Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität - Repräsentation - Freiheit: Symposion für Hasso Hofmann zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428517497, 9783428117499

Im vielschichtigen Werk Hasso Hofmanns spielen grundlegende rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe wie "L

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Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität - Repräsentation - Freiheit: Symposion für Hasso Hofmann zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428517497, 9783428117499

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 35

Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit Symposion für Hasso Hofmann zum 70. Geburtstag Herausgegeben von HORST DREIER

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 35

Rechts- und staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit Symposion für Hasso Hofmann zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von

Horst Dreier

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 3-428-11749-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Hasso Hofmann, mittlerweile emeritierter Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Rechts- und Staatsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, vollendete am 4. August 2004 sein siebzigstes Lebensjahr. Aus diesem Anlaß versammelten sich wenige Tage später Freunde, Kollegen, Weggefährten und Schüler im Leibniz-Saal der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, deren ordentliches Mitglied der Jubilar ist, um ihn mit einem Symposion zu ehren. Vorausgegangen war der ganz der Wissenschaft gewidmeten samstäglichen Zusammenkunft am Abend zuvor ein stimmungsvoller Empfang im beeindruckenden Marmorsaal des Palais am Festungsgraben 1 (Hinter der Neuen Wache), ehemals Sitz des Preußischen Finanzministeriums. Abgerundet wurde die gesamte Veranstaltung durch eine Schiffsfahrt auf der Spree und einen gemeinsamen sonntäglichen Besuch der Ausstellung „Das MoMa in Berlin“ in der Neuen Nationalgalerie. Der vorliegende Band enthält zunächst die fünf Referate, die am Samstag vorgetragen wurden und auf lebhaftes Interesse im Kreis der Teilnehmer stießen, was sich in den intensiven Diskussionen zeigte. Den Herren Schlink, Stolleis, Schmidt-Aßmann, Meyer und Wahl sei an dieser Stelle nochmals herzlich für ihre Bereitschaft gedankt, das Symposion in dieser maßgeblichen und bereichernden Weise mitzugestalten. Auf Wunsch des Jubilars findet des weiteren ein Aufsatz des Herausgebers über „Kants Republik“ Abdruck, der zuerst Mitte August 2004 mit einer Widmung für den akademischen Lehrer in der Juristenzeitung erschienen war. Die Textbeiträge werden abgeschlossen durch den „Rückblick“ des Jubilars – ein Schlußpunkt anstelle eines auf die

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Vorwort

Vorträge nochmals rekurrierenden Schlußwortes, zugleich bewegender Höhepunkt der gesamten Veranstaltung. Den Band komplettiert ein vollständiges Verzeichnis der Schriften des Jubilars, das sich – was angesichts seiner anhaltenden wissenschaftlichen Kreativität anzumerken geboten ist – auf dem Stand vom 12. Dezember 2004 befindet. Mit dem Erscheinen dieses Buches sagt der Herausgeber seinem akademischen Lehrer und väterlichen Freund erneut Dank und verbindet damit zugleich die Hoffnung auf viele weitere gemeinsame Jahre. Würzburg, im Advent 2004

Horst Dreier

Inhalt Der Preis der Gerechtigkeit

Von Bernhard Schlink . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Im Namen des Gesetzes

Von Michael Stolleis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wissenschaft – Öffentlichkeit – Recht

Von Eberhard Schmidt-Aßmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Repräsentation und Demokratie

Von Hans Meyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die Europäische Union?

Von Rainer Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Kants Republik

Von Horst Dreier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Rückblick

Von Hasso Hofmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Schriftenverzeichnis Hasso Hofmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Der Preis der Gerechtigkeit Von Bernhard Schlink

I. In den letzten Jahren auf dem Gymnasium hatte ich Herrn P. zum Lehrer. Er war klein und lebhaft, unterrichtete Englisch und Turnen, erwähnte gerne seine Teilnahme an der Olympiade in Berlin und am Feldzug in Afrika und erzählte oft, wie er in der Gefangenschaft von den Wachmannschaften Englisch gelernt hatte – uns zum Ansporn, jede Gelegenheit zum Lernen zu nutzen. Er war ein engagierter Lehrer, dem ich die Liebe zur englischen Sprache verdanke. Als wir erstmals Zeugnisse bekamen, für die er Noten gegeben hatte, war ich empört. Er hatte meine schriftlichen englischen Arbeiten stets mit Zwei bewertet, ich war ihm auch mündlich keine Antwort schuldig geblieben – warum hatte ich in Englisch nur eine Drei? „Schlink“, sagte er, „solange du dir in Turnen keine Mühe gibst, gibt es auch in Englisch nur eine Drei.“ Das würde ein Lehrer heute nicht mehr wagen. Der Schüler oder die Eltern würden sich beim Rektor beschweren und notfalls beim Verwaltungsgericht klagen. Die einschlägigen Gesetze, Verordnungen und Richtlinien regeln, wie Noten zu geben sind, und lassen für Querberücksichtigungen im Schlechten wie im Guten keinen Raum. Manchmal werden die Regelungsfülle und -dichte und das enge Korsett, das sie der Leitung einer Schule und Klasse anlegen, beklagt. Aber ihr Ergebnis ist, daß es in der Schule gerechter zugeht.

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Das gilt auch für die meisten anderen Lebensbereiche. Auch bei der beruflichen Ausbildung, in Arbeits- und Dienstverhältnissen, bei Kauf und Miete, in Ehe und Familie, bei Planungen und Genehmigungen, beim Bau des eigenen Hauses und bei der Modernisierung und Computerisierung der Verwaltung war die Verrechtlichung der letzten Jahrzehnte zugleich eine Vergerechtlichung – ein Begriff, der nicht schön klingen mag, aber der Substantivierung des Worts „rechtlich“ die Substantivierung des alten Worts „gerechtlich“ passend an die Seite stellt. Besonders eindrucksvoll ist die Verrechtlichung und Vergerechtlichung des Sozialen. Das 19. Jahrhundert hatte im Gefolge der Industrialisierung die soziale Frage entdeckt und an die Stelle staatlicher Armenpolizei und kirchlicher Mildtätigkeit eine utilitaristische Sozialpolitik gesetzt, die die arbeitende Klasse leistungsfähig, leistungswillig und politisch ruhig halten sollte. Das 20. Jahrhundert hat die utilitaristische Sozialpolitik zu einer Politik der sozialen Gerechtigkeit weiterentwickelt. Das begann unter der alten Maxime der austeilenden Gerechtigkeit; indem deren Forderung, gesellschaftliche Leistung angemessen zu belohnen, ernst genommen und allgemein gefaßt wurde, war nicht mehr nur in dem, was Offiziere und Beamte, Kaufleute und Fabrikherren tun, die gesellschaftliche Leistung anzuerkennen, sondern auch in der Arbeit in der Fabrik, im Bergwerk und auf der Baustelle. Fortgeführt und vollendet wurde die Verrechtlichung und Vergerechtlichung des Sozialen unter einer neuen Maxime der sozialen Gerechtigkeit, die nicht mehr nach Leistung, sondern nach Bedürftigkeit zuzuteilen verlangt. Bei Bedürftigkeit gibt es nun nicht nur Versicherungsschutz nach Maßgabe von Leistung und Beitrag und, wo der Versicherungsschutz versagt, die Hoffnung auf Barmherzigkeit, sondern einen Anspruch auf Hilfe. Die Solidarität der Gemeinschaft gründet nicht mehr darauf, daß alle leisten, sondern daß alle bedürftig sind – es ist die Solidarität, die in den Niederlagen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs, in Inflation, Wirtschaftskrise und

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Währungsreform, unter den Bomben, bei der Vertreibung und auf der Flucht gelernt wurde. Da der Anspruch auf Hilfe bei Bedürftigkeit grundrechtlich in der Würde des Menschen fundiert ist und da Bedürftigkeit in jeder Lebenssituation droht, muß das Recht auch für jede Lebenssituation Vorsorge treffen.

II. Die Verrechtlichung und Vergerechtlichung erfaßt nicht nur mehr und mehr Lebensbereiche, wirkt nicht nur in der Fläche, sondern auch in die Tiefe. Ebenfalls in den letzten Jahrzehnten wurden, Problem um Problem, tradierte rechtliche Lösungen durch differenziertere und kompliziertere Lösungen ersetzt. Die schwache rechtliche Bindung und gerichtliche Kontrolle von Gnaden- und ähnlichen Hoheitsakten, das freie Ermessen der Verwaltung, die Orientierung des Polizei- und Ordnungsrechts allein an objektiven Befunden, die Stellung des Beamten im Dienst als eines bloßen Funktions- und nicht auch Grundrechtsträgers, das grundrechtliche Verhältnis zwischen Staat und Bürger als Verhältnis von Eingriff und Abwehr, das Notwehrrecht ohne Rücksicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – der Friedhof der schlichten Lösungen rechtlicher Probleme ist groß, und die angeführten Grabstätten sind nur einige unter vielen. Auch hier schaffen die neuen Lösungen mehr Gerechtigkeit. Bei der Notwehr kommt neben dem Angegriffenen auch der Angreifer zu seinem Recht, die Grundrechte wehren nicht nur Eingriffe des Staats in die Freiheit des Bürgers ab, sondern schützen den Bürger auch in seiner Bedürftigkeit, seiner Abhängigkeit von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Mächten und seinen Konflikten mit anderen Bürgern, der Beamte darf sich auch im Dienst auf die Grundrechte berufen, der Polizist wird mit seiner subjektiven Sicht der Dinge anerkannt, Staat und Verwaltung müssen sich gegenüber dem Bürger mehr verantworten, und auch die Gnade wird gerecht zugemessen.

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Der jüngste, bisher allerdings erfolglose Versuch einer tieferen Verrechtlichung und Vergerechtlichung wurde zur Folter unternommen. Nach dem Ende des Dritten Reichs wurde die menschliche Würde im Grundgesetz als unantastbar anerkannt, und damit stand fest, daß Folter schlechterdings verboten ist. Angesichts krimineller und politischer Terrorerfahrungen und -phantasien wird das Verbot zunehmend in Frage gestellt. Wie, wenn ein Erpresser das Leben von Tausenden mit einer Bombe bedroht? Wenn nur er weiß, wo die Bombe zu finden und wie sie zu entschärfen ist? Wenn er gefaßt wird, aber nicht redet? Wenn nur Folter ihn zum Reden zu bringen verspricht? Müssen nicht auch hier an die Stelle des schlichten Verbots Differenzierungen nach Schadenshöhe, Schadenswahrscheinlichkeit und Folterintensität treten und prozedurale Vorkehrungen für die Folterentscheidung und -durchführung getroffen werden, vielleicht mit dem Erfordernis richterlicher statt polizeilicher Entscheidung, ärztlicher statt polizeilicher Durchführung und für den Fall eines plötzlichen Todes der Anwesenheit eines Geistlichen? Gefordert wird die neue Lösung des alten Problems auch hier um der Gerechtigkeit willen; es gelte, nicht nur den Täter, sondern auch die Opfer zu sehen und das Recht vor dem Unrecht, die Unschuldigen vor dem Schuldigen, die Menschenwürde der Opfer vor der Menschenwürde des Täters zu schützen. Auch weltweit ist der Verrechtlichungs- und Vergerechtlichungstrend mächtig, und auch weltweit wirkt er sowohl in der Fläche als auch in die Tiefe. Das Völkerrecht wächst; die Fülle und Dichte seiner Regelungen für das Verhältnis der Staaten zueinander nimmt zu, und überdies regelt es mehr und mehr nicht allein das Verhältnis der Staaten zueinander, sondern auch ihr Verhalten gegenüber ihren Völkern, besonders deren Minderheiten, und im Völkerstrafrecht sogar das Verhalten einzelner. Bei der Durchsetzung von Rechten einzelner ist das Völkerrecht noch vorsichtig. Aber der einzelne, der völkerrechtlich in die Pflicht genommen und vor internationale Strafgerichte gestellt wird, wird schließlich auch ins Recht

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gesetzt werden. Auch der rechtliche und gerechte Zugriff auf die Vergangenheit nimmt zu. Auch er erfolgt noch behutsam. Aber die entsprechenden Forderungen werden lauter, und wenn fremde Arbeiter, die von deutschen Unternehmen ausgebeutet wurden, und Juden, deren Erbteil von Schweizer Banken verheimlicht und vereinnahmt wurde, Entschädigung bekommen, sind ähnliche Ansprüche des Stamms der Hereros gegen Deutschland jedenfalls nicht mehr abwegig.

III. Manchmal stimmt im Fortgang der Verrechtlichung und Vergerechtlichung alles zusammen: Die Gesellschaft verlangt mehr Recht und Gerechtigkeit, der Staat schafft mehr rechtliche und gerechte Regelungen, und in der Wirklichkeit setzen sich Recht und Gerechtigkeit tatsächlich durch. Oft läuft die Entwicklung aber auch mit Verzögerungen und Verwerfungen. Es kann lange dauern, bis eine Forderung in einer Regelung resultiert, bis die Regelung sich in der Wirklichkeit tatsächlich durchsetzt und bis das Ergebnis dem Rechts- und Gerechtigkeitsverlangen der Menschen entspricht. Aber bei diesen Verzögerungen und Verwerfungen stützen sich die Elemente wechselseitig. Das gesellschaftliche Verlangen trägt das staatliche Bemühen um entsprechende Regelungen, und die Regelungs- und Durchsetzungserfolge halten das Verlangen lebendig. Selbst wo die Welt nicht gerechter wird, wächst doch die Gewißheit, wie es in ihr gerechter zugehen müßte. Das gilt auch für Länder, in denen von der Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit nicht die Rede sein kann. Ganz allein ist das Verlangen danach auch in diesen Ländern nicht. Es wird gestützt von den Vereinten Nationen, staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen und der öffentlichen Meinung in anderen Ländern. Auf diese anderen Länder richtet es sich denn auch oft.

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Ein Beispiel ist Afrika. Zwar sind die meisten Länder Afrikas von der eigenen Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit weit entfernt. Aber sie sind sensibel für das Unrecht, das ihnen durch den Kolonialismus geschah und das sie heute dadurch fortgesetzt sehen, daß die reichen Länder ihnen nicht die Schulden erlassen und nicht mehr für ihre ökonomische Entwicklung, für ihre Gesundheit und für ihre Sicherheit tun. Durch fremde Analysen und Aktionen finden sie sich in dieser Sicht wieder und wieder bestätigt. Das verbessert ihre Situation nicht und befördert auch ihr eigenes Bemühen um eine Verbesserung der Situation nicht. Aber es stabilisiert die normative Wahrnehmung der Situation und das Verlangen nach Recht und Gerechtigkeit. Ein weiteres Beispiel ist Palästina. Daß Vertreibung und Besetzung, die Siedlungen und die Verwüstung von Wirtschaft und Infrastruktur Unrecht sind, steht nicht nur für die Palästinenser selbst fest, sondern wird ihnen auch von anderen Ländern und in den Resolutionen der Vereinten Nationen bestätigt. Das führt nicht zur Beseitigung des Unrechts und Verwirklichung von Gerechtigkeit. Es führt auch nicht zu mehr Recht und Gerechtigkeit unter den Palästinensern selbst. Aber es hält die Wahrnehmung der eigenen Situation in den Kategorien von Recht und Gerechtigkeit lebendig. Für andere unterdrückte, vertriebene, bedrohte Völker, Ethnien und Minderheiten gilt ähnliches. Fast immer können sie für ihre Empörung gegen das Unrecht, das ihnen widerfährt, und für ihr Verlangen nach Gerechtigkeit auf Bestätigung der organisierten und nichtorganisierten Weltöffentlichkeit durch Resolutionen, Aufrufe und Hilfe rechnen. Fast nie wird dadurch das Unrecht beseitigt und Gerechtigkeit verwirklicht. Aber gelegentlich tut sich etwas. In Mazedonien wurde der ethnische Bürgerkrieg verhindert und im Kosovo die ethnische Vertreibung beendet – warum nicht überall, wo ähnliches droht? Internationale Organisationen besiegen einige Krankheiten – warum nicht auch andere? Warum unter-

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bindet die Staatengemeinschaft nicht, daß Frauen zur Prostitution und Kinder zum Dienst als Soldaten gepreßt werden? Das Verlangen nach Gerechtigkeit hat gerade oft genug Erfolg, um immer wieder neue Kraft zu schöpfen. Es ist wie mit dem amerikanischen Traum, in dem der Tellerwäscher zum Millionär wird; die wenigen Tellerwäscher, die es geschafft haben, reichen gerade, damit der Traum von der öffentlichen Meinung gepflegt und vom einzelnen geträumt werden kann. Die Welt wird normativer wahrgenommen, von der deutschen und von der globalen Gesellschaft. Die normative Wahrnehmung geht weit. Was früher als Naturereignis, Gunst oder Schlag des Schicksals, Gottes Fügung, Glück oder Pech jedem Rechts- und Gerechtigkeitsurteil entzogen war und einfach hingenommen wurde, wird heute geregelt, und wenn ein negatives Ereignis nicht in seiner Entstehung verhindert werden kann, kann es in seinen Folgen korrigiert oder kompensiert werden. Daß schwache Begabung gefördert, Behinderung erleichtert, Krankheit behandelt, Kinderlosigkeit behoben, in allen Gefahr- und Notlagen Rettung organisiert und bei Hochwasser und Mißernte Entschädigung geleistet wird, ist nicht mehr nur eine Hoffnung, die erfüllt oder enttäuscht werden mag, sondern eine normative Erwartung. Ebenso werden weltweit Dürren und Fluten, Hunger und Krankheit, Kriege und Bürgerkriege, Unterdrückung und Ausbeutung nicht mehr als Schicksal hingenommen, sondern als Unrecht angeklagt, das verhindert, korrigiert, sanktioniert und kompensiert werden soll. Die normative Erwartung kann sich letztlich auf alles richten. Das Projekt, die Welt gerechter zu machen, hat keine natürlichen Grenzen. IV. Daß die Welt normativ wahrgenommen wird, erschwert ihre empirische Wahrnehmung. Normative und empirische

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Wahrnehmungen konkurrieren miteinander und können einander ausschließen. Frühe Kulturen haben die natürlichen Zusammenhänge, die wir empirisch-kausal erfassen, normativ erfaßt. Schlechte und gute Ernten waren ihnen nicht Folgen des Wetters, sondern Strafen für normwidriges und Belohnung für normgemäßes Verhalten. War die Natur zu verläßlich, um als Sanktion für menschliches Verhalten gedeutet zu werden, wurde sie selbst in Gehorsam gegenüber göttlichem Gebot gesehen; Sonne und Mond halten bei Heraklit ihre Bahn ein, weil sie anders von den Erinyen zurechtgewiesen würden. Die Ablösung der normativen durch die empirisch-kausale Erfassung der Natur geschah schrittweise; wurde der kausale Zusammenhang zwischen Ernte und Wetter verstanden, konnte immer noch das Wetter als Sanktion statt als atmosphärische Konstellation erscheinen, und große Natur- und gesellschaftliche Katastrophen, Erdbeben und Vulkanausbrüche, Seuchen und Kriege wurden als Gottes Strafe noch gesehen, als die Naturwissenschaften schon ihren Siegeszug angetreten hatten. Auch nachdem sie ihn vollendet haben, bedarf es keines religiösen Glaubens, um in uns betreffenden Geschehnissen einen übermenschlichen Willen walten zu sehen. Verschwörungstheorien handeln zwar von Menschen, schließen diese aber zu verschwörerischen Mächten mit übermenschlichem Willen und übermenschlicher Kraft zusammen: die Juden, die Jesuiten, das Kapital, die Geheimdienste oder der militärischindustrielle Komplex. Sie variieren den Willen Gottes ins Negative; während es Gott zu gehorchen gilt, gilt es, sich gegen die Verschwörer aufzulehnen. Unverändert geht es um Belohnung und Bestrafung, um Belohnung für die, die sich auflehnen, und Bestrafung für die, die sich fügen. Unverändert geht es auch um Immunisierung gegenüber der empirisch-kausalen Wahrnehmung der Welt. Verschwörungstheorien werden in der Gewißheit des Wirkens der verschwörerischen Mächte durch den Hinweis auf empirische Befunde ebensowenig irri-

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tiert wie der Glaube in seiner Gewißheit des Waltens eines göttlichen Willens. Die Befunde sind nur Belege dafür, wie raffiniert die verschwörerischen Mächte wirken bzw. wie unergründlich die Weisheit des göttlichen Waltens ist. Mit der empirisch-kausalen Erfassung der Welt konkurriert die normative aber nicht nur in der skizzierten, lange vergangenen oder wenig rationalen Weise. Sie konkurriert mit ihr auch um Aufmerksamkeit, um die Kapazität der theoretischen und praktischen Beschäftigung mit der Welt. Was ist im Blick auf eine gesellschaftliche Situation, ein gesellschaftliches Problem, einen gesellschaftlichen Konflikt die erste, spontane Reaktion: ein Mehr-wissen-Wollen oder ein Be-, vielleicht sogar Verurteilen? Was leitet die tiefere diskursive Beschäftigung mit der Situation: die quaestio facti oder die quaestio iuris? Wie kommen dabei die Medien ins Spiel: mit Tatsachen und Analysen oder mit Wertungen? Wie werden Konsense gewonnen: durch Einigung darüber, wie sich die Situation tatsächlich verhält oder wie sie normativ einzuschätzen ist? Mal so und mal so, mag man antworten und die beiden Ansätze statt in einem Konkurrenz- in einem komplementären Verhältnis sehen wollen. In der Tat spricht erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch nichts dagegen, bei ein und demselben Geschehen nebeneinander die Seins- und die SollensFrage, die quaestio facti und die quaestio iuris zu stellen. Aber dominiert der normative Ansatz erst einmal, bleibt für den anderen Ansatz nur noch ein beschränktes Feld. Wird im politischen Geschehen zwischen zwei Ländern in erster Linie erlittenes bzw. zugefügtes Unrecht gesehen, dann gerät das tatsächliche komplexe Gefüge der beiderseitigen Interessen, Positionen und Aktionen aus dem Blick. Es interessiert nicht nur nicht; darüber zu sprechen, kann taktlos werden. Angetanes Unrecht kann so augenfällig, Bilder und Berichte vom Leid vertriebener, gequälter, verstümmelter, vergewaltigter und ermordeter Frauen, Männer und Kinder können so furchtbar sein, daß sie die Beschäftigung damit, wie die, de2 Dreier

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nen das Unrecht geschieht, den Konflikt mitbegonnen und -geschürt haben, nicht zulassen. Bei gesellschaftlichem Geschehen innerhalb eines Landes ist es nicht anders. Bei offenkundigen Fällen sozialer Not durch Arbeitslosigkeit, Behinderung, mangelnde Begabung oder lange Krankheit kann das soziale Unrecht so stark empfunden werden, daß Fragen nach den Ursachen, der Vermeidbarkeit, dem eigenen Anteil daran und dem eigenen Ausweg daraus unpassend werden. Dieses Ausblenden empirischer Wahrnehmung ist nicht nur das Resultat des normativen Ansatzes, sondern stabilisiert ihn auch. V. Bei der Konkurrenz empirisch-kausaler und normativer Erfassung der Welt geht es aber nicht nur darum, daß man die Zeit und Kraft, die man aufs Be- und Verurteilen verwendet, nicht zugleich an Tatsachen und Analysen wenden kann. Es geht um verschiedene Mentalitäten. Empirisch-kausale Erwartungen sind faktische Erwartungen, an Fakten bewährt und durch Fakten widerlegbar; verhält sich etwas nicht so, wie es einer faktischen Erwartung entspräche, wird die Erwartung korrigiert. Es wird gelernt. Normative Erwartungen sind kontra-faktische Erwartungen; handelt jemand nicht so, wie es normativ von ihm erwartet wird, wird die normative Erwartung nicht korrigiert, sondern beibehalten und vielleicht sogar gestärkt, weil das Zuwiderhandeln gezeigt hat, wie wichtig die Norm und ihre Einhaltung ist. Wo normative Erwartungen maßgeblich sind, muß nicht gelernt, sondern darf insistiert werden, insistiert auf der Existenz der Norm und darauf, daß sie eingehalten und ihre Verletzung sanktioniert wird. Wer im Kriegs- oder Bürgerkriegsgeschehen in erster Linie das zugefügte Unrecht sieht, kann auf der Entschädigung der Opfer und Bestrafung der Täter insistieren, ohne weiter nach der Entstehung und den Umständen des

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Konflikts zu fragen. Selbst wenn er weiter fragt, kann die Frage sich auf die Entstehung unter dem Aspekt der Schuld und auf die Umstände als entweder mildernd oder erschwerend beziehen und beschränken. Das Netz, in dem die Welt so eingefangen wird, bleibt normativ. Mentalitäten sind Erwartungsgefüge. Verschiedene Mentalitäten vereinen verschiedene Erwartungen dazu, wie der Gang der Welt ist, wie das Geschehen des Alltags zu interpretieren ist, wie die Menschen, mit denen man lebt, sich verhalten, einem begegnen und begegnen sollen und wie man selbst ihnen begegnen und sich verhalten darf. Neben diesen verschiedenen Erwartungsinhalten gibt es auch verschiedene Erwartungsmodi, den Modus der faktischen, lernbereiten und den der kontrafaktischen, lernunwilligen Erwartung. Auch diese verschiedenen Erwartungen konstituieren verschiedene Mentalitäten, und mit der Verrechtlichung und Vergerechtlichung sind die normativen Erwartungen und ist eine entsprechende normative Mentalität gewachsen. Aber mit der Erwartung einer gerechteren Welt ist die Welt noch nicht gerechter geworden. Sie ist, wie sie ist. Dies zu sehen, es zu lernen, geht gegen das Prinzip der normativen Mentalität und fällt ihr entsprechend schwer.

VI. Selten wird dies so deutlich wie in einer Niederlage. Eine Niederlage lernbereit als Tatsache zu nehmen und als Grundlage und Voraussetzung alles weiteren zu akzeptieren, gelingt heute nicht mehr. Niederlagen werden heute lernunwillig als Unrecht empfunden. Historisch waren die Kulturen der Niederlage jahrhundertelang Kulturen der Lernbereitschaft. Noch das Preußen von 1807 und das Frankreich von 1871 waren lernbereit; ohne auf eine spätere Revanche zu verzichten, akzeptierten sie die 2*

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Niederlage als Tatsache. Weil sie sie als Tatsache akzeptierten, konnten sie sie als Herausforderung sehen; sie hatten über die Unterlegenheit ihres Militärs, ihres Bildungssystems und ihrer Infrastruktur keine Illusionen, machten sich an die Arbeit und konnten das Niveau des überlegenen Gegners ein- oder sogar überholen. Anders die Staaten der Konföderation nach 1865 und Deutschland nach 1918. Sie bestanden darauf, eigentlich sei ihre Sache gerechter, seien ihre Opfer größer und ihre Soldaten tapferer gewesen, eigentlich hätten sie gewinnen oder sich immerhin behaupten müssen. Wie hätten sie mit dieser Mentalität die Herausforderung annehmen sollen, die in ihrer wie in jeder Niederlage lag? Besonders trostlos ist die Kultur der Niederlage, die die Palästinenser entwickelt haben und mit der sie sich um jede Chance eines neuen Anfangs und Aufstiegs bringen. Sie geriet nicht zuletzt darum so trostlos, weil die Welt die Palästinenser im lernunwilligen Insistieren auf dem ihnen zugefügten Unrecht nachdrücklich unterstützt hat. Zwar kann man auch alleine vertrotzt und verstockt auf seinem Recht beharren. Wenn einen aber die organisierte und nichtorganisierte Weltöffentlichkeit darin bestärkt, hat man gar keine andere Wahl. Die Veränderung im Umgang mit der Niederlage wurde von der Verrechtlichung und Vergerechtlichung des Völkerrechts getragen. Am Ausgang des 18. Jahrhunderts waren Krieg und Eroberung noch selbstverständliche Bestandteile der Politik, im 19. Jahrhundert begann sich dies zu wandeln, und seit dem Ende des Ersten Weltkriegs erfolgen territoriale Veränderungen, jedenfalls theoretisch, nur noch, um dem Selbstbestimmungsrecht der Völker Rechnung zu tragen. Was den Preußen nach 1807 und den Franzosen nach 1871 noch gelang, gelang den Deutschen nach 1918 auch darum nicht mehr, weil sie Wilsons selbstbestimmungsrechtlichen Versprechungen geglaubt hatten und sich, als sie nicht gehalten wurden, betrogen fühlten. Schon die Staaten der Konföderation fühlten sich mit ihrer Niederlage um ihre Selbstbestimmung betrogen; für sie wie für die Staaten der Union war das Recht

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staatlicher Selbstbestimmung seit der Revolution eine raison d’être, lange bevor andere Völker sich darauf zu berufen begannen. Daß Deutschland die Niederlage von 1945 akzeptiert hat, scheint sich in die skizzierte Entwicklung nicht einzufügen. Aber Deutschland hatte so offenkundig Unrecht begangen, daß das Insistieren auf seinem Recht nicht nur für die anderen, sondern auch für die Deutschen selbst keine Glaubwürdigkeit hatte. Außerdem gibt es nach totalen Niederlagen eine totale Erschöpfung, in der man sich gegen die gegebene Situation nicht mehr auflehnen, sondern sie nur noch hinnehmen kann. VII. Was für die Staaten und Gesellschaften als Ganze gilt, gilt ähnlich für den einzelnen. Die medizinhistorische Forschung erklärt die epidemische Verbreitung der traumatischen Neurose vom railway spine früher Eisenbahnunfälle bis zum shell shock des Ersten Weltkriegs damit, daß zunächst für die Eisenbahngesellschaften Entschädigungspflichten begründet, dann auch für andere Unfälle Haftpflicht und Unfallversicherungen eingeführt wurden und schließlich das traumatische Erstarren oder Zittern wie ein somatisches Trauma den Anspruch auf Lazarett oder Heimat verhieß. Was frühere Generationen recht und schlecht zu bewältigen gelernt hatten, konnte nun zu lernen verweigert werden; andere waren rechtlich verpflichtet, es zu korrigieren oder zu kompensieren. Die Verrechtlichung und Vergerechtlichung des Sozialen birgt das Problem, daß der einzelne seine selbst-, fremd- oder auch von niemandem verschuldeten Niederlagen nicht als solche sehen und auch nicht als Herausforderung nehmen kann. Die Einsicht, daß lange Arbeitslosigkeit berufliches und lange Arbeitsunfähigkeit gesundheitliches Scheitern bedeutet und daß Not eine mißlungene Lebensplanung und -gestaltung anzeigt, kann durch das Einfordern rechtlicher Korrekturen und Kompensationen ebenso verdrängt werden wie das Bewußt-

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sein der Niederlage in einem Volk hinter rechtlichem Verletztund Gekränktsein zurücktreten kann. Aus schwacher Begabung kann Verletzung des Rechts auf Chancengleichheit werden, aus der Ruinierung der eigenen Gesundheit Vorenthaltung von Rechten auf Therapie und Rehabilitation, aus einer verfehlten Ausbildungs- und Berufswahl Verletzung des Rechts auf Arbeit und aus einer Leistungsunfähigkeit oder -willigkeit, die in Abhängigkeit von fremder Hilfe führt, eine Frage der Menschenwürde. Das alles sagt nichts gegen die Einrichtungen des modernen Rechts- und Sozialstaats. Es sagt auch nicht, daß es davon zu viele gibt oder daß sie, was sie gewähren, zu häufig oder zu reichlich gewähren. Erst recht sagt es nicht, daß die heutigen verwöhnten Menschen wieder die Härte und Schwere des Lebens spüren und dadurch zu freien, starken Menschen werden müßten. Derartige konservative Töne sind nur Ausdruck einer eskapistischen Sehnsucht. Begabungsförderung, Therapie- und Rehabilitationsangebote, Arbeitslosengeld und Sozialhilfe sind Legitimationsgrundlagen der modernen Gesellschaft. Ebenso spricht der hier erhobene Befund nicht gegen die gewachsene Sensibilität der organisierten und nichtorganisierten Weltöffentlichkeit für Recht und Unrecht. Es geht hier nicht um eine Kritik am Fortgang der Verrechtlichung und Vergerechtlichung, sondern um die Analyse der Folgen. VIII. Es hat seinen Grund, daß auf Niederlagen besonders lernunwillig reagiert wird. Keine kollektive Niederlage ist mit dem Leid, das sie den einzelnen aufbürdet, völlig gerecht. Stets gibt es viele Zivilisten, die Leib und Leben, Haus und Hof, berufliche Stellung oder finanzielle Sicherheit verloren haben und denen dadurch Unrecht geschehen ist. Sogar die meisten Soldaten erfahren ihr Leid in der Niederlage nicht als Strafe, sondern als zu beklagendes und anzuklagendes Unrecht. Bei

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individuellen Niederlagen gilt ähnlich, daß sie sich nur selten einfach auf ein Versagen des Betroffenen verrechnen lassen, und selbst wenn – stets gibt es andere, die ebenso versagt haben, aber nicht ebenso betroffen sind. Weil sie als Unrecht abgelehnt wird, kann die Niederlage bei normativer Mentalität keine Bereitschaft zum Lernen wecken. Denn Lernen setzt die Akzeptanz der Wirklichkeit voraus. Die Niederlage ist die Stunde der Opfer. In der heutigen Opferkultur, in der tendenziell das Opfer recht und der Sieger unrecht hat, hat sie einen positiven Platz. Es ist freilich nicht der zentrale Platz. Diesen nehmen die Opfer ein, die nicht einmal kämpfen konnten und also auch keine Niederlage erlitten haben. Die Opferkultur lebt aus der Erinnerung an Ketzerund Hexenverfolgungen, Sklaverei, den türkischen Genozid an den Armeniern, die Killing-Fields Stalins und Pol Pots und, alles andere überragend, den Holocaust. Daß der Status des Opfers ein Status des Unrechts ist, ist hier so evident, daß es auch auf die überschießt, die gekämpft und verloren, vielleicht sogar sich ins Unrecht gesetzt und die Kämpfe begonnen haben. Sind sie erst einmal Opfer geworden, gesteht die heutige Opferkultur auch ihnen das Gefühl des verletzten Rechts zu. Opferkulturen sind Erinnerungskulturen. Weil sie sich aus vergangenem Unrecht legitimieren, dürfen sie es nicht vergessen, soll nicht die Legitimation aufs Spiel gesetzt werden. Am lebendigsten hält die Opferkultur die Erinnerung an das vergangene Unrecht, wenn sie ihm für die Gegenwart Relevanz unter Rechts- und Gerechtigkeitsfragestellungen geben kann: Geschieht, was geschehen kann, um das vergangene Unrecht zu strafen, es den Opfern zu entschädigen und an ihren Nachkommen gutzumachen? Die heutige Opferkultur ist eine verselbständigte Ausformung der gekennzeichneten Tendenz zur Verrechtlichung und Vergerechtlichung. Sie ist auch den Gefahren dieser Tendenz ausgesetzt. Die Fixierung auf die Vergangenheit zieht Energien von der Be-

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schäftigung mit der Gegenwart ab, und rückwärtsgewandte Rechts- und Gerechtigkeitsfragestellungen können den Blick für die Zukunftsoffenheit der Gegenwart und deren Aufgaben und Chancen verstellen. Die Fixierung auf vergangenes Unrecht kann auch in der traumatischen Vergangenheit festhalten; Enttraumatisierung bedeutet erinnern und vergessen können. Das Ruhenlassen, das Erinnern und Vergessen gleichermaßen einschließt, gelang einer Mentalität, die nicht nur Recht und Unrecht, sondern Schicksal, Gottes Fügung, Glück und Pech kannte, leichter. An vergangenem Schicksal kann nachträglich nichts mehr geändert werden; sich an ihm abzuarbeiten und abzuquälen, ist müßig und töricht. Vergangenes Schicksal kann erinnert und betrauert, kann aber auch vergessen werden und erhält schließlich seinen Platz in der kollektiven oder individuellen Biographie, der manchmal aufgesucht, dann aber auch wieder unbeachtet gelassen wird. Das Leben geht weiter. Opferkulturen sind noch einer weiteren Gefahr ausgesetzt. In Siegerkulturen waltet eine Dialektik, nach der der Unterlegene, der an seiner Niederlage leidet, sie überwinden will. Er lernt, holt den Sieger, der keinen Anlaß zum Lernen sieht, ein, überholt ihn und besiegt ihn. In Opferkulturen muß der Sieger lernen; weil das Leid, das sein Sieg zur Folge hatte, ihn ins Unrecht gesetzt hat, muß er das nächste Mal noch geschickter vorgehen, noch bessere Strategien und Taktiken entwickeln, noch smartere Waffen einsetzen und die Information noch strikter kontrollieren. Opferkulturen haben die Tendenz, den Status der Opfer zu perpetuieren.

