigen Ansätze zum Rechtsgespräch implizit operieren. Es wird dann deutlich werden, welchen Modus der auf das Rechtsgespräch geworfene Lichtkegel benutzen muß, um seinen theoretischen Focus zu wahren. So benutzt etwa ein Verständnis des Zivilprozesses als Kampf den Modus „strategisches Handeln" und schließt damit ein verständigungsorientiertes Handeln nach Art der Diskurstheorien restriktiv aus. Der andere Gesichtspunkt thematisiert die Residualkategorien, die den bisherigen An27

Angedeutet bei Laumen, Rechtsgespräch, 58.

§ 1 Rechtsgespräch und der Kampf um's Recht heute

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Sätzen als „schlechter Rest" implizit inhärent sind, wenn sie das Rechtsgespräch focussieren. Anhand dieses Punktes muß geklärt werden, mit welchen normativen Kosten der ein oder andere auf das Rechtsgespräch geworfene Lichtkegel verbunden ist und ob diese Kosten tragbar sind. So bleibt etwa den auf Konsensfixierten Diskurstheorien der Kampf um's Recht als schlechter Rest, den sie theoretisch in ihr Gedankengebäude nicht einbinden können. Im Durchlauf durch und im Anschluß an die Diskussion dieser Ansätze (§ 6 bis § 10) soll dann ein Vorschlag entwickelt werden, der sich den Einwänden der bisherigen Überlegungen nicht ausgesetzt sieht, und der zeigt, daß das Rechtsgespräch unter dem Aspekt „kreativer Dissens" seinen genuinen Platz in einer prozessualen Kultur einer interpretativen Praxis des Zivilprozesses finden wird (§11 bis § 16). Vor diesen Überlegungen wird - wie schon ausgeführt - zu sprach- und rechtstheoretische Exkursen gegriffen (§ 2 bis § 5). Die Untersuchung ist insgesamt gesehen in zwei große Teile angelegt. Beide Teile sind wiederum zweifach untergliedert. Der erste Unterteil beider Hauptteile widmet sich jeweils eher rechtstheoretisch ausgerichteten Überlegungen, während der Schwerpunkt des jeweils zweiten Unterteils auf herkömmlich eher rechtsdogmatisch verorteten Erwägungen beruht. Damit wird der Einsicht Rechnung getragen, daß Theorie und Praxis in einer recht verstandenen Dogmatik in einem gegenseitig befruchtenden Ergänzungsverhältnis stehen müssen. Es gilt hier wie sonst auch: Theorie ohne Praxis ist leer und Praxis ohne Theorie blind 28 . Ansonsten läßt sich der erste Hauptteil eher auf Kritik ein und diskutiert die bisherigen Ansätze zum zivilprozessualen Rechtsgespräch, nachdem zuvor die sprachtheoretischen Grundlagen sowohl zu dieser Kritik als auch zu dem hiesigen Verständnis des Rechtsgesprächs skizziert worden sind. Im zweiten Hauptteil wird dann auf der Grundlage der im ersten Hauptteil gelegten Plattform Rechtsgespräch, semantischer Kampf und kreativer Dissens verschaltet. Dies erfolgt zweistufig. Auf der ersten Stufe wird das Konzept der interpretativen Praxis des Rechts skizziert, in der der Zivilprozeß eingebunden ist. Im Anschluß daran wird der Standort des Rechtsgespräch in dieser interpretativen Praxis des Rechts lokalisiert und von dieser Warte aus eine Annäherung an diese Rechtsfigur gesucht.

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Siehe zum Theorie-Praxis-Problem auch unten § 1413.

Teil 1

Sprache - Rechtsgespräch Kapitel 1

Sprachtheoretische Skizzen § 2 Sprache und Handeln: Versuch einer Skizze Die Begründung aber, die Rechtfertigung der Evidenz kommt zu einem Ende; - das Ende ist aber nicht, daß uns gewisse Sätze unmittelbar als wahr einleuchten, als eine Art Sehen unsererseits, sondern unser Handeln, welches am Grunde des Sprachspiels liegt. Ludwig Wittgenstein

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I. Nochmals: Warum ein Exkurs? Die folgenden Skizzen verleiten zum Widerspruch. Unausgesprochen steht die Frage im Raum, warum im weiteren ein derartig umfänglicher Exkurs zu Phänomen der Sprache vorgelegt wird. Oder in anderen Worten: Rechtstheorie mag ja noch angehen, aber Sprachtheorie? Der prominente Stellenwert für die gleich folgenden sprachtheoretischen Überlegungen rührt einmal von ihrer Relevanz für das hiesige Verständnis der Funktion des Rechtsgesprächs her. Freilich wird dies erst im Laufe der Untersuchung deutlich werden, so daß vorab - wie schon in der Einleitung angesprochen wurde - hier nur um Verständnis für die folgenden Exkurse mit Blick auf ihre spätere Heuristik für die dogmatische Sache geworben werden kann. Der zweite Grund für den Rekurs auf Sprache greift grundsätzlicher. Seit dem linguistic bzw. pragmatic turn der Philosophie hat die Sprache und ihre Theorie eine prominente Stellung in dem Diskurs sämtlicher Wissenschaften eingenommen30. Was mit 29

Wittgenstein, Über Gewißheit, § 204. Mittlerweile wird innerhalb der Philosophie der Primat der Sprache durchaus zwiespältig gesehen. Neue Bewegungen zu naturalistischen und kulturalistischen Bewußtseinsphilosophien können beobachtet werden. Vor einer Überschätzung der Bedeutung des ,linguisticturns' wird denn auch vermehrt gewarnt, vgl. nur bsp. bei RichardRorty, Der Spiegel der Natur, 283 ff.; sowie-nicht verwunderlich - Otfried Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien, 391 ff. Allenfalls als Metapher, die die Bedeutung von Sprache herausstreicht, und als Idealtypik, die 30

§ 2 Sprache und Handeln: Versuch einer Skizze

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dem „linguistic turn" gemeint ist, kann am besten anhand eines einfachen, wohl aber auch gerade deshalb etwas verkürzenden und grobschlächtigen Schemas verdeutlicht werden. Nach diesem Schema kann die Abfolge der Weisen unserer Welterzeugung durch den Zyklus dreier Paradigmen mehr oder weniger beschrieben werden. Das ontologische Paradigma wollte Gewißheiten durch ein ehedem normativ aufgeladenes teleologisches Weltverständnis erlangen. Diese Möglichkeit wurde schon mit dem Aufkommen des mentalistischen Paradigmas der Bewußtseinsphilosophie verabschiedet. Im mentalistischen Paradigma regiert die Vorstellung, es gäbe so etwas wie ein Transzendentalsubjekt, an dem jedes empirische Subjekt ohne weitere institutionelle Vermittlung Anteile in sich trage, so daß Erkenntnis durch den Verweis auf die Leistungen des monadologisch reflektierenden erkennenden Subjekts unterfangen werden könne. Im linguistic turn schließlich wird dieses philosophische Paradigma des Bewußtseins und die mit ihm verbundene Einsicht, daß das Bewußtsein der transzendentale Ort der „Bedingung der Möglichkeit" von Sinn und Bedeutung sei, in das Paradigma des Zeichens überführt. In dem neuen kommunikativ istischen Paradigma gewinnt die Sprache oder (wenn man den Handlungsaspekt von Sprache mehr in den Vordergrund rückt) ein bestimmtes Verständnis sprachlichen Handelns (dann: pragmatic turn) nunmehr den Status eines grundlegenden Phänomens: Sowohl die kategorialen Ordnungsstrukturen der Wirklichkeit als auch die Produktion normativen Sinns werden von ihr her begriffen. Sprache erscheint als „weltkonstituierende Aktivität" (W. v. Humboldt), als exklusives Medium der Weltkonstitution. „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache", formuliert Gadamer denn auch kurz und bündig31. Sprache gewinnt so eine ausgesprochen de-stabilisierende Kraft. Es kommt gewissermaßen zu einer »Explosion der épistémè' 32 . Die Folgen dieser paradigmatischen Umwälzungen sind auch für die Art und Weise der juristischen Arbeit am Recht mehr oder minder bestürzend. Dies liegt nicht auf der Hand. Die Folgen, daß dies nicht auf der Hand liegt, sind durchweg Unterschätzung oder - schlimmer - Geringschätzung der sinn-zerstreuenden Kraft von Sprache. Gerade aus juristischem Blickwinkel her ist das im weiteren skizzierte Sprach Verständnis durchweg nicht einsichtig. Dennoch müssen die Mühen der Skizze auf sich genommen werden. Denn es wird sich zeigen lassen, daß die Anstrengungen des sprachtheoretischen Exkurses nicht nur um der argumentativen AbStützung des hier - weiter unten - vorgeschlagenen Verständnisses des Rechtsgesprächs von Nöten sind, sondern es wird sich darüber hinaus erweisen, daß die aus dem Exkursfließenden Folgerungen für ein vertextetes Recht für die gängige Rechtspraxis tatsächlich geradezu bestürzend sind. von Verflechtungen grobschlächtig absieht, ist die Rede von einem »linguistic tum4 denn auch heute nur brauchbar. 31 Gadamer , Wahrheit und Methode, 478. 32 Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 50. Vgl. als Übersicht bsp. Hans Lenk, Interpretationskonstrukte, 1993; Welsch, Vernunft, 1996.

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Kap. 1 : Sprachtheoretische Skizzen

Angesichts der im Rahmen dieser Studie erforderlichen Kürze ist es ausgeschlossen, sich der Ubiquität des Materialobjekts »Sprache4 auch nur annähernd angemessen zu widmen, wenn die zahlreichen Perspektiven bedacht werden, mittels derer »Sprache4 als Formalobjekt konstituiert wird 33 . Dies gilt um so mehr, als mehr und mehr ein Prozeß der gegenseitigen Entfernung und zunehmenden Kommunikationslosigkeit bsp. zwischen einzelnen Sprachverständnissen verläuft 34, der Kurzanalysen gewissermaßen paralysiert. Es gilt daher, eine sachgerechte Auswahl der vorzustellenden sprachtheoretischen Entwürfe zu treffen. Stellvertretend für viele wird hier auf die poststrukturalistische Semiotik Derridas 35 und auf die Spätphilosophie Wittgensteins zurückgegriffen. Der späte Wittgenstein wird dabei anhand einer bestimmten Rezeption, der Praktischen Semantik36 skizziert werden. Dies ist schon allein deshalb sinnvoll, weil diese Rezeption auch im rechtstheoretischen Schriftum schon ausführlich ihre Spuren hinterlassen hat. Die Auswahl Wittgensteins und Derridas hat Gründe. Es wird im Laufe der Untersuchung noch gezeigt werden, warum diese Auswahl gerade unter rechtlich-normativen Gesichtspunkten sinnvoll ist.

II. Sprache als regelgeleitetes Handeln Sprachliche Bedeutungen werden in der Wittgenstein-Rezeption der Praktischen Semantik mit vielen anderen als ein soziales Phänomen, sprachliches Handeln als soziale Interaktion beschrieben: Das Sprechen einer Sprache ist Teil einer Tätigkeit 31, es ist Handeln 38. 33 Sprache ist als Formalobjekt nicht nur Forschungsgegenstand sprachwissenschaftlich-linguistischen und sprachphilosophischen Bemühens, sondern als wichtiges Medium sozialer Kontrolle und sozialen Einflusses und als ein originärer Faktor der personalen und sozialen Identität des Individuums auch Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung. Vgl. als Übersicht nur Busse, Juristische Semantik, 1993; ders., Textinterpretation, 1992. 34 Vgl. nur die Diagnose bei Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 1, XLIff. 35 Derrida , Grammotologie, franz. Originalausgabe 1967, dt. hier 1983; ders., Die Schrift und die Differenz, 422ff. Die Philosophie Derridas kann zumindest nach der Zitationsquote der US-amerikanischen Law Reviews als pominentester Gegenentwurf zu Habermas (und weit vor Luhmann) verstanden werden, siehe Jacobson, RJ 14 (1995), 3 (12). 36 Die Praktische Semantik ist eine auf soziales Handeln besonderen Wert legende Wittgen5fóm-Interpretation durch Hans-Jürgen Heringer (ders., Praktische Semantik, 1974), Rainer Wimmer (ders., Referenzsemantik, 1979) und Dietrich Busse {ders., Historische Semantik, 1987; ders., Textinterpretation, 1992; ders., Juristische Semantik, 1993). In der Weiterführung der Wittgensteinianischen Gebrauchstheorie um einen explizit handlungstheoretischen Aspekt lassen sich selbstverständlich verschiedene Ansätze unterscheiden, vgl. dazu bsp. die handlungstheoretische Semantik Georg Meggies (ders., Handlungstheoretische Semantik, 1987), der konventionalistische Ansatz Eike von Savignys (ders., Die Philosophie der normalen Sprache, 3. Ausgabe 1993; ders., Zum Begriff der Sprache, 1983). Vgl. zur Rezeption Wittgensteins in der Rechtstheorie ausführlich Manfred Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, 1995. 37 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §23.

§ 2 Sprache und Handeln: Versuch einer Skizze

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1. Regeln des Sprachgebrauchs Die bei jedem Handeln erforderliche Handlungskoordination erfolgt über die Verwendung sprachlicher Zeichenketten. Sie führt um so eher zum Erfolg (Verstehen), je verläßlicher die Erwartungen des Partners aufgrund erlebten, erfolgreichen Sprachverwendungsfällen erwartet werden, je regelmäßiger also das Handeln ist. Sprache hat also etwas mit Regeln zu tun. Der Grad der Regelmäßigkeit hängt hierbei von dem konkreten, Bedeutungskonstitution und Alltagshandeln verknüpfenden Interaktionszusammenhang ab, dem jeweiligem „Sprachspiel" 39. Wittgensteins Begriff des Sprachspiels kann hinsichtlich der Regelhaftigkeit sprachlichen Handelns in zweierlei Arten weitergeführt werden. In der einen Lesart wird die im Spiel lokalisierte Spielregel als relativ einheitliche Regel verstanden, die in der Reproduktion (im Spiel) weitgehend unverändert bleibt. Jenseits regelgerechten Sprechens droht Chaos, Kontingenz und Irrationalität 40. Verständlichmachen ist hier so etwas wie Explizitmachen impliziter sprachlicher Regeln. Diese Lesart kann als ein „Schienenmodell"41 der Regelauffassung bezeichnet werden. Die andere Lesart von Sprachspiel sieht Spiel mehr im Sinne eines spielerischen Fortsetzens, eines Weiterspielens unter schleichender und expliziter Verletzung sprachlicher Regeln, die wiederum keinen Meta-Regeln folgt. Regelverletzung wird hier nicht notwendig mit dem Verdikt der Irrationalität oder des Chaotischen belegt, sondern erscheint als Modus, in der dynamischen Entwicklung von Sprache über die bisherigen Ordnungen hinaus Sinnvolles zu entfalten. Die zweite Lesart ist weitaus überzeugender als die erste Lesart: Die in Sprachspielen situierenden sprachlichen Regeln haben keinen statischen Charakter. Sie können bei einer erfolgreichen Zeichenverwendung nicht nur bestätigt, sondern auch verändert werden. Regeln sind nicht etwas außerhalb des Sprechens (des Textes) Vorhandenes. Sie lenken den Sprechakt nicht im Sinne einer »objektiven Richtigkeit' durch ein sprachspielexternes Moment. Vielmehr besteht die Regelhaftigkeit von Sprachgebrauchsregeln - und dies ist der Kern des richtig verstandenen Wittgensteinschen Regelbegriffs - ausschließlich in der Praxis sprachlichen Handelns42. Anders gesagt: Es ist nicht möglich, eine ,sprachspielsterile' Bedeutungskonstanz von Ausdrücken innerhalb sprachlichen Handelns zu konstruie38

Vgl. dazu und zum folgenden Busse, in: Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, 95 (136ff.); ders. 9 Historische Semantik, 1987,176ff. Seit Austin und Searle ist es ein Gemeinplatz, Sprechen als Handeln aufzufassen. Zum Handlungsaspekt von Sprache vgl. aus der Fülle nur Georg Meggies , Handlungstheoretische Semantik, 1987; Gisela Harras, Handlungssprache und Sprechhandlung, 1983. 39 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 23. 40 Diese Beurteilung ist weiten Teilen der angelsächsischen Sprachphilosophie gemein. Paradigmatisch kann H.L.A. Hart genannt werden. 41 Lenk, Schemaspiele, 226. 42 Ein Wort außerhalb des Gebrauchs, unabhängig von einem Sprachspiel, hat keine Bedeutung, allein ist es ,tot\ Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §432.

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Kap. 1 : Sprachtheoretische Skizzen

ren 4 3 . Nochmals anders formuliert: Praxen lassen sich nicht in dem Sinne »einfrieren', daß sprachliche Konventionen in jeder Wiederholung identisch reproduziert werden. Praxen sind vielmehr konstitutiv schleichenden Veränderungen ausgesetzt. Dies liegt daran, daß beim Gebrauch eines Zeichens inzident eine Analogie zu vorherigen Erfahrungen in der Verwendung des Zeichens vollzogen w i r d 4 4 . M a n kann hier von einer Analogizität im Sprachgebrauch sprechen. Das Herstellen einer derartigen Analogie ist seinerseits eine interpretierende, auswählende Leistung des Zeichenverwenders, die immer auch die Möglichkeit schleichender Regelveränderung in sich birgt. Derartige schleichende Veränderungen sind ausgesprochen konstitutiv für regelgeleitetes Sprechen 45 , da sprachliche Regeln - und dies unterscheidet sie sowohl von den Regeln, mit denen bsp. einige Richtungen der Makrosoziologie handeln 46 , als auch von den technizistisch modellierten Regeln i m Gefolge der Generativen Transformationsgrammatik 47 - nur in Sprachspielen und nicht extern verdinglicht situieren. Wegen der Analogizität (nicht also: Identität) können Regeln als Muster unserem Handeln zugleich zugrundeliegen 48 und dessen Produkt sein 49 , indem sie sich innerhalb kommunikativer Lebensformen durch »blinden' Gebrauch 50 - durch „Abrich43

Es muß deshalb streng zwischen einer Regel und der Formulierung einer Regel unterschieden werden, Keller, in: Heringer (Hrsg.), Seminar: Der Regelbegriff in der praktischen Semantik, 10 (21); Busse, Historische Semantik, 200; ders., Textinterpretation, 52. 44 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §225. Zur Einführung des Begriffs der »Analogie4 bei der Erklärung des Wittgensteinschen Regelbegriffs vgl. Busse, in: Müller (Hrsg.), Rechtslinguistik, 95 (136ff.); ders., Historische Semantik, 192ff., 195; ders., Textinterpretation, 53ff.; ders., Juristische Semantik, 197ff., 255,261 f., 280; siehe allg. auch Gamm, Die Flucht aus der Kategorie, 313ff.; Gabriel, in: Demmerling/Gabriel/Rentsch (Hrsg.), Vernunft und Lebenspraxis, 157 ff. Die Analogizität der Sprache wird von Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1978, verkannt, dazu vgl. Busse, Juristische Semantik, 197ff., ders., in: Müller (Hrsg.), Rechtslinguistik, 95 (135ff.). 45 Vgl. dazu nur Keller, in: Heringer (Hrsg.), Seminar: Der Regelbegriff in der praktischen Semantik, 10 (13); Busse, Historische Semantik, 199; ders., Textinterpretation, 55; Jeand'Heur, Sprachliches Referenzverhalten, 80. 46 Man denke nur an den Strukturfunktionalismus Parsons oder an die, die Parsonianische Theorie spezifisch reformulierende Makrosoziologie Richard Münchs, dazu nur Goebel, Zivilprozeßrechtsdogmatik und Verfahrenssoziologie, 333 ff. 47 In der Generativen Transformationsgrammatik Chomskys werden Regeln als angeborene Ideen, als in der mental-physiologischen Struktur des Menschen abgespeicherte, tiefenstrukturelle Anweisungen zur Erzeugung von Regeln aufgefaßt, dazu nur Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 2, 1 ff. 48 Präziser: Nicht die Regel veranlaßt uns, daß und wie wir etwas tun, sondern wir selbst veranlassen uns zu tun, was die Regel erfordert, Busse, Textinterpretation, 53; ders., RTh 1988, 305 (313). 49 Baker, in: Wimmer (Hrsg.), Sprachtheorie, 77. In plakativer Formulierung: wir müssen der Regel nicht unweigerlich folgen, sondern wir programmieren uns selbst, indem wir der Regel intentional folgen, Busse, RTh 1988, 305 (313). 50 Nicht das Wissen um die Regel ist für den sprachlich Handelnden entscheidend (Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §31, § 82, § 198, § 199, § 219 u.ö.), sondern die durch

§ 2 Sprache und Handeln: Versuch einer Skizze

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tung" 5 1 - bilden, festigen und ständig verändern 52 . Und »blind* heißt: Ein Sprecher kann sich Regeln nicht bewußt bedienen. Sie sind keine Deutungen 53 . „Bedeutungen entspringen nicht Interpretationen, sondern Handlungen - Formen des Gebrauchs von Zeichen (sprachlicher und anderer)", wie Patterson jüngst eindringlich formulierte 5 4 . Und Veränderung bedeutet umgekehrt: Eine Regel ist keine sich identisch in jeder Wiederholung reproduzierende Konvention 5 5 . Insofern ist die Kontinuität sprachlicher Bedeutungen in der Zeit eine Fiktion 5 6 . Es gibt keine festen Verwendungsregeln, sondern nur „eine ununterbrochene Serie diskursiver Ereignisse sowohl innerhalb einer Sprachgemeinschaft (d. h. über den einzelnen hinweg), als auch für jedes einzelne Mitglied dieser Diskursgemeinschaft"; Regelbefolgen ist damit kein automatenhafter Nachvollzug von situationsexternen Normen, sondern „ein kreativer Vorgang, der zwischen dem Erfordernis der Intersubjektivität (der Orientierung an Zeichenverwendungen, welche den gewünschten Sinn bei den Rezipienten mit einigermaßen sicherer Erwartbarkeit hervorzurufen versprechen) und der individuellen Sinnsetzungs-Intention vermittelt" 5 7 . Jede intentionale Wiederho„Abrichtung" (ders., ebd., § 198) erworbene Fähigkeit, ihr,blind 4 zu folgen: „Die Praxis muß für sich selbst sprechen", ders., ebd., § 139. Wegen dieses Rekurs auf »Gebrauch' wird die Wittgensteins^ Sprachtheorie deshalb auch häufig ,Gebrauchstheorie der Bedeutung' genannt. 51 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 198. Somek/ Forgó, Nachpositivistisches Rechtsdenken, 5 ff., 11 ff., 21 ff., verknüpfen diese Einsicht Wittgensteins mit der Juristenausbildung. 52 Wimmer, Referenzsemantik, 27ff.; ders., in: Heringer (Hrsg.), Holzfeuer im hölzernen Ofen, 290 (296 f.); Baker, in: Wimmer (Hrsg.), Sprachtheorie, 77; ders ./Hacker, Language, Sense and Nonsense, 1984, 259ff.; Keller, in: Heringer (Hrsg.), Seminar: Der Regelbegriff in der praktischen Semantik, 10 (13); Busse, Historische Semantik, 199; ders., Textinterpretation, 55. 53 Deutlich bsp. in Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §201. 54 Patterson , Recht und Wahrheit, 129, Hervorh. i.O. 55 Deshalb verliert auch jede Rede über gesicherte Fälle einer Textbedeutung' und jeder Rekurs auf einen ,klaren Wortlaut' ihre prima-vista-Plausibilität. Regelhaftes Wortverwenden ist eben gerade nicht die Befolgung eines sprachspielextemen, anwendungsbereiten Befehls, so daß die Sprachverwendung in einen Bereich geregelten (Bereich sicherer" Auslegung) und in einen Bereich ungeregelten Handelns (Bereich ,auszuhandelnder" Auslegung) aufgespalten werden könnte. Ein Verweis auf eine unhinterfragt vorausgesetzte, intuitive Übereinstimmung über die Verwendungsregel der Wörter zwischen Äußerer und Rezipient garantiert keine wirkliche Übereinstimmung, sondern stellt nur fest, daß keine faktische Infragestellung stattfindet, dazu nur Busse, Juristische Semantik, 198 f.; vgl. auch ders., ebd., 235 f.; Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, 48. Auch Mittenzwei, Teleologisches Rechtsverständnis, 223, betont, daß Wittgenstein bei keinem einzigen Zeichen von einer klaren Wortbedeutung ausgeht, da die , Schärfe' einer Bedeutung immer nur situationsspezifisch und nicht allgemein zu bestimmen ist. 56 Schon die Rede von »Regeln' hat etwas durchaus Fiktionales an sich. Darauf ist vielfach hingewiesen worden, vgl. nur v. Savigny, Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen", Bd. 1,114ff.; Baker/Hacker, Language, Sense and Nonsense, bsp. 250,263,275; Busse, Textinterpretation, 53. 57 Zitate jeweils bei Busse, in: Müller (Hrsg.), Rechtslinguistik, 95 (138). Vgl. auch ders., Historische Semantik, 198 ff.; Waidenfels, In den Netzen der Lebens weit, 79 ff.

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Kap. 1 : Sprachtheoretische Skizzen

lung einer Sprachgebrauchsregel enthält damit schon strukturell die Möglichkeit einer Verschiebung 58 : Sprache ergeht i m fortlaufenden Gestus der Verschiebung ihrer Regeln.

2. Sprachspiel und Lebensform Regelbefolgung ist Praxis, „Gepflogenheit" 5 9 ; Sprache mithin gesellschaftliche Tätigkeit 6 0 und zugleich Mittel, um diese Tätigkeit und die Gliederung der Welt überhaupt zu konstituieren 61 - in diesem Sinne läßt uns gerade die Unhinterfragtheit des Spiels im Spiel 62 die Gliederung der Wirklichkeit so festgefügt als quasi erratischer Block außer uns selbst stehend begreifen 63 . Diese Einheit von sprachlichen Regeln, sozialem Handeln und Welterschließung, der Ort der Verknüpfung von Bedeutungskonstitution und Alltagshandeln nennt Wittgenstein ,SprachspieV. Sprachspiele sind „Teil einer Tätigkeit" 6 4 und in vielfältigen Mustern vorhanden: sie konstituieren als Benennungsspiele Gegenstände i m Bewußtsein der Sprechenden von 58 Die Annahme des ansonsten dem Wittgensteinianischcn Ansatz verpflichteten Schiffauers, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 87, es müsse, da es undenkbar sei, daß für alle möglichen Arten von Situationen Regeln festgelegt seien, geregelte und ungeregelte Wortverwendungen geben, geht insofern deshalb fehl, weil er seinen Regelbegriff implizit an einem Vorverständnis abschließend geregelter Regeln orientiert (Busse, in: Müller (Hrsg.), Rechtslinguistik, 95 (135)). Ein derartiges Mißverständnis des Wittgensteinianischcn Regelbegriffes scheint auch der von Schiffauer, ebd., 147 f., getroffenen Dichotomie zwischen künstlichen, durch genau definierte Terme ausgezeichneten Wissenschaftssprachen und der Alltagssprache zugrundezuliegen: Auch Definitionen unterbrechen nicht die möglichen Abwandlungen sprachlicher Regeln, dazu unten Fn. 118. 59 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 199. 60 „Das Wort »SprachspieV soll hier hervorheben, daß das Sprechen einer Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform", Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 23, Hervorh. i. O. 61 Vgl. zu der seit Herder und Humboldt tradierten, und in der Spätphilosophie Wittgensteins erneut und eigenständig begründeten Einsicht, daß Sprache Medium und Ort der Konstitution von Wirklichkeit und Weltwissen ist, nur Busse, Historische Semantik, 85 ff.; sowie allg. Helmut Gipper, Das Sprachapriori als Voraussetzung des Denkens und des Erkennens, 1987; Gottfried Seebas, Das Problem Sprache und Denken, 1981. Handlungsgewißheit beruht insofern ,»nicht mehr auf dem ,ego cogito4, sondern auf der Masse der »cogitata4, innerhalb derer sich variable »Verwendungsweisen' einschreiben", Ladeur, Abwägung, 206, mit Rekurs auf Wittgenstein, Über Gewißheit, § 61. Im Rahmen der Diskussion um Barrieren zum Zivilprozeß qua schichtspezifischer Sprache wurde dieser Aspekt der Sprache auch zivilprozeßrechtlich relevant, vgl. dazu Goebel, Zivilprozeßrechtsdogmatik und Verfahrenssoziologie, 168 ff. 62 Würden mit den Sprachspielen immer zugleich auch Zweifel gelehrt werden, würden wir dieses Sprachspiel niemals lernen, Wittgenstein, Über Gewißheit, § 283. 63 Tatsachen erscheinen deshalb als ,hart\ weil sie „in das Fundament unseres Sprachspiels eingegossen sind", Wittgenstein, Über Gewißheit, §558. Dazu nur Busse, Historische Semantik, 283 ff. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 1, 566, charakterisiert Wittgenstein mit den Worten: „So viele Weisen der Beschreibung der Welt, so viele Weisen ihrer Zerlegung in einzelne Sachverhalte". 64 Wittgenstein, Philosphische Untersuchungen, §23.

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der Welt, sie sind Handlungs-Kommunikations-Sequenzen in alltäglichen Situationen, sprachliche Interaktionsformen und Handlungsmuster und sind schließlich eingewoben in das Sprachspiel, das die Totalität sprachlicher Weltformung i m Kontext einer Lebensform moduliert 6 5 · 6 6 . Lebensformen kann man als eine durch bestimmte Grundüberzeugungen, Weltdeutungsweisen und Regeln geprägte gemeinsame Lebenspraxis 67 bezeichnen, gleichsam als ein „Nest von Sätzen" 68 , an dem sich das analytische Instrumentarium „zurückbiegt" 6 9 und Rekursivität der Analyse eintritt. Lebensformen i m Wittgensteinschen Verständnis haben demnach nichts mit Lebensformen zu tun, die oftmals i m Rahmen der Aristotelischen Tradition als Signum für denjenigen Komplex normativer Verhältnisse angesehen werden, in dem wir immer schon wissen, wie wir eine Situation so aufzufassen haben, daß eine gewählte Handlung als angemessener Ausdruck eines „guten Lebens" erscheint 70 . Der sprachphilosophische Begriff der 65 Busse, Historische Semantik, 206. Die Literatur zu der Figur „Sprachspiel" ist unüberschaubar. Auch die Begrifflichkeit selbst unterliegt Fortschreibungen, so spricht etwa Hans Lenk von „Handlungsspielen" und „Schemaspielen", siehe ders., Schemaspiele, 241 und öfters; ders., Einführung in die Erkenntnistheorie, 143. 66 Die phänomenologisch orientierte Soziologie hat die Regeln als mehr invariante Strukturen des individuellen Bewußtseins aufgefaßt, man denke nur an die ,Lebenswelt' in der phänomenologischen Sozialpsychologie Alfred Schütz oder an die Figur des »Generalisierten Anderen4 in der Erklärung der Genese des sozialen Selbst durch den Symbolischen Interaktionismus George H. Meads. Ähnlich versucht die soziologisch orientierte »objektive Hermeneutik', die in der Faktizität der Sprachspiele auftretenden Sprachsequenzen mit dem ihr bekannten Typenschatz anderer Sequenzen und Bedeutungen zu korrelieren, dazu nur programmatisch Oevermann u. a., in: H. G. Soeffner (Hrsg.), Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, 352 ff. Aus der erkenntnisleitenden Perspektive einer die Konkretion in den einzelnen Sprachspielen betonenden Semantik darf eine derartige Invarianz jedoch nicht zum Anlaß genommen werden, Sprachspiele als soziologische Fakten im Kontext positivistischer Analysen zu beschreiben, „die die Sezierungskategorien des terminologischen Instrumentariums schon für die Wirklichkeit hält" (Busse, Historische Semantik, 211); die Erklärung von Sprachspielen kann immer nur unter Rückgriff auf die eigenen Erfahrungen in Sprachspielen erfolgen und kann damit nur verstehend erfolgen. Vgl. zur Einvernahme mikrosoziologischer Forschung in eine handlungstheoretisch orientierte Sprachtheorie nur Busse, Textinterpretation, 78 ff., 157; ders., Historische Semantik, 151 ff., 231 ff., 273 ff.; ders., Juristische Semantik, 259; Christensen, Gesetzesbindung, 119 f.; allg. zum Zusammenhang zwischen soziologischer Phänomenologie, ,neuer' Hermeneutik und der Wittgensteinizmschexi Spätphilosophie vgl. nur Dietrich Böhler, Rekonstruktive Pragmatik, 191 ff. Mit all dem wird freilich dann nicht gehandelt, wenn Lebenswelt - wie im Kontext der autopoietischen SystemtheorieLuhmannscher Prägung - als Teil einer Differenz aufgefaßt wird, von der die eine Seite das Vertraute ist. Es wird dann gefragt, „wie eigentlich in der modernen Gesellschaft über die Unterscheidung vertraut/unvertraut verfügt wird", Luhmann, ARSP 1986, 176 (188); Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, 117ff. 67 Dazu vgl. Wittgenstein, Über Gewißheit, §§7, 358. 68 Wittgenstein, Über Gewißheit, §225. 69 Wittgenstein bedient sich oft starker Metaphern, bsp. hinsichtlich der Fundamente von Sprachspielen: „Habe ich die Begründungen erschöpft, so bin ich nun auf dem harten Fels angelangt, und mein Spaten biegt sich zurück", Philosophische Untersuchungen, §217. 70 In dieser Weise wird der Begriff „Lebensform" etwa bei Günther, Der Sinn für Angemessenheit, 15, verwendet.