IX. Die Verrechtlichung und Vergerechtlichung hat nicht nur die Spannung zwischen Recht und Wirklichkeit zu Lasten der Wirklichkeit aufgelöst, sondern auch die zwischen Recht und

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Nützlichkeit zu Lasten der Nützlichkeit und die zwischen Recht und Sittlichkeit zu Lasten der Sittlichkeit. Nützlichkeit wird zum Aspekt von Recht und Gerechtigkeit. In der heutigen Diskussion um die Reform der Sozial- und Steuersysteme kann die Forderung nach mehr Einfachheit, Verständlichkeit und Verläßlichkeit nicht mit deren Nützlichkeit für den Staat und den einzelnen argumentieren, sondern muß einfachere, verständlichere und verläßlichere Systeme als die einzig gerechten präsentieren. Anders hat sie gegen die komplizierten Gerechtigkeitsdifferenzierungen der überkommenen Systeme keine Chance. Volkswirtschaftslehre muß sich, wenn sie öffentlich gehört werden will, als Gerechtigkeitswissenschaft zu erkennen geben. Die Umsetzung von Sittlichkeits- oder moralischen Forderungen in Forderungen des Rechts liegt immer nahe – rechtlich zu tolerieren, was moralisch zu verurteilen ist, tut sich Gesellschaft schwer. Der Verrechtlichungs- und Vergerechtlichungstrend gibt der Moralisierung des Rechts institutionelle Gestalt. Das bundesverfassungsgerichtliche und verfassungsrechtswissenschaftliche Verständnis der Grundrechte als Werte oder Prinzipien, das die Rekonstruktion jedes moralischen und politischen Problems als eines Grundrechtsproblems erlaubt, die Zentrierung der schulischen Erziehungs- und Bildungsziele in der freiheitlichen demokratischen Ordnung des Grundgesetzes, die Transformation von nationalem Patriotismus in Verfassungspatriotismus, die Stilisierung der politischen Kultur zur Grundrechtskultur – es sind institutionelle Ausdrucksformen einer moralisch gesättigten Verrechtlichung und Vergerechtlichung. Aber das Recht verleibt sich nicht nur das Moralische ein; das Moralische drängt auch ins Recht. Der moralische Zugriff auf die Welt, der heute nicht nur die Lebenswelt, sondern die ganze Welt erreicht, ermächtigt und überfordert die moralische Verantwortung gleichermaßen. Mit der Verrechtlichung des Moralischen wird das moralisch engagierte Individuum

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entlastet; es kann die Verantwortung für die Welt an das Recht delegieren. Was moralisch geboten ist, soll auch rechtlich geboten sein. Ein Auseinanderfallen wird unerträglich. Die Verurteilung brutaler Diktatoren kann nicht mehr der Geschichte, die ihrer Folter- und Henkersknechte nicht mehr der öffentlichen Verachtung und die von Politikern mit schmutzigen Händen nicht mehr dem demokratischen Prozeß überlassen werden, sie muß rechtlich und gerichtlich erfolgen. Bei schlimmen Vergangenheiten genügt nicht mehr der verurteilende moralische Konsens, er muß die Gestalt gerichtlicher Urteile gewinnen. Auch umgekehrt soll das Recht nicht verurteilen, was moralisch respektiert wird. Der Versuch der Verrechtlichung und Vergerechtlichung der Folter nährt sich nicht zuletzt aus moralischem Verständnis für den Polizisten, der in verzweifelter Lage eine verzweifelte Entscheidung trifft. Daß das moralische Verständnis eine rechtliche Verurteilung nicht ausschließt und allenfalls bei der Strafzumessung oder für eine Begnadigung Gewicht haben kann, ist anstößig. X. Die Systemtheorie kennt unter den Systemen, aus denen die Gesellschaft sich konstituiert, ein jeweils führendes. Nicht daß dieses System die anderen Systeme hierarchisch beherrschen würde. Aber es zeichnet den anderen Systemen ihre Möglichkeiten vor; auf die Probleme, deren Lösung das führende System dient, müssen die anderen Systeme ihre Probleme beziehen, an seiner Rationalität, Logik und Sprache müssen sie ihre Rationalität, Logik und Sprache orientieren. Den Grund für die führende Rolle eines Systems findet die Systemtheorie in dessen größerer Komplexität, mit der es der Komplexität der Welt besser gewachsen ist. Für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts schreibt die Systemtheorie die führende Rolle, die lange der Politik gehört habe, der Wirtschaft zu; die

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Probleme, die die Entwicklung der Gesellschaft bestimmten und primär zu lösen seien, seien die Probleme der Wirtschaft geworden. Es zeichne sich aber ab, daß im 21. Jahrhundert die Wissenschaft die Wirtschaft in der führenden Rolle ablösen werde; sie entwickle eine größere Komplexität und stärkere Dynamik als die anderen Systeme und gebe diesen mehr und mehr die Probleme und auch die Rationalität der Problemlösungen vor. Die gesellschaftliche Entwicklung ist anders verlaufen. Die Wissenschaft hat die Autonomie, die Voraussetzung für die Prognose ihrer wachsenden Komplexität und Dynamik war, nicht bewahren können. Zwar wurde die Selbststeuerung über Wahrheit nicht von einer Fremdsteuerung über Recht abgelöst, sie muß sich aber immer mehr am Recht ausrichten. Nichts spricht dafür, daß die Wissenschaft die menschliche Integrität früher weniger bedroht hat und daß Forscher ihre Ziele und Methoden früher ethisch verantwortlicher gewählt, ihre Ergebnisse weniger gefälscht und bei ihren Abrechnungen weniger geschummelt haben. Es interessierte früher nur nicht. Heute interessiert es; die entsprechenden universitären und staatlichen Kontrollen und Sanktionen nehmen drastisch zu. Auch die Verfahren, in denen über den Zugang zur Wissenschaft und die Zuteilung ihrer Ressourcen entschieden wird, werden, möglichst nach quantifizierbaren Kriterien, verrechtlicht und, indem Privilegien abgeschafft werden und Gleichheit hergestellt wird, vergerechtlicht. Das wissenschaftsspezifische Kommunikations- und Steuerungsmedium Wahrheit bezieht sich erst auf die Ergebnisse, nicht schon auf die u. U. langen und teuren Bemühungen und verlangt gesellschaftliche Vorleistungen, die sich ebenso als Fehl- wie als gute Investitionen erweisen können. Indem die Gesellschaft die Selbststeuerung der Wissenschaft über Wahrheit durch eine Fremdsteuerung über Recht eingrenzt, die statt an die Ergebnisse an die Bemühungen anknüpft, hat sie ihre riskanten Vorleistungen zu Leistungserfolgen umdefiniert, die sich in Examens- und Pro-

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motionszahlen, Publikations- und Zitierhäufigkeiten, Hörerzustimmung, Mitarbeiterzufriedenheit, Frauenförderung und eingeworbenen Geldern berechnen lassen. Die Systemtheorie hat bei ihrer Prognose der führenden Rolle der Wissenschaft die Riskantheit des Mediums Wahrheit unterschätzt. Zwar werden auch in Wirtschaft, Kunst, Religion und Familie Vorleistungen erbracht, deren Ertrag ungewiß ist. Aber wenn die Vorleistung zur Fehlinvestition wird, wenn die Anlage sich nicht amortisiert, das Gemälde nicht gelingt, der Glaube enttäuscht oder die Ehe geschieden wird, treffen die Verluste den einzelnen. Bei der Wissenschaft treffen sie die Gesellschaft. Unterschätzt hat die Systemtheorie auch den Gewinn, den die Gesellschaft aus symbolischen Problemlösungen zieht. Die an den Bemühungen statt an den Ergebnissen ansetzende Steuerung ist symbolisch; sie versorgt die Gesellschaft nicht mit besserer Wissenschaft, aber mit deren Illusion. Unterschätzt hat die Systemtheorie bei ihrer Prognose schließlich das Recht. XI. Die Kapazität des Rechts zur Bewältigung der Komplexität der Welt ist so groß, daß das Recht die Wirtschaft als führendes System ablösen konnte. Sie ist zum einen groß, weil das Recht sich auf alles beziehen läßt. Jedes Verhalten und jeder Zustand in Politik und Wirtschaft, Kunst, Religion und Familie kann als Recht oder Unrecht oder auch, um den Anschluß an die Normativität von Moral und Ethik zu wahren, als gut oder böse qualifiziert werden. Sind normative Qualifizierungen eines Zustands schwierig, weil er naturgegeben oder -bedingt, ein Ergebnis des Zufalls und keinem Urheber zuzurechnen ist, bleiben doch normative Qualifizierungen des Verhaltens, das an den Zustand anschließt und mit ihm umgeht. So weit wie die normativen Qualifizierungen greifen die anderen systemspezifischen Kommunikationsmedien nicht steuernd

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aus. Religiöses Verhalten wirtschaftlich oder familiäres politisch zu qualifizieren, macht nur ausnahmsweise Sinn, und obwohl Kunst in den Dienst von Politik und Religion gestellt und als Ware gekauft und verkauft werden kann, hat sie doch, anders als das Recht, im politischen, religiösen und wirtschaftlichen System keine Steuerungsfunktion. Die Kapazität des Rechts zur Bewältigung der Komplexität der Welt ist zum anderen groß, weil Normativität kontrafaktisch ist und lernunwillig durchgehalten wird. Komplexität wird auch dadurch bewältigt, daß man die Augen vor ihr verschließt. Eben weil Lernunwilligkeit ein Moment des AugenVerschließens enthält, taugen Recht und Gerechtigkeit zur Bewältigung der Welt. Das kann gröber oder feiner funktionieren und von der Beschimpfung einer fremden politischen Wirklichkeit als Reich der Finsternis oder Schurkenstaat bis zur Schaffung internationaler Strafgerichtsbarkeit gehen, von der Erfassung ökonomischer und sozialer Veränderungen durch Stilisierung der Beteiligten zu Tätern oder Opfern bis zur Schaffung rechtlicher Formen für bislang formloses Zusammenleben. Stets erlauben die normativen Qualifizierungen, wichtige Befunde auszublenden: die tatsächliche Beschaffenheit der fremden politischen Wirklichkeit, die Bedingungen, unter denen die strafrechtlich verfolgten Taten möglich wurden, das Ausmaß der ökonomischen und sozialen Veränderungen und die Bedürfnisse, die sich in der Formlosigkeit zur Geltung bringen. Stets steckt daher in den normativen Qualifizierungen etwas Illusionäres. Daß das Recht im System der Systeme die führende Rolle angetreten hat, ist auch ein Erbe des Natur- oder Vernunftrechts. Die Entwicklung der Verrechtlichung und Vergerechtlichung kann und konnte so erfolgreich sein, weil sie sich als Entwicklung der Anerkennung und Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit versteht und verstand. In natur- und vernunftrechtlicher Tradition sieht sie die Menschen mit Rechten begabt, die es nur noch anzuerkennen und durchzusetzen gilt.

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Recht und Gerechtigkeit werden nicht geschaffen, sondern sind immer schon da und können und müssen nur noch zu allseitiger Geltung gebracht werden. Die allseitige Geltung ist auch schon angelegt – innerstaatlich in Verwaltung und Justiz, weltweit in den großen, mächtigen Staaten und staatlichen und nichtstaatlichen internationalen Organisationen, die alle Recht und Gerechtigkeit in der Welt zu ihrem Programm erklärt haben. Zu den schon erwähnten Problemen der Verrechtlichung kommt damit ein weiteres. Denn die Erwartung, Recht und Gerechtigkeit seien immer schon da und ihre Anerkennung und Durchsetzung immer schon angelegt, ist wieder illusionär und verkennt, daß Recht und Gerechtigkeit allererst geschaffen werden müssen und daß dies eine voraussetzungsreiche und mühevolle Aufgabe ist. Manchmal erledigen andere Staaten oder Organisationen sie für ein Land, und vielleicht wird diese Erfahrung dem Land ein Anstoß zur eigenen Erledigung. Die Erwartung, die anderen würden es tun, kann die eigene Erledigung, auf die letztlich alles ankommt, aber auch hintanstellen. Ob den Ländern, deren staatliche Verbrechen durch die internationale Strafgerichtsbarkeit abgeurteilt werden, damit ein Dienst erwiesen wird, muß sich erst noch zeigen.

XII. Gegenstand der vorliegenden Überlegungen ist eine Bestandsaufnahme. Aber der Wechsel vom empirischen zum normativen Paradigma bei der Wahrnehmung der Welt und beim Verhalten in ihr bringt auch einen Wandel der Warnung mit sich, die dem empirischen Paradigma inhärent war. Unter dem empirischen Paradigma galt es, bei der Wahrnehmung der Welt und beim Verhalten in ihr Recht und Gerechtigkeit gegen die Wirklichkeit zu behaupten. Die Diskussion um den vor rund 100 Jahren geläufig gewordenen Begriff der

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Normativität des Faktischen hat immer wieder warnend darauf beharrt, daß die Wirklichkeit sein mag wie auch immer, noch so etabliert, traditionsgesättigt und veränderungsresistent – sie ist darum noch lange nicht Recht und gerecht. Zumal als die autoritären und totalitären Systeme auf der organischen Gestalt der Gesellschaft, der Überlegenheit von Rasse oder Klasse oder einfach ihrer Stärke und Macht bestanden, waren nicht nur die Tatsachen richtigzustellen, sondern auch unabhängig von und entgegen allem Faktischem auf Recht und Gerechtigkeit zu beharren. Wir haben den bewundern gelernt, der sich durch Widrigkeiten und Niederlagen in seinem Festhalten an Recht und Gerechtigkeit nicht hat irremachen lassen. Angesichts von Resignation vor übermächtiger, ungerechter Wirklichkeit galt es den warnenden Zuruf: Aber es ist nicht gerecht! In einer verrechtlichten und vergerechtlichten Welt gilt es den gegenteiligen Zuruf: Aber es ist nicht so! Ihr Palästinenser habt gekämpft und verloren, ihr Afrikaner tut nicht, was ihr für eine Verbesserung eurer Lage tun könntet, du Arbeitsloser hast den falschen Beruf gewählt oder lebst am falschen Ort, du Sozialhilfeempfänger hast dein Leben schlecht geplant oder gestaltet, ihr, die ihr euch mit dem Lernen und Arbeiten schwertut, schafft eben nur mit größerer Anstrengung, was andere mit geringerer schaffen. Im empirischen Paradigma war einer Fixierung auf die Wirklichkeit das Aber des Rechts und der Gerechtigkeit entgegenzuhalten. Im normativen Paradigma hat es sich erledigt, weil die Wahrnehmung der Wirklichkeit mit der Wahrnehmung von Recht und Gerechtigkeit beginnt. Im normativen Paradigma ist gegen eine verrechtlichte und vergerechtliche Wahrnehmung das Aber der Wirklichkeit zu stellen. Vermutlich hätte mein Lehrer, hätte ich auf dem normativen Paradigma und meinem Recht auf eine gerechte Englischnote bestanden, auch seinerseits insistiert und mir unbefangen vorgehalten, daß er keine andere Möglichkeit sehe, mich ans Tur-

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nen zu kriegen. Ich gäbe mir im Turnen keine Mühe, weil ich ein arroganter Schnösel sei und meinte, mir aussuchen zu können, wo ich mich anstrengen müsse und wo nicht. Es sei an der Zeit, daß ich mich auch da anstrengte und lernte, wo mir nicht danach sei. Ums Lernen gehe es und nicht um die Gerechtigkeit. Vielleicht hätte er mir unbefangen gesagt, daß die Aufgabe der Schule auch sei, auf die Ungerechtigkeit des Lebens vorzubereiten. Ich habe die Lektion gelernt, mir im Turnen Mühe gegeben und beim nächsten Zeugnis in Englisch und Turnen eine Zwei bekommen. Ich neide den heutigen Schülern die gerechteren Noten nicht. Trotz der Herrschaft des normativen Paradigmas müssen auch sie lernen, was ich in der Schule gelernt habe – auf andere Weise, in anderem Kontext, zu späterer Zeit. Je später sie es lernen, desto schwieriger und schmerzhafter wird es. Ebenso schneiden Reformen um so schärfer und tiefer ein, je länger die Gesellschaft sich weigert, die Veränderungen der Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen. Unter der Herrschaft des normativen Paradigmas werden die Rechnungen später präsentiert, sind dann aber höher. Daß die Sensibilität für Recht und Gerechtigkeit gewachsen ist, ist kein Schaden. Der Schaden liegt in der Absolutheit, mit der das normative Paradigma die Verwirklichung von Recht und Gerechtigkeit der Verwirklichung anderer Ziele vorordnet. Manchmal können Unrecht und Ungerechtigkeit politisch, wirtschaftlich oder pädagogisch sinnvoll und sittlich vertretbar sein, und in der Liebe geht es ohnehin nicht fair zu. Immer ist die Wirklichkeit so, wie sie ist. Immer gilt es, sie richtig zu sehen und ernst zu nehmen, ob man sie mit gutem Grund lieber anders, besser, gerechter hätte oder nicht. Immer ist die Entscheidung, auf die Gerechtigkeit gegen die Wirklichkeit oder auf diese gegen jene zu setzen, eine zu verantwortende Entscheidung, die ihren Preis hat. Daß das normative Paradigma den Preis entfallen lasse, ist nur ein schöner Schein.

Im Namen des Gesetzes Von Michael Stolleis I. Folgt man Hasso Hofmann in der Einleitung zur 4. Aufl. seines Klassikers „Repräsentation“, dann zeigt sich nicht nur eine erstaunliche Vitalität des alten Wortes „repraesentatio“, sondern auch eine verwirrende Vielfalt der Kontexte1. An der Debatte beteiligt sind Neurobiologie und Kognitionswissenschaft, Religionsphilosophie, Ästhetik und Bildtheorie, Philosophie der symbolischen Formen (Cassirer), die Analyse von Zeichen, Sozialpsychologie und Erkenntnistheorie2. Soweit die symbolische Sichtbarmachung eines Unsichtbaren auch in den Fokus moderner analytischer Philosophie geraten ist, unterliegt sie einem generellen Metaphysikverdacht. Dass sich in einem irdischen Phänomen, selbst nur ein fragiles Produkt subjektiven Bewusstseins, ein Nicht-Vorhandenes „spiegele“, erregt denkerisches Unbehagen. Gleichzeitig sind aber gerade Spiegelungen, symbolische Handlungen, Bedeutung hinter der Bedeutung für die postmoderne Reflexion ungemein attraktiv. Sicher scheint dabei nur, dass das selbstreflexive postmoderne Bewusstsein mit der „klassischen“ Re1 H. Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Vierte Auflage mit einer neuen Einleitung, Berlin 2003. 2 A. Gierer, Im Spiegel der Natur erkennen wir uns selbst. Wissenschaft und Menschenbild, Hamburg 1998; siehe auch, worauf Hofmann in seiner Einleitung hinweist, die Artikel „Repräsentation“ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 8, Basel 1992.

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präsentation nichts anzufangen weiß3. Das gleiche gilt für die Systemtheorie4. Scheinbar unabhängig von den erkenntnistheoretischen Problemen und den definitorischen Begrenzungen des Gesichtsfelds fragen die Historiker weiterhin danach, ob die frühmodernen Stände „Repräsentanten“ des Volkes waren5 oder ob man die Parlamente des 19. Jahrhunderts als „repräsentative“ Versammlungen anzusehen habe6. Die dabei angelegten Maßstäbe gelungener Repräsentation stammen vermutlich aus dem Traditionsgut des 19. und 20. Jahrhunderts, Zeiten also, in denen sich das demokratisch-parlamentarische Modell der Repräsentation durchsetzte. Wann, so lautet die Frage, können die Repräsentanten „mit Recht“ von sich behaupten, sie dürften „im Namen“ der von ihnen Vertretenen sprechen und entscheiden? „Im Namen“ einer Gottheit, einer Institution, einer anderen Person zu handeln, ist offenbar die wichtigste rhetorische Figur, die einem Sprecher Autorität und Zwangsgewalt beschert. Wer „im Namen“ eines anderen handelt oder auftritt, ist Stellvertreter oder Repräsentant, „erscheint“ für jemanden anderen, gewinnt dessen Ansehen und Macht. Wenn wir dieser Spur folgen, dann in strikter Begrenzung der Perspektive und mit nicht mehr als der Absicht, einen kurzen Gang durch einige Formeln zu machen, die um das Wort „Name“ kreisen7. 3 K. Behnke, Krise der Repräsentation, in: Ritter / Gründer, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8 (Fn. 2), Sp. 846 – 853. 4 H. Hofmann, Vorwort zu: Repräsentation (Fn. 1), 5. 5 Umfassend und kritisch hierzu B. Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes? Konzepte landständischer Repräsentation in der Spätphase des Alten Reiches, Berlin 1999. 6 M. Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert – Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp – Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999. 7 Wo die etymologischen Wurzeln des Namens sich verzweigen, ob beim griechischen ónoma, beim lateinischen nomen (was Adelung bestreitet) oder wo sonst, kann hier nicht verfolgt werden.

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In nomine Patris, et Filii, et Spiritus Sancti. Amen. Introibo ad altare Dei. So begann bis zum II. Vaticanum in der katholischen Welt das Stufengebet der hl. Messe8. Und nochmals hieß es kurz darauf: Adjutorium nostrum in nomine Domini (Unsere Hilfe ist im Namen des Herrn). In der Messe wurde gesungen: Benedictus, qui venit in nomine Domini. Der evangelische Gottesdienst beginnt im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Räume und Handlungen werden geheiligt, wenn sie unter den „Namen Gottes“ gestellt werden, fehlbare Menschen gewinnen eine sakrale Aura, wenn sie „im Namen Gottes“ handeln. Der Name des Herrn soll nicht missbraucht werden, gebietet Gott durch Moses (2. Mose 20,6; 5. Mose 5,10). Heiliges soll nicht durch Profanierung entwertet oder gar im Fluch in sein Gegenteil verkehrt werden. So ist das Alte Testament voll von frommen Berufungen auf den Namen des Herrn, etwa bei Hiobs Ergebung in das Unglück (Hiob 1,21), bei den Propheten oder in den Psalmen. Im Neuen Testament setzt sich dies fort. Christus spricht: „Ich bin gekommen in meines Vaters Namen“ (Joh. 5,45) und Petrus spricht, es „lasse sich ein jeglicher taufen auf den Namen Christi“ (Apostelg. 2,38) und Paulus mahnt: „Tut alles in dem Namen des Herren Jesu“ (Col. 3,17). Christus warnt aber auch vor Erschleichung von Autorität: „denn es werden viele kommen unter meinem Namen, und sagen, ich bin Christus“ (Matth. 24,5). – So haben im Namen Gottes die Frommen (manchmal auch die Unfrommen) aller Zeiten Kinder getauft, Grundsteine gelegt, Sitzungen eröffnet, Schlachten begonnen, Glocken gegossen, Entscheidungen jeder Art getroffen. „Im Namen Gottes“ war die einleitende Formel 8 Volks-Schott. Kleines Messbuch für die Sonn- und Feiertage im Anschluß an das größere Messbuch von P. Anselm Schott O.S.B., 5. Aufl. Freiburg i.Br. 1933, 6 f. – So steht es auch, ironisch zitierend, im ersten Absatz des ersten Kapitel des Ulysses von James Joyce: „He (Buck Mulligan) held the bowl aloft and intoned: – Introibo ad altare Dei“. Zu den Anspielungen auf die Messfeier allein auf der ersten Seite des Romans siehe die kommentierte Ausgabe des Ulysses von Dirk Vanderbeke u. a., Frankfurt a.M. 2004, 7 – 9.

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bei allen wichtigeren Handlungen, jedenfalls solchen, die das Licht der Öffentlichkeit nicht zu scheuen hatten. Ziehen wir die Wörterbücher heran und lassen die Etymologie von „Name“ beiseite, dann erfahren wir, dass „im Namen jemandes handeln“ eine Form der Repräsentation darstellt, aber auch, dass man zu einem Entschluss gelangt ist („in Gottes“, oder „in Dreiteufels Namen“)9 oder dass man sein Schicksal Gott befiehlt: „Leget euch ihr Brüder, in Gottes Namen nieder“ (Claudius). Bei Grimm10 heißt es „in jemandes namen, mit nennung seines namens sich auf ihn berufend, in seinem auftrage, ihn vertretend, an seiner statt, für ihn . . . Bei appellativen, im namen des gesetzes, der freiheit, tugend, wahrheit usw. . . . Im namen der vernunft . . . im namen der ewigen güte . . . Im namen der unschuld . . .“ Mehrfach wird Schiller zitiert: „Im namen der regierung! . . . ich verhafte euch“. 4,218 (Schiller) und „In des kaisers namen! Haltet an und steht!“ (Schiller 14, 353, Tell 3,3). Die Zahl der Belege ist insgesamt überwältigend11. Stets geht es um Handeln für einen Abwesenden, um die verstärkende Anrufung der Autorität und um die legitimierende Bezugnahme auf ein Höheres. II. Dieser Befund bestätigt sich auch innerhalb rechtlicher Kontexte, etwa in Verfassungen. Die schweizerischen Bundesverfassungen von 1848 und 1874 begannen feierlich mit den Worten „Im Namen Gottes des Allmächtigen!“12. Die griechische Verfassung von 1975 rief die orthodox verstandene 9

H. Paul, Deutsches Wörterbuch, 10. Aufl. Tübingen 2002, 691. J. u. W. Grimm, Deutsches Wörterbuch Bd. 13, Leipzig 1889, Sp. 335. 11 Siehe auch die CD-ROM „Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka, Berlin 1997. 12 A. Kölz (Hrsg.), Quellenbuch zur Neueren Schweizerischen Verfassungsgeschichte. Vom Ende der alten Eidgenossenschaft bis 1848, Bern 1992, Nr. 44; D. Willoweit / U. Seif, Europäische Verfassungsgeschichte, München 2003, 613. 10

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Trinität an, das katholische Irland formulierte den Introitus der Verfassung von 1937 „Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit“13. Verfassungen in stärker säkularisierten oder konfessionell gespaltenen Ländern verzichteten darauf oder evozierten den Namen eines deistisch verstandenen „Gottes“. Das war und ist in Europa nicht nur Traditionsgut oder rhetorische Demutsformel vor einem höchsten Wesen14, sondern in vielen Fällen auch Evokation eines transzendental verankerten Rechtsbezugs und eine Art Abwehrzauber gegen eine entgötterte Welt. Darin liege, so eine schweizerische Stimme von 1977, „ein Bekenntnis zur Relativität aller staatlichen Macht“, und es zeige sich, dass das Volk „seinen Staat nicht als das Höchste betrachte, sondern dass es einen göttlichen Auftrag zur Verwirklichung einer menschenwürdigen Ordnung des Zusammenlebens anerkenne“15. Peter Häberle hat in einem materialreichen Aufsatz „Gott“ im Verfassungsstaat vielfältige Bezüge in Präambeln, Eidesformeln, Erziehungszielen und Feiertagsgarantien beobachtet, gegliedert und in sein spezifisches kulturverfassungsrechtliches Konzept eingeordnet16. Im Folgenden soll aber nicht dieses Feld von „Gott im Grundgesetz“17 oder um die inzwischen halbwegs erledigte 13 Siehe JöR 32 (1983) 360; P. C. Mayer-Tasch, Die Verfassungen der nichtkommunistischen Staaten Europas, 2. Aufl. 1975, 261. 14 In diesem nüchternen begrenzenden Sinn H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. Tübingen 2004, Präambel, Rn. 28 ff. 15 Schweizerische Expertenkommission zur Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung, zitiert nach P. Häberle, „Gott“ im Verfassungsstaat, in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates Berlin 1992, 214. 16 Häberle (Fn. 15). Hierzu auch F. Czermak, „Gott“ im Grundgesetz?, in: NJW 1999, 1300 – 1303; H. P. Schneider, „Gott im Grundgesetz“? Muß ein zukünftiges Religionsverfassungsrecht auf „Gottestexte“ verzichten? in: W. Greive (Hrsg.), „Gott im Grundgesetz“, Loccumer Protokolle 14 / 1993, 1994, 10 ff.; G. Essen, Sinnstiftende Unruhe im System des Rechts. Religion im Beziehungsgeflecht von modernem Verfassungsstaat und säkularer Zivilgesellschaft, Göttingen 2004 m. w. Nachw. 17 Die vielfach diskutierte Formel wird häufiger verwendet seit E. Behrendt, Gott im Grundgesetz, (Eigenverlag) 1980. Vgl. dazu nochmals die Kommentierung der Präambel durch H. Dreier (Fn. 14) m. w. Nachw.

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Frage nach dem Gottesbezug in der Europäischen Verfassung betreten werden18. Die hier ausgefochtenen semantischen Kämpfe sollte man nicht unterschätzen. Es handelt sich nicht um irrelevante Wortspielereien, sondern vor allem um die Sorgen der christlichen Kirchen um die faktisch unbestreitbare Erosion ihres Einflusses in einem kulturellen Umfeld, das entweder säkularisiert oder fundamentalistisch nicht-christlich erscheint. Deshalb soll nicht nur die humanistische, sondern auch die christliche Tradition des Abendlands konstitutionell verankert werden. Staaten mit einem integrativen System der Beziehungen zwischen Staat und Kirche wie Deutschland stehen dem positiver gegenüber als Staaten mit einem traditionell scharf ausgeprägten Trennungssystem wie Frankreich. In praktische Politik umgesetzt könnten die Protagonisten des Bezugs auf den „christlichen“ Gott hoffen, Staaten mit islamischen Mehrheiten, selbst wenn diese sich laizistisch definieren, von der Europäischen Union fernhalten. Unabhängig von solchen Nebenzwecken erklären sich aber auch kulturkritische und wertphilosophisch orientierte Stimmen für eine Verfassungsgebung „im Namen Gottes“, um durch konstitutionelle Verankerungen dem Verlust an Transzendenz und der Relativierung der sittlichen Wertordnung entgegenwirken zu können. Daneben mag in der Betonung des Gottesbezugs auch noch eine Abwehrhaltung gegen „Sozialismen“ aller Art mitschwingen, weil deren Antiklerikalismus und Freidenkertum im 19. und frühen 20. Jahrhundert unvergessen sind. Beschränken wir das Blickfeld auf die Legitimation der Dritten Gewalt durch Bezugnahme auf eine höhere und in charakteristischer Weise wechselnde Autorität. Dort signalisiert die Anrufung eines Namens (invocatio), dass das kon18 Zur Präambel der niedersächsischen Verfassung vom 19. Mai 1993 siehe H.-G. Aschoff (Hrsg.), Gott in der Verfassung. Die Volksinitiative zur Novellierung der Niedersächsischen Verfassung, Hildesheim 1995. In Hessen wird derzeit diskutiert, ob bei einer Überarbeitung der Verfassung in gleicher Weise die Formel aus der Präambel des Grundgesetzes „ . . . Verantwortung vor Gott“ übernommen werden solle (Hess. Landtag Drucks. 16 / 1897 neu).

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krete Urteil seine rechtliche Kraft daraus bezieht, dass es nicht vom zufällig zuständigen und urteilenden Gericht, sondern von einer höheren Macht empfange. Unverkennbar transportiert die Anrufung des (höheren) Namens vor Gericht sakrale Momente. Das Zeremoniell des Gerichtssaals ähnelt weitgehend dem des Gottesdienstes. Die mit Talaren bekleideten Richter betreten den Raum, die Anwesenden erheben sich und es wird ihnen gestisch bedeutet, sie dürften sich setzen. Unter Anrufung einer höheren Autorität „Im Namen . . .“ wird der entscheidende Text, die Urteilsformel, verlesen und anschließend interpretiert, gegebenenfalls mit Ermahnungen an die Betroffenen versehen. Das ist eine nahezu exakte Kopie des kirchlichen Ritus: Introitus des in den Talar gekleideten Priesters, Anrufung des Namens Gottes, Erhebung der Gemeinde, Verlesung des zentralen Textes und dessen anschließende Erläuterung in der Predigt, einschließlich der Ermahnungen, sich künftig besser an Gottes Wort zu halten. Aber in wessen Namen sprechen die Richter? Die Antwort auf diese Frage öffnet Fenster, durch die man auf die jeweilige Verfassungsstruktur und die Stellung der Judikative in ihr blicken kann. Als Napoleon 1807 für seinen Bruder Jerôme und dessen neues Königreich Westphalen eine Verfassung sowohl entwarf als auch dekretierte19, war das Ancien Régime in der Revolution versunken, aber das neue Kaisertum restaurierte unverzüglich den monarchischen Bezug der Rechtsordnung, ohne die direkte Legitimierung durch die Volkssouveränität oder die indirekte durch Bezug auf einen Parlamentswillen auch nur zu versuchen. Art. 52 dieser Verfassung vom 7. Dezember 1807 ordnete an: „Die Urteile der Gerichtshöfe und Tribunale werden im Namen des Königs ausgesprochen. Er allein kann Gnade erteilen, die Strafe erlassen oder mildern.“ Ebenso sagte der letzte Mainzer Kurfürst und Frankfurter Großherzog Karl Theodor von Dalberg in der Verfassung seines neuen Großherzogtums Frankfurt v. 16. August 1810, § 40: 19

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„Die Urteile der Gerichtshöfe werden in Unserm Namen ausgesprochen. Wir behalten Uns das Recht vor, die Kriminalstrafen zu mildern oder zu erlassen“. Das war einerseits die erneuerte Sprache des Absolutismus20, andererseits aber im Kontext der ganzen Verfassung doch schon ein Übergang vom Absolutismus zum konstitutionellen Zeitalter. Der Herrscher vereinigte in sich ungetrennt Exekutive und Judikative; Zugeständnisse an den Zeitgeist gab es allenfalls bei der Legislative. Der wichtigste Unterschied zu früher lag darin, dass die nunmehr geschriebene Verfassung neue Herrschaft legitimierte21. Auch die französische Charte constitutionelle von 1814, obwohl sie sich mit der Anerkennung von Grundrechten und einem Zweikammersystem weiter öffnete, ließ doch die Gerichtsbarkeit weiter im Namen des Königs urteilen. Das vom König allein sanktionierte und promulgierte Gesetz (Art. 22) wurde durch vom König ernannte Richter verwaltet: „Toute justice émane du roi. Elle s’administre en son nom par des juges qu’il nomme et qu’il institue“22. Dieser Linie folgten auch die süddeutschen Verfassungen ab 1818, etwa die bayerische, die erklärte: „Die Gerichtsbarkeit geht vom Könige aus. Sie wird unter seiner Oberaufsicht durch eine geeignete Zahl von Aemtern und Obergerichten in einer gesetzlich bestimmten Instanzen-Ordnung verwaltet“ (VIII, § 1). Ein Jahr später hieß es in Württemberg: „Die Gerichtsbarkeit wird im Namen des Königs und unter dessen Oberaufsicht durch collegialisch gebildete Gerichte in gesetzlicher Instanzen-Ordnung verwaltet . . .“ (§§ 92, 93 Verfas20 Als Beispiel für diesen Sprachgebrauch siehe etwa Goethe, Egmont, 5. Aufzug, wo es heißt: „Im Namen des Königs, und kraft besonderer von seiner Majestät uns übertragenen Gewalt, alle seine Untertanen . . . zu richten, erkennen wir . . . .“. Egmonts Gegenfrage lautet: „Kann die der König übertragen?“ 21 D. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866, Frankfurt a.M. 1988, 39 – 42. 22 Charte Constitutionelle vom 4. – 10. Juni 1814, in: Willoweit / Seif (Fn. 12), 481 ff. (492).

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sungsurkunde für Württemberg, 1819)23. Ebenso fünfzehn Jahre später das Grundgesetz des Königreichs Hannover von 1833: „Die Gerichtsbarkeit geht vom Koenige aus und wird durch die ordentlichen Gerichte des Landes geuebt, ueber welchem Demselben die Aufsicht zusteht“ (§ 9). Mit anderen Worten, die richterliche Gewalt war Teil der in der Hand des Monarchen vereinigten Machtfülle24, sie galt gewissermaßen als Nebenabteilung der Exekutive, auch wenn es nun Garantien der Unabsetzbarkeit der Richter (nicht allerdings der Unversetzbarkeit) gab. Diejenigen Lehrbücher des Vormärz, die im Gegensatz zur faktischen Verfassungslage schon von einer unabhängigen Dritten Gewalt ausgingen, hatten deshalb gewisse systematische Schwierigkeiten, wenn sie der Dritten Gewalt ihre Stelle zuweisen sollten25.

III. Wollte man die Dritte Gewalt dem Monarchen deutlicher als bisher entziehen und ihre Unabhängigkeit auch semantisch stärken, dann bot sich im Vormärz eine Lösung an, die sich auch bei der Frage zu bewähren begann, wo der Sitz der Souveränität zu suchen sei. Dort bestand für die liberale Mitte der Staatsrechtler das Dilemma, wie man einerseits dem monarchischen Prinzip entkommen könne, ohne andererseits dem revolutionär kontaminierten Prinzip der Volkssouveränität zu folgen, bekanntlich darin, zwischen Fürsten- und Volkssouveränität die juristische Person des Staates (persona moralis) als 23 Über dem Urteil stand „wie eine säkularisierte Verbalinvokation der Anruf des ideellen Trägers der Gerichtshoheit ,Im Namen des Königs‘“, so P.-C. Müller-Graff, Zur Geschichte der Formel „Im Namen des Volkes“, ZZP 88 (1975) 442 – 450 (445). 24 R. Maurenbrecher, Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts, Frankfurt a.M. 1837, §§ 189, 190 spricht in diesem Sinn von „der richterlichen Gewalt der Regenten“. 25 M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2 (1800 – 1914), München 1992, 116 ff.

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Träger zu installieren und den Monarchen, aber eben auch das Parlament, zu „Organen“ dieser juristischen Person zu machen. Das war die berühmte Akzentverlagerung, die durch Wilhelm Eduard Albrechts Rezension von Romeo Maurenbrechers „Grundsätzen“ von 1837 vollzogen wurde26. Diese Wendung zur „wahrhaft staatsrechtlichen“ Auffassung des Staates war ein kluger Vermittlungsvorschlag, um dem genannten Dilemma zu entkommen27. Ulrich Scheuners Satz, man wundere sich „wie jemals ein so schwacher Gedanke in den Ruf einer wissenschaftlich bedeutenden Wende gelangen konnte“28, ist deshalb schwer nachzuvollziehen. Es hätte in der Konsequenz dieses Gedankens gelegen, die Justiz nun nicht mehr im Namen des Königs oder des Volkes sprechen zu lassen, sondern „im Namen des Staates“. Damit wäre sie dem Monarchen entwunden und neutralisiert gewesen, aber gleichzeitig auch nicht dem demokratischen Willen des „Volkes“ überantwortet. Rechtsprechung „im Namen des Staates“ wäre so vielleicht die ideale Formel gewesen, um auch die das 19. Jahrhundert prägende Verstaatlichung der Justiz durch Beseitigung der gutsherrlichen Gerichtsbarkeit29, der Zunftgerichtsbarkeit, der Universitätsgerichtsbarkeit und 26 E. A. (= Wilhelm Eduard Albrecht), Rezension in den Göttingischen gelehrten Anzeigen 1837, S. 1489 ff. (Nachdruck Darmstadt 1962). 27 Siehe auch G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (3. Ausgabe 1830), § 542, wo er erklärt, die „Vereinigung aller konkreten Staatsgewalten in eine Existenz wie im patriarchalischen Zustande oder wie in der demokratischen Verfassung, der Teilnahme aller an allen Geschäften, widerstreitet für sich dem Prinzip der Teilung der Gewalten, d.i. der entwickelten Freiheit der Momente der Idee“. Auch für ihn ist der verfasste, öffentlich handelnde Staat in Form der konstitutionellen Monarchie der eigentliche Königsweg zwischen überholter patriarchalischer und allzu gefährlicher demokratischer Verfassung. 28 U. Scheuner, Staatstheorie und Staatsrecht, Gesammelte Schriften, Berlin 1978, S. 93 Fn. 60. Hierzu nunmehr eingehend H. Uhlenbrock, Der Staat als juristische Person. Dogmengeschichtliche Untersuchung zu einem Grundbegriff der deutschen Staatsrechtslehre, Berlin 2000. 29 M. Wienfort, Patrimonialgerichtsbarkeit in Preußen. Ländliche Gesellschaft und bürgerliches Recht 1770 – 1848/49, Göttingen 2001.

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anderer Reste des Ständestaats auszudrücken. Die Formel hätte auch zu allen hegelschen Überhöhungen der Staatsidee30 einerseits, und zum positivistischen Objektivitätsanspruch einer konstruktiven „Begriffsjurisprudenz“31 andererseits gut gepasst. Denn Hegel erklärte die Rechtspflege sowohl „als Pflicht wie als Recht der öffentlichen Macht“ (Rphil § 219), und zwar als eine in der Öffentlichkeit zu vollziehende Staatshandlung, in der das Besondere der bürgerlichen Gesellschaft mit dem Allgemeinen, dem abstrakten Gesetz, zusammengeführt werde (§§ 224, 229), und es ist bekannt, dass er im Staat die „Einheit und Wahrheit“ der „einseitigen Formen des sittlichen Geistes“ zu finden hoffte32. Aber die Formel „im Namen des Staates“ findet sich doch erstaunlich selten, und manchmal verschwindet sie umgehend wieder. Im Staatsgrundgesetz der Fürstentümer Waldeck und Pyrmont vom 23. Mai 1849 heißt es in § 101: „Alle Gerichtsbarkeit geht vom Staate aus“, und § 102 sagt abstrakt: „Die richterliche Gewalt wird selbständig von den Gerichten geübt“. Aber schon drei Jahre später – das Gespenst der Revolution scheint gebannt – kehrt man selbst in dieser DuodezHerrschaft wieder zum alten Ton zurück und erklärt: „Die richterliche Gewalt wird im Namen des Fürsten durch unabhängige Gerichte ausgeübt, . . .“33. 30 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1821, §§ 257 ff. 31 R. Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat? Zur Justiztheorie im 19. Jahrhundert, Frankfurt 1986; U. Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid. Erkundungen auf den Feldern der sogenannten Begriffsjurisprudenz, Frankfurt a.M. 1989; H.-P. Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, Frankfurt a.M. 2004. 32 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Dritter Teil, §§ 377 ff. (§ 408, Zusatz). Siehe dort auch § 537: „Das Wesen des Staates ist das an und für sich Allgemeine, das Vernünftige des Willens, aber als sich wissend und bestätigend schlechthin Subjektivität und als Wirklichkeit ein Individuum“. 33 F. Wittreck (Hrsg.), Weimarer Landesverfassungen. Die Verfassungen der deutschen Freistaaten 1918 – 1933, Tübingen 2004, S. 672 = Verfassungsurkunde für die Fürstentümer Waldeck und Pyrmont vom 17. August 1852, § 74.