3 Goebel

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Lebensform ist daher von dem normativen Begriff „Lebensform" scharf zu trennen, der in Konzeptionen des Guten oder der Ethik angesiedelt ist. Sprachphilosophisch ist denn auch eine Lebensform weder richtig noch falsch 71 . Man kann zur Übernahme einer Lebensform nur durch Überredung, nicht durch Begründung motiviert werden 7 2 , da es Gründe nur innerhalb einer Lebensform gibt. Eine Lebensform ist insofern konstitutiv für die Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen wahr und falsch, vernünftig und unvernünftig 73 . Parallelen zwischen Wittgenstein und der hermeneutischen Verankerung des Verstehens in Lebenspraxis liegen auf der Hand und sind denn auch öfters betont worden 74 . Wenn Sprecher auch nach weiteren Versuchen, miteinander zu sprechen, zu keiner selbstverständlichen

Übereinstimmung

gelangen, liegt keine bloße Meinungsverschiedenheit vor, sondern die Sprecher legen ihren Äußerungen verschiedene Lebensformen 75 zugrunde, sie folgen verschiedenen Sprachspielregelmengen 76 , die dem Subjekt den Ort zuweisen 77 - den „Käfig 71 »Jenseits von berechtigt und unberechtigt", Wittgenstein, Über Gewißheit, § 359. Mittenzwei hat die Abfolge der verschiedenen Begründungsarten in der Geschichte juristischen Denkens explizit als eine Abfolge verschiedener Lebensformen rekonstruiert, vgl. ders., Teleologisches Rechtsverständnis, 227, 393 ff. 72 Wittgenstein, Über Gewißheit, §§612, 262. 73 Wittgenstein, Über Gewißheit, §§7, 102, 105, 141 ff., 162, 358, 410f. und öfters. Damit wird zugleich ausgedrückt, daß die Versprachlichung der Vernunft und ihre Verortung in der universalen Diskursivität kommunikativer Rationalität, mithin daß der kritische Konsens als Fluchtpunkt für eine Theorie der Argumentation als Theorie des universalistischen praktischen Diskurses im Gefolge Habermas und Alexys, dezidiert in Frage gestellt wird. Eine rationale Einigung qua Begründung zwischen verschiedenen Sprechern ist nur möglich, wenn diese die gleiche Weltsicht und eine hinreichende Menge von Werten (im Luhmannschen Sinne als hochabstrakte Gesichtspunkte der Vorziehenswürdigkeit von Handlungen, vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, 88 ff.), mithin eine Lebensform miteinander teilen, dazuAarnio, Denkweisen der Rechtswissenschaft, 157 ff. Ein sämtliche Lebensformen überwölbendes Metasprachspiel besteht nicht, vielmehr nur verschiedene Lebensformen mit ihren je verschiedenen Weltbilder, Realitätsauffassungen und Rationalitätsorientierungen. Auch Wahrheit ist dann nur lebensformrelativ gegeben, Wahrheit ist „Wahrheit nur insofern, als es eine unwankende Grundlage (der) Sprachspiele ist", Wittgenstein, Über Gewißheit, § 403, vgl. auch Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 80 f. - eine für die Diskurstheorie schlichtweg skandalöse Einsicht. Alexy setzt sich denn auch deutlich von Wittgenstein ab, vgl. Argumentationstheorie, 76. 74

Vgl. dazu nur Schroth, in: Hassemer (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik, 77 (82). Die theoretischen Unterschiede in den Prämissen (hier existenzial-ontologische Verankerung, dort sprachtheoretisches Verständnis von Lebensform als ,Nest von Sätzen') liegen aber gleichfalls auf der Hand. 75 Zur Rede von »Lebensformen*: v.Savigny, Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen", 60 f. m. w. Nachw. zum Streitstand, bemerkt zu Recht, daß Umfang und Charakterisierung der Lebensformen in den Philosophischen Untersuchungen vom jeweiligen Analysezweck abhängen. Welsch, Vernunft, 414ff., weist auf heute bestehende Pluralisierungen, Flexibilisierungen und Freisetzungen von Lebensformen hin. 76 v. Savigny, Wittgensteins „Philosophische Untersuchungen", Bd. 1, 281 f.; ders., Philosophie der normalen Sprache, 65. 77 Herkömmlich weist die juristische Methodenlehre dem Subjekt die Aufgabe der Erkenntnis zu, paradigmatisch etwa Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 66f., der

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gemeinsame(r) gesellschaftliche(r) Praxis" 7 8 - von dem es glaubt, die Welt privat erkennen zu können. Es bleibt freilich beim Glauben, wir können als Sprecher niemals außerhalb eines Sprachspiels »privatim 4 Regeln des Sprachgebrauchs aufstellen oder auch nur »privat 4 einer Regel folgen 7 9 : „Was man sagt, sagt man nicht, weil man es meint; man meint es, weil man es sagt 4480 . Die Vorstellung, das Subjekt sei die Quelle sprachlicher Bedeutungen, gilt es damit zu verabschieden. Auch Lebensformen sind nicht statisch; ebenso wie die konkreten Sprachspiele ist die Grammatik einer Lebensform fluktuierenden Gebräuchen unterworfen, ist insofern unabgeschlossen 81 und strikt situativ 82 . Aufgrund dieser Vielfalt von Sprechen als Tätigkeit und Eingewobenheit in Lebensformen besteht zwischen Sprachspielen nicht bloß oberflächlich, sondern im anhand der philosophischen Hermeneutik Gadamers und des Kritischen Rationalismus Poppers darauf verweist, daß „menschliche Erkenntnis eine schwierige und unsichere Angelegenheit sei" (ebd., 66f.), deren Grund in der Subjektivität liege. Gerade umgekehrt ist das Innere (das Mentale) dasjenige, was aufgrund von sprachlichen Äußerungen überhaupt erst konstituiert wird, sehr deutlich etwa Lenk, Schemaspiele, 234. Oder anders gesagt: „Nicht mehr das Bewußtsein ist der transzendentale Ort der „Bedingung der Möglichkeit" von Sinn, Bedeutung und Referenz, sondern das Zeichen", Frank, Was ist Neostrukturalismus?, 282 (Hervorhebung i. O.). Eine andere Frage ist hingegen, ob innerhalb rechtlicher Dogmatik die Erkenntnisleistung normativ dem verantwortlich und frei handelnden Rechtssubjekt als Ausdruck seiner Autonomie zugeschrieben werden muß. Diese Frage wiederum sollte Rechtsdogmatik nicht als erkenntnistheoretische, sondern als eine Rechtsfrage begreifen. 78 Busse, Historische Semantik, 201. 79 Unter einer Privatsprache versteht Wittgenstein nicht eine von einer Person als , Geheimsprache4 entworfene Sprache, die entschlüsselt werden kann, wenn man den Schlüssel kennt, sondern eine solche Sprache, die von keinem Subjekt außer dem Sprecher verstanden werden kann, weil die Ausdrücke dieser Sprache sich auf die persönlichen Erlebnisse dieses Subjekts beziehen, Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 1,647 ff. Wittgenstein will sich mit seinem berühmten Privatsprachen-Argument u. a. auch den Anfechtungen solipzistischen Denkens erwehren, das die Zweifel an der bewußseinsunabhängigen Existenz von Welt auf die Existenz anderer Subjekte ausdehnt. Doch nicht nur dies: Mit der Wittgensteinianischen Lösung des Problems einer Privatsprache wird die idealistische Subjektphilosophie vor enorme Herausforderungen gestellt, vgl. dazu nur Frank, Neostrukturalismus, 272ff.; Lenk, Einführung in die Erkenntnistheorie, 182. Wie Wittgenstein herausgearbeitet hat, kann auch das schleichende Abweichen von einer Regel nicht als Befolgen einer privaten Regel aufgefaßt werden, vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §§199, 243-248, 261-280; sowie Kenny, Wittgenstein, 208ff.; allg. Saul Kripke , Wittgenstein on Rules and Private Language, 1982; S tetter, Sprachkritik und Transformationsgrammatik, 65 ff. 80 v. Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache, 85 Fn. 8. 81 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §§ 68, 83; ders., Über Gewißheit, § 96. 82 Vgl. nur Welsch, Vernunft, 414ff., im Rahmen seines Konzepts transversaler Vernunft; sowie Lenk, Interpretationskonstrukte, 539 ff. Schon Habermas, dem anscheinend das Bild eines monadisch in seine Sprachwelt eingesperrten Handelnden vorschwebte, wollte das von ihm in der Wittgensteinianischen Theorie diagnostizierte unhintergehbare Apriori der Lebensformen, ihrer Geschlossenheit, durch den transzendierenden Gebrauch von Sprache überwinden und verwies hierzu anfangs auf die Leistungen der Hermeneutik, vgl. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, 273ff. Dazu vgl. auch Apel, in: Der Löwe spricht... und wir können ihn nicht verstehen, 27 (47 ff.). 3*

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Kern eine „unsägliche Verschiedenheit"83. Keines von ihnen könnte durch ein anderes ersetzt werden. Gleichwohl haben sie etwas gemeinsam. Nur gibt es kein ihnen allen gemeinsames Element. Zwischen Sprachspielen besteht das, was Wittgenstein „Familienähnlichkeit" nennt: „Ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen" 84. Im Konzept der Sprachspiele denkt Wittgenstein damit Einheit und Vielheit als strukturell verbunden. Sprachspiele sind keine festen Systeme, sondern konstituieren sich in jeder einzelnen über die Zeit und die Mitglieder eine Handlungsgemeinschaft verteilten Handlungen85 - freilich nicht einzig im Moment ihres Spiels. Ein Sprachspiel muß vielmehr zwischen den sprachlich Handelnden verbreitet sein, um angewendet werden zu können. Es muß also als ein epistemisch gespeichertes Handlungsmuster fungieren, nach denen der Sprecher handeln kann. Essentialistische Anklänge sind damit nicht verbunden. Das Wissen der Interaktionspartner von den je nach Kontext und Handlungsziel spielbaren Spielen darf nicht mit dem aktuellen Wissen einer gleichsam klar bestimmten Anweisung verbunden werden. Sprechhandlungen werden vielmehr aufgrund der internalisierten und damit vor- und unter-bewußten Handlungserfahrung schlicht vollzogen. Busse verweist darauf, daß nicht der konkrete Andere die sinnverbürgende Instanz ist, sondern erst die sozialpsychologische Figur des »Generalisierten Anderen' Intersubjektivität und damit kommunikative Verständigung ermöglicht 86 . Das Beherrschen des Sprachspiels zeigt sich dann erst im Spiel selbst: im erfolgreichen Handeln87. Das Sprachspiel kann auch nicht durch die Angabe quasi seiner ,Extention' beschrieben werden, da ein Sprachspiel als etwas, was ausschließlich im Moment seines Vollzugs »besteht', nur durch einzelne, konkrete und nur jeweils einen Aspekt des Sprachspiels zeigende Spielhandlungen vorgemacht werden kann. Auch kann nicht in Manier der empirischen Sozialforschung der Durchschnitt dieser Aspekte gezogen werden, da Sprache nun einmal im Modus der Analogizität geschieht: Die Erwartbarkeit sicheren Verstehens beim Rezipienten der Äußerung hängt von dem 83 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Teil II, S. 570, vgl. auch § 290. Wittgenstein führt als Beispiele Befehlen, Berichten eines Herganges, Theater spielen, Rätsel raten, Grüßen, Beten und mehr an, vgl. ders., Philosophische Untersuchungen, §23. Der SprachspielTopos ist auf sehr verschiedenen Ebenen angesiedelt, angefangen von Vormachen und Nachmachen sprachlichen Gebrauchs, über all das, was mit Sprache in der konkreten Verwendung gemacht werden kann, bis zur Gesamtheit sprachlicher Tätigkeit, Busse, Historische Semantik, 208. 84 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 66, 67. Mittels des Konzepts der Familienähnlichkeit werden auch Begrifflichkeiten wie , Wesen4 obsolet, dazu bsp. nur Alwart, Recht und Handlung, 104; Welsch, Vernunft, 403 ff. 85 Vgl. dazu und zum folgenden Busse, Historische Semantik, 209 f. 86 Busse, Juristische Semantik, 259; sowie ders., Textinterpretation, 22f., 78 ff., 157; ders., Historische Semantik, 151 ff., 231 ff., 273 ff. 87 „Auch dem Analytiker der Sprachspiele liegt nicht so etwas wie die Summe der Beispielhandlungen vor, auf die er zeigen kann und sagen: das ist ein Sprachspiel44, Busse, Historische Semantik, 210. Vgl. auch Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 79.

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Grad der Analogie zwischen erfolgreichen vergangenen Sprechhandelns und der aktuellen Handlungssituation ab. Und diese Erwartbarkeit entzieht sich der Typisierung 88. Hier zeigt sich wiederum die Problematik einer jeden Rede über feste »Wortlautgrenzen': Zeichengebrauchsregeln situieren nur in einem Sprachspiel, ein Wort außerhalb des Gebrauchs, unabhängig von einem Sprachspiel hat mithin keine Bedeutung, allein ist es ,tot\ Das Entscheidende am Sprechen ist daher nicht die Verwendung einer isolierten Struktur, einer einzelnen ,Bedeutung4 eines Wortes, sondern der Vollzug einer komplexen Handlungsform, die eingebunden ist in ein Handlungsfeld und einen Sinnkontext, der nur schwer in einzelne Regeln aufgelöst werden kann89.

3. Verstehen als Fähigkeit einer korrekten Regelanwendung Einem Zeichen kommt - wie gesagt - außerhalb seines Gebrauchs keinerlei Bedeutung zu. Und Gebrauch ist - davon war ebenfalls schon die Rede - regelgeleitet. Für Wittgenstein besteht daher ein enger Zusammenhang zwischen dem Verstehen und dem Anwendenkönnen eines Zeichens und dem Verstehen und Befolgenkönnen einer Regel, mithin zwischen Verstehen und Bedeutung. Verstehen einer Äußerung heißt nichts anderes, als daß sie in den Zusammenhang einer gemeinsamen Praxis eingeordnet werden kann, daß die befolgte Regel »entdeckt4 wird 90 . Einen Ausdruck verstehen heißt insofern, ihn in normalen Situationen gemäß sprachlicher Praxis korrekt im jeweiligen Sprachspiel vor dem Hintergrund einer Lebensform anwenden zu können91; eine Regel verstehen heißt, sie befolgen zu können92: „Einen Satz verstehen heißt, eine Sprache zu verstehen. Eine Sprache zu verstehen heißt, eine Technik beherrschen 4493. Doch heißt dann nicht letztendlich eine Technik zu beherr88

Im Rahmen der Wittgenstein-Rezeption durch die Sprechakttheorie vor allem Searle s ist die Problematik einer Typisierung dahingehend umformt worden, daß Sprechakte als typisierte Handlungsformen des Sprechens synthetisiert werden - doch eben nur synthetisiert als wissenschaftliches Konstrukt im Rahmen eines bestimmten Sprachspiels, dazu unten §4 II. 89 Busse, Historische Semantik, 210 f. 90 Heringer, Praktische Semantik, 82; Busse, Historische Semantik, 199. Die Rede vom Verstehen durch Zuordnung bestimmter Handlungen zu Regeln ist freilich metaphorisch: Zum einen weil im aktuellen Handeln die Handelnden nicht noch irgendwelche Zuordnungshandlungen vollziehen. Und zum anderen weil bei einer derartigen Beschreibung des Verstehens auf Regeln als theoretische Konstrukte Bezug genommen wird, die beim jeweiligen Sprecher nie auch nur spontan, unreflektiert, berücksichtigt werden können; man folgt den Regeln eben .blind4, Wimmer/Christensen, in: Müller (Hrsg.), Rechtslinguistik, 27 (32). 91 „,Ein Wort verstehen4 kann heißen: Wissen, wie es gebraucht wird; es anwenden zu können", Wittgenstein, Philosophische Grammatik, § 10. Wissen darf hier freilich nicht als gespeicherte Substanz oder so etwas aufgefaßt werden, sondern als Fähigkeit, vgl. Wittgenstein, ebd., § 34. Siehe auch Heringer, Praktische Semantik, 82; Busse, Historische Semantik, 199. 92 Also die Technik ihrer Anwendung zu meistern, vgl. nur Baker/Hacker, Wittgenstein, 161. 93 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 199.

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sehen wiederum, einen Satz zu verstehen? Dem mit dieser Frage angedeuten Problems des infiniten Regreß versucht Wittgenstein dadurch Rechnung zu tragen, daß Sprachverstehen nicht als Bedingung der Möglichkeit von Handeln konzipiert wird, sondern Verstehen und Handelnkönnen intern, integrativ im Rahmen der jeweiligen Lebensform verknüpft wird: Einen Satz zu verstehen heißt einfach „in irgendeiner Weise nach ihm handeln"94, die Praxis des Regelbefolgens muß für sich selbst sprechen. Übereinstimmung im Sprachgebrauch kann also nicht durch die Übereinstimmung über den vorherigen Gebrauch erwiesen werden, sondern nur über das Handeln des Rezipienten im Anschluß an die Äußerung. Auch nur an diesem an ein Verstehen einer Äußerung anschließenden Handeln kann der Zeichenverwender erkennen, ob er »richtig4 verstanden worden ist. Einen Ausdruck zu verstehen ist also nichts Mentales: Dem Sprachteilnehmer schweben beim Verstehen weder sämtliche Verwendungen eines Zeichens vor - wie sollte dies auch möglich sein - , noch kann Verstehen als psychischer Vorgang aufgefaßt werden, das dem Rezipienten der Äußerung beim Verstehen unterläuft 95. Nicht, weil es Derartiges nicht ,gäbe\ sondern weil derartige individualpsychologische Phänomene für das Verstehen unwesentlich sind96. Dieser Aussage können diejenigen, die Verstehen als genuine Leistung des einzelnen Subjekts ansehen, kaum zustimmen97. Modelle des Sprachverstehens, die dieses aktivistisch als einen Prozeß der Verkettung psychischer Akte ansehen98, und jegliche Vorstellungen eines primären Subjektivismus im Verstehen, die das einzelne verstehende Individuum zum Brennpunkt ihrer Theorie erheben, votieren nach Auffassung der Praktischen Semantik daher zu einseitig für die Individualität aller psychischen Vorgänge und können deshalb die Intersubjektivität der niemals rein privativen Sprache nicht mehr mit Individualität in einem fruchtbaren Erklärungszusammenhang bringen 99. 94 Wittgenstein, Philosophische Grammatik, § 8. Zum Problem vgl. nur Busse, Textinterpretation, 129. Ob mit dieser internen Verschränkung vor dem Hintergrund des Lebensform-Topos ein infiniter Regreß vermieden wird, ist freilich umstritten, vgl. bsp. zur Kritik nur Apel, in: Der Löwe spricht... und wir können ihn nicht verstehen, 27 (47ff.). 95 Die Argumentation Wittgensteins zum Verstehen schließ sich an seine Überlegungen zum Privatsprachenargument an: Von den psychischen Erlebnissen kann ich gar nicht wissen, ob sie dem entsprechen, was wir intersubjektiv „Verstehen" nennen, Busse, Textinterpretation, 123. Vgl. auch Lenk, Interpretationskonstrukte, 535ff. 96 In seltener Klarheit: Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §§154, 396. 97 Schon oben wurde kurz erwähnt, daß sich Wittgenstein von der idealistischen Subjektphilosophie abhebt, was ihm im innerphilosophischen Streit um das Ende des Subjekts auch als Subjektfeindlichkeit vorgeworfen wurde. Heute bewegt man sich stellenweise auf das gegenteilige Extrem des Vorwurfs eines anthropologischen Vorurteils zu, so bsp. bei Lyotard , Grabmal des Intellektuellen, 73, - ein Vorwurf, der angesichts der radikalen Absage Lyotards an jegliche Formen des Antropozentrismus und dessen Auffassung von Sprache als das gegenüber dem Subjekt radikal Prioritäre (dazu Welsch, Postmoderne Moderne, 249 f.) nicht überrascht. 98 Wie bsp. bei der psychologischen Semantik Hans Hörmanns, Meinen und Verstehen, 1976. Dazu nur Busse, Historische Semantik, 136 ff. 99 Busse, Textinterpretation, 122ff., 131 ff.

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Um Mißverständnissen vorzubeugen: Verstehen begreift Wittgenstein als etwas, was sich augenblickshaft intuitiv einstellt, und setzt es vom Interpretieren oder Deuten von Texten als einer aktiven Auseinandersetzung mit einem Text ab, die man vollzieht, wenn sich Verstehen nicht ad hoc einstellt100. Aber auch dieses Interpretieren bleibt ein Sprachspiel und ist immer nur im Sozialen, im Handeln, in einer Praxis, zu verorten 101. Äußerungen haben für Wittgenstein nach all dem also deshalb einen Sinn, weil es eine institutionalisierte Gepflogenheit gibt, mit ihnen umzugehen. Dies wiederum heißt nichts anderes, als daß die korrekte Semantik im Pragmatischen verankert wird und daß sprachliche Bedeutungen als pragmatisierte Konstrukte aufzufassen sind. Anders gewendet: Allein die Praxis, das Sprachspiel der Interpretation entscheidet darüber, was letztendlich als »Bedeutung4 eines Textes gelten darf 102 . Und wenn sich Verstehen nicht ad hoc intuitiv einstellt, bedarf es einer Interpretation, einer Deutung, als einer nicht auf Verstehen reduzierbare, ein spezifisches Wissen erfordernde 103, in der Praxis des Sprechens situierende Handlungsform 104. Diese Handlungsform ist wiederum ein Sprachspiel. In der Wittgenstein-Rezeption ist dieser Gedanke in vielfältiger Weise ausgearbeitet worden. Hans Lenk etwa greift zu der Metapher der „Interpretationsnetzwerke" als Träger von Bedeutungen105. Wie dem auch sei: Während hermeneutische Textvertrautheit durch die Kette der Zeichen hindurch auf den reinen, text-transzendenten ,Sinn4 des Textes zugreifen will, ersetzt die Wittgensteinianische Bedeutungstheorie ,Sinn4 also durch ein Sprachspieldenken.

4. Sprachliche Regel und Regelformulierung Wenn Regeln etwas mit einer Gleichförmigkeit in zahlreichen Fällen zu tun haben, so scheint gerade deswegen wenigstens in , Kernbedeutungen4 von Ausdrücken in typischen Verwendungszusammenhängen so etwas wie eine empirische Untersuchung 106 ihrer Verwendungsweise angängig zu sein 107 . Einem derartigen Ansinnen 100 Busse, Textinterpretation, 129 f.; vgl. auch Baker! H acker, Wittgenstein, 155; dies., Language, Sense and Nonsense, 350. 101 Dies ist weithin fast schon ein Gemeinplatz, siehe aus der Fülle nur Lenk, Schemaspiele, 119,138,159, 161,176,232, 246 und öfters; ders., Einführung in die Erkenntnistheorie, 105, 108 f., 131 und öfters; Abel, Sprache, Zeichen, Interpretation, 33 f.; Hans Julius Schneider, DZPhil 41 (1993), 727 ff. 102 Busse, Textinterpretation, 57. 103 Die auf Wittgenstein basierende Texttheorie hat das zur Textinterpretation erforderliche Wissen - ähnlich wie die Texthermeneutik - in genau gegliederte Wissenscanonices dargestellt. Die Bemühungen befinden derzeit jedoch noch eher am Anfang. Vgl. bsp. Busse, Textinterpretation, Kap. 7. 104 Siehe allg. Abel, Sprache, Zeichen, Interpretation, 78 ff. 105 Lenk, Schemaspiele, 160. 106 Gleich ob mittels der Methoden der empirischen Sozialforschung oder durch unmittelbares Innewerden der dem Wortgebrauch zugrundeliegenden Regel.

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würde jedoch ein verkürzter Regelbegriff zugrundeliegen. Ein Sprecher folgt einer Sprachregel ,blind 4 , d. h. er weiß sie nicht, und dennoch beherrscht er das Spiel 1 0 8 - und nur diese Fähigkeit, nicht das Wissen um die Regel ist für den sprachlich Handelnden entscheiden^ 09 : Die Regel zeigt sich erst in der Praxis und „die Praxis muß für sich selbst sprechen 44110 . Regeln müssen nach Wittgenstein angewendet werden, ohne daß die Entscheidung über die Anwendbarkeit durch eine Interpretation der Regeln gestützt w i r d 1 1 1 . Dies hat gewichtige Folgen: Statt zu Ermitteln ist der Rechtsanwender gezwungen, eine Entscheidung über das zutreffende Verständnis einer Sprachregel zu treffen. Für diese Entscheidung gilt ein vierfaches: Erstens wird die tatsächlich angewendete Regel nicht gefunden werden 1 1 2 . Zweitens ist jede Beschreibung eines Zeichengebrauchs aufgrund der Vielfalt der Verwendungsweisen sprachlicher Zeichen hoffnungslos defizitär 1 1 3 . Drittens setzt eine einigermaßen anerkannte Entscheidung voraus, daß der Entscheidende mit denjenigen, denen er die Treffsicherheit seiner Entscheidung plausibel machen w i l l , in einer gemeinsamen Praxis steht, er die RegelK e n n t n i s 4 4 also durch Teilnahme an einem konkreten Sprachspiel erworben hat. Viertens schließlich ist die Regelformulierung selbst wiederum ein Sprachspiel 114 , 107

Dies schwebt augenscheinlich Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 17, 86, vor, wenn er - in einer sehr speziellen Interpretation der Wittgensteinianischcn Bedeutungstheorie - ausführt, die Bedeutung eines Wortes erkenne man, „indem man seinen Gebrauch in der Sprache erforscht. Auf diese Weise lernt man die Regeln für die Verwendung eines Wortes, kann über richtige und falsche Verwendung eines Wortes entscheiden, ohne daß ein Rückgriff auf objektive Gegenstände möglich ist". Auch bsp. Wank, Juristische Begriffsbildung, 21 m. w. Nachw., beklagt fehlende empirische Untersuchungen-nur: ob diese möglich sind, ist gerade die Frage. 108 Wittgenstein spricht in diesem Zusammenhang davon, der Sprecher sei „zu einem bestimmten Reagieren auf (ein) Zeichen abgerichtet worden" (Philosophische Untersuchungen, § 198, Hervorhebung nicht i.O.). Damit wird keinem behavioristischen Handlungsverständnis gefrönt, wie dies stellenweise angenommen worden ist, sondern nur die Einbindung des Sprechhandelnden in das Bezugssystem der „gemeinsame(n) menschliche(n) Handlungsweise44 (Wittgenstein, ebd., §206) verdeutlicht, vgl. nur Busse, Historische Semantik, 193. 109 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 31, § 82, § 198, § 199, § 219 und öfters. 110 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 139. 111 Vgl. bsp. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 198, sowie Busse, RTh 1988, 305 (311). 112 „Darum ist ,der Regel folgen4 eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen", Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 202 (Hervorhebung im Original). 113 Jeand'Heur, Sprachliches Referenzverhalten bei der juristischen Entscheidungstätigkeit, 77 f.; Busse, Historische Semantik, 192ff., 200ff.; Wellmer, in: Demmerling/Gabriel/Rentsch (Hrsg.), Vernunft und Lebenspraxis, 123 (129). Deshalb kann der Rekurs auf die ,Regel4 auch nicht die verlorengegangene Entität »Begriff 4 ersetzen, so aber Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979. 114 Es entfällt die Möglichkeit, sprachspielextem sich eine private Regel des Sprachgebrauchs vorstellen zu können. Mit diesem-hier schon mehrfach skizzierten - Privatsprachenargument entgegnet der linguistic tum auf die Reflexionsmetaphorik der idealistischen Sub-

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so daß nur relativ zu diesem Spiel Wortbedeutungen in der Praxis eingespielt werden 115 . In dieser Sprachspielrelativität, die dazu führt, daß Sprache jedes Begründungsdenkens de-stabilisiert 116, erweist sich die Existenz von Bedeutungen als unendliche Vielfalt einzelner Verwendungsereignisse, in denen sie allein leben, und in denen sie so schnell verschwinden, wie das Ereignis selbst117: Eine Sprachverwendungsregel entzieht sich vor dieser Folie stets einer verbindlichen Festsetzung oder Normierung 118. Sprachtheoretisch liegt die einzige Seins-Form von Sinn in der einmaligen, situations- und kontextspezifischen kommunikativen Handlung 119 . Die Formulierung einer Regel ist daher kein Erkenntnisakt: Es wird gerade nicht vom Zeichen zur vorgegebenen Bedeutung übergegangen, sondern qua Gestaltungsakt lediglich eine Zeichenkette durch eine andere ersetzt 120. Als Fazit kann daher gezogen werden: Die Rede vom Verstehen im Sinne einer Zuordnung bestimmter Sprechhandlungen zu bestimmten Sprachregeln hat eher metaphorischen Charakter und ist bei Lichte betrachtet ein theoretisches Konstrukt, welches die Analogizität von Sprache stillstellen möchte. Jedes „unmittelbare Innewerden des Sinns" einer Äußerung, mit dem die herrschende juristische Methodik den kraft Eigenschaften der Sprache fehlenden Zwang zu begründen meint, sich auch der Bedeutung vermeintlich „klarer" Begriffe des Gesetzes zu versichern, ist damit nicht vor Kritik gesichert. Wenn eine Sprachregel als die mit dem vorangegangenen Sprechakt identische Sprachregel und nicht als mit dem vorangegangenen Sprechakt nicht-identische Festlegung einer Sprachregel 121 ausgegeben wird, heißt jektphilosophie, vgl. dazu nur Frank, Was ist Neostrukturalismus?, 272 ff., und schon oben §2 112. 1,5 Busse, Historische Semantik, 200 f. Man kann eben streng genommen die konkrete Bedeutung sprachlicher Zeichen selbst durch einen Diskurs nicht erklären, sondern nur durch ihren Gebrauch, vgl. Heringer, Praktische Semantik, 101. 116 Hierin zeigt sich Wittgenstein einig mit Derrida , vgl. Henry S taten, Wittgenstein and Derrida, 75, 83, 90f. 117 Busse, Historische Semantik, 202. 118 Jeand'Heur, Sprachliches Referenzverhalten, 79. An diesem grundsätzlichen Befund ändern auch Definitionen eines Begriffs nichts. Denn diese bestehen wiederum nur aus sprachlichen Signifikantenketten, die ihrerseits wiederum nur auf andere Signifikanten verweisen (vgl. Jeand'Heur, ebd., 80); der epistemologische Status der Zeichenbedeutung wird durch eine Definition also nicht berührt. 119 Busse, Historische Semantik, 203. 120 Eine Gefahr, daß mit dem Begreifen von Sprache als bloßen Zeichenverweis der Weg zu einem Fortschritt rechtlicher Dogmatik tendenziell verbaut sein soll (so andeutungsweise Lüderssen, Genesis und Geltung, 359 f.), sehe ich nicht, vgl. zu dem mit einer derartigen Kritik verbundenen epistemologischen und politischen Einwand Bennington, in: Bennington, Derridabase/Derrida, Zirkumfession, 108 ff. 121 Also nicht als Ergebnis normativer Erwägungen, sondern als quasi dem Normativen vorausliegender Bereich des Kognitiven, des sprachlichen Urwuchses, den man erkennen, bar jeder Normativität beschreiben kann. Wortbedeutungen kommen damit so, wie sie etwa in lexikalischen Nachschlagewerken (die ja das Produkt einer lexikalischen Semantik darstellen) beschrieben werden, nicht als Einheiten „an sich" in der Sprachpraxis vor, sondern sind Teil des

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Kap. 1 : Sprachtheoretische Skizzen

dies in letzter Konsequenz, anti-regelianistisch zu denken. Untersuchungen des Sprachverhalten würden denn auch wenig mehr als „common-sense-platitudes"122 zutage fördern.

I I I . Was soll Sprachtheorie leisten? - Kritik an Wittgenstein Die Sprachtheorie verweist nach all dem die rechtsdogmatisch so oft reklamierte Suche nach „verbindlichen Gebrauchsregeln für umstrittene oder unklare Fälle" 123 oder die Lösung der Frage, „wann eine Antwort richtig oder falsch ist" 124 , auf die Praxis des Rechts und der Rechtswissenschaft zurück. Sicherlich haben im Rahmen institutionalisierter Diskussionszusammenhänge Begriffe präzisere Bedeutungen als in Umgangssprachen. Doch ändert dies nichts daran, daß auch die Sprachbedeutung in Institutionen durch Sprachgebrauch festgelegt wird. Wortbedeutungen sind hier dann so scharf und umrissen wie dies die institutionelle Praxis zuläßt. Von der Sprachtheorie kann der im institutionellen Komplex eingespannte Sprachverwender deshalb auch gerade - und hier liegt ein häufiges Mißverständnis - keine Hilfe erwarten: Der Fachsprachler wird auf die Argumentations- und Sprachkultur seiner institutionellen Sprachgemeinschaft (auf das dort gespielte Sprachspiel) zurückverwiesen. Er kann gerade nicht seinen Legitimationsbedarf durch einen institutionsextemen Import vermeintlich gesicherter Wortbedeutung legitimieren. Denn dies würde ja entweder ein homogenes stabiles Subjekt mit der „Kompetenz-Kompetenz" eines stillgestellten Meta-Sprachspiels voraussetzen. Sprachtheorie legitiwissenschaftlichen Sprachspiels der Bedeutungsabstrahierung und damit wissenschaftliche Konstrukte, vgl. Heringer, Praktische Semantik, 126. Ein Blick in das Lexikon kann deshalb gerade nicht Auskunft über die bisher in den Sprachspielen gespielten bekannten Bedeutungen geben, wie dies Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, 40, auf der Basis der Wittgensteinschen Spätphilosophie annimmt. Vgl. im übrigen zur lexikalischen Bedeutung nur Busse, Textinterpretation, 46ff.; vgl. auch ders., Juristische Semantik, 259f., 270ff.; Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 132ff., 155 ff. Seine Berechtigung hat ein Verweis auf die lexikalische Bedeutung eines Wortes allenfalls dann, wenn wir uns dadurch erhoffen, unser Potential an Fragerichtungen zu vergrößern. Der Rekurs auf die Lexikographie begrenzt demnach nichtjuristische Tätigkeit, sondern führt vielmehr gerade umgekehrt zu einem höheren Komplexitätsniveau rechtlicher Arbeit, so auch Christensen, Gesetzesbindung, 78 f. Zudem zeigt die Entwicklung der Lexikographie und der lexikalischen Semantik, daß ein Lexikoneintrag mehr und mehr als offene Aufzählung von Beispielen, mehr als Zeigen des Gebrauchs eines Wortes und nicht als Grenze zulässiger Verwendung begriffen wird, dazu nur Wiegang/Wolski, in: Althaus/Henne/Wiegand (Hrsg.), Lexikon der germanistischen Linguistik, 199 (insbes. 205 ff.); Hegenbarth, Linguistische Pragmatik, 132 ff. Vgl. ansonsten nur GilbertStudnicki, ARSP 1977, 161 ff. 122

So die Kritik bei W. V. Ο. Quine, The Pursuit oft Truth, 13. Wank, Die juristische Begriffsbildung, 13. Ähnlich vorwurfsvoll Hruschka, Verstehen von Rechtstexten, 31 Fn. 5 aE. 124 Canaris, JZ 1993,377 (381); allg. zu den damit verbundenen Annahmen nur Wellmer, in: Demmerling/Gabriel/Rentsch (Hrsg.), Vernunft und Lebenspraxis, 123 (131 ff.). 123

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miert also nichts 125 . Oder es würde eine normative Feststellung hinsichtlich einer Sprachregel in den juristischen Diskurs von außen importiert, deren normativen Rechtfertigungen im Dunkeln verschwimmen würden. Der juristische Diskurs würde sich dann dem vermeintlichen Expertenwissen sprachwissenschaftlicher Subkulturen ausliefern. Soweit weiter gegen Wittgenstein eingewendet wurde, er biete keine Hilfe bei der Übertragung eines Ausdrucks von bisher anerkannten Verwendungen auf neue Verwendungen bei anders gelagerten Sachverhalten126, so ist dies zweifellos richtig, nur kein Einwand gegen Sprac/ttheorie. Denn wie gesagt, Sprachtheorie stellt keinen rechtsexternen Legitimationstransfer bereit 127. Wittgenstein klammert auch nicht - wie stellenweise gemutmaßt wurde 128 - die Frage nach der Kompetenz aus, die Bedeutung eines Ausdrucks verbindlich festzulegen. Nur würde er einer derartigen Frage in dieser Form wohl eher keinen Sinn abgewinnen und sie damit indirekt beantworten: Da sich die Bedeutung eines Zeichens sich nach dessen regelgeleiteten Gebrauch richtet und Regeln im sprachlichen Fluß der Form der Analogizität unterliegen, besteht nie eine Verbindlichkeit einer Bedeutung im Sinne einer vollständigen Einfrierung ihrerselbst. Und soweit Rechtsdogmatik eine gewisse Festigkeit des Gebrauchs reklamiert und hier auf die Frage nach der Definitionskompetenz insistiert - im gleichen Zusammenhang sieht Fikentscher sogar ein Demokratieproblem 129 - , so kann auch hier wiederum nur auf die Praxis des Rechts verwiesen werden 130. Hier wird offensichtlich die Wittgensteinianische Zeichengebrauchs regel mit der Rege][formulierung verwechselt 131. Erstere ist Gegenstand der Sprachtheorie, letztere Gegenstand juristischer Argumentations- und Verfassungskultur. Die Gebrauchstheorie läßt deshalb auch normative Widersprüche nicht im Einerlei der Praxis verschwinden und mündet auch nicht in die Legitimation etablierter Macht, wie dies der Savignyschen Volksgeistlehre vorgeworfen wurde 132 . Wittgen125 Auch wenn dies stellenweise bedauert wurde, wie bei Wank, Die juristische Begriffsbildung, 14. 126 Wank, Die juristische Begriffsbildung, 14. 127 Wie dies bsp. Busse mit seiner Anleitung zur Textarbeit will, vgl. Textinterpretation, Kap. 7. 128 Wank, Die juristische Begriffsbildung, 14. 129 Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 292. 130 Die Fragen, die Wank, Die juristische Begriffsbildung, 14, stellt, sind denn auch typische Fragen bsp. staatsrechtlicher und methodologischer Natur. 131 Sehr deutlich wird dies auch darin, daß Fikentscher, Methoden des Rechts, Bd. 4, 293, versucht, die Figur der ,Wortsinngrenze4 im .hergebrachten Sprachgebrauch4 zu verorten. Hergebracht ist ein Sprachgebrauch nur dann, wenn wir ihm intuitiv folgen. Sobald wir in einem Diskurs über die Tradition des Gebrauchs eintreten, verflüchtigt sich eine derartige Intuition, wie schon oben bemerkt wurde. Fikentscher verwechselt also Regel und Regelformulierung: Nach ersterer wird sprachlich gehandelt, über letztere aber juristisch gestritten. 132 So aber Roellecke, Festschrift Gebhard Müller, 323 (334 f.). Konservativismus, besser: ein Sehnen nach der Unkompliziertheit des common sense, wird Wittgenstein auch im philo-

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stein verweist zwar auf Praxis, doch nicht auf ein Einerlei ihrer selbst; hierzu verhält er sich vielmehr neutral und eröffnet gerade deshalb: weil er die Praxis nicht mit rechtsexternen Legitimationswissen versorgt, die Einsicht in den Reflexionsbedarf der Praxis über die Art und Weise ihrer fortlaufenden Selbstreproduktion, auf den dann auch Kritik selbst hinweist 133 . Es ist die juristische Praxis, die sich ihres Verhältnisses zur konservativistischen Konstanz ihrer Wertungen vergewissern muß, nicht die Sprachtheorie. Ebensowenig wie die normative Dimension verfehlt Wittgenstein auch nicht den Wirklichkeitsbezug des Rechts etwa deshalb, weil die Gebrauchstheorie der Bedeutung Rechtsausdrücke rein innersprachlich vom Gebrauch abhängig sein ließe, Rechtsausdrücke jedoch einen Bezug zur Wirklichkeit aufweisen müßten134. Wittgenstein referiert ja gerade deshalb nicht auf »Wirklichkeit 4, um den Aporien ihrer sprachlichen Repräsentation zu entgehen. Insofern bezieht die Gebrauchstheorie noch sehr viel methodenschärfer »Wirklichkeit 4 in ihren theoretischen Verweisungszusammenhang ein, als es die Repräsentationstheorien je vermochten. Gegen das Wittgensteinisch informierte Sprachverständnis verschlägt auch nicht der Vorwurf, dieses Sprachverständnis könne schon deshalb der Rechtstheorie nicht zur Richtschnur dienen, weil es die in der Gesetzesbindung verborgenen normativen Implikationen des Verfassungsstaates untergraben würde. Dies ist ein durchaus gängiges Argument, mit dem von einem unbestreitbaren Legitimationsbedürfnis auf die Unbestreitbarkeit der jeweils mit dem Bedürfnis vorgetragenen Legitimation selbst geschlossen wird. Nur legitimieren Bedürfnisse allein noch nichts. Der Schluß von dem Bedürfnis auf die Legitimation ist daher ein typischer Fehlschluß135. Das Bedürfnis ist hierbei vollkommen berechtigt. Nur der Weg, ihm nahe zu kommen, ist wenig überzeugend und zudem gerade unter normativen Gesichtspunkten auch gefährlich, da wir ja nicht wissen können, ob mit dem bloßen Verweis auf das Bedürfnis zur Legitimation die Legitimation selbst in der Realität des Sprechens verfehlt wird. sophischen Schriftum stellenweise vorgeworfen, vgl. bsp. Vittorio Hösle y Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, 85 f.; Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 513. Zustimmend bsp. Nyiri, in: Wittgenstein Schriften, Beiheft 3, 1979, 23 ff. Zur Zwiespältigkeit derartiger Etikettierungen siehe nur Grahame Locke, in: Philosophie des Rechts, der Politik und der Gesellschaft, 271 ff. 133 Roellecke, Festschrift Gebhard Müller, 323 (337 f.), spricht mit Verweis auf Hans-Martin Pawlowski, Helmut Ridder und Rudolf Wiethölter (heute wäre freilich noch Friedrich Müller zu nennen) davon, methodische Sätze seien politische Sätze. 134 So aber Wank, Die juristische Begriffsbildung, 14 f. 135 Ein derartiger Fehlschluß ist auch sonst häufig anzutreffen (siehe etwa die Bemerkung von Reese-Schäfer, Grenzgötter der Moral, 468, zur parallelen Kritik an der Sprachphilosophie Lyotards). Selbst bei ansonsten überzeugenden Wittgenstein-Exegeten (wie etwa Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, 203)findet sich aufgrund eines Legitimationsbedürfnisses eine Annäherung an genau das Bedeutungsverständnis, das Wittgenstein in seiner Spätphilosophie kritisiert. Siehe allg. zur Kritik eines Einbezugs rechtstheoretischer Überlegungen in die Rechtsdogmatik nur Smid, Rechtsprechung, 19; allg. Pawlowski, Einführung in die Juristische Methodenlehre, Rn. 245, die die Gefahr sehen, die Unparteilichkeit der Rechtsdogmatik und die durch Rechtsdogmatik konstituierte Wirklichkeit des Prozesses zu verfehlen.

§ 2 Sprache und Handeln: Versuch einer Skizze

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IV. Was bleibt: Die Frage nach der Vertrautheit von sozialen Praxen Die subversive Kraft unserer Sprache liegt in der Wittgensteinianischen Perspektive nach all dem in ihrer Analogizität in der Abfolge des Sprechens. Sprachspiel und Lebensform, Regel und Regelformulierung, Sprache und soziales Handeln, Verstehen und Deuten geben die Stichworte vor, an denen sich die Gebrauchstheorie der Bedeutung abarbeitet. Der Grad der Festigkeit der Bedeutung von Texten ist gekoppelt an das Maß der Rigidität sozialer Praxen und ihrer Argumentationskultur. Zum Maß dieser Rigidität verhält sich der Wittgensteinsche Zugriff auf Sprache neutral. Rechtlich bietet es sich hier augenscheinlich an, mit Blick auf diese Neutralität unvermittelt den Zuschnitt der juristischen Argumentationskultur vor dem Hintergrund der rechtlichen Maßstäbe unseres Verfassungsstaats zu untersuchen, um von hier aus eine normative Plattform zu gewinnen, anhand derer eine argumentationskulturell nicht hinnehmbare Rigidität rechtlicher Praxis angegangen werden könnte. Die Vorfrage, die einem derartigen Unterfangen vorgelagert ist, bliebe dabei aber unbearbeitet. Es ist dies die Frage, mit welchem Maß an Vertrautheit wir unserer sozialen Praxis überhaupt begegnen. Vertrauen ist schließlich nichts anderes als eine berechtigte Erwartung, anhand derer zukünftiges Verhalten und Handlungen des Erwartenden oder des Erwartungsadressaten bewertet wird. Es überzieht - in den Worten Luhmanns136 - „die Informationen, die es aus der Vergangenheit besitzt und riskiert eine Bestimmung der Zukunft", und trägt so zur Stabilisierung unsicherer Erwartungen bei. Für die Sprachlichkeit des Rechts gewendet heißt dies, daß im Vertrauen also nichts anderes als der Rekurs auf eine mehr oder weniger harrsche Regelhaftigkeit im Gebrauch sprachlicher Regeln situiert und in der Umstellung auf Unvertrautes zunächst einmal die Harrschheit dieser Regelhaftigkeit und der ihr zugrundeliegenden impliziten Normativismen selbst thematisiert werden. Treten wir also der Praxis als einem Handlungszusammenhang gegenüber, in dem wir uns als immer schon vertraut eingebunden sehen, werden wir Rigidität und Offenheit einer Praxis von vornherein anders sehen als bei einem Verständnis unserer Praxis, welches dieser gänzlich unvertraut gegenübertritt. Die Fragen, die an eine unvertraute Praxis herangetragen werden, sind schon deshalb andere als die einer vertrauten Praxis gestellten Fragen, weil gerade diejenigen Umstände, die in das Vertrautsein absinken, bei einer Konfrontation mit der Praxis auf der Basis von Unvertrauen zwar nicht hintergangen werden können - die Lebenswelt, aus der sich der Vorrat unseres überlieferten Wissens speist, und die Sprache als Träger der in ihr abgesunkenen Implikationen unserer kulturellen Überlieferungen sind nicht so ohne weiteres hintergehbar - , wohl aber sich einer Einstellung ausgeliefert sehen, die eine vertraute Praxis destabilisieren kann und damit zumindest die Chance er136

Luhmann, Vertrauen, 20.

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öffnet, bis zu den Rändern der kulturellen Überlieferung vorzustoßen 137. Ähnlich spricht Albrecht Wellmer von einem »immanenten Verstehen4, welches innerhalb des Vertrauten lokalisiert, und einem »produktiven Verstehen4, welches verfremdend an Texte herangeht und damit das Unvertraute zur Richtschnur der Textarbeit wählt 138 . Auch das Dissensrisiko der sprachlichen Verständigung wird merklich aufgefangen, je mehr wir uns in einer vertrauten Schicht von Selbstverständlichkeiten bewegen139. Die Unterscheidung zwischen vertrauter und unvertrauter Praxis deckt sich nicht mit den gängigen Differenzierungen zwischen interner und externer Perspektive sowie Beobachter- und Teilnehmerrolle 140. Bei einer internen Perspektive wird in einer sinnverstehenden Einstellung auf Recht als Symbolsystem rekurriert, während in externer Blickrichtung die nicht-sinnhaften Aspekte der »äußeren4 Realität erfaßt werden sollen. In der Teilnehmer- und Beobachterrolle geht es hingegen nicht um die Perspektive in der Betrachtung des Rechts, sondern um Unterschiede in der praktischen Einstellung zum Recht. Der Beobachter versucht anhand der Perspektiven seines eigenen Systems das Leben der Rechtsgemeinschaft in Form einer Fremdbeschreibung zu erfassen. Er versteht seine Deutungen nicht als Element einer gemeinsamen Praxis und zielt nicht unmittelbar auf die Klärung praktischer Fragen. Er verfolgt also keine unmittelbaren Handlungsabsichten im Rahmen der von ihm analysierten sozialen Praxis, wie dies beim Teilnehmer der Fall ist. Demgegenüber ist die Differenz zwischen Vertrauen und Unvertrauen davon unabhängig, ob intern oder extern oder ob als Teilnehmer oder als Beobachter mit Recht gearbeitet wird. Denn auch der sich in interner Perspektive als Teilnehmer dem Recht sich nähernder Rechtsgenosse kann der sozialen Praxis rechtlichen Sprechens unvertraut gegenüber stehen und dennoch (s)einen Sinn der rechtlichen Praxis einfordern und auf Klärung praktischer Fragen bestehen. Denn normative Erklärungen erklären Handlungen durch die Erhellung ihrer normativen Bedeutung und der Ziele und Absichten, die unter der Annahme verfolgt werden können, daß die Handlung die eine oder die andere Bedeutung hat 141 , ihr also eine Bedeutung zugeschrieben wird. Der Rekurs auf Unvertrauen besagt dann vor allem, daß der Vorgang, mit dem einer Handlung eine Bedeutung zugeschrieben wird, nicht innerhalb einer partikularen sprachlichen Lebensform sich abspielt, sondern offen sein muß, sich der ganzen Vielfalt von Lebensformen zu stellen. 137

Siehe dazu unten § 11IV 3 a. Wellmer, in: Demmerling/Gabriel/Rentsch (Hrsg.), Vernunft und Lebenspraxis, 123 (144 f.). 139 Habermas, Nachmetaphysisches Denken, 85. 140 Siehe zu derartigen, seit Husserl und Schütz virulenten Unterscheidungen ausführlich aus je verschiedener Perspektive nur Hart, The Concept of Law, 86 ff., 99 f.; Peters, Recht, Rationalität und Gesellschaft, 33ff., 217ff.; Habermas, Faktizität und Geltung, 61 ff.; Dworkin , Law's Empire, 11 ff.; Luhmann, Die soziologische Beobachtung des Rechts, 1986; ders., Das Recht der Gesellschaft, 496 ff. 141 Baker!Hacker, Language, Sense and Nonsens, 258. 138

§ 2 Sprache und Handeln: Versuch einer Skizze

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Wird den versunkenen Implikationen rechtlicher Praxis auf der Grundlage von Unvertrauen in der Teilnehmerrolle in interner Perspektive begegnet, ist es nach dem bisher Gesagten chancenreicher, diesen versunkenen Bestand durchzuarbeiten. Und dies ist überaus wichtig. Denn mit diesem Chancenreichtum steigt die Aussicht, Recht nicht nur als Praxis (auctoritas), sondern als Recht begreifen zu können, wie noch später näherhin skizziert werden wird. Zudem wohnt einer Arbeit am Recht auf der Basis von Unvertrauen auch ein eminent staatsrechtliches Moment inne: Ein derartiges Arbeiten entspricht - wie ebenfalls gezeigt werden wird - den normativen Implikationen eines pluralistischen Verfassungsstaates. Im Folgenden werden zwei Ansätze skizziert, die sich dem Sprechen in sozialer Praxis einmal aus der Perspektive des Vertrauten und sodann aus dem Blickwinkel des ganz und gar Unvertrauten nähern und die zudem beide die anhand des Wittgensteinschen Sprachverständnisses gezeigte Analogizität von Spràçhe nicht unterlaufen. Der auf Vertrauen bauende Vorstoß ist der transzendentalhermeneutische Ansatz Arthur Kaufmanns 142. Zwar nimmt die Hermeneutik nach den Aussagen ihrer Protagonisten eine Mittelstellung zwischen der Fremd- und der Vertrautheit ein. Dennoch geht es an, das hermeneutische Denken als Beispiel für ein auf Vertrauen fußendes Denken anzuführen, da letztlich die Hermeneutik sich die Aufgabe zuweist, Fremdheit zu überwinden 143. Die zerstreuende Kraft des Unvertrauten schließlich wird anhand der Lektüre Jacques Derridas exemplifiziert 144, dessen Denken stellenweise - sehr treffsicher - als „Sägewerk für Denksicherheiten" 145 gekennzeichnet worden ist. Diese Gegenüberstellung ist nicht unüblich. So hat etwa Odo Marquard das Derridaische Verständnis von Sprache einmal als eines einer ganz und gar fremd gewordenen Welt bezeichnet und dem hermeneutischen Vertrauensverhältnis zu einer immer schon (vor-)verstandenen Welt und Sprache gegenübergestellt146. Diese Polarität von Vertrautheit und Fremdheit wird sich im weiteren als recht fruchtbar erweisen. Auf der mit dieser Konfrontation geschaffenen Plattform wird sodann weiter gefragt werden, was es für für das Recht, seinen (Zivil-)Prozeß und die Rechtsfigur des „Rechtsgesprächs" heißt, daß Sprache in der unvertrauten/vertrauten Praxis des Sprechens situiert.

142

Daneben könnte etwa noch der (freilich nicht hermeneutisch, sondern wittgensteinianisch angelegte) Ansatz von Patterson genannt werden, nach dem es oft keinen Anlaß für eine Interpretation rechtlicher Normen gibt, weil einfach ein Bedürfnis für Interpretation nicht auftreten würde (Patterson , Recht und Wahrheit, 109). Hier liegt in nuce ein sehr weitreichender Rekurs auf die Vertrautheit rechtlicher Praxis als Maxime rechtlichen Recht-Sprechens vor. 143 Gadamer , Wahrheit und Methode, insbes. 300 ff. 144 Daneben könnte auch daran gedacht werden, die soziologischen „Theoretiker der Differenz" zu Wort kommen zu lassen, wie etwa Dirk Baecker, dazu Bardmann, in: ders. (Hrsg.), Zirkuläre Positionen, 107 (insbes. 113 ff.). 145 Bernd Graff \ Noch sind wir aber Gesang, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 230 vom 5. Oktober 1999, S. 17. 146 Marquardt, in: Text und Applikation, Poetik und Hermeneutik, Bd. 9,1981,581 (587 f.); ebenso Broekman, RTh-Beih.6 (1984), 145 (148).

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§ 3 Die Vertrautheit rechtlichen Sprechens im hermeneutischen Theorienkontext I. Die Analogizität von Sprache im Rahmen der Hermeneutik Die sich primär transzendentalphilosophisch (also die Bedingungen der Möglichkeit von Verstehen aufarbeitende 147) denn methodologisch gebende Variante hermeneutischer Textarbeit Arthur Kaufmanns 148 kommt der Analogizität des Sprachgebrauchs im Ergebnis ziemlich nahe. Sie focussiert strikt das Gestaltungsmoment rechtlichen Handelns und betont damit den Charakter der Rechtswissenschaft als Handlungswissenschaft. Sehr deutlich wird dies daran, daß Kaufmann - im Gegensatz zur an der ,Sache Recht4 orientierten, in dieser Untersuchung später noch näherhin untersuchten Variante der Hermeneutik und der Wertungsjurisprudenz - Gerechtigkeit nicht als einer der Rechtsentscheidung vorgeordnete, sondern als aufgegebene Größe, als Attribut des konkreten Richterspruches versteht und Recht insofern nicht als Zustand, also nicht als Objekt richterlicher Erkenntnis, sondern als Akt, als Produkt eines Prozesses hermeneutischer Sinnentfaltung begreift: als Produkt einer personal fundierten rechtlichen Prozedur im Kontext einer relationalen, nicht substantialistischen Ontologie des Personalen149. Eine objektive Richtigkeit des Rechts außerhalb des hermeneutischen Rechtsfindungsvorganges wird insofern dezidiert bestritten 150. All dies bettet Arthur Kaufmann in ein zweidimensionales Sprachkonzept ein. Er unterscheidet zwischen einer rational-kategorialen, relativ exakten Dimension insbesondere des Fachsprachlichen und einer intentional-metaphorischen, analogen Dimension151. An dieser Unterscheidung sind zwar durchgän147

Vgl. nur Arthur Kaufmann, Über Gerechtigkeit, 24. Arthur Kaufmann, Analogie und Natur der Sache, 77 f.; ders., Rechtsphilosophie im Wandel, 157 ff.; vgl. auch U. Neumann, in: Hassemer (Hrsg.), Dimemsionen der Hermeneutik, 49 (53 m.w. Nachw.). 149 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie in der Nach-Neuzeit, 32ff., 40ff., ders., Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, 23 ff.; ders., RTH 1986, 257ff. Auf die Ausarbeitung einer personal gegründeten prozeduralen Theorie der Rechtsfindung weist Kaufmann ausdrücklich hin, vgl. Kaufmann, Über Gerechtigkeit, 26. 150 Vgl. nur Arthur Kaufmann, in: ders ./Hassemer (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 30 (123 f., 175 ff.); ders., Analogie und „Natur der Sache", 37ff.; ders., Beiträge zur juristischen Hermeneutik, 81, 84ff. 151 Arthur Kaufmann, Beiträge zur Hermeneutik, 34ff., 106ff.; ders., Analogie und „Natur der Sache", 73 f.; ders., Über Gerechtigkeit, 178 ff. Haft, in: Kaufmann/Hassemer, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 269 (276 ff., 280ff.), hat diese Zweidimensionalität als Widerspiegelung der Lehren bsp. Carnaps und des Wittgenstein der Tractatus-Ära auf der einen und der Lehren der Hermeneutik und des späten Wittgenstein auf der anderen Seite rekonstruiert. Von dieser Warte aus wird deutlich, daß Kaufmann für strenge Analogizität auch nach seinen eigenen Prämissen votieren muß, vgl. klarer Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache", 4f.; ders., Parallelwertung in der Laiensphäre, 26. Vgl. auch Müller-Dietz, in: Hassemer (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik, 157 (159ff.); Christensen, Gesetzesbindung, 155 ff.; Busse, Juristische Semantik, 95 ff. 148

§ 3 Die Vertrautheit rechtlichen Sprechens im hermeneutischen Theorienkontext

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gige Zweifel angebracht, da unklar bleibt, woher eine fachsprachliche Praxis die Exaktheit ihrer Sprache erlangen soll, wenn die Praxis selbst nicht in ihrer fortlaufenden sprachlichen Reproduktion als quasi „stillgestellt" - „eingefroren" - gedacht werden kann. Letztlich schadet die von Kaufmann angenommene Zweidimensionalität von Sprache jedoch deshalb nicht, weil sie ohne weiteres in durchgängige Analogizität von Sprache wendbar ist 152 . Dem durch den Rekurs auf Exaktheit durchschimmernden Wissenschaftsideal kann durch normative Anforderungen an die Rigidität der sozialen Praxis rechtlichen Sprechens Rechnung getragen werden. Mit Blick hierauf hat Odo Marquardt einmal die Genese der Hermeneutik zu Recht beschrieben als „Replik auf den Bürgerkrieg um den absoluten Text" und als „die Geschichte der Humanisierung der rigorosen Texte zu solchen, die mit sich reden lassen". 153 Im Ergebnis treffen sich daher durchaus der in den theoretischen Grundlagen freilich mit Wittgenstein unverträgliche hermeneutische Ansatz Kaufmanns und das sprachanalytische Konzept Wittgensteins.

II. Hermeneutisches Praxisvertrauen Odo Marquard hat die Genese der Hermeneutik nicht nur in den soeben beschriebenen Kategorien von „Bürgerkrieg" und „Texthumanisierung" beschrieben, sondern hat - und hiervon war schon die Rede - dem hermeneutischen Vertrauensverhältnis zu einer immer schon (vor-)verstandenen Welt und Sprache dem Rekurs auf Unvertrauen gegenübergestellt154; Jan Broekman hat hieran angeschlossen und einen beträchtlichen Teil der Humanisierung von Recht und Text in dem Verzicht auf hermeneutische Text-Vertrautheit und ihren „Je-schon-Verstandenen" verortet. Statt von einem hermeneutischen Verstehen spricht er von einem semiotischen Verstehen im Hinblick auf gesellschaftliche Praxis 155. Und Stanley Cavell - ein in den USA einflußreicher Sprachphilosoph Wittgensteinscher Prägung - notiert zu Recht, daß das Vertraute zum Produkt der Erfahrung des Unvertrauten wird, wenn es seinen blinden Boden der Alltäglichkeit einmal selbst skeptisch erschüttert hat 156 . Nun basiert die Juristische Hermeneutik Arthur Kaufmanns zu einem Gutteil auf der transzendentalphilosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers 157. Dieser wiederum geht im Rahmen der hermeneutischen Tradition von der „Macht des guten Willens" als unabdingbare Voraussetzung aller sinnvollen Kommunikation aus158. Hier152 Im Ergebnis sollte deshalb der Kritik Christensens, Gesetzesbindung, 155 ff., nicht zugestimmt werden. 153 Marquardt, in: Text und Applikation, Poetik und Hermeneutik, Bd. 9, 1981, 581 (586). 154 Oben §2IV. 155 Broekman, RTh-Beih.6 (1984), 145 (148 ff.). 156 Cavell , Conditions handsome and unhandsome: the constitution of Emersinian perfectionism, 99; ders., In Quest of the Ordinary, 166. Zu Cavell siehe die Beiträge zum Schwerpunktthema Cavell in Heft 2 der DZPhil 46 (1998). 157 Siehe nur Kaufmann, Beiträge zur Juristischen Hermeneutik, 32, 51, 74ff., 86 f., 92 ff. 158 Gadamer , in: Forget (Hrsg.), Text und Interpretation, 24 (38).

4 Goebel

Kap. 1 : Sprachtheoretische Skizzen

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in kann ein deutlicher Hinweis aus die Kräfte des Vertrauten gesehen werden 159, der denn auch die Hermeneutik Kaufmanns beeinflussen muß und dessen verharmlosende Kraft Derrida veranlaßt hat, umgekehrt von einem „guten Willen zur Macht" zu sprechen 160. Etwas pointiert ausgedrückt, setzt der hermeneutische Umgang mit Texten Recht der Gefahr aus, sich dem Traditionszusammenhang des geschichtlich Vertrauten auszuliefern und im Leitbild des kulturellen Vorverständigtseins die durch die Eingebundenheit in sprachliche Lebensformen geprägte individuelle Differenz der einzelnen Rechtsarbeiter zu bagatellisieren 161. Die sich anschließende Frage lautet dann: Läßt sich das Unvertraute auf dem Boden der Hermeneutik überhaupt bewältigen oder ist dieses dazu angetan, die Hermeneutik selbst noch in Frage zu stellen 162 ? Sehr deutlich wird die geschilderte Gefahr bei Gadamer 163, der Verstehen als Verschmelzen der Horizonte begreift, also als durch das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein kontrollierte Ergebnis eines Einrückens in ein den Autor und den Interpreten prozessierendes und in die Sprache eingeschriebenes Überlieferungsgeschehen - ein Verständnis von Verstehen, welches Habermas immerhin zu dem gegen Gadamer gerichteten Diktum veranlaßt hat, hier läge eine „Rehabilitierung des Vorurteils" vor 164 . Anders gesagt: Es besteht für die Hermeneutik kaum ein Ansatzpunkt, der Stabilität rigider sozialer Praxen im Befolgen sprachlicher Regeln etwas im Recht als Recht entgegenzusetzen. Vielmehr würde jeglicher Vorstoß gegen die Stabilität rechtlichen Sprechens letztlich zumindest der Tendenz nach automatisch nicht unter dem Signum „Interpretation des Rechts", sondern unter der Rubrik „Rechtskritik" verbucht und damit aus dem Verweisungszusammenhang rechtlicher Dogmatik ab ovo entfernt. Hier wiederum besteht die Gefahr, das innere System des Rechts letztlich bloß so zu gründen, daß nur ein Teil der Rechtsgenossen vor dem Hintergrund ihrer partikularen Lebensform das System des Rechts als ihr System des Rechts erkennen kann, wie noch gezeigt werden wird. Es wird sich also zeigen lassen, daß es gute Gründe dafür gibt, im Recht nicht von dem Vertrautem seiner Praxis, sondern von Unvertrauen auszugehen. Ein derartiger Ansatz, der radikal auf Unvertrautheit setzt, hat Jacques Derrida vorgelegt.

159

Und zwar trotz des Verweises der Hermeneutik als „Stellung zwischen Fremdheit und Vertrautheit" (Gadamer, Wahrheit und Methode, 300), dazu Waidenfels, Vielstimmigkeit der Rede, 68 ff. 160 Derrida , in: Forget (Hrsg.), Text und Interpretation, 54 (57 f.), 62 ff. 161 Joas, Die Entstehung der Werte, 243 f., allgemein für das „Individuum". 162 Diese Frage stellt explizit Waidenfels, Vielstimmigkeit der Rede, 67. 163 Wahrheit und Methode, Bd. 1 = Werke I, 311. 164 Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, 66. Siehe ansonsten zum Konservativismusvorwurf ders., ebd., 90ff.; ders., Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 192ff.; Wellmer, in: Demmerling/Gabriel/Rentsch (Hrsg.), Vernunft und Lebenspraxis, 123 (142f.).

§ 4 Unvertrautheit unserer Praxis als Phänomen der Zerstreuung von Sprache

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§ 4 Unvertrautheit unserer Praxis als Phänomen der Zerstreuung von Sprache Die Sekundarität, die man glaubte der Schrift vorbehalten zu können, affiziert jedes Signifikat im allgemeinen, affiziert es immer schon, das heißt, von Anfang, von Beginn des Spieles an. Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme, welches die Sprache konstituiert, und sei es nur, um ihm letzten Endes wieder anheimzufallen. (...) heute kommt das Spiel zu sich selbst, indem es die Grenze auslöscht, von der aus man die Zirkulation der Zeichen meint regeln zu können, indem es alle noch Sicherheit gewährenden Signifikate mit sich reißt (...). Jacques Derrida

165

In der Theoriewelt Jacques Derridas figuriert Sprache als ein Gewebe von Verweisungen und Aufschüben und Sinn als ein Phänomen der Zerstreuung. Es ist - wie schon bemerkt wurde - die Theorie einer ganz und gar fremd gewordenen Welt. Das Derridaische Gedankennetz ist kompliziert. Doch nicht nur dies, es präsentiert sich - und zwar nicht aus stilistischen, sondern aus theoretisch wohl erwogenen Gründen 166 - in einer expressiv-verrätzelnden Begrifflichkeit mit geradezu autistischem Einschlag, gewissermaßen als hermetischer Text bar jeder Verständlichkeit, so daß die Derridaischen Texte auf den Fachjuristen in ihrer vermeintlich praxisenthobenen Vertracktheit und in ihrem „absichtsvoll obskuren Sprachduktus" 167 nicht nur abweisend, sondern sogar wohl eher abstoßend wirken dürften. Derrida sträubt sich geradezu einer systematischen Lektüre. Ziel der folgenden Skizzen ist denn auch nicht, den Facettenreichtum des dekonstruktivistischen Ansatzes Derridas in quasi didaktischer Absicht widerzuspiegeln. Vielmehr sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, anhand Derrida die Unvertrautheit rechtlicher Praxen als eine „Weise" 168 des Umgangs mit Recht ans Licht zu holen, um sodann die hier vorgeschlagene Konzeption des zivilprozessualen Rechtsgesprächs zu untermauern, nachdem zuvor gezeigt worden ist, daß es gute Gründe gibt, das Derridaische Denken der Arbeit am Recht zugrundezulegen. Aufgrund dieser beschränkten Zielsetzung reicht es hin, ebenso wie bei den Skizzen zu Wittgenstein, den Derridaischen Ansatz anhand einer besonderen (lesbaren und demnach interdisziplinär rezeptivchancenreichen) Rezeption zu entfalten, die vor allem mit dem Namen Manfred Frank verbunden ist 169 .

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Derrida , Grammatologie, 17 f. Dazu unten §4 III 2. 167 Teubner, Soziale Systeme 2 (1996), 229 (230). 168 Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, 1984. 169 Die Texte dieser Rezeption sind besonders verständlich geschrieben und bieten sich deshalb hier geradezu an - wobei nicht unterschlagen werden soll, daß Frank mit Derrida ansonsten nicht gerade zimperlich umgeht, indem er ihn in die Nähe eines schlechten Sozialdarwinismus rückt (siehe Frank, Condition moderna, 126 ff.). 166

4+

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Kap. 1 : Sprachtheoretische Skizzen

I. Differenz 1. Dekonstruktion

und Struktur

Derrida knüpft an die Zeichentheorie de Saussures an. De Saussure unterscheidet langage (die menschlichen Sprachfähigkeit schlechthin), langue (also die jeweilige Nationalsprache als System) und parole (die einzelne Sprechhandlung). Langue ist ein soziales Faktum im Sinne eines allen Angehörigen einer Sprachgemeinschaft bekannten Codes, der gruppeneigene Zeichenvorrat, der als Summe von Engrammen (was man mehr oder minder glücklich mit „psychischen Spuren" übersetzen kann) jedem Sprachteilnehmer innewohnt. Den individuellen Akt des Sprechens, in welchem von dem gemeinsamen Zeichenvorrat Gebrauch gemacht wird, nennt de Saussure »parole*. Nun besteht nach de Saussure die langue nicht in einer zufälligen Ansammlung einzelner Äußerungen, sondern aus einem System von Elementen und Beziehungen, das den Äußerungen zugrundeliegt: Es besteht aus einem in sich geschlossenen, geordneten Ganzen, in dem alle Teile sich aufeinander und auf das Ganze beziehen, zudem in bestimmter Art und Weise durch Akte der Unterscheidung und der Verknüpfung verbunden sind, insofern eine Struktur bilden und dabei bestimmte Funktionen innehaben170. Eine derartige Struktur ist - grob beschrieben - ein System, bei dem jedem Ausdruck - quasi wie in einem Bauplan eines Kristallgitters - eine und nur eine Bedeutung nach einer festen und dauerhaften, sowohl die Unterscheidung der Zeichen wie ihre Rekombination erlaubenden Regel zugeordnet ist. Die einzelnen Zeichen verhalten sich zu dem ihre Anwendung bestimmenden invarianten Gesetz wie einzelne Fälle zu dem Begriff, unter den sie fallen 171 . Vor diesem Hintergrund formuliert de Saussure ein Gesetz der differentiellen Bestimmung der Zeichen: Die Identität eines Zeichens wird durch die Abgrenzung seiner selbst von allen anderen Zeichen im Zeitpunkt seiner Äußerung gesichert, also nur über die Analyse der parole. Den exaktesten Umriß gewinnt ein Begriff mithin darin, das zu sein, was die anderen nicht sind. Begriffe werden von de Saussure also nicht positiv durch ihren Inhalt, sondern negativ durch die Differenz zu den anderen Zeichen, den Oppositionstermen des Sprachsystems bestimmt - aber immerhin noch im Rahmen eines festgefügten »Systems4. Der Sinn eines Zeichens, dessen semantische Identität, verändert sich nach de Saussure aufgrund der kristallinen Struktur sprachlicher Rede nicht im Verlauf der Kommunikation. Es ist dieser Gedanke der strukturalen Geschlossenheit von Sprache (ihr Kristallgitter), auf den der gesamte klassische Strukturalismus beruht und auf den in anderer Weise auch weite Teile der angelsächsischen Sprachphilosophie setzen. Genau gegen diese Vorstellung der strukturalen Geschlossenheit von Sprache, der Garantie semantischer Bedeutungsidentität während des Zeichenaustauschs oder 170 171

Vgl. nur Frank, Neostrukturalismus, 40ff. Frank, Neostrukturalismus, 34 f.

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während zweier Zeichenverwendungen setzt Derrida zum Angriff an: Der Gedanke der differentiellen Bestimmung der Zeichen könne den Gedanken der Geschlossenheit der Struktur und des Textes nicht nur nicht implizieren, er schlösse ihn sogar aus172. Die Zeichenbildung zerstöre jegliche Systematizität sprachlicher Struktur. Zwar verlange der Sprachcode, salopp gesagt, die Sprachkonvention, eine gewisse Distanznahme des Sprechers von seinen Äußerungen, damit interindividuelle Verständigung überhaupt möglich wird - Derrida spricht von absence - ; der Sprecher muß gleichsam mit seinen individuellen Intentionen hinter dem von ihm Geäußerten zurücktreten 173. Doch dieses Zurücktreten ist nichts Statisches. Denn bei der Wiederholung eines Sprechakts verfließt Zeit. Insofern differenziert jede Wiederholung eines Zeichens, indem man den ersten und den zweiten Gebrauch eines wiederholten Zeichens unterscheiden kann. Zudem schiebt die Wiederholung auf. Sie verteilt die beiden Verwendungen auf zwei Zeitstellen.

2. Differenzen

- Spuren - différance

Vor diesem Hintergrund bezeichnet Derrida den überindividuellen Anteil am Sprechen, ohne welchen die Kontinuität der Verständigung und der Überlieferung nicht denkbar wäre, als „restance non-présente d'une marque différentielle" 174. Plastisch formuliert, ist die lautliche Wiederholung eines Sprechakts nicht derselbe Gebrauch des Sprechakts selbst, sondern ein anderer Gebrauch derselben Marke, derselben ,nicht-präsenten Bleibe einer differentiellen Mark(i)e(rung)\ Doch ansonsten bricht die Wiederholung der unabhängig vom Kontext, Zeit und Ort ja wiederholbaren Zeichen die Statik der de Saussureschen geschlossenen kristallinen Strukturen von Sprache auf: „Wenn ein Zeichen seinen bestimmten Sinn nur dadurch erwirbt, daß es sich von allen anderen Zeichen unterscheidet" - dies ist das de Saussurce Gesetz differentieller Zeichenbestimmung - , „dann verweist es offenbar nicht zuerst auf sich selbst. Sondern es nimmt, sozusagen, den Umweg über alle anderen Zeichen des Systems und kommt erst danach identifizierend auf sich selbst zurück". Es ist danach „von sich selbst durch nicht weniger als durch das Universum aller anderen Zeichen" und aller anderen Texte getrennt 175. Im Durchlauf durch alle Zeichen wird das durchlaufende Zeichen von allen markiert, das es nicht ist; es trägt deren Spur - die Spur der Abwesenheit der je anderen Elemente176. In jedem Zeichen sind daher »gegenwärtig4 immer nur die anderen, abwesenden Zeichen, die ihre Spuren legen; kein Element ist irgendwo an- oder abwesend. Es gibt nichts als Spuren. Jede Spur verweist auf etwas, was nicht statisch präsent ist, sondern weiterverweist in172

Frank, Neostrukturalismus, 576. Vgl. Frank, Neostrukturalismus, 509 ff. 174 Derrida , Marges de la Philosophie, 378; dt. Randgänge der Philosophie. Zur Figur der ,Marke4 vgl. nur Frank, Neostrukturalismus, 550ff. 175 Zitate bei Frank, Neostrukturalismus, 95 f., Hervorhebung im Original. 176 Dazu Bennington, in: Bennington, Derridabase/Derrida, Zirkumfession, 83 f. 173

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Kap. 1 : Sprachtheoretische Skizzen

nerhalb eines Gefüges von Verweisungen; jeder Text ist dem Rezipienten unbewußt aus Spuren gewebt, die selbst wiederum in sich selbst ursprungslos sind. All dies hat weitreichende Folgen: Es „bedeutet, daß die Differenz ursprünglicher ist als die Identität" 177 . Und Wiederholbarkeit der Zeichen zieht noch weiteres nach sich. Wiederholbarkeit verhindert nicht bloß die statische, im Kristallgitter der Sprache eingefrorene Selbst-Präsenz eines Zeichen in der Wiederholung seiner selbst (also seine Identität in der Zeit), sondern vereitelt schon die Möglichkeit, ein nicht wiederholtes Zeichen als mit sich selbst identisch zu erkennen. Das klingt nur auf den ersten Blick abenteuerlich. Ein zweiter Blick greift hier weiter. Erstens: Wenn semiologische Ordnungen - wie schon gesagt wurde - einem Zeichen nur über den Umweg über alle anderen Zeichen sein eigene Identität vermitteln können, ist das Zeichen an der unmittelbaren Wahrnehmung seiner eigenen Identität gehindert, da zwischen ihm und ihm selbst die Menge aller anderen Zeichen steht, von denen sein „Wert" abhängt178. Zweitens: Wenn der „Durchlauf 4 durch alle anderen Zeiten irgendwann einmal aufhören könnte, hätte zwar ein Zeichen genau eine Bedeutung und hätte damit Identität gewonnen. Ein derartiger Durchlauf kommt aber niemals zum Ende, da Sprache sich ständig im Ruß befindet und durch das Sprechen verändert wird, Zeichen sich unabsehbar und immer wieder wechselnd konfigurieren 179. Dies heißt aber nichts anders, als daß die Verschiedenheit des Zeichens von allen anderen Zeichen in die Unendlichkeit erstreckt wird. Ein Zeichen kann so nicht „zu sich selbst" kommen und Identität erlangen. Die formale Organisation, die »verlaufende Kraft 4 dieses Gewebes von Verweisungen und Aufschüben nennt Derrida dann ,différance 4 oder auch „Ursprung, Urschrift, Reserve, Bruch, Artikulation, Supplement44180. Was damit gemeint ist, erhellt ein von Derrida selbst gezogener Vergleich zur Hegeischen Denkfigur der „Aufhebung 44: „Könnte man die différance definieren, so müßte man sagen, daß sie sich der Hegeischen Aufhebung überall, wo sie wirkt, als Grenze, Unterbrechung und Zerstörung entgegenstellt44181. Das Konzept der Différance drückt aus, wieso die Bedeutung eines Begriffs nicht fest-gestellt werden kann. Sie ist vornehmlich etwas, was sich vollzieht. Sie ist zudem nicht einfach »Differenz 4; traditionelle Metaphysik in der Nachfolge Hegels hebt Differenzen in der Einheit des sich selbst gegenwärtigen Geistes auf. Die différance ist vielmehr „jene Bewegung, durch die sich die Sprache oder jeder Code, jedes Verweisungssystem im allgemeinen »historisch 4 als Gewebe von Differenzen konstituiert 44182. Sie ist „das systematische Spiel 177

Und in klassischen Zusammenhängen damit konsequent in eine Paradoxie mündet. Zitat im übrigen bei Frank, Neostrukturalismus, 95. 178 Dazu Frank, Neostrukturalismus, 51 Iff., 542ff.; Bennington, in: Bennington, Derridabase/Derrida, Zirkumfession, 86 ff. 179 Frank, Neostrukturalismus, 512. 180 Derrida , Positionen, 50; vgl. auch ders., Randgänge der Philosophie, 38. 181 Derrida , Positionen, 86. Hervorh. i. O. 182 Derrida , Randgänge der Philosophie, 38, Hervorhebung im Original.

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der Differenzen, der Spuren von Differenzen, der Verräumlichung, mittels derer sich die Elemente aufeinander beziehen"183. Der Neologismus ,4ifférance" kann insofern als ein Kürzel für die fortlaufende Semiose genommen werden, die die Sprache ursprungslos zerwebt. Dies heißt freilich nicht, daß selbst eine punktuelle Bedeutung von Zeichen unmöglich wäre: Differenz ist nie total - sie würde sich ansonsten von dem lösen, von dem sie differiert und damit aufhören Differenz zu sein - , sondern angesichts der ,restance non-présente d'une marque différentielle 4 stets partiell 184 .

3. Entgrenzung - Zerstreuung Die Identität einer Bedeutung ist nach all dem etwas rein Hypothetisches. Sprache hat den Charakter der Zerstreuung (dissémination). Die Grenzen der semantischen Identität eines Zeichens sind Funktionen eines offenen Systems permanenter Neudifferenzierung ohne mögliche »Präsenz4 eines Zeichens mit sich selbst185. Eine gesicherte Bedeutungsidentität eines Zeichens in seiner Wiederholung geht damit verloren. Sinn und Bedeutung richten sich ein als Wirkung der differentiellen Beziehungen zwischen den »Marken4. Metaphorisch kann hier von einem Spiel der Differenz in den Zeichen die Rede sein. Kraft dieses Spiels ergeht Sinn: „Nicht ein Subjekt ,re-präsentiert 4 seine Intentionen in den Zeichen, sondern ,Sinn4 und »Bedeutung4 stellen sich ein als Effekte der differentiellen Beziehungen zwischen den ,Marken 4: als ein Prozeß autonomer Differenzierung von Welt 44186 . Jedes Zeichen steht damit in der Offenheit unabsehbarer Deutungsmöglichkeiten. Ein Anarchie der Interpretation ist damit nicht verbunden, da jede Interpretation in Spuren eingebettet und so relativ auf die Deutung ist, deren Innovation sie betreibt 187. Vor diesem Hintergrund überrascht es denn auch nicht, daß Derrida Verstehen - wenn denn davon hier überhaupt die Rede sein darf - ganz anders begreift, als man es gemeinhin gewohnt ist. Derrida begreift Verstehen nicht wie in der transzendentalphilosophischen Hermeneutik Gadamers188 als Verschmelzen der Horizonte im Dialog mit der Geschichte, also eben nicht als durch das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein kontrollierte Ergebnis eines Einrückens in ein Überlieferungsgeschehen, welches zur Auflösung der Andersheit des zu verstehenden Gegenstandes 183

Derrida , Positionen, 67 f. (Hervorhebung i.O.). Dazu Frank, Neostrukturalismus, 549 ff. Frank interpretiert das Problem der petitio principii der Zuordnung von Sinn an die Marke so, daß die Einheit der Marke „ohne dauerhafte Identität" ist, daß „die Einheit, in welche eine gegebene Interpretation den Sinn mit seinen Ausdruck versetzt, nicht dauerhaft ist, sondern relativ bleibt auf die Einsetzungshandlung", Frank, ebd., 552. 185 Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 447. 186 Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 515, Hervorhebung i.O. 187 Frank, Neostrukturalismus, 556. 188 Wahrheit und Methode, Bd. 1 = Werke I, 311. 184

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Kap. 1 : Sprachtheoretische Skizzen

führt. Bei Gadamer gehen insofern verstehendes Subjekt und zu verstehende Tradition in der Einheit der mit sich selbst vermittelnden Wirkungsgeschichte auf. Gekoppelt ist dies mit der Rehabilitierung von Autorität und Tradition. Demgegenüber steht Derrida dafür, daß allein schon die Sprache ein derartiges Unterfangen vereitelt: interpretans und interpretandum sind voneinander getrennt - und zwar ohne Aussicht auf Vermittlung in einer die Unterschiede aufhebenden Einheit. Gerade hierin (in der fehlenden Aussicht auf Vermittlung) würde freilich gemeinhin eine Paradoxie gesehen - ein schwerwiegender Vorwurf, der uns denn auch noch näher beschäftigen wird 189 . Für Derrida wäre die fehlschlagende Vermittlung hingegen nur Ausdruck des Wirkens der différance. Ein irgendwie geartetes Vertrauen in die bindende Kraft des Überlieferungsgeschehen fällt mithin vollständig fort. Derrida würde Verstehen nach alldem als Herausarbeiten der Unterschiede ansehen, die nicht in einer Einheit miteinander verschmelzen können190. Ein Herausarbeiten, das Gadamer als Anfang des Gesprächs, nicht wie Derrida als dessen Ziel avisiert 191. Doch gerade darin kristallisiert sich die Kritik Derridas, der in der Idee der Verständigung im Dialog allenfalls eine Perpetuierung des metaphysischen Willens zur Macht sieht, der abweichende Individualität, Differenz und Dissidenz unterdrücken müsse 192 . In der so ganz anderen Sicht des Verstehens liegt denn auch die unmittelbare Antithese Derridas zur Hermeneutik.