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Abb. 1: Titelseite des sogenannten Weber-Urteils von 1893, mit dem das polizeiliche Aufführungsverbot des Hauptmann-Dramas „Die Weber“ aufgehoben wurde

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Warum also, könnte man fragen, war die Formel „Im Namen des Staates“ kein Erfolgsmodell? Die einfache Antwort hierauf scheint zu sein, dass es in Europa seit 1789 ein Abstraktum gab, das für die nun in Kraft gesetzten Repräsentativverfassungen den allgemeinen Willen als geltend darstellte, nämlich das Gesetz. Das Gesetz, seit dem 13. Jahrhundert im kirchlichen Raum als zentrales Steuerungsmittel entdeckt34, war allmählich auch von den weltlichen Gewalten übernommen worden. Die „potestas condendi leges“ wurde im Laufe des 16. Jahrhunderts zum Herrscherrecht par excellence, sie erschien als Befugnis, generell und individuell rechtlich befehlen zu können, das vornehmste und wichtigste Element der Souveränität35. Der frühmoderne europäische Staat wurde, indem er sich gesetzgebend zum „Staat“ formte, der große Legislator, sei es durch Massen von Normen der „Policey“, sei es in mehreren Anläufen seit dem 17. Jahrhundert auch als Kodifikator der Gesellschafts- oder wenigstens der Zivilrechtsordnung. Dieser Staat entstand durch das Medium der zentralisierten Gesetzgebung, er bildete sich als „lernendes System“. Beherrschung und Neuordnung des Raums, seine Abgrenzung nach außen, seine Strukturierung nach innen sind die ineinander verschränkten Tendenzen. Die damit verbundenen Erscheinungen, die Verdichtung des Rechts, die Professionalisierung der Juristen, die wachsende Selbstbindung auch der staatlichen Organe bis etwa 1800, sind häufig Gegenstand beschreibender Erfassung gewesen. Ebenso bekannt ist die grundlegende Umstellung des ganzen Komplexes durch die amerikanische Revolution ab 1776 und die französische ab 1789. Nun war, mindestens ideell, 34 Grundlegend S. Gagnér, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, Uppsala 1960. 35 M. Stolleis, Condere leges et interpretari. Gesetzgebungsmacht und Staatsbildung in der frühen Neuzeit, in: ders., Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 1990, S. 167 – 196.

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nicht mehr die „Krone“ oder der absolutistische König der gesetzgebende Souverän, sondern das freie Volk auf freiem Grund (USA) oder die „Nation“ (Frankreich). Bei dieser Umstellung gewann das „Gesetz“ eine zentrale, ja gottähnliche Stellung. Aus ihm sprach ideell der Legislator Volk, und er versprach, sich selbst zu gehorchen. Das von allen beschlossene und deshalb für alle geltende Gesetz (nicht der Staat) bildete das Zentrum. Der alteuropäische Staat war immer noch der mit Misstrauen beobachtete Herrschaftsapparat der Unterdrückung, während das Gesetz, gewissermaßen „rein“ aus der volonté générale geboren, Gehorsam beanspruchen durfte. Deshalb war die Formel „Im Namen des Gesetzes“ die abstraktere, allen Zweifeln entrückte Legitimationsformel, speziell für die Übelzufügung des Strafurteils. Der Einzelne wurde bestraft „Im Namen des Gesetzes“, also im Namen der reinen Norm, der sich alle zu beugen hatten. In der französischen Revolutionsverfassung vom 3. September 1791 wurde die Souveränität der Nation statuiert („elle appartient à la Nation“, Tit.III, Art. 1), repräsentiert durch Parlament und König. Letzterer hatte zu geloben, dem Gesetz treu zu sein. Und allen wurde eingeschärft: « Il n’y a point en France d’autorité supérieure à celle de la Loi. Le Roi ne règne que par elle, et ce n’est qu’au nom de la Loi qu’il peut exiger l’obéissance ». Damit ist das entscheidende Wort gefallen: „Es gibt in Frankreich keine höhere Autorität als die des Gesetzes. Der König regiert nur durch dieses. Und nur im Namen des Gesetzes kann er Gehorsam verlangen“. Das klang noch nach konstitutionell gebändigter Staatsgewalt mit königlicher Prärogative. Als kurz darauf die Monarchie gefallen war, enthüllte sich die terroristische Seite des Identitätsdenkens. Im ersten Akt von Georg Büchners „Dantons Tod“ (1835) wird das System des sich selbst Gesetze gebenden und diesen Gesetzen gehorchenden Volkes als argumentum ad absurdum eingesetzt:

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Alle: Totgeschlagen! Totgeschlagen! Robbespierre: Im Namen des Gesetzes! Erster Bürger: Was ist das Gesetz? Robbespierre: Der Wille des Volks. Erster Bürger: Wir sind das Volk, und wir wollen, dass kein Gesetz sei; ergo ist dieser Wille das Gesetz, ergo im Namen des Gesetzes gibt’s kein Gesetz mehr, ergo totgeschlagen! Und am Ende des Dramas, im letzten Satz, wird Lucile Desmoulins Frau, die todessehnsüchtig „Es lebe der König!“ ausgerufen hatte, „Im Namen der Republik!“ zum Schaffott geführt. Nach diesem ersten Blutrausch „im Namen des Gesetzes“ hat das Gesetz einen langen Weg hinter sich gebracht. Zunächst war es ein Sicherungsmittel für Freiheit und Eigentum in den Händen der vormärzlichen Parlamente, dann im Gesetzespositivismus das Fundament des Rechtsstaats, dann das zentrale Interventionsinstrument des Sozialstaats, in den letzten fünfzig Jahren kontrolliert durch eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die (unabsichtlich) einen ganz wesentlichen Kursverlust des Gesetzes verursacht hat. Am Ende dieses Weges ist das Gesetzespathos der Französischen Revolution kaum noch verständlich. Das fanatische Zutrauen eines Robbespierre in die revolutionäre Kraft des Gesetzes, das die Feinde der Revolution zerschmettert und dessen nie sich schließendes Auge über dem Volk wacht, ist längst verschwunden36. Wenn heute „Im Namen des Gesetzes“ gesprochen oder verhaftet wird, dann etwa in einer so benannten Fernsehserie, die seit 1994 von Pete Ariel und John Delbridge gestaltet wurde, oder im Kriminalroman „Im Namen des Gesetzes“ von James Grippando (1977) sowie schließlich in dem Kinderspiel „Im Namen des Gesetzes“ (Anno Domini, Reihe Spiel von Urs Hostettler). Zu vermuten ist, dass die Formel heute dem 36 M. Stolleis, Das Auge des Gesetzes. Geschichte einer Metapher, 2. Aufl. München 2004.

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allgemeinen Bewusstsein eher durch Wildwest- und Kriminalfilme gegenwärtig ist als durch die Rituale des geltenden Rechts. Denn im geltenden Recht fristet die Formel nur noch ein Schattendasein, etwa im Recht der Eheschließung. Die nach 1945 von der britischen Besatzungsmacht eingeführte Urteilsformel „Im Namen des Rechts“, die das Gesetz im Zuge der antipositivistischen Naturrechtsrenaissance der ersten Jahre transzendieren sollte37, wurde schon 1950 durch „Im Namen des Volkes“ ersetzt. Das Ehegesetz v. 20. 2. 1946 bestimmte in § 14, der Standesbeamte habe die Ehe „im Namen des Rechts“ für wirksam geschlossen zu erklären38. Geheiratet wird aber inzwischen nicht „im Namen“, sondern „kraft Gesetzes“. Der Standesbeamte stellt die Frage, ob die Partner die Ehe miteinander eingehen wollen, um dann, nachdem die Eheschließenden diese Frage bejaht haben, auszusprechen, dass sie nunmehr „kraft Gesetzes rechtsmäßig verbundene Eheleute“ sind39. IV. In der bisher verfolgten Sequenz von „im Namen des Königs“ zu „im Namen des Gesetzes“ fehlen drei Formeln, denen ich in den Quellen nicht oder sehr selten begegnet bin, die aber als doch denkbare Varianten oder Mutationen doch immerhin erwähnt werden sollen. Es wäre nämlich denkbar gewesen, „im Namen der Verfassung“, „im Namen der Republik“ oder „im Namen der Nation“ Recht zu sprechen. 37 Siehe etwa den 1950 in Braunschweig geführten Prozeß gegen den NSPolitiker Dietrich Klagges (1891 – 1971), Az 1 Ks 17 / 49, Das Urteil erging „Im Namen des Rechts“ auf „lebenslänglich“ wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Klagges wurde nach sieben Jahren Haft begnadigt und erstritt 1970 vor dem BVerwG seinen Rentenanspruch. 38 ABl Kontrollrat S. 77, 294 (BGBl. II, 401 – 1). 39 § 1312 BGB. Zuvor: § 14 EheG, der die Formel „im Namen des Rechts“ vorschrieb, von der man nun durch die adverbiale Unterordnung „kraft Gesetzes“ abgerückt ist.

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Warum die Formel „im Namen der Verfassung“ nicht verwendet wurde, ist wohl relativ leicht zu erklären. Die Verfassung ist im alteuropäischen Bewusstsein erst nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Einfluss amerikanischen Rechtsdenkens zum obersten Wert aufgestiegen40. In neuerer Zeit mag eine Wiederentdeckung von Hans Kelsen in Deutschland eine Rolle spielen. Doch war im 19. und frühen 20. Jahrhundert der qualitative Unterschied zwischen Gesetz und Verfassung nur undeutlich ausgeprägt. Der „Vorrang der Verfassung“ ist jüngeren Datums41. Verfassungen waren zwar bedeutende textliche Landmarken, aber keine unmittelbar umsetzbaren Rechtstexte, wie wir das heute auf dem Hintergrund einer ausgefeilten Verfassungsrechtsprechung kennen. „Im Namen der Republik“ wäre wohl eine denkbare Formel gewesen, wenn man Republik nicht nur als Bezeichnung der nichtmonarchischen Staatsform, sondern als legitimierende Summe des Gemeinwesens verstanden hätte42. Die antimonarchistische Variante findet sich etwa in Österreich 1920, das danach ähnliche Wandlungen durchlebte wie Deutschland, aber heute zu „im Namen der Republik“ zurückgekehrt ist43. Für Deutschland wäre jedoch „Im Namen der Republik“ niemals eine politisch durchsetzbare Variante gewesen. Der antimonarchische Impetus war ebenso schwach wie das Verständnis von „Republik“ als Grundlage der Zivilgesellschaft. Die Weimarer Republik blieb deshalb 1919 bei ihrem traditionel40 Die Formel von Dolf Sternberger und Jürgen Habermas vom „Verfassungspatriotismus“ aus den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts spricht ebenso dafür wie der zunehmende Gebrauch des Buchtitels „Verfassungslehre“ (G. Haverkate / P. Häberle), der sich nun außerhalb der bisherigen Konnotation mit Carl Schmitt zu entwickeln scheint. 41 R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981), 485 – 516. 42 G. Frankenberg, Die Verfassung der Republik. Autorität und Solidarität in der Zivilgesellschaft, Baden-Baden 1996. 43 „Im Namen der Republik“ (1920 – 1934), „Im Namen des Bundesstaates Österreich“ (1934 – 1938), „Im Namen des Deutschen Volkes“ (1938 – 1945), „Im Namen der Republik“ (1945 ff.).

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len Namen „Reich“, genauer: Republik wurde als eine Eigenschaft des Reichs definiert (Art. 1 Abs. 1 WRV). Ähnlich verhält es sich mit der denkbaren Formel „Im Namen der Nation“. Sie hätte in verschiedenen Ländern je nach dem nationalen Selbstverständnis ganz unterschiedlich angerufen werden können, in Frankreich etwa gesättigt mit dem Pathos von 1789, als große Gottheit, in Deutschland oder Italien, den verspäteten Nationen, doch eher mit der Verlegenheit deren, die nicht genau wissen, ob sie wirklich angekommen sind. Ein Argument verfassungsrechtlicher Präzision käme hinzu: Die „Nation“ mochte zwar das Gefühl in vielen Varianten (bis zur „Nationalelf“) beleben, aber sie schien und scheint in ihrer opaken Erscheinungsform nicht tauglich als rechtlich einwandfreie Legitimationsbasis für einen Richterspruch. Erst recht ist das der Fall im gegenwärtigen Prozess der Europawerdung, der notwendig ein Schwinden der klassischen „Nation“ bedeutet. Als zu dieser Legitimation fähig gelten im Zeitalter der Demokratie offenbar nur das „Volk“ und das vom Volk ausgehende „Gesetz“. Selbst auf dem Höhepunkt der Verfassungsbegeisterung in Frankreich zwischen 1791 und 179944 war es nicht die Verfassung, die an der Spitze stand, sondern das Volk. Im Strafgesetzbuch vom 3. November 1798 (3. Brumaire an VI) definierten die „zur Handhabung der gesellschaftlichen Ordnung und der öffentlichen Ruhe eingeführten Gesetze“ die Tat und die Strafe (Art. 1 – 3). Die öffentliche Anklage, sagt das Gesetz, „kommt eigentlich dem Volke zu“ (Art. 5 Abs. 2). „Sie wird in seinem Namen durch öffentliche besonders hierzu bestimmte, Beamte angestellt“ (Art. 5 Abs. 3)45. Es wird also „im Namen des Volkes“ geurteilt. Das 44 Gemeint ist der Zeitraum zwischen der Verfassung vom 3. September 1791 und der Beendigung der Revolution durch den Staatsstreich vom 18. November (Brumaire) 1799. 45 Zitiert nach der deutschen Ausgabe „Gesetzbuch der Verbrechen und Strafen, vom 3ten Brumär“, Straßburg 1798, bey F. G. Levrault.

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ist die herrschende Formel überall da, wo „der Fundamentalsatz aller Demokratie, das Prinzip der Volkssouveränität, ausgesprochen“ ist46, so in Art. 1 der Weimarer Verfassung oder in Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz47. Die Formel „Im Namen“ implizierte zugleich eine Absage an eine unvermittelte „Volksjustiz“. Es handelten Richter, seien es Laien- oder Berufsrichter, anstelle des Volkes, aber durch dieses legitimiert. In Deutschland hatte es die Demokratie bekanntlich nicht einfach, Fuß zu fassen. Solange es Monarchien gab, also bis 1918, urteilten die Gerichte der deutschen Einzelstaaten im Namen ihrer Monarchen, also etwa „Im Namen Seiner Majestät, des Königs von Bayern“. Die Urteile des 1879 geschaffenen Reichsgerichts ergingen „Im Namen des Reichs“, so wie auch nach Art. 17 der Reichsverfassung vom 16. April 1871 die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers „im Namen des Reichs“ erlassen wurden. Hier war gewissermaßen die traditionelle monarchische Prärogative durch Nennung des Staatsnamens neutralisiert und objektiviert. Die Dritte Gewalt war nun klar unabhängig und „nur“ dem Gesetz unterworfen48. „Im Namen des Reichs“ urteilte das Reichsgericht aber auch weiter – trotz der 1919 auf Verfassungsebene ausdrücklich proklamierten Volkssouveränität. In den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung ging es bei der Abgrenzung von Reichs- und Länderjustiz vor allem um die Erhaltung der bisherigen Arbeitsteilung, nicht aber um den Symbolakt, die Gerichtsbarkeit des Reichs an die Volkssouveränität anzu46 G. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl. Berlin 1933, Art. 1 Anm. 2. 47 W. v. Simson / M. Kriele, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, VVDStRL 29 (1971), S. 3 ff., 46 ff. 48 § 1 GVG v. 27. Januar 1877: „Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige, nur dem Gesetze unterworfene Gerichte ausgeübt“. – 1919 rückte diese Aussage auf Verfassungsebene: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen“ (Art. 102 WRV).

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Abb 2: Das Urteil des Reichsgerichts im Reichstagsbrandprozess, 1933

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koppeln49. Die Länder dagegen stellten sich teilweise um. Art. 8 Abs. 2 der Verfassung des Freistaats Preußen vom 30. November 1920 erklärte: „Die Urteile werden im Namen des Volkes verkündet und vollstreckt“50. Ebenso hielten es die anderen neuen Landesverfassungen, soweit sie die Frage überhaupt regelten oder neue Lösungen suchten, etwa Recht „im Namen des Volksstaates Reuß“ oder „im Namen der beiden Freistaaten Reuß“ sprechen ließen51. Während der Weimarer Republik wurde also, kurz gesagt, im Namen des Reichs, im Namen der Teilvölker der Länder und im Namen der Teilstaaten geurteilt. Da die Länder aber nach damals h. M. nicht souveräne Staaten waren, also von Volkssouveränität nicht gesprochen werden konnte52, wurde auf Reichsebene, wo die Volkssouveränität verankert war, im Namen des Reichs Recht gesprochen, auf der Länderebene aber, wo es keine Volkssouveränität gab, im Namen des Volkes. Dadurch fällt auch Licht auf die innere Unentschiedenheit der Weimarer Republik und auf die Schwierigkeiten im Umgang mit demokratischen 49 Der Antrag Dr. Ablaß (Prot. S. 353), die gesamte Justiz dem Reich zu übertragen, hatte wegen des Widerstands der Landesjustizverwaltungen keinen Erfolg. Siehe E. Kern, Die Zuständigkeitsverteilung auf dem Gebiet der Rechtspflege, in: G. Anschütz / R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 1, Tübingen 1930, § 31 m. w. Nachw. 50 Entsprechend § 54 Abs. 1: „Das Staatsministerium übt namens des Volkes das Recht der Begnadigung aus“. 51 Wittreck (Fn. 33), S. 587, 592 (zu Reuß). So etwa die Verfassung von Mecklenburg-Schwerin v. 17. Mai 1920, § 23 („im Namen des Volkes nach den Gesetzen“); Mecklenburg-Strelitz i.d.F. v. 24. Mai 1923, § 43: . . . „nach den Vorschriften der Gesetzes des Reiches und Landes im Namen des Volkes“; So die Bayer. Verfassungsurkunde v. 14. August 1919; die Verfassungsurkunde des freien Volksstaats Württemberg v. 26. April 1919, die Badische Verfassung v. 21. März 1919; die Hessische Verfassung v. 12. Dezember 1919; die Verfassung des Freistaats Sachsen v. 4. November 1920; die Verfassung des Landes Thüringen v. 11. März 1921; die Verfassung des Freistaats Anhalt v. 19. Juli 1919; weiter Mecklenburg, Oldenburg, Braunschweig, Hamburg, Bremen, Lübeck, Lippe, Schaumburg-Lippe, Waldeck. 52 Anschütz (Fn. 46), Art. 1 Anm. 6 sagt, das sei „selbstverständlich und in der Wissenschaft unbestritten“. Ebenso F. Giese, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 8. Aufl. Berlin 1931, S. 39 Nr. 3: „Daß die Länder keine souveränen Staaten mehr sind, ist über jeden Zweifel erhaben“.

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Abb. 3: Todesurteil des Volksgerichtshofs gegen Josef Metzger, 1942

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Abb. 4: Todesurteil des Volksgerichtshofs gegen Karl Friedrich Stellbrink, 1943

Grundprinzipien, wie sie ohnehin für jene Zeit typisch waren. Die an der preußischen neuen Formel „Im Namen des Volkes“ geübte Kritik53 zeigt es. Die Richter des Landes, 53 L. Waldecker, Die Verfassung des Freistaates Preußen vom 30. November 1920, 1921, Art. 8 Anm. 1 bezeichnete es als „frommen Glauben“, die Rechtsprechung könne durch diese Formel an Volkstümlichkeit gewinnen. MüllerGraff (Fn. 23) weist auf Martin Beradt (1881 – 1949), Der Deutsche Richter, Berlin 1930, S. 61 hin, der unter Hinweis auf Ernst, Mitteilungen des Preußischen Richtervereins 1926, S. 106 berichtet, einem Richter „glitt die Feder aus und er schrieb, was Hunderte dachten, im Namen des Pöbels“.

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mehrheitlich von Phobien gegenüber „Volksherrschaft“ und „Volkssouveränität“ geplagt, waren mit der neuen Formel „Im Namen des Volkes“ überwiegend nicht glücklich. Das änderte sich erst, als mit der seit 1933 hereinrauschenden Propagandawelle das Wort „Volk“ in einen völkischen Kontext geriet. Der Nationalsozialismus, dessen neue Semantik die Kampfgemeinschaft der Frontsoldaten, die „Volksgemeinschaft“ gegen den marxistischen Klassenkampf und den Dienst an Volk und Volksgemeinschaft als neue Leitlinien einzuhämmern trachtete54, nahm dem Wort „Volk“ die sozialistische Konnotation und machte es damit auch für die bürgerliche, stark deutschnational eingestellte Justiz akzeptabel. Um jedes Missverständnis auszuschließen, wurde nun das Wort „Deutsch“ hinzugefügt. Das Erste Gesetz zur Überleitung der Rechtspflege auf das Reich vom 16. Februar 193455 erklärte in seinem Art. 1: „Sämtliche Gerichte sprechen Recht im Namen des Deutschen Volkes“56. Das galt reichseinheitlich. Das handstreichartig innerhalb von 11 Tagen erlassene Gesetz57 wurde als Sieg über den alten Partikularismus der Rechtspflege gefeiert. Die neue Legitimationsformel „Im Namen des Deutschen Volkes“ vereinte geschickt den demokratischen Traditionsstrang mit dem neuen völkischen Vokabular, ohne großes Aufsehen zu erregen; denn das substantivisch verwendete „Deutsch“ war auch schon in Art. 1 WRV vorgekommen („Das Deutsche Reich ist eine Republik“). Geschickt war zudem die Technik, die neue Formel in einem Überleitungsgesetz vor die Klammer zu ziehen. Zivil- und 54 Als eine von zahlreichen Quellen siehe H. Lemmel, Die Volksgemeinschaft, ihre Erfassung im werdenden Recht, Stuttgart und Berlin 1941. Weitere Nachw. bei M. Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, Berlin 1974. 55 RGBl I, 91. Erweitert auf das Saarland in RGBl 1935 I, 1018. 56 Amtliche Begründung in: Deutsche Justiz 1934, 240. 57 Von Reichsjustizminister Gürtner am 5. Februar 1934 vorgeschlagen, mit einer Woche Frist zur Rückäußerung bis zum 11. Februar, dann am 12. Februar als genehmigt angesehen und am 16. Februar 1934 im Gesetzblatt veröffentlicht.

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Strafprozessordnung konnten auf diese Weise einfach unverändert weiter gelten, auch dies ein Mosaikstein in der bourgeoisen Camouflage des Regimes. V. Das war die Lage, wie sie von den Besatzungsmächten des Jahres 1945 vorgefunden wurde. Zunächst verfügten die Alliierten Streitkräfte die Schließung aller deutschen Gerichte . . . „bis auf weiteres“. Diesem „Stillstand der Rechtspflege“ (§§ 203 BGB, 245 ZPO) der ersten Monate nach der Kapitulation folgte die schrittweise aufbauende Kontrollratsgesetzgebung. Schon Ende Mai 1945 begann die Justiz wieder zu arbeiten58. Die von den Nationalsozialisten 1934 verfügte Übernahme der Justiz durch das Reich zerfiel nun. Jede der vier Besatzungszonen59 und jedes der ab 1946 wieder entstehenden Bundesländer gingen eigene Wege, auch was die Verkündungsformel anging. In der sowjetisch besetzten Zone gab es zunächst weder eine Änderung der Zivilprozeß- noch der Strafprozessordnung. Auch der Text der ersten Verfassung der DDR von 1949 enthielt keine Regelung. Erst 1952 ordnete das neue „Gesetz über die Verfassung der Gerichte der Deutschen Demokratischen Republik“ in § 4 an: „Die Gerichte der Deutschen Demokratischen Republik verkünden ihre Urteile im Namen des Volkes“60. Dabei ist es im Wesentlichen bis zum Ende geblieben61. 58 M. Stolleis, Rechtsordnung und Justizpolitik 1945 – 1949, in: Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Helmut Coing zum 70. Geburtstag, Bd. 1, München 1982, S. 383 – 407 (390 ff.). 59 Für die SBZ / DDR siehe W. Weiß, Einheitliches Strafverfahrensrecht für die sowjetische Besatzungszone, Neue Justiz 10 / 11 1948, S. 215 f. = Bericht über die Änderungen der StPO und Beseitigung aller Änderungen seit 1933. Siehe auch H. Nathan, Einheitliche Anwendung der Zivilprozessordnung, Neue Justiz 10 / 11 / 1948, S. 212 ff. 60 GBl II, 993.

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Die westlichen Besatzungsmächte wählten zunächst die unverfängliche, rechtsstaatliche und dem allgemeinen Bedürfnis nach einer naturrechtlichen Verankerung entsprechende Formel „Im Namen des Rechts“62. „Damit wurde“, so der Zivilprozessualist Müller-Graff, „die Gerichtstradition, die Verbindung zwischen Träger der Justizhoheit und konkreter Einzelfallentscheidung, durch einen Vorspruch zu vermitteln, durchbrochen zugunsten einer neutralen, in jener Zeit verständlichen, aber doch vordergründigen und letztlich wenig aussagekräftigen Bezugnahme auf die Rechtsordnung. Eine positivistische Rückbindung richterlicher Legitimation auf das Gesetz wurde bemerkenswerterweise vermieden“63. Die Verfassungsgeber der Landesverfassungen verhielten sich, wie kaum anders zu erwarten uneinheitlich. Die einen verzichteten auf die Fixierung einer Formel (Bayern, Bremen, Hamburg, Hessen, Saarland). Württemberg-Baden, Berlin, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz ließen die richterliche Gewalt „im Namen des Volkes“ ausüben, WürttembergHohenzollern und Nordrhein-Westfalen blieben bei „Im Namen des Deutschen Volkes“. Baden-Württemberg kehrte 1953 zu „Im Namen des Volkes“ zurück (Art. 65), während Nordrhein-Westfalen bis heute „Im Namen des Deutschen Volkes“ (Art. 72) in der Verfassung bewahrt hat, ohne dass seine Gerichte danach handeln64. Die nach 1990 entstandenen neuen und die Überarbeitungen der älteren westdeutschen Länderverfassungen verzichten entweder auf eine Aussage (Branden61 Die Fassung vom 17. April 1963 (GBl I, 45), § 7 lautete: „Die Gerichte verkünden ihre Urteile im Namen des Volkes“. Daraus wurde in der Fassung vom 27. September 1974 (GBl I, 457), § 15 S. 2: „Urteile werden im Namen des Volkes verkündet“. 62 A. Baumbach / W. Lauterbach, Zivilprozessordnung, 19. Aufl. München und Berlin 1950, § 313 Anm. 1 unter Hinweis auf die Dienstanweisung 2 für Richter (Oberster Befehlshaber); A. Blomeyer, Zivilprozessrecht – Erkenntnisverfahren, Berlin u. a. 1963, § 81 II 2; Müller-Graff (Fn. 23) m. w. Nachw. 63 Müller-Graff (Fn. 23), 448. 64 Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. Juni 1950, Art. 72.

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Abb. 5: Urteil des amerikanischen Militärgerichts im Juristenprozeß, Nürnberg 1948

burg) oder verwenden durchweg die Formel „Im Namen des Volkes“ (Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen). Schleswig-Holstein, dessen Landessatzung ursprünglich keine derartige Bestimmung enthielt, hat sich 1990 der Formel „Im Namen des Volkes“ angeschlossen. Damit gilt heute in Deutschland einheitlich „Im Namen des Volkes“, sei es kraft ausdrücklicher Regelung in den Landesverfassungen, sei es durch das seit 1950 geltende Bundesrecht, das die Landesverfassungen teils ergänzt, teils überlagert65.

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Das Bundesverfassungsgericht (§ 25 Abs. 4 BVerfGG), die Verwaltungsgerichte (§ 117 Abs. 1 S. 1 VwGO) und die Sozialgerichte (§ 132 Abs. 1 S. 1 SGG), die Arbeitsgerichte (§ 46 Abs. 2 ArbGG) und die Finanzgerichte (§ 105 Abs. 1 FGO) sprechen Recht „im Namen des Volkes“. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof entscheidet „Im Namen des Freistaates Bayern“ (Art. 25 Abs. 1 BayVerfGHG). Die prozessrechtliche Literatur widmet heute der Formel „Im Namen des Volkes“ nur geringe Aufmerksamkeit, betrachtet sie als Floskel zur Erhöhung der Feierlichkeit des Richterspruchs und betont (zu Recht), ein Vergessen der Formel oder ihre fehlerhafte Zitierung habe keine Bedeutung für die Rechtskraft des Urteils66. Ein amtierender Justizminister, der in einem der beliebten Medienspiele zur Erzielung von spontanen Antworten befragt wurde, was für ihn der Satz „Im Namen des Volkes“ bedeutete, antwortete rasch und politisch völlig korrekt, „dass 65 § 268 StPO und § 311 Abs. 1 ZPO wurden am 12. September 1950 in neuer Fassung bekannt gemacht: „Das Urteil ergeht im Namen des Volkes“. Die Neubekanntmachung erfolgte durch das Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12. September 1950 (BGBl. 455). 66 Palandt-Brudermüller, BGB, 63. Aufl. München 2004, § 1312 zur deklaratorischen Bedeutung der Formel „kraft Gesetzes“; Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann, ZPO, 57. Aufl. München 1999, zu § 311: „Das Fehlen des Vermerks ist unschädlich“; E. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil II, Göttingen 1957, zu § 268 StPO: „Zum Verkündungsakt und seinen Essentialien gehört die Formel des Abs. 1 freilich nicht. Ihre Fortlassung ist für die Prozeßordnungsgemäßheit des Urteils unschädlich“; Löwe / Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 24. Aufl. hrsgg. v. P. Rieß, Berlin / New York 1987, zu § 268: . . . „Es ist aber kein den Bestand des Urteils gefährdender Verfahrensverstoß (Sollvorschrift), wenn diese Worte nicht gebraucht werden.“; G. Pfeiffer, Strafprozessordnung und Gerichtsverfassungsgesetz, 2. Aufl. München 1999, zu § 268: „Die Formel weist auf Art. 20 Abs. 2 GG hin; weitergehenden programmatischen Anspruch, insbes. hinsichtlich des Urteilsinhalts, hat sie nicht“ (etwas eingehender in der Bearbeitung von Engelhardt, 4. Aufl. 1999, zu § 268, Nr. 1). Substanzielle Bemerkungen zum Verhältnis von Volkssouveränität und Richterbild bei R. Wassermann, Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 2, Teilbd. 2, Neuwied 1993, § 268 StPO, Rdnr.1 – 4.

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Abb. 6: Das Urteil gegen den NS-Politiker Dietrich Klagges (Zg. 74 / 1957) des Landgerichts Braunschweig 1950

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im Auftrag und für die Bürgerinnen und Bürger Recht gesprochen wird“67. Die ehemals revolutionäre Umstellung vom Monarchen auf das von allen – kraft Repräsentation – gebilligte Gesetz, und vom Gesetz auf das Volk als Träger der Volkssouveränität, ist heute zu einer fast wertlosen „bürgerfreundlichen“ Floskel geronnen68. Die verfassungsgeschichtlichen Kämpfe der Umstellung auf neue Legitimationsgrundlagen scheinen mit der weltweiten Anerkennung der Demokratie an ein Ende gekommen. Aber das täuscht. Hinter der sieghaften Semantik der Demokratie auf der ganzen Welt verbergen sich weltweit nichtdemokratische Regime, korrupte Justiz und Missachtung der Menschenrechte, wir sehen Folterpraktiken im Namen der Demokratie, der Revolution oder im Namen Gottes. Die Fakten können durch Lektüre etwa der Jahresberichte von amnesty international unschwer festgestellt werden. Wer in wessen Namen spricht und handelt, ist ein Macht- und Kommunikationsproblem. Sobald die Grenzen des klassischen Nationalstaats überschritten werden, stellt sich die Frage, welche Referenzebene nun herangezogen werden soll. In wessen Namen sprechen der Europäische Gerichtshof in Luxemburg und der europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg? Beziehen sie sich auf ein fiktives „europäisches Volk“, auf die allen gemeinsamen „abendländischen Werte“, sprechen sie im Namen der „zivilisierten Nationen“ oder im „Namen des Rechts“? Nichts von alledem; sie ver67 H. Mertin, in: ZRP 2004, 96. – Siehe auch die Beilage der Frankfurter Rundschau vom 18. August 2004 „Im Namen des Volkes“ zur Beteiligung von Laien an der Rechtsprechung. 68 Das schließt nicht aus, wie ein ehemaliger Richter mitteilt, dass die Bürger sich in Briefen an das Bundesverfassungsgericht darüber beschweren, es sei „im Namen des Volkes“ entschieden worden, obwohl „das Volk“ (insbesondere der Briefschreiber) ganz anders denke. Entsprechend gehen im Bundeskanzler- und Bundespräsidialamt immer wieder Briefe ein, die Kritik unter Hinweis auf den Wortlaut des Amtseids (Art. 56, 64 GG) üben.

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Abb. 7: Urteil eines Kreisgerichts der DDR von 1953

meiden den höher gelegenen Bezugspunkt. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg kennen nur Arrêts et

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décisions (Judgments and decisions) im eigenen Namen ohne Rekurs auf eine höhere Legitimationsebene. Ebenso hält es der Internationale Gerichtshof in Den Haag. Künftig wird wohl auch der Internationale Strafgerichtshof nur auf der Grundlage der Rechtsnormen entscheiden müssen, denen er sein Dasein verdankt. Er spricht nicht im Namen einer höheren Instanz, sondern auf sich selbst gestellt und auf seine positivrechtliche Anerkennung in der Völkerrechtsgemeinschaft69. Das ist auch ein Signal für die generelle Unsicherheit der Maßstäbe, die dadurch entstanden ist, dass die einst überschaubare und mit dem Gefühl der Identifikation betretbare Referenzebene sich nun ins Globale ausweitet. Hier wird die Luft kalt und dünn. Zwar sind die Delikte auf grauenvolle Weise eindeutig, wenn es um Völkermord, Massenerschießungen, systematische Vergewaltigungen, Folter, ethnische Demütigungen und Vertreibungen sowie um Kriegsverbrechen geht. Aber die juristischen Tatbestände, nach denen zu urteilen ist, Tatbestände des materiellen Völkerstrafrechts, sind Texte, die fern von den Schauplätzen der Untaten entwickelt und beschlossen worden sind. Es handelt sich um Völkerrecht, das aus der Tradition, aus einer lückenhaften Gerichtspraxis, aus internationalen Abkommen sowie aus den Lehrbüchern gewonnen wird70. Diese normativen Texte sollen die besseren Teile der Menschheit repräsentieren, sie sollen einen Basiskonsens der Zivilisationen formulieren. In wessen Namen kann man sie anwenden? Welcher legitimierende Gott heiligt diese Normen dadurch, dass sie in seinem Namen angewendet werden? 69 Dies belegt auch die Eingangsformel der Urteile im Nürnberger Prozess. Sie lautete (in der deutschen Übersetzung): „Am 8. August 1945 haben die Regierungen des Vereinigten Königreichs . . . ein Abkommen getroffen, wonach dieser Gerichtshof zwecks Aburteilung von solchen Kriegsverbrechen gebildet wurde (. . . ) Dem Gerichtshof ist die Vollmacht verliehen worden, alle Personen abzuurteilen, die Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen usw. begangen haben“. 70 G. Werle, Völkerstrafrecht, Tübingen 2003.

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Abb. 8: Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum KPD-Verbot, 1956 5 Dreier

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Die Schwachen wie die Starken berufen sich auf das Recht. Was das bedeutet, muss immer neu ermittelt werden. Die Kämpfe mit Waffen verwandeln sich in semantische Kämpfe, wie auch umgekehrt Wortgefechte zu Waffengefechten eskalieren können. Gewalt und Worte, Worte und Gewalt sind Formen menschlichen Selbstbehauptungswillens und kollektiver Auseinandersetzungen. Wer sich dauerhaft mit Hilfe von Gewalt durchgesetzt hat, benennt die so geschaffene Lage neu. Er kann „mein“ und „dein“ neu definieren, kann bestimmen, wer „Aggressor“ und wer „Verteidiger“ war. Die einen sind „heldenhafte Söhne des Vaterlandes“, die anderen „Banditen“ oder „Gesindel“. Der damit neu gesetzte „Name“ ordnet die Welt neu, vielleicht nicht auf Dauer, aber doch jedenfalls so weit und so lange die Macht reicht. Es klingt vielleicht irritierend, dies alles „Kommunikation“ zu nennen, aber es dürfte einleuchten, dass die Menschen sich zunächst an vorgefundenen Prägungen orientieren und diese dann in eigenen Anstrengungen zu verschieben suchen. Sind sie erfolgreich, haben sie den Dingen eigene Namen als Unterscheidungszeichen gegeben: Wir, Andere, Mein, Dein, Euer, Unser. Dem entsprechend können dann Streitigkeiten „im Namen“ der akzeptierten Autoritäten entschieden werden. Eine der wichtigsten Autoritäten ist das Recht. Trotz aller Rechtsbrüche und Enttäuschungen stachelt jeder Konflikt die Beteiligten wieder an, die eigene Position für „Recht“ zu erklären und den Gegner ins „Unrecht“ zu setzen. Recht zu haben, stärkt das eigene Gewissen, vermittelt Zuversicht, gibt den eigenen Wünschen eine objektive Aura. „Jeder“, sagt Jean Paul, „er mag sich erzürnen oder andern abfodern, tut es nie im Namen seines Ich, sondern im Namen des Rechts, das allein sein Ich und das fremde gleichsetzt und über beide ausspricht. Sogar der Egoist muß sich diese Täuschung vormachen“. So sind wir unausweichlich darauf angewiesen, die Welt der repräsentierenden Namen nicht nur sprachlich zu erschaffen und zu entschlüsseln, sondern auch die dabei aufgebauten Lügengebäude zu zerstören. Wir haben dazu, wenn wir auf Gewalt verzichten, nur die Sprache.

Wissenschaft – Öffentlichkeit – Recht Von Eberhard Schmidt-Aßmann I. Einleitung 1. Dreiklang der Schlüsselbegriffe Wissenschaft – Öffentlichkeit – Recht: ein sympathischer Dreiklang! Wissenschaft als die Suche nach Wahrheit, Öffentlichkeit als das Ethos der Republik, Recht als Verpflichtung auf Gerechtigkeit. Das sind Schlüsselbegriffe auch im Werk und Wirken Hasso Hofmanns: die Wissenschaft als Beruf, die Öffentlichkeit als Forum seines praktischen Engagements in Universitäten und Akademien, das Recht als Aufgabe philosophischen und dogmatischen Denkens. Immer wieder werden die Schlüsselbegriffe in ihren unterschiedlichen Konnotationen in seinen Veröffentlichungen zusammengeführt. Perspektiven und Grenzen wissenschaftlichen Handelns werden in dem Aufsatz „Biotechnik, Gentherapie, Genmanipulation – Wissenschaft im rechtsfreien Raum?“ entfaltet1. Der Eröffnungsvortrag vor dem 64. Deutschen Juristentag 2002 in Berlin zum Thema „Recht und Ethik“, bringt neben philosophischen Aussagen sehr konkrete Vorschläge für einen öffentlichen Diskurs in Sachen Wissenschaft2. Wissenschaft – Öffentlichkeit – Recht: Da sind sie wieder, die Schlüsselbegriffe einer gemeinwohlorientierten 1 JZ 1986, S. 253 ff.; abgedruckt auch in: Hasso Hofmann, Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 386 ff. 2 Verhandlungen des 64. DJT, Bd. II / 1 (Sitzungsberichte), K, S. 4 ff., bes. S. 21 ff.

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Ordnung, und finden sich kraft intensiven Nachdenkens in ein stimmiges Verhältnis gebracht: das Recht wissenschaftlich durchdrungen, die Öffentlichkeit rechtlich geordnet, die Wissenschaft als öffentliche konzipiert. Die Ständige Deputation des Deutschen Juristentages wußte, warum sie das schwierige Thema Hasso Hofmann anvertraute. Der Redner wird panegyrisch, der Jubilar unruhig. So kann es unter Wissenschaftlern nicht weitergehen! 2. Mißklang der Dong-Studie Wenden wir uns einem Kontrast zu, einem Beispiel für ein tief gestörtes Verhältnis zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Recht: dem Schicksal der Dong-Studie! Der Fall begann 1988 in Kalifornien:3 Ein Arzneimittelhersteller hatte in der Mitte der 1980er Jahre in einem bestimmten Marktsegment für Schilddrüsenmedikamente mit dem Arzneimittel Synthroid eine beherrschende Stellung. Ab 1987 drängten jedoch weitere Anbieter auf den Markt, deren Produkte wesentlich billiger waren. Bisher hatte das Unternehmen damit geworben, daß kein anderes Medikament vergleichbare Wirkungen wie Synthroid entfalte. Um dieses zu untermauern, wurde die Wissenschaftlerin Dr. Betty Dong von der Universität von Kalifornien in San Francisco (UCSF) damit beauftragt, in einer halbjährigen Studie an Testpersonen nachzuweisen, daß Synthroid den Konkurrenzprodukten überlegen sei. Der Vertrag enthielt eine Klausel, die dem Unternehmen ein umfassendes Vetorecht gegen eine Veröffentlichung der Versuchsergebnisse einräumte. Frau Dong führte die Untersuchung vertragsgemäß durch. Es ergab sich dabei, daß die getesteten Produkte gleichwertig waren. Als sie diese Ergebnisse dem auftraggebenden Unter3 Vgl. Dorothy S. Zinberg, Science 1996, Vol. 273, p. 411; Elliot Valenstein, Blaming the Brain, 1998, p. 276; Sheldon Krimsky, Science in the Private Interest, 2003.