II. Gegenangriff I: Die Kritik durch die Searlsche Sprechakttheorie Das Derridasche Denken stieß gerade im deutschen und angelsächsischen Denkraum auf eine überaus vehemente Kritik. Zwei Punkte interessieren hier nur. Der eine Punkt wirft diesem Denken schlicht und einfach vor, es sei Ausdruck einer überbordenden Unvernunft. Dies ist eine schwierige Frage. Bevor sie erläutert wird, soll auf den zweiten Punkt eingegangen werden. Wie wir noch sehen werden, ist dieser zweite Punkt nicht nur im Rahmen der hiesigen Skizzen zu Derrida wichtig. Vielmehr kann anhand dieses Punktes auch gezeigt werden, wieso das noch weiter unten näher diskutierte Verständnis des Rechtsgesprächs nicht haltbar ist, welches die Diskurstheorien des Rechts entwickelt haben. Die Diskurstheorien des Rechts sind mit einem Derridaischen Ansatz schlechthin unverträglich. Schlüge der nunmehr zu erläuternde kritische Punkt gegen Derrida letzten Endes durch, bräche damit auch ein Gutteil der Kritik an den Diskurstheorien in sich zusammen. Für die insofern nun zu entfaltende Kritik steht paradigmatisch die seinerzeit Aufsehen erregenden Debatte193 zwischen 189

Unten §4 III. Dazu Kimmerle, Derrida, 52; vgl. auch Grondin , Philosophische Hermeneutik, 174ff. 191 Gadamer , Wahrheit und Methode, Bd. 2 = Werke II, 361 (372). 192 Vgl. dazu Grondin , Philosophische Hermeneutik, 174 ff. 193 Die Dokumente dieser Kontroverse sind niedergelegt in Derrida , Randgänge der Philosophie, 291 ff.; ders., Limited Inc. abc..., 1993; Searle , Glyph 1 (1977), 198 ff. Vgl. zu dieser Debatte nur Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 493 ff.; ders., Neostrukturalismus, 505 ff. 190

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Derrida und einem der wichtigsten Protagonisten der analytischen Sprachphilosophie, John R. Searle, der als Sprechakttheoretiker auch einer der Gewährsmänner von Habermas ist 194 .

1. Beherrschbarkeit

des Sprachgebrauchs und Sprechakttheorie

In der Debatte Searles mit Derrida geht es u. a. um den theoretischen Stellenwert der Fehlschläge kommunikativen Verständnisses - und zwar nicht in poetologischen Zusammenhängen, sondern in Sprachsituationen des Alltags. Sehr vereinfacht gesagt, will Searle aus der unendlichen Mannigfaltigkeit von Sprechen eine Klasse von Universalien unter einem bestimmten Erkenntnisgesichtspunkt des Gelingens sprachlicher Verständigung herausfiltern, wobei Verständigung für Searle die Erschließung des vom Sprecher intendierten Wortsinns ist 195 . Wortsinn wird dabei von Konventionen abhängig gedacht. Die Konventionalität sprachlicher Handlungen wird von Searle als »Repetition4, als Wiederholbarkeit des Selbigen übersetzt: „any conventional act involves the notion of the same"196. Der Sprachgebrauch gilt damit für jeden Teilhaber der betreffenden Sprachkonvention als prinzipiell beherrschbar. Und dies gilt auch für die Mitteilung der Intentionen des Sprechers, deren Identität im Mitteilungsakt laut Searle „more or less perfectly" 197 gewahrt bleibt: Die Intentionen bleiben Funktionen eines allgemeinen und in sich geschlossenen sprachlichen Systems, welches für ihre Entschlüsselung garantiere 198. Searle spricht hier unmißverständlich von einer „Taxonomy of Illocutionary Acts" 199 . System und Regeldominanz sind daher die leitenden Stichworte der Searleschen Theorie.

2. Das Problem des „more or less perfectly" Doch genau an diesem „more or less perfectly", dieser theoretisch ins Abseits gewiesenen Zerstreuung von Sprache innerhalb des rigiden Code-Modell sprachlichen 194

Habermas, Vorstudien und Ergänzungen, 362, 395 ff. Vgl. dazu und zum folgenden auch Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 493 ff.; ders., Neostrukturalismus, 505 ff. 196 Searle , Glyph 1 (1977), 198 (207). 197 Searle , Glyph 1 (1977), 198 (202). 198 Frank charakterisiert dies sehr plastisch: es sei bei Searle wie bei der sprachwissenschaftlichen Pragmatik „(k)eine Rede von den Wölfen der Unentscheidbarkeit: der pragmatische Hirte hat sie alle unter Kontrolle, um Derridas Gleichnis wieder aufzugreifen", Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 187. 199 Searle , Expression and Meaning, Kap. 1. Der illokutionäre Aspekt eines Sprechakts ist das, was getan wird, indem etwas gesagt wird, mithin das Gesagte in einer bestimmten Weise verwendet wird (z.B. Warnung, Rat, Empfehlung), vgl. dazu näher (anhand der Philosophie Austins als des Begründers der Sprechakttheorie) v. Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache, 128 ff. 195

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Kap. 1: Sprachtheoretische Skizzen

Handelns Searles setzt Derrida an. Er hält gegen Searle, es gebe kein Kriterium dafür, daß zwei Verwendungen desselben Sprachtyps bedeutungsgleich seien200. Fehlschläge sprachlicher Verständigung kämen nicht nur beständig vor, sondern konstituierten geradezu eine notwendige und interne Möglichkeit sprachlicher Rede, so daß die Sinneffekte des Geäußerten niemals mit zwingender Sicherheit konventionell beherrscht werden könnten: Nicht „repeatability of the same, but rather alterability of this same"201. Dies wiederum habe zur Folge, daß die Möglichkeit von Sinnveränderung bei der Wiederholung von Zeichen nicht nur alltagssprachlich einsichtig sei. Diese Möglichkeit müsse zudem auch in der Theorie selbst nachgezeichnet werden. Nun bestreitet Derrida selbstverständlich nicht, daß die Sprecher des jeweiligen Sprachkreises die verwendeten sprachlichen Ausdrücke auf die gleiche Bedeutung hin überschreiten und sie nach gleichförmigen Gesetzen im Anschließen an Marken verknüpfen - hierin stimmt er mit Searle überein. Derrida bestreitet auch nicht, Intentionen des Autors spielten beim Vollzug der Sprechhandlung überhaupt keine Rolle. Er bestreitet nur, daß die Sprecherintention den Sinn der Äußerung auf Dauer fixieren kann 202 . Derrida ficht dezidiert die Vorstellung an, daß die von Searle als Wiederholung des Selbigen aufgefaßte Wiederholung von Zeichen - und Wiederholung heißt für Derrida ja ein anderer Gebrauch derselben, insofern wiederholten Marke - nicht mit bloßer, maschinenhafter Wiederholung des Identischen als theoretische Leitfigur gleichgesetzt werden dürfe. Denn aufgrund der unkontrollierbaren Tätigkeit der Differenzbildung und der Differenzverschiebung besteht strukturell die im Sprachcode angelegte Möglichkeit, von Sprachkonventionen in der Wiederholung eines Sprechakts abrücken zu können und eine neue Marke zu setzen. Die Dynamik der Sprache entfaltet als „Holzfeuer im hölzernen Ofen" 203 eine subversive Kraft, die jedes statische Regelsystem von Sprache ad Absurdum führt. Sprache decodiert zwar ihre Ordnung nicht, sie unterminiert sie aber und führt sie in neue Idiome über- wie könnte sie sonst verführen. Insofern besteht Derrida auf eine Sprachtheorie, die dem Miß- und dem Nichtverstehen als prinzipielle Möglichkeiten sprachlicher Rede und damit der Entropie des sprachlichen Codes - und nicht wie Searle seiner Ordnungsmacht - Rechnung trägt 204 . Searle will nach all dem also die Sprachtheorie von den Zufälligkeiten des Mißund Nichtverstehens bereinigen. Diese Bereinigung entspringt aber seinen methodi200

Dazu und zum folgenden Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 130ff., 205 ff., 493 f., 502ff.; ders., Neostrukturalismus, 505 ff.; Waidenfels, Vielstimmigkeit der Rede, 153 ff. 201 Derrida , Limited Inc. abc..., 119. 202 Frank, Neostrukturalismus, 512; diese Einsicht ist freilich nicht auf Derrida beschränkt, vgl. ebenso bsp. Broekman, RTh-Beih.6 (1984), 145 (150). 203 So der Titel eines Sammelbandes zur politischen Sprachkritik von Heringer (Hrsg.), Holzfeuer im hölzernen Ofen, 1982. 204 Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 514; zum Wechselspiel zwischen Markierung und Re-Markierung siehe auch Somek, Der Gegenstand der Rechtserkenntnis, 80 ff.

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sehen Prämissen, nicht der differentiellen Natur der Umgangssprache . Die angenommene Identität sprachlicher Bedeutung wird hier zu einem theoretischen Konstrukt im Sinne eines linguistischen Analogons zu den szientistischen Idealisierungen naturwissenschaftlicher Theorie 206. Aufgrund dieser methodologischen Analogie zu den praxeologischen Sprachspielen der Naturwissenschaften muß Searle denn auch systematisch von der Möglichkeit des uneigentlichen oder sinnverändernden Sprachgebrauchs abstrahieren 207. Derrida sieht zudem - worauf Jan Broekman 208 hingewiesen hat - in den von Searle angenommenen Bedingungen eines gelungenen Sprechakts die Grundbedingungen des dominierenden sozialvertraglichen Gesellschaftsbildes, „the teleological jurisdiction of an entire field whose organizing centre remains intention" 209 , reformuliert: die fortwährenden Präsenz eines restlos definierten Kontextes, eines freien und autonomen Bewußtseins und eines absolut bedeutungsvollen Sprechens, welches Herr seiner selbst ist. Searle trifft sich hier mit zahlreichen Vertretern der ordinary language philosophy, die ein felsenfestes Vertrauen in die Festigkeit der Plattform sprachlicher Selbstverständlichkeit an den Tag legen 210 . Derrida zieht vor diesem Hintergrund die volle Konsequenz aus der Differentialität sprachlicher Bedeutung: Die Sprache ist nicht nur Herr ihrer eigenen Anwendung, sie reproduziert und wandelt sich auch ohne Zwischentreten handlungsfähiger und sinnmächtiger Subjekte211.

I I I . Gegenangriff II: Derrida als Protagonist eines aporetischen Denkens? Die différance ist für Derrida die urspüngliche Matrix des abendländischen Denkens. Gleichwohl substantialisiert er sie nicht als »Ursprung4 gleichsam der Frage 205 Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 509. Zur Kritik vgl. auch Harras, Handlungssprache und Sprechhandlung, 208 ff. 206 Siehe zu den Voraussetzungen, die Searle etwa hinsichtlich der Analyse des Versprechens machen muß Dreisholtkamp, in: Gondek/Waldenfels (Hrsg.), Einsätze des Denkens, 287 (290ff., 293 ff.). Allg. siehe auch Gabriel, in: Demmeriing/Gabriel/Rentsch (Hrsg.), Vernunft und Lebenspraxis, 157 (161 ff.). 207 Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 130, 208, 510, 525 ff. Als Effekt einer auf soziale, statt auf psychische Systeme bezogenen Systemreferenz erklärt Luhmann, Soziale Systeme, 368 f. Fn. 35, das Zusammenfallen von Intention, Sinn und Wiedererkennbarkeit bei Searie. 208 In: RTh-Beih.6 (1984), 145 (165 f.). 209 Derrida , Glyph I (1977), 172 (188). 210 Zur Kritik an dem „Universalien-Denken" der Sprechakttheorie siehe nur Hans Julius Schneider, in: Demmeriing/Gabriel/Rentsch (Hrsg.), Vernunft und Lebenspraxis, 103 (111 ff.); ders., in: Dascalu.a. (Hrsg.), Sprachphilosophie, 761 ff.; Danto, in: Nagl/Heinrich (Hrsg.), Wo steht die Analytische Philosophie heute?, 37 (42 f.); Cavell , Must We Mean What We Say?, 42 f.; Somek, Rechtssystem und Republik, 311 ff. 211 Manfred Frank, Neostrukturalismus, 516, zieht hier die Parallele zum Primat der Sprache bei Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §219.

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Kap. 1 : Sprachtheoretische Skizzen

nach der Bedingung der Möglichkeit von Sinn in der Art der Ursprungsphilosophie 212 ; Derridas différance ist vielmehr die Unterscheidung, „die sich selbst nie zu fassen bekommt, weil sie sich auf dem Umweg über das, was sie selbst bezeichnet, in der Tautologie, und auf dem Umweg über das, was sie ausgrenzt, in der Paradoxie verliert" 213 . 1. Widersprüchlichkeiten

im Denken?

Was die différance von einem Transzendental-Prinzip unterscheidet, ist diese innere Gebrochenheit, ihre paradoxe Ursprungs- und Wurzellosigkeit, ihre NichtIdentität mit sich selbst214 als ständiges Ärgernis für ein - wie Luhmann sagen würde - alteuropäisches Denken. Die différentielle Zerwebung der Zeichen, diese dissémination, erfaßt auch die différance selbst, d. h. der differentiellen Bewegung der Signifikantenketten wird keinerlei identifizierbares Fundament unterlegt. Dies ist nicht neu, man denke nur an die artifizielle Fassung der Systemtheorie, der Theorie autopoietischer Systeme, da dort „jede Unterscheidung nicht nur eine Unterscheidung ins Spiel bringt, sondern immer eine Unterscheidung ist. Indem unterschieden wird, wird nicht nur irgendwas von irgendwas unterschieden, sondern die Unterscheidung selbst unterscheidet sich von dem Bereich, der sie als Unterscheidung zuläßt". Die Unterscheidung zieht sich „paradoxerweise selbst aus dem Sumpf des Ununterscheidbaren"; es gibt insofern „keine beobachtbare erste Unterscheidung für ein Denken, das differentiell konstituiert ist" 215 - in den Worten Luhmanns: „Am Anfang steht also nicht Identität, sondern Differenz" 216. Kein Sinn, keine Bedeutung und keine Sicht von Welt entgeht dem Spiel der Differenzen, dieser „entgrenzten Ökonomie von semantischen Oppositionen"217. Und genau dies: das Spiel der Differenz auch noch in der Differenz selbst, wurde Derrida zum Vorwurf gemacht: Wie kann das Spiel der Differenzen mit Aussicht auf Rationalität nachvollzogen werden, wenn das Rationale selbst augenscheinlich (Jer Differenz - und das hieße doch: dem Irrationalen - zum Opfer fiele. Denn eine Beschreibung der différance ist nach Derrida immer in irgendeiner Weise verfehlt; die différance ist für Derrida das Unsagbare, weil es allen Sagen schon vorausgeht: 212

Wobei ihm genau dies: ein unbefangenes Zurückgreifen auf den Gedanken der Urschrift im Stil der Urspungsphilosophie, von der Kritik attestiert wurde, siehe an prominentester Stelle Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 211; sowie jüngst ders., Wahrheit und Rechtfertigung, 266 (die „ziemlich metaphysische Weise" des Denkens Derridas). 213 Baecker, in: Ars Electronica (Hrsg.), Im Netz der Systeme, 7 (17). Vgl. auch Kimmerle, Derrida, 84 ff. 214 Frank, Neostrukturalismus, 329. 215 Zitate jeweils bei Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, 119. 216 Luhmann, Soziale Systeme, 112. Es ist dann auch nicht verwunderlich, daß Luhmann des öfteren (bsp. in Wissenschaft der Gesellschaft, 93 f., 190,444 ausdrücklich und in 111,113 implizit) auf Derrida anspielt; kritisch dazu Gamm, Flucht aus der Kategorie, 262 f. Fn. 46. 217 Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 449.

§ 4 Unvertrautheit unserer Praxis als Phänomen der Zerstreuung von Sprache

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„Denn es gibt keinen Namen dafür, selbst nicht den der différance, die kein Name, die keine reine nominale Einheit ist und sich unaufhörlich in eine Kette von differierenden Substitutionen auflöst" 2 1 8 . Die différance ist insofern „nicht Sprache, sondern das Spiel, das die Sprache i m Sprechen sein läßt und zugleich das Sprechen von der Sprache abhängig macht. (Sie) ist, daß die Sprache i m Sprechen geschieht. (...) Als Similacrum oder Trugbild des Anwesens liegt sie noch »davor 4 " 2 1 9 . M i t diesem Rekurs auf den Unsagbarkeitstopos und auf das „davor" von Sprache hat sich Derrida denn auch prompt den Vorwurf einer »negativen Theologie 4 und eines aporetischen Denkens eingehandelt: Derrida postuliere ein Funktionieren von Sprache, das durch den von ihm geführten Diskurs widerlegt werde 2 2 0 , führe hinter die Wittgensteinianische Einsicht zurück, die Bedeutung eines Zeichens kristalliere sich nur in einer Pluralität seiner Verwendungssituationen 221 , verallgemeinere unzulässigerweise die poetische Sprachfunktion auf die Normalsprache 222 und expliziere schließlich eine totalisierende Vernunftkritik nur unter Rückgriff gerade auf die M i t tel des Kritisierten und betreibe so entweder K r i t i k jenseits argumentativer Rede um des Preises willen, aus der Kommunikationsgemeinschaft der Vernünftigen auszusteigen, oder versteige sich bei der argumentativen Liquidierung der Vernunft in das Dilemma, seine eigene argumentative Plattform zu destruieren, womit er sich in einen performativen Widerspruch 2 2 3 begebe 224 . Muß Derrida also als Mißachter eines 218

Derrida , Randgänge der Philosophie, 51, Hervorhebung im Original. Kimmerle, Derrida, 88. 220 So bsp. Klaus Hempfer, Poststrukturale Texttheorie und narrative Praxis, 1976; ders., Zeitschrift für Semiotik 15 (1993), 319 (323 f.); Luc Ferry! Alain Renaut, Antihumanistisches Denken, Gegen die französischen Meisterphilosophen, 214ff., mit ihrem Vorwurf der verschwiegenen Rückkehr des Subjekts, und passim. Vgl. auch Frank, Neostrukturalismus, 537 f. 221 Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 81 ff. 222 Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 234, 243. 223 Ein performativer Widerspruch ist die „Dementierung einer Behauptung durch die Art ihres Behauptens", Welsch, Vernunft, 916, also der Widerspruch zwischen dem, was man sagt, indem man etwas sagt, und dem, was man sagt, indem man etwas sagt. 224 So bsp. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 22Iff. Ähnliches wird auch der Wittgensteinianischen Spätphilosophie vorgeworfen, vgl. bsp. aus hegelianischer Sicht nur Vittorio Hösle, Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, 86f. Auch Wittgenstein hält freilich den totalen Zweifel für unmöglich (ders., Über Gewißheit, § 115), da Sprachspiele so miteinander verwoben sind, daß für einem Skeptizismus als allgemeiner Einstellung kein Raum bleibt, vgl. Vossenkuhl, Wittgenstein, 276 ff. Vgl. allg. zur Habermas sehen Kritik an dem Denken »postmodernistischer4 Theoretiker den kanonischen Text of authority hierzu: Habermas, Die Moderne - ein unvollendetes Projekt, in: ders., Kleine politische Schriften I-IV, 1981,444 ff. Die Kritik ist eine Variante des gegen einen radikalen Relativismus immer wieder angeführten Arguments, der strenge Relativist müsse diejenigen Bedingungen des Begründens, die er bestreitet, schon anerkannt haben, um sie bestreiten zu können, so daß er pragmatisch inkonsistent argumentiere. Im übrigen überrascht die Kritik Habermas nicht, da das Denken Derridas eine tragende Grundlegung seines eigenen Denkens: die Bedeutungsidentität sprachlicher Akte, angreift, insofern liegen Parallelen zur oben angerissenen Debatte zwischen Searle und Derrida auf der Hand. Bernhard Waidenfels bemerkt - stellvertretend für viele - in ders., Deutsch-Französische Gedankengänge, 36, daß 219

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Kap. 1 : Sprachtheoretische Skizzen

klaren epistemologischen Haltesignals gelten, als Protagonist des Irrationalen 225, der der Kartharsis vernünftigen Denkens durch die Dekonstruktion der Vernunft im Spiel der différance zu begegnen trachtet?

2. Randgänge Derrida sieht die Gefahr der ihm vorgeworfenen Aporien. Den Ausweg sieht er darin, eben gerade nicht mit übersichtlichen Argumenten und theoretischen Begründungen zu arbeiten. Vielmehr dekonstruiert Derrida jegliche Unterscheidung um des Preises willen, nicht nur mit der traditionell zwielichtigen Päradoxie von sich selbst negierenden Unterscheidungen zu arbeiten, sondern auch um des Preises willen, nunmehr „die expressiven Möglichkeiten des Vertextens nutzen (zu müssen), um genau dies mitzuteilen" 226 . Das Problem Derridas, mit der Sprache des Alltags, des Transportmediums sedimentierter Implikationen abendländischer Metaphysik 227 , der in dieser Sprache situierenden Metaphysik zu entgehen, zwingt ihn daher zu »Randgängen4, zu bestimmten Sprachformen. Dies wird denn auch an der literarischen Form Derridascher Texte, seines apokryphen, verrätselten Stils und seines assoziativen, fast prosaischen Charakters überdeutlich 228. Derrida versucht sich deshalb an der Grenze des philosophischen Diskurses aufzuhalten 229 und bedient sich daher einer narrativen Sprache. Hiergegen vorzubringen, seine Einfalle seien nur als verspielter Ausdruck persönlicher Phantasien, als Verkehrung von Systematik in private Witze anzusehen230, ist in seiner Polemik müßig. Gewichtiger ist der Vorwurf, Derrida ebne den Gattungsunterschied zwischen Philosophie und Literatur ein 231 . Dies darf nicht als ästhetisch orientierter Rekurs auf Stilistik mißverstanden werden; vorgeworfen wird nichts anderes, als daß Derrida den Vorrang des Rhetodie Auseinandersetzung mit Derrida zumindest auf deutscher Seite im Stile eines „Traditionsund Generalstabsdenkens" geführt würde. Waidenfels weist zudem ebd., 12, immerhin noch 1995 daraufhin, daß weitgehend noch eine „Mauer aus Unkenntnis, Unverständnis und gleichzeitiger Ablehnung" beobachtet werden kann. Vgl. zu den Austauschproblemen zwischen deutscher und französischer Philosophie im übrigen nur Waidenfels, ebd., 31 ff. 225 So belegt bsp. Arthur Kaufmann zwar nicht Derrida , wohl aber das, was man zumeist als „Postmoderne" bezeichnet, mit dem Bann des Irrationalen, so bsp. in A. Kaufmann, Rechtsphilosophie in der Nach-Neuzeit, 6ff.; ders., Über Gerechtigkeit, 356ff. Vgl. auch Habermas, Nachmetaphysisches Denken, 159 f. 226 So die Charakterisierung bei Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 94. Vgl. auch kritisch zur Kritik von Habermas nur Kimmerle, in: Frank u. a. (Hrsg.), Die Frage nach dem Subjekt, 267 (269 ff., 277 ff.). 227 Derrida , 55 ff.; ders., Die Schrift und die Differenz, 425. 228 Man denke nur an Glas, 1974, Dissémination, 1972, dt. 1995 oder an Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits, 1982/1987. 229 Derrida, Randgänge der Philosophie, 37. 230 So Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, 207 f. 231 So Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 219ff.; vgl. auch ders., Nachmetaphysisches Denken, 242 ff.

§ 4 Unvertrautheit unserer Praxis als Phänomen der Zerstreuung von Sprache

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rischen vor dem Logischen reklamiere . Das Narrative des Denkens Derridas scheint demnach keinen Ausweg aus dem Vorwurf aporetischen Denkens zu bieten 233 . Abgesehen davon, daß der Verweis auf den Unterschied der „Gattung" Literatur und Philosophie selbst wieder rhetorischer Natur ist 234 und schon deshalb nicht gegen Derrida verfängt, erreicht die Kritik das Derridaische Projekt differentiellen Denkens nicht. Aussagen über das Ganze, und solche erfolgen bei Derrida, erweitern dieses durch ihr Hinzutreten und können daher nicht mehr beanspruchen, über das Ganze etwas zu sagen - außer, sie vermöchten sich selbst in das Ganze einzubeziehen. Gerade dann aber geraten sie in den Paradoxienzirkel der Selbstreferenz 235 . Nun hat sich zeigen lassen, daß Selbstreferenz möglich ist, ohne daß ein performativer Widerspruch widerfährt. Denn bei dem Vorwurf eines performativen Widerspruchs wird u. a. übersehen, daß das Denken der différance nicht gesetzt, sondern entfaltet wird: Es entfaltet Spuren, nicht eine letzte Aussage236. Eine ähnliche Entfaltung geschieht auch bei Luhmann, der seinen Ausweg aus den geschilderten Aporien in der operativen Logik George Spencer-Browns 237 sucht, die „das Unterscheiden und Bezeichnen zu einer Operation zusammen(faßt), die ihr Paradox gleichsam vor sich herschiebt, bis der Kalkül komplex genug ist, daß er die Form eines ,re-entry 4, eines Wiedereintritts der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene (oder: einer Form in der Form), annehmen kann 44238 . Mit anderen Worten ist ein Paradox etwas, was nur als Punkt gedacht als paradox erscheint und in diesen punktualistischen Denken um seine Entfaltungsdimension gebracht wird.

3. Verborgene Regeln Vor diesem Hintergrund wird dann deutlich, was hinter diesem eindimensionalen Denken des Paradoxen als Punkt maskiert ist: eine verborgene Regel im Sinne Wittgensteins, die normativ das traditionale Verbot ausspricht, eine paradoxale Selbstreferenz zu vollziehen. Nur ist ein derartiges Verbot wegen seiner Normativität kein unumstößliches Gesetz, sondern ein praktischer Zusammenhang im Rah232

Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, 221. Aus der Fülle zum prominenten Problem der Relation von Logik und Rhetorik siehe hier nur Gamm, Flucht aus der Kategorie, 342 ff. 234 Haverkamp, in: ders. (Hrsg.), Gewaltung und Gerechtigkeit, 7(10). 235 Welsch,, Vernunft, 922. 236 Welsch, Vernunft, 294; vgl. allg. auch Lenk, Interpretationskonstrukte, 400ff.; Abel, Sprache, Zeichen, Interpretation, 60 ff. 237 Laws of Form, 1969; dt. Gesetze der Form, 1997. Die Ähnlichkeiten in den Ergebnissen zwischen Derrida und George Spencer-Brown betont Luhmann in RJ 12 (1993), 36 (45). 238 Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 94. Vgl. auch ders., in: ders./Fuchs, Reden und Schweigen, 7 (10ff.), bezogen auf Lyotard ; Peter Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, 7 Fn. 3, 54ff., 62ff. 233

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Kap. 1 : Sprachtheoretische Skizzen

men einer Lebensform 239, dem die Möglichkeit der Veränderung eingeschrieben ist. Das dem Vorwurf eines performativen Widerspruchs zugrundeliegende Thema der Selbstreferentialität von Aussagen ist denn auch nur legitimiert, wenn es eine feststehende soziale Regel gäbe, die derartige Paradoxien für unzulässig zu erklären erlaubt 240 . Ein Denken der Differenz kann deshalb gegen das Festhalten an einer prozedural-reflektierenden Einheit von Vernunft im Gefolge bsp. der Universalpragmatik von Habermas reklamieren, die prozeduralistische Einheit untertreibe die sprachkonstitutive Differenz der Bedeutungsverhältnisse und Begründungsmöglichkeiten, in der einzelne Artikulationsformen ihren Wert als Verständigungsleistungen erst gewinnen241: Nicht ein normativ aufgeladener Begriff der Kommunikation kann - wie bei Habermas - den unverkürzten Gehalt der Vernunft einfordern, sondern nur ein plurales, dezentriertes, nicht-integrales Verständnis von Vernunft. Ein derartiges Vernunftverständnis hat beispielsweise Wolfgang Welsch in seinem Konzept transversaler Vernunft vorzulegen versucht 242. Das Schreiben Derridas auf den Randgängen zwischen Philosophie und Literatur erscheint in diesem Lichte geradezu als eine Bestätigung performativer Konsequenz243. Vor diesem Hintergrund wird auch der Vorwurf einer Verallgemeinerung der poetischen Sprachfunktion auf die Normalsprache obsolet: Selbstverständlich bedürfen poetische Texte in einem anderen Maße des Verständnisses als alltagssprachliche Texte. Dies wird denn auch von Derrida keineswegs bestritten. Nur ändert dies nichts an dem grundsätzlichen Spiel der Differenz in der Alltagssprache, wie wir im Rahmen der Debatte zwischen Searle und Derrida sehen konnten. Und verstärkt gilt dies dort, wo die Verständlichkeit eines Textes explizit thematisiert wird: im rechtlichen Prozeß der Auslegung autoritärer Texte im Rahmen der forensischen Entscheidungssituation. Dort findet eben gerade nicht der Normalfall des alltäglichen, unhinterfragten „Von-selbst-Verstehens" statt - und zwar nicht nur, weil empirisch zwischen den Prozeßparteien ein Gegensatz konkurrierender Bedeutungserklärungen besteht, ein Gegensatz, der sprachwissenschaftliche als „semantischer Kampf' beschrieben werden kann 244 , sondern vor allem, weil der Richter auch normativ gehalten ist, sich über Bedeutungen Rechenschaft abzulegen. Und dies heißt nichts anderes, als daß er sie problematisieren muß - auch dort, wo gemeinhin die Zeichen für sich selbst zu sprechen scheinen.

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Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, 334f. Welsch, Vernunft, 293 f. 241 Seel, in: Honneth/Joas (Hrsg.), Kommunikatives Handeln, 53 (65 ff.). Vgl. auch Kimmerle, Derrida, 101; Welsch, Vernunft, 919ff. 242 Dazu umfassend Welsch, Vernunft, Die zeitgenössische Vernuftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, 1996, Zweites Hauptstück; ders., Unsere postmoderne Moderne, 295 ff. 243 Welsch, Vernunft, 295. 244 Dazu Christensen, Gesetzesbindung, 280ff.; Heringer, Praktische Semantik, 69; Seibert, Zeichen, Prozesse, 61 ff. 240

§ 4 Unvertrautheit unserer Praxis als Phänomen der Zerstreuung von Sprache

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4. Pur alitât und Vernunft Letztlich verbergen sich hinter dem Vorwurf, Derrida kapriziere sich auf ein Denken wider die Vernunft, Einheitsvorstellungen der Art, innerhalb der neuen Unübersichtlichkeit sei das Projekt der Moderne vor den Untiefen einer neokonservativen Rationalitätskritik nur durch einen Rekurs auf die Idee einer personund situationsunabhängigen, kontrafaktisch stabilisierten, universalistischen Vernunft zu retten 245. Genau solcherlei Rettungsversuche bezeichnet Derrida als Logozentrismus 246. Derartige Vernunftkrisen-Theoreme müssen sich ihre Krisen-Diagnose selbst vorhalten lassen247: Pluralisierung und nicht eine Verpflichtung auf die Konzeption einer stillgestellten Vernunft kennzeichnen den Generaltrend der gegenwärtigen Vernunftdebatte 248. Der Grund für die vermeintliche Aporie liegt in den Bedingungen und der Struktur des Denkens selbst begründet. Vernunft muß jenseits sowohl klassischer Einheitsmodelle als auch postmodernistischer Heterogenitäts-Hypertrophie im Gefolge Lyotards 249 gedacht werden und erscheint dann transversal in Übergängen und Verbindungen zwischen einzelnen, eher gegenstandsthematisierenden Ordnungsvermögen, im Zustand rationaler Unordentlichkeit verfaßter Rationalitätsformen 250, gedoppelt in Form Prinzipieller und Okkasioneller Rationalität251, gesplittet in zahlreiche Rationalitätstypen252 oder als Netzwerk pluraler Rationalitäten253. Derrida verabschiedet vor diesem Hintergrund unmißverständlich nur eine Zentrierung auf den einen Logos 254 , ohne zugleich den 245

Paradigmatisch: Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit, 1985; ders., Der philosophische Diskurs der Moderne, 1985; ders., in: Honneth/Joas (Hrsg.), Kommunikatives Handeln, 327 (337 ff.). Dazu nur Welsch, Vernunft, 116 ff. 246 Derrida hat dies in: Die Schrift und die Differenz, dt. 1972, und in: Grammatologie, dt. 1974, ausführlich dargelegt. Andere übersetzen Logozentrismus mit ,Monokontexturalität\ so bsp. Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, 48. 247 Dazu schon Hübner, Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, 1978; Eco, Merkur 39 (1985), 530 ff. 248 Welsch, Vernunft, 432. 249 Vgl. zur Option radikaler Heterogenität zwischen Sätzen bei Lyotard siehe Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 230 ff. Vgl. zum Problem radikaler Pluralität aus systemtheoretischer Sicht nur Fuchs, Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, 73 ff., 81. 250 Welsch, Vernunft, 1996, Zweites Hauptstück; ders., Unsere postmoderne Moderne, 295 ff.; ders., PhilJb 94 (1987), 111 (136ff., 139ff.). Dazu in Maßen kritisch M. M. Roß, Prima philosophie 8 (1995), 409ff. 251 Helmut Spinner, Der ganze Rationalismus einer Welt von Gegensätzen, Fallstudien zur Doppelvernunft, 1994. 252 Hans Lenk unterscheidet bsp. über 20 Rationalitätstypen, vgl. ders., in: ders. (Hrsg.), Zur Kritik der wissenschaftlichen Rationalität, llff.; sowie die Übersicht bei dems./Spinner, in: Stachowiak (Hrsg.), Pragmatik, Bd. 3, 1 ff. 253 Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 108f.; Bernhard Waidenfels, Der Stachel des Fremden, 117 ff., 243 ff. und öfters; ders., Ordnung im Zwielicht, Kap. A; als responsive Rationalität ders., Antwortregister, 333 ff. 254 Vgl. nur Derrida, Grammatologie, 23 ff. 5 Goebel

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Kap. 1 : Sprachtheoretische Skizzen

Anspruch vernünftiger Rede in der Zerstreuung des Logos zu diskreditieren 255. Derartige Zusammenhänge verschließen sich freilich dem, der Derrida als Apologeten eines radikalen Skeptizismus liest. Auch ein Denken nach Derrida läßt nicht nur Fragen, sondern auch Antworten zu - freilich nur noch in Formen eines schwachen oder zögernden Denkens. Derrida ist denn auch keineswegs ein Fürsprecher des Irrationalen, sondern ein Befürworter des rationalen Umgangs mit dem Irrationalen. Von einem Vernunftsverzicht ist bei ihm nichts zu spüren, allenfalls von einer Verstreuung von Vernunft - und dies ist nun einmal etwas anderes als eine Verabschiebung von Vernunft 256. Es bleibt also dabei: Sprache sollte als ein „Gewebe von Verweisungen und Aufschüben", Sinn als ein „Phänomen der Zerstreuung" 257 begriffen werden. Um es nochmals zu betonen: Mit dem Rekurs auf Sprache als Phänomen der Zerstreuung wird nicht die alte hermeneutische Einsicht in einem bloß anderen Gewand wiederholt. Zum einen steht die transzendental ausgerichtete Hermeneutik unter dem Signum eines vertrauten Umgangs mit dem Recht, während Sprache nach Derrida das Recht uns unvertraut erscheinen läßt. Und zum anderen geht ein hermeneutischer Zugang zum vertexteten Recht wohl davon aus, Texte seien »mehrdeutig4. Zerstreuung von Sprache sieht dies anders: Texte sind nicht mehrdeutig, sondern prinzipiell - in einem nicht-trivialen Sinne - unbestimmt258. Insofern wäre auch die Unterscheidung von klaren und vagen Begriffen unsinnig - zumindest ohne weitere Erläuterungen. „Die ί/Azbeherrschbarkeit »meines4 Sinns", heißt es denn auch prägnant bei Friedrich Müller 259 , „ist nicht eine Randerscheinung. Sie ist das - in aller Regel verdrängte - Grundphänomen der Vertextung".

§ 5 Rechtstheoretische Gegenentwürfe zum hiesigen Sprachverständnis In dem vorangegangenen Abschnitt wurde erläutert, daß Sprache als Phänomen der Zerstreuung aufgefaßt werden kann. Der Rekurs auf die Überlegungen Wittgensteins und Derridas stand hierbei stellvertretend für viele 260 . Ein derartiger Rekurs findet nicht nur aus sprechakttheoretischer und epistemologischer Sicht, sondern auch im Rahmen rechtswissenschaftlicher Methodologie entschiedene Gegner, man denke nur an die Hermeneutik traditionaler (Betti) und ,neuer4 Provinienz (Gada255 Darauf, daß Derrida keineswegs eine pluralisierte Fassung von Vernunft verabschiedet, weist Welsch, Vernunft, 274f., 300ff., hin. 256 Waidenfels, Deutsch-Französische Gedankengänge, 40. 257 Welsch, Vernunft, 261 f. 258 Siehe zur Genese dieser Einsicht nur umfassend Gamm, Flucht aus der Kategorie, passim. 259 Juristische Methodik, Rn.506. 260 Vgl. als Übersicht Hans Lenk, Interpretationskonstrukte, 1993; Welsch, Vernunft, 1996; Abel, Interpretationswelten, 1995.

§ 5 Rechtstheoretische Gegenentwürfe zum hiesigen Sprachverständnis

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mer), an die sprachanalytisch ausgerichtete logische Semantik und nicht zuletzt an die tradierten Begriffslehren klassischer Prägung und juristischer Provinienz auf der einen und moderner Spielarten auf der anderen Seite. Soll die Akzeptanz des weiteren Vorgehens nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt sein, ist daher auch ein kurzer B l i c k auf diese Gegenentwürfe erforderlich, um in einem weiteren Exkurs das bisher Gesagte gegen Kritik zu sichern.

I. Logische Semantik und juristische Methode 1. Das Sprachmodell der Logischen Semantik In dem vom Hans-Jochim Koch verfaßten Teil der Koch/Rüßmannschen Juristischen Begründungslehre 261 findet sich in nuce eine Variante derjenigen mit dem hiesigen Ansatz schlechthin unvereinbaren Sprachanalytik, die an einem Präzisionspostulat ausgerichtet ist, welches sich an Idealsprachen mathematischer Provinienz der Tendenz nach orientiert 2 6 2 . Diese nimmt theoretische Anleihen insbe261 KochJRüßmann, Juristische Begründungslehre, 126ff., 188 ff.; Koch, in: ders. (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, Iff.; ders., in: ders. (Hrsg.), Juristische Methode im Staatsrecht, 15ff., 29ff.; ders., ARSP 1975, 27ff.; ders., EuGRZ 1986, 345ff.; ders.!Herberger, JuS 1978, 810ff.; Koch/Trapp, in: Harenburg u.a. (Hrsg.), Rechtlicher Wandel durchrichterliche Entscheidung, 83 ff. 262 Koch lehnt sich freilich nur maßvoll an idealsprachliches Gedankengut an. Ein rein idealsprachliches Programm ist in rechtlichen Kontexten aus heutiger Perspektive wenig reizvoll und fand nur in den 70er Jahren ein vermehrtes Interesse. Das damalige theoretische Interesse bestand durchweg in der formal-grammatischen Beschreibung juristischer Entscheidungen und einer linguistischen Textanalyse juristischer Sprache und wurde in einer aus Juristen, Logikern, Informatikern und Linguisten bestehenden „Interdisziplinären Arbeitsgruppe »Analyse der juristischen Sprache* " in Darmstadt nachgegangen. Themen waren u. a. die Analyse der logischen Struktur von Normsystemen, die linguistische Paraphrasierung sowie die Syntax und Semantik juristischer Texte und schließlich das Verhältnis von Rechtstheorie und Linguistik. Vgl. zur Dokumentation der Arbeitsergebnisse RavelBrinckmann! Grimmer (Hrsg.), Logische Struktur von Normsystemen am Beispiel der Rechtsordnung, 1971; dies. (Hrsg.), Paraphrasen juristischer Texte, 1971; dies. (Hrsg.), Syntax und Semantik juristischer Texte, 1972; Brinckmann! Grimmer (Hrsg.), Rechtstheorie und Linguistik, 1974. Vgl. ansonsten zu derartigen formalen Ansätzen aus Sicht der ihnen Nahestehenden Rieser, in: D. Grimm (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaft, Bd. 2, 117; Podlech, in: D. Grimm (Hrsg.), ebd., 105; Garstka, RTh 1979, 92ff. m. w. Nachw; Großfeld, JZ 1984, Iff. Beispiele für der ,reinen4 Theorielogik ähnlich der der Idealsprachler verpflichteten Überlegungenfinden sich auch in nicht genuin sprachtheoretischen Bereichen, so ζ. B. bei den Arbeiten Podlechs, AöR 95 (1970), 185 ff., der sich mit Werten und Wertungen im Recht beschäftigt, und in den Untersuchungen Rödigs, der anhand eines mengentheoretischen Klassenkalküls verschiedene Probleme der Rechts- und Prozeßtheorie wie Axiomatisierbarkeit juristischer Systeme, mengentheoretische Kalküle juristischen Schließens, prädikatenlogische Übersetzung juristischer Normtexte und die Theorie des Zivilprozesses traktiert, vgl. Jürgen Rödig, Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, 1972; und die zahlreichen Beiträge bei dems., Schriften zur juristischen Logik, insbes. 57 ff., 209 ff. Zur Kritik an der Übertragung von Logikrezeptionen auf natürliche

*

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Kap. 1 : Sprachtheoretische Skizzen

sondere bei der Logischen Semantik im Gefolge Freges und vor allem Carnaps 263 auf der einen und bei dem Konventionalismus Eike v. Savignys auf der anderen Seite. Was heißt das? Die Carnapschen Anteile am Sprachmodell Kochs lassen sich mit den Begriffen „Intention" und „Extention" umreissen. Anhand der Kriterien von (i) Intention (Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks) und (ii) Extension (Menge der Gegenstände, auf die ein Ausdruck qua seiner Intention anzuwenden ist) sieht Koch die Bedeutung eines Ausdrucks durch das theoretische Konstrukt der „semantische Regel" gesichert, die die Intension gleichsam expliziert 264 . Nun ist eine reine Carnap-Semantik als Methode der Interpretation von Ausdrucksbedeutungen (und dies heißt: herausfinden, auf welche Extension ein Ausdruck aufgrund seiner Intention anwendbar ist) ungeeignet, da sie als Methode nicht das herausfinden kann, was sie voraussetzt: nämlich wie Ausdrücke zu ihren Intentionen kommen265. Deshalb verbindet Koch das Carnapsche Intention/Extention-Modell mit Überlegungen im Anschluß an Eike v. Savigny266, die auf Konventionen des Sprachgebrauchs abstellen. Was heißt dies wiederum? Ein Zweifaches ist damit gemeint: (i) Semantische Intentionen werden durch das definiert, was durch die semantischen Regeln, nach denen ein Sprecher einen Ausdruck verwendet, ausgedrückt wird, (ii) Die Entschlüsselung der Regel selbst erfolgt wiederum konventionalistisch: Die Bedeutung eines Zeichens ist sein von der Sprachgemeinschaft als richtig akzeptiertes Verständnis, so daß das, was der Sprecher mit seiner

Sprache und zu deren Logikresistenz vgl. nur Busse, in: Müller (Hrsg.), Rechtslinguistik, 93 (98ff.); ders., Juristische Semantik, 140ff.; Seibert, Zs für Semiotik 1 (1979), 277 (281 f. m w Nachw). 263 Mittlerweile stellt Koch deutlicher als zuvor klar, daß eine Sprachtheorie, die auf der von Carnap und Frege allein bearbeiteten Philosophie der Idealsprache fußt und die - einschließlich der Dichotomie von Intention und Extention - allein im Hinblick auf idealsprachliche Probleme entwickelt wurde, für die Semantik natürlicher Sprachen kaum geeignet ist, Koch, Zs fürVerwaltung 1992,1 (J)\dersJRüßmann, ARSP-Beih.44(1991), 186(190). Zu Carnap vgl. ansonsten nur Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 1, Kap. IX. 264 Koch goutiert die Gleichung Intention = Begriff = Bedeutung, vgl. nur dersJRüßmann, Juristische Begründungslehre, 129. Die bei Koch von Carnap und Frege übernommene Unterscheidung von Intention und Extention hat in der rechtstheoretischen Literatur im übrigen eine bemerkenswerte Karriere hinter sich undfindet sich - stellenweise in Anlehnung an Koch - bsp. schon bei Lampe, Juristische Semantik, 30ff.; Kramm, Rechtsnorm und semantische Eindeutigkeit, 9; Horst Zimmermann, Rechtsanwendung als Rechtsfortbildung, 18 f.; Rüßmann, in: J. Zimmermann (Hrsg.), Sprache und Welterfahrung, 208 (222); Herberger/Koch, JuS 1978, 810 (811 ff.); Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, 233ff.; Thaler, Mehrdeutigkeit und juristische Auslegung, 1 f.; Bund, Juristische Logik und Argumentation, 14ff.; Wank, Juristische Begriffsbildung, 35 ff.; Hilgendorf, Argumentation in der Jurisprudenz, 55. Zur Kritik an der Übernahme der Extension-Intension-Dichotomie durch Koch vgl. vor dem Hintergrund der Wittgensteinianischen Gebrauchstheorie der Bedeutung nur Schroth, Theorie und Praxis, 96 ff.; Busse, Juristische Semantik, 106ff. 265 Busse, Juristische Semantik, 11 Off. 266 Dazu vgl. nur v. Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache, insbes. 323ff.; ders., Zum Begriff der Sprache, 1983; neuerer Stand in ders., Social Foundations of Meaning, 1988.

§ 5 Rechtstheoretische Gegenentwürfe zum hiesigen Sprachverständnis

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Äußerung sagt, davon abhängt, wie es nach Auffassung jedes potentiellen Zuhörers zu verstehen ist 2 6 7 . Sprachverwendungsregeln können vor diesem Hintergrund empirisch festgestellt stenz

269

26

* oder müssen - bei Vagheit, Mehrdeutigkeit oder Inkonsi-

- i m Hinblick auf die Zwecke des Gesetzgebers festgesetzt werden 2 7 0 .

2. Kritik Die theoretischen Weichenstellungen, auf die vor diesem Hintergrund K r i t i k zugreifen kann, liegen klar zu Tage: (i) Die Bindung von Bedeutung an die sprachliche Einheit „Wort" und (ii) die Rede von einer relativ starren „Regel des Sprachgebrauchs". Koch legt seiner Sprachtheorie implizit eine Wbrisemantik zugrunde und weist insofern „Wörtern" - und nicht einem Text

211

- eine Bedeutung z u 2 7 2 . Dies mag

unter bestimmten Erkenntnisinteressen durchaus angehen; wenn der Rekurs auf das Wort jedoch zum konstituierenden Faktor einer Theorie wird, die sich des Verständnisses von Gesetzen verschreibt, wird die Anknüpfung am Wort zum Angelpunkt 267

Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 161 ff. In Koch, in: ders. (Hrsg.), Seminar: Die juristische Methode im Staatsrecht, 13 (49), hat Koch noch unmittelbar, also nicht vermittelt über v. Savigny, auf die Spätphilosophie Wittgensteins Bezug genommen. In ders./Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 138; ders., Zs für Verwaltung 1992,1 (8), distanziert sich Koch dann vom späten Wittgenstein. Kritisch zur Verbindung des Modells der Logischen Semantik mit einer Konventionstheorie der Sprache - und vor dem Hintergrund, daß Wittgenstein ja seine Spätphilosophie doch gerade als Widerlegung einer idealsprachlichen Theorie verstanden wissen wollte, zu Recht -Busse, Juristische Semantik, 119ff. 268 Kritisch zu den damit verbundenen Bild einer entnormativierten Erkenntnis einer semantischen Regel vor dem Hintergrund einer praktischen Semantik Christensen, Gesetzesbindung, 185; Busse, in: Müller (Hrsg.), Rechtslinguistik, 93 (100); zum Begriff der Sprachnorm vgl. nur Wimmer, in: Heringer (Hrsg.), Holzfeuer im hölzernen Ofen, 290 (insbes. 296ff.). 269 Vgl. zu den mit Vagheit, Mehrdeutigkeit und Inkonsistenz verbundenen Konnotationen und zu der dadurch zum Ausdruck gebrachten Vorstellung, nicht alle Wörter seien vage, sondern es gäbe auch noch das Andere: nämlich Eindeutigkeit von Wortbedeutungen, nur Busse, Textinterpretation, 43ff.; ders., Juristische Semantik, 273. 270 Zur Dichotomie von Feststellung und Festsetzung vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 22ff., 188 ff., 210ff.; Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe, 34; Lampe, Juristische Semantik, 21 f.; Zimmermann, RechtsanWendung als Rechtsfortbildung, 20f.; Rüßmann, in: J. Zimmermann (Hrsg.), Sprache und Welterfahrung, 208 (228); Herberger/Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, 238; Thaler, Mehrdeutigkeit und juristische Auslegung, 1 f.; Bund, Juristische Logik und Argumentation, 14 ff. Zur Kritik vgl. nur Busse, Juristische Semantik, 130ff.; Wank, Juristische Begriffsbildung, 21 f. 271 Text wird hier auf intentionale sprachliche Äußerungen bezogen, d.h. die Form der Äußerung ist unerheblich, allg. zu sprachwissenschaftlichen Analyseeinheiten siehe nur Busse, Juristische Semantik, 254ff.; und die folgende Anmerkung. 272 Kritisch insofern Busse, Juristische Semantik, 104 f., 274ff.; ders., in: Müller (Hrsg.), Rechtslinguistik, 93 (97f.); HansBickes, in: Pragmatik, Bd.4 1993,156 (157f. m. w. Nachw.). Vgl. allg. zu den Einheiten, auf die die Untersuchung von »Bedeutung4 bezogen sein kann, also Wort, Satz, Text und kommunikativer Akt, und zu den Problemen einer reinen Wortsemantik in Form der Merkmals-, Proto- oder Stereotypensemantik nur Busse, Textinterpretation, 25 ff.; ders., Juristische Semantik, 123 (im Hinblick auf die Sprachtheorie von Koch), 255 f.

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von Kritik. Denn die Arbeit mit Gesetzen ist sprachliches Handeln, welches in einer fortlaufenden Praxis des Rechts-Sprechens situiert. Die einzelnen Wörter lassen sich deshalb gerade nicht aus dem Sprachspiel der Praxis vereinzelt lösen (wie dies etwa bei der Bestimmung lexikalischer Wortbedeutungen der Fall ist, die ja ganz spezifischen Erkenntnisinteressen verpflichtet ist), sondern sind in ihm fortlaufend verwoben und zerstreut. Eine Wortsemantik kann diese Zerstreuung nicht erfassen. Zudem arbeitet Koch wie die herkömmliche Lehre vom Begriff mit der Vorstellung, es gäbe im Grundsatz so etwas wie eine Wortsinngrenze 273, und zeichnet dies paradigmatisch nach mit der Unterscheidung von Gegenständen, die unzweifelhaft unter (positive Kandidaten) oder nicht unter (negative Kandidaten) einen Begriff fallen und solche, bei denen dies nicht entschieden werden kann (neutrale Kandidaten) 274 . Dies ist in dieser extentionalen Art freilich ohne den erhofften heuristischen Gehalt, da für die Angabe der Extention die Bedeutung eines Zeichens ja schon bekannt sein muß, mithin die Zuweisung eines Gegenstands zur Menge positiver Kandidaten auf Setzung beruht. Doch was begründet die Setzung? Nach Koch letztendlich Zweifel und Gewißheit275, wobei Gewißheit letztlich reflektierte und aktuell-explizit formulierte Regelkenntnis ist. Daran ist mehreres zweifelhaft. Einmal kommt Koch hier schließlich und endlich nicht um den Verweis auf den vorgängigen Konsens des Üblichen herum, wenn er nicht Zuflucht zu der abwegigen Vorstellung einer über alle Sprechergruppen homogenen Schriftsprache nehmen will - zu guter letzt verbirgt sich hinter all dem doch nur der Verweis auf das private, intuitive Sprachvermögen des Richters 276. Die Kochsche Semantik führt hier also geradewegs dazu, in der richterlichen Autorität (soziale Macht) allein das Rechtliche des Rechts zu verankern. Was Koch ansonsten von tradierter juristischer Theorie abhebt, ist eher, daß er einerseits meint, sprachliche Mehrdeutigkeiten kämen durchweg häufiger vor, als es die herrschende Ansicht wahrnehmen möchte. Er zeichnet diese „neue Quantität" aber qualitativ nicht nach. Andererseits versichert er sich der Klarheit resp. Mehrdeutigkeit von Wörtern mittels eines analytischen Instrumentariums 277, ohne zugleich eines gewissen Verdachts der Scheinpräzision - insbesondere eingedenk der hochgradigen Unbestimmtheit dessen, was Koch m i t , Verwendungsregel sprachli273

Vgl. nur Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 200. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 195; Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe, 40 ff. Kritisch zu dieser rein extentionalen Bestimmung von »Bedeutung* Busse, Juristische Semantik, 127. 27 5 Koch, Unbestimmte Rechtsbegriffe, 34 276 Mit Recht kritisch insofern Busse, Juristische Semantik, 127ff.; Schroth, Theorie und Praxis, 97; Christensen, ARSP 73 (1987), 75 (89). Vgl. zur Kritik im übrigen nur F. Müller, Strukturierende Rechtslehre, 287ff.; Christensen, Gesetzesbindung, 74ff., 108ff.; Hegenbarth, Linguistische Pragmatik, 86 ff. 277 Neben der schon erwähnten extentionalistischen Trichotomie positiver, negativer und neutraler Kandidaten will Koch bsp. die Lehre vom Typus durch die Lehre von den komparativen Begriffen ersetzt wissen, Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 209 f. 27 4

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eher Zeichen' charakterisiert - entgehen zu können . Gerade dieser analytisch grundierte Vorgriff auf einen festen Bedeutungskern gesetzlicher Rede hat denn auch dem Kochschen Ansatz durchaus anderweitig Respekt verschaffen können279. Auf der anderen Seite wurde dieser analytische Ansatz gerade wegen seiner Analytik - vornehmlich vom hermeneutischen Lager her - kritisiert. Vorgeworfen wurde, daß die kategoriale, »szenische1 und nichttextuelle Bedeutung des Verstehens eines Gesetzestextes als Handlungsvtrsléhzn von der Analytik nicht erfaßt werden könne, da ein derartiges Verstehen durch die vermeintlich für alle geltenden semantischen Verwendungsregeln unterschlagen würde. Zudem bilde der logisch-analytische Zugriff theoretisch nicht hinreichend die Vermittlung von Reflexion und Argumentation, Intersubjektivität und Konsens im Prozeß richterlichen Entscheidens ab. Der Reduktion von Sachproblemen auf Sprachproblemen könne so nicht widerstanden werden 280. Doch nicht dies, sondern vor allem die Kochsche Auffassung hinsichtlich der konventionell geltenden Sprachgewohnheiten ist präzise der Anlaß zu Kritik: Im Kochschen Modell erlaubt die Feststellung der Sprachkonvention eine quasi naturwüchsige Feststellung der Bedeutung; die Regel wird insofern »verdinglicht4. Doch gerade dies ist verfehlt: Man kann zwar eine Regel des Sprachgebrauchs korrekt und im Hinblick auf die komunikative Verständigung erfolgreich anwenden, doch gilt dies gerade nicht im gleichen Maße für die Beschreibung einer Regel, wie die obige Skizze zu Wittgenstein gezeigt hat. Die Sprach Verwendungsregel ist nie etwas statisches, nie etwas außerhalb des Textes Vorhandenes und ist insofern auch nicht sprachspiel-steril empirisch beschreibbar - Beschreibungen kommen hier immer zu spät281. Das Koch278

Scheinpräzision insofern, als der Bereich der positiven, negativen und neutralen Kandidaten als zu präzis abgegrenzt beschrieben wird, vgl. zur Kritik nur Ulrid Neumann, PhilRdsch 28 (1981), 189 (206ff.); ders., Juristische Argumentationslehre, 47ff. 279 So beziehen sich auch Koch explizit auch Autoren, bei denen man dies prima vista nicht erwartet hätte, so bsp. Alexy, Theorie der Grundrechte, 502; Buchwald, ARSP 79 (1993), 16 (24); Hoerster, JuS 1985, 665 (667 f.). 280 Vgl. für viele nur U. Neumann, in: Hassemer (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik, 49 (55 f.). Vgl. zum Verständnis von Rechtswissenschaft als weder Sozialtechnologie noch Politik· Annex, sondern als entscheidungspraktische Handlungswissenschaft nur ders., Rechtsontologie und juristische Argumentation, 41 ff.; ders., PhilRdsch 28 (1981), 189 (199); ders., in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Rechtstheorie, 422 (434 f.); Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, 246ff., 313 f.; ders., Richterrecht, 93 f.; ders., Juristische Methodik, Rn. 160 f.; ders., Recht - Staat - Gewalt, 22; Arthur Kaufmann, Beiträge zur juristischen Hermeneutik, 85; Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 82 f. und öfters. Aus Sicht einer analytischen Hermeneutik unter jeglichen Verzicht auf einen Rekurs auf die ,Sache Recht', Heiner Alwart, Recht und Handlung, 110ff., 164 ff. 281 Die Statik des Kochschen Modells wird in Koch, in: ders., Die juristische Methode im Staatsrecht, 13 (40), sehr klar anhand einer spezifisch verkürzten, auf v.Kutschera, Sprachphilosophie, 1971, 234f., beruhenden Wittgenstein-Exegese vorexerziert, nach der die Regel des Sprachgebrauchs darin bestünde, daß wir einen Ausdruck allgemein so und so verwenden. Doch Wittgenstein handelt nicht von einem derartig allgemeinen Gebrauch, sondern bezieht sich auf konkrete Handlungen, und spricht von keiner Bedeutung an sich als allgemeinen Ge-

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sehe Modell rettet insofern auch nicht die Unterscheidung zwischen Regelbeschreibung und Regelfestsetzung und damit die Abgrenzung von »semantisch4 ausdefinierten und »pragmatisch 4 offenen Regeln des Sprachgebrauchs. Damit ist allenfalls eine Verbeugung vor der Zerstreuung von Sprache verbunden; die ihtoritleitende

Vor-

stellung einer i m Grundsatz »festen Sprache 4 wird damit nicht aufgegeben. Wie dieser Grundsatz aber abgesichert sein soll, bleibt unerfindlich. Ob Koch schließlich einen essentialistischen Bedeutungsbegriff, welcher Bedeutungen „einen eigenständigen Dingcharakter, einen ontologischen Status platonischer Entitäten, zuschreibe" 2 8 2 , und zudem einen ,ontologischen Atomismus 4 verficht, demzufolge die »außersprachliche Wirklichkeit 4 aus einer abgeschlossenen Menge von sprachunabhängig wahrnehmbaren »Dingen 4 , »Eigenschaften 4 oder »Unterscheidungen 4 besteht 283 , kann hier letztlich offenbleiben; vieles deutet daraufhin, daß die Kritik sich durchaus nicht in die falsche Richtung bewegt. Für die hier interessierende Frage ist dies freilich letztlich ohne näheren Belang: Es ist hinreichend deutlich geworden, daß d^s Kochsche Sprachverständnis nicht überzeugt 284 . brauch außerhalb einer ganz konkreten Sprechsituation, sondern bezieht Bedeutung auf den Gebrauch eines Wortes innerhalb eines ganz bestimmten Sprachspiels, siehe oben §2 II 1, 2, sowie ansonsten nur Wellmer, in: Demmeriing/Gabriel/Rentsch (Hrsg.), Vernunft und Lebenspraxis, 123 (125 f., 128 ff.). 282 So Busse, in: Müller (Hrsg.), Rechtslinguistik, 93 (99); ders., Juristische Semantik, 107; ders., RTh 1988, 305 (308). 283 So die herbe Kritik bei Busse, in: Müller (Hrsg.), Rechtslinguistik, 93 (98 ff., 101 ff.); ders., Juristische Semantik, 107ff. Die hiergegen von Hilgendorf, Argumentation, 50ff., vorgetragene Gegenkritik zeichnet nur im geringen Maße die von Busse ausgeführte Kritik nach; insbesondere argumentiert Busse nicht - wie ihm dies Hilgendorf vorwirft - von einer innerhalb der Sprachwissenschaft vereinzelt gebliebenen Position her, sondern beruft sich explizit auf die Spätphilosophie Wittgensteins ebenso, wie auf deren Weiterentwicklung in der Praktischen Semantik Heringers und Wimmers; im genaueren versucht Busse ein Modell kommunikativer Interaktion anhand der Faktoren: Einbettung von Sprache in ihr soziales Umfeld - Einbindung der Intentionen des Sprechenden - Einbindung der intentionalen Aktivität des Hörenden, zu entwickeln und rekurriert hierauf in den theoretischen Grundlagen u. a. auf den späten Wittgenstein, auf eine spezifische Interpretation der Intentionalistischen Semantik von Grice und auf die psychologische Semantik Hörmanns, vgl. nur Busse, Historische Semantik, 109 ff. Soweit Hilgendorf, ebd., 54 f., freilich mutmaßt, Busse würde in der Kritik an Koch als Folie der Kritik ein völlig verfehltes, in der Form so heute nicht mehr vertretenes Bild positivistischen Begriffsdenken nach Art der Subsumtionsautomatenlogik ausbreiten, so geht dieser Einwand schon deshalb fehl, weil es Busse gar nicht um den Nachweis des rechtsschöpferischen Gehaltsrichterlichen Entscheidens vor dem Hintergrund vielfältig vager Begrifflichkeit, sondern allein darum geht, diesen Gehalt sprachtheoretisch hinreichend zu erfassen. Insofern geht es um die Stärkung der reflexiven Sprachkompetenz der Rechtswissenschaft innerhalb der juristischen Sprachspiele und um die Aufdeckung von impliziten Rationalitätspotentialen und der Sichtbarmachung von Gewalt qua Interpretation von Text. Soweit Hilgendorf schließlich ebd., 49,55, beklagt, aufgrund der Theorienvielfalt innerhalb der Sprachwissenschaft seien gesicherte Erkenntnisse nicht gegeben, so wird hier das heuristische Potential pluraler Theorienbildung doch eher unterschätzt. Und was bedeutet die merkwürdig konnotierte Rede, die Sprachtheorie befände sich stellenweise noch in einem „vorwissenschaftlichen, philosophischen" Zustand (Hilgendorf \ ebd., 49). 284

Zur Kritik siehe auch Somek, Der Gegenstand der Rechtserkenntnis, 79 ff.

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II. Sprachanalytik und Rekurs auf den Willen des Gesetzgebers Das im Rahmen dieser Untersuchung vorgeschlagene Verständnis von Sprache als Gewebe von Verweisen und als Phänomen der Zerstreuung würde rechtlich nicht weiter interessieren, wenn Sprache zwar als soziale Handlung (also als ein pragmatisches, nicht allein als ein semantisches Phänomen) aufgefaßt wird, die Praxis dennoch durch einen Verweis auf die Gesetzgebungsgeschichte in ihrem Sprechen gebunden werden könnte. Für ein derartiges Sprachverständnis steht beispielhaft die Arbeit Hegenbarths 285, der eine explizit auf den Umgang mit Gesetzestexten bezogene Variante der Sprachanalytik vorgelegt hat.

1. Der Autor als Einheit und Ursprung von Bedeutung Hegenbarth wirbt explizit für die Grundannahme von Teilen der Pragmatik, daß sprachliche Äußerungen als soziale Handlungen nicht ohne Berücksichtigung der Intentionen der Kommunikationsteilnehmer und der Analyse der sozialen Sprechsituation begriffen werden können. Er stellt sich daher mit Vehemenz insbesondere denjenigen sprachtheoretischen Ansätzen entgegen, die in wo/Ysemantischer Manier vor dem Hintergrund eines substantialistischen Textbegriffs - wie bsp. die Logische Semantik Kochs - einem Zeichen auch außerhalb eines bestimmten Kontexts schon eine feste Bedeutung einschreiben wollen 286 . Frucht einer derartigen Attacke gegen Wortsemantiken ist zugleich eine Verabschiedung der Lehre von der »Wortlautgrenze', die ja nur vor dem Hintergrund wortsemantischer Annahmen verständlich ist. Darüberhinaus wendet sich Hegenbarth aber auch explizit gegen sämtliche Formen »objektiver Gesetzesauslegung4 und votiert mit Nachdruck für eine »subjektive4 Interpretation von Text, die an den kommunikativen Absichten der historischen Textproduzenten ausgerichtet ist. Die Feststellung einer Textbedeutung287 heißt in der Perspektive Hegenbarths insofern Feststellung des von einem konkreten empirisch vorfindlichen Textproduzenten im Augenblick der Textproduktion in einer konkreten historischen Situation und einem konkreten Kontext aktuell Gemeinten 2**. Die Feststellung selbst soll anhand einer historisch-soziologischen Analyse 285

Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982. Hegenbarth, Linguistische Pragmatik, 86ff., 97 ff. 287 Hegenbarth schlägt vor, ein ,Bedeutungspotential' angelehnt an die lexikalische Wortbedeutung von einer ,aktuellen Bedeutung* (der sog. textuellen Bedeutung) der in Kontexten eingebundenen Wörter zu unterscheiden (vgl. ders., Linguistische Pragmatik, 97). Dazu nur Busse, Juristische Semantik, 203f.; Jeand'Heur, Sprachliches Referenzverhalten, 100f. 288 Vgl. etwa Hegenbarth, Linguistische Pragmatik, 165, 171, 185 und öfters. Ein-soweit die Bejahung des Prinzips der Autorschaft im Räume steht - vergleichbares Modell entwickelt Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 1977, der eine Theorienvielfalt (angefangen bei kybernetischen Regelungs- und technischen Informationsmodellen, über extensionale und Merkmalssemantiken, semiotische Zeichenmodelle, Abbild286

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auf den Weg gebracht werden, die wiederum von Hegenbarth in ein dreigliedriges Kommunikationsmodell eingebettet wird, welches an Code-Theorien sprachlicher Bedeutung angelehnt ist 2 8 9 . Nach diesem Kommunikationsmodell gibt der Gesetzgeber (der Sprecher) das Gesetz (die Mitteilung) an die Gerichte (die Hörer) weiter 2 9 0 . Rechtstexte seien damit „ i m Kommunikationsdreieck von Sender (Gesetzgeber), Empfänger (Rechtsanwender und Publikum) und Mitteilung (Rechtstext)" 2 9 1 situiert, so daß der Rechtsanwender die kommunikativen Anweisungen des Gesetzgebers nur zu entschlüsseln brauche.

2. Kritik Soweit, so gut - doch was bedeutet das, ein ,aktuell Gemeintes' ? Eine mögliche Version kann von vornherein ausgeschlossen werden: die Version des i m Augenblick der Äußerung hervortretenden Sinns. Als derartiger aktueller Sinn wird eine Äußerungsbedeutung zwar von den Kommunizierenden intuitiv gewußt; dieses Wissen verschwindet jedoch so schnell, wie die Äußerungssituation vorbei ist, da ein Interpret, der sich über die Bedeutung eines Textes Rechenschaft ablegt, aus dieser Unmittelbarkeit des Sinns schon herausgetreten ist. Zudem wird mit dem Rekurs auf das in einer Äußerungssituation hervortretende intuitive Wissen implizit unterstellt, das Verstehen von Rechtstexten funktioniere genau so wie das Verstehen von theorie und pragmatischer Referenzsemantik bis hin zur pragmatischen Kommunikationstheorien) - nicht immer kommensurabel - adaptiert, zur Kritik vgl. nur Busse, Juristische Semantik, 166 ff. Die radikalisierte Version der Intentionalistischen Semantik ist im übrigen von Herbert Paul Grice in die Diskussion eingführt worden, vgl. dazu nur die von Meggle herausgegebene Aufsatzsammlung von Grice, Handlung, Kommunikation, Bedeutung, 1979, und Busse, Historische Semantik, 122 ff. 289 Hegenbarth, Linguistische Pragmatik, 172 ff. Die Anlehnung an Code-Theorien wiederum macht nur Sinn - worauf Busse, in: Müller (Hrsg.), Rechtslinguistik, 93 (117), hinweist - vor dem Hintergrund einer strukturalistischen Sprachtheorie, die Sprache als tendenziell festes - eben struturiertes - Regelsystem auffaßt, das als Teil der Sprecherkompetenz beliebig aktivierbar ist und innerhalb dessen Sprache als Code weitergegeben werden kann. 290 Hegenbarth, Linguistische Pragmatik, 37, 58 ff. Ähnlich präsentiert Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung, 141 ff., ein völlig an der Meinung des Textproduzenten orientiertes »kybernetisches Kommunikationsmodeir, in dem mittels des Prozesses der »Codierung4 die Information als »Signal4 über den »Kanal4 an den .Empfänger 4 gesendet werde, der die Information dann nur noch zu »entschlüsseln4 brauche. Hierbei würden die in den Zeichen vertexteten Informationsinhalte im Idealfalle bedeutungsgleich transportiert. Jede Zerstreuung von Bedeutung im Verstehensprozeß muß hier als »Störung im Kanal4 und jegliche Interpretation von Rechtstexten als »Rechtsfortbildung4 erscheinen (Baden, ebd., 90, 108, 130, 155) - eine Vorstellung, die Busse, Juristische Semantik, 165 ff., zu Recht zum Anlaß nimmt, von einer,Topftheorie der Bedeutung4 zu sprechen, die jegliche Formen von Verstehen und Interpretation aus dem Sprachmodell exorziert und sich in ihrem radikalen Subjektivismus dem Bild des aliquid stat pro aliquo der klassischen, schon vor der Neuzeit tradierten und bereits bei John Locke entwickelten Zeichenlehre der Repräsentationstheorien, nach denen Zeichen ,für etwas4 in der Wirklichkeit stünden, anverwandelt. 291 Hegenbarth, Linguistische Pragmatik, 37.

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Alltagsinteraktionen - ein für Rechtstexte befremdlicher Gedanke292. Ein situationistischer, an die Intentionen der Sprechenden gebundener Bedeutungsbegriff hat zwar eine hohe Erklärungskizft hinsichtlich des rechtlich akzeptablen Konstitutionsortes sprachlichen Sinns, für ein Modell von Interpretation ist er nach all dem nicht fruchtbar 293. Das »aktuell Gemeinte4 kann daher allenfalls auf die Rekonstruktion der im Text verborgenen Sprecherintention bezogen werden. Insofern verläßt man jedoch die Position des unmittelbaren Gesprächsteilnehmers und tritt in die Rolle des rekonstruktiv verfahrenen Analytikers, dessen Konstrukt - die eruierte Textbedeutung - den gleichen wissenschaftstheoretischen Status hat wie die lexikalische Bedeutung, da beides rekonstruktive, nur auf verschiedenen Analyseebenen situierende und zu unterschiedlichen Zwecken hervorgebrachte Abstraktionen darstellen294. Die bei der Rekonstruktion dieser Abstraktion zum Ausdruck kommende Dialektik zwischen lexikalischer Bedeutung und Autorintention wird bei Hegenbarth radikal zu Gunsten der subjektiven Seite gelöst. Das der lexikalischen Semantik innewohnende Konzept der, wahren Bedeutung4 wird nurmehr auf die Sprecherseite repliziert. Der Rezipient erscheint dann nur noch als quasi behavioristische Maschine, die selbst keinen Sinn erzeugt 295. Die von Hegenbarth propagierte Aktivierung des epistemischen Horizonts wird insofern um Erkenntnisinteressen, Frageziele und Vorverständnisse des Rezipienten verkürzt. Das bei Koch zu beobachtende objektivierende Bedeutungsverständnis (der Text nimmt aufgrund objektiver Bedeutungsvorgaben auf einen Gegenstand Bezug) wird bei Hegenbarth - vor dem Hintergrund der Vorstellung einer, wie Derrida formuliert, „Anwesenheit der Intention des sprechenden Subjekts in der Totalität seines Sprechaktes 44296 - denn auch nur mit quasi umgekehrten Vorzeichen versehen und auf die Autorintention bezogen297. Die sprachverkürzenden Verdinglichungen sprachlicher Bedeutung werden nur mit einem anderen Begriffs- und Analyseapparat reproduziert. Der Sprecher erscheint vor diesem Hintergrund als „autoritärer Autor 44298 , dem ab ovo eine gleichsam vorsprachliche Kompetenz zukommt, Be292

Zur Kritik auch Christensen, in: Müller (Hrsg.), Rechtslinguistik, 47 (54f.). Allg. Busse, Juristische Semantik, 204; ders., in: Müller (Hrsg.), Rechtslinguistik, 93 (120); vgl. allg. zum Unterschied zwischen einem situationistischen, unmittelbaren Innewerden sprachlichen Sinns zur Interpretation einer Äußerung ders., Textinterpretation, 167ff. m. w. Nachw. 294 Busse, in: Müller (Hrsg.), Rechtslinguistik, 93 (120). 295 So auch die Kritik bei Busse, Juristische Semantik, 207; ders., in: Müller (Hrsg.), Rechtslinguistik, 93 (122). Vgl. auch Christensen, Gesetzesbindung, 117ff.; Jeand'Heur, Sprachliches Referenzverhalten, 99 f. 296 Derrida, in: ders., Randgänge der Philosophie, 291 (306). 297 Vgl. dazu, daß ein derartiges Kommunikationsmodell letztlich nicht den Sender, sondern den Code privilegiert Descombes, Das Selbe und das Andere, 111 f. Die Anbindung des Gesetzestextes an die Intentionen des Gesetzgebers propagiert auch - aus sehr achtenswerten rechtsstaatlichen Motiven - Ingeborg Maus, in: Abenroth/Blanke/Preuß u. a. (Hrsg.), Ordnungsmacht, 153 (161 ff.). 298 Zu diesem Begriff siehe Broekman, RTh-Beih. 6 (1984), 144 (150). 293

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deutung zu generieren und für alle folgenden sprachliche Aneignungen des Textes durch Rezipienten stabilisierend festzuschreiben 299. Hegenbarth verschließt sich in seinem Kommunikationsmodell damit der Überlegung Wittgensteins, daß „nur in einer Sprache (...) ich etwas mit etwas meinen kann" 300 . Es ist nicht die Leistung eines geistigen Akts des Meinens, daß ein Satz einen Sinn hat, sondern Bedeutung wird durch die Sprachgemeinschaft sanktioniert, nicht durch einen, der meinen möchte301: „Man kann mit einer Äußerung nicht auch meinen, was man mit ihr nicht auch sagt" 302 . Präziser: Das Meinen des Autors ist nicht vom Sprachsystem unabhängig, es ist nicht quasi als vorsprachliches Meinen mit sich selbst identisch, sondern schreibt sich in das der Intention vorhergehende Sprachsystem zwar ein, kann es aber nicht gleichsam vollständig überwältigen 303. Intention kann den sprachlichen Kontext, in den sie sich einschreibt, nie vollständig überblicken, den Sinn einer Äußerung nicht auf Dauer stellen; Intentionen haben folglich keinen rein individuellen Status304. Dies hat Folgen: Man kann nicht von einer quasi vorsprachlichen Intention auf die Bedeutung eines Textes schließen, sondern nur umgekehrt von der Bedeutung eines Textes auf die Intention 305 . Die Bedeutung eines Textes kommt demnach nicht durch bestimmte bedeutungsverleihende Akte des Textproduzenten zustande, sondern das Meinen des Sprechers muß an ein bestimmtes System sprachlicher Bedeutungen anknüpfen 306; Sprache ist kein bloßes Ausdrucksmedium ohne Eigengewicht 307 . Nicht die reine Innerlichkeit des Willens ist der Sprache, sondern gerade umgekehrt die Sprache dem Subjekt vorgängig. Das Volitive wird dem Sprecher im Kommunikationsprozeß aufgrund bestimmter normativer Überlegungen zugeschrieben, die ihrerseits ein Sprachspiel eigener Art darstellen 308. „Als Ursprung seines Ausdrucks kommt der Wille immer zu spät" 309 . 299

Jeand'Heur, Sprachliches Referenzverhalten, 99. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Randbem. zu §38. Vgl. im übrigen dazu, daß es nicht möglich ist, Meinen und Wollen als sprachunabhängige Akte zu vollziehen im weiteren nur ders., ebd., §§ 552, 665 sowie §§ 36, 540, 661, 693. Dazu vgl. im weiteren nur Busse, Historische Semantik, 119 ff. 301 Vgl. zu Wittgensteinianischen Auseinandersetzung mit der »Theorie vom bedeutungsverleihenden Meinens' nur v.Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache, 66ff. 302 v. Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache, 66. 303 Christensen, in: Müller (Hrsg.), Rechtslinguistik, 47 (56). 304 Derrida , in: ders., Randgänge der Philosophie, 291 ff. Gustav Radbruch bemerkte ähnlich, daß „jeder Sinn nur Teilsinn in einem unendlichen Sinnzusammenhang ist und in diesem Sinnzusammenhang unübersehbare Wirkungen hervorruft: ,Was er webt, das weiß kein Weber 4" (Radbruch, Rechtsphilosophie, 213). 305 Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine, 251 f., bemerkt, daß der „Rekurs auf den „authorial meaning4' (ders., ebd., 253) nicht den Weg zur Individualität des Autors erschließt. 306 Christensen, in: Müller (Hrsg.), Rechtslinguistik, 47 (56); ders., Gesetzesbindung, 99. 307 Derrida , Die Stimme und das Phänomen, 79 ff. 308 Schroth, Theorie und Praxis, 22, mit Bezug auf Wittgenstein. 309 Christensen, Gesetzesbindung, 100. Vgl. auch Frank, Neostrukturalismus, 123. 300

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Eine Eins-in-Eins-Übersetzung des Meinens des Autors in Sprache, bei der - wie bei Hegenbarth - der Textrezipient nur als mechanisches Aufnahmemodul des sinnidentisch transportierten auktorialen Meinens fungiert, geht demgegenüber von einer Bedeutungsidentität der Zeichen bei ihrer Benutzung aus und übersieht damit die oben vorgestellte, durch Wittgenstein explizierte, von de Saussure tradierte und von Derrida weitergeführte Einsicht 310 , daß Sprache letztlich allein aus der ,Differenz\ aus der Kette der Verwendung differentieller Marken und nicht aus der Identität des Gemeinten mit sich selbst lebt. Die Dekonstruktion des Subjekts als Autor und als „letzter Richter seiner Sinn-Intentionen"311, die Dekonstruktion mithin der Vorstellung, das Subjekt mit seinen Intentionen sei die Quelle sprachlicher Bedeutung, und die Überführung der »Bedingung der Möglichkeit4 von Bedeutung auf das Zeichen ist mit einem Ansatz der Art Hegenbahrts schlechthin unverträglich. Angesichts der Vorgängigkeit der Sprache kann man nicht auf einen sprachunabhängig vorliegenden Seelenzustand referieren, auf einen verborgenen inneren Gegenstand, der »Intention': Psychische Phänomene sind eben nicht »privater' oder »innerer' Natur. Wir haben zu Mitteilungsabsichten (iS individualpsychologischen Zuständen) keinen anderen Zugang als über sprachliche Zeugnisse, mithin nur einen Zugang über Texte. Dann endet man zwangsläufig wiederum bei den Fragen, die sich an die Feststellung der Bedeutung von Texten unabhängig von der Figur des Autors stellen lassen312. Man entgeht nicht so einfach dem Gedanken, daß Bewußtsein sich erst „in dem und durch das différentielle Spiel der Marken einer Struktur" 313 einstellt - einer Struktur, die im Spiel der Differenzen nie ganz abgeschlossen ist, sondern als unendlich offen gedacht werden muß. Weil ein Autor den Gesamtzusammenhang der Sprache weder überblicken noch beherrschen kann, ist Sprache dem Subjekt vorgängig: Dieses314 wird durch Sprache immer wieder neu gewebt. Für das Recht heißt dies: Das autonome Rechtssubjekt gilt es als Ergebnis rechtlicher Zuschreibung und Wertung und nicht als Ertrag rechtlich-vorgängiger Erscheinungen zu deuten. Nach all dem muß die Vorstellung verabschiedet werden, die Praxis könne durch einen Verweis auf die Gesetzgebungsgeschichte in ihrem Sprechen gebunden werden.