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nehmen mitteilte, bot ihr dieses zunächst an, eine weitere langjährige Studie durchzuführen, um die Testergebnisse zu widerlegen. Frau Dong lehnte dies jedoch ab, da sie von ihren Ergebnissen überzeugt war. Daraufhin griff das Unternehmen die Studie wissenschaftlich an. Die UCSF beauftragte intern zwei Gutachter mit der Überprüfung der Studie, die diese jedoch als im wesentlichen korrekt bestätigten. Als Frau Dong die Ergebnisse veröffentlichen wollte, drohte ihr das Unternehmen, den hierdurch entstehenden Schaden einzuklagen, und berief sich auf die Vetoklausel im Forschungsvertrag von 1988. Unter dem Druck der hohen Kosten und der unklaren Rechtslage sah Frau Dong deshalb von einer Veröffentlichung ab. Später erfuhr die zuständige Verbraucherschutzbehörde von den Vorgängen. In einer Sammelklage wurden dem Unternehmen Verletzungen des Verbraucherschutzrechts, des Arzneimittelrechts und des Vertragsrechts vorgeworfen. Die Klage endete mit einem Vergleich, wonach das Unternehmen an die Konsumenten 125 Millionen Dollar zahlen mußte. Die Studie war zwischenzeitlich (1997) in einer einschlägigen Fachzeitschrift erschienen. Insgesamt ein unerfreulicher Fall von fehlverstandener Forschungskooperation, bei dem man sich allenfalls damit trösten mag, daß das Gute letztlich dennoch siegte – freilich nicht durch wissenschaftseigene Selbstheilungskräfte, sondern nur mit Hilfe des Verbraucherschutzrechts! – Ein Einzelfall? Leider wohl nicht4. 3. Erste Folgeüberlegungen Wissenschaft ist zwar auf Öffentlichkeit angelegt. „Das Ideal der offenen, allgemein zugänglichen Kommunikation ist so alt wie die Anfänge der Wissenschaft in der Antike“5. 4 Instruktiv die Angaben von Hanfried Helmchen, Psychiater und pharmazeutische Industrie, Der Nervenarzt 2003, S. 953 ff. 5 Peter Weingart, Die Stunde der Wahrheit?, 2001, S. 221.

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Doch sieht sich das Ideal immer wieder erheblichen Gefährdungen gegenüber: Das Verbergen oder Unterdrücken von Forschungsergebnissen, von denen der Dong-Fall erzählt, ist nur einer der kritischen Bereiche; freilich ein für eine freie Wissenschaft besonders gefährlicher. Ein anderer ist das Verwerten, d. h. die Praxis, durch gewerbliche Schutzrechte wissenschaftliche Erkenntnisse so weit wie möglich in private Verfügungs- und wirtschaftliche Verwertungsmöglichkeiten auszumünzen. Damit ist nicht pauschal gegen das existierende Patent- und Urheberrecht votiert6. Beide sind notwendig, um Investitionen in die Wissenschaft attraktiv zu halten. Patente zielen ja gerade auf die Publizität von Erfindungen und sollen der Geheimhaltung entgegenwirken. Doch haben sich auch hier manche bedenkliche Praxen eingestellt: Versuche, möglichst weit auch auf Grundlagenkenntnisse zuzugreifen (Gensequenzen, Computerprogramme) oder Patente zu nutzen, um Forschungen Dritter zu unterbinden. In der wissenschaftssoziologischen Literatur werden Vorgänge der geschilderten Art als Indizien dafür genommen, daß die Wissenschaft längst ihre Eigenständigkeit verloren hat und nach eben jenen Kriterien handelt, die auch für Wirtschaft, Politik oder Medien bestimmend sind. Wissenschaft könne – so heißt es7 – „nicht länger als ein autonomer Raum betrachtet werden“, der klar von anderen Bereichen der Gesellschaft abgegrenzt sei. Vielmehr seien alle Bereiche „intern“ derart heterogen und „extern“ derart abhängig voneinander, daß sie nicht mehr unterschieden und unterscheidbar seien. Das ist, normativ gewendet, eine Feststellung mit weitreichenden Konsequenzen, insbesondere der Nivellierung aller besonderen Anerkennung und besonderen Ansprüche, die die Wissenschaft traditionell anderen Bereichen der Gesellschaft gegen6 Abgewogen aber kritisch The Royal Society, Keeping science open: the effects of intellectual property policy on the conduct of science, 2003. 7 Helga Nowotny / Peter Scott / Michael Gibbons, Wissenschaft neu denken, 2004, S. 9.

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über behaupten konnte. Aber selbst wenn man solchen Diagnosen eines tiefgreifenden Distanzverlustes zwischen Wirtschaft und Wissenschaft nicht folgen und an der Eigenständigkeit der Wissenschaft als soziologischem Tatbestand festhalten will, muß man sich mit zahlreichen Grenzverwischungen kritisch auseinandersetzen8. Öffentlichkeit – d. h. die Veröffentlichung (Publikation) und die dauerhafte öffentliche Verfügbarkeit (Publizität) – von Forschungsergebnissen müssen danach in ihrer Bedeutung als Schlüsselbegriffe für das gesamte Wissenschaftssystem erfaßt werden. Andernfalls läuft die Wissenschaft Gefahr, ihre besonderen Qualitäten und ihre besonderen Aufgaben in der Gesellschaft zu verspielen. Der Umgang mit Forschungsergebnissen ist für sie aus mehreren Gründen ein zentraler Punkt: Erst die Veröffentlichung von Ergebnissen ermöglicht ihre Überprüfung. Geheimhaltung dagegen versperrt die Validierung und weckt Mißtrauen. Wird es nicht höchste Zeit, jedenfalls im Grundsatz eine Pflicht zur Publikation einzufordern – und zwar nicht nur für die Grundlagenforschung der öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen (Universitäten, Max-Planck-Institute), sondern auch für die Auftragsforschung und für das, was in der Industrie selbst als Forschung anerkannt werden will? Eine solche Forderung löst freilich sogleich zwei Einwände aus: – Forschung ist niemals abgeschlossen, niemals fertig. Jedenfalls kann nur der Forscher selbst entscheiden, wann seine Ergebnisse Publikationsreife erlangt haben. Das ist richtig, spricht aber nicht gegen das Publizitätsprinzip als solches. Natürlich kann ein Wissenschaftler nicht gezwungen werden, Unfertiges zu veröffentlichen. Aber in vielen Fällen ist der Abschluß einer bestimmten Forschungsarbeit unstreitig, und trotzdem wird von der Publikation aus allerlei Grün8

Weingart (Fn. 5), S. 27 ff. und 325 ff.

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den abgesehen. Die Dong-Studie war nach einem halben Jahr vertragsgemäß abgeschlossen, und das Angebot des Unternehmens, die Studie mehrere Jahre weiterzuführen, stellte sich als ein allein taktisch motivierter Schachzug heraus. – Ein weiterer Einwand lautet, die Industrie werde sich niemals auf solche Pflichten einlassen. Gerade wenn man an Kooperation zwischen Universitäten und Industrie interessiert sei, müsse man auf die Geheimhaltungswünsche der Auftraggeber eingehen. Vor allem Universitäten, die die Bedeutung von Drittmitteln für die eigene Finanzierung entdeckt haben oder von einer kurzsichtigen Hochschulpolitik übermäßig dazu gedrängt werden, argumentieren nicht selten in dieser Weise. Die Max-Planck-Gesellschaft agiert selbstbewußter und versucht, den Primat des Öffentlichkeitsprinzips durchzusetzen9. Zweifellos gibt es eine Reihe guter oder mindestens akzeptabler Gründe, um ein Forschungsergebnis nicht oder jedenfalls nicht sogleich zu veröffentlichen. Aber sie belegen nicht die Notwendigkeit, mit Rücksicht auf Wirtschaft und Markt die Geheimhaltung von Forschungsergebnissen als Regel zu akzeptieren. Zumal pauschale Bezugnahmen auf Amts-, Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse können heute nicht mehr genügen.

II. Das gewandelte Verhältnis von Geheimhaltung und Publizität Moderne Gesellschaften basieren zu einem wesentlichen Teil auf Publizität und Transparenz der einzelnen Sozialbereiche. Hier haben sich gerade in jüngster Zeit Wandlungen in Richtung auf mehr Publizität ergeben, die noch vor zwei Jahrzehnten undenkbar zu sein schienen. 9 Max-Planck-Gesellschaft, Verantwortliches Handeln in der Wissenschaft, vorgelegt im Auftrage des Präsidenten der MPG von einem Arbeitskreis, 2001, S. 49 ff.

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1. Informationsfreiheit im Verwaltungsrecht Welche Wandlungen zwischen notwendiger Geheimhaltung und notwendiger Öffentlichkeit in kurzer Zeit möglich waren, läßt sich zum einen am Beispiel der administrativen Aktenöffentlichkeit zeigen. Deutscher Verwaltungstradition entsprachen Aktengeheimhaltung und Amtsgeheimnis10. Noch das Verwaltungsverfahrensgesetz von 1976 hatte daran nur punktuell und nur insofern etwas geändert, als es für die Verfahrensbeteiligten ein Akteneinsichtsrecht begründete, soweit deren Kenntnis zur Geltendmachung oder Verteidigung ihrer rechtlichen Interessen erforderlich ist (§ 29 VwVfG). Ein tiefergehender Wandel wurde erst 1990 mit der Umweltinformations-Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft eingeleitet. Seither gilt jedenfalls für behördliche Umweltakten der Grundsatz der Zugangsfreiheit, dem ein subjektiver Zugangsanspruch für jedermann entspricht. In der Zwischenzeit ist die Entwicklung weitergegangen. Einige Bundesländer haben Verwaltungsinformationsgesetze erlassen, die einen Zugangsanspruch zu allen Behördenakten fixieren. Friedrich Schoch und Michael Kloepfer haben 2002 einen präzise begründeten Entwurf eines allgemeinen Informationsfreiheitsgesetzes vorgelegt, das einen solchen Anspruch bundesweit einführen soll11. Andere Autoren sehen einen Anspruch bereits heute als Bestandteil der deutschen Rechtsordnung an und leiten ihn aus einer Neuinterpretation der Informationsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 HS 2 GG i.V. mit dem Demokratieund dem Rechtsstaatsprinzip ab12. Einzelheiten können hier außer Betracht bleiben. Entscheidend ist der Wandel des Rechtsbewußtseins: Amtsgeheimnis 10 Vgl. Georgios Trantas, Akteneinsicht und Geheimhaltung im Verwaltungsrecht, 1998, S. 257 ff.; Matthias Rossi, Informationszugangsfreiheit und Verfassungsrecht, 2004, S. 32 ff. 11 Informationsfreiheitsgesetz (IFG-ProfE), 2002. 12 Arno Scherzberg, Die Öffentlichkeit der Verwaltung, 2000, S. 289 ff.; differenzierend Rossi (Fn. 10), S. 207 ff.

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und Aktengeheimhaltung, einst zum eisernen Bestand von Staatlichkeit zählend, sind geöffnet worden. Staatliche, unternehmerische oder sonstige Geheimhaltungsbedürfnisse Dritter werden dabei keineswegs durchgängig zurückgesetzt. Aber sie sind keine pauschalen Titel mehr, um einen Arkanbereich zu konstituieren. Vielmehr müssen sie spezifiziert werden und unterliegen einer Abwägung mit gegenläufigen öffentlichen oder privaten Interessen an Publizität. Für diese Abwägung geben die einschlägigen Gesetze Gewichtungsregeln vor, die sich am Grundsatz der Öffentlichkeit ausrichten. Das entspricht auch dem, was der EG-Vertrag in Art. 255 für die Organe der Gemeinschaft vorschreibt13. 2. Publizität im Unternehmensrecht Für den vorliegenden Untersuchungszusammenhang noch interessanter ist die Entwicklung zu mehr Publizität und Transparenz im Bereich der Wirtschaftsunternehmen, insbesondere der börsennotierten Kapitalgesellschaften. Ähnlich wie bei der industriellen Forschungskooperation geht es hier vielfach um Informationen, die für Unternehmenspolitik und Unternehmenswert von hoher Bedeutung sind. Trotzdem hat sich eine Entwicklung zu deutlich mehr Publizität durchgesetzt. Unter dem Einfluß des EG-Rechts und unter dem Druck der internationalen Finanzmärkte hat sich das deutsche Recht nachhaltig geändert. Wichtige Entwicklungsschritte waren die Kapitalmarktförderungsgesetze von 1994, 1998 und 200214. Einzelheiten sind auch hier nicht entscheidend. Die Vielfalt publizitätspflichtiger Informationen betrifft die 13 Christoph Sobotta, Transparenz in den Rechtsetzungsverfahren der Europäischen Union, 2001; Christian Heitsch, Die Verordnung über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten der Gemeinschaftsorgane im Lichte des Transparenzprinzips, 2003. Zur Transparenz in der Verwaltung vgl. auch Rolf Gröschner und Johannes Masing, VVDStRL Bd. 63 (2004), S. 344 ff. u. 377 ff. 14 Vgl. nur die Amtliche Begründung des Transparenz- und Publizitätsgesetzes, Bundestags-Drucksache 14 / 8769, S. 10 ff.

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Beteiligungsverhältnisse zwischen Handelsgesellschaften (§ 20 AktG) und die kursrelevanten Tatsachen unternehmensinterner Art (§ 15 WpHG) ebenso wie persönliche Angaben über Organmitglieder (vgl. § 285 Nr. 10 HGB). Selbst die Höhe der Vergütung der Vorstandsmitglieder ist heute nicht mehr ausgenommen15. Interessant ist die Regelungstechnik des Handels- und Gesellschaftsrechts. Hier sind staatliche Rahmensetzung und gesellschaftliche Selbstregulierung verbunden. Nur einige Publizitätspflichten sind als mit Rechtsfolgen sanktionierte Rechtspflichten ausgebildet. Andere Transparenzregeln, wie diejenigen des Deutschen Corporate Governance Codex stellen Empfehlungen für die gesellschaftliche Selbstregulierung dar. Ein Unternehmen muß ihnen nicht entsprechen. Es ist dann aber öffentlich zu erklären verpflichtet, inwieweit die Empfehlungen nicht angewendet wurden (§ 161 AktG). Auch hier hat sich in erstaunlich kurzer Zeit ein tiefgehender Wandel des Publizitätsbewußtseins vollzogen. Das Wissenschaftsrecht ist davon noch ein gutes Stück entfernt. Es ist den anderen Bereichen gegenüber eher zurückgefallen. Man mag einwenden, auch Transparenz und Öffentlichkeit seien keine Allheilmittel; es bestehe die Gefahr, daß sich unterhalb der zur Publizität verpflichteten Vorgänge neue Verheimlichungspraxen auszubilden pflegen. Gewiß lassen sich im Verwaltungsrecht oder im Handelsrecht Beispiele auch für wenig effiziente Publizitätsregeln finden. Das sollte aber nicht dazu veranlassen, im Wissenschaftsrecht nichts zu unternehmen und Geheimhaltungstendenzen hinzunehmen, die gerade hier mit den eigenen Handlungsmaximen nicht zu vereinbaren und für das Wissenschaftssystem insgesamt gefährlich sind. Es muß zunächst einmal darum gehen, auch in der Wissenschaft die Bedeutung von Transparenz zu verdeutlichen 15 Marcus Lutter, Corporate Governance und ihre aktuellen Probleme: Vorstandsvergütung und ihre Schranken, ZIP 2003, S. 737 (740 f.).

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und durch eine rechtliche Diskussion Aufmerksamkeit für dieses Thema zu gewinnen16. III. Die Publikation von Forschungsergebnissen zwischen Freiheit und Pflicht Im deutschen Recht werden Rechtsprobleme der Wissenschaft im ersten Zugriff regelmäßig als Grundrechtsfragen thematisiert17. Das trifft auch für Veröffentlichungsfragen zu18: Die Veröffentlichung selbst wird als Bestandteil der Wissenschaftsfreiheit, die wirtschaftliche Verwertung als Element der Eigentums- und Berufsfreiheit angesehen. Das gesamte Wissenschaftsrecht stellt sich als konkretisiertes Grundrechtsverfassungsrecht dar. Die immer wieder herausgearbeiteten grundrechtlichen Bezüge haben zu einer großen Sensibilität und zu einer hohen dogmatischen Präzision des gesamten Rechtsgebiets geführt. Die Argumentationen erhalten eine innere Ordnung und einen bestimmten Fluchtpunkt. Freilich ist auch eine kritische Anmerkung veranlaßt: Grundrechte sind zuallererst individuelle Abwehrrechte gegen den Staat. Sie rücken den einzelnen Grundrechtsträger und seine Entscheidungen in den Mittelpunkt. Auf diesen sind die Schutzüberlegungen grundrechtlicher Argumentationen grundsätzlich bewußt konzentriert. Übergreifende Zusammenhänge, in die der Einzelvorgang eingebettet ist, kommen dagegen nur schwer in den Blick. Oft erscheinen sie als externe 16 Dazu rechtsvergleichend Andrea Orsi Battaglini (ed.), Freedom of Information and Confidentiality in Scientific Communication, 1996. Wegweisend Mechthild Blankenagel, Wissenschaft zwischen Information und Geheimhaltung, 2001. 17 Vgl. nur Thomas Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, 1991; Ralf Kleindiek, Wissenschaft und Freiheit in der Risikogesellschaft, 1998; Christina Lux, Rechtsfragen der Kooperation zwischen Hochschulen und Wirtschaft, 2002; Manuel Kamp, Forschungsfreiheit und Kommerz, 2004. 18 Dazu mit weiteren Nachweisen Michael Fehling, in: Rudolf Dolzer / Klaus Vogel / Karin Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, Stand 2004, Art. 5 Abs. 3 Rn. 74 und 105 f.

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Bedrohungen eines ganz vom Individuum her konzipierten Freiraumes. Das kann zu einer Perspektivenverengung führen. 1. Unterschiedliche Bedeutungsschichten des Art. 5 Abs. 3 GG Die aufgezeigten Gefahren einer zu stark grundrechtlichindividuellen Ausrichtung sind gerade bei Art. 5 Abs. 3 GG ernst zu nehmen. Wenn nämlich Wissenschaft ein Handlungsund Kommunikationszusammenhang ist, dann kann ihr Schutz nicht ausschließlich als Schutz individueller Willensentscheidungen konstruiert werden19. a) Ausgangspunkt: positive Veröffentlichungsfreiheit Art. 5 Abs. 3 GG schütze – so heißt es ganz herrschend20 – die Veröffentlichungsfreiheit des einzelnen Forschers gegen staatliche Eingriffe. Publikationsverbote und Publikationsbeschränkungen sollen danach grundsätzlich unzulässig sein. Rechtfertigen lassen sie sich danach nur, wenn sie zum Schutze wenigstens gleichwertiger Verfassungsgüter notwendig sind. In Archiv- und Datenschutzgesetzen findet sich in der Tat eine Reihe von Veröffentlichungsbeschränkungen, die als akzeptiert gelten können21, während allgemeine politische Rücksichtnahmen oder gar ein diffuses Bemühen um political correctness den Staat nicht legitimieren, Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung zu unterdrücken. 19 Dazu Alexander Blankenagel, Wissenschaftsfreiheit aus der Sicht der Wissenschaftssoziologie, AöR Bd. 105 (1980), S. 35 (59); Hans-Heinrich Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994. 20 Ingolf Pernice, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl., 2004, Art. 5 Abs. 3 (Wissenschaft) Rn. 30; Claus Dieter Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, 1994, S. 86 f. 21 Vgl. Johann Bizer, Forschungsfreiheit und informationelle Selbstbestimmung, 1992; Pernice (Fn. 20), Rn. 50.

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b) Veröffentlichungspflicht versus negative Veröffentlichungsfreiheit Diesen Fragen eines Konflikts mit der positiven Veröffentlichungsfreiheit soll hier jedoch nicht weiter nachgegangen werden. Sie betreffen nicht den Kern dessen, was oben als eine für das Wissenschaftssystem als solches kritische Entwicklung der Publikationspraxis herausgearbeitet worden ist. Systemische Bedenken folgen nicht daraus, daß der Staat die Publikationsfreiheit einschränkt. Vielmehr ist es der Forscher selbst, der die von ihm zu erwartende Veröffentlichung unterläßt bzw. sich wie im Fall der Dong-Studie Auftraggebern gegenüber dazu verpflichtet, Publikationen nur mit deren Einwilligung vorzunehmen. Die Frontlinien haben sich heute verkehrt: Ein wichtiger Teil des Konfliktpotentials wird nicht durch staatliche Eingriffe, sondern durch Geheimhaltungsabreden in Forschungsverträgen, Lizenzvereinbarungen und Förderzusagen erzeugt. Es entwickelt sich unter Privaten und in den Formen des Privatrechts und greift von hier (oft zunächst unbemerkt) auf die Wissenschaft über. Ist das alles von der negativen Publikationsfreiheit gedeckt? – Müßte Art. 5 Abs. 3 GG heute nicht eher eine Veröffentlichungspflicht entnommen werden? – Kann, wenn sich das als nicht angängig erwiese, wenigstens die negative Veröffentlichungsfreiheit aus dem Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit ausgeklammert werden? – Welche Befugnisse haben Gesetzgeber, Justiz und Verwaltung, privat vereinbarten Publizitätsbeschränkungen entgegenzutreten?

aa) Verfassungsunmittelbare Veröffentlichungspflicht? Eine Klärung wäre schnell erreicht, ließe sich von einer verfassungsunmittelbaren Veröffentlichungspflicht als Bestandteil der Wissenschaftsfreiheitsgarantie ausgehen. Die Annahme

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einer solchen Grundpflicht ist freilich nach der Konstanzer Staatsrechtslehrertagung von 1982 ein geradezu aussichtsloses Unternehmen. „Tatsächlich kann es in einer rechtsstaatlichen Verfassung der Freiheit keine Symmetrie von Rechten und Pflichten geben“22. Dieser Satz bildet in kanonisierter Form heute einen festen Bestandteil aller allgemeinen Grundrechtslehren23. Eine einfache Renaissance kann dem Pflichtengedanken danach nicht beschieden sein. Die Diskussion wäre aber wohl doch noch einmal aufzunehmen, nachdem die Europäische Grundrechte-Charta die Verbindung von Rechten und Pflichten in der Präambel zu einem eigenen Thema gemacht hat24. Natürlich repräsentieren Grundgesetz und Grundrechte-Charta getrennte Verfassungsräume. Aber ob sich das deutsche Recht auf Grund spezifischer historischer Erfahrungen in diesem Punkte auch künftig außerhalb des europäischen Entwicklungszusammenhangs stellen sollte, erscheint nicht selbstverständlich. Einige jüngere Verfassungen anderer europäischer Staaten akzentuieren die Grundpflichten ebenfalls stärker25. Auch das Grundgesetz kennt durchaus einzelne Pflichten im Zusammenhang mit Grundrechten26. Textlich ausgewiesen ist die Sozialpflichtigkeit des Eigentums in Art. 14 Abs. 2 GG. Art. 5 Abs. 3 GG sagt zu unserem Thema nichts Ausdrückliches, normiert aber mit der Treuepflicht, zu der die akademische Lehre angehalten wird – um mit Hasso Hofmann zu sprechen – Reste der republikanischen Grundpflich22 Hasso Hofmann, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, VVDStRL Bd. 41 (1983), S. 38 (54). 23 Vgl. Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl., 2004, Vorb. Rn. 135. 24 Zu den tragenden Überlegungen vgl. Jürgen Meyer, in: ders. (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel Rn. 48 ff. 25 Vgl. Meyer (Fn. 24), Rn. 48. 26 Hasso Hofmann, Grundpflichten und Grundrechte, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 5, 1992, § 114 Rn. 17.

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ten27. Im vorliegenden Zusammenhang interessanter ist die kulturstaatliche Schulpflicht, die in Art. 7 Abs. 1 und 5 GG eingeschlossen sein soll28. Kulturstaatliche Belange sind auch aufgerufen, wenn es um die Publizität von Forschungsergebnissen geht. Die Veröffentlichung ist Voraussetzung wissenschaftsinterner Validierung, die dauernde Verfügbarkeit des Veröffentlichten eine Grundvoraussetzung der Wissensgesellschaft. Mit beiden Aspekten reicht die Öffentlichkeitsfrage weit über das hinaus, was Art. 5 Abs. 3 GG als individuelles Abwehrrecht schützen will. Was jedoch entscheidend gegen die Annahme einer grundrechtsunmittelbaren Veröffentlichungspflicht spricht, sind weniger inhaltliche als rechtspraktische Gesichtspunkte. Grundpflichten sind leges imperfectae, die der gesetzlichen Konkretisierung bedürfen29. Erst der Gesetzgeber gibt dem Pflichtentatbestand die notwendige Präzision, um ihn in jedem vorgesehenen Anwendungsfall handhabbar zu machen. Das ist für das Veröffentlichungsthema schon deshalb notwendig, weil für die unterschiedlichen Typen der universitären, außeruniversitären und industriellen Forschung z. B. in der Frage der Intensität der Pflicht und der Arten ihrer Erfüllung unterschiedliche Regelungen getroffen werden müßten. Durch die gesetzliche Konkretisierungsbedürftigkeit nicht ausgeschlossen sind allerdings die Möglichkeiten der Gerichte, dort, wo sich schon heute, z. B. für die staatlich geförderte Grundlagenforschung, ein eindeutiger Pflichtgehalt abzeichnet, diesen bei der Auslegung von Rechtsvorschriften und Vertragsklauseln zu nutzen30.

27 28 29 30

Hofmann (Fn. 26), Rn. 20. Hofmann (Fn. 26), Rn. 19. Dreier (Fn. 23), Rn. 135. Hofmann (Fn. 26), Rn. 43.

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bb) Ausklammerung der negativen Veröffentlichungsfreiheit? Nicht ganz so weitreichend wie die Annahme einer verfassungsunmittelbaren Publikationspflicht, jedoch im Ziel, die Publizität der Wissenschaft zu stärken, ähnlich wirkt der Vorschlag, die negative Veröffentlichungsfreiheit jedenfalls aus dem Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit auszuklammern. Forschungen, für deren Ergebnisse von vornherein Geheimhaltung vorgesehen ist, sollen nicht den Schutz des Art. 5 Abs. 3 GG genießen, sondern den Art. 12 und 14 GG zugeordnet werden. „Wer über seine Forschungsergebnisse nicht informiert, gehört ebensowenig zur ,scientific community‘ wie derjenige, welcher relevante Ergebnisse anderer nicht zur Kenntnis nimmt“31. Eine solche Zuordnung der negativen Veröffentlichungsfreiheit reduziert deren bisherigen Schutz und erleichtert es dem Gesetzgeber, Veröffentlichungspflichten aus vernünftigen Gemeinwohlgründen vorzusehen, ohne an die hohen Anforderungen des zu Art. 5 Abs. 3 GG bestehenden Abwägungsmodells gebunden zu sein. Mittelbar wird zudem Druck auf die Forscher zur Veröffentlichung von Forschungsergebnissen dadurch ausgeübt, daß die im einfachen Recht, z. B. im Umwelt- aber auch im Steuerrecht, anzutreffenden sog. Forschungsprivilegien auf Forschungsarbeiten, deren Ergebnisse nicht veröffentlicht werden sollen, nicht anzuwenden wären. Der Vorschlag hat den Charme eines Optionsmodells, das es dem einzelnen Wissenschaftler überläßt, das Schutzregime seiner Forschung zu wählen. Trotzdem bleiben Einwände: Wenn Art. 5 Abs. 3 GG Kreativität und Innovation schützen soll, dann dürfen auch solche Forschungen, die nicht auf Publikation angelegt sind, nicht schlechthin aus dem Schutzbereich 31 Pernice (Fn. 20), Rn. 28 mit Bezugnahme auf M. Blankenagel (Fn. 16), S. 41 ff., 65 ff. und 75 ff.

6 Dreier

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ausgeklammert werden32. Außerdem dürfte es schwierig sein, die Tatbestände nicht beabsichtigter Publikation von Fällen abzugrenzen, in denen es nur um kurze Verzögerungen oder um verkürzte Veröffentlichungen geht. Auf jeden Fall vorbehalten bleiben muß dem einzelnen Wissenschaftler die Entscheidung, ob seine Forschungen Veröffentlichungsreife erlangt haben33. c) Art. 5 Abs. 3 GG als objektive Wertentscheidung: staatliche Pflicht zum Schutz einer freien Wissenschaft Das alles legt es nahe, die Probleme als solche des einfachen Rechts, vor allem des Gesetzesrechts, zu definieren, dem das Verfassungsrecht Impulse gibt. Dazu sei daran erinnert, daß Art. 5 Abs. 3 GG neben seinem abwehrrechtlichen Gehalt eine schutzrechtliche Komponente umfaßt, die – anders als bei den meisten Freiheitsgrundrechten – nicht später hinzugetreten ist, sondern von Anfang an ein integraler Bestandteil der Garantie freier Wissenschaft war34. „Die Freiheit der Wissenschaften ist im Verfassungsstaat als Typus und im GG als ,Beispiel‘ von zwei Seiten her gleichzeitig zu deuten: zum einen kulturanthropologisch vom einzelnen Menschen aus, zum anderen von der konstituierten offenen Gesellschaft her“35. Folglich geht es bei der objektiven Wertentscheidung nicht um einen das subjektive Abwehrrecht nur verstärkenden Annex, sondern um eine Grundentscheidung, mit der der Schlüsselfunktion, die einer freien Wissenschaft für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung zukommt, Rechnung getragen wird. Sie schließt – wie das Bundesverfassungsgericht anschaulich formuliert hat – „das Einstehen des Staates, der sich als Kulturstaat versteht, für die Idee einer freien Wissenschaft und Ähnlich Classen (Fn. 20), S. 89 f. So aber erkennbar auch Pernice (Fn. 20), Rn. 31. 34 Vgl. A. Blankenagel (Fn. 19), S. 40 ff. 35 Peter Häberle, Die Freiheit der Wissenschaft im Verfassungsstaat, AöR Bd. 110 (1985), S. 329 (349). 32 33

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seine Mitwirkung an ihrer Verwirklichung ein und verpflichtet ihn, sein Handeln positiv danach einzurichten, d. h. schützend und fördernd einer Aushöhlung dieser Freiheitsgarantie vorzubeugen.“36 Rechtsdogmatisch ist die objektive Komponente in zweifacher Hinsicht wichtig: Zum einen können ihr Kriterien entnommen werden, die die Einschränkung entgegenstehender Rechtspositionen – auch solche innerhalb des Art. 5 Abs. 3 GG – rechtfertigen. Neben dieser legitimierenden hat die Wertentscheidung auch eine stimulierende Funktion. Die Schutzinteressen der Wissenschaft können sich so verdichten, daß der Staat zum Handeln nicht nur befugt, sondern auch verpflichtet wird37. Bisher hat diese Bedeutungsschicht vor allem dort eine Rolle gespielt, wo es um Fragen einer wissenschaftsadäquaten Organisation von Wissenschaftseinrichtungen ging38. Für den vorliegenden Zusammenhang sind zwei andere Probleme wichtig: – Zum einen kann es notwendig werden, den einzelnen Forscher in seiner Veröffentlichungsfreiheit einzuschränken, um den Publizitätsinteressen einer freien Wissenschaft zu genügen. – Zum andern kann es geboten sein, der Wissenschaft den freien Zugang zu Informationsquellen, z. B. durch eine Einschränkung zu weitreichender gewerblicher Schutzrechte Dritter, zu sichern (dazu unter IV).

In beiden Fällen wird die objektive Gewährleistungsaufgabe argumentativ zu Lasten individualrechtlicher Positionen ein36 BVerfGE 35, 79 (114), std. Rspr.; Thomas Oppermann, Wissenschaft und Kunst, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 6, 1989, § 145 Rn. 17 ff. 37 Pernice (Fn. 20), Rn. 63; Trute (Fn. 19), pass.; Eberhard Schmidt-Aßmann, Die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, in: FS für W. Thieme, 1993, S. 697 ff. 38 BVerfGE 93, 85 (94 f.) mit weiteren Nachweisen.

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gesetzt. Die Wissenschaftsfreiheit rückt so in eine gewisse Nähe der Rundfunkfreiheit. Auf eine solche Parallelität der Informationsgrundrechte des Art. 5 Abs. 1 und Abs. 3 GG hat Dieter Grimm bereits in seinem Vortrag auf der Kölner Staatsrechtslehrertagung 1983 aufmerksam gemacht39: „Damit gleicht die Rundfunkfreiheit älteren kulturellen Freiheiten wie denen des Art. 5 Abs. 3 GG, die ebenfalls keine staatsausgrenzende Funktion im klassisch-liberalen Sinn erfüllen sollten und daher nicht notwendig mit privater Struktur identisch sind“. Trotzdem wird man die damit auch für die Wissenschaftsfreiheit nahegelegte funktionale Ausrichtung nicht leichten Herzens akzeptieren. Die Parallele der Rundfunkfreiheit weckt nicht nur positive Erwartungen. Der älteren verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu diesem Grundrecht ist nicht selten vorgeworfen worden, die funktional-institutionelle Interpretation habe das individuelle Abwehrrecht ganz in den Hintergrund treten lassen40. Für die Wissenschaftsfreiheit jedenfalls könnte eine solche Ent-Individualisierung nicht akzeptiert werden41. In der Zwischenzeit ist jedoch deutlich geworden, daß für alle Informationsgrundrechte des Art. 5 GG interpretatorisch nicht weiterzukommen ist, ohne den Kontext, in den die individuellen Handlungen eingebettet sind, zu seinem Recht kommen zu lassen. Dafür sind heute im wesentlichen einheitliche organisations- und verfahrensrechtliche Interpretationsansätze entwickelt worden, die sich in die allgemeine Grundrechts39 Dieter Grimm, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, VVDStRL Bd. 42 (1984), S. 46 (71); vgl. auch A. Blankenagel (Fn. 19), S. 49. Systematisch Helmuth Schulze-Fielitz, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl., 2004, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 212 ff. 40 Vgl. z. B. Martin Bullinger, Freiheit von Presse, Rundfunk, Film, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. 6, 1989, § 142 Rn. 125. 41 Schmidt-Aßmann (Fn. 37), S. 702 ff.

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dogmatik einpassen: vor allem prozedurale Regeln, die zu einem verhältnismäßigen Ausgleich führen sollen, ihrerseits aber nicht dem strikten Eingriffsparadigma unterfallen42. Den staatlichen Schutzauftrag des Art. 5 Abs. 3 GG und die Notwendigkeit eines einheitlichen Rahmens für die Regelung von Veröffentlichungsfragen zu betonen, hat auch hinsichtlich der erforderlichen rechtskonstruktiven Ausgestaltung seinen guten Sinn: Als individuelles Abwehrrecht bindet Art. 5 Abs. 3 GG nur den Staat, nicht aber Unternehmen und private Forschungseinrichtungen. In der Lehre ist versucht worden, diesen Graben mit Hilfe einer Drittwirkung zu überwinden, um z. B. auch angestellten Forschern in der Industrie die Möglichkeit freier Publikationen zu sichern43. Damit wird jedoch nur ein Teil der Probleme erfaßt; denn Veröffentlichungsbeschränkungen bestehen nicht nur in Abhängigkeitsverhältnissen. Sie können auch zwischen privaten Forschungsunternehmen verabredet werden. Drittwirkungen führen zurück zum individualrechtlichen Ansatz, der den Schutzgehalt des Art. 5 Abs. 3 GG wie gezeigt nicht ausschöpft. 2. Ein Plädoyer für eine „positive Ordnung“ des Veröffentlichungswesens Gerade die Frage der Publikation von Forschungsergebnissen zeigt, daß eine abwehrrechtliche Betrachtung allein nicht genügt. Die im Bezug auf den Rundfunk getroffene Feststellung des Bundesverfassungsgerichts gilt auch für das Wissenschaftssystem: Indienstnahmen drohen nicht nur von Seiten des Staates, sondern auch von gesellschaftlichen Mächten. Aus diesem Grund wäre es unzureichend, Art. 5 GG lediglich als staatsgerichtetes Abwehrrecht zu verstehen44. Auch die Wis42 43 44

Vgl. Schulze-Fielitz (Fn. 39), Rn. 212 ff. und 241 ff. Darstellung und Kritik bei M. Blankenagel (Fn. 16), S. 155 ff. BVerfGE 90, 60 (88).

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senschaftsfreiheit verlangt vielmehr vom Staat „eine positive Ordnung“, die sicherstellt, daß ihre eigenen Handlungsmaximen und Aufträge nicht zu Zwecken der Wirtschaft oder der Politik verfremdet werden. „Der Mitteilungsfertigkeit bedarf der Gelehrte immer, denn er besitzt seine Kenntnisse nicht für sich selbst sondern für die Gesellschaft“, sagt Johann Gottlieb Fichte in seinen Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten 179445. Der für die Informationsfreiheiten insgesamt beachtliche Bezug zum demokratischen Prinzip – und es wäre hinzuzufügen, auch zum republikanischen Prinzip einer wirklichen „res publica“ – gilt auch hier46. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Wissenschaft selbst agiert nicht nach den Regeln der Demokratie. Methodenfragen sind nicht durch Mehrheitsbeschluß zu lösen und Forschungsergebnisse nicht nach Abstimmungsregeln zu erzielen. Der Bezug zum demokratischen und zum republikanischen Prinzip meint aber, daß eine freie Wissenschaft in einer demokratischen Gesellschaft darauf angewiesen ist, transparent zu handeln und ihre Ergebnisse öffentlich zugänglich zu machen. Dafür einen rechtlichen Rahmen vorzuhalten, kann als Aufgabe des staatlichen Rechts angesehen werden. a) Aufgaben der Gesetzgebung Veröffentlichungsregeln finden sich zur Zeit vor allem im Hochschulrecht der Länder, für die Drittmittelforschung auch im Hochschulrahmengesetz47. Ob es dabei nach den jüngsten verfassungsgerichtlichen Erkenntnissen zur Kompetenzstruktur im Bundesstaat bleiben kann48, erscheint fraglich. Ebenso unsicher ist allerdings, ob die bisherige Verortung der Frage 45 Ausgewählte Werke in 6 Bänden, hrsg. von Fritz Medicus, Schriften von 1792 – 1795, Bd. 1, 1922, S. 217 (258). 46 Zur „res publica“ Peter Häberle, VVDStRL Bd. 63 (2004), S. 445 f. 47 Vgl. die Darstellung bei Lux (Fn. 17), S. 102 ff. 48 BVerfG, 2 BvF 2 / 02 vom 27. 7. 2004, NJW 2004, S. 2803.