310 Die Einsichten beschränken sich natürlich nicht auf die Genannten, vgl. bsp. aus systemtheoretischer Perspektive Fuchs, Moderne Kommunikation, 15 ff.; ders., Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, 27 ff. 311 So Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 78. 312 Schon das hermeneutische Verstehensmodell der romantischen Theorie ging nicht davon aus, die Mitteilungsintention eines Autors könne man herausfinden. Ziel auch der »Divination* Schleiermachers war es vielmehr, die jeweiligen Zeichen so zu deuten, wie wir sie, wenn wir an der Stelle des Autors gewesen wären, wohl gemeint hätten; vgl. Busse, Textinterpretation, 10; Schroth, in: Hassemer (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik, 77 (78 ff.). Zu Schleiermacher vgl. allg. auch Frank, Das individuelle Allgemeine, passim. Vgl. auch aus systemtheoretischer Sicht Fuchs, Moderne Kommunikation, 15 ff. 313 Frank, Neostrukturalismus, 123. 314 Und zwar nur dieses: das Subjekt als Zurechnungsendpunkt von Sprachtheorie. Mit dem Rechtssubjekt hat dieses Subjekt nichts zu tun.

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III. Klassische Hermeneutik 1. Überblick I m Hegenbarthschen Kommunikationsmodell wurde der Textrezipient als ein quasi mechanisches M o d u l angesehen, welches die sinnidentisch transportierten Intentionen des Autors aufnehmen könne. Demgegenüber betont der hermeneutische Zugriff auf Text das schöpferische Eigenmoment des Interpreten, indem der A k t des Verstehens nicht als Erkennen, sondern als Herstellen von Sinn begriffen wird. N u n wird Verstehen gemeinhin 3 1 5 an Konzepte der Hermeneutik 3 1 6 geknüpft - und derlei gibt es i m Spektrum zwischen Transzendentalphilosophie und Kunstlehre des Verstehens mit normativen Anspruch 3 1 7 viele, ganz abgesehen von den diffizilen Einzelheiten der Hermeneutik-Rezeption innerhalb der Rechtstheorie 318 und ihrer rechtstheoretisch 319 und sonstig orientierten 320 Kritik.

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Allein die Betonung des Schöpferischen am Prozeß der Interpretation von Text zieht nicht zwangsläufig auch das Konzept des Verstehens nach sich, wie bsp. bei Ronald Dworkin , A Matter of Principle, 117 ff., ersichtlich ist, der nach Claudia Bittner, Recht als interpretative Praxis, 20, Interpretation nicht als bloße Textexegese, sondern als Aktivität begreift, die zum Verständnis des Menschen als eines Wesens mit personalistischer Identität beiträgt, und damit der philosophischen Hermeneutik im Gefolge Heideggers und Gadamers zwar ähnelt, aber dennoch mit Hermeneutik insofern nichts zu schaffen habe, als in seiner Theorie der Interpretation der Modus des , Verstehens* keine Rolle spiele, vgl. auch Matthias Kaufmann, Rechtsphilosophie, 185 f. 316 Vgl. als Überblick über philosophische Hermeneutiken nur Grondin , Philosophische Hermeneutik, 1991; Hans Ineichen, Philosophische Hermeneutik, 1991; Seiffert, Einführung in die Hermeneutik, 1992. 317 Rottleuthner, in: Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 7 ff., hat die Zweiteilung zwischen eher epistemologisch ausgerichteter Hermeneutik als Kunstlehre regelgerechten Verstehens (paradigmatisch: Schleiermacher) auf der einen und Transzendentalphilosophie, die nach den Bedingungen der Möglichkeit von Verstehen fragt (paradigmatisch: Gadamer , Arthur Kaufmann), als ,klassische Hermeneutik4 und ,Neue Hermeneutik4 auf den Begriff gebracht. 318 Vgl. zur juristischen Hermeneutikrezeption nur die Beiträge in Hassemer (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik, 1984; ders., ARSP 72 (1986), 195 ff.; Alwart, Recht und Handlung, 86ff.; Schroth, in: Kaufmann/Hassemer (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 344ff.; Gizbert-Studnicki, RTh 1987,344ff.; Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, 1981. 319 Vgl. bsp. zur Kritik an Hermeneutik als Agens einer von Bindungen herkömmlicher Methodik befreiten richterlichen Tätigkeit nur Rottleuthner, in: Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosphie, 7 (14ff.); zur Kritik aus dem Blickwinkel der Rechtswissenschaft als Entscheidungswissenschaft, Friedrich Müller, Juristische Methodik, 123 ff. 320 Aus sprachwissenschaftlicher Sicht vgl. nur Busse, Juristische Semantik, 76 ff.; aus poststrukturalistischer Sicht wird kritisiert, Hermeneutik könne sich nicht Texten widmen, die nicht mehr von einem Sinnhorizont erschlossen werden können, die »disseminiert4, ,gefältet4 sind (Frank, Neostrukturalismus, 587).

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Dies alles kann und muß hier i m einzelnen dahingestellt bleiben 3 2 1 . Hier reicht es hin, die exemplarischen Varianten hermeneutischen Denkens einer Kritik zu unterziehen, die sämtlich der hier vorgeschlagenen Gründung des Rechts in sozialer Praxis kritisch gegenüberstehen. Ausscheiden muß daher hier die Hermeutik nach Gadamer 3 2 2 . Diese w i l l Verstehen als Sich-Verstehen und prinzipielles Anders-Verstehen und als Horizontverschmelzung i m Kontext der geschichtlichen Überlieferung begreifen. Sie gruppiert ,Sinn' damit nicht um den Autor, nicht um eine ,mens auctoris 4 , sondern um die i m Text zur Sprache kommende ,Sache 4 . Dadurch bindet sie Verständigung in die Autorität der Überlieferung und begreift letztlich den Nachvollzug der Sinnintentionen des Autors als das sekundäre Moment des Verstehens. Diese Variante der Hermeneutik rekurriert auf die Voraussetzung von Verstehen überhaupt und begreift sich nicht als eine Kunstlehre der Auslegung. Sie wurde schon oben einer K r i t i k unterzogen 323 . A n dieser Stelle sind daher nur die genuinen hermeneutischen Auslegungslehrcn

und ihr Umgang mit dem Recht von Interesse.

Paradigmatisch für viele stehen dafür Emilio Betti und Joachim Hruschka.

2. Die Klassische Hermeneutik:

Emilio Betti

B e t t i 3 2 4 artikuliert eine »klassische' Hermeneutik als eher epistemologisch ausgerichtete, der Methodik des Textverstehens verpflichtete Forderung einer Prüfung 321

Die Vielfalt hermeneutischer Ansätze verbietet es, sich allgemein des hermeneutischen Zugriffs auf Verstehen und Welt sowie seiner Einordnung in das Ganze philosophischer Überlieferung zu verschreiben, insofern ausgiebig Begriffsanalyse zu betreiben und Positionen zu markieren, um der Gefahr zu begegnen, das Hermeneutische an der Hermeneutik im Allgemeinen des Textverstehens verschwimmen oder in ein allgemeines Votum gegen jegliche Form des Fundamentalismus aufgehen zu lassen - wie dies bsp. bei Richard Rorty, Der Spiegel der Natur, 343 ff., 387 ff.; ders., Kontingenz, Ironie und Solidarität, 1989, geschieht, indem er Hermeneutik weder als Methode noch als ein Forschungsprogramm, sondern als Ausdruck der Hoffnung versteht, die durch das Absterben fundamentalistischer Erkenntnistheorien geschaffene kulturelle Leerstelle nicht neu zu besetzen. Ein weiteres Beispiel wären die Abstraktionen Bydlinskis, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 66f., der die Unterschiede zwischen der philosophischen Hermeneutik Gadamers und den Kritischen Rationalismus Poppers als mehr oder weniger für die juristische Methodenlehre unerheblich ansieht. 322 Gadamer , Wahrheit und Methode, Werke I. 323 §3 II. 324 Betti , Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, 1967; ders.. Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, 1988 (Nachdruck des Beitrags zur Festschrift Emst Rabel, Bd. 2, 1954, 79 ff.). Sein methodologisches Instrumentarium hat auch auf die Theorie der Auslegung rechtsgeschäftlicher Erklärungen prominenten Einfluß gewonnen, so beispielsweise bei Hepting, Ehevereinbarungen, 241 ff.; vgl. auch Lüderitz, Auslegung, 4ff. Vgl. zu Betti im übrigen Grodin, Philosophische Hermeneutik, 162ff.; ders., L'Horizon herméneutique, 158ff. = Archives de Philosophie 53 (1990), 177 (180ff.); Ineichen, Philosophische Hermeneutik, 207ff.; Frommel, Rezeption der Hermeneutik, 42f.; Busse, Juristische Semantik, 66ff.; Bickel, Methoden der Auslegung, 2Iff. (auf der Basis der Rechtslehre Emst Wolfs).

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Kap. 1 : Sprachtheoretische Skizzen

von Auslegungshypothesen325. Er verficht diesbezüglich ein Ideal 326 einer Hermeneutik 327 , welches an Objektivität und Kontrollierbarkeit des interpretatorischen Prozesses orientiert ist. Hermeneutik kann insofern als eine Art „objektivistische" Hermeneutik bezeichnet werden. Das Verstehen ist in einer derartigen objektivistischen Hermeneutik der Vorgang, einen in sinnhaltigen Formen (Sprache, Gesten und ähnliches) sich objektivierenden fremden Geist zu erfassen, eine mens auctoris. Der Interpret muß hierbei den schöpferischen Prozeß der Sinnstiftung durch den Autor nachvollziehen328. Objektivität wird für Betti dabei durch die Einbindung des Interpreten in eine „Gemeinschaft von seinesgleichen" verbürgt, in der er „in beständiger Wechselwirkung mit ihnen sich dem Ganzen als einem Kosmos von Werten unterordnet" 329. Ein solcher Rekurs auf einen Wertekosmos läßt aufhorchen: Bettis Hermeneutik schließt hier an die materiale Wertethik Nicolai Hartmanns an. Betti gründet damit seine Hermeneutik auf der Vorstellung, es gäbe so etwas wie ein Reich materialer Werte, die intuitiv erfaßbar seien, denen eine ideale Objektivität zukäme und die die Bedingung der Möglichkeit der intuitiven Einsicht in Werte, die jeder Bewertung implizit zugrundeliege, darstellten 330. Er will so letztendlich die Objektivität seiner eben deshalb ja als objektivistisch zu bezeichnenden Hermeneutik sicherstellen. Ein epistemologischer Rückgriff auf materiale Wertvorstellungen überzeugen aber heutzutage selbst dann nicht mehr, wenn man die Konsequenzen aus dem Spiel der différance selbst nicht zu ziehen gewillt ist 331 . Damit entfällt aber die Möglichkeit der Bettischen Hermeneutik, die Objektivität des Verstehens abzusichern. Die Hauptstoßrichtung dieser Spielart der Hermeneutik (die Objektivität des Verstehens) geht dann ins Leere, so daß sie hier nicht weiter interessiert. 325 Innerhalb der Rechtstheorie ist diese Richtung der Rechtstheorie insbesondere mit Helmut Coing verknüpft. Coing , Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik, 1959; ders., Grundzüge der Rechtsphilosophie, 319ff. Vgl. zu Coing im übrigen nur Frommel, Rezeption, 41 ff.; Busse, Juristische Semantik, 68ff. 326 Vgl. zur Kritik an der Einvernahme Schleiermachers für diesen Objektivismus Frank, Das individuelle Allgemeine, 174 Fn.70, 250 f. 327 Und stößt sich demnach an diejenigen Hermeneutiken, die insbes. im Gefolge Heideggers - wie bsp. Gadamer - den Primat des sinnschöpfenden Subjekts betonen. Vgl. zur Kontroverse zwischen Gadamer rsp. Heidegger auf der einen und Betti auf der anderen Seite nur Betti , Grundlegung, 13 Fn. 14b; Gadamer , Wahrheit und Methode, Werke Bd. 1, 264f.; ders., Wahrheit und Methode, Ergänzungen, Werke Bd. 2,104, 392ff.; ders., in: Betti, Grundlegung, 91 ff. 328 Betti, Grundlegung, 15 ff. und öfters; ders., Auslegungslehre, 179ff., 195 ff. Aufgrund des in der Parallelisierung des Akts des Verstehens als gegenläufigen Prozeß zum Akt des Schaffens zum Ausdruck kommenden krassen Psychologismus Bettis kritisch Gadamer, in: Betti, Grundlegung, 91 (94); ders., Wahrheit und Methode, Ergänzungen, Werke Bd. 2,393. Einer derartigen Parallelisierung steht Hepting, Ehevereinbarungen, 243 Fn. 111, wohlwollend gegenüber. 329 Zitate jeweils bei Betti, Auslegungslehre, 745. 330 Betti , Auslegungslehre, 4ff. und öfters. 331 Die Kritik an ontologischen Grundlegungen nach Art der materialen Wertethik ist unübersehbar, hier sei daher nur auf Wolfgang Gast, Rechtserkenntnis und Gewaltstrukturen, 19 ff., verwiesen.

§ 5 Rechtstheoretische Gegenentwürfe zum hiesigen Sprachverständnis

3. Einfrieren

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von Sprache in der ,Sache Recht'?

Das hiesige Sprachverständnis würde zumindest in rechtlichen Kontexten irrelevant sein, wenn die »Sache Recht' schon das Sprechen des Richters determinieren könnte. Die Frage lautet dann: Kann versucht werden, von einer dem positiven Gesetzesrecht als ius gegenübergestellten umfassenden Sinneinheit, Sache Recht' und einem ihr inhärenten universellen Code her den interpretatorischen Umgang mit Rechtstexten zu bewältigen? Als Befürworter einer positiven Antwort auf diese Frage kann paradigmatisch Joachim Hruschka 332 - stellvertretend wohl auch für weite Teile juristischer Methodologie - genannt werden. Hruschka schließt Rechtserkenntnis direkt mit einer außerpositivistischen »Sache Recht' kurz: Dem Gesetzestext liege voraus eine transzendente Instanz (das hermeneutische Apriori »Sache Recht') welche im inneren System des Rechts kristalliert sei. Mit Blick auf diese transzendente Instanz könne dann versucht werden, sich die Matrix der Legitimation juristischer Textarbeit zu verschaffen, indem der Sinn des Gesetzes - in nachgeradezu klassisch naturrechtlicher Manier 333 - in einer Relation zwischen Text und »Sache Recht' verortet wird, den es verstehend sodann zu erschließen gilt. Überzeugend ist all dies nicht. Hruschka gerät mit seinem Bild einer sprachunabhängigen ,Sache Recht' automatisch in die Aporien einer Bedeutungs-verdinglichenden Sprachtheorie 334. Mit seinem Sprachontologismus widerspricht er nicht nur der Annahme Gadamers, zwischen Sprache und Welt bestünde eine anthropologisch notwendige Einheit, vor deren Folie jegliche sprachunabhängige Entität absurd erschiene, sondern Hruschka votiert auch für einen Primat sprachlicher Bedeutung vor der sprachlichen Praxis und wendet sich damit wiederum gegen die Gadamersche Einsicht, daß Sinn durch den Akt des Verstehens und damit allein durch Praxis hergestellt wird 335 . Um sein methodologisches Modell zu retten, bleibt Hruschka deshalb auf die Annahme eines überpositiv gegebenen objektiven Maßstabs angewiesen und muß Methodologie in eine Philosophie des Rechts wenden. In letzter Instanz muß er - ganz übereinstimmend mit der herkömmlichen Lehre 336 - den Gesetzestext auf die Transzendentalität einer Gerechtigkeit beziehen, von der der Text sich die Stabilität wiederholen soll, die durch das zerstreuende Spiel sprachlicher Bedeutung verloren zu gehen schien337. Mit dieser Wendung von Methodologie in Philosopie des Rechts wird aber der kategoriale Bezugsrahmen der Hermeneutik überschritten: Der Gerechtigkeitsan332

Hruschka, Verstehen von Rechtstexten, 56ff., 42ff. So die Kritik an Hruschka bei Alwart, Recht und Handlung, 97 f. 334 Kritisch deshalb Rottleuthner, in: Koch (Hrsg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 7 (14ff.). 335 Christensen, Gesetzesbindung, 150f.; Gizbert-Studnicki, RTh 1987, 344 (360). 336 Beispielshaft seien nur Larenz/Canaris, Methodenlehre, 168 f.; Martin Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 169, genannt. 337 Hruschka, Verstehen von Rechtstexten, 68 f. 333

6 Goebel

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Kap. 1 : Sprachtheoretische Skizzen

spruch des Gesetzes (als spezifische Ausprägung der notwendigen Unterstellung einer Sinnhaftigkeit des auszulegenden Textes) kann nicht als Bedingung der Möglichkeit von Textverstehen verstanden werden. Denn die Prädikate »gerecht4 und »ungerecht4 bewegen sich innerhalb des Bereichs des Verstehbaren (des rechtlichen Sinns) und bedürfen deshalb selbst des Verstehens. Von der Struktur des Textverstehens her ist die der Rechtsordnung intendierte Gerechtigkeit daher nicht begründbar 338 . Indem die Hruschkasche Version der Hermeneutik Gerechtigkeit als Attribut der positiven Rechtsordnung als solcher und nicht als Attribut der Entscheidung faßt, verkennt sie das szenische Moment juristischer Normanwendung, ihren Praxisgehalt und ihr Gestaltungspotential, eben das Charakteristikum der Rechtswissenschaft als Handlungswissenschaft mit einem praktischen Entscheidungsinteresse und ihrem Verständnis der juristischen Textarbeit als gestaltendes Handeln339· 34 °. Konsequent verstanden leitet die implizite Eigenlogik der verborgenen Prämissen dieser Hermeneutik-Version Rechtspraxis dann zur freien Dezision an ohne legitimierenden Halt an dem in der interpretativen Praxis des Rechts erstellten Gesetz. Auch die Version der Hermeneutik nach Hruschka scheidet hier nach all dem als adäquates Interpretationsmodell des Gesetzes aus.

IV. Vermittlungen: Autor-Intention und Zerstreuung von Sprache? Die Möglichkeiten der Hermeneutik sind mit den beiden zuletzt vorgetragenen Hermeneutiken noch nicht erschöpft. In der neueren hermeneutischen Diskussion hat vor allem Manfred Frank eine Interpretation der romantischen Verstehenslehre Schleiermachers vorgelegt, der den von Derrida betonten strukturalen Aspekt der Sprache als unendlich offenen Verweisungszusammenhang auf der einen Seite mit der sinnstiftenden Rolle des Subjekts und seines Meinens auf der anderen Seite zu verknüpfen trachtet. Würde dieses Konzept und die damit avisierte „Quadratur des Kreises44 überzeugen, bestünde kein Anlaß, Sprache in den Strudel ihrer fortlaufenden Zerstreuung zu ziehen; vielmehr wäre hermeneutische Textarbeit auch weiterhin ein aufgebbares Modell sprachlichen Handelns.

338 U. Neumann, in: Hassemer (Hrsg.), Dimensionen der Hermeneutik, 49 (54f.); Christensen, Gesetzesbindung, 171. Vgl. zum elementaren Konstruktionsfehlers Hruschkas auch Alwart, Recht und Handlung, 101. Dieses Manko übersieht bsp. Jerzy Stelmach, Die hermeneutische Auffassung der Rechtsphilosophie, 81. 339 Vgl. zum Charakter der Rechtswissenschaft als Handlungswissenschaft mit einem praktischen Entscheidungsinteresse schon oben Fn. 280. 340 Ähnlich sieht Canaris den Handlungscharakter der Rechtswissenschaft als eher sekundär an, siehe ders., Systemdenken und Systembegriff, 145 ff., der die Topik als Lehre vom richtigen Handeln der Hermeneutik als Lehre vomrichtigenVerstehen gegenüberstellt und damit vernachlässigt, daß auch Hermeneutik sich als Handlungswissenschaft versteht.

§ 5 Rechtstheoretische Gegenentwürfe zum hiesigen Sprachverständnis

1. Unhintergehbarkeit

der Individualität

versus Unhintergehbarkeit

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der Sprache

Frank stimmt der Derridaschen Sicht der Sprache als eines struktural unabgeschlossenen Verweisungszusammenhangs und fortlaufender Zerstreuung dezidiert zu. Insofern unterschreibt er den Satz, daß es ohne das Wirken der différance keine Bedeutung gibt. Gleichwohl bestreitet er, daß dies (das Wirken der différance) alles ist: Die „Instanz, die bewirkt, daß jeweils Sinn geschaffen und verstanden werden kann, ist die Subjektivität als Individualität" 341 . Dies heißt nichts anderes, als daß letzten Endes die Individualität des Sprechers Sinn garantiere. Frank versteht den Zusammenhang zwischen Sprache und Individualität so, daß es in jedem kommunizierten Zeichen ein Allgemeines und ein Individuelles gäbe. Unter das Allgemeine faßt er dabei dasjenige, ohne das überhaupt nicht verstanden würde: das System sprachlicher Regeln. Das Individuelle wird von ihm als die Möglichkeit gesehen, daß das Individuum sprachliche Regeln frei interpretieren könne 342 ; das Individuelle also als dasjenige, welches von dem - im Anschluß an Schleiermacher gedachtes 343 -Individuum in das beim Zeichenaustausch Identische, die Derridaschen Marken, eingeschrieben wird und ohne das nur verstanden würde, was allgemein und regelgebunden ist. Frank denkt also insofern die différance Derridas als Individualität 344 . Bedeutung wird einem Zeichen insofern dadurch verliehen, daß die Individuen, die Zeichen verwenden, diese Zeichen in der Verwendungssituation konkret interpretieren und damit die allgemeinen Sprachregeln schöpferisch nachvollziehen, quasi ihre Individualität in das Allgemeine der Sprachregeln einschreiben und einem Text dadurch seine Einmaligkeit weben. Textverstehen bedarf dann einer „schritthaltenden Spontaneität"345 des Rezipienten im Verhältnis zum Autor, der die einmalige schöpferische Sprachhandlung nachvollziehen soll: „Der Sinnausleger muß ein hermeneutisches Exercitium vollbringen, das der schöpferischen Leistung des Stifters analog ist" 3 4 6 - 3 4 7 . 341

Frank, Neostrukturalismus, 518. Frank, Das individuelle Allgemeine, 247ff.; ders., Die Unhintergehbarkeit von Individualität, 121 ff.; ders., Neostrukturalismus, 518 f., 529 ff., 541 ff.; ders., Das Sagbare und das Unsagbare, 534 ff. 343 Frank wendet sich dezidiert gegen eine Psychologisierung Schleiermachers, der seine These von der Unendlichkeit der Sprache und der Unabsehbarkeit der Sinneffekte vielmehr von der Entdeckung eines strukturellen Mangels der »grammatischen Interpretation* her entwickelt habe, vgl. nur Frank, Neostrukturalismus, 570; ders., Einleitung, in: Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik, 7 ff. Zur Anknüpfung an Schleiermacher vgl. genauer Frank, Das individuelle Allgemeine, 87ff., 114ff. 344 Frank, Neostrukturalismus, 555; ders., Das Sagbare und das Unsagbare, 534ff. 345 Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, 101. 346 Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 523. 347 Damit ist der Anschluß zur juristischen Methodendiskussion gelungen, in der Stichworte wie die Schleiermachersche Divination oder der Nachvollzug des schöpferischen Produktionsvorganges als ganz einleuchtende Größen erscheinen, vgl. nur explizit an Schleiermacher anknüpfend Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 319ff.; ders., Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik, 1959; Schroth, Theorie und 342

6*

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Kap. 1 : Sprachtheoretische Skizzen

2. Sprachtheoretische Leerstellen des Rekurs auf Individualität Die Erwägungen Franks scheinen prima vista einleuchtend zu sein. In der Einschätzung des Phänomens der semantischen Nicht-Identität und der Unendlichkeit von Sprache stimmen Frank und Derrida überein. Diese Eintracht im diagnostischen Bereich reicht freilich nicht bis in die Prämissen der Theorien. Hier steht der an Schleiermacher angelehnte348 Rekurs Franks auf die sprachliche Potenz der Individualität dem Derridaschen Wirken der différance unversöhnlich gegenüber. Die juristische Sympathie scheint hier klar dem Konzept Franks gelten zu müssen, hat es doch den Anschein, daß dieses Konzept dem juristischen Interpreten seinen ihm gebührenden Platz einräumen kann und ansonsten die Möglichkeit eröffnet, den Menschen ganz allgemein als Träger von Individualität neben dem Allgemeinen zerstreuender sprachlicher Ordnung zu konzipieren. Die Franksche Kategorie der Individualität will die - im Rahmen dieser Untersuchungen noch später näher skizzierte 349 - philosophie-interne Krise des Subjekts reflektieren, ohne vollständig mit subjekts- und bewußtseinsphilosophischen Prämissen zu brechen 350: Frank setzt auf die Pluralität selbstbewußter Einzelner, deren unhintergehbare Individualität sowohl Subjektivität als auch Sprachverstehen und Kommunikation überhaupt erst verständlich machen würden 351. In dieser unhintergehbaren Individualität sieht er die implizite Prämisse all derer, die im Vollzug des linguistic turns die vormals im Subjekt lokalisierte Vernunft allein in dem sprachlichen Code, in eine der Sprache immanenten Rationalität, eben in der Unhintergehbarkeit der Sprache - und nicht der Unhintergehbarkeit der Individualität - suchen 352 . Doch genau hier bietet Frank einen Einsatzpunkt für Kritik. Denn wie soll dieser Rekurs auf ein schon vorsprachlich mit sich vertrautes Bewußtsein von statten gehen? Wenn sprachliche Zeichen erst durch einen individuellen Akt (dem Individuellen am individuellen Allgemeinen) der Interpretation, eines Akts des ,Meinens4, ihre spezifische Bedeutung erlangen, ist unbegreiflich, wie das, was das Individuum individuell meint, von einem anderen soll verstanden werden können353. Praxis, 23 ff.; ders., in: A. Kaufmann (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 344 ff. Vgl. auch Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, 111 ; Engisch, Einführung in das juristische Denken, 85 ff. 348 Dazu nur Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 15 ff. 349 Unten § 15 II. 350 Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, 17 ff. 351 Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, 17,26 ff., 62f. und passim. Frank kann hier leider nur sehr verkürzend und vereinfacht wiedergegeben werden. Zu den schwierigen Reflexion Franks vgl. deshalb auch Welsen, Prima philosophia 1 (1988), 535 (539f., 541 ff.; Kneer/Nassehi, ZfSoz 20 (1991), 341 (342ff.). 352 Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 71 ff. Zur Kategorie des irreflexiven, vorbegrifflichen Bewußtseins vgl. ders., Die Unhintergehbarkeit von Individualität, 26ff.; zur Kritik am bewußtseinstheoretischen Reflexionsmodells und seiner Außerachtlassung des vorsprachlichen Mit-sich-Vertrautseins vgl. nur ders., Neostrukturalismus, 296ff., 356ff., und öfters. 353 Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 83.

§ 5 Rechtstheoretische Gegenentwürfe zum hiesigen Sprachverständnis

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Frank drückt dies in dem Paradox aus, „daß für wahr nur gelten kann, was sowohl individuell bekräftigt wie auch inter-individuell aufrechterhalten wird" 354 . All dies erscheint nicht zweifelsfrei. Frank optiert in diesem Paradox für eine in der Kommunikation selbst neben den Individuen angelegte Wahrheit - und gerade dies läßt sein theoretisches Instrumentarium nicht zu. Dabei kann hier dahingestellt bleiben, ob Frank - ähnlich wie Schleiermacher - die Unterbestimmtheit des InterIndividuellen an der Kommunikation durch einen Rekurs auf den Gottesbegriff kompensieren will 3 5 5 ; überzeugend wäre ein derartiger Rekurs schon deshalb nicht, weil sich ein überzeugender Kampf für Subjektivität nicht als quasi-theologizistische Beschwörung eines Einheitsdenkens, sondern als Kampf um ein Recht auf Differenz, auf Variation und Metamorphose präsentiert 356. Bedenklich erscheint vielmehr, daß die Einheit der Kommunikation über die Grenzen des Individuellen hinweg für Frank „den Status einer regulativen Idee zu haben scheint, auf die das Gespräch abzweckt, ohne ihre Verwirklichung denken zu können" 357 . Der Rekurs auf das Regulative der Bedeutungsidentität ist aber genau der metaphysische Rest, der dem Spiel und der Ordnung des Zeichens entzogen sein soll 358 . Denn praktisch wird die Einheit der Kommunikation erst, wenn die individuelle Interpretation der sprachlichen Regeln durch andere Individuen der Kommunikationsgemeinschaft übernommen werden 359. Sprache besteht insofern „als universeller Code nur aufgrund prinzipiell instabiler Übereinkünfte ihrer Sprecher" 360. Damit deutet Frank die Gemeinsamkeit einer sprachlich erschlossenen Welt als nachträgliches Einverständnis der Individuen und kann damit sprachliche Ordnung als ein „lediglich (...) auf den Intentionen der Sprecher beruhendes Artefakt" 361 begreifen. Die Franksche Verknüpfung von Sprachgesetz und Sprachverwendung über die freie Interpretation übersieht dabei jedoch, daß die Intersubjektivität sprachlicher Bedeutungssysteme der Möglichkeit eines Einverständnisses vorausliegt: Bedeutung verweist auf den Wittgensteinianischen Begriff der Regel362 und den Derridaschen der Marken. In der Wittgensteinschen oder Derridaschen Perspektive erscheint Individualität denn auch nicht - wie in der hermeneutischen Sprachtheorie Franks - an einer angreifba354

Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 80. Dazu vgl. Frank, Das individuelle Allgemeine, 123 ff.; ders., Was ist Neostrukturalismus, 19; ders., Der kommende Gott, 11; ders., Kaltes Herz, Unendliche Fahrt, Neue Mythologie, 93 ff. Kneer/Nassehi, ZfSoz 20 (1991), 341 (352), sehen bei Frank keinen Rekurs auf den Gottesbegriff, was Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 55, bestreitet. 356 Deleuze , Foucault, 148. 357 Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 81. 358 Derrida, Die Schrift und die Differenz, 441. Aus systemtheoretischer Sicht ebenso Kneer/Nassehi, ZfSoz 20 (1991), 341 (350ff.). Vgl. auch die sehr genaue und überzeugende Kritik bei Christensen, Gesetzesbindung, 140 ff. 359 Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, 129. 360 Frank, Das individuelle Allgemeine, 196 f. 361 So die tiefgreifende Kritik bei Christensen, Gesetzesbindung, 141. 362 Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, 83. Vgl. zur Wittgensteinianischen Kritik an er Annahme einer Privatsprache oben § 2 II 2. 355

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Kap. 1 : Sprachtheoretische Skizzen

ren Stelle, sondern erhält ihren genuinen theoretischen Platz: „als Eingriff in die referenzkonstituierende Verwendungsgeschichte einer Ausdruckskette" 363 - Verwendungsregeln werden entweder angewendet oder zu einer neuen Regel verschoben. Das Fazit ist dann relativ einfach: Auch der Franksche hermeneutische Rekurs auf Individualität kann letztlich nicht überzeugen.

V. Ergebnis Die bisherige Diskussion hat gezeigt, daß ein akzeptabler Bedeutungsbegriff handlungstheoretisch konzipiert sein muß. Das interpretative Umgehen mit Texten muß wie jede sprachliche Kommunikation als aktives Handeln, als Teil einer in die sozialen Handlungsbezüge, Deutungs- und Anwendungskontexte eingebundene Praxis entworfen werden 364. Insofern wird sowohl rechtsdogmatisches als auch semantisches Wissen erst durch eine soziale Handlungsgeschichte konstituiert; und dies heißt konsequent: Ein Text ist keine sich selbst begründende, dem Rezipienten externe Instanz - auch nicht solche Texte, die herkömmlich als »klar1 angesehen werden - , sondern er wird in jedem Akt des Verstehens, in jeder Interpretation und in jedem Versuch einer »empirischen Bedeutungsfeststellung' von handelnden Subjekten gedeutet und dadurch erst in seiner Bedeutung hervorgebracht 365. Von dieser Warte aus erscheinen auch jegliche Versuche theoretisch hoffnungslos, außerhalb lexikalischer Bedeutungsbegrifflichkeiten 366 von der Bedeutung von Wörtern zu reden. Genau genommen gibt es sogar überhaupt keine vagen, unbestimmten Ausdrücke, denn diese suggerieren, es gäbe noch ihr Gegenteil, wohlbestimmte, eindeutige Wortbedeutungen. Demgegenüber ist sprachtheoretisch überzeugend allein die Rede von einer zerstreuten Sprache im Spiel der différance und im Spiel impliziter Regelverschiebungen im Rahmen von Sprachspielen, von Sprach/iande/w. Die Möglichkeit schleichender Regelverschiebungen ist als prinzipieller Faktor in jede Form sprachlicher Äußerung eingeschrieben. Der Verweis auf hergebrachte Wortgebrauchskonvention heißt nach all dem nur, ohne Hoffnung auf Begründungsgewähr für die Rigidität einer sozialen Praxis sprachlichen Handelns zu votieren. Der Wortlaut hat demnach auch normativ keine positive, die Argumentation weiterführende Funktion, sondern ist allenfalls ein der Schnellebigkeit der Praxis geschuldetes, technizistisch-funktionales Argument rascher Verständigung 367. Können diese Schnelligkeitsanforderungen abgestreift werden, kann der Wortlaut werden, als was er nur fungieren kann: als Ergebnis des Interpretationshandelns. Ein derartiger 363

Christensen, Gesetzesbindung, 142. Die Idee einer Gründung von Sprache in Handlung vollziehen auch Alwart, Recht und Handlung, 1987; sowie Seibert, Aktenanalyse, 1981. 365 Dazu zusammenfassend nur Busse, Juristische Semantik, 235 ff. 366 Und ihrer auf einer ganz anderen Ebene liegenden Erkenntnisinteressenlage. 367 Insofern bedeutet der Rekurs auf den,»klaren Gesetzeswortlaut" bsp. bei BVerfGE 87» 48 (69), der Sache nach nur: für Juristen rechtsstaatlich korrekt begründbar, vgl. F. Müller, Juristische Methodik, 157 Fn.278. 364

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handlungstheoretischer Ansatz verweist zugleich jegliche ontologisierende und Bedeutungen verdinglichende Rede über bedeutungsvollen Sprachgebrauch ins theoretische Abseits 3 6 8 . Die in einem statischen Bedeutungsmodell und in der Annahme festgefügter Rechtsbegriffe ausgewiesenen Verdinglichungen sprachlicher Rede müssen als das begriffen werden, was sie nur sind: „als Moment vergangener und vorweggenommener Handlungssituationen" 369 .

368

Selbstverständlich sind derartige Überlegungen nicht auf Wittgenstein, Derrida oder die Praktische Semantik beschränkt. Systemtheoretisch wird das Gleiche dadurch ausgedrückt, daß ein in der Sache koinzidierendes Verstehen von Texten nicht mehr möglich, sondern nur noch ,Kompossibilität\ und dies heißt: daß Interpretationskonstrukte mit den Abnahmemöglichkeiten der die Interpretation nachfragenden Systeme verträglich sind, vgl. nur Schneider, ZfSoz 21 (1992), 420 (434); siehe ansonsten zu einem Theorienvergleich zwischen systemtheoretischem und dekonstruktivistischem Denken Teubner, Soziale Systeme 2 (1996), 229 ff. 369 Seibert, Aktenanalysen, 15 f.

Kapitel 2

Diskussion bisheriger Ansätze Nachdem die sprachtheoretischen Skizzen abgeschlossen sind, ist der Boden dazu bereitet, sich den bisherigen rechtsdogmatischen Ansätzen zuzuwenden, mit denen bisher eine richterliche Pflicht zu einem solchen Rechtsgespräch begründet worden ist, welches aus Rede und Gegenrede im eingangs beschriebenen Begriffsverständnis besteht. Es sind dies einmal die Diskurstheorien des Rechts (§6), sodann die Korrelation von Rechtsgespräch und zivilprozessualem Kampf (§ 7), anschließend die Focussierung des Rechtsgesprächs durch die wertungsjurisprudentielle Kurzschließung von Rechtsgespräch und Verfahrensgerechtigkeit (§ 8) und schließlich die Koppelung des Rechtsgesprächs an die Vorstellung einer Ineinssetzung von Privatautonomie und Recht (§ 9).

§ 6 Rechtsgespräch und Diskurstheorie des Rechts Auf der Basis einer Diskurstheorie des Rechts wäre ein Anspruch der Parteien auf eine Diskussion relevanter Rechtsfragen in der mündlichen Verhandlung kaum abzuweisen370. Rechtsgespräch und Diskurs scheinen demnach zusammenzuhängen. Es kommt dann alles darauf an, ob auf eine stimmige Diskurstheorie des Rechts zurückgegriffen werden kann. I. Theoretischer Focus: Konsens Nun gibt es nicht,die ' Diskurstheorie, sondern auf ganz unterschiedlichen Grundlagen basierende Diskurstheorien. Für den Bereich des Rechts sind die prominentesten Ansätze durch Jürgen Habermas und Robert Alexy erarbeitet worden. Ihnen ist durchweg gemein, sich als eine prozedurale Theorie der praktischen Richtigkeit zu verstehen, deren Prozedur die Argumentation und nicht - wie bei den prozeduralen Vertragstheorien - die Verhandlung ist. Anders als bei den Vertragstheorien bildet bei den Diskurstheorien denn auch der Begriff des rationalen Urteils und nicht der Begriff der rationalen Entscheidung den begrifflichen Focus; das Urteil wiederum wird durch eine rationale Begründung, diese schließlich durch den rationalen Diskurs be370 So auch Ulfrid Hauptverhandlung.