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im Hochschulrecht der systematisch richtige Standort ist. Es geht keineswegs nur um die Publizität der Hochschulforschung, sondern ebenso um diejenige der außeruniversitären öffentlichen Forschung und auch der Industrieforschung. Manches spricht dafür, daß die Gesetzgebungskompetenz für die Förderung der wissenschaftlichen Forschung nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 13 GG der bessere Standort einer Regelung von Veröffentlichungsfragen wäre. Viel zu lange hat die Konzentration auf das Hochschulrecht das deutsche Wissenschaftsrecht davon abgehalten, Grundfragen für alle Forschungstypen in einem einheitlichen systematischen Rahmen anzugehen. Schutzrechtlich ausgerichtete Gesetzgebungsakte sollten eine Regelverpflichtung zur Veröffentlichung von Forschungsergebnissen in angemessener Zeit für jede Form öffentlich geförderter Forschung festlegen, einerlei, ob es sich um institutionelle Förderung oder um Projektförderung handelt. Zu flankieren ist diese Pflicht durch ein Verbot, über Veröffentlichungsentscheidungen Dritten ein endgültiges Bestimmungsrecht einzuräumen. Im Arzneimittelrecht sollte zudem mindestens eine Registrierungspflicht für durchgeführte klinische Studien vorgesehen werden49. Ungeregelt hat allerdings der Kern der negativen Veröffentlichungsfreiheit zu bleiben: die Entscheidung des einzelnen Wissenschaftlers darüber, ob das Stadium der Veröffentlichungsreife erreicht ist50. Vorschriften dieser Art werden auf Dauer das Publikationsklima auch in der über die staatliche Förderung nicht zu erreichenden Industrieforschung verändern. Dabei darf daran erinnert werden, daß auch heute schon Industrieforschung keinesfalls mit Geheimforschung gleichzusetzen ist.

49 Zur jüngsten Rechtsentwicklung in den USA vgl. das Editorial von Donald Kennedy in Science, Vol. 305 (July 23, 2004), S. 451. 50 BVerfGE 47, 327 (383).

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b) Aufgaben der Justiz Sieht man sich die Vertragsmuster an, die die öffentlichen Forschungseinrichtungen ihrer Kooperation mit der Wirtschaft zugrunde zu legen versuchen, so zeigt sich durchaus eine Tendenz, daß Veröffentlichungsfragen ernst genommen werden. Klauseln, denen zufolge dem Auftraggeber ein absolutes Veto gegen eine Veröffentlichung der Forschungsergebnisse eingeräumt wird, sind in den Vertragsmustern kaum zu finden. Üblich sind Klauseln, die es dem Auftraggeber ermöglichen, eine Schutzrechtsanmeldung zu prüfen, ohne durch eine neuheitsschädliche Vorpublikation gefährdet zu werden51. Nicht selten finden sich dafür Fristen von 60 oder 90 Tagen. Im übrigen aber wird vom Grundsatz der Publikation ausgegangen. Entscheidend sind freilich nicht die Vertragsmuster sondern das, was gegenüber den Auftraggebern durchgesetzt werden kann. Hier bereiten vor allem die Universitäten Anlaß zur Sorge, weil nicht alle über hinreichende Erfahrungen verfügen und sich von dem Argument beeindrucken lassen, man werde, wenn auf die Wünsche des Auftraggebers nicht eingegangen würde, die Forschungsmittel einer anderen Universität zuwenden. Demgegenüber will die hier vorgeschlagene stärkere Ausbildung von Rechtsregeln über das Veröffentlichungswesen die Position von Forschungseinrichtungen in Vertragsverhandlungen stärken, indem Grenzen des Verhandelbaren aufgezeigt werden. Nimmt man das, was oben zum materiellen Gehalt einer verfassungsunmittelbaren Veröffentlichungspflicht gesagt worden ist, hinzu, so sollten vor allem die Gerichte bei der Auslegung von Forschungsverträgen dem Gedanken der Publizität stärker Rechnung tragen. Vertragsklauseln, die eine Publikation der Forschungsergebnisse generell untersagen oder an ein absolu51

Max-Planck-Gesellschaft, Leitfaden Industriekooperation, S. 9 Ziff. 6.

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tes Veto binden, sollten nur dort akzeptiert werden, wo konkrete Gründe des staatlichen oder des privaten Geheimnisschutzes dargetan werden können52. Militärischen und betrieblichen Geheimnissen kann auf diese Weise sehr wohl Rechnung getragen werden. Insgesamt sollte das Wissenschaftsrecht aber nicht hinter den Maßstäben zurückbleiben, die im Handels- und Gesellschaftsrecht heute anerkannt sind. Wo Geheimhaltung oder Teilveröffentlichungen dagegen bewußt einen falschen Eindruck hervorrufen oder aufrechterhalten sollen, sind Publikationsbeschränkungen generell nicht zu akzeptieren. Die Gerichte sollten nicht zögern, dagegen verstoßende Vertragsklauseln nach § 138 BGB als nichtig zu behandeln. c) Komplementäre Bedeutung der wissenschaftlichen Selbstregulierung Das führt zu einem weiteren wichtigen Punkt: Staatliche Regelungen können die Probleme der Wissenschaft „mit sich selbst“ immer nur partiell erfassen. Sie müssen sich auf Grundlinien beschränken. Die „positive Ordnung“, die Art. 5 Abs. 3 GG zu konstituieren sucht, ist daher in erheblichem Umfang auf wissenschaftliche Selbstregulierung angewiesen53. In Deutschland ist die Bedeutung ausformulierter wissenschaftseigener Standards spät entdeckt worden. Ein Markstein waren die von der DFG 1998 beschlossenen Empfehlungen zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis gegenüber Fehlverhalten in der Forschung54. Ähnliche Regelwerke besitzen heute alle großen Wissenschaftseinrichtungen. In den USA Vgl. M. Blankenagel (Fn. 16), S. 203 ff. Zum Zusammenwirken staatlichen Rechts und wissenschaftseigener Normen vgl. Eberhard Schmidt-Aßmann, Privatrechtliche und öffentlich-rechtliche Gestaltungsform (staatlicher) Aufgabenwahrnehmung: Das Beispiel des Wissenschaftsrechts, in: Martin Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates, 2001, S. 19 (25 ff.). 54 Abgedruckt in: NJW 1998, S. 1764 f. 52 53

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gibt es codes of conduct zu wesentlich mehr Themen wissenschaftlicher Selbstregulierung. Auch für die Veröffentlichungsprobleme muß die Wissenschaft eigene Verhaltensregeln entwickeln55. Angesprochen sind hier primär die Fachgesellschaften, die Herausgeber von Fachzeitschriften, aber auch die Institutionen der Forschungsförderung und der Forschung selbst. Erforderlich erscheinen u. a. Regeln, die dazu verpflichten, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Autor und Dritten offenzulegen, die ein finanzielles Interesse an dem Forschungsgegenstand haben. Auch Normen, die dazu anhalten, auf Unvollständigkeiten, z. B. auf die ungeprüfte Übernahme der vom Auftraggeber gelieferten Forschungsdaten, aufmerksam zu machen, gehören hierher. Es sollte möglich sein, ein typologisch ausgerichtetes Regelsystem für wissenschaftliche Interessenkonflikte zu entwickeln, das den Befangenheitsregeln des Prozeßrechts oder des Verwaltungsverfahrensrechts nicht nachsteht! IV. Freier Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen und die Bedeutung von Forschungsklauseln im Patentrecht Die Öffentlichkeit der Wissenschaft zeigt sich auch in der dauerhaften Verfügbarkeit wissenschaftlichen Wissens. Wie die Pflicht zur Veröffentlichung so gehört auch die Vorstellung des Wissens als eines öffentlichen Guts zum Bild einer freien Wissenschaft. Allerdings gibt es auch Gegengründe – legitime, verständliche, zweifelhafte und unzulässige. Auch hier fällt es dem staatlichen Recht zu, die gegenläufigen Interessen unter möglichster Rücksichtnahme auf die wissenschaftseigenen Handlungsrationalitäten auszubalancieren. 55

Anschaulich Helmchen (Fn. 4), S. 961.

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Untersucht werden soll das am Beispiel des Patentrechts, das ja eigens dazu geschaffen ist, durch Verfahren einer spezifischen Schutzrechtszuteilung eine Publizitätsordnung auszubilden, die zur Generierung neuen Wissens fortgesetzt anreizt. Dabei sollen in unserer Betrachtung nicht aktuelle Fragen der Patentierbarkeit von Computerprogrammen oder biologischer Erkenntnisse sondern zwei Strukturfragen im Vordergrund stehen, nämlich der verfassungsrechtliche Schutz des Patentrechts (1.) und die Bedeutung von Forschungsklauseln, mit denen das Patentrecht speziell den Interessen am Fortgang der Wissenschaft Rechnung zu tragen versucht (2.). Es wird sich zeigen, daß das deutsche Recht durch einen vorrangig individualrechtlichen Zugang zunächst gewisse Schwierigkeiten bereitet, Wissen als öffentliches Gut zu verstehen, daß aber eine umsichtige Patentrechtsprechung in gewissem Rahmen Abhilfe geschaffen hat. 1. Verfassungsrechtliche Grundlagen des Immaterialgüterrechts Die erste entscheidende Weichenstellung erfolgt mit der Annahme, daß Urheber- und Patentrechte in ihren vermögenswerten Elementen den Schutz der Eigentumsgarantie genießen56. a) Individualrechtlicher Ansatz Das Bundesverfassungsgericht hat diese Ansicht für das Urheberrecht bereits 1971 herausgestellt und sie kurz darauf für das Patentrecht bestätigt: Art. 14 GG komme im Gesamtgefüge der Verfassung die Aufgabe zu, dem Träger des Grundrechts durch Zubilligung und Sicherung von Herrschafts-, 56 Hans-Jürgen Papier, in: Theodor Maunz / Günter Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, Stand 2002, Art. 14 Rn. 197 ff.; Frank Fechner, Geistiges Eigentum und Verfassung, 1999.

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Nutzungs- und Verfügungsrechten einen Freiraum im vermögensrechtlichen Bereich zu gewähren und ihm damit die Entfaltung und eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens zu ermöglichen; diese sichernde und abwehrende Bedeutung der Eigentumsgarantie gebiete es, die vermögenswerten Befugnisse des Urhebers zu seinem Werke als „Eigentum“ i.S. des Art. 14 GG anzusehen57. Vom allgemeinen Erfinderrecht sagt das Bundesverfassungsgericht, es werde seit langem als eine Rechtsposition angesehen und sei als technisches Urheberrecht ebenfalls als Eigentum (Art. 14 GG) einzustufen58. Damit ist im Ausgangspunkt eine klare individualrechtliche Position bezogen. Die verfassungsgerichtliche Perspektive auf die Urheber- und Patentrechte ist nicht die des öffentlichen Gutes sondern die des Grundrechtsschutzes für den Urheber. Daran ist auf der Basis des deutschen Verfassungsrechts nicht vorbeizukommen. „Die Rechtsordnung hat das Recht zur wirtschaftlichen Auswertung einer neuen Idee, die Technik und Wissenschaft fördert, demjenigen zuerkannt, der sie hervorgebracht hat“59. Der Gesetzgeber habe – so heißt es später60 – die vermögenswerten Ergebnisse seiner Schöpfungsleistung grundsätzlich dem Urheber zuzuordnen und dessen Freiheit zu gewährleisten, in eigener Verantwortung darüber verfügen zu können. b) Privat- und zugleich gemeinnützige gesetzliche Ausgestaltung Trotz ihrer Einstufung als verfassungsrechtliches Eigentum besitzen Urheber- und Patentrechte nicht das Ausmaß an vorgegebener Festigkeit, wie sie das Grundeigentum traditionell 57 58 59 60

BVerfGE 31, 229 (239); vgl. auch 79, 29 (40). BVerfGE 36, 281 (290). BVerfGE 36, 281 (290). BVerfGE 79, 29 (40).

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für sich beanspruchen kann. Zutreffend wird auf die Notwendigkeit ihrer Ausgestaltung hingewiesen, die erst der Gesetzgeber leistet61. Bei dieser Ausformung hat sich dieser einerseits an der Privatnützigkeit und andererseits am Wohl der Allgemeinheit zu orientieren (Art. 14 Abs. 2 GG). Das Individualinteresse des Urhebers kann keinen unbedingten Vorrang beanspruchen. Gerade bei den Immaterialgüterrechten gibt es ein gesteigertes Interesse, einen weitgehend öffentlichen Zugang zu geistigen Schöpfungen zu erhalten; denn sie sind zugleich die Basis wissenschaftlichen und kulturellen Schaffens62. Die widerstreitenden Belange sind unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und des Gleichbehandlungsgebotes in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen63. Dabei sind auch die Publizitäts- und Zugriffsinteressen der Wirtschaft angemessen zu berücksichtigen. Diesem Ziele dient es zum Beispiel, wenn § 1 Abs. 2 PatG Entdeckungen, wissenschaftliche Theorien, mathematische Methoden und Programme der Datenverarbeitung nicht als patentierbar ansieht. Mittelbar gehört in diesen Kontext auch § 2 Nr. 1 PatG, demzufolge Patente für Erfindungen nicht erteilt werden, deren Veröffentlichung oder Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstößt. Public order und public domain begegnen sich hier in einem freilich sehr umstrittenen Grenzbereich. Schließlich sind es bestimmte Zugriffsbefugnisse, wie Zwangslizenzen (§ 24 PatG), die einer Monopolisierung des geschützten Wissens entgegenwirken sollen.

BVerfGE 79, 29 (40). Dazu Otto Depenheuer, in: Hermann v. Mangoldt / Friedrich Klein /Christian Starck (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 4. Aufl., 1999, Art. 14 Rn. 151. 63 BVerfGE 79, 29 (41). 61 62

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2. Forschungsprivilegien im Patentrecht Zu den Vorschriften, die die verfassungsrechtlich anerkannten Verwertungsinteressen des Urhebers mit den grundgesetzlich ebenfalls abgesicherten Belangen von Kultur und Wissenschaft zum Ausgleich bringen, gehört das sog. Forschungsprivileg (experimental use exception), das sich im nationalen und internationalen Patentrecht findet. Nach § 11 Nr. 2 PatG erstreckt sich die Wirkung des Patentschutzes nicht auf „Handlungen zu Versuchszwecken, die sich auf den Gegenstand der patentierten Erfindung beziehen“. Eine nahezu wortgleiche Klausel enthalten das Europäische Patentübereinkommen von 1975 bzw. 1989 (Art. 27 b) und der Entwurf einer Gemeinschaftspatent-VO (Art. 9 lit. b). In ihnen wird der spezifische Schutzauftrag wirksam, der einem Staat, der sich – in der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts64 – „als Kulturstaat versteht“, zugunsten freier Forschung obliegt. Forschungsprivilegien sind dem Anliegen des Patentschutzes immanent, durch eine geschützte Publizität Anreize zur Gewinnung neuen Wissens zu bieten65. Sie unterstreichen die oben herausgearbeitete Verzahnung von Individualrechtsschutz und sozialem Entwicklungsmandat. Die Rechtsentwicklungen in Europa und in den USA gehen in diesem Punkte allerdings in unterschiedliche Richtungen: Während sich vor allem in Deutschland eine liberale Rechtsprechungspraxis herausgebildet hat, engen amerikanische Gerichte das Forschungsprivileg zunehmend ein. Die Rechtsprechung trägt der gestiegenen Bedeutung von Forschungsklauseln in der neueren Wissenschaftslandschaft durch eine erweiternde Interpretation des § 11 Nr. 2 PatG zutreffend Rechnung. Die ältere Auffassung hatte nur solche Versuchshandlungen erlaubt, die zu wissenschaftlichen Zwekken dienen sollten und mit denen die Funktionsfähigkeit oder 64 65

BVerfGE 35, 79 (114). Christian Osterrieth, Patentrecht, 2004, Rn. 255.

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die Funktionsweise einer patentierten Erfindung erprobt werden sollte. In der Entscheidung vom 11. 7. 1995 leitete der BGH jedoch eine grundlegende Wende ein („Klinische Versuche I“)66. Der Begriff des Versuchs wird nunmehr weit interpretiert und umfaßt danach jedes planmäßige Vorgehen zur Gewinnung von Erkenntnissen, unabhängig davon, zu welchem Zweck die gewonnenen Erkenntnisse letztlich dienen sollen. Es könne – so wird ausgeführt – nicht darauf ankommen, ob die Versuche nur der Überprüfung der in der Patentschrift enthaltenen Angaben oder aber der Erlangung weiterführender Forschungsergebnisse dienen und ob mit ihnen weitere Zwecke, wie gewerbliche Interessen, verfolgt werden sollten. Der Bundesgerichtshof folgert dieses aus dem Zweck des Patentschutzes, der einerseits durch Verleihung eines Ausschließlichkeitsrechts eine besondere Leistung anerkennen, andererseits aber auch einen Ansporn für weitere Leistungen geben wolle. Es sei seine Aufgabe, „den technischen Fortschritt zu fördern und den Erfindergeist für das Gewerbe in nutzbringender Weise anzuregen“. Ausdrücklich wird dabei an die Forschungsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG erinnert, die bei der Abwägung zwischen den Interessen des Patentinhabers an einem möglichst weitgehenden Schutz und den Interessen der Allgemeinheit an der Fortentwicklung der Technik berücksichtigt werden müsse. Die Interessen der Allgemeinheit an der Fortentwicklung der Technik sind hier praktisch gleichberechtigt in das Schutzkonzept integriert. In einer Entscheidung aus dem Jahre 1997 hat der Bundesgerichtshof diese Linie fortgeführt und noch stärker ausgezeichnet67. Obwohl die neue Interpretation des § 11 Nr. 2 PatG zu einer erheblichen Belastung für den Patentinhaber führt, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht hiergegen nichts einzuwenden. Das Bundesverfassungsgericht hat eine dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. 66 67

BGHZ 130, 259 = NJW 1996, S. 782 ff.; GRUR 1996, S. 109 ff. BGHZ 135, 217 ff.

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Es hat ausgeführt, daß Forschungsklauseln eine zulässige Möglichkeit des Gesetzgebers sind, Forschung und Entwicklung von Wissenschaft und Technik zu ermöglichen68. Auch die Anwendung des § 11 Nr. 2 PatG durch den Bundesgerichtshofs halte – so heißt es weiter – einer Prüfung an Art. 14 GG stand, weil sie in nachvollziehbarer Weise dargelegt habe, daß ein uneingeschränkter Schutz des Patents mit Rücksicht auf die Freiheit der Forschung und die Sozialbindung des Eigentums dort nicht gerechtfertigt sei, wo die Weiterentwicklung der Technik behindert werde. Die entwicklungspolitische Zielsetzung der neueren Rechtsprechung kann damit als akzeptiert gelten. Auch die Gefahr, daß die privilegierten neuen Forschungen alsbald zur Erteilung von Verwendungspatenten führen, ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts keine unzumutbare Belastung für den Inhaber des Erzeugnispatents, denn dieser werde am wirtschaftlichen Wert des Verwendungspatents beteiligt. Erneut wird dabei die Bedeutung der Anreizfunktion im Patentrecht hervorgehoben. Die Literatur sieht in der referierten Rechtsprechung einen Durchbruch zu einer Liberalisierung des Forschungsprivilegs69. Eine solche Ansicht, die § 11 Nr. 2 PatG nicht als eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift betrachtet, wird der besonderen eigentumsrechtlichen Struktur der Immaterialgüterrechte besser gerecht, als eine allein vom Individualrecht ausgehende Vorstellung. Das Individualrecht wird durch seine Einbindung in einen Entwicklungszusammenhang überhaupt erst konstituiert70. Dieser Entwicklungszusammenhang muß offengehalten werden. Ein wichtiges Instrument dazu sind die Forschungsklauseln. „Der soziale Bezug liegt bei Patenten darin, daß weitergehende Forschungen und die FortentwickBVerfGE (1. Kammer des 1. Senats), GRUR 2001, S. 43 ff. So Wolfgang von Meibom / Johann Pitz, in: Mitteilungen der Deutschen Patentanwälte 1998, S. 244 (246 f.). 70 Ähnlich Thomas Hieber, GRUR 1996, S. 439 (445). 68 69

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lung von Wissenschaft und Technik, was ja gerade auch einen Hauptgrund für die Erteilung von Patenten darstellt, nur mittels Versuchen möglich sind, die auf den jeweils neuesten Forschungsergebnissen aufbauen. Neue Erkenntnisse dürfen also, was die Forschung betrifft, nicht monopolisiert und damit unzugänglich gemacht werden“71. Ganz anders hat sich die Rechtsentwicklung in den USA vollzogen. Hier haben die zuständigen Gerichte die experimental use exception außerordentlich eng ausgelegt72. Das soll hier nicht weiter dargestellt werden, obwohl gerade im Patentrecht eine natürliche Internationalität des Wissenschaftsrechts, die keineswegs erst durch neue Entwicklungen entstanden ist, gut zu belegen wäre.

V. Eine Schlußbemerkung Diese Beobachtung soll vielmehr nur in einer Schlußbemerkung zusammengefaßt werden: Wissenschaft – Öffentlichkeit – Recht sind, wie die anderen Schlüsselbegriffe dieses Symposions auch, von vornherein staatenübergreifende Erscheinungen. Wir sollten uns bei ihrer Behandlung folglich nicht von Begriffen wie denen der „Globalisierung“ oder „Internationalisierung“ leiten lassen, die heute für jede Form der Neuorientierung angerufen oder für jede Art von Orientierungslosigkeit verantwortlich gemacht werden. Unsere Thematik muß keine „Neuerungsschübe“ abarbeiten. Aber sie muß jene historische, komparatistische und philosophische Weite haben, die eine fundierte Rechtswissenschaft ausmacht.

Hieber (Fn. 70), S. 446. Vgl. die gekürzte Fassung der Entscheidung des United Court of Appeals for the Federal Circuit, in: GRURInt 2003, S. 792 ff. 71 72

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Repräsentation und Demokratie Von Hans Meyer

I. Introitus Mir fällt zu „Repräsentation und Demokratie“ nichts ein, jedenfalls nicht Positives. Würde mir in der stillen Hoffung, Neues entdeckt zu haben, etwas einfallen, liefe ich Gefahr, von dem Meister der Begriffsgeschichte der Repräsentation, dessen überaus erfolgreiche Habilitationsschrift im Jahre 2003 in der Einleitung zur 4. Auflage den Ausgriff des Repräsentationsbegriffs über Theologie, Philosophie und Staatswissenschaft hinaus auf die Kognitionswissenschaften, auf Ästhetik und Bildtheorie bis zur Sozialpsychologie in präziser Nachzeichnung vermelden kann, – von jenem Meister also, der schon in seiner Person allein die Bedingungen für eine gute Fakultät erfüllt hat, die kein geringerer als Georg Christoph Lichtenberg so formulierte: „In jeder Fakultät sollte wenigstens Ein recht tüchtiger Mann sein“, um dann den für manche Fakultät tröstlichen Satz anzufügen: „Wenn die Charniere von gutem Metall sind, so kann das übrige Holz sein“, – von jenem Meister also, um den Satz wieder aufzugreifen, würde ich, falls mir etwas einfiele, Gefahr laufen, darauf hingewiesen zu werden, es handle sich doch um Eulen, die ich den hier versammelten kundigen Athenern und Athenerinnen andrehen wolle, vielleicht um die eine oder andere im Athener Angebot noch nicht enthaltene Zwergeule, aber um Eulen eben. 7*

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Also lasse ich den Versuch und konzentriere mich auf den anderen, klar zu machen, warum der Begriff der Repräsentation mit einer ausgebildeten Demokratie welchen Typs auch immer sich schwerlich kombinieren lässt, die Kombination vielmehr in manchen Köpfen und bei Gerichten, was nicht dasselbe sein muss, gelegentlich Schaden anrichtet. Ich sehe vier potentielle Schadensfelder, die ich im Folgenden zur Debatte stellen will. Es geht zum einen um die mit der Repräsentation notwendig verbundene Vorstellung von Einheit. Dieser Begriff ist der Demokratie, wie zu zeigen sein wird, fremd. Es geht zum zweiten darum, dass über die Vorstellung von Repräsentation leicht Legitimation in Anspruch genommen werden kann, die in der Demokratie erst verdient werden müsste. Zum dritten führt der Begriff der Repräsentation zu einer Überzeichnung von Stellung und Funktion des Parlaments vor allem als Gesetzgeber und verhindert damit viertens eine verfassungsrechtlich korrekte wie realistische Einschätzung des Stellenwertes und der Möglichkeiten von Volksrechten.

II. Einheit und Vielfalt als konträre Prinzipien von Repräsentation und Demokratie Repräsentiert werden Einheiten. Repräsentieren kann man Familien, Stände, Klassen, das Volk, den Staat, Firmen, Ideen, Gott usw. Das Repräsentierte wird dabei aber immer als Einheit gedacht, und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen mitgliedschaftlichen Verband handelt, eine Institution oder eine Idee, und unabhängig von dem Grad der Binnendifferenzierung. Eine Weltfirma wird, falls sie als solche repräsentiert wird, unabhängig von der Firmenkultur, die in den einzelnen Weltteilen höchst unterschiedlich sein kann, als eine wirtschaftliche Einheit repräsentiert. Der Repräsentant begibt sich mit jedem Akt der Repräsentation in ein Außenverhältnis, in einen Außenraum, er braucht

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ein Gegenüber. Er vertritt die Repräsentierten, den Repräsentierten oder auch das Repräsentierte. Dabei ist nicht eine Vertretung im Rechtssinne, vor allem keine Bindung der Vertretenen gemeint, sondern, vor allem im politischen Bereich, für die Repräsentierten das Beziehen von Positionen im Meinungsstreit, das Geltendmachen von Wünschen oder Ansprüchen, das symbolische Auftreten usw. Jedes Eingehen von Außenbeziehungen verlangt schon um der intendierten Wirkung willen ein möglichst einheitliches Auftreten. Geht man in den genuin politischen Bereich, so machte der Begriff der Repräsentation, solange keine Schwierigkeiten, als man im absoluten wie im konstitutionellen Monarchen das Gegenüber hatte, dessen man zum Repräsentieren benötigte. Auch die zunächst bürgerlichen Parlamente, die sich in der Endphase der monarchischen Zeit zu Volksparlamenten entwickelten, konnte man so lange noch als Repräsentationsorgane bezeichnen, die schließlich „das Volk“ repräsentierten, solange sie der aus anderem, nämlich eigenem Recht agierenden Regierung etwas abzutrotzen hatten. Dass für die monarchischen Parteien und im Prinzip auch für die national gesonnenen die monarchische Exekutive kein ernsthaftes Gegenüber war, musste nicht grundsätzlich irritieren, auch nicht, dass das Parlament zunehmend Herrschaftsaufgaben erkämpfte, jedenfalls solange sie nur gemeinsam mit dem Monarchen ausgeübt werden konnten. Diese Zeit des Kampfes um bürgerschaftliche Mitbestimmung führte im übrigen in der Staatsrechtslehre hier und da zu pastosen Bildern einer kraftvollen Volksvertretung, welche die Rechte des Volkes gegenüber dem Monarchen zu vertreten gewusst habe; zugleich dienten sie als Folie für die angeblich traurige Gestalt der nachrevolutionären Parlamente. Mit der Revolution und der Einführung der Demokratie in Deutschland – und darauf konzentriere ich mich im Folgenden – hätte man die Bezeichnung des Parlaments als eines Repräsentationsorgans, wäre man konsequent geblieben, auf-

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geben müssen. Das Gegenüber war entfallen und das Parlament mutierte zu einem wichtigen Organ der Herrschaft, auch und vor allem gegenüber dem Volk. Es mag vielleicht drei Gründe gegeben haben, warum dieser fundamentale Wechsel in der Stellung der Volksvertretung keine Auswirkung auf seine Einschätzung als Repräsentationsorgan gehabt hat. Der eine war, dass man fälschlich wohl glaubte, nur mit der Repräsentationsfunktion das weder von der Weimarer Verfassung noch vom Grundgesetz so bezeichnete, gleichwohl aber unter dem Grundgesetz so genannte „freie Mandat“ des Abgeordneten zu erklären. Der zweite und dritte Grund könnte etwas mit der Einheitsvorstellung zu tun haben. Das freie Mandat schien geeignet, „den einheitlichen Willen der Nation zum Ausdruck zu bringen“ (Giuseppe Duso, Repräsentative Demokratie: Entstehung, Logik und Aporien ihrer Grundbegriffe, S. 17, in: Karl Schmitt, Herausforderungen der repräsentativen Demokratie, 2003), weil es die Bindung an partielle Interessen ausschloss. In der Monarchie schien es keine Schwierigkeit, dem Staat einen Willen zuzuordnen. Mit dem Übergang zur Demokratie drohte dieses unabdingbar scheinende einheitsstiftende Moment durch die Vielzahl der nun mitentscheidenden Willensträger verloren zu gehen, was die Theoretiker dazu veranlasste, eine eigenständige normative Größe zu erfinden, den allgemeinen Willen, die volonté generale, die auf das Eleganteste sowohl dem Einheitsbedürfnis Rechnung trug als auch inhaltlichen Anforderungen Rechnung tragen konnte. Mit der Wirklichkeit hatte sie freilich wenig gemein. Der dritte Grund, warum man an den Repräsentationsvorstellungen festhielt, war möglicherweise die Tatsache, dass sich mit der Einführung der Demokratie die „Volkssouveränität“ durchgesetzt hatte. Auch dies ist ein Begriff, der von Einheitsvorstellungen lebt. Er ist zudem ein Begriff der Abgrenzung, wenn nicht der Ausgrenzung. Es soll keinen anderen Legitimationsgrund für Herrschaftsausübung im Staat mehr geben

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als das Volk selbst. Der Bezug dieser Souveränität auf den Staat sollte freilich nicht vergessen lassen, dass ihre Reichweite von der des Staates abhängig ist. Auch die Volkssouveränität ist auf das beschränkt, was dem Staat durch Föderalismus, Europa und formelle und informelle internationale Bindungen noch offen ist, zu regeln. Wie die Repräsentation auf Einheit zielt und den Blick immer nach außen wendet, dem Gegenüber zuwendet, so hat es die Demokratie mit der Innensicht zu tun und diese wird durch Vielfalt, nicht durch Einheit bestimmt. Vielfalt zeichnet das Substrat der Demokratie, die Bürger, aus. Die Dichotomie des Geschlechts, an den Rändern bröckelnd, ist noch die simpelste, gleichwohl hat gerade unsere Generation erlebt, welch ungeheuere Dynamik sich in der Demokratie damit verbinden kann. Die Bürger sind nach Alter, Ausbildung, Bildung, sozialer Schicht, Arbeits- und Lebensweise, religiöser, regionaler und politischer Verbundenheit, geistiger Kapazität, in Reichtum und Armut und erst recht in ihren Befürchtungen, Wünschen und Erwartungen höchst unterschiedlich. Sie sind Individualitäten und wollen auch als solche respektiert werden. Diese Vielfalt so zu organisieren, dass ein handlungsfähiges System, ein handlungsfähiger Staat daraus wird, ist Aufgabe der Demokratie. Dazu ist sie postuliert und durchgesetzt worden. Diese Aufgabe ist mit fünf Grundsatzentscheidungen gelöst worden: Die erste ist die Irrelevanz aller oben aufgezeigter und noch weiterer Differenzierungen für die Anerkennung der politischen und damit demokratischen Rechte. Jeder Bürger ist vielmehr als solcher in politicis, also bei den politischen Rechten, strikt gleich zu behandeln. Das Bundesverfassungsgericht hat das grundsätzlich anerkannt, freilich gelegentlich, wenn es politisch opportun erschien, auch einmal vergessen. Die zweite Grundsatzentscheidung ist, dass sich Unterschiedlichkeiten in politischen Parteien manifestieren können und diese etwa nicht als einheitsstörende Spaltpilze betrachtet werden dürfen. Die dritte Grundsatzentscheidung ist die Delegation von Entschei-

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dungsbefugnissen auf eine Vertreterversammlung, das Parlament, eine Notwendigkeit, die sich schon aus dem Zwang zu einer kontinuierlichen Bewältigung der Angelegenheiten der Bürger ergibt. Die vierte Grundsatzentscheidung ist die Anerkennung von Mehrheitsentscheidungen als natürlicher Entscheidungsmodus in Großverbänden; das gilt sowohl für das Parlament wie für Volksentscheide. Als Kompensation werden in der fünften Grundsatzentscheidung bestimmte Rechtspositionen der Bürger über Grund- oder Menschenrechte der Verfügungsbefugnis der Mehrheit entzogen. Selbst für Verfassungsänderungen gibt es in diesem Punkte Sperren. Alle diese Entscheidungen basieren auf der demokratischen Grundannahme der Volkssouveränität. Das Grundgesetz hat dies alles in hinreichender Präzision festgelegt. Schöner und zugleich einfacher als mit dem Satz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG) kann man das Prinzip der Volkssouveränität nicht ausdrücken. Als die beiden Modi der Entscheidung durch das Volk selbst, werden „Wahlen und Abstimmungen“ genannt (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Auf die Abstimmungen ist im fünften Kapitel näher einzugehen. Der Abstimmungsmodus der Wahlen wird in Art. 38 Abs. 1 Satz GG wieder aufgenommen und verweist auf die Etablierung eines Parlaments, dessen Entscheidungsmodus wiederum Art. 42 Abs. 2 GG grundsätzlich auf Mehrheitsentscheidung festlegt. Schließlich binden die Grundrechte jegliche Gewalt, auch das Parlament (Art. 1 Abs. 3 GG). Demokratie kann also auch ohne jeden Gedanken der Repräsentation gedacht werden und sollte es auch.

III. Der Legitimationsmehrwert der Repräsentation im Gegensatz zur Demokratie Wenn es der Sinn der Repräsentation mit ihrem freien Mandat ist, den allgemeinen Willen des Volkes, die volonté gene-

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rale auszudrücken, und man dabei noch das gute Gefühl haben kann, das Beste für den Ursprung der Staatsgewalt, das Volk, zu realisieren und daher ein entgegenstehender Wille des Volkes unerheblich ist, weil es nicht genug nachgedacht hat oder aus welchem Grund auch immer, dann ist man, das Parlament und die Abgeordneten, in einer komfortablen Lage. Kraft des Repräsentationsrechts hat man die Legitimation, so zu handeln, und kraft der besseren Einsicht hat man die moralische Genugtuung, verantwortungsvoll und zum Besten des Volkes gehandelt zu haben. In Anknüpfung an einen wenig erfreulichen und auch nicht gerade überzeugenden Spruch der Weimarer Zeit, wonach souverän ist, wer die Herrschaft über den Ausnahmezustand hat, könnte man mit viel mehr Berechtigung sagen, souverän ist, wer den jeweiligen Inhalt der volonté generale festlegen kann. Aus der Sicht der Demokratie und auch aus der Sicht des Grundgesetzes sieht das etwas anders aus. Das Grundgesetz sagt in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 nicht, dass die Abgeordneten Repräsentanten des Volkes seien, sondern viel nüchterner und wie ich denke juristisch auch viel präziser, dass sie „Vertreter“ des Volkes seien. Der eine von vier Aspekten dieser Aussage ist, dass die Verfassung nicht von dem einzelnen Abgeordneten behauptet, „Vertreter des ganzen Volkes“ zu sein, sondern nur von der Abgeordnetengesamtheit. Das war schon in der Weimarer Verfassung so, was aber schon damals nicht gehindert hat, dem einzelnen Abgeordneten diesen Status zuzuschreiben, und auch unter dem Grundgesetz liest man das. Die Verfassungstexte sind aber in dreifacher Hinsicht klüger. Zum einen würde die Behauptung, ein CSU-Abgeordneter aus dem bayerischen Wald würde als solcher auch die PDSAnhänger in Mecklenburg-Vorpommern vertreten, von beiden als eine Zumutung zurückgewiesen werden und zugleich Wasser auf die Gebetsmühlen derer leiten, die schon immer die Politik als schmutziges Geschäft zu bezeichnen pflegen. Zum zweiten anerkennt damit die Verfassung, dass im Par-

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lament über den Vorschlag der Parteien Abgeordnete mit durchaus konträren Vorstellungen vom Gemeinwohl in dem einen oder anderen Politikfeld sitzen. Erst alle zusammen decken dank der vorgeschriebenen Gleichheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) die Grundströmungen ab, die das ganze Volk ausmachen. Zum dritten wird nur damit dem einzelnen Abgeordneten die Möglichkeit genommen, sich außerhalb des Parlaments auf seine Stellung als Vertreter des ganzen Volkes zu berufen. Er hat diese Stellung nur im Parlament, gemeinsam mit den anderen. Entsendet ihn das Parlament zum Beispiel in die interparlamentarische Union, so fungiert er dort als Vertreter des Bundestags, nicht aber als Vertreter des deutschen Volkes. Der zweite Aspekt der Kennzeichnung der Abgeordnetengesamtheit als Vertreter des ganzen Volkes ist, dass sie wie jeder Vertreter das Recht haben, für die Vertretenen verbindlich zu handeln, das heißt, die Vertretenen, das ganze Volk, zu binden. Und das ist eines ihrer Hauptgeschäfte. Sie sagen, wofür und wie viel wir an Steuern zu bezahlen haben, wie die Renten organisiert sind, welche Umweltauflagen wir einzuhalten haben usw. Dieser Aspekt folgt beim Repräsentationsgedanken jedenfalls nicht unmittelbar aus der Repräsentation; es ging ja bei ihr nicht eigentlich um Herrschaftsausübung. Der dritte Aspekt liegt in dem Charakter der Vertretung als einer gesetzlichen und nicht einer gewillkürten Vertretung. Mit diesem Typ der Vertretung harmoniert die ausdrücklich ausgeworfene Freiheit von Aufträgen und Weisungen (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG). Sie ist zudem geboten, weil es sich um eine Gesamtvertretung durch ein vielköpfiges Gremium handelt, das in sich verhandlungsfähig sein muss, wenn die Vertretung einen Sinn haben soll. Der vierte und letzte Aspekt liegt in der Erkenntnis, dass auch mit einer gesetzlichen Vertretung zwingend eine rechtliche Verantwortung gegenüber den Vertretenen verbunden

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ist. Die Freiheit von Aufträgen und Weisungen bedeutete also nicht, dass die Vertreter den Vertretenen gegenüber nicht verantwortlich wären. Es ist Rechenschaft zu legen, und zwar nicht, weil es zur Wahrung von Wiederwahlchancen angezeigt sein kann, sondern weil es sich um eine aus dem Recht der gesetzlichen Vertretung ergebende Verpflichtung handelt. Repräsentation und Demokratie weisen also den Repräsentanten bzw. Vertretern des Volkes durchaus eine unterschiedliche Stellung zu und da sie beide durch die Wahl ihre Legitimation erhalten, ist es glaube ich berechtigt, von einem Legitimationsmehrwert bei der Repräsentation zu sprechen, der nach den Prinzipien der Demokratie unberechtigt ist. IV. Die repräsentative Überzeichnung des Parlaments vor allem als Gesetzgeber Es ist nicht von ungefähr, dass sich die Repräsentationsvorstellungen auf das Parlament und von dessen vielfältigen Funktionen auf die Funktion als Gesetzgeber konzentrieren. Oliver Lepsius formuliert in einem Aufsatz „Die erkenntnistheoretische Notwendigkeit des Parlamentarismus“ (1999) : „Die Repräsentativeigenschaft ist nicht etwa erforderlich, um einen Volkswillen abzubilden. Sie ist erforderlich, um einen Herrschaftswillen über das Mittel abstrakter Gesetze entstehen zu lassen“ (S. 165). Diese These wird zugleich genutzt, um die Volksgesetzgebung überall dort auszuschließen, wo sich „das erkenntnistheoretische Unvermögen des Individuums“ auswirken könnte. Letzteres interessiert hier nicht; es ist Gegenstand des nächsten und letzten Abschnittes. Hier interessieren die Fokussierung des Parlaments auf die Gesetzgebung und zugleich die ideale Vorstellung, wie Gesetzgebung im Parlament funktioniert. Beides hängt zusammen, da sich die Repräsentationsvorstellung schon immer ganz auf die Gesetzgebungsfunktion konzentriert hat und die Erwartung einer idealen Gesetzgebung Voraussetzung für die Annahme

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ist, der (richtige) einheitliche Wille des Staates, der Nation werde auf diese Weise gebildet. In einem parlamentarischen Regierungssystem ist die erste Funktion des Parlaments jedoch, eine Regierung zu bilden und zur Vermeidung seiner Auflösung auch zu tragen. Damit ist zugleich die Zweiteilung des Parlaments in Regierungsfraktionen und Opposition festgelegt, die deren Verhalten auch während der Gesetzgebungsverfahren bestimmt. Das Volk hat durch seine Wahlentscheidung gerade in Kenntnis des Angebots für Mehrheit oder Minderheit votiert, jeder wollte aber möglichst zur Mehrheit gehören. Die Gesetzgebung gehorcht den Regierungszielen. Wenn man sich überhaupt eine Vorstellung von einer volonté generale macht, dann ist sie umstandslos mit den Regierungszielen zu identifizieren. Die Gesetze, die Aussicht auf Annahme haben, werden im wesentlichen im Regierungsapparat entworfen, wo in den einzelnen Ressorts in der Regel hinreichender Sachverstand vorhanden ist und in schwierigeren Fällen zusätzlich von außen eingeholt wird. Diese Phase ist im Prinzip nicht öffentlich. Gelangt das Gesetz ins Parlament, beginnt die Einbeziehung der Opposition und die Phase der Öffentlichkeit, da das Parlament nach Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG öffentlich verhandelt. Da die eigentlichen Verhandlungen aber regelmäßig auf den oder die zuständigen Ausschüsse übertragen werden, die grundsätzlich nicht öffentlich verhandeln, ist es mit der Öffentlichkeit nicht weit her. Der federführende Ausschuss kann Änderungen vorschlagen, die – lakonisch begründet – auch meist vom Plenum oder seiner Mehrheit übernommen werden. Im deutschen System führt die Einbeziehung des Bundesrates dazu, dass das Gesetzgebungsvorhaben, wenn es kontrovers ist, im schwarzen Loch des Vermittlungsausschusses landet. Der Begründungsaufwand für Änderungen ist marginal, die Änderungen selbst sind meist mehr der Gesichtswahrung geschuldet als einer Verbesserung des Entwurfs.