Neumann, RTh 1996, 415 (426), als Anspruch des Angeklagten in der

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stimmt 371 . Im Diskurs werden problematisch gewordene Überzeugungen im Wege von Rede und Gegenrede durch das Anführen von Gründen und Gegengründen in der Hoffnung gestützt oder revidiert, daß letztlich ein Konsens erreicht wird. Die den Konsens motivierende Kraft der Gründe sehen die Diskurstheoretiker - und hierin liegt geradezu ihre Pointe372 - in besonderen Eigenarten der sprachlichen Äußerungen der diskursiv Handelnden, die in ihr überliefertes Hintergrundwissen (ihre Lebenswelt) eingespannt sind 373 . Danach setze die besondere Kraft der Sprache und des kommunikativen Handelns, durch Gründe zum Konsens zu motivieren, voraus, daß es so etwas wie präzise und stabile, „anthropologisch tiefsitzende Regeln" 374 des sprachlichen Wortgebrauch gäbe375; eine Vorstellung, die Alexy durch die anthropologische These flankiert, die Diskursteilnehmer könnten gute von schlechten Gründen unterscheiden 376, und die Habermas zur Aussage bewegt, der kommunikativ Handelnde müsse sich auf Annahmen kontrafaktischer Art in der Weise einlassen, daß er Idealisierungen vornehmen müsse, etwa Ausdrücken identische Bedeutung zuzuweisen377. Die Unterschiede zwischen den Diskurstheorien liegen in der internen Gewichtung etwa des Status der Letztbegründung normativer Urteile und des Zusammenhangs von Diskurs und Demokratie sowie in der Konzeption des Verhältnisses von Diskurs und Prozeß oder von Rechtsdiskurs und Moraldiskurs. So hat der frühe Habermas dem Diskurs das forensische Geschehen noch als ein Musterbeispiel für strategisches Handeln geradezu antithetisch gegenübergestellt378, während der Habermas der Theorie des kommunikativen Handelns unter dem Einfluß der Überlegungen Alexys 379 die in371 Alexy, in: W. Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 343 (343f.). Nicht der Konsens, sondern die Durchführung der diskursiven Prozedur ist denn auch das eigentliche Richtigkeitskriterium der Diskurstheorie, ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 120. 372 Falls das Ziel der Diskurstheorien auf eine prominente Hervorhebung der topoi „Gespräch" und „Konsens" reduziert wird - eine vor allem in juristischen Kontexten zu beobachtende Reduktion - , wird der Kern ihrer Intention geradezu verfehlt und der gravierende Kontrast etwa zum Sokratischen Dialog eingeebnet. 373 Siehe nur Habermas, Faktizität und Geltung, 37 ff., 54 ff. 374 Habermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, in: ders./Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, 142 (281). 375 Vgl. nur Alexy, Argumentationstheorie, 77 („begrenzte Zahl der Sprachgebräuche"), mit Bezug auf Austin. Zur Awsfw-Interpretation durch Alexy vgl. nur Busse, Juristische Semantik, 177 ff. 376 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, 120 f.; ders., in: Brugger (Hrsg.), Legitimation, 343 (346). Vgl. allg. zum Personenbegriff der Diskurstheorie des Rechts, Günther, in: Brunkhorst/ Niesen (Hrsg.), Das Recht der Republik, 83 ff. 377 Habermas, Faktizität und Geltung, 18. 378 Habermas, in: Luhmann/ders. (Hrsg.), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?, 142 (201). 379 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2. Aufl., 32 ff., 263 ff., 426ff. Siehe ansonsten nur ders., RTh-Beih.2 (1981), 177 ff.; ders., RTh 1987,405 ff.; ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 109 ff.

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nerhalb eines gerichtlichen Verfahrens stattfindende juristische Argumentation als einen durch bestimmte Argumentationsregeln strukturierten und spezifischen Begrenzungen unterworfenen Sonderfall des praktischen (also moraltheoretischen) Diskurses ansieht380. Der späte Habermas wiederum verwirft diese Sonderfallthese, konzipiert das gerichtliche Verfahren gleichwohl als Diskurs, nämlich als Diskurs der diskursiven Normanwendung, und hebt in diesem Rahmen die Funktion prozessualer Regeln hervor, eine institutionelle Sphäre für freigesetzte Kommunikationsabläufe - für das „freie Prozessieren von Gründen" - zu schaffen 381. Derartige interne Unterschiede in der theoretischen Komposition interessieren hier nicht weiter. Für die Zwecke dieser Untersuchung wichtiger sind drei Gemeinsamkeiten: Einmal richten die Diskurstheorien trotz aller sonstigen Differenzen im Detail den Prozeß am Einigwerden aufgrund einer besonderen Kraft der Sprache aus. Danach befähigen sprachlich artikulierte Geltungsansprüche dazu, Kontexte zu transzedieren 382. Mit dieser sprachlich vermittelten Befähigung zur Kontexttranszendierung ist gewährleistet, daß die Diskutierenden auf einen universalistischen Sinngehalt zugreifen zu können, der über jeden endlichen Gemeinschafts- und Lebensformhorizont hinausweist und eben deshalb einen argumentativ herbeigeführten Konsens ermöglicht. In den Worten von Habermas: Geltungsansprüche „schießen (...) über jeden Kontext hinaus" 383 . Die zweite Gemeinsamkeit der Diskurstheorien besteht darin, daß sie bei einer strittigen Rechtsfrage die Rationalität des am Ende des gerichtlichen Verfahrens stehenden richterlichen Urteils notwendigerweise mit Rede und Gegenrede im Prozeß verknüpfen. Drittens schließlich verstehen sie sich als universalistische Theorien, die losgelöst von irgendwelchen Kontexten allgemeine Strukturen der Normbegründung kreieren. Der Schluß ist dann einfach: Da die richterliche Entscheidung rational sein soll, Rationalität wiederum nach den Diskurstheorien zwingend mit Diskursen und Konsensen verbunden ist, Diskurse schließlich begrifflich einem Rechtsgespräch entsprechen, erfordert es das Gebot rationaler richterlicher Entscheidung, im Zivilprozeß ein Rechtsgespräch implementiert zu haben.

II. Recht und kommunikativen Handeln: Eine sinnvolle Verschränkung? Die Pointe der Diskurstheorie liegt - wie gezeigt wurde - in einem besonderen Sprachverständnis gegründet, nach dem durch das kommunikative Handeln selbst eine Kraft in Richtung Konsens erzeugt wird. Dies gelingt der Diskurstheorie frei380 Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, 62; siehe dazu auch ausführlich J. Goebel, Zivilprozeßrechtsdogmatik und Verfahrenssoziologie, 422ff. 381 Habermas, Faktizität und Geltung, 242,272,288 ff., 289 (Zitat); dazu Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, 172 f. 382 Siehe dazu Knell, DZPhil 46 (1998), 563 ff. 383 Habermas, Faktizität und Geltung, 37.

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lieh nur durch einen Kunstgriff: ein „Festzurren" sprachlichen Sinns in der Kommunikation 384 . Dementsprechend wird auch das positive Recht nach dem Muster semantisch mehr oder minder stabil vorliegender Regeln gedeutet. 1. Restriktionen des kommunikativen Handelns Mit dieser Weichenstellung legt die Diskurstheorie ihrem Gegenstand ein nicht überzeugendes Sprachverständnis zugrunde. Dieses Sprachverständnis verfehlt die aphoristische, eben nicht unbedingt den Konsens motivierende Kraft wirklichen Sprechens385. Das Gegenmodell386 wurde schon oben skizziert 387. Es geht von einer Unbeherrschbarkeit von Sinn, von Sinn als ein „Phänomen der Zerstreuung" aus. Sprache figuriert hier als ein „Gewebe von Verweisungen und Aufschüben", in dem die Existenz von Bedeutungen sich als unendliche Vielfalt einzelner Verwendungsereignisse erweist, in denen sie allein leben, und in denen sie so schnell verschwinden, wie das Ereignis selbst. Schleichende Veränderungen im Verständnis sprachlicher Zeichen sind in den ,Spuren' der Zeichen (Derrida) oder in die Analogizität der Verwendung von Sprachgebrauchsregeln (Wittgenstein) selbst konstitutiv eingelassen. Die Folgen sind für die Diskurstheorien bestürzend: Ihnen wird ihrem Gravitationszentrum „Konsens" die Basis entzogen. Denn eine rationale Einigung ist eben nur noch vor dem Hintergrund eines gemeinsam geteilten sprachlichen Bedeutungssystems möglich 388 . Habermas bestreitet freilich die de-stabilisierende Kraft von 384 Alexy stellt etwa als Diskursregel auf, daß verschiedene Sprecher den gleichen Ausdruck nicht mit verschiedenen Bedeutungen benutzen dürfen, vgl. ders., Argumentationstheorie, 235, oder meint, die Festsetzung einer Bedeutung von ihrer Feststellung trennen zu können (ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 85). All dies ist schon aus prinzipiellen Gründen unerfüllbar, wie wir noch sehen werden, vgl. auch Busse, Juristische Semantik, 181 ff. 385 Vgl. zur Kritik nur Christensen, Gesetzesbindung, 184ff., 198 f.; Busse, Juristische Semantik, 187; Ladeur, RTh 1996, 385 (396ff.); vgl. auch Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 580ff.; Hans Julius Schneider; in: Dascal u.a. (Hrsg.), Sprachphilosophie, 761 (771 ff.); Gamm, Flucht aus der Kategorie, 1994, 336ff.; Friedrich Müller/Christensen/Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 109 ff., 122f.; siehe auch Lyotard, Das postmoderne Wissen, 188 ff.; Welsch, Die postmoderne Moderne, 229; ders., Vernunft, 137f.; ders., PhilJb 94 (1987), 111 (118); UlfridNeumann, PhilRdschau 28 (1981), 189 (213f.). 386 In dieser Dichotomie von Modell und Gegenmodell spiegeln sich auch die großen alten Themen der Rechts- und Sozialphilosophie sowie der politischen Philosophie wider, man denke nur an Dichotomien der Art »praktische Konkretheit und lebendige Sittlichkeit versus diskurstheoretische Dekontextualisierung und Universalisierung', ,diskursfreie Repression versus herrschaftsfreier Diskurs4, ,praxisfeme Utopie versus normatives Modell politischer Institutionen', ,leere Abstraktion des Subjekts versus Befreiung des Subjekts aus traditionaler Bindung' sowie »Begehren als das Andere der Vernunft versus rationale Argumentation'. 387 Oben §2 und §4. 388 Christensen, Gesetzesbindung, 195; Aarnio, Denkweisen der Rechtswissenschaft, 157 ff., der explizit auf Wittgensteins Begriff der Lebensform zurückgreift (zur Figur der Lebensform noch unten mehr); vgl. auch Wellmer, Ethik und Dialog, 72ff.; ders., in: Demmeriing/Gabriel/Rentsch (Hrsg.), Vernunft und Lebenspraxis, 123 (151 ff.); Busse, Juristische Semantik, 176 f.

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Sprache 389. Dieser Kraft kann aber - wie gezeigt wurde - letztlich nichts entgegengesetzt werden 390: Ebenso wie Searle gerinnt auch Habermas die angenommene Identität sprachlicher Bedeutung zu einem theoretischen Konstrukt im Sinne eines linguistischen Analogons zu den szientistischen Idealisierungen naturwissenschaftlicher Theorie. Habermas stellt hier einfach die Zeitdimension sprachlichen Handelns still - obwohl doch gerade in der Abfolge des Sprechens von Zeitstelle zu Zeitstelle Sprache verschoben wird 391 . Die Diskurstheorie erscheint so als ein Produkt wissenschaftlicher Rigidität und methodischer Idealisierung. Der Durchgang durch die Wittgensteinianische Gedankenwelt in der Rezeption der Praktischen Semantik und durch das Gewebe von Sprache im Gefolge Derridas hat ein Verständnis von Sprache als Form der Analogizität und der Zerstreuung zu Tage gefördert. Was sollte aus dem bisher Gesagten für die Diskurstheorie gefolgert werden?

a) Diskurs und Lebensform Als Folgerung kommt doch nur dies in Betracht: Wenn man mithin auch nach weiteren Versuchen nicht zu einer selbstverständlichen Übereinstimmung gelangt, liegt nicht unbedingt eine im weiteren Diskurs durchaus ausräumbare bloße Meinungsverschiedenheit vor, sondern die Sprecher legen ihren Äußerungen verschiedene Lebensformen zugrunde, die dem Subjekt seinen Ort zuweisen. Die Verzerrung der Kommunikation wird so zur unübersteigbaren Grenze der Verständigung 392 . Zudem sind auch Lebensformen nicht statisch; ebenso wie die konkreten Sprachspiele ist die Grammatik einer Lebensform fluktuierenden Gebräuchen unterworfen, ist insofern unabgeschlossen393 und strikt situativ 394 . Derartige Veränderungen können aber nicht von außen mittels eines Metasprachspiels kontrolliert 389

Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, 65, liest Wittgenstein so, als habe er für eine starre Identität der kommunizierten Bedeutungen votiert; siehe auch jüngst Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, 85 f., 160. 390 Vgl. zur Kritik an der Habermasschen Lesart von Wittgenstein überzeugend Christian S tetter, Sprachkritik und Transformationsgrammatik, 98 ff.; vgl. auch Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 580ff.; Rasmussen, in: Demmerling/Rentsch (Hrsg.), Die Gegenwart der Gerechtigkeit, 79 (96 Fn.20). 391 Dazu siehe oben § 412. Kritisch zu Habermas deshalb aus sprachtheoretischer Perspektive auch Luhmann, RJ 12 (1993), 36 (42 f., 44 Fn. 12). 392 Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, 77 f. 393 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, §§68, 83; ders., Über Gewißheit, §96. 394 Vgl. nur Welsch, Vernunft, 414 ff., im Rahmen seines Konzepts transversaler Vernunft; sowie Lenk, Interpretationskonstrukte, 539 ff. Schon Habermas, dem anscheinend das Bild eines monadisch in seine Sprachwelt eingesperrten Handelnden vorschwebte, wollte das von ihm in der Wittgensteinianischen Theorie diagnostizierte unhinteigehbare Apriori der Lebensformen, ihrer Geschlossenheit, durch den transzendierenden Gebrauch von Sprache überwinden und verwies hierzu anfangs auf die Leistungen der Hermeneutik, vgl. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, 273ff. Dazu vgl. auch Apel, in: Der Löwe spricht... und wir können ihn nicht verstehen, 27 (47 ff.).

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werden 395 - vor allem nicht über ein formales Rationalitätspotential der Sprache, welches in der sprachlichen Kompetenz des in der Lebenswelt agierenden Subjekts verankert ist 396 . Habermas und Alexy kennen demgegenüber aufgrund ihres universalistischen Anspruchs nur die eine Lebens weit. Sie bauen auf diese Weise schon implizit den die Differenzierungsprozesse der Moderne überspielenden Gedanken der Versöhnung in die Theorie ein. Damit verleugnen sie die Pluralität der Lebensformen 397 und schieben die Einsicht, daß kommunikatives Handelns immer in den jeweiligen Kontext eingebunden ist, in dem es situiert, ins theoretische Abseits. Gerade dadurch versperren sie sich jeder Möglichkeit, den Grad der Rigidität der jeweiligen kommunikativen Kontexte genauer zu deuten, die denn auch auf bloße Randbedingungen für die mit dem kommunikativen Handeln verknüpften allgemeinen Geltungsansprüche reduziert werden 398. Die Kontextualität unseres Sprechens läßt für eine Suche nach sprachspielübergreifenden, nur in einem Metasprachspiel auslotbaren Kriterien der Wahrheit und der Rationalität wenig Raum. Letztlich erzeugen Habermas und Alexy ein Produkt wissenschaftlicher Rigidität und methodischer Idealisierung und verfehlen die aphoristische, eben nicht unbedingt den Konsens motivierende Kraft wirklichen Sprechens399. Damit scheidet aber ein Konsens als Richtigkeitsgarantie für Interpretationsbehauptungen zwangsläufig aus400. b) Richterliche Entscheidung und praktische Richtigkeit Vor dem Hintergrund der Sprache als Phänomen der Zerstreuung wird auch deutlich, warum der Anspruch der Sonderfallthese, eine richterliche Entscheidung fordere immer auch eine konsensfähige Vernünftigkeit im Sinne der Diskurstheorie 401, nicht sinnvoll ist. Mit praktischer Richtigkeit hat eine richterliche Entscheidung 395

Dazu oben §2 112, §41. Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, 13ff., 51 ff., 71 ff.; Ebeling, in: K. Cramer u.a. (Hrsg.), Theorie der Subjektivität, 76 ff. 397 Siehe nur Ladeur, RTh 1996, 385 (394ff.). Lyotard , Der Widerstreit, 1987, setzt auf der Basis von Wittgenstein dem Gedanken der Versöhnung denn auch die These der nicht-hintergehbaren Pluralität der Sprachspiele entgegen. 398 Der Streit um die Kontextvergessenheit der Diskurstheorien ist ein altes Thema, siehe aus dem reichhaltigen Schriftum nur Tietz, DZPhil 41 (1993), 333 (334ff.). 399 Vgl. zur Kritik nur Christensen, Gesetzesbindung, 184ff., 198 f.; Busse, Juristische Semantik, 187; Ladeur, RTh 1996, 385 (396ff.); vgl. auch Frank, Das Sagbare und das Unsagbare, 580 ff.; Hans Julius Schneider, in: Sprachphilosophie, 1. Hdlb-Bd., 761 (771 ff.); Gamm, Flucht aus der Kategorie, 336ff.; Friedrich Müller/Christensen/Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 109ff., 122f.; siehe auch Lyotard , Das postmoderne Wissen, 188ff.; Welsch, Die postmoderne Moderne, 229; ders., Vernunft, 137f.; ders., PhilJb 94 (1987), 111 (118); Ulfrid Neumann, PhilRdschau 28 (1981), 189 (213 f.); Lüderssen, Genesis und Geltung, 102. 400 Vgl. auch Busse, Juristische Semantik, 183 f. 401 Vgl. zur deduktiven Voraussetzung dieses Anspruchs bei Alexy: Argumentationstheorie, 263 ff. 396

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nichts zu schaffen. Der Richter spielt kein Spiel um prozedurale Richtigkeit; es kommt ihm vielmehr darauf an, seine Entscheidung den Normtexten der geltenden Rechtsordnung plausibel402 zurechnen zu können403. Indem die Diskurstheorien den Richter dennoch darauf verpflichten, sich einer quasi »apokalyptischen4 Wahrheit 404 und nicht einer bloß relativen, in die Zeitlichkeit ihrer selbst eingebetteten Plausibilität 405 der Zuordnung sprachlicher Bedeutung an den Text des Gesetzes zu versichern, münden sie letztlich im Rahmen von Institutionen entgegen den erklärten Intentionen ihrer Verfechter in eine theoretisch nicht genau piazierte Dezision 406 . Trotz allem besteht die Diskurstheorie auf ihren Anspruch: den Rekurs auf diskursive Richtigkeit. Sie blendet aber gerade dadurch Differenzen etwa zwischen Lebensformen systematisch aus. Letztlich begründet ein diskursives Verfahren denn auch eher Gefahren für die rechtlich geschützte Freiheit, als daß es sie ausschließt407. „Im vorstellenden Wissen um das Absolute glaubt die kommunikative Vernunft dann vorschreiben zu können, nach welchen Diskursregeln Modernität ausdifferenziert werden muß, welche Geltungsansprüche legitimerweise in welchen Sektoren des rationalen Diskurses usf. erhoben werden dürfen. Ein einzelner Autor besetzt die Leerstelle des abwesenden Gottes mit seiner (prozeduralen) Rationalität und steht daher - unter den Bedingungen der Moderne - sogleich und zu Recht im begründeten Verdacht eines antikommunikativen Autoritarismus" 408. Die kommunikative Vernunft zeigt insofern deutlich restriktive Züge. Was bleibt ist die Aufforderung zum Dialog etwa in der sokratischen Tradition. Nur begründet eine Aufforderung keine Rechtspflicht des Richters. Wir sind wir damit genau dort wieder angelangt, wo die Diskussion begann: Das Rechtsgespräch kann im Kontext der Diskurstheorie allenfalls als ein nobile officium des Gerichts begriffen werden.

402

Peter Gottwald, ZZP 98 (1985), 113 (126 ff.). Christensen, Gesetzesbindung, 196 f., dort (ebd., 197ff.) auch zum Argument des performativen Widerspruchs, mit dem Alexy seinen Rekurs auf Richtigkeit u. a. begründet. Vgl. auch U. Neumann, Juristische Argumentationslehren, 87ff.; Friedrich Müller,,Richterrecht', 88 ff. 404 Dazu Wetzel , in: Derrida, Apocalypse, 133ff. 405 Die Zeitlichkeit jeglicher Wahrheit arbeitet Derrida , Apocalypse, 9 ff., heraus. 406 Lyotard bemerkt in ders. /Thé baud, Au Juste, 1976, 141, 161, zur Diskurstheorie (diese Bemerkung verdanke ich Christensen, Gesetzesbindung, 211), daß sie sich durch ihre Orientierung am Modell der diskursiven Wahrheitsfindung in die Integrität des auf Präskription ausgerichteten Sprachspiels einmischt und sich damit letztlich zum Berater der Macht aufzuschwingen versuche - und dies heißt letztlich nichts anderes als ein implizites Votum für Dezision. 407 Arthur Kaufmann, Über Gerechtigkeit, 341; Christensen, Gesetzesbindung, 201 \Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, passim; Bienfait , Freiheit, Verantwortung, Solidarität, 188 ff. 408 So pointiert Gamm, Flucht aus der Kategorie, 234. 403

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2. Residualkategorie:

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Dissens und Institution

Ein weiterer - althergebrachter - Einwand gegen die Diskurstheorien des Rechts ergibt sich daraus, daß sie nicht die empirischen Bedingungen des Sprechens berücksichtigen, die im Zivilprozeß als Institution herrschen. a) Strategisches Handeln Institutionen zeichnen sich nicht durch ein auf diskursiven Konsens ausgerichtetes kommunikatives, sondern durch ein vor allem strategisches Handeln aus409. Die Diskurstheorien müßten hierauf zumindest mit Intensitätsabstufungen des Diskurses zu reagieren versuchen 410 oder den Zivilprozeß von ihrer Liste der Orte kommunikativen Handelns gänzlich streichen. Daran ändert sich auch durch die Überlegung nichts, daß die Parteien mit ihren Ausführungen auch den Anspruch auf Richtigkeit erheben 411. Dies ist aus zwei Gründen unerheblich. Zum einen ist der Anspruch auf Richtigkeit nun einmal notwendige Bedingung erfolgreichen strategischen Handelns412. Zum anderen zeichnen sich Institutionen gerade dadurch aus, daß die in ihnen Handelnden nur im Rahmen der institutionell tradierten Sprachspiele Gründe und Gegengründe vorbringen und beurteilen können; ansonsten werden sie nicht verstanden413. Auch der Anspruch auf Richtigkeit bewegt sich damit in diesem limitierten Kontext 414 : Der von der Parteien im Zivilprozeß erhobene Anspruch ist doch nicht ohne weiteres derselbe Anspruch, welcher auch im Diskurs erhoben würde. Dies wäre er selbst unter Zugrundelegung eines strategischen, auf den Richter ausgerichteten Parteihandelns nur, wenn der Richter für sein Sprechen den Anspruch auf Richtigkeit im Sinne des praktischen Diskurses erheben würde. Doch das wiederum ist gerade die Frage. Deutlich wird der institutionelle Charakter der zivilprozessualen Kommunikation auch daran, daß die Bedeutung sprachlicher Handlungen nicht nur durch die Regeln des Diskurses, sondern auch durch die Regeln des Verfahrensrechts geprägt wird 415 . So gilt etwa bei Nichtbestehen eine Tatsachenbehauptung durch eine Partei grund409 Dieser Einwand ist eine Standardkritik gegen die Diskurstheorien des Rechts, siehe nur Goebel, Zivilprozeßrechtsdogmatik, 435 f. mwzahlrNachw. 410 Lüderssen, Genesis und Geltung in der Jurisprudenz, 30f., 215 f. 411 Alexy, Theorie, 270; ebenso Peter Gottwald, ZZP 98 (1985), 113 (123). 412 Neumann, Argumentationslehre, 85. 413 Damit ist nicht präjudiziert, daß nicht innerhalb der Institution die dort geltenden Kommunikationsroutinen aufgebrochen werden können, was im weiteren noch gezeigt werden wird. 414 Dies wird nicht nur von Systemtheoretikern wie etwa Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, passim; sondern etwa auch von Peters, Rationalität, Recht und Gesellschaft, etwa 232, 248 ff., 261, 310 ff. und öfters; Callies, Prozedurales Recht, 1999, betont. Alexy, Theorie, 271 Fn. 22, weist selbst auf die Möglichkeit von institutionellen Restriktionen im Prozeß hin. 415 Neumann, RTh 1996, 415 (419f.).

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Kap. 2: Diskussion bisheriger Ansätze

sätzlich als zugestanden (§ 138 III ZPO) und auch die Beurteilung urkundlich festgehaltener Sprechakte unterliegt prozessualen Regeln (§§ 415 f. ZPO). Es geht daher nicht an, aus der ganzen Fülle institutioneller Praxis eine hochstilisierte Form des Umgangs (das herrschaftsfreie Gespräch einher mit der Dekontextualisierung der Argumente) in idealisierender Weise heraus zu greifen, damit das Anwendungsproblem der Diskurstheorie unbewältigt zu lassen416 und letztlich die prozessuale Stellung derjenigen Partei mit der größten Argumentationskompetenz prozeßrechtlich ohne Begründung zu prämieren 417. Der strategische Kampf ist demnach entgegen den Annahmen der Diskurstheorie dem Diskurs durchaus vorgängig. Der Verweis auf den institutionellen Charakter des Zivilprozesses zeigt zudem, daß die Diskurstheorie Schwierigkeiten hat, die Einbettung des gerichtlichen Handelns in das jeweilige Sozialmodell der Gesellschaft in den Griff zu bekommen. Sie verstellt die Sicht darauf, daß das Sozialmodell als „Grenze und Maßstab des Diskurses" 418 mitgedacht werden muß. Dies hat weitreichende Folgen: Zumindest in gerichtlichen Institutionen ist der innerhalb der Politischen Philosophie häufig tradierte Einwand nicht von der Hand zu weisen, die Diskurstheorie berge in ihrem idealisierten Subjektverständnis, welches den Bezug zum konkreten, empirischen Subjekt vernachlässige, die Gefahr in sich, „Illusionen von Autonomie" 419 zu erzeugen und pathologisiere aufgrund ihrer Pflicht zur rationalen Argumentation das expressive Handeln 420 · 421 - bis hin zur Ausgrenzung gegenüber Diskursverweige416 Dies ist ein alter, seit der Kritik Hegels an dem ethischen Universalismus Kants immer wieder gegen universalistische Ethiken (wie die Diskurstheorien) eingeführter Einwand, der im übrigen in der zeitgenössischen Kontroverse zwischen Liberalismus und Kommunitarismus eine Parallelefindet: Wie ist die universalisierende Moralität mit der praktisch gelebten Sittlichkeit zu vermitteln? Habermas versucht den Einwand durch die o. g. Unterscheidung zwischen Begründungs- und Anwendungsdiskurs aufzulösen. Doch auch dies ist mit Blick auf die Kraft von Institutionen noch zu realitätsfremd, siehe aus dem reichhaltigen Schriftum nur Reese-Schäfer, Grenzgötter, 130ff.; Demmerling, Sprache und Verdinglichung, 99. Demgegenüber ist es weitaus fruchtbarer, den Gedanken des Anwendungsdiskurses als Ausdruck eines genuin normativen Gebots, nämlich das der unparteilichen Normanwendung, in die Dogmatik des Zivilprozesses zu implementieren, dazu siehe unten § 121. 4,7 Zu diesem Machtmoment wir Reese-Schäfer, Grenzgötter, 127, unter Bezug auf Foucault und Max Weber. 418 Stahlmann, Zur Theorie des Zivilprozeßrechts, 37. 419 Meyer-Drawe, Illusionen von Autonomie, 1990. 420 Ota Weinberger, RTh 1996,415 (431 ),Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, 61,73f. Aus der Fülle der Literatur siehe ansonsten nur Wellmer, Ethik und Dialog, 81ff., ders., Endspiele, 165 f.; Bienfait , Freiheit, Verantwortung, Solidarität, 188ff.; sowie aus einer der vielen kommunitaristischen Sichtweisen McCarthy, Kritik der Verständigungsverhältnisse, 566ff.; allg. nur Demmerling, in: ders./Gabriel/Rentsch (Hrsg.), Vernunft und Lebenspraxis, 246ff. 421 Innerhalb der Rechtsphilosophie heißt dies freilich nicht, daß eine differenzierte Antwort auf das normative Problem der „Differenz" nicht möglich ist, die sowohl die Errungenschaften der liberalen Tradition universalistischer Prägung Rechnung trägt als auch normative Garantien für unterschiedliche Lebensformen zuläßt, siehe zum Problem umfassend nur Kymlicka, Politische Philosophie heute, 1997; Sybille Tönnies, Der westliche Universalismus, 2. Aufl. 1997, sowie unten § 1212.

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rem 422 . Die Diskurstheorien können daher die in Ausübung ihrer prozessualen Privatautonomie ins Werk gesetzte Weigerung einer Prozeßpartei, ein Rechtsgespräch zu führen, nur als ein zwar rechtlich zulässiges, angesichtes der normativen Vorgabe der Theorie aber defizitäres Vorgehen deuten. Rechtsdogmatisch gesehen ergibt dies wenig Sinn. b) Welche Faktizität? Soweit das gerichtliche Verfahren wie bei dem späten Habermas zwar nicht als Sonderfall, wohl aber als einen durch das Prozeßrecht gesicherten Rahmen für diskursive Kommunikationsabläufe konstruiert wird 423 , hilft auch dies nicht weiter. Einmal bleibt auch hier der institutionelle Charakter des tatsächlichen Prozeßgeschehens vernachlässigt. Darüberhinaus wird zudem genau das vorausgesetzt (nämlich die rechtliche Existenz von Rechtsgesprächen), was erst durch einen Rekurs auf die Diskurstheorie einsichtig gemacht werden soll. Die Diskurstheorie des Rechts steht und fällt damit mit einer bestimmten Auslegung des Prozeßrechts in Richtung „Rechtsgespräch". Nur kann für diese Auslegung die Diskurstheorie wiederum aber nur einen Diskurs anbieten. Doch welcher Logik sollte dieser dann gehorchen424? Letztlich doch nur der Logik der Faktizität der gerichtlichen Sprachspiele, in der - wie wir noch sehen werden - eine zivilprozessuale Kultur der interpretativen Praxis eingelassen ist, die durch die Diskurstheorien dann theoretisch latent gehalten wird. Da zudem der Diskurs idealerweise zeitlich, persönlich und sachlich unbegrenzt ist, steht jede Limitation des Diskurses unter Rechtfertigungsdruck. Da die Diskurstheorie selbstredend keine derartigen Rechtfertigungen liefern kann, bleibt nicht nur offen, woher sie kommen sollen. Vielmehr wird von vornherein jede Limitation unter Pathologie-Verdacht gestellt. Der Diskurstheorie gelingt es deshalb nicht, einen in sich stimmigen Zusammenhang zwischen der materiellen Prozeßleitung des Gerichts und dem Abbruch des Diskurses (oder anders gesagt: Abbruch der fortlaufenden Semiose des Rechts) zu stiften. Gerade zivilprozessual wäre dies für die Grenzen des Rechtsgespräch aber entscheidend. Habermas unterschlägt nach all dem demnach die Unbestimmtheit des geltenden Prozeßrechts 425. c) Prozeß und Vergleich Schließlich richtet Habermas das gesamte Prozeßgeschehen auf den Konsens aus, da der Focus prozessualer Anwendungsdiskurse nun einmal der Konsens ist. Ein et422

Reese-Schäfer, Grenzgötter, 80ff., 104ff., 139ff.; Lege, Pragmatismus und Jurisprudenz,

516.

423 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, 288 ff., 568, mit Beispielen aus dem Straf- und Zivilprozeßrecht. 424 Hier setzt auch Ladeur, RTh 1996, 385 (406), zur Kritik an. 425 Siehe auch Goebel, Zivilprozeßrechtsdogmatik, 436ff.

7 Goebel

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Kap. 2: Diskussion bisheriger Ansätze

waiger Dissens zwischen den Parteien und dem Gericht kann nur als ein bedauernswerter Fehlschlag verbucht werden, den die Diskurstheorie in ihr theoretisches Gefüge nicht als etwas Positives einbinden kann. Der Dissens bleibt bei ihr somit als ein „schlechter Rest", als eine Residualkategorie, erhalten. Prozeßrechtsdogmatisch ist dies kaum einsichtig. Die Vergleichsbereitschaft der Parteien dürfte von vielen Faktoren abhängen. Ob sie vornehmlich von einem diskursiven Rechtsgespräch abhängt, kann füglich bezweifelt werden; ein Wiederaufrollen aller rechtlichen Streitpunkte kann mitunter eher vergleichshemmend wirken 426 . Wird ohne ein derartiges Wiederaufrollen ein Vergleich geschlossen, müßte Habermas diesen Vergleich zwangsläufig als defizitär ansehen. Damit pathologisiert er zugleich die Kategorie des Vertrages, deren Vernünftigkeit er ja nicht im Parteiwillen, sondern im vorvertraglichen argumentativen Austausch im Vorgriff auf eine ideale Sprechsituation gründet. Doch nicht nur dies, indem Habermas den Zivilprozeß nicht auf Verständigung - dies wäre angesichts des § 279 ZPO und der oft vertretenen dialogischen Ausrichtung des Prozeßgeschehens427 nicht weiter zu kritisieren - , sondern auf diskursive Verständigung ausrichtet, gelingt es ihm nicht, das streitige Urteil mit den Grundlagen seiner Theorie zu verklammern, sondern muß es den unabweislichen Nötigungen der Institution zurechnen. Eine Prozeßtheorie, die das gerichtliche Urteil nur als residuales Moment ihrer selbst begreifen kann, ist jedoch wenig brauchbar. Die Diskurstheorien verfehlen insgesamt gesehen daher im Konsens als ihren theoretischer Focus, in ihrem Modus - den durch kommunikatives Handeln ins Werk gesetzten Restriktionen sprachlicher Rede - und in ihren Residualkategorien Dissens, Institution und gerichtliches Urteil eine juristisch sinnvolle Aufarbeitung des Problemfeldes „Rechtsgespräch".

§ 7 Rechtsgespräch und zivilprozessualer Kampf I. Theoretischer Focus: Strategischer Dissens Sollte also doch der von der Diskurstheorie als Residualkategorie abgewertete Dissens zu dem dem Rechtsgespräch angemessenen theoretischen Focus aufgewertet werden, indem der Sinn des Rechtsgesprächs gerade spiegelbildlich zu den Diskurstheorien nicht als Mittel zum prozessualen Konsens, sondern als eine besondere Ausdrucksform des Jheringschen „Kampfs um's Recht" gefunden wird? Das theoretische Leitbild, unter dem das Rechtsgespräch als Ausdruck des prozessualen Kampfes geführt wird, wäre dann die Kraft strategischen Handelns in Institutionen, bei denen die Parteien gegeneinander um die Entscheidung des Richters ringen. Bei einem strategischen Handeln verfolgt gemeinhin der Handelnde ein Er426 Häsemeyer, ZZP98 (1985), 351 (352); siehe auch Goebel, Zivilprozeßrechtsdogmatik und Verfahrenssoziologie, 272 ff. 427 Siehe dazu nur Peter Gottwald, ZZP 98 (1985), 113 (123 ff.).

§ 7 Rechtsgespräch und zivilprozessualer Kampf

99

folgskalkiil, in welches mindestens die Erwartung von Entscheidungen eines weiteren zielgerichtet Handelnden eingeht. Wird unterstellt, der Handelnde wähle Mittel und Zwecke unter dem Gesichtspunkt der Nutzenmaximierung, wird das strategische Handeln in Teile der utilitaristischen Theorietradition und in die entscheidungstheoretischen Ansätze der Ökonomie eingebettet. Mit Blick hierauf könnte etwa versucht werden, die zivilprozessualen Grundlagen strategischen Handelns durch eine auf den Zivilprozeß umformulierte liberalistische Theorie zu unterfüttern. Der Hintergrund wäre auch hier wiederum die Unbestimmtheit des geltenden Rechts in der Entscheidungssituation „Prozeß". In dieser Situation würde der „Kampf im Zivilprozeß" in den theoretischen Focus rücken, weil damit die kognitiven Leistungen der liberalen Ordnung für den Prozeß adaptiert werden könnten428: Unter Ungewißheitsbedingungen könnte ein in Form eines Rechtsgesprächs geführter Kampf um das Recht positive Effekte der Erzeugung des sachgerechten Wissens, was hic et nunc rechtens ist, generieren, so daß die Unbestimmtheit des Rechts zivilprozessual abgespannt werden könnte. Dies müßte freilich im einzelnen genau untersucht werden.

II. Die Heuristik des Kampfmodells Ob eine derartige Untersuchung zum Ziel führen kann, braucht hier nicht näher erörtert zu werden. Denn ein reines prozessuales Kampfmodell muß schon aus anderen Gründen ausscheiden. Ein Kampfmodell muß - erstes Argument - zumindest in der reinen Lehre von einem Kampf allein zwischen den Parteien ohne Mitwirkung oder Beeinflussung des Richters ausgehen, da ansonsten ja das volle Potential der kognitiven Leistungen der auf ihre Interessendurchsetzung fixierten Parteien „im Kampf 4 durch die Einflußnahme des Richters verloren ginge. Mit dieser Theorienanlage würde aber ein prozessuales Kampfmodell augenscheinlich das heutige Niveau der rechtlich vorgegebenen materiellen Prozeßleitung des Gerichts verfehlen 429 . Das strategische Handeln ist bei einem reinen Kampfmodell daher mit rechtlich nicht hinnehmbaren Restriktionen in der Konzeption des Zivilprozesses verbunden. Der Ausweg bestünde allein in der teilweisen Rücknahme gerade dessen, was das Schlüsselkonzept des Modells ausmacht: des reinen Kampfes. Dann jedoch würde das Kampfmodell einerseits im Beliebigen verschwimmen. Und andererseits könnte es für das hiesige Problem des Rechtsgesprächs keinerlei Anhaltspunkte mehr liefern, da ja immer unklar bliebe, in welchem Verhältnis materielle Prozeßleitung und Parteienkampf konkret stünden. 428 Siehe allg. dazu Ladeur, RTh 1996, 385 (412 f.), unter Verweis auf von Hayek; sowie ders., The Modern Law Review 60 (1997), 617 (625 f.). Der Verweis auf die durch die kognitiven Leistungen des Liberalismus umschriebene „invisible hand des Wissens" besetzt dann den durch die Zerstreuung von Sprache freigesetzten Platzhalter. 429 Peter Gottwald, ZZP 98 (1985), 113 (126), notiert deshalb zu Recht, daß eine Option für eine passivere Richterstellung notwendig mit anderen verfahrensmäßigen Sicherungen unterfüttert sein müßte.