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Selbstverständlich ist in präsidentiellen Systemen das Verfahren ein anderes. Die Notwendigkeit der Partei des Präsidenten, dessen Vorstellungen zur Verbesserung der eigenen Wiederwahlmöglichkeiten möglichst zu unterstützen, ergibt aber ähnliche Zwänge. Insgesamt gesehen vermag ich keinen Grund zu erkennen, die Theorie der Repräsentation anzuwenden, um eine ideale Stellung des Parlaments bei der Gesetzgebung zu behaupten, wenn es diese nach der demokratischen Struktur des Systems nicht geben kann. V. Repräsentation versus Volksrechte Es war lange Zeit auch in der deutschen Staatsrechtslehre üblich, Volksrechte als mit dem repräsentativen Charakter unserer Demokratie für unvereinbar zu halten. Dazu wurden zwei Märchen erzählt. Das eine beschrieb den verderblichen Charakter der Volksentscheide in der Weimarer Zeit, die zum Untergang der damaligen Demokratie beigetragen hätten, und das andere erklärte die Abstinenz des Grundgesetzes mit den schlimmen Erfahrungen des Dritten Reiches. Märchen mögen manchmal verdeckt oder offen tiefer liegende Wahrheiten transportieren. Die zwei transportieren nichts als Lügen. Wäre es dem Parlamentarischen Rat darum gegangen, Konsequenzen aus dem Versagen in der Weimarer Zeit zu ziehen, dann hätte er sich mit guten Gründen für die Abschaffung des Berufsbeamtentums, das ja nicht gerade eine Stütze der jungen Demokratie war, aussprechen, schwerlich aber den Volksrechten etwas anlasten können. Und die Erfahrungen der Hitlerzeit waren im Jahre 1946 sicherlich erheblich frischer als 1948 / 49 und gleichwohl haben die ersten drei Verfassungen auf deutschem Boden, die hessische, die bayerische und die rheinland-pfälzische wie selbstverständlich sehr extensive Volksrechte vorgesehen. Es muss also die besondere Situation des Parlamentarischen Rates selbst der entscheidende Anlass zur Reserve gegenüber

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Volksrechten sein. Der Grund liegt auf der Hand. Er versuchte eine Verfassung zu machen, die er auf keinem Fall dem westdeutschen Volk zur Entscheidung vorlegen wollte, weil er des Ausgangs nicht sicher sein konnte. Er musste also ein Verfahren einhalten, das für eine Verfassung alles andere als normal war. Das war ihm durchaus bewusst. Wie hätte er sich in dieser Situation dezidiert für Volksrechte aussprechen können? Andererseits hätte er nicht nur gravierend gegen die deutsche Verfassungstradition verstoßen, die selbstverständlich Volksrechte kannte, er hätte auch das Volk, dem er gerade attestiert hatte, dass von ihm allein alle Staatsgewalt ausgehe, auf einen einzigen Akt der Ausübung beschränkt. Also ging er mit sich einen dilatorischen Formelkompromiss ein. Er akzeptierte grundsätzlich das Recht zur Volksabstimmung und verbeugte sich damit sowohl vor der Tradition wie vor einem zutiefst demokratischen Grundsatz, aber er schärfte das Instrument nicht, indem er nicht wie bei den ebenfalls vorgesehen Wahlen durch das Volk ein Ausführungsgesetz vorschrieb, so dass ihm niemand vorwerfen konnte, warum er es bei der eigenen Verfassungsgebung nicht schon anwendete. Warum nutzte die nachfolgende Politik nicht die Chance, das zu vollenden, was der Parlamentarische Rat aus seiner sehr speziellen Situation heraus nicht zu Ende führen konnte? Es war die Vorstellung von der repräsentativen Demokratie in der jungen und sehr restaurativen Bundesrepublik, für die Volksrechte ein Teufelswerk sein mussten. Da man die „Abstimmungen“ in Art. 20 GG nicht ignorieren konnte, verfiel man auf die Ausrede, die Neugliederungsabstimmungen seien gemeint, bis kluge Leute, ich glaube Horst Dreier war einer der ersten, darauf hinwiesen, dass es sich bei denen gar nicht um Abstimmungen des Staatsvolkes handle, sondern um Betroffenen-Abstimmungen kleinerer Bevölkerungsteile. Blieb nur noch Art. 146 GG. Der wurde aber durch den Einigungsweg über Art. 23 GG für obsolet erklärt, obwohl Art. 146 GG die Konsequenzen einer Einigung und nicht den Weg dahin

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regelt. Außerdem geht es bei Art. 146 GG nur um eine einzige Abstimmung, nicht um „Abstimmungen“. Da war guter Rat teuer: Ein Stück unerfülltes Grundgesetz? Oder wegen des repräsentativen Charakters des Grundgesetzes ein vom Parlamentarischen Rat eigentlich gar nicht gewolltes, nur als traditioneller Ballast mitgeschlepptes, aber eigentlich totes Holz? Erst ein halbes Jahrhundert später finden sich die ersten halbernsten Versuche, das Instrument der Abstimmungen zu schärfen. Statt aber schlicht in der Verfassung ein Ausführungsgesetz vorzusehen, wird ein aus lauter Angst geborener langatmiger Verfassungsartikel entworfen. Man fragt sich, wo der politische Verstand bleibt. Da es bei den „Abstimmungen“ des Art. 20 GG um das Verhältnis von Parlamentsrechten zu Volksrechten oder, weniger institutionell gesprochen, um das Verhältnis von Parteienmacht und Volksmacht geht, könnten das Parlament wie die Parteien getrost darauf vertrauen, dass ihre Abgeordneten bei einem Ausführungsgesetz schon nicht zu großzügig sein werden. In Hamburg, das noch nicht lange Volksrechte kennt, hat sich am Tage der Europawahl 2004 etwas ereignet, das zwar außerhalb niemand zur Kenntnis genommen zu haben scheint, das gleichwohl ein Menetekel am blauen Himmel der Repräsentation ist. Die zum Volksentscheid aufgerufene Bürgerschaft hat mit über 60%iger Mehrheit gegen die beiden großen Parteien entschieden, das statt des bisherigen starren Listenwahlsystems zur Bürgerschaft nunmehr die Bürgerschaftsabgeordneten teils in Mehrmandatswahlkreisen und in nur durch das persönliche Wahlergebnis bestimmter Reihenfolge und teils auf ebenso freien Listen gewählt werden. Der proportionale Anteil der Sitze für die einzelnen Parteien nach ihrem Stimmgewicht bleibt erhalten. Welch edle Vorstellung man immer vom Zustandekommen von Parlamentsgesetzen haben mag, Wahlgesetze, Parteiengesetze, Abgeordnetengesetze, Gesetze also, welche die Möglichkeiten, Chancen und Statusrechte des politischen Perso-

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nals selbst regeln, werden regelmäßig ohne die normalerweise vorhandenen retardierenden Momente und in kupierter Transparenz beschlossen. Die Ministerialbürokratie wird nicht einbezogen, eine Opposition gibt es nicht, weil man im selben Boot sitzt, und das Verfahren wird so schlank wie möglich gehalten. In Hamburg hat das nicht funktioniert, weil die Anhänger des Volksbegehrens wie später des Volksentscheids es verstanden haben, die großen politischen Parteien zunächst in die Enge zu treiben, so dass sie sich gezwungen sahen, ein neues, dem Volksbegehren freilich nicht eigentlich entgegenkommendes Wahlgesetz vorzulegen, und sie gleichwohl zu besiegen, und zwar mit Hilfe auch deren eigener Anhänger. Das Volk erkämpfte sich, wenn man pathetisch werden will, gegenüber den etablierten Parteien ein Mitspracherecht über die personelle Zusammensetzung des Parlaments, ohne deren alleiniges Recht auf die Nominierung der Kandidaten anzutasten. Ist das nun ein Verstoß gegen die geheiligten Grundsätze der repräsentativen Demokratie oder nicht doch eher die Rückkehr zur verfassungsrechtlichen Normallage?

Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die Europäische Union? Von Rainer Wahl I. Vom Glanz staatstheoretischer Begriffe und der Frage nach ihrer Verwendbarkeit im Raum jenseits des Staates 1. Die bewährte traditionelle Verbindung des Öffentlichen Rechts mit der Staatstheorie und Staatsphilosophie Das rechtswissenschaftliche Nachdenken über den Staat und die politische Ordnung hat in Deutschland immer Dogmatik und Theorie, Interpretation des positiven Rechts und Reflexion im Kontext der politischen Ideengeschichte verknüpft. Die Gewichtsverteilung hat dabei zwischen positivistischen und überpositiven Ansätzen sehr geschwankt; das Nachdenken über die Verfassung oszillierte häufig zwischen Verfassungstheorie und Verfassungsgerichtspositivismus1. Ehe dieser deutsche Verfassungsgerichtspositivismus durch ein europaweites EuGH-Glossatorentum noch übertroffen wird2, 1 Bernhard Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Der Staat 28 (1989), S. 161. 2 Besonders auffällig verläuft die „Begegnung“ des traditionell systematisch ausgerichteten deutschen Rechts mit dem Richter- und Fallrecht des Gemeinschaftsrechts. In einer nahezu vollständigen Kehrtwende wird im Europarecht fast jedes Problem nicht aus den Normen und aus sich selbst entwickelt, sondern ausschließlich anhand der Kette von Entscheidungen des EuGH interpretiert. Das „Recht“ ist aber immer mehr als das, was Gerichte in ihren Entscheidungen aussprechen. Daß die Rechtswissenschaft in ihren – natürlich nicht

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ist es angebracht, sich dieser fruchtbaren Komplementarität von Dogmatik und Theorie zu erinnern. Theoretische Neuansätze sind nirgendwo notwendiger als im Zeichen von Neuem. Dann reicht nämlich die bloße Fortschreibung des überkommenen Denkens nicht mehr aus, Bewährtes bleibt nicht länger bewährt. Neues gibt es dabei im Öffentlichen Recht seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr als genug. Man kann als Zeitgenosse mit guten Gründen auf den Gedanken kommen, daß es so viel Neues und Wandel noch nie gegeben hat. Schon der enorme Verrechtlichungsschub, der mit dem Siegeszug der anspruchsvollen Verfassungen und dem Vertiefungseffekt durch die Verfassungsgerichtsbarkeit verbun-den war3, bedeutete eine enorme Herausforderung für das Öffentliche Recht, das damit zu einer kombinierten Staats- und Verfassungsrechtswissenschaft wurde. Die epochalen Prozesse der Europäisierung und der Internationalisierung haben das Öffentliche Recht, verstanden als „public law“ für die nationale, europäische und internationale Ebene, zu einer Großbaustelle gemacht, die dringend der Zufuhr von theoretischer Reflexion und philosophischem Denken bedarf. Das deutsche Öffentliche Recht ist in seiner Tradition ein Exempel für die enge und dauerhafte Verbindung von Staatsrecht und philosophisch-politikwissenschaftlichen Kontaktdisziplinen. Denken und Werk von Hasso Hofmann stehen dabei für eine zeitgenössische und anspruchsvolle Ausprägung dieses erfolgreichen Pfads der Wissenschaftsentwicklung4. Für verbindlichen – Interpretationen einen bedeutsamen Beitrag zur Erkennung und Interpretation des Rechts leisten kann, ist eine Erfahrung und auch ein Erfahrungsschatz, den das deutsche Recht in das aus vielen Quellen schöpfende Gemeinschaftsrecht einbringen kann und soll. 3 Rainer Wahl, Das Bundesverfassungsgericht im europäischen und internationalen Umfeld, in: ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, S. 254. 4 Das dokumentieren insbesondere seine beiden Sammelbände Recht – Politik – Verfassung. Studien zur Geschichte der politischen Philosophie, 1986; Verfassungsrechtliche Perspektiven. Aufsätze aus den Jahren 1980 bis 1994, 1995.

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das Öffentliche Recht, das die Welt sowohl jenseits als auch innerhalb des Staates ins Blickfeld nimmt, muß eine ähnliche andauernde und innere Verbindung zwischen dem positiven, dogmatisch und systematisch arbeitenden Recht und den fundamentierenden Disziplinen gefunden werden; Europarecht und Völkerrecht dürfen nicht mit dem immer größer werdenden Rechtsstoff alleingelassen werden. 2. Die Notwendigkeit nicht-staatszentrierter Begriffe Begriffliche Neuprägungen sind deshalb erforderlich. So wie bisher zum Staatsrecht die Allgemeine Staatslehre bzw. die Politikwissenschaft gehörte, muß das Europarecht als positiv-rechtliche Disziplin ergänzt und fundiert werden – es fragt sich nur wodurch, durch welche Disziplinen und durch welche Konzepte? Hinzukommen könnte etwa eine Europalehre, eine Europatheorie, eine Europarechtswissenschaft oder eine europäische Verfassungslehre. Ausdrücklich fordern viele – erwähnt sei Peter Häberle5 –, statt der Staatslehre eine europäische Verfassungslehre zu entwickeln, die sich freimachen müsse von vermeintlichen Analogien zu nationalstaatlichen Vorbildern, aber deren Theoriereservoir und Erfahrungsschatz ausschöpfen solle6. Und einen Schritt weiter fragt sich, durch welche Disziplinbegriffe das klassische Völkerrecht ergänzt und theoretisch begründet werden soll – etwa durch eine Rechtstheorie der Welt oder eher eine Weltverfas5 Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, 2. Aufl. 2004. Häberles Denken würdigt Markus Kotzur, Wechselwirkungen zwischen Europäischer Verfassungs- und Völkerrechtslehre, in: FS Peter Häberle, 2004, S. 289 ff. Häberle verenge das spezifisch Neue und Eigene der Verfassung Europas dabei nie auf ein vermeintliches Analogon zu nationalstaatlichen Vorbildern. 6 Fast alle neueren Veröffentlichungen, insbesondere zum Entwurf einer Verfassung, beschäftigen sich mit dem Thema der (Nicht-)Vorbildlichkeit der staatsrechtlichen Begriffe für die EU. S. z. B. die Tagungsdokumentation: Vom Vertrag zur EU-Verfassung? – Der Konventsentwurf in der Analyse, EuGRZ 2004, S. 541 ff., dort z. B. Christian Calliess / Matthias Ruffert, Vom Vertrag zur Verfassung?, EuGRZ 2004, S. 542, 544.

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sungslehre für die apostrophierte Weltgemeinschaft der Verfassungsstaaten7? Soll man, wie es Brun-Otto Bryde8 vorschlägt, auf alle mit dem Begriffsbestandteil „-staat“ versehenen Verfassungsprinzipien wie „Rechtsstaat“, „Sozialstaat“, „Bundesstaat“ eben wegen dieses einschränkenden Wortteils vollständig verzichten und statt dessen lieber von „constitutionalism“ oder „rule of law and social justice“ sprechen? Das wäre aber vielleicht etwas viel Verzicht auf die deutsche Sprache und das damit verknüpfte Denken. So sehr sich nämlich die traditionellen deutschen Begriffe in Beziehung setzen müssen zu den Begriffen und Begriffsverständnissen anderer Rechtsordnungen – und vice versa – , so sollte doch bewußt bleiben, daß Rechtsstaatlichkeit und „rule of law“ nicht das gleiche bedeuten. Gefordert ist vielmehr die kreative Verbindung beider Ausgangsbegriffe und nicht einfach die Ersetzung des einen nationalen durch einen – im übrigen auch nationalen – anderen Begriff; die englische Sprache allein hebt das Denken noch nicht auf einen supra- oder internationalen Level. Wo so viele Begriffe angeboten werden, liegt der Verdacht nahe, daß die treffenden und das Verständnis erschließenden Begriffe in Wahrheit fehlen. Begriffe sind natürlich nicht alles, aber ohne Begriffe ist ein zureichendes Verständnis schwer vorstellbar. Das große (versteckt oder offen diskutierte) Grundproblem des Öffentlichen Rechts liegt darin, daß man sich immer öfter außerhalb des seit Jahrhunderten gewohnten Bereichs der Staaten bewegt, man aber für diese Erkundungsfahrt im wesentlichen nur staatszentrierte Begriffe zur Verfügung hat. Beschreibungen und deskriptive Begriffe wie „Staatenverbund“ sind verfügbar; der Eindruck, daß damit die Sache auf den Begriff gebracht ist, drängt sich aber nicht auf. Vgl. dazu M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates, 2001. Brun-Otto Bryde, Konstitutionalisierung des Völkerrechts und Internationalisierung des Verfassungsrechts, Der Staat 42 (2003), S. 61 ff. 7 8

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Hinzu kommt noch die Frage nach den Maßstäben, nach den Ideen und Prinzipien. Ist ein direkter Transfer aus dem nationalen Verständnis-Raum möglich oder nicht9? Sind unsere Verfassungs- und Demokratiebegriffe wegen ihrer langen Tradition Allgemeinbegriffe, die für alle Formen oder Ebenen politischer Herrschaft gelten, oder beschränkt sich ihre Adäquatheit auf den Ausschnitt der Nationalstaaten? Ein weiteres kommt hinzu: Hinter den Begriffsproblemen steht auch hier in Wahrheit die Frage nach den Eigenarten der und den Unterschieden zwischen den drei Einheiten des politischen Lebens, also der Staaten, der Europäischen Union und der internationalen Organisationen. II. Der Vergleich zwischen dem Staat und der Integrationsgemeinschaft Bei den folgenden Überlegungen geht es um einen Vergleich. Seiner Methode nach heißt vergleichen bekanntlich, etwas nicht Gleiches miteinander in Beziehung zu setzen. Von einem Vergleich zwischen den Einzelstaaten und der Europäischen Union ist nämlich gerade deshalb so oft die Rede, weil beide in vielerlei Hinsicht unterschiedlich sind. Offen ist dabei jedoch die Frage, wie verschieden sie sind. 1. Die Wiederholungsthese Für den beabsichtigten Vergleich analysiere ich eine Vorstellung, die selten ausdrücklich artikuliert wird, aber öfters unbewußt zugrunde gelegt wird und die ich Wiederholungsthese nennen möchte. Sie argumentiert: Zwar mögen zwischen den Staaten und der Europäischen Union Unterschiede bestehen; insgesamt gibt es aber auf jeden Fall so etwas wie Struktur9 Armin von Bogdandy, Zur Übertragbarkeit staatsrechtlicher Figuren auf die Europäische Union. Vom Nutzen der Gestaltidee supranationaler Föderalismus anhand des Demokratieprinzips, in: FS Badura, 2004, S. 1033 ff.

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gleichheit zwischen beiden Ebenen. Oder sollte es in der Europäischen Union wirklich eine andere Demokratie, ein anderes Verständnis von Angehörigkeit oder ein anderes Konzept von Rechtsstaatlichkeit und Grundrechtsschutz geben? Immerhin denken die Struktursicherungsklausel des Art. 23 I GG und sein Pendant in Art. 6 EUV genau in diese Richtung der (notwendigen) Strukturgleichheit10. Sie sehen für die wichtigsten Verfassungselemente der Europäischen Union eine Art Gleichheit, Parallele oder Wiederholung der staatlichen Ebene vor. 2. Die europäische Integration als Wiederholung der deutschen Einigung im 19. Jh.? Die Ausgangsvorstellung von der Wiederholung hat in Deutschland eine besondere Plausibilität, weil es im 19. Jahrhundert schon einmal einen, den nationalen Einigungsprozeß gab, den man mit der europäischen Entwicklung immerhin vergleichen kann11. Im folgenden geht es um ein Gedankenexperiment, das Lehren aus den Unterschieden zwischen den beiden Vorgängen ziehen will. Die auf den ersten Blick mit der heutigen europäischen Entwicklung vergleichbare deutsche Einigung im 19. Jahrhundert geschah durch Zusammenschluß vorhandener deutscher Staaten12. Es kam zu einem 10 Das Anliegen dieser aufeinander bezogenen Formeln ist leicht verständlich: Wenn eine nationale Verfassung und dann auch der EUV für die eigene Binnenordnung einige Prinzipien für wichtig und unverzichtbar halten, dann können sie darauf auch dann nicht verzichten, wenn sie sich einer größeren Einheit anschließen. 11 Im folgenden wird ein begrenzter Vergleich angestrebt, ohne daß eine umfassende Theorie angestrebt oder vorausgesetzt wird. Für die nationale Einigung im 19. Jh. und die nationale Idee wird keine Vorbildlichkeit reklamiert. Es geht allein darum, die wirkenden Kräfte bei der damaligen Einigung zu identifizieren und zu fragen, ob heute vergleichbare Kräfte wirken und wie eine Konstellation zu erfassen ist, die auf Kräfte dieser Stärke nicht zurückgreifen kann. 12 Ob die Überlegungen des Textes auch für Italien einschlägig sind, bedürfte einer näheren Untersuchung. Die Einigung in Italien verlief in der Art des Zusammenschlusses anders als in Deutschland.

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bundesstaatlichen Aufbau, bei dem die bisherigen Einzelstaaten in ein zweistufiges Herrschaftssystem integriert wurden. Über die vorhandenen Staaten wurde ein neues Dach oder – wohl richtiger – ein neues Haus gebaut, das sich sehr bald als recht kräftig erwies. In Deutschland kann man weiterhin eine Strukturgleichheit zwischen den vorhandenen einzelnen Staaten und den neuen größeren Einheiten finden, weil z. B. beide Ebenen die Staatsform der Monarchie besaßen. Für die weitere Überlegung ist im vorliegenden Zusammenhang das entscheidende Element die große Dynamik, die der Einigungsprozeß in staatlicher und gesellschaftlicher Hinsicht hatte. Bei der nationalen Einigung in Deutschland konnte, trotz aller Verwurzelung der einzelnen Bürger in den bisherigen Staaten, auf Dauer nicht zweifelhaft sein, was das Primäre und Entscheidende in der neuen Gesamtkonstellation war: Die Menschen und die Völker in den bisherigen getrennten Staaten wollten zu einer Einheit, zu einem nationalen Staat werden. Die in viele Einzelstaaten aufgegliederten Deutschen13 fühlten sich als ein Volk und wollten dementsprechend auch in einem Staat leben14. Die Nations- und die Nationalstaatswerdung führten dem Staat und der Staatsgewalt (als Summe des dem Staat zur Verfügung stehenden Potentials) sehr starke Kräfte zu. Die Identifikation und die Bereitschaft, sich einzusetzen, ja sich vereinnahmen zu lassen, 13 Grundsätzlich wußte man, wer Deutscher war und wer nicht. Jedenfalls war beim zweiten Anlauf unter Bismarck nach dem preußisch-österreichischen Krieg klar, wer zum neu zu gründenden Deutschland dazu gehören sollte und wer nicht. 14 Anfangs gab es vielleicht noch Zweifel, wo das Schwergewicht des politischen Lebens und vor allem des Empfindens der Menschen lag, ob dies immer noch bei den angestammten, traditionellen Staaten wäre oder bei der neuen nationalen Einheit. Dies mag sich im Bewußtsein vieler Deutscher noch länger hingezogen haben. Verglichen aber mit der Zeit von 46 Jahren, die der europäische Integrationsprozeß schon dauert und innerhalb deren die EU nicht zum Erlebnismittelpunkt der Menschen für Politik geworden ist, ist die Geschwindigkeit der Identifizierung mit der neuen Einheit im Deutschland des 19. Jh. unvergleichlich größer.

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wuchsen beträchtlich. Der von der nationalen Idee legitimierte Staat war viel „kräftiger“ als der vorhergegangene dynastische Staat; der Nationalstaat schuf ein politisch mobilisiertes Volk15. Im Europa der sechs, der 15 und der derzeit 25 Mitglieder ging es aber von vornherein um Integration, zunächst um die wirtschaftliche, dann um die Integration anderer gesellschaftlicher Teilbereiche. Es ging und geht um die partielle, sich ausdehnende Integration, dies gewiß mit politischen Absichten einer späteren politischen Union oder irgendeiner politischen Einigung. Sicher aber ist: Eine politische Einheit (oder ein Einigungswillen von unten) bestand 1958 nicht, sie entstand auch nicht alsbald danach, und sie ist schließlich auch heute nach 46 Jahren alles andere als nahe. Der Weg der Europäischen Union baut weder auf den kräftigen Impulsen eines politisch geeinten Volkes noch auf dem unüberhörbaren Willen der einzelnen europäischen Völker auf. Bestimmend waren und sind eher politische und wirtschaftliche Eliten. Integration ist ein spezifischer Prozeß, der am Anfang (und auch nach 46 Jahren) noch keine kräftige politische Obereinheit ausgebildet hat. Die Integrationsgemeinschaft „Europäische Union“ ist ein sehr effektiver Akteur, aber sie ist nicht Bezugspunkt und Quelle von starkem Angehörigkeits- oder Gemeinschaftsbewußtsein. Bei der national bestimmten Einigung im 19. Jahrhundert ging der Entwicklungsimpuls und das politische Kraftzentrum sehr bald von den Einzelstaaten auf die obere Ebene über, d. h. die zentrale nationale Einheit wurde relativ schnell maßgeblich. Die bisher selbständigen Staaten verkrafteten ihren Bedeutungsverlust deshalb, weil auch die Menschen in ihnen die nationale Einheit wollten. Der 15 In der Tiefenwirkung ist dieser Prozeß dargestellt von Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 3. Aufl. 2002, S. 440 ff., dort S. 441 auch der Hinweis darauf, daß diese emotionale Mobilisierung nur der religiösen vergleichbar war, wie schon Alexis de Tocqueville bemerkt hat. Diese Wirkung trat nicht zuletzt dadurch ein, daß im Nationalstaat das Religiöse im Nationalen säkularisiert, das Säkulare sakralisiert wurde (Thomas Nipperdey).

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Verlust an Eigenständigkeit und Souveränität der früheren Einzelstaaten war objektiv viel größer als heute bei der europäischen Integration. Aber entscheidend ist nicht die objektive Einbuße, sondern die subjektive Bewertung des Vorgangs. Die Völker und die Einzelstaaten in Deutschland bewerteten den Gewinn als viel wichtiger. Verantwortlich dafür war die Wirkkraft der nationalen Idee, die es für die Angehörigen der bisherigen Staaten, für Bayern, Hessen, Württemberger usw. attraktiv erscheinen ließ, in erster Linie Deutsche und erst in zweiter Linie Bayern, Hessen, Württemberger usw. zu sein. Genau dieser Prozeß hat aber in den 46 Jahren Europäischer Gemeinschaft nicht stattgefunden. Und eben dies ist der entscheidende Unterschied der Integrationsgemeinschaft zum Staat. Bei einer Integration verlagert sich das politische Kraftzentrum, das Zentrum der Identifikation keineswegs auf die obere Einheit, also die Europäische Union. Da für die europäische Einigung – darüber besteht kein Streit – die nationale Idee, etwa in der Form einer „Nation Europa“ nicht zur Verfügung stand und steht16, fehlte dem (Integrations-)Prozeß vieles von den Antriebskräften, die bei nationalen Einigungen oder der Nationswerdung generell ausgelöst worden sind. Deshalb ist die europäische Integration nicht eine Wiederholung einer Nationalstaatswerdung. So unbestritten dies ist, so richtig und wichtig ist es anzufügen, daß sich dann die Frage nach den tragenden und antreibenden Kräften erneut und mit offenem Ausgang stellt. Soweit es bisher zu beurteilen ist, hat die nicht-nationale Integration ein signifikant geringeres Tempo, Intensität und Kraft entfaltet als die nationalen Einigungsprozesse17. 16 Europa ist nicht in das Gewand der Nationen geschlüpft und selbst zur Nation geworden; ob es sich auf dem Weg dazu befindet, ist zumindest offen. 17 Die Abgrenzung der europäischen Integration von früheren nationalstaatlichen Entwicklungen wird oft auf den Aspekt verkürzt, daß die Verirrungen des Nationalismus in der Integration bewußt und erfolgreich vermieden werden. Wer dies feststellt und begrüßt – und es ist zu begrüßen –, der muß nur realistisch genug sein, auch die andere Seite zu sehen: Wo es an den starken

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In Ermangelung einer ursprünglichen und auch bisher nicht erreichten wirklichen politischen Einheit werden in der europäischen Integration statt dessen einzelne Sektoren und einzelne gesellschaftliche Bereiche durch den Abbau von Barrieren und durch die Ausbildung eines Binnenmarkts integriert. Dies war der Weg des Zusammenwachsens als eines funktional-sektoralen Vorgangs ohne die Vorbedingung, daß sich die Europäer in ihrem politischen Willen und ihren Emotionen schon für die Einigung entschieden hätten. Bei der politischen nationalstaatlichen Einigung ist sozusagen das Volk vor der Einheitsbildung schon da, es bedarf „nur“ noch der politischen Form. Anschließend wachsen die einzelnen Bereiche zusammen, deren „Integration“ folgt nach. Bei einer Integration wie der europäischen wird ein mehrjähriger Prozeß, lange bevor eine politische Einheitsbildung stattgefunden hat, angestoßen. Das politische Ende ist offen, und offen ist deshalb auch, ob auf die Integration die politische Einheit folgt. 3. Integration als Minus oder Aliud zur klassischen politischen Einigung? Angesichts der bezeichneten Unterschiede zwischen Integrationsgemeinschaft und Staat ist erneut die Frage aufzuwerfen, ob die in den Staaten verwirklichten verfassungspolitischen Prinzipien Schnittmuster für die Europäische Union sind18. Will man beim Nachdenken über die Europäische Uni(und wie wir wissen oft zu starken und destruktiven) Kräften der Nationalstaaten und der Nationalstaatsidee mangelt, da ist zunächst ein Defizit zu konstatieren oder es müssen Kräfte aus anderen Quellen entstehen. Zu beantworten ist also die positiv gewendete Frage, woher die Integration und die EU ihre Kräfte beziehen. 18 Zu fragen ist aber, ob die staatlichen Schnittmuster für die in der künftigen Entwicklung erreichbare und erwünschte Form und Gestalt der EU passen. Daß die EU kein Staat ist, ist verbreitete, wenn auch nicht allgemeine Auffassung; zuletzt anders Jörn Sack, Die Staatswerdung Europas – Kaum eine Spur von Stern und Stunde, Der Staat 44 (2005), S. 67. Weniger Einigkeit be-

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on und ihre Strukturmerkmale nicht impliziten Vorverständnissen aufsitzen, dann sollte man sich über eine zentrale Alternative am Ausgang aller Überlegungen im klaren sein. Im Kern geht es darum, ob man die Europäische Union als Minus oder als Aliud zur politischen Einigung versteht. Integration kann man als ein Minus zur Einigung verstehen, wenn man erwartet und hofft, daß die volle politische Einigung in Zukunft und am Ende doch erreicht wird. In diesem Sinn qualifiziert man die Europäische Union gedanklich als einen Noch-nicht-Staat, das Europäische Parlament als ein Noch-nicht-Parlament. Dies alles steht unter der Prämisse, daß die Europäische Union letztlich das von den Merkmalen des Staates definierte Ziel erreicht – ein Vorverständnis, das sich mit jeweils gegensätzlicher Bewertung sowohl bei vielen Befürwortern als auch Gegnern der europäischen Integration findet. Oder man versteht Integration als ein Aliud, also als eine Alternative zur politischen Einigung. Dann erwartet man, daß der Prozeß des Zusammenwachsens vor der vollen politischen Einigung Halt macht und die Integrationsgemeinschaft einen Platz auf dem breiten Spektrum der Staatenverbindungen findet. Dieses Spektrum ist sehr groß und das eigentlich Interessante an den Vorgängen. Vor allem hält dieses Spektrum viele Plätze zwischen den Extrempolen bereit. Auf diesem Spektrum könnte sich z. B. die EU in den nächsten Jahren durchaus beträchtlich bewegen. Man könnte Wachstum und Steigerung feststellen, ohne daß dadurch die Europäische Union in die unmittelbare Nähe der Bundesstaaten geraten müßte19. Integrationsgemeinschaft wäre dann ein eigenständisteht darin, ob die staatlichen Strukturen nicht wenigstens Vorbilder für die künftige Gestalt sind, ob sich die EU auf Staatsähnlichkeit hin entwickelt oder entwickeln sollte. 19 Christian Calliess / Matthias Ruffert (FN 6), S. 545. Struktur und Organisation der EU sind in der Schwebe gehalten zwischen Staat und Internationaler Organisation.

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ger Begriff, nicht die Bezeichnung einer Durchlaufsform zum (Bundes-)Staat. III. Thesen zur Unterschiedlichkeit der Europäischen Union gegenüber klassischen Staaten Als Programm der weiteren Ausführung drängt es sich auf, die maßgeblichen Konzepte wie Demokratie, Verfassung, Rechtsstaat usw. darauf zu überprüfen, ob sie mit der nationalen Konstellation unlösbar verbunden sind oder ob sie offen sind für eine Neuinterpretation, in der sie auch die supra- und die internationale Ebene erfassen und „begreifen“, ob also die bisherigen staatstheoretischen Begriffe in einer paradoxen Weise auch für nichtstaatliche Gemeinschaften und Einheiten fruchtbar sind. Daß dieses umfangreiche Programm hier nur in Ausschnitten durchgeführt werden kann, versteht sich, manche Probleme werden in thesenhafter Konzentration behandelt. 1. EU und Staat Die Frage, ob die EU ein Staat, genauer ein Bundesstaat ist oder nicht, hat die umfangreichste Diskussion des neueren Öffentlichen Rechts hervorgebracht20. Natürlich hängt die 20 Die Diskussion um die Staatlichkeit der Europäischen Union hat ihren Höhepunkt in der Debatte um den Vertrag von Maastricht Anfang der neunziger Jahre erreicht und seither zu einer Fülle von Abgrenzungsformeln geführt. Unter ihnen ragt in der deutschen Diskussion vor allem die vom BVerfG übernommene, von Paul Kirchhof geprägte Formel vom „Staatenverbund“ heraus: BVerfGE 89, 155 (184); dazu jüngst noch einmal Paul Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, in: A. v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2003, S. 893 ff. Aus der Diskussion um die Staatlichkeit der EU und die Übertragbarkeit staatsrechtlicher Konzepte auf sie s. mit umfassenden Nachweisen Armin von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999, S. 29 ff.; ders., Stand und Entwicklungsperspektiven rechtswissenschaftlicher Konzepte zum europäischen Integrationsprozeß, in: W. Loth / W. Wessels (Hrsg.), Theorien europäischer Integration, 2001, S. 107, 112 ff.

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Entscheidung darüber von dem Begriff des Staates ab, den man zugrunde legt. Daß es Varietät im Staatsbegriff und in der Realität von Staaten gibt und geben muß, liegt angesichts der tiefgreifenden Wandlungen, die die (National-)Staaten in den letzten fünf Jahrzehnten erfahren haben, auf der Hand. Insofern ist „Staat“, obwohl unbestritten ein oder der Leitbegriff für Jahrhunderte der politischen Entwicklung, keine stabile Größe, aber auch kein beliebig einsetzbares Konzept. Auffällig ist, daß Autoren, die die Staatsqualität der EU schon jetzt oder spätestens mit der Annahme des Verfassungsvertrags bejahen, den Staatsbegriff in einem eher generalisierenden Sinn verstehen, etwa wenn sie die Drei-Elemente-Lehre schematisch verstehen und dann positiv auf die EU anwenden21. Je höher die Abstraktion und Generalisierung des Staatsbegriffs steigt und je mehr man das Bündel, das die Elemente des Staates ausmacht, also die komplexe nationale Konstellation, aufschnürt22, desto eher kann man die EU als Staat, dann aber nur in diesem eher inhalts- und begriffsschwachen Sinne, qualifizieren. Der eingangs formulierten Absicht, die EU theoretisch zu durchdringen und in dieser Perspektive vertieft zu begreifen, ist aber mit solcher Abstraktion und einer Methode der schwachen Begriffsbildung nicht gedient. Deshalb können weder die Etikettierung der EU als „Staat“ noch die als „Staatenverbund“ oder „Verfassungsverbund“ noch die ihren Verlegenheitscharakter auf der Stirn tragende Bezeichnung als „Gebilde sui generis“ befriedigen. Die bloße Gegenthese, daß die EU kein Staat im Sinne des (möglicher21 So hat jüngst Jörn Sack (FN 18) wieder die Auffassung vertreten, daß die Staatswerdung der EU schon längst geschehen sei, jedenfalls mit der Annahme eines europäischen Verfassungsvertrages geschehen sei. 22 Dazu die Bemerkung von Hasso Hofmann, Zu Entstehung, Entwicklung und Krise des Verfassungsbegriffs, in: FS Häberle, 2004, S. 170 Fn 52 zum „umfassenden und theoretisch besonders anspruchsvollen Werk“ von Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001: „Das Werk zeigt eindrucksvoll, wie der konkrete epochengebundene Begriff der Verfassung in isolierbare und neu kombinierbare Momente auseinanderfällt, wenn man das historische Profil schleift.“

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weise auch gewandelten) Staatsbegriffs ist, hat zunächst nur negativ-abgrenzenden Charakter. Gehalt hat sie nur insoweit, als sie imstande ist, die Sui-generis-Formel23 hinter sich zu lassen und zunächst die einzelnen Strukturmerkmale der EU positiv zu kennzeichnen und dann anschließend noch eine Gesamtformel für die Gestalt und Form der EU zu formulieren. Weil letzteres aber der zweite Schritt sein muß, sollen sich die weiteren Ausführungen auf den ersten Schritt konzentrieren. Das Ausgangsproblem der Eignung der theoretischen Schlüsselbegriffe für die einzelnen Strukturmerkmale und nicht sogleich für die Gesamtstruktur der EU zu diskutieren, ist umso mehr gerechtfertigt, als sich bei den einzelnen Elementen und Prinzipien genug Eigenarten der EU und Unterschiede gegenüber den Staaten aufzeigen lassen24, daß die Annahme, daß die EU kein Staat ist, weit plausibler ist als das Gegenteil. 2. EU als Bund Die Europäische Union ist zuerst eine föderale Ordnung, wobei hierfür insbesondere folgende Elemente charakteristisch sind: a) Ihre Zukunft bewegt sich innerhalb des Spektrums der föderalen Ordnungen, wobei die Dichotomie „Staatenbund versus Bundesstaat“ weder derzeit noch in Zukunft eine passende Orientierung bietet. Der Bundesstaat ist nicht die einzige und nicht die wahrscheinlichste Richtungsangabe. b) Die Europäische Union ist ein Bund und als solcher eine politische Gemeinschaft, die nicht mit (einheits)staatszentrier23 Die sui-generis-Formel drückt nur, aber immerhin die Distanz der EU zum Staat aus, sie hat rein negativen Charakter und keine positive Erklärungskraft. 24 Einige Unterschiede sollen hier nur stichwortartig aufgezeigt werden: Völker – Volk, Art der Verfassungsgebung – verfassunggebende Gewalt, Verfassungsvertrag – Verfassung, Allzuständigkeit und Kompetenzkompetenz – begrenzter Aufgabenzuschnitt.

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ten Begriffen erfaßt werden kann, sondern eigene bündische Strukturen oder bundgemäße Merkmale aufweist. Sie wird so mit einem Konzept umschrieben, das von eigenen – und zwar nicht-staatlichen – Strukturen geprägt ist. Dies hat jüngst Christoph Schönberger25 näher ausgeführt. Das moderne Konzept des Bundes steht für ein Denken im Zugleich. Dadurch wird es dem Grundsachverhalt gerecht, daß der Bund und die Mitgliedstaaten je eine eigene politisch-rechtliche Existenz besitzen. Die im Bund verwirklichte Ver-bundenheit zeigt sich bei vielen Strukturmerkmalen als ein Sowohl-Als-auch statt in einem Denken im Entweder-Oder (entweder Staatenbund oder Bundesstaat, entweder Staat oder internationale Organisation, entweder Staatsrecht oder Völkerrecht). Das Konzept des Bundes geht nicht wie die bisherige Tradition von einem schwachen Allgemeinbegriff „Staatenverbindung“ aus, der dann sofort zugunsten starker Alternativbegriffe „Staatenbund“ und „Bundesstaat“ auseinandergerissen wird, sondern ihre kennzeichnende Grundannahme ist die von einem breiten Spektrum von Verbindungen und Aggregatzuständen von föderalen Ordnungen. Der Ansatz richtet sich nicht auf die Auflösung des Spektrums in einen Dualismus von angeblichen Allgemeinbegriffen, die in Wahrheit doch historisch geprägt sind. Statt dessen beharrt er darauf, daß das Spektrum unverkürzt wahrgenommen werden muß und daß es eine folgenreiche Pluralität eigengearteter Ausprägungen innerhalb des Spektrums gibt, die nicht als „Zwischenformen“, sondern als eigenständige Formen föderaler Ordnungen verstanden werden müssen. Entgegen dem ersten Anschein, daß das Föderalismusthema ein besonders naheliegendes Thema einer „Allgemeinen“ (Staats-)Lehre ist, erweist sich, daß alle föderalen Ordnungen, sei es der Deutsche Bund (1815 – 1866), das Kaiserreich als Bundesstaat, die Bundesrepublik als unitarischer Bundesstaat, die USA, Kanada, 25 Christoph Schönberger, Die Europäische Union als Bund, AöR 129 (2004), S. 81 ff.

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Schweiz oder Österreich, in hohem Maße historisch-politische Individualisten sind. In diese Reihe von Singularitäten innerhalb des großen Spektrums der föderalen Ordnungen reiht sich die EU ein. Als „Bund“ verstanden, teilt die EU mit anderen föderalen Ordnungen26 Charakteristika, die das Zugleich von Bund und Mitgliedstaaten mit sich bringt, nämlich das Einpendeln auf vorübergehende Gleichgewichtslagen, Labilität der Kompetenzabgrenzungen (und noch mehr der tatsächlichen Gewichtsverteilung), eine Schwebelage im Hinblick auf das (nur) für Einheitsstaaten zentrale Souveränitätsthema. Föderale Ordnungen sind eben gerade durch das Prozeßhafte in den Entwicklungen der Strukturen und in den Abgrenzungen zwischen dem Bund und den Mitgliedstaaten gekennzeichnet. Fruchtbar und anregend ist das Denken im Konzept des Bundes, weil es zum einen auf die Verdoppelungen, den Verbund- bzw. Mehrebenencharakter von föderalen Ordnungen aufmerksam macht und weil es zum zweiten das theoretische Denken von den je getrennten zwei Einheiten auf das Ganze lenkt und damit dazu auffordert, die Gesamtkonstellation „EU plus Mitgliedstaaten“ ins Blickfeld zu nehmen. c) Die Europäische Union ist – im Unterschied zu den gewohnten Bundesstaaten – eine föderale Ordnung, bei der die politische Substanz nicht bei der größeren Einheit, sondern bei den kleineren Einheiten, den Mitgliedern liegt. Mit „politischer Substanz“ ist andeutungsweise umschrieben, daß die Bürgerinnen und Bürger in Europa, wenn sie politisch interessiert sind und Erwartungen an die Politik haben, wenn sie bereit sind, sich politisch zu engagieren und Politik überhaupt für wichtig halten, sich an ihren Mitgliedstaat halten und nicht 26 Wichtig ist aber, daß man nicht ein „historisches Gesetz“ annimmt, daß alle lockeren Verbindungen auf die Dauer und meist ziemlich rasch zum Bundesstaat werden. In der Welt der politischen Gebilde gibt es solche Gesetzmäßigkeiten nicht.

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an die EU denken27. Als Folge davon fühlen sich die einzelnen Europäer zuerst als Bürger ihrer Staaten und erst in zweiter Linie, wenn überhaupt, als Unionsbürger. Die unteren Einheiten sind der Kristallisationspunkt für den Hauptanteil an politischer Energie, die die Bürgerinnen und Bürger in Europa aufbringen. Ihr Interesse richtet sich auf die Politik in den Mitgliedstaaten. Der Bedarf nach Politik, nach Diskutieren, Engagement und Mitwirken wird also vorwiegend auf der unteren Ebene gedeckt. Dies liegt nicht nur daran, daß das Europäische Parlament nicht die „vollen“ Rechte hat, sondern ist der viel elementareren Tatsache geschuldet, daß sich auch nach 46 Jahren die Menschen immer noch eher für ihren Staat als für die Europäische Union interessieren. Es spricht vieles, eigentlich alles dafür, daß sich die Bürgerinnen und Bürger von den Theorien der Staats- und Europarechtler nicht vorschreiben lassen, für welche Einheit sie sich am stärksten zu interessieren haben28. 3. Die Untauglichkeit des Souveränitätsbegriffs Zur Verabschiedung bzw. zum vorsichtigen Umgang mit staatszentrierten Begriffen gehört weiter der Verzicht auf den Begriff der Souveränität, wenn vom Verhältnis der Europäischen Union zu den Mitgliedstaaten die Rede ist. Die Souveränitätsbehauptungen der beiden Seiten – gemeint sind einerseits die Position, daß die Nationalstaaten die „Herren 27 Daß die EU immer mehr die politischen Entscheidungen in den Mitgliedstaaten bestimmt und vorprägt, ist kein Gegenargument. Die Realität der Bedeutung der EU und die Wahrnehmung durch die einzelnen klaffen stark auseinander. Diese bezeichnende Diskrepanz sollte man nicht nur als eine leicht behebbare Anfangsschwierigkeit sehen; sie besteht mittlerweile schon 46 Jahre. 28 Daß sich die Europäer, so die These, derzeit primär für die nationale Politik interessieren, kann sich ändern. Aber es muß sich erst ändern, ehe die EU eine andere Entwicklungsstufe erreicht. Es wird sich nicht ändern, weil es eine Theorie fordert, sondern weil und soweit die Europäer Grund für diese Änderung sehen und sie vollziehen.

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der Verträge“ sind und bleiben und andererseits das Verständnis von der autonom in sich ruhenden Gemeinschaft, die das „Lebensband“ zu den Staaten abgetrennt hat, – verfehlen nämlich das Neue und die Eigenart des Bundes. Von Souveränität kann bei der Europäischen Union nur insoweit die Rede sein, als diese in der Schwebe ist und, solange die EU als Bund besteht, auch in der Schwebe bleiben wird. Das mit der Souveränitätsfrage umschriebene Problem wird in paradoxer Weise dadurch „gelöst“, daß diese Frage nicht gestellt wird. Im Zweifel ist vielen auch bewußt, daß in dem Falle, daß die Souveränitätsfrage tatsächlich gestellt würde, der Bund EU in eine entscheidende Krise geraten würde29, 30. Daß man in der Sache den alten Zentralbegriff der Souveränität verabschiedet hat, auch wenn man ihn noch im Munde führt, zeigt die häufig verwendete Formel von der geteilten Souveränität. Sie beschreibt zwar treffend den Ausgangssachverhalt, daß weder die EU noch die Staaten ohne den andern handeln können. Aber eine Souveränität, die geteilt ist, ist nicht mehr die Souveränitätsvorstellung, wie sei einstmals Bodin und seine Nachfolger geschaffen haben. In der Kennzeichnung als geteilte Souveränität kommt dieser alte Zentralbegriff aller politisch-sozialen (Macht-)Fragen eigenartig harmlos und gezähmt daher – ein Indiz mehr, daß er für die föderale Ordnung EU nicht der politisch-rechtliche Zentralbegriff ist.

29 Dazu gehört auch, daß es in föderalen Ordnungen, solange die Entwicklung zukunftsträchtig ist und die Souveränitätsfrage nicht gestellt oder als nachrangig angesehen wird, der praktischen Vernunft entspricht, Schwebelagen auszuhalten und sich von Theoremen anderer früherer Ordnungen fernzuhalten. Man läßt diese Theoreme vielmehr an sich abprallen und sich nicht dazu verführen, Souveränität als ein allgemeingültiges Konzept anzusehen, das auch in der föderalen Ordnung eindeutig geklärt werden müßte. Der Klärungsversuch würde die föderale Ordnung nämlich erst in die eigentliche Krise führen. 30 Im (staats)theoretischen Kontext gesehen: Jean Bodin ist der Theoretiker der Souveränität, aber gerade deshalb ist er nicht der Theoretiker föderaler Ordnungen.

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4. Der Verfassungsbegriff und die EU Die Verfassung der Europäischen Union als eines Bundes und einer Integrationsgemeinschaft muß als ein aliud gegenüber der Verfassung eines Staates verstanden werden31, weil auch die Integrationsgemeinschaft und der Bund etwas anders als die Staaten sind. Da Begriffe immer nur intersubjektive Verabredungen sind, kann – eine entsprechende Verabredung vorausgesetzt – der Terminus „Verfassung“ gleichwohl auch auf die EU angewendet werden, wobei hier aber wahrscheinlich der Begriff „Verfassungsvertrag“ die Eigenarten und Unterschiede zur Verfassung von Staaten besser zum Ausdruck bringt. Für die Europäische Union als Bund ist typusprägend, daß die Legitimations- und Kraftlinien von den Einzelstaaten zur EU dominant, jedenfalls nicht schwächer sind als die unmittelbar von den einzelnen europäischen Völkern zur EU verlaufenden Linien. Die EU ist ein Regime der schwachen Bindung zu den Angehörigen, es gibt eine Unionsbürgerschaft, aber sie erreicht (bisher) nicht die Stärke der Staatsangehörigkeit in den Staaten. Verfehlt wäre es daher auch, dem Verfassungsvertrag der Europäischen Union vorzuwerfen, er sei keine „richtige“ oder „wirkliche“ Verfassung. Begriffe an sich sind nie wahr oder wirklich, sie haben kein eigenes Sein, sondern sind immer nur Verabredungen. Dem EU-Verfassungsvertrag vorzuwerfen, er sei keine wirkliche Verfassung, besagt also nur, daß die EUVerfassung nicht dem Muster der klassischen Staatsverfassung 31 Die Literatur zur Verfassungsfähigkeit der Europäischen Union ist mittlerweile unüberschaubar. Hingewiesen sei auf Dieter Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 581 ff. (insbes. S. 586); Ernst-Wolfgang Böckenförde, Welchen Weg geht Europa?, 1977; Christian Koenig, Ist die Europäische Union verfassungsfähig?, DÖV 1998, S. 268 ff.; Ingolf Pernice und Peter M. Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 ff., 196 ff.; Christoph Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: A. v. Bogdandy (FN 20), S. 1 ff.; Paul Kirchhof (FN 20); Manfred Zuleeg, Die Vorzüge der Europäischen Verfassung: ebd., S. 931.; Christian Calliess / Matthias Ruffert (FN 6), S. 541 ff.

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entspricht. Aber diese Erkenntnis trägt nicht weit, im Kern ist sie trivial. Im Kontext der Verfassungsfrage ist aber richtig beobachtet worden32: Die Verfassung der Europäischen Union wird nach wie vor nicht von ihren eigenen Organen allein, etwa dem Ministerrat oder dem Europäischen Parlament, beschlossen und später geändert, sondern „von außen“ von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten durch Vertrag beschlossen und von den nationalen Parlamenten bzw. dem Volk ratifiziert. Die Staaten waren bei der EWG, der EG, der EU und jetzt beim Verfassungsvertrag zweifelsohne die Initiatoren. Gleichwohl wäre es falsch, sie nur als erste Anstoßgeber zu verstehen, die nach jeden Vertragsschluß wegtreten und das Werk den Institutionen und Organen allein überantworten und damit die neue Einheit in die Autonomie und Selbständigkeit entlassen hätten. Es macht gerade den strukturellen Unterschied zum Bundesstaat aus, daß die Staaten auch nach der Verabschiedung der Verfassungsverträge als Vertragsschließende qua Regierungskonferenzen präsent und handlungsbereit sind, wenn es um die Änderung des Verfassungsvertrages geht33. Die EU ist, so zeigt sich erneut, kein klassischer Bundesstaat, sondern ein davon zu unterscheidender Bund, für den die Legitimations- und Kraftlinien zu den Einzelstaaten typus-prägend sind. Diese sind und bleiben Vertragspartner und Mitträger des Bundes, nicht nur (Mit-)Glieder. Da sich ein Bund von der Ursprungskonstellation nicht abkoppelt und sich nicht allein auf die Legitimation des europäischen Volks (so es vorhanden wäre) oder der Völker stellt, sind auch seine Verfassung und ihre Entwicklung nicht von diesen Staaten los32 Dieter Grimm, Die größte Erfindung unserer Zeit, FAZ 16. Juni 2003, S. 35; ders., Europa an der Schwelle zur Verfassung? in: FAZ v. 16. Juni 2003; ders., Die Verfassung im Prozeß der Entstaatlichung, in: FS Badura (FN 9), S. 145, 165 f., s. auch ders., Braucht Europa eine Verfassung?, 1995. 33 Man kann auch sagen: Bei jeder Verfassungsänderung sind die Mitgliedstaaten nicht nur als Glied der EU, sondern auch als deren Gründer und als von außen tragende involviert.

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gelöst. Im Bund geht der Rat der Staats- und Regierungschefs nie voll als Organ der Europäischen Union auf, sondern ist immer auch ein Stück „draußen“. Dies spiegelt nur den wichtigen Umstand wider, daß sich die EU nicht ausschließlich von unten, von ihren Völkern oder gar von „ihrem“ Volk her legitimiert, sondern angesichts der großen Distanz von den Bürgerinnen und Bürgern zu den Organen der EU auf die Staaten als Mittler angewiesen bleibt. Der Verfassungsvertrag thematisiert dies grundsätzlich als die doppelte demokratische Legitimation in der Europäischen Union. 5. Verfassungsgebende Gewalt und EU Der EU-Verfassungsvertrag verfaßt eine Union, die keinen Anfangsmythos hat, an deren Beginn keine heroischen erinnerungsfähigen Taten oder Zäsuren stehen34. Die Verfassung stattet eine aus Vernunft und Zwecküberlegungen geborene Einheit mit rationalen, gleichwohl verbesserungsfähigen Institutionen und Prinzipien aus. Im Zuge des „cultural turn“ in den Geisteswissenschaften ist die alte Beobachtung stark akzentuiert worden, daß an der Wiege der nationalen Staaten bzw. ihrer Nationswerdung große Zäsuren, oft auch blutige Umstürze oder Revolutionen stehen, und daß es zur „Erfindung“ der Nationen selbst und später zur Erinnerungskultur gehört, diesen Anfang besonders zu inszenieren und erinnerungsfähig vorzustellen. Die historische Beschreibung ist zutreffend. Dagegen ist es nicht begründet, wenn aus diesen Beobachtungen auch für die Zukunft eine Art Gesetz abgelei34 Die besondere Bedeutung der Verfassungsgebung als ein singulärer ausgezeichneter Zeitpunkt ist immer wieder Gegenstand des Werks von Hasso Hofmann gewesen; dazu auch die Bemerkung; daß es in der europäischen Diskussion eine Ablösung des Verfassungsbegriffs vom Mythos der verfassungsgebenden Gewalt gebe: Vom Wesen der Verfassung, JöR 2003, S. 3. – Für den europäischen Kontext hat daran neuerdings in kulturwissenschaftlicher Perspektive Ulrich Haltern – wenn auch in einiger Zuspitzung – erinnert: Gestalt und Finalität, in: A. v. Bogdandy (FN 20), S. 803, 815 ff.

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tet wird, daß nur solche einschneidenden Anfänge mit ihren Opfern die Basis für eine starke politische Einheit bilden könnten. Noch weniger will es einleuchten, daß im Fehlen solcher opfervoller Ereignisse ein dauerhaft wirkender Geburtsfehler der EU liegen sollte. Immerhin läßt sich auf der Folie dieser Auffassung formulieren, daß die EU insoweit eine „nur“ aus Vernunft und der Interessenverfolgung geborene Einheit mit einem vernünftigen Grundstatut ist. Die weitere Entwicklung ist so auch ein Test dafür, ob einer neuen Einheit, die historisch ganz ohne Revolution und Blutvergießen entstanden ist, ein langfristiges Überleben beschieden ist. 6. Vorrangordnungen in der EU Als Vorrangordnung ist das Primärrecht der Europäischen Union in einer gewissen, aber längst nicht so dominanten Weise wie in den Staaten verwirklicht. Die Verfassung des Grundgesetzes ist in besonderem Ausmaß als Vorrangordnung zu verstehen, d. h. die Verfassung ist Maßstab für die Überprüfung aller anderen Normen, das Verfassungsgericht führt diese Kontrolle sehr effektiv aus und gewährleistet damit die Maßstabsfunktion der Verfassung35. Gilt dies aber in gleicher Weise für den Europäischen Gerichtshof und ist dieser als das Verfassungsgericht der Union zu verstehen36? Wohl gibt es Fälle, in denen der EuGH die Kontrolle auch gegenüber den Organen der EU, insbesondere gegenüber dem Rat oder dem Parlament, ausgeübt und die Maßstäblichkeit des Primärrechts 35 Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung: Der Staat 20 (1981), S. 485 ff.; ders., Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff?, in: FS Brohm, S. 191 ff. 36 Zur Rolle des EuGH als Verfassungsgericht Franz C. Mayer, Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit, in: A. v. Bogdandy (FN 20), S. 229 ff.; ders., Wer soll Hüter der europäischen Verfassung sein?: AöR 129 (2004), S. 411 ff.; Joseph H. H. Weiler, The Transformation of Europe, in: ders. (Hrsg.), The Constitution of Europe, 1999, S. 10 ff.; Carlos Rodriguez Iglesias, der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfassungsgericht: EuR 1992, S. 225 ff.

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durchgesetzt hat37. Das jüngste Beispiel hierfür ist die QuasiOrganklage der Kommission gegen den Ministerrat in Sachen Stabilitätspakt, in der der EuGH diesen in der Verfahrensfrage verurteilt hat38. Aber ist diese Organkontrolle die dominante Kontrolltätigkeit des EuGH? Und spricht man, wenn man von Rang und Vorrang in der EU redet, in erster Linie vom Verhältnis des Primärrechts gegenüber den das Sekundärrecht setzenden europäischen Organen? Genauigkeit wird man beim Vorrangthema, bezogen auf die EU, nur erreichen, wenn man strikt zwei Formen des Vorrangs unterscheidet, nämlich den inneren oder internen Vorrang, der die Selbstbindung des Gesetzesrechts an das intern vorrangige Verfassungsrecht meint, und den föderalen oder externen Vorrang, bei dem eine in irgendeiner Weise übergeordnete Ebene mit ihrem Recht den externen Vorrang gegenüber dem Recht der eingegliederten Einheiten hat. In einer Kurzformel zusammengefaßt, bedeutet dies: auf der einen Seite die interne Überordnung innerhalb der Normenhierarchie derselben Einheit im Unterschied zum Vorrang des gesamten Rechts der höheren Gemeinschaft gegenüber einer anderen, der eingegliederten Einheit. Auf die EU bezogen, liegt es auf der Hand, daß bei Vorrang sofort und fast ausschließlich an den föderalen oder den externen Vorrang der Rechtsordnung der EU über die Rechtsordnung der Mitgliedstaaten gedacht wird. Dementsprechend ist auch der EuGH primär in der externen Richtung, in der integrationsspezifischen Funktion tätig. Hüter der Verfassung ist der EuGH in erster Linie gegenüber den Mitgliedstaaten und erst in zweiter Linie wie ein Verfassungsgericht Hüter des Primärrechts gegenüber den Organen der EU. 37 Vgl. insbesondere das Urteil des EuGH in der Rechtssache C-376 / 98 zur Nichtigerklärung der Richtlinie 98 / 43 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen, Slg. 2000, I-8419 ff. 38 EuGH, Urteil v. 13. Juli 2004, Rs. C-27 / 04, NJW 2004, 2360.

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Über diese Anfangsbeobachtung hinaus und grundsätzlicher ist zu Recht bemerkt worden – ich zitiere der Kürze halber Armin von Bogdandy39 –, daß die Austarierung der horizontalen und vertikalen Linien im institutionellen Gesamtarrangement der EU und der Mitgliedstaaten durch eine progressive Grundrechtspolitik, d. h. auch durch die Geltendmachung eines Vorrangs des Primärrechts gegenüber dem Sekundärrecht, gefährdet werden könnte. Eine Grundrechtspolitik in Form der Grundrechtsverstärkung könnte nämlich ausgesprochen zentralisierende Effekte haben und damit das verfassungspolitische Gleichgewicht der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten gefährden40. 7. Das Europäische Parlament Auch das Regierungssystem in der Europäischen Union41 wiederholt nicht Sinn und Funktion des parlamentarischen Regierungssystems im Einheits- oder im klassischen Bundesstaat. Wer das Europäische Parlament als „Noch-nicht-ganzParlament“ oder als „Halbparlament“ versteht, legt ungeprüft den Maßstab des Parlamentarismus zugrunde. Zu seiner Funktion im institutionellen Gesamtgefüge der Europäischen Union passen aber nur die Rollen als Arbeits- und Kontrollparlament, seine Repräsentationsfunktion ist jedoch vergleichsweise schwach ausgeprägt42. 39 Armin von Bogdandy, Europäisches Prinzipienrecht, in: ders. (FN 20), S. 149 ff.; ders., Europäische Verfassung und europäische Identität, JZ 2004, S. 54 ff. 40 Christoph Schönberger, Normenkontrollen im EG-Föderalismus – Die Logik gegenläufiger Hierarchisierungen im Gemeinschaftsrecht, EuR 2003, S. 600 ff. 41 Dazu jetzt insbesondere Wolfgang Wessels, Das politische System der Europäischen Union, 2004. 42 Dazu jetzt eingehend Philipp Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus, 2004; ders., Europäisches Parlament und Exekutivföderalismus, Der Staat 42 (2003), S. 355 ff.

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IV. Demokratie und Demokratieprinzip: Übertragbarkeit auf die Europäische Union oder spezifische und singuläre Ausprägung in der EU? 1. Demokratie jenseits des Staates Ein klassisches Beispiel für die behandelte Problematik der wiederholenden Übertragung ist das Demokratieprinzip, über das seit langem kontrovers diskutiert wird43. Viele sehen in der Demokratiefrage der Europäischen Union geradezu den Lackmustest dafür, ob die Europäische Union vom rechten Pfad abgekommen ist oder nicht. Insoweit wird nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Mitgliedstaaten der EU intensiv darüber gestritten, ob das Demokratieprinzip des nationalen Verfassungsstaates voll oder nur reduziert auf die europäische Ebene übertragen werden kann und ob das derzeitige demokratische Leben in der EU defizitär ist, also sozusagen eine Schwundform der Demokratie darstellt. In der Tat muß von allen verfassungspolitischen Strukturprinzipien oder Strukturelementen die Demokratie und das Demokratieprinzip das für alle politischen Einheiten entscheidende Merkmal für seine politische Gestalt sein, sagt es doch das Entscheidende über den Träger einer politischen Gemeinschaft und das Maß der inneren Verbindungen zwischen dem einzelnen und der Einheit aus. Rechtsstaatlichkeit läßt sich z. B. unschwer generalisieren und unabhängig von der konkreten Gestalt einer politischen Einheit verstehen. Rechtsstaatlichkeit kennzeichnet etwa auch die Welthandelsorganisation (WTO)44, und der Ausbau von Rechtsstaatlichkeit läßt 43 Vgl. aus der Diskussion insbesondere Gertrude Lübbe-Wolff, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 246 ff.; Armin von Bogdandy (FN 9), S. 1033 ff.; Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997; Winfried Kluth, Die demokratische Legitimation der Europäischen Union, 1995. 44 Meinhard Hilf, Die Konstitutionalisierung der Welthandelsordnung: Struktur, Institutionen und Verfahren, in: Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, 2003, S. 257 ff.

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sich als ein auch dort erreichbares Programm aufstellen. Demokratie und WTO ist dagegen eine Kombination, die einem spontan nie einfallen würde. Das Demokratieproblem für die Europäische Union ist u. a. ein Indikator dafür, wie nahe die Europäische Union etwa der WTO einerseits oder den Staaten andererseits ist. 2. Die zweistufige Demokratie in Europa In Deutschland hat Gertrude Lübbe-Wolff ausdrücklich und nachdrücklich für die volle Gültigkeit des im staatlichen Bereich entwickelten Demokratieprinzips für die EU gestritten. Sie hat dem häufig vertretenen Nichtübertragbarkeitsgrundsatz explizit widersprochen45. Nach ihr habe sich Demokratie, so wie sie im nationalen Bereich entwickelt ist, auf der europäischen Ebene zu wiederholen (und müsse auf beiden Ebenen noch wachsen). Lübbe-Wolff bringt damit eine verbreitete Auffassung zum Ausdruck. Aber schon früh, nämlich bereits 1964, gab es in Deutschland auch die gegenteilige Auffassung von Peter Badura46. Nach ihm kann eine wirksame Gestalt internationaler Demokratie nur verwirklicht werden, wenn man sich klarmacht, daß diese Gestalt gerade nicht durch eine Übertragung der geschichtlich-konkreten Ausprägungen von Demokratie in den nationalen Verfassungsrechten auf die internationalen Einrichtungen gebildet werden könne. Sie müsse neu durchdacht werden im Hinblick auf die besonderen Bedingungen, unter denen auf internationaler Ebene Herrschaft begründet und ausgeübt wird. Nach dieser Auffassung nimmt das Demokratieprinzip in der Europäischen Gertrude Lübbe-Wolff (FN 43), S. 246, 247. Peter Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRL 23 (1966), S. 34 ff., 38 und 97 f. Diese These von Badura ist eine frühe und zutreffende Fassung der Nichtwiederholungsthese, sie kann als Grundmelodie einer langen Diskussion verstanden werden. 45 46

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Gemeinschaft eine eigenständige Gestalt an und erhält eigene Züge durch den supranationalen Charakter dieser Gemeinschaft. Danach ist das Demokratieprinzip wie alle anderen verfassungspolitischen Strukturbestimmungen nicht allein auf die Europäische Union zu beziehen, sondern auf die Verbindung zwischen Europäischer Union und den Nationalstaaten. In dieser Sichtweise ist Demokratie in der EU eine zusammengesetzte und verbundene, sozusagen eine „verdoppelte“ Demokratie. Denn die Herrschaftslegitimation in der Europäischen Union kann nicht isoliert nur für die EU selbst behandelt und gedacht werden, sondern es ist der Zusammenhang mit der parallelen und komplementären Herrschaftslegitimation im jeweiligen Staat ins Blickfeld zu nehmen. So gesehen betrifft das Demokratieproblem in der Europäischen Union immer einen Verbund von EU plus Nationalstaat47. Deshalb geht es beim europäischen Demokratiethema nicht nur um die demokratische Form und das demokratische Leben der Europäer, sondern um die in einem gemeinsamen Europa zusammenlebenden Spanier, Deutschen, Franzosen usw. Sie leben sowohl in ihrem nationalen Staat und dessen Demokratie, als auch in der EU und deren Demokratie. Die Demokratieforderung richtet sich also nicht an die Europäische Union allein, sondern an die Gesamtkonstellation (d. h. den Verbund), und für diese Gesamtkonstellation muß man fragen, ob für sie insgesamt eine ausreichende und angemessene demokratische Legitimation vorhanden ist. Die Grundvorstellung von der zweigeteilten Ordnung reicht über Triviales hinaus, nämlich genau dann, wenn man jeden anspruchsvollen staatstheoretischen Begriff im Hinblick auf dieses Grundphänomen der Verdoppelung neu analysiert. In einem gewissen Sinne muß Demokratie insoweit neu „erfunden“ werden. Es muß begriffen und erlebt werden, was es heißt, 47 Diese Betrachtung fügt sich in einen größeren Zusammenhang strukturell ähnlicher Verständnisse ein, die alle um den Befund eines Verbundes oder eines Mehr-Ebenen-Systems kreisen.

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daß aufeinander bezogene demokratische Prozesse sowohl in der EU wie in den Mitgliedstaaten stattfinden. Daß Demokratie neu verstanden werden muß, ist nichts Neues. Ende des 18. Jahrhunderts mußte man Demokratie im Flächenstaat grundsätzlich neu verstehen, nachdem man lange Zeit Demokratie nur in den aus der Antike gewohnten begrenzten Stadtstaaten für möglich hielt48. Jede Theorie übertrumpfend, zeigten dann die USA, sowohl in jedem Einzelstaat wie in der Union als Ganzen, daß – repräsentative – Demokratie in der großen Fläche praktizierbar und erlebbar ist. Beim erwähnten Grundphänomen der Verdoppelung ist unübersehbar, daß Demokratie als Grundkategorie politischer Ordnung nicht einfach „verdoppelt“ werden kann, sondern daß sich die beiden Demokratien in der EU und in den Einzelstaaten zueinander komplementär verhalten und die gewohnte Demokratie in den Staaten sich modifiziert. Auf der einen Seite verändert sich für jeden Mitgliedstaat in der EU notwendigerweise seine demokratische Binnenstruktur. Insbesondere kommt es dabei zu einem Bedeutungsverlust der nationalen Parlamente49. Die einzelnen Bürger hierzulande erleben früher oder später, daß in Deutschland nicht nur deutsches Recht, sondern auch europäisches Recht direkt gilt. Auf der anderen Seite kann sich auf der supranationalen Ebene nicht die volle oder sozusagen absorptive Kraft der Demokratie entwickeln, solange es noch eine kräftige nationale Basis gibt. Politik spielt sich keineswegs nur oder gar primär in Brüssel und in Straß48 Noch Jean-Jacques Rousseau ist so stark vom Gedanken der Versammlungsdemokratie geprägt (daneben hält er ein starkes soziales Band für nötig), daß seine Republik ein kleiner Staat, am besten ein Stadtstaat sein muß, dazu Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, 1988, S. 175, 177. 49 Dazu Matthias Herdegen, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL Bd. 62 (2003), S. 9, 11, 26. – Die Parlamente sind immer die Verlierer, wenn sich die Aufgaben nur durch Zusammenarbeit mit anderen Staaten oder durch supranationale Organe erledigen lassen. Jede „Außenpolitik“ geht zu Lasten der Parlamente.

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burg ab; sie ist zunächst und dominierend immer noch in Berlin und Paris oder auf regionaler Ebene beheimatet. Vor allem nehmen die Bürgerinnen und Bürger, die letztlich entscheidend sind, Politik beharrlich im nationalen Rahmen wahr. Genau dies ist der Unterschied zu der oben als Vergleich herangezogenen deutschen Einigung im 19. Jahrhundert. In ihr ist rasch das meiste politisch Relevante auf die obere Ebene abgewandert, und vor allem wurde im politischen Bewußtsein der Menschen die Vorstellung, Preuße oder Bayer zu sein, bald von derjenigen überlagert, Deutscher zu sein50. Die Vorgänge in der Mentalität und im politischen Bewußtsein bei der Nationalstaatsbildung in Deutschland unterscheiden sich damit elementar von der heutigen Integration in Europa. Bei beiden Prozessen ist zwar eine Doppelung auf der Bewußtseinslage gegeben. Aber föderale Strukturen sind ungemein elastisch, flexibel und vielgestaltig. Es muß also nicht so sein, daß bei einer Einigung oder bei einer im Gang befindlichen Integration die neue, obere Ebene alles an sich zieht und aufsaugt. Dies war nur beim Bundesstaat des Nationalstaats so. Die europäische Integration zeigt jedoch den gegenläufigen Vorgang, also das Phänomen, daß die kleineren Einheiten Bedeutung behalten. Insoweit mag offen bleiben, ob dies für die Kompetenzordnung auch gilt. Jedenfalls auf dem relativ eigenständigen Feld der Mentalitäten – sofern diese Mentalitäten das Gravitationszentrum der politischen Prozesse überhaupt mitbestimmen – verbleibt das politische Kraftfeld, das Feld der öffentlichen Prozesse, politischen Diskurse und Bindungskräfte nach wie vor bei den Staaten51. 50 Im 19. Jh. gab es eine Formel, die man sich, übertragen, heute in keinem Mitgliedstaat der EU vorstellen könnte, nämlich die Formel: Preußen geht in Deutschland auf. (Sie war, als Friedrich Wilhelm IV. sie im März 1848 sprach, gewiß nicht ehrlich gemeint; später aber trug sie das Empfinden der Menschen, weniger der Eliten in Preußen.) 51 In einem gewissen Grad erleben wir heute und wohl für eine nähere Zukunft, daß eher Kompetenzen und Politiken auf die europäische Ebene wandern, als daß sich das fundierende Bewußtsein und die Mentalität der Bürgerinnen und Bürger auf die EU richten und diese Prozesse tragen.

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3. Politische Gemeinschaft als Grundlage der Demokratie Demokratie ist außerdem mehr als die Eröffnung von Wahlmöglichkeiten durch Betätigung des Wahlrechts für alle und mehr als das Knüpfen von Legitimationsketten. Das Gelingen von Demokratie lebt essentiell von politischen Kraftlinien und der primären Kraftquelle des Zugehörigkeitsgefühls. Der archimedische Punkt des Themas vom europäischen Demokratiedefizit ist die verdrängte Frage nach der politischen Gemeinschaft. Es geht also um die Suche nach dem, was eine politische Einheit zu einer solchen macht und was die Stärke dieser politischen Einheit – oder besser: die Stärke der dort möglichen und praktizierten Demokratie – ausmacht. Dieser in der Literatur lange vernachlässigten Frage52 nach der EU als politischer Gemeinschaft, also nach den Entstehungsbedingungen einer nicht-national geprägten Gemeinschaft bzw. einer zugleich national wie nicht-national geprägten politischen Ordnung, widmen sich meine weiteren Überlegungen. Demokratie ist eine Herrschaftsform, die von politischen Kraftlinien und Energien lebt. Demokratie bedeutet und verspricht, daß die Legitimation und Quelle von unten, vom Volk ausgehen. Demokratie verfaßt die entscheidenden politischen Kraftlinien im Sinne von Wechselbeziehungen zwischen unten und oben. Aber entscheidend ist hier: Demokratie verfaßt reale Kräfte und kann nur das „in Verfassung“ bringen, was als reale politische Kräfte vorhanden ist. Die Verfassung konstituiert gemäß einer prominenten Formel des bundesrepublikanischen Staats- und Verfassungsrechts den Staat umfassend und ausnahmslos. Was die Verfassung aber nicht konstituiert und nicht konstituieren kann, ist der Wille der Vielen, politische Gemeinschaft zu sein oder auch nicht zu sein. Die Verfassung kann das, was eine Gruppe von Menschen zu Mitglie52 Dazu jüngst aber Martin Nettesheim, Die politische Gemeinschaft der Unionsbürger, in: FS Häberle, 2004, S. 193.

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dern einer politischen Gemeinschaft macht, nicht allein oder im wesentlichen bewirken, Verfassungspatriotismus ist ein Integrationsfaktor; als einziger gemeinschaftsbildender Faktor taugt er nicht, sonst könnte man, die Geltung der gleichen Verfassung unterstellt, Staaten oder politische Einheiten mit beliebig räumlich-geographischen Abgrenzungen, more geometrico, bilden. Deshalb bleibt die Frage: Was macht eine nicht staatliche politische Einheit zu einer solchen? Menschenrechtliche Begründungen und Ideen können es nicht sein, denn aus ihnen würden sich gerade keine territorial abgegrenzten und unterschiedenen Einheiten ergeben. Gemeinschaftsbildende Kräfte in der EU können solche sein, die sich aus der für die EU typischen Mittellage zwischen menschenrechtlichen und nationalen Ideen speisen. Eine verbreitete Sichtweise setzt denn auch auf die post-nationale Konstellation (Jürgen Habermas) und auf die zu beobachtenden Tendenzen einer Entstaatlichung oder De-Staatlichung. Die damit verbundenen Erwartungen und Hoffnungen erübrigen aber nicht die Frage – sondern fordern sie um so mehr heraus –, was nach dem Verblassen des Nationalen die politische Gemeinschaft im Staat, aber noch viel mehr in der EU bildet, trägt und zusammenhält. Das Abstellen auf die politischen Kräfte und Ideen, die hinter der Demokratie stehen und stehen müssen, ist eine der normativen Sicht des Öffentlichen Rechts ungewohnte Sichtweise. Deshalb bedarf dies der näheren Begründung. Was eine Gruppe zur politischen Gemeinschaft macht, kann man versuchen, durch Theorien zu erfassen. Dazu fehlt hier der Raum. Rascher und anschaulicher kann man die Ausbildung einer politischen Gemeinschaft und ihr Wachstum an Kraftentfaltung im historischen Längsschnitt erkennen. Wolfgang Reinhard hat diese sozusagen induktive Betrachtung in seinem Werk „Geschichte der Staatsgewalt“ exemplarisch und fruchtbar vorgeführt. In seiner Analyse ist die Brille des Historikers zugleich die Brille des Politikwissenschaftlers, des Soziologen

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und Staatsrechtlers. Das Interesse richtet sich sowohl auf Institutionen wie auf Prozesse (der Machtbildung). Der historische Blick legt die politischen Kräfte, die Akteure und die Mentalitäten sowie die Emotionen der Handelnden frei. Nimmt man diese Perspektive ein, so ergibt sich: Die Fragen nach der Entstehung, Ausbildung, dem Wachstum und der Kraft der Staatsgewalt können einige Teil-Antworten durch das Recht finden, das Rahmen- und Entstehungsbedingungen aufzeigen kann. Die eigentlich wirkenden Kräfte sind damit nicht erfaßt. Demokratie (wie auch Föderalismus) bedarf der rechtlichen Grundlagen, der Ermöglichung durch entsprechende rechtliche Konstitutionsprinzipien. Ob aber die Demokratie verwurzelt ist, ob sie kräftig ist und ob sie sich gegen Widerstände in einem konkreten Volk und zu einer spezifischen historischen Situation behaupten kann, hängt ersichtlich von weiteren Faktoren ab. So ist die im Text gestellte Frage nach den Formierungs- und Bewegungskräften, die hinter der EU stehen, natürlich keine primär rechtliche Frage. Sie ist aber die für den Fortgang und die Vertiefung der europäischen Integration entscheidende Frage. Wer sich dafür interessiert, ob die EU eine politische Gemeinschaft und eine starke Gemeinschaft ist, kann den Blick nicht allein und nicht in erster Linie auf die rechtlichen Regeln richten. Die Frage mag methodisch schwierig zu beantworten sein, zumal von Juristen, sie steht gleichwohl als eine reale und drängende Frage auf der Tagesordnung. Beim Thema Demokratie und der Frage nach der maßgeblichen politischen Einheit geht es in föderalen Ordnungen immer darum, welche von beiden Ebenen letztlich die maßgebliche ist. Als Phänomen des Bewußtseins und der Einschätzung spielen grundlegende Interpretationsmuster eine Rolle, also etwa das, ob man das Verhältnis zwischen der EU und den Mitgliedstaaten als eines von Basis und Überbau oder als Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen interpretiert. Nach allem, was man beobachten kann, ist das Empfinden nicht so, daß sich die Europäer in den vielen Mitgliedstaaten an die

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Europäische Union als der Verkörperung des Ganzen wenden und ihren Staat als einen bloßen Teil dieser Ordnung ansehen. Statt dessen dürfte eher die Grundauffassung vorherrschen, daß sich über der Basis der Staaten ein „Überbau“ in Brüssel und Straßburg erhebt. Diese – kursorischen – Überlegungen bezweifeln nicht, daß in der Zukunft Entwicklungen möglich, sogar wahrscheinlich sind und daß in der Zukunft in der EU ein Zusammengehörigkeits- und Angehörigkeitsbewußtsein wachsen kann. Ob seine Stärke vergleichbar der in den Nationalstaaten werden wird, ist offen; keine Theorie erlaubt insofern eine begründete Vorhersage. Vermutlich wird sich in der EU eine schwächere Form der Gemeinschaftsbindung entwickeln. Überhaupt wird man sich die EU als ein Regime der schwachen Bindung und der schwachen Demokratie53 vorzustellen haben. Aber an diesem wichtigen Punkt der Überlegungen ist wieder die Grundvorstellung von der Zweistufigkeit aufzugreifen. Die Demokratie der EU selbst ist wichtig, aber sie ist nur ein Teil der Gesamtprobleme der Demokratie in der EU, in dem von der EU umfaßten Verbund von Staaten. Deshalb geht es, wenn man die EU ins Blickfeld nimmt, um die Gesamtkonstellation von (reduzierter) Demokratie in den nationalen Staaten plus Demokratie in der EU. 4. Europabildende Kräfte Wie verhalten sich nun Europa und die Unionsbürger zueinander? Sie haben eine mehr oder weniger ordentliche Verfassung erhalten, sie können ein Europäisches Parlament wählen, das beträchtliche Befugnisse hat, und sie können sich darüber versichern, daß Europa dieselben guten Werte verwirklichen möchte, wie dies in den einzelnen Staaten der Fall 53 Damit wird noch einmal die These zum Ausdruck gebracht, daß Demokratie nicht einfach mehr oder weniger Verwirklichung der einen (national) geprägten Erscheinungsform ist, sondern daß es unterschiedliche, auf die jeweilige politische Einheit zugeschnittene und ihr adäquate Formen der Demokratie gibt.