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Kap. 2: Diskussion bisheriger Ansätze

Zudem ist der Richter - zweites Argument - in jeder Lage des Verfahrens gesetzlich gehalten, für eine einverständliche Streiterledigung zu sorgen, § 2791 ZPO. Ein reines Kampfmodell kann diese Grundtendenz des Verfahrens nicht in ihr Konzept einbinden; sie bleibt ihm weiterhin unauflösliche Residualkategorie. Denn Vergleichsbemühungen des Richters können wiederum die dem liberalen Modell wichtigen kognitiven Gehalte des Parteienhandelns zu stark beeinflussen, da rechtstatsächlich die Parteien den Vergleich nicht selbst sukzessive aushandeln, sondern sich zumeist dem Vorschlag des Gerichts anschließen430. Damit gehen aber gerade die in der Aushandlung durch die Parteien gegründeten Hoffnungen (ihre kognitiven Leistungen) verloren. Da aber nach dem Zusammenbruch eines rein-liberalistischen Verständnisses von Privatautonomie, in dem das reine Kampfmodell seine genuine normative Grundlage findet, andere als die auf die Aktivierung der kognitiven Leistungen der Parteien gesetzte Hoffnungen das reine Kampfmodell nicht mehr rechtfertigen können, fällt es in eine normative „Leere". Schlußendlich bekommt - dies ist das dritte und entscheidende Argument - ein reines Kampfmodell nicht das Problem in den Griff, wie bei dem von ihm focussierten Aufprall der Kräfte das prozessuale Gespräch dazu führen kann, daß das Rechtliche im Recht erörtert wird und nicht nur im Parteienkampf sich formierende Machtdispositive aufeinanderprallen. Anders gesagt: Allein ein Rekurs auf die durch den Kampf erhofften kognitiven Leistungen für die Produktion des hic et nunc geltenden Rechts reichen nicht dazu aus, das von den Parteien argumentativ je für sich reklamierte Recht nicht als bloße Widerspiegelung ihrer Macht und ihrer Interessen, sondern als Widerschein dessen zu begreifen, was gemeinhin als „Rechtsidee" bezeichnet wird. Das Kampfmodell bedarf hier zumindest der Ergänzung. Eine derartige Ergänzung ist durchaus möglich. Sie wird im näheren Fortgang der Untersuchung noch ausführlich aufgezeigt werden. Freilich führt eine derartige Ergänzung auch zu einer weitgehenden Umstellung der theorieleitenden Prämissen des „Kampfs um's Recht". Das reine Kampfmodell wird denn auch durch die Ergänzung kaum wiederzuerkennen sein. In seinem Focus: strategischer Dissens, seinem Modus: Restriktion durch strategisches Handeln, und seiner Residualkategorie: Konsens, gibt nach all dem auch das reine Kampfmodell des Zivilprozesses nichts für ein sachgerechtes Verständnis des Rechtsgesprächs her.

430

Dazu Goebel, Zivilprozeßrechtsdogmatik und Verfahrenssoziologie, 273 m. w. Nachw.

§ 8 Rechtsgespräch und Wertungsjurisprudenz

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§ 8 Rechtsgespräch und Wertungsjurisprudenz: Prozessuale Gerechtigkeit und materielle Prozeßleitung I. Theoretischer Focus: Die rechtsdogmatische Begründungstradition Im Rahmen der rechtsdogmatischen Begründungstradition wertungsjurisprudentieller Provinienz wird das Rechtsgespräch zumeist in die Diskussionslinien um den rechten Gehalt der Gerechtigkeit im Prozeß und der sachgerechten Reichweite der materiellen Prozeßleitung des Gerichts gestellt431. Der Begründungspfad verläuft hierbei idealtypischerweise zweistufig. Zunächst wird die Stellung des Richters als unbeteiligter neutraler Dritte unterstrichen, um im Anschluß hieran Mitwirkungsrechte der Verfahrensbetroffenen als Ausdruck des rechtlichen Gehörs, des Grundsatzes der Waffengleichheit im Prozeß und des Fairneßgebots zu reklamieren und das zivilprozessuale Verfahren insgesamt als dialogisch strukturierte Veranstaltung 432 zu verorten 433. Der theoretische Focus dieses zweistufigen Ansatzes ist insofern nicht (wie bei den Diskurstheorien) die diskursive Produktion des konkret für den Streitfall geltenden Rechts und auch nicht (wie bei der Verbildlichung des Zivilprozesses als Kampf) eine quasi „tabula-rasa"-Implementation der auf „Kampf 4 ausgerichteten Privatautonomie der Prozeßparteien, sondern der Rekurs auf ausgleichende Gerechtigkeit durch richterliches Handeln. Nun hat die rechtsdogmatische Diskussion bisher nicht - auch nicht unter dem ausdrücklich Signum „Verfahrensgerechtigkeit" 434 - dazu geführt, ein Rechtsgespräch nach dem hier vertretenen Zuschnitt einer dialogischen Rede und Gegenrede aufgrund des rechtlichen Gehör, des Prinzips der Waffengleichheit und der prozessualen Fairniß verpflichtend zu machen 435 . Es stünde demnach der Versuch aus, auf den genannten prozessualen Prinzipien ein Rechtsgespräch zu gründen. Es fragt sich nur, ob ein derartiger Versuch sinnvoll wäre.

431 Zwar könnte versucht werden, Verfahrensgerechtigkeit von ihrer bisherigen Focussierung auf das Verhältnis von Richtermacht und Parteienautonomie zu lösen und weiträumiger im umfassenden Kontext der Rechts- und politischen Philosophie etwa John Rawls oder JeanFrançois Lyotards und anderen zu studieren. Hierzu fehlt hier freilich der Raum. 432 Zur Dialogik im Prozeß siehe nur Peter Gottwald, ZZP 98 (1985), 113 (123 ff.); Inoue, ZZP 98 (1985), 378ff.; Gröschner, Dialogik und Jurisprudenz, 236ff. 433 Paradigmatisch etwa Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 105 ff., 115 ff. 434 Roland Hoffmann, Verfahrensgerechtigkeit, 116, bemerkt zwar, daß das rechtliche Gehör den Prozeß „zu einer der Rechtsfindung dienenden Debatte mit Argumentation und Gegenargumentation werden lassen kann". Er zieht hieraus aber nicht explizit den Schluß, daß ein Rechtsgespräch kraft rechtliches Gehör verpflichtend ist. 435 Siehe oben § 1 II, III.

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Kap. 2: Diskussion bisheriger Ansätze

II. Das Verhältnis von richterlicher Fürsorge und Privatautonomie Davon sollte nicht ausgegangen werden. Insbesondere in den 70er Jahren wurden zur ausgleichenden Gerechtigkeit im Prozeß eine ausgreifende Diskussionen um einen „Funktionswandel des Zivilprozesses" 436 und der Materialisierung, Politisierung und Soziologisierung seines Rechts geführt. Peter Gottwald bemerkt in diesem Zusammenhang zu Recht, daß durch den unermüdlichen Streit um die richterliche Pflicht zum Rechtsgespräch die Frage hindurchschimmert, „welche Stellung des Richters einem Parteiprozeß am angemessensten ist und ob eine aktivere Beteiligung des Richters am Rechtsstreit zu besseren, d. h. rationaleren Konfliktlösungen führt oder nicht" 437 . Sobald das Prozeßrecht als Aufforderung an den Richter begriffen wird, als Schutzmacht des Rechts der Parteien zu dienen, wandelt sich die Bedeutung der Kategorie „Rechtsschutz" grundlegend. Sie geht dann dezidiert mehr in Richtung Rechtsfürsorge über 438 . Verfahrensgerechtigkeit wird in diesem Falle von auszugleichenden Mangellagen der Parteien her gedacht. Die qua Rechtsgespräch fürsorgend ausgeübte richterliche Macht erscheint dann als eine dem Ausgleich ihrer „Mängellagen" geschuldete - je nach Ansatz mehr oder weniger starke - Restriktion der Privatautonomie der Prozeßparteien, was sich denn auch in der für die Parteien oft gewählten Diktion „Verfahrensbetroffene" widerspiegelt. Das Rechtsgespräch ist in dieser Perspektive mithin nur verträglich mit einem bestimmten Verständnis von Privatautonomie. Nun ist das rechte Verständnis der Privatautonomie ein dermaßen umstrittenes Feld, daß es nicht sinnvoll erscheint, die richterliche Pflicht zum Rechtsgespräch auf einem derartig fragilen Terrain zu gründen. Falls es möglich ist - und daß es möglich ist, wird noch gezeigt werden - , sowohl unter einem strikt liberalistischen als auch unter einem eher de-liberalisierten Verständnis von Privatautonomie eine Pflicht zum Rechtsgespräch aufzuzeigen, wäre demgegenüber eine stabile Plattform geschaffen, auf der auch diejenigen ein Rechtsgespräch akzeptieren müßten, die einer fürsorgend ausgeübten Richtermacht sowohl dezidiert ablehnend als auch entschiedend zustimmend gegenüber stehen. Vorerst kann notiert werden, daß die herkömmliche rechtsdogmatische Begründung des Rechtsgesprächs anhand einer verstärkten richterlichen Prozeßleitung nur mit den mit einem fürsorgenden richterlichen Handeln verbundenen Restriktionen zu haben ist und ihr zudem das rechte Verständnis der Privatautonomie als impliziter Rest verbleibt - als ,unthematisches Wissen4 mithin, welches ungesagt vorausgesetzt wird, wenn eine Sprechhandung

436

Fritz Baur, Festschrift Tübinger Juristenfakultät, 159 ff. Peter Gottwald, ZZP 98 (1985), 113 (126). 438 Smid, Rechtsprechung, 131 ff., 146, 151. Auf Fürsorge rekurriert explizit etwa Bottke, Verfahrensgerechtigkeit, 39. 437

§ 9 Rechtsgespräch und Ineinssetzung von Privatautonomie und Recht

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als gültig oder ungültig beurteilt wird 439 . Oder wie man auch sagen könnte: als Residualkategorie.

§ 9 Rechtsgespräch und Ineinssetzung von Privatautonomie und Recht Wenn das Rechtsgespräch - wie soeben - als Ausdruck prozessualer Fürsorge konzipiert wird, gerät das Votum für das Rechtsgespräch auf das fragile Terrain eines paternalistischen Zugriffs auf die Privatautonomie im Prozeß. Wird umgekehrt - wie im Modell des Zivilprozesses als Kampf -jeglichem Paternalismus abgeschworen, bleibt unklar, wie das von den Parteien vorgetragene Recht nicht als bloße Widerspiegelung ihrer Macht und ihrer Interessen, sondern als Widerschein des Rechtlichen im Recht (der Rechtsidee) begriffen werden kann. Es liegt daher nahe zu versuchen, im Verständnis des Zivilprozesses sowohl jeglichen Paternalismus abzustreifen, als auch das von den Parteien in den Prozeß eingebrachte Recht als Ausdruck ihrer Autonomie und damit der Rechtsidee selbst zu begreifen. Ein derartiges Prozeßverständnis suchen Pawlowski sowie in seiner Nachfolge Smid und Braun in der Vorstellung vom Prozeß als der besonderen Erscheinungsform des Rechts im Gefolge der neuhegelianischen Prozeßtheorie Julius Binders zu entwickeln 440 .

I. Theoretischer Focus: Ineinssetzung von Privatautonomie und Recht Die Prozeßtheorie Pawlowskis ist ein schwieriges Gebilde. Die hegelianisch angelegte Theoriekonstruktion sowie das begrifflich der Tradition des Deutschen Idealismus nahestehende Vokabular sind dem theoretischen Verweisungszusammenhang der Wertungs- und lnteressenjurisprudenz völlig fremd und fordern eine mißverständliche Exegese in der Rezeption geradezu heraus 441. Der die Privatautonomie konstituierende Wille wird von Pawlowski442 nicht im Sinne der Wahlfreiheit eines empirisch vorhandenen Willens, also weder im Gefolge der Savignyschen noch in dem der Jheringschen Tradition, sondern als Ausdruck eines normativen Willens verstanden, der sich die Rechtlichkeit zum Gesetz gemacht hat, der also auf die Verwirklichung des Rechts bezogen ist. Bezugspunkt der Privatautonomie ist dann nicht der empirische Wille des vergesellschafteten Individuums im sozialen Raum 439

Zum „unthematischen Wissen" Habermas, Nachmetaphysisches Denken, 86 f. Binder, Prozeß und Recht, 1927; Pawlowski, ZZP 80 (1967), 345 ff.; ders., Rechtsgeschäftliche Folgen nichtiger Willenserklärungen, 243ff., 277ff., 268 ff.; Braun, Rechtskraft, 55 ff.; Smid, Rechtsprechung, insbes. 135 ff., 327 ff. 441 Siehe ausführlich zur Pawlowskischen Prozeßtheorie Goebel, Zivilprozeßrechtsdogmatik, 56 ff. 442 Vgl. dazu und zum folgenden Pawlowski, ZZP 80 (1967), 345 ff.; ders., Rechtsgeschäftliche Folgen, 243 ff., 277ff., 268ff. 440

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Kap. 2: Diskussion bisheriger Ansätze

und in der historischen Zeit, sondern der freie Wille des intelligiblen Vernunftwesens »Rechtsperson4. Eine derartig verstandene Rechtsperson sieht das objektive Recht nicht als Einschränkung (Negation) seiner Freiheit an, sondern versteht es als sein Recht, da er zur Allgemeinheit fähig ist und Rechtspflichten als selbstgesetzt denken kann 443 . Hinter diesen Sätzen verbirgt sich die hegelianische Konzeption des Verhältnisses von Recht und Rechtsperson. Danach stehen sich nicht das objektive Recht (der allgemeine Wille) und die Rechtsperson (der besondere Wille) unvermittelt gegenüber. Vielmehr erscheint das Recht in den Handlungen der einzelnen und kann deshalb nicht mehr als Inbegriff abstrakter Normen (Befehle des Gesetzgebers) konzipiert werden, sondern nur mehr als komplexe und vernünftige Einheit der besonderen Willen (der Rechtspersonen), in der sich der allgemeine Wille (das Recht) zeigt. Recht ist dann der geschichtliche Prozeß, in dem der Gegensatz der Willen der einzelnen und des Staates im Begriff des Rechts aufgehoben ist. Es ist als eine lebendige Einheit wandelbar und muß immer erst gefunden werden. In anderen Worten: Es steht eine Semantik der Freiheit zur Rede, die sich in alle Grundbegriffe (und damit auch in das Recht) begrifflich einschreibt 444. Das heute in dem jeweilig zur Entscheidung anstehenden Fall geltende Recht wird schließlich gefunden im Prozeß als die „Methode, mit der die (subjektive) Ungewißheit des Rechts (des allgemeinen Willens) behoben wird" 445 . Für das Rechtsgespräch liegt das weitere dann auf der Hand: Wenn einerseits das objektive Recht Ausdruck des normativen (in der Diktion Hegels: vernünftigen) Willens des einzelnen ist und falls andererseits das zivilprozessuale Urteil nicht als bloßer Machtspruch des Staates (als Nicht-Recht) begriffen werden soll, haben alle Verfahrensbeteiligten Anteil an der Erkenntnis des Rechts im Prozeß, der damit die Form eines Rechtsgesprächs annimmt446. Der Zivilprozeß kommt so nicht als hoheitliche Gewährung in den Blick, sondern kann als Versuch der Parteien rekonstruiert werden, ihr Recht zu erkennen 447. In einem demokratisch verfaßten Staat gleichberechtigter Bürger bedeutet dies nach Pawlowski, daß der Entscheidende sich „bei seiner Entscheidung an der Meinung aller Rechtsgenossen zu orientieren" hat und die Meinung der Prozeßparteien ernstnimmt 448. Einer schiedlich-friedlichen Diskursidylle wird mit all dem nicht das Wort geredet; am Ende des Prozesses steht auch für Pawlowski die richterliche Entscheidung449. Und da es im Prozeß um Recht (und nicht um die eigene Meinung des Richters) ginge, darf nach Pawlowski der Richter auch nur versuchen, das Recht als die Einheit der besonderen und des allgemeinen Willens zu erkennen. Er dürfe hingegen keinesfalls versuchen, paternali443

Pawlowski, Rechtsgeschäftliche Folgen, 264f. Siehe aus der Fülle hierzu nur Gamm, Der Deutsche Idealismus, 18. 445 Pawlowski, Rechtsgeschäftliche Folgen, 284; ders., ZZP 80 (1967), 345 (368). 446 Pawlowski, ZZP 80 (1967), 345 (356f., 381 f., 388f.). Zum Rechtsgespräch bei Smidsiehe nur ders. y Rechtsprechung, 5, 342ff. 447 Dazu Smid, Rechtsprechung, 133 f., 135 ff., 146ff. 448 Pawlowski, ZZP 80 (1967), 345 (383). 449 Pawlowski, ZZP 80 (1967), 345 (382, 385). 444

§ 9 Rechtsgespräch und Ineinssetzung von Privatautonomie und Recht

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stisch die Parteien etwa durch eine auf den Schutz des Schwächeren im Recht bezogene Rechtsprechung zu schützen. Ansonsten würde nicht nur die Partei nicht als Vernunftswesen (als Rechtsperson), sondern als Unfreier (als zu Therapierender) behandelt450; vielmehr würde auch das Recht selbst verfehlt werden.

II. Restriktionen und Residualkategorien eines idealistischen Ansatzes Die Pawlowskische Prozeßtheorie scheint die Notwendigkeit eines Rechtsgesprächs zu begründen, ohne zu paternalistischen Attitüden oder zu einem Verständnis des Prozesses als Interessenkampf greifen zu müssen. Nichtsdestotrotz sollte die Notwendigkeit eines Rechtsgesprächs nicht auf diese Konzeption des Prozesses gestützt werden. Zwar spricht dafür nicht schon das oben skizzierte Verständnis von Sprache als Phänomen der Zerstreuung und der Differenz, welches mit der dem Denken Pawlowskis ja zugrundeliegenden, auf die Einheit im Begriff fixierten Hegeischen Philosophie grundlegend bricht 451 . Die hieraus zu ziehenden Folgerungen für gewisse auch in der Pawlowskischen Prozeßtheorie relevanten Hegelianische Denkfiguren tragen aber kaum eine entschiedene Ablehnung dieses Prozeßverständnisses 452. Dies ändert sich freilich dann, wenn die durch Pawlowski bemühte prozessuale Einheit von Willen und Vernunft selbst in den Blick kommt. Diese Hegeische Einheit von besonderen und allgemeinen Willen ergibt nur Sinn, wenn von der Vernünftigkeit der Institution Prozeß ausgegangen wird. Vernünftigkeit heißt hier, daß die im Prozeß verortete Vernunft Ideen mit Interessen und gesellschaftlichen Funktionen koordiniert. Diese Koppelung von Prozeß und Vernunft ist notwendig, weil die handlungsmotivierende Kraft der abstrakten Moral nach Hegel vom Einzelnen einen zu hohen motivationalen und kognitiven Aufwand erfordert und deshalb eine Entlastung auf institutioneller Ebene verlangt 453. Derartig moralisch entlastende Institutionen werden nach Hegel im geschichtlichen Prozeß über die Köpfe der politisch handelnden Bürger durch die Vernunft selbst - der weltgeschichtlichen Tendenz zur Freiheit - etabliert. Gerade ein derartiges geschichtsphilosophisches Vernunftsvertrauen in Form einer „durch Natur und Geschichte hindurchgreifenden Vernunftgenese" 454 ist aber angesichts einer versprachlichten, pluralisierten Vernunft und vor dem Hintergrund der Erfahrungen des letzten Jahrhunderts schlechthin unannehmbar455, so daß auch ein Prozeßverständnis auf der Grundlage der Hegeischen Vernunftmetaphysik diskreditiert zu sein 450

Pawlowski, Rechtsgeschäftliche Folgen, 292 ff. Dazu nur statt vieler Wolf gang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 173 ff. 452 Dazu allg. Dreisholtkamp, Derrida, 106 ff. 453 Hier ist die bekannte Kritik Hegels an der abstrakten Moral Kants angesprochen, siehe dazu in der Lesart durch Habermas, jüngst ders., Wahrheit und Rechtfertigung, 225 ff. 454 Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, 322, Hervorhebung i. O. 455 Siehe zu diesem gängigen Argument gegen Hegel aus der Fülle der Literatur nur Welsch, Vernunft, 60f.; Taylor, Hegel, 706 ff.; und jüngst Habermas, Wahrheit und Rechtfertigung, 227. 451

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Kap. 2: Diskussion bisheriger Ansätze

scheint. In der Entwicklung der politischen Philosophie wurde versucht, das geschichtsphilosophische Vernunftsvertrauen durch die prozeduralisierten Einrichtungen des Verfassungsstaates funktional äquivalent zu ersetzen 456 und die Vernunftsgenese demokratietheoretisch zu unterfangen 457. Wenn dieses funktionale Äquivalent dezidiert ausgearbeitet der Prozeßtheorie inkorporiert ist, ginge der auf die Apologie der geschichtlichen Vernunft gemünzte Einwand gegen Pawlowski ins Leere. Dies ist aber nicht der Fall. Denn Pawlowski nimmt auf unser heutiges Verfassungsverständnis der Demokratie nur in einer eher sekundären Weise Bezug, indem er den Sinn der Demokratie daran festmacht, daß der Richter für seine Entscheidung keine Argumente wählt, die sich etwa auf den besonderen Wert einzelner Meinungen beziehen458. Hier schimmert zwar durchaus eine Perspektive der Universalisierung von Argumenten und damit ein Durchgriff auf eine genuin demokratietheoretische Fundierung des Rechts als den Normbestand durch, dem alle Rechtspersonen zustimmen können. Dies schimmert aber eben nur durch, so daß der Zusammenhang zwischen der Institution Prozeß und dem „Wirken der Vernunft" nicht entschieden genug herausgearbeitet worden ist. Die gesamte Theorie einschließlich ihrer freiheitsphilosophischen Implikationen hängt damit in der Luft. Zudem macht Pawlowski die Vernünftigkeit des Urteils primär daran fest, daß es sich ohne Abwägungsprozeduren vor dem Hintergrund des Gleichbehandlungsgebots von einem konsistenten System dogmatischer, von den Gerichten zuvor gefällter Vorentscheidungen leiten läßt 459 . In der Abfolge von Urteilen soll das Recht dann „Anschlußrationalität" gewinnen460. Hieran sind zwei Dinge zweifelhaft. In der Pawlowskischen Theorie bleibt - erstes Argument - unterbelichtet, daß aufgrund des oben geschilderten Phänomens der Zerstreuung von Sprache Rechtsprechen nicht ohne jegliche Abwägungen auskommen kann. Denn falls die Zerstreuung von Sprache in herkömmliche Handlungskategorien übersetzt wird, heißt dies doch nichts anderes, als daß die Sprache uns zu fortwährender Abwägung drängt - zwar nicht im Sinne einer Abwägung zwischen Rechtsprinzipien oder subjektiven Rechten, wohl aber im Sinne einer „Abwägung" zwischen „Sinn-Hypothesen". Und hieran können auch - quasi wie Definitionen wirkende 461 - Vorentscheidungen nichts ändern. Anders wäre dies nur, wenn die Vorentscheidungen diese Abwägung stoppen könnten, weil sie einen rigiden Kontext des Recht-Sprechens aufbauen. Dann gerät die Pawlowskische Theorie aber in ein - und dies ist das zweite Argument - Dilemma. Denn es ist fraglich, ob der durch Pawlowski vorgeschlagene 456

Paradigmatisch: Peter Häberle und Jürgen Habermas. Dazu nur aus der Fülle Schild, in: Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 65 (8Iff., 92ff.). 458 Pawlowski, ZZP 80 (1967), 345 (383). Siehe dazu Somek, Rechtssystem und Republik, 405 ff. 459 Pawlowski, Methodenlehre, Rn.55ff. 460 Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 891 ff. 461 Siehe zur Einsicht, daß auch Definitionen die fortlaufende Semiose (sprich „Abwägung zwischen Sinnhypothesen") nicht unterbrechen können, oben Fn. 118. 457

§ 10 Ergebnis zur Diskussion

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Rückgriff auf ein durch institutionalisierte Macht geschaffenes dogmatisches Regelwerk allein hinreicht, die in der Gleichbehandlung der Bürger aufscheinende Vernunft des Zivilprozesses festzuzurren 462. Denn Vorschläge für eine Veränderung der Entscheidungsroutinen sollen hierbei davon abhängig gemacht werden, ob sie bei den entscheidenden Instanzen Akzeptanz finden 463. Da die Pawlowskische Theorie diese Akzeptanzfrage aber nicht strikt mit der oben angesprochenen Demokratiefrage koppelt, schlägt die Theorie an entscheidender Stelle in einen Rekurs auf eine reine Rechtsprechungsmacht um und derogiert die juristische Argumentation zu einem reinen Strategiespiel in Richtung Änderung des Ergebnisses464. Wertungsjurisprudentielle Dogmatik wird dies anhand ihres primären Verständnisses von Privatautonomie als Wahlfreiheit als eine - gewaltsame465 - Verdeckung richterlicher Macht rekonstruieren. Die Residualkategorien der Pawlowskischen Theorie sind damit die topoi „richterliche Macht" und „Privatautonomie als Wahlfreiheit". Vor diesem Hintergrund ist es wenig fruchtbar, die Verpflichtung zum Rechtsgespräch auf die Pawlowskische Einheit von Willen und Recht zu etablieren, da ansonsten eine breit konsentierte Gründung dieser Verpflichtung fehlschlagen wird.

§ 10 Ergebnis zur Diskussion bisheriger rechtsdogmatischer Ansätze zum Rechtsgespräch I. Zusammenfassung Die bisherige Diskussion der rechtsdogmatischen Ansätze zur Rechtsfigur „Rechtsgespräch" hat gezeigt, daß keiner der bisher ins Werk gesetzten Versuche überzeugen können. Wenn die bisherige Diskussion kreuztabellarisch zusammengefaßt wird, wird deutlich, daß jeder der bisher besprochenen Begründungsansätze für ein Rechtsgespräch auf der einen Seite gewisse Restriktionen zeigt, die er als Modus benutzen muß, um seinen theoretischen Focus zu wahren, und auf der anderen Seite gewichtige normative Gesichtspunkte bloß residual erfaßt und damit die prozessuale Wirklichkeit des Zivilverfahrens genuin verkürzt (s. Tabelle nächste Seite).

II. Weiteres Vorgehen In dieser Situation wird hier als Ausweg angeregt, im zweiten Teil der Studie einen theoretischen Ansatz zu wählen, der keine derartigen Restriktionen und Resi462 463 464 465

Kritisch auch Somek, Rechtssystem und Republik, 215 ff. Pawlowski, Methodenlehre, Rn. 174, 216ff. Somek, Rechtssystem und Republik, 217. Allg. Derrida , Grammatologie, 197 f.

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Kap. 2: Diskussion bisheriger Ansätze

dualkategorien enthält. Selbstverständlich heißt dies nicht, daß der hier vorgeschlagene Ansatz keine Angriffsflächen für Kritik bietet. Nur besteht die gute Aussicht, daß die Projektionsfläche für eine prozeß rechtliche belangvolle Kritik - und nur auf eine solche kommt es hier ja an - denkbar gering sein wird. Als theoretischer Focus wird insofern „kreativer Dissens" und als Modus „interpretative Praxis" vorgeschlagen. Was heißt das und was steckt dahinter? Um diese Fragen beantworten zu können, muß zuerst einmal erläutert werden, was unter einer interpretativen Praxis des Zivilprozesses verstanden werden soll. Hierzu dienen die Überlegungen im dritten Kapitel der Untersuchung. Im Anschluß hieran kann dargelegt werden, was es mit dem »kreativen Dissens4 im Zivilprozeß auf sich hat und wie das zivilprozessuale Rechtsgespräch und der »kreative Dissens' verschränkt sind. Dies steht im Zentrum der Erwägungen des vierten Kapitels.

Ansatz

theoretischer Focus Modus

Residualkategorien

Rechts gespräch und Diskurs

Konsens

Restriktion durch kommunikatives Handeln

1. Dissens; 2. Institution; 3. gerichtliches Urteil

Rechtsgespräch und zivilprozessualer Kampf

strategischer Dissens

Restriktion durch strategisches Handeln

1. Konsens; 2. Normativität des Rechts; 3. paternalistisches Verständnis der Privatautonomie der Prozeßparteien

Rechtsgespräch und prozessuale Gerechtigkeit

ausgleichende Restriktion Gerechtigkeit durch richterliche durch richterliches Fürsorge Handeln

1. anti-patemalistisches Verständnis der Privatautonomie der Prozeßparteien; 2. Einheit von Privatautonomie und Recht

Rechts gespräch und Ineinssetzung von Privatautonomie und Recht

Einheit von besonderem und allgemeinem Willen im Recht

1.richterliche Macht; 2. Privatautonomie als Wahlfreiheit

Restriktion durch Festzurren sprachlichen Sinns

Teil 2

Rechtsgespräch - Interpretative Praxis Kapitel 3

Die interpretative Praxis des Zivilprozesses § 11 Die Praxis des Recht-Sprechens I. Der implizite Focus der herrschenden prozessualen Rechtsanwendungslehre Die herrschende Rechtsanwendungslehre begreift den Zivilprozeß als „Verwirklichung des sachlichen Rechts"466. Sie setzt voraus, daß das objektive und das subjektive Recht extraprozessual vorgegeben sei und im Prozeß nur noch „gefunden" werden müsse467. Im Verweisungszusammenhang der herrschenden Lehre ist dies auch verständlich. Es wird weit überwiegend davon ausgegangen, daß es so etwas wie einen dem Gesetzestext inhärenten »Sinn4 gäbe, den es im Auslegungsakt zu entschlüsseln gälte. Die Bedeutung des Gesetzestextes steht dann im Mittelpunkt der methodischen Aufmerksamkeit. Die klassische Rechtsanwendungslehre findet insofern ihr Paradigma in der Lehre vom Begriff als bedeutungsverbürgende und das richterliche Handeln inhaltlich determinierende oder zumindest begrenzende Instanz. Die Bedeutung eines Wortes ist in dieser methodischen Perspektive dann dessen Begriff, dessen Wortsinngrenze 468 zugleich die Endpunkte der Auslegung und 466

Es besteht kein Einverständnis über dierichtigenProzeßzwecke. Und selbst die weitgehend konsentierten Funktionszuschreibungen lassen widersprechende Zwecke zu, dazu η\χτ Johannes Braun, Rechtskraft und Restitution Zweiter Teil, 44; Schaper, Studien zur Theorie und Soziologie des gerichtlichen Verfahrens, 120 ff. Zu den dem Zivilprozeß zugeschriebenen Funktionen im übrigen siehe nur die Übersicht bei Schaper, ebd., 107 ff.; jüngst Hergenröder, Zivilprozessuale Grundlagen richterlicher Rechtsfortbildung, 215 ff.; sowie die Nachweise in Goebel, Zivilprozeßrechtsdogmatik und Verfahrenssoziologie, 50 Fn. 144. 467 So die Herausarbeitung der impliziten Voraussetzungen bei Braun, Rechtskraft, 45 ff., 52 ff.,55 ff. 468 Der Begriff der , Wortsinngrenze' spiegelt besser als der juristisch früher eher gebräuchliche Begriff der »Wortlautgrenze' die in der modernen Linguistik seit de Saussure tradierte Trennung von parole (Laut) und Langue (Sprache als abstraktes und virtuelles System eigener Existenzform) wider. Vor diesem Hintergrund sehen auch ausgemachte Hermeneutiker in dem Laut eines Wortes nur „jenes Moment, daß selbst auf gar keinen Fall der Sinn des Wortes ist",

110

Kap. 3: Die interpretative Praxis des Zivilprozesses

den Beginn der Rechtsfortbildung markieren soll 4 6 9 . Gewisse Unwägbarkeiten von Texten werden schließlich mit Regel-Ausnahme-Dichotomien der A r t

»Klar-

heit - Vagheit 4 oder »Begriffkern - Begriffshof einzufangen versucht 4 70 . Der Normtext gerinnt dem herrschenden Verständnis also zum „Träger (Medium)" der jeweiligen „rechtlichen Vorstellung" 4 7 1 . Er übertrage bestimmte Inhalte, die er repräsentiere 472 - seien es Objekte der realen Welt 4 7 3 , seien es die jeweiligen Überlegungen des Gesetzgebers oder seien es objektive Rechtsgedanken mit Bezug auf das Regulativum der Rechtsidee. Auch vom „Nachvollzug

objektiv vorgegebe-

ner geistiger Gebilde" ist die Rede 4 7 4 : „Gegenstand der Auslegung ist der Gesetzestext als ,Träger' des in ihm niedergelegten Sinnes, um dessen Verständnis es in der Auslegung geljt. »Auslegung 4 ist(...) Darlegung des in dem Text beschlossenen, aber noch gleichsam verhüllten Sinnes" 4 7 5 . I n einem derartigen Verständnis von Sprache als »Werkzeug 4476 der Erkenntnis und von Texten als Quellen eines gedanklichen Inhalts, also in einer instrumentalistischen Auffassung von Textualität, verwundert es dann nicht, daß Recht insgesamt als ein „Gegenstand der Rechtserkenntnis 44477 verstanden wird, dessen verborgene Inhalte von den Gerichten und der Rechtswissenschaft zu heben sind: Es gilt, das Latente des Rechts manifest zu machen. Hinter dieser „Bergung von Recht 44 schimmert die klassische Vorstellung der „zeitlosen Einsondern vielmehr „etwas ganz anderes, vom Sinn her gesehen ein Nicht-Sinn, der unmöglich den Sinn begrenzen kann", so Hruschka, Verstehen, 28; übernommen bsp. von Schiffauer, Wortbedeutung, 71; vgl. auch Hegenbarth, Linguistische Pragmatik, 32; Engisch, Einführung in das juristische Denken, 233 Fn.74a aE.; Larenz/ Canaris, Methodenlehre, 141 ff. 469 Vgl. Larenz! Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 143ff.; Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 1. Aufl. 1982,441; Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV, 236ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 182, 194 ff. 470 Paradigmatisch Bydlinski, Methodenlehre, 118 f., nach dem zum Begriffskem alle Gegenstände gehören, „auf die der Begriff für Sprachkundigen ohne weiteres angewendet wird". Das ist sicherlich einsichtig. Es fragt sich nur, wann wir in der Praxis des Rechts zu Recht davon ausgehen dürfen, daß ein „ohne weiteres" gerade hier und jetzt zulässig ist. 471 So bei Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 10. 472 Am Rande: In der sprachanalytischen Version der Repräsentationstheorien unübertroffen in der reinen , Abbildhaftigkeit 4 steht die Abbildtheorie des frühen Wittgensteins im Tractatuslogico-philosophicus {Wittgenstein, Tractatus-logico-philosophicus, bsp. 3.203 und 4.01). Die Wörter der Sprache werden hier zu reinen Namen für die Gegenstände der außersprachlichen Dingwelt reduziert und die ,Welt' infolge des zugrundegelegten logischen Atomismus zugleich sprachlich überschneidungs- und restfrei in »Einzeldinge4 für zerlegbar erachtet. Im Rekurs auf ein vermeintliches Ideal naturwissenschaftlicher Theorienproduktion ähnelt der Reduktionismus der Abbildtheorie Wittgensteins der Reinen Rechtslehre Kelsen, Bezüge sind denn auch unterstrichen worden, vgl. Friedrich Müller, Essays, 98 ff. 473 Deutlich etwa Bydlinski, System, 64: „Begriffe bezeichnen nun einmal Objekte". 474 Bei Canaris , Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 148, Hervorh. i.O. 475 Larenz, Methodenlehre, 4. Aufl. 1979, 299. 476 Grossfeld, Unsere Sprache, 9; „Handwerkszeug" bei dems., NJW 1985,1587. 477 Zur Entwicklungsanalyse ausführlich Somek, Der Gegenstand der Rechtserkenntnis, 1996.

§ 11 Die Praxis des Recht-Sprechens

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heit (...) desselben Denkens" hindurch, welches sich der Sprache als bloß „äußerer Bezeichnung" bedient478. Man kann hier von einer „Verdinglichung" der sprachlichen Bedeutung oder von ,Regelplatonismus\ sprechen. Prozessual entspricht diesem regelplatonistischen Modell die Vorstellung, daß es so etwa wie eine verfahrensunabhängige materielle Richtigkeit einer gerichtlichen Entscheidung gäbe. Der Rekurs auf die vermeintlich allein die Einlösung des Gesetzesbindungspostulats479 verbürgende Kognition von Recht wurde schließlich auch dann nicht fallengelassen480, als im Zuge der herrschenden Wertungsjurisprudenz das System rechtlicher Normen mehr und mehr zu einem bloßen Produkt der Abstimmung von Elementen einer differenzierten Rechtssemantik von Werten, Prinzipien und Interessen 481 umgebaut wurde, in dem die Begriffe des äußeren System des Rechts im Vorgang der Rechtsanwendung und der rechtsdogmatischen Rechtsproduktion zu Elementen von Abwägungen verflüssigt werden 482. Das mit dieser Verflüssigung verbundene Unbestimmthafte des Rechts wird bei diesem Umbau als etwas Defizitäres aufgefaßt, als ein defizienter Modus der Abbildung des Rechts in manifesten Normen. Und an diesem Defizit muß dann durch eine fortwährende Bergung des latenten, aber doch immerhin vorhandenen Inhalt des Rechts gearbeitet werden. Das Medium dieser Rechtsarbeit ist dann keine Interpretations-, sondern eine Aus-Legungsìéhre , mittels derer dem geborgenen Rechtsinhalt diejenige Stabilität verliehen wird, der er in seiner latenten Existenz noch entraten muß. Probleme der fortlaufenden Deutung von Text als Recht verwandeln sich dann in die Frage nach der rechten Methodenvtahl. Mit einer derartigen „Kognitions-Semantik" kann das Rechtsgespräch notwendigerweise nur unter der oben schon genannten Kategorie der Verfahrensgerechtigkeit focussiert werden. Dies gilt auch, wenn der Prozeß - ähnlich wie in der Prozeßlehre Goldschmidts483 - als ein durchgängig auf Rechtsungewißheit konzipiertes Verfahren verstanden wird, dem das außerhalb des Prozesses geltende, auf Rechtsgewißheit konzipierte materielle Recht gegenüber gestellt wird 484 . Das Recht ist danach 478

So die Charakterisierung der klassischen Vorstellung bei Josef Simon, Philosophie des Zeichens, 105. 479 Dieses liegt durchweg dem Rekurs auf die Wortsinngrenze zugrunde, siehe aus unterschiedlichen Lagern Picker, JZ1988,1 (10f.); Ingeborg Maus, in: Abendroth u. a. (Hrsg.), Ordnungsmacht, 1981, 153 ff. 480 Ein kritischer Rationalist würde hier von einer .degenerative Problemverschiebung* iS Lakatos (