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ist. Gleichwohl wollen sie merkwürdigerweise nicht Hals über Kopf Europäer sein, nicht das europäische Volk bilden und kein starkes europäisches Zugehörigkeitsgefühl entwickeln. Sind sie also alle undankbar? Natürlich könnte man die Verfassung noch weiter verbessern und dem Parlament noch mehr Rechte geben. Aber würden dann die Verfassung und die Europäische Union eine so unwiderstehliche Anziehung ausüben, daß die Bürgerinnen und Bürger zu überzeugten Europäern, zu Unionsbürgern im wahren Sinn des Wortes würden? Irgend etwas an diesem Gedankengang ist offenbar nicht richtig. Er verspricht sich Leistungen, nämlich die Entwicklung von Zugehörigkeitsgefühl und Gemeinschaftsbewußtsein, also etwas, das in 46 Jahren nicht bewerkstelligt wurde und aus heutiger Sicht auch in den nächsten Jahren nicht geleistet werden wird. Woran könnte dies wohl liegen? Natürlich drängen sich hier Antworten auf. Als erste wären dabei wohl der technokratisch-bürokratische Anfang und die immer noch starke technokratisch-bürokratische Ausrichtung der Europäischen Union zu nennen. Es fallen einem noch eine Reihe anderer retardierender Momente ein. Aber sind diese wirklich verantwortlich dafür, daß der zunächst gezeichnete Entwicklungspfad nicht so funktioniert, wie es sich manche vorstellen? Ist etwa Zugehörigkeitsgefühl und Gemeinschaftsbewußtsein ein „angebotsorientierter“ Vorgang? Oder gehört nicht doch die entschiedene „Nachfrage“ hinzu? Es könnte sein, daß man sich im Vergleich zwischen dem 19. und dem 20 Jh. verrechnet hat. So hat sich zu Recht die Einsicht verbreitet, daß die Nationen und das Nationalbewußtsein des 19. Jahrhunderts in vielem eine Konstruktion, ja eine Erfindung waren. Diesen Gedanken auf das 20. Jh. zu übertragen und die europäische Integration als etwas zu Erfindendes und zu Konstruierendes zu begreifen, mag naheliegen. Aber ist damit nicht ein richtiger Gedanke falsch zu Ende gedacht worden? Denn nur Konstrukt und nur Erfindung war

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das Nationalgefühl im 19. Jahrhundert offenbar nicht. Vor allem reichen anscheinend auch heute bloße Konstrukte, Identitätspolitik, Akzeptanzoffensiven oder gar ein symbolisches Dekor keinesfalls aus. Zu Recht hat man in der Geschichtswissenschaft in Bezug auf das 19. Jh. schon lange von staatsbildenden Kräften gesprochen. Wenn Parallelen und Übertragungen dieses Prozesses auf die EU sinnvoll sind, dann heißt dies, nach den europabildenden Kräften der Gegenwart und der Zukunft zu fragen. Solche Kräfte sind der Humus für die europäische Demokratie in der EU, und ihre ungenügende Ausprägung schwächt die Demokratie. Das Phänomen, das als Demokratiedefizit bezeichnet wird, ist zuallererst das Defizit solcher europabildender Kräfte und europaorientierter Mentalitäten der Unionsbürger. Wenn sich diese europabildenden Kräfte bei den Unionsbürgern kräftig entwickeln würden, würden sich die europäische und die staatliche Demokratie sehr annähern; im anderen Fall würden die europäische Demokratie und das Demokratieverständnis einen eigenen Charakter behalten. Wenn man erst einmal anerkennt, daß es nicht ein Modell und Schnittmuster für Demokratie gibt, daß der theoretische Hintergrund von Demokratien im nationalen, europäischen und internationalen Maßstab nicht ein geschlossenes Demokratiekonzept ist, sondern die theoretische Durchdringung des Demokratiethemas eine ebenen-spezifische Verwirklichung nahelegt, dann kann man die Überlegungen auch weitertreiben und die Frage stellen: Ist vielleicht die emphatische, erlebnisstarke Demokratie an den Staat und seinen nationalen Hintergrund gebunden, und deshalb nicht einfach auf den europäischen Maßstab zu übertragen? In der Logik dieses Gedankengangs liegt es dann auch, in diesem hier unterstellten Fall, Demokratie auf der europäischen Ebene nicht für unmöglich oder strukturell, ja unheilbar defizitär zu halten, sondern eine andere Form von Demokratie, für die wesentlich auch der Verbund mit dem demokratischen Leben in den Mitgliedstaaten 10*

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ist, anzuerkennen. Das für das vitale politische Leben maßgebliche Interesse der einzelnen nimmt nicht nur wegen der großen Ausdehnung der EU ab, sondern weil sie sich der großen Einheit bisher nicht so verbunden fühlen. Es hat eine eigene Vernunft in sich, wenn sich in diesem Fall demokratisches Leben auf zwei Ebenen, aber in Verbindung miteinander, abspielt. Dies entspricht dem Charakter der EU, die von Anfang an und auch jetzt wesentlich nicht als Singularität, sondern nur im Zugleich mit den Mitgliedstaaten verstanden werden kann. VI. Schlußbemerkung Der Schlußgedanke schlägt nochmals einen weiten Bogen: Es gibt eine Art Gesetz in der geistigen Entwicklung. Danach ist eine Epoche, eine Idee – und hieran kann man auch beim Verfassungsstaat mit guten Gründen denken – in dem Augenblick, in dem sie ihren Höhepunkt und ihre gültige Ausprägung erreicht, bereits dabei, im Kern und an der Basis durch etwas Neues abgelöst zu werden. Mit dem Denken in Verflechtung, wechselseitiger Abhängigkeit und vor allem in horizontaler Koordinierung statt hierarchischer Vorordnung54 ergeben sich dann Probleme und Sachthemen, die ihre Begriffe und Konzepte erst noch suchen müssen und nur zum Teil schon gefunden haben. Die Eule der Minerva ist in Sachen nationaler Verfassungsstaat längst geflogen und wieder zurückgekehrt. Minerva wartet noch, ehe sie ihre Eule ein zweites Mal für die neue Epoche, wenn sie denn verstanden und begriffen sein wird, fliegen läßt. In der Zeit zwischen beiden Flügen besteht deshalb eine Phase der Phantasie, der neuen Entwürfe, des 54 Der Verzicht auf Hierarchie und Souveränitätsfrage gilt im Kern selbst beim Bundesstaat, wo die beiden Konzepte nicht wirklich zutreffen, es sei denn, man legitimiert einen Weg, der die unteren Einheiten entscheidend herabdrückt.

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produktiven Weiterentwickelns staatstheoretischer Schlüsselbegriffe zu Leitbegriffen der Welt jenseits des Staates, die noch mit ihm verwandt, aber doch wohl auch von ihm zu unterscheiden ist.

Kants Republik Von Horst Dreier I. Zur Rezeption von Kants Rechtslehre Anders als seinen berühmten „Kritiken“ war Kants Rechtsund Staatsphilosophie weder zu seinen Lebzeiten noch in den folgenden Jahrzehnten eine überwältigende Rezeption oder Resonanz beschieden1. Vor allem seine „Metaphysik der Sitten“ galt verbreitet als seniles Spätwerk, von dem sich auch eingefleischte Kantianer enttäuscht abwandten2. Besonders scharfzüngig äußerte sich einmal mehr Arthur Schopenhauer, dem Kants gesamte Rechtslehre als eine „sonderbare Verflechtung einander herbeiziehender Irrtümer“ und nur aus seiner „Alterschwäche“ erklärlich erschien3. Als in den 50 Jahren des bismarckschen Kaiserreiches der Neukantianismus dominierte4 und auch im Bereich der 1 Dazu R. Dreier, Zur Einheit der praktischen Philosophie Kants (1979), in: ders., Recht – Moral – Ideologie, 1981, S. 286 ff. (286 f. m. Nw. in Fn. 3 ff.); G.-W. Küsters, Kants Rechtsphilosophie, 1988, S. 14 ff.; P. Unruh, Die Herrschaft der Vernunft. Zur Staatsphilosophie Immanuel Kants, 1993, S. 13 f. 2 Vgl. W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, 1984, S. VII (Taschenbuchausgabe 1993, S. 88); B. Ludwig, Kants Rechtslehre, 1988, S. 2. – Zur Kant-Rezeption im 19. Jahrhundert sehr materialreich und differenzierter als hier J. Rückert, Kant-Rezeption in juristischer und politischer Theorie (Naturrecht, Rechtsphilosophie, Staatslehre, Politik) des 19. Jahrhunderts, in: M. P. Thompson (Hg. / Ed.), John Locke und / and Immanuel Kant, 1991, S. 144 ff. 3 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Erster Band, 1859, S. 436. 4 Dazu etwa H.-L. Ollig, Der Neukantianismus, 1979; H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831 – 1933, 1983, S. 139 ff., 198 ff.; K. C. Köhnke,

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Rechtswissenschaft entsprechende Konzeptionen erarbeitet wurden5, geschah dies zumeist unter Rückgriff auf den theoretischen und begrifflichen Apparat der Kantschen Erkenntnistheorie, also die Kritik der reinen Vernunft6 – und eben nicht unter Bezugnahme auf die Abhandlung über den Gemeinspruch7, die Schrift zum Ewigen Frieden8, die Metaphysik der Sitten9 oder den Streit der Fakultäten10, um die wichtigsten einschlägigen rechts- und staatsphilosophischen Beiträge Kants zu nennen, wie sie in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts in rascher Folge erschienen. Selbst Stammler, der entgegen seiner Eigenzurechnung üblicherweise als NeuEntstehung und Aufstieg des Neukantianismus, 1986; M. Pascher, Einführung in den Neukantianismus, 1997, S. 33 ff.; s. auch H. Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland (1963), 1974, S. 83 ff. 5 Zu einigen wie Stammler, Cohen, Lask und Radbruch knapp H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986), 2. Aufl. 1990, S. 70 ff.; zu Cohen eingehend E. Winter, Ethik und Rechtswissenschaft, 1980; zu Cohen und Stammler Claudius Müller, Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus, 1994; zu Cohen, Stammler und Kelsen W. Kersting, Neukantianische Rechtsbegründung, in: ders., Politik und Recht, 2000, S. 334 ff. – Vgl. jetzt auch R. Alexy / L. H. Meyer / S. L. Paulson / G. Sprenger (Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, 2002 (darin insb. die Beiträge von S. L. Paulson, W. Kersting und J. Rückert). 6 Dreier, Rechtslehre (Fn. 5), S. 57 ff. 7 I. Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), in: Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, herausgegeben von Karl Vorländer, 1913, S. 67 – 113 (AA 8, S. 273 – 313). – Kants Werke werden hier und im folgenden nach den am leichtesten verfügbaren Editionen zitiert. In Klammern ist jeweils die Fundstelle mit Band- und Seitenzahl in der maßgeblichen Akademie-Ausgabe (AA) angegeben: Kant’s gesammelte Schriften, herausgegeben von der Königlich Preußischen (später Preußischen, dann Deutschen, heute Berlin-Brandenburgischen) Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff. 8 I. Kant, Zum Ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795), in: Kleinere Schriften (Fn. 7), S. 115 – 169 (AA 8, S. 341 – 386). 9 I. Kant, Metaphysik der Sitten (1797), in: Immanuel Kant. Werke in zehn Bänden, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd. 7, 1975, S. 307 – 632 (AA 6, S. 203 – 493). 10 I. Kant, Der Streit der Fakultäten in drey Abschnitten (1798), in: Immanuel Kant. Werkausgabe, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd. 11, 1977, S. 263 – 368 (AA 7, S. 1 – 116).

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kantianer geführt wird, befand Kants Rechtslehre als „unmöglich“11. Seit mittlerweile mehr als dreißig Jahren verzeichnen wir hier eine vollständige Kehrtwende. Einhergehend mit der programmatisch erklärten „Rehabilitierung der praktischen Philosophie“12, entscheidend befördert durch Rawls‘ „Theorie der Gerechtigkeit“13 und andere Strömungen einer gewissen Substantialisierung normativer Fragen, ist der Rechtsphilosoph Kant von der Peripherie ins Zentrum gerückt. Ohne Übertreibung kann man sagen, daß er heutzutage den staatsund wohl auch den sozialphilosophischen Diskurs geradezu dominiert, wie jeder oberflächliche Blick in einschlägige Fachzeitschriften, Tagungsbände, Festschriften, Monographien, Lehrbücher und Nachschlagewerke belegt14. Kant gilt darüber hinaus in einer vielleicht schon wieder übertriebenen und im übrigen ganz unkantischen Weise mittlerweile nicht selten als die alles entscheidende philosophische Autorität schlechthin – 11 R. Stammler, Rechtsphilosophie, in: Das gesamte Deutsche Recht, Bd. I, 1931, S. 1 ff. (46); freilich war das eher im Sinne von „unhistorisch“ und „unrealistisch“ gemeint. 12 M. Riedel (Hrsg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, 2 Bde., 1972 u. 1974. 13 J. Rawls, A Theory of Justice, 1971, dt. u. d. Titel: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1973. – Zur trendumkehrenden und weichenstellenden Bedeutung dieses Werkes statt vieler W. Kersting, Einleitung zur Taschenbuchausgabe 1993: Kant und die politische Philosophie der Gegenwart, in: ders., Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, 2. Aufl. 1993, S. 11 ff. (14 ff., insb. 16: „Für die philosophische Zeitgeschichtsschreibung beginnt mit 1971 die Regenerationsphase der politischen Philosophie.“). Näher ders., John Rawls zur Einführung, 1993, S. 7 ff., 11 ff. 14 Über die vielfältige, ja kaum mehr überschaubare rechtsphilosophische Kant-Literatur orientieren etwa die Bibliographien in Küsters, Kants Rechtsphilosophie (Fn. 1), S. 147 ff.; Unruh, Herrschaft (Fn. 1), S. 215 ff.; Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (Fn. 2), S. 514 ff. oder unlängst O. Höffe (Hrsg.), Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1999, S. 293 ff.; vgl. ferner den allein der Kantschen Rechtsphilosophie gewidmeten Sonderband des Jahrbuchs für Recht und Ethik 5 (1997): 200 Jahre Kants Metaphysik der Sitten, hrsgg. v. B. S. Byrd / J. Hruschka / J. C. Joerden sowie jüngst den Literaturbericht von J.-R. Sieckmann, ARSP 90 (2004), 101 ff.

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ähnlich wie im Mittelalter Aristoteles oder im real existierenden Sozialismus der DDR (und, wenn auch auf andere Weise, in weiten Teilen der westdeutschen 68er-Studentenbewegung) Karl Marx. Manche meinen in unseren Tagen sogar, zwingende und rechtlich verbindliche Antworten auf ebenso drängende wie hochkomplizierte bioethische Fragen aus einer bestimmten Interpretation einer bestimmten Stelle der „Metaphysik der Sitten“ gewinnen zu können15. Wie ist es zu einer solchen dominierenden Stellung gekommen? Wieso beugen wir uns heute mit anhaltender Intensität über Schriften Kants, die fast 200 Jahre lang eher stiefmütterlich behandelt worden sind? Meine Vermutung ist, daß das nicht nur an der Breite und Tiefe der Themenbehandlung, dem Gedankenreichtum der Studien und ihrer argumentativen Stringenz, also an der Güte oder, wenn man so will, der inneren Richtigkeit des rechtsphilosophischen Werkes liegt. Es gibt auch äußere Gründe. Deren wichtigster scheint zu sein, daß Kant nicht nur eine abstrakte Philosophie des richtigen Rechts bietet, sondern mehr als nur ansatzweise eine Theorie der zentralen Rolle des Individuums sowie der Legitimität und institutionellen Struktur des Staates16. Und hier können wir eine ungewöhnliche Affinität und hohe Kompatibilität mit den Grundinstitutionen des modernen, freiheitlichen Verfassungsstaates feststellen. Dessen Pfeiler: Autonomie des Individuums, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, Volkssouveränität und Repräsentation finden in Kants Werk Entsprechung und Fundierung – was man etwa von Hegels Rechtsphilosophie so direkt nicht sagen kann. Kants Modernität erweist sich schließlich daran, daß bei ihm sogar die Rolle des Staates im internationalen Staatengeflecht in folgenreicher Weise philosophisch bedacht ist. Die Siegesgeschichte der Kantschen 15 Kritisch zu derartigen Tendenzen G. Kuhnke, Kant beim Wort nehmen – wenn man es verstanden hat, in: FAZ Nr. 120 v. 27. 5. 2002, S. 8 (Leserbrief). 16 H. Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, 2. Aufl. 2003, S. 39.

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Rechtsphilosophie ist – so gesehen – auch die des modernen Verfassungsstaates und ihrer wechselseitigen Entsprechung17. Diese Affinität und Kompatibilität ist im folgenden in mehreren Schritten näher zu entfalten, indem einige zentrale Aspekte der Kantschen Rechtslehre in ihrer Bedeutung für den modernen Verfassungsstaat ausgeleuchtet werden (II.). Es geht dabei erstens um die kategoriale Differenz von Rechtsund Tugendpflichten und die unterschiedlichen Befolgungsmodi von Moralität und Legalität; zweitens um den immanenten Freiheitsbezug des Rechtsbegriffs; drittens um die zentrale Frage nach dem legitimen Gesetzgeber, der allein das für alle geltende Gesetz mit Verbindlichkeit ausstatten kann; viertens um den Republikbegriff in seinem besonderen Sinne, mit dem die geschichtsphilosophische Perspektive untrennbar verknüpft ist. Am Ende steht fünftens die vielleicht weniger kosmopolitisch als transnationalstaatlich zu nennende Analyse der Einbettung des nationalen Staates in supra- und internationale Kontexte. Im Anschluß werden die sachlichen und strukturellen Parallelen zum Grundgesetz dargelegt (III.).

II. Zentrale Elemente der Rechts- und Staatsphilosophie Kants 1. Verpflichtungsmodus von Rechtsnormen Die Affinität von Kantscher Staatsphilosophie und moderner Verfassungsstaatlichkeit zeigt sich bereits in der grundlegenden kategorialen Unterscheidung Kants zwischen Tugend17 Zur philosophischen Fundierung des modernen Verfassungsstaates (auch) durch Kant etwa G. Maluschke, Philosophische Grundlagen des modernen Verfassungsstaates, 1982, S. 107 ff.; E. Sandermann, Die Moral der Vernunft, 1989, S. 294 ff.; H. Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht und politische Gerechtigkeit, 1990, S. 93 ff., 173 ff., 207 ff., 223 ff.; R. A. Lorz, Modernes Grundund Menschenrechtsverständnis und die Philosophie der Freiheit Kants, 1993, S. 330 ff.; S. König, Zur Begründung der Menschenrechte: Hobbes – Locke – Kant, 1994, S. 186 ff.; H. Hofmann, Der Staat 34 (1995), 1 (14 f.).

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pflichten und Rechtspflichten, zwischen Moralität und Legalität. Beide Begriffspaare sind nicht identisch, hängen aber sachlich eng zusammen. a) Rechts- und Tugendpflichten, Moralität und Legalität Für Rechtspflichten gilt nach Kant, daß sie äußerlich und erzwingbar sind, während die Tugendpflichten18 – inhaltlich über Rechtspflichten hinausgehend – der Sphäre der Innerlichkeit angehören und ganz auf den (moralischen) Zwang zum Selbstzwang setzen müssen. Ihre Erfüllung ist aber eben im Unterschied zu den Rechtspflichten äußerlich nicht erzwingbar19. Nicht auf den Inhalt, sondern den Befolgungsmodus abstellend, verhält es sich mit der Unterscheidung von Moralität und Legalität20. Hier ist die innere Motivation für die Befolgung von Pflichten entscheidend, und zwar sowohl für Rechts- wie auch für Tugendpflichten. Für den Rechtsstaat ist insofern konstitutiv, daß allein die äußerliche Befolgung der Gesetze ausreichen muß. Die innere Motivation geht ihn 18 Zu ihnen etwa Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (Fn. 2), S. 82 ff. (TbAusgabe S. 190 ff.); M. Gregor, Kants System der Pflichten in der Metaphysik der Sitten, in: B. Ludwig (Hrsg.), Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Metaphysik der Sitten, Zweiter Teil, 1990, S. XXIX – LXV. Eingehend jetzt A. M. Esser, Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, 2004; vgl. dazu die Rezension von M. Pawlik, Was heißt hier Formalismus?, in: FAZ Nr. 39 v. 16. 2. 2004, S. 41. 19 Hofmann, Rechts- und Staatsphilosophie (Fn. 16), S. 20. Vgl. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (Fn. 2), S. 76, 78 (Tb-Ausgabe S. 182, 184): Rechtszwang als Pendant des Selbstzwangs. 20 Dazu eingehend Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (Fn. 2), S. 70 ff. (TbAusgabe S. 175 ff.); R. Ruzicka, Moral, Naturrecht und positives Recht bei Kant, in: H. Holzhey / G. Kohler (Hrsg.), Verrechtlichung und Verantwortung, 1987, S. 141 ff.; K. Kühl, Die Bedeutung der Kantischen Unterscheidungen von Legalität und Moralität sowie von Rechtspflichten und Tugendpflichten für das Strafrecht – ein Problemaufriß, in: H. Jung / H. Müller-Dietz / U. Neumann (Hrsg.), Recht und Moral – Beiträge zu einer Standortbestimmung, 1991, S. 139 ff.

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schlicht nichts an. Der Staat soll die Menschen nicht bessern und sie zu tugendhaften Wesen erziehen, sondern sittliche Autonomie ermöglichen21. Eigene Vervollkommnung und fremde Glückseligkeit lautet das Programm der Tugendlehre22, nicht umgekehrt. Bei Befolgung einer staatlichen Rechtsnorm allein aus Furcht vor Strafe wird der Vorschrift Genüge getan, ohne daß diese vom Rechtsunterworfenen als legitim oder gar als „rechtens“ betrachtet und internalisiert werden müßte. Das freiheitliche Recht schaut nicht auf das Innere des Menschen und die eigentliche Motivation für die Rechtsbefolgung, sondern begnügt sich mit der Tatsache der Übereinstimmung von Handeln und Rechtsgebot23. In dieser Möglichkeit bloß äußerlicher Übereinstimmung mit den Rechtsnormen ohne innere Gewissensüberzeugung von der Richtigkeit des Rechts liegt in einem relevanten Ausmaß die Freiheit der Rechtsunterworfenen beschlossen. „Durch diese Abkoppelung der Verbindlichkeit des Rechts von ethischer 21 Hofmann, Rechts- und Staatsphilosophie (Fn. 16), S. 166: „Die Rechtsordnung soll nicht sittlich sein, sondern Sittlichkeit ermöglichen.“ Siehe auch H. Bielefeldt, Sittliche Autonomie und republikanische Freiheit. Die praktische Philosophie Kants und das Grundgesetz, in: W. Brugger (Hrsg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, 1996, S. 47 ff. (52). – Das gilt gerade auch deshalb, weil Legalität „nach den anspruchsvollen Maßstäben der Kantischen Gesinnungsethik sittlich wertlos“ ist (so drastisch W. Kersting, Der Geltungsgrund von Recht und Moral bei Kant, in: ders., Politik und Recht [Fn. 5], S. 304 ff. [323]), jedenfalls nicht in die „Tiefe der ethischen Personalität“ geht (P. Niesen, Volk-von-Teufeln-Republikanismus. Zur Frage nach den moralischen Ressourcen der liberalen Demokratie, in: L. Wingert / K. Günther [Hrsg.], Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas, 2001, S. 568 ff. [580]). Vielleicht auch deswegen kritisch-distanziert zur Trennung von Legalität und Moralität A. Arndt, Rechtsdenken in unserer Zeit (1965), in: ders., Gesammelte juristische Schriften, 1976, S. 37 ff. (50). 22 Kant, Metaphysik (Fn. 9), S. 515 (AA 6, S. 385 f.). 23 Dies gilt freilich uneingeschränkt nur für die Rechtsbefolgung, nicht beim Normverstoß. Darauf hatte bereits G. Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 2. Aufl. 1908, S. 56 aufmerksam gemacht; s. noch M. E. Mayer, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1933, S. 62; H. Nef, Recht und Moral in der deutschen Rechtsphilosophie seit Kant, St. Gallen 1937, S. 29; H. Ryffel, Rechts- und Staatsphilosophie, 1969, S. 184.

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Verbindlichkeit wird Kant zum Begründer einer liberalen Rechts- und Politiktheorie in Deutschland.“24 Mit der Beschränkung des Rechtsgehorsams auf Legalität gelingt es Kant, die Freiheitlichkeit einer Rechtsordnung zu wahren, ohne die Verbindlichkeit und Erzwingbarkeit des positiven Rechts in Frage zu stellen. b) Abwehr des Gesinnungs- und Tugendstaates Bei den genannten Begriffspaaren handelt es sich im Grunde um zu Kategorien geronnene Vorkehrungen gegen jede Form des Gesinnungsstaates25. Und deshalb vermag es kaum zu überraschen, daß bei einer Kant-Feier in Königsberg in einer Rede über die Grenzen des Rechts von der „zeitlose(n) Wahrheit der Kantschen Unterscheidung von Moralität und Legalität“ die Rede war – und auch davon, daß jeder „Versuch einer völligen Überführung der materialen Ethik in die Rechtsgebote . . . entweder scheitern oder die Ethik vernichten“ müsse. Überraschend ist höchstens, daß dies im Jahre 1941 öffentlich geschah und von einem Staatsrechtslehrer verkündet wurde, der gemeinhin eher pauschal zu den mittlerweile sprichwörtlichen „furchtbaren“ Juristen gezählt wird26. 24 P. Ruzicka, Art. Naturrecht (IV.4), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, 1984, Sp. 594 ff. (595). Dezidiert für eine liberale Deutung Kants auch O. Höffe, Ist Kants Rechtsphilosophie noch aktuell?, in: ders. (Hrsg.), Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1999, S. 279 ff. (286 ff.); G. Kohler, Philosophische Grundlagen der liberalen Rechtsstaatsidee, in: D. Thürer / J.-F. Aubert / J. P. Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, § 15 Rn. 3 ff., 12 ff., 26 ff. u. ö. (Rn. 10: Kant vermeide die „Moralisierung des Rechts“ und „die Gefahr der moralistischen Verengung und Überfrachtung des Rechts“); E. Schmidt-Jortzig, Grundrechte und Liberalismus, in: D. Merten /H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I, 2004, § 10 Rn. 9, 18. 25 H. Böckerstette, Aporien der Freiheit und ihre Aufklärung durch Kant, 1978, S. 358; Bielefeldt, Autonomie (Fn. 21), S. 108 ff. 26 E. Forsthoff, Grenzen des Rechts, 1941, S. 22. – Einige Hinweise zur Differenzierung seiner Rolle im „Dritten Reich“ bei H. Dreier, Die deutsche

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Zweifelsohne hat noch jeder totalitäre Staat versucht, diese Grenze zwischen Tugend- und Rechtspflichten, zwischen Moralität und Legalität einzureißen und das Terrain der Moralität, der Innerlichkeit, des Gewissens, der Überzeugung im forum internum zu besetzen – mit allen Mitteln. Freilich hat es zuweilen den Anschein, als seien auch Politiker westlicher Demokratien nicht immer vollständig gegen entsprechende Versuchungen gefeit. Natürlich erfolgen derartige Unterfangen, die Menschen mit den Zwangsmitteln des Rechts moralisch zu bessern, „nur“ mit den Mitteln rechtsstaatlichen Zwanges und immer in bester Absicht und aus hehrsten Motiven – aber doch letztlich mit den gleichen desaströsen und nicht hinnehmbaren Konsequenzen. Ihnen allen könnte man die Warnung aus Hölderlins Hyperion in Erinnerung rufen: „Du räumst dem Staate denn doch zu viel Gewalt ein. Er darf nicht fordern, was er nicht erzwingen kann. Was aber die Liebe gibt und der Geist, das läßt sich nicht erzwingen. ( . . . ) Beim Himmel! Der weiß nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte.“27 Aber eine solche Warnung brauchen wir eigentlich nicht bei anderen Autoren zu suchen: sie findet sich bei Kant selbst, und zwar in der Religionsschrift, wo es heißt: „Wünschen kann es wohl jedes politisch gemeine Wesen, daß in ihm auch eine Herrschaft über die Gemüter nach Tugendgesetzen angetroffen werde; denn wo jener ihre Zwangsmittel nicht hinlangen, weil der menschliche Richter das Innere anderer Menschen nicht durchschauen kann, da würde die Tugendgesinnung das Verlangte bewirken. Weh aber dem GeStaatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, VVDStRL 60 (2001), S. 9 ff. (17, 31 Fn. 106, 59). 27 F. Hölderlin, Hyperion oder Der Eremit in Griechenland (1797 – 1799), herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Jochen Schmidt, 1980, S. 41.

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setzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn er würde dadurch nicht allein gerade das Gegenteil der ethischen bewirken, sondern auch seine politische untergraben und unsicher machen“28. c) Fazit Das alles bedeutet insgesamt: Kant vermeidet mit seiner Unterscheidung von Rechts- und Tugendpflichten sowie derjenigen von Legalität und Moralität gleich zwei Folgen einer (stets gefährlichen und illiberalen) Moralisierung des Rechts: „sowohl ein philantrophisches Recht, das Tugendpflichten wie Wohltätigkeit erzwingen will, als auch ein Gesinnungsrecht, das sich bei den genuinen Rechtspflichten nicht mit Legalität begnügt, sondern zutiefst eine innere Anerkennung verlangt“29. 2. Freiheitsstatus des Individuums Die Äußerlichkeit ist nicht die einzige bedeutsame Qualifikation, die Kant mit dem Recht verbindet. Wichtig und vielleicht noch wichtiger für die These von der Kompatibilität seiner Rechtsphilosophie mit freiheitlicher Verfassungsstaatlichkeit scheint, daß seinem Rechtsbegriff der Freiheitsbezug immanent ist. Das erhellt bereits aus seiner berühmten Definition des Rechts als dem „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach 28 I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), AA 6, S. 1 ff. (95 f.). Den „konstruktiven Hintersinn“ (Niesen, Volk-vonTeufeln-Republikanismus [Fn. 21], S. 599) dieser tugendtheoretischen Zurückhaltung kann man darin erblicken, daß nur der Verzicht auf den direkten Zugriff auf die Moralität der Bürger diese letztlich befördern kann. Siehe noch Fn. 51 ff. 29 Höffe, Kants Rechtsphilosophie aktuell (Fn. 24), S. 281. Siehe dazu auch K. Herb, Bürgerliche Freiheit, 1999, S. 73 ff. (Republikanismus ohne Tugendforderung).

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einem allgemeinen Gesetze der Freiheit vereinigt werden kann“30. Schon hier ist der inhaltliche Freiheitsbezug deutlich31. Noch stärker formuliert Kant an einer späteren Stelle der Metaphysik, daß die einzig wahre Staatsverfassung der reinen Republik „Freiheit zum Prinzip“ haben müsse32. Und diese Freiheit des Einzelnen entfaltet Kant ungeachtet der verfassungsrechtlichen Entwicklung in den nordamerikanischen Kolonien und im revolutionären Frankreich33 nicht in einem ausdifferenzierten Katalog von Grundrechten, sondern bestimmt sie in der bekannten kompakten Formulierung unter der Überschrift „Das angeborene Recht ist nur ein einziges“ als „dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht“34. Die gleiche Freiheit aller formuliert somit das Strukturprinzip, das unterschiedlichen Konkretisierungen und Präzisierungen zugänglich bleibt35, von denen einige bei Kant der Sache nach durchaus Erwähnung finden, etwa die Meinungs-, Wissenschafts-, Eheoder Auswanderungsfreiheit. Im Freiheitsbezug, in der Sicherung und Bewahrung der (äußeren) Freiheit des Einzelnen findet das Recht seinen zentralen Bezugspunkt und seine wesentliche Legitimation, zugleich aber auch seine Begrenzung, seine Limitation. Das Recht ist ein Vernunftgebot36, weil es einer KoexistenzordKant, Metaphysik (Fn. 9), S. 337 (AA 6, S. 230). J. Rückert, Von Kant zu Kant? „Studien der Rezeption Kants in der Rechtswissenschaft seit Savigny“, in: R. Alexy u. a. (Hrsg.), Neukantianismus und Rechtsphilosophie, 2002, S. 89 ff. (94). 32 Kant, Metaphysik (Fn. 9), S. 464 (AA 6, S. 340). 33 Dazu H. Hofmann, Zur Herkunft der Menschenrechtserklärungen (1988), in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 3 ff., 15 ff.; ders., Die Entdeckung der Menschenrechte, 1999, S. 7 ff. 34 Kant, Metaphysik (Fn. 9), S. 345 (AA 6, S. 237). Dazu M. Köhler, Das angeborene Recht ist nur ein einziges, in: K. Schmidt (Hrsg.), Vielfalt des Rechts – Einheit der Rechtsordnung?, 1994, S. 61 ff.; Hofmann, Entdeckung (Fn. 33), S. 16. 35 Böckerstette, Aporien (Fn. 25), S. 351; W. Brugger, JZ 1991, 893 (895); Bielefeldt, Autonomie (Fn. 21), S. 54. 30 31

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nung für das Zusammenleben der Individuen bedarf; es entspricht diesem aber nur, wenn diese Koexistenzordnung im Zeichen des Freiheitsgedankens steht. Bezeichnend ist nun, daß in jenem individuellen Freiheitsbegriff die Freiheit der anderen stets schon mitgedacht und definitorisch eingebunden ist. Recht ist freiheitsorientiert nicht in der Weise, daß es zunächst wie im Naturzustand des Thomas Hobbes jedem ein Recht auf alles gibt; vielmehr wird es zum „Inbegriff von Freiheitsbeschränkungen“37. Dies wiederum nicht im Sinne einer intentionalen Beschneidung oder Reduktion von Freiheit, sondern deren Vermittlung mit der Freiheit aller anderen Subjekte. Kant entwickelt hieraus geradezu ein Kriterium für die Bewertung der Rechtlichkeit von Handlungen. Unter der Überschrift „Allgemeines Prinzip des Rechts“ heißt es bei ihm: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.“38 Ganz gleichsinnig formuliert er im Gemeinspruch: „Recht ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, insofern diese nach einem allgemeinen Gesetz möglich ist“39. Und das heißt zugleich natürlich auch und vor allem: Freiheit gibt es nur für alle, und zwar für alle in gleicher 36 Dazu Ruzicka, Naturrecht (Fn. 24), Sp. 594; B. Haller, Repräsentation. Ihr Bedeutungswandel von der hierarchischen Gesellschaft zum demokratischen Verfassungsstaat, 1987, S. 188 ff.; H. Dreier, AöR 113 (1988), 450 (469 f.). 37 Hofmann, Rechts- und Staatsphilosophie (Fn. 16), S. 150. – Besonders klar formuliert ist das in Kants Vorarbeiten zur Abhandlung über den Gemeinspruch, wenn es dort heißt (AA 23, S. 129): „Alle Rechtsgesetze müssen aus der Freiheit derer hervorgehen die ihnen gehorchen sollen. Denn das Recht ist nichts Anders als die Einschränkung der Freyheit des Menschen (in äußerm Gebrauch) auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung derselben mit der Freyheit von jedermann.“ – Im Gemeinspruch selbst heißt es dann, der Begriff eines Rechts gehe „gänzlich aus dem Begriffe der Freiheit im äusseren Verhältnis der Menschen zu einander hervor“ (Kant, Gemeinspruch [Fn. 7], S. 144 [AA 8, S. 289]). 38 Kant, Metaphysik (Fn. 9), S. 337 (AA 6, S. 230). 39 Kant, Gemeinspruch (Fn. 7), S. 144 (AA 8, S. 289 f.).

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Weise. Kants äußerliches Freiheitsgesetz besagt letztlich: „Keiner kann frei sein, wenn nicht alle es sind“40. Diese Aussage führt uns unmittelbar zum nächsten Punkt, der Frage nach dem Subjekt der allgemeinen Gesetzgebung. 3. Gesetzgebung als vereinigter Wille aller Die Beschränkung der juridischen Sphäre auf die Rechtspflichten mit äußerer Erzwingbarkeit sowie die Restriktion des positiven Erfüllungsmodus entsprechender Pflichten auf die Legalität und somit ohne Zugriff auf die Sphäre des forum internum sagen noch nichts Näheres darüber aus, wer als legitimer Gesetzgeber bei der Aufstellung jener positiven (äußeren) Rechtspflichten fungiert. Legitimatorisch meint hier die Entwicklung von Kriterien, anhand derer die Vernünftigkeit und materiale Rechtlichkeit eines Staatswesens bestimmt, gleichsam geprüft und überprüft werden kann: es geht also um eine Art von Maßstabsfunktion41. Kant läßt uns über diese Maßstabsfunktion seiner Rechtslehre denn auch nicht im unklaren oder im Zweifel: „Es gibt eine Theorie des Staatsrechts,“ so heißt es etwa im Gemeinspruch, „ohne Einstimmung mit welcher keine Praxis gültig ist“42. Auch seine des öfteren gebrauchte Rede von einer reinen oder wahren Republik43 kann nicht anders verstanden werden. Stets geht es um die „wahre“, „richtige“ Verfassung in der Idee und nach Vernunftbegriffen gestaltet; die „einzig rechtmäßige“ und wegen der Unwiderstehlichkeit des Vernunftprinzips „einzige bleibende Staatsverfassung“44. Der Staat in der Idee dient „jeder 40 J. Ebbinghaus, Kants Rechtslehre und die Rechtsphilosophie des Neukantianismus, in: ders., Philosophie der Freiheit. Praktische Philosophie 1955 – 1972, herausgegeben von G. Geismann u. H. Oberer, 1988, S. 231 ff. (242). 41 Deutlich auch W. Brugger, JZ 1991, 893 (894, 897). 42 Kant, Gemeinspruch (Fn. 7), S. 164 (AA 8, S. 306). 43 Etwa Kant, Metaphysik (Fn. 9), S. 464 (AA 6, S. 340). 44 Kant, Metaphysik (Fn. 9), S. 464 (AA 6, S. 341); vgl. Hofmann, Rechtsund Staatsphilosophie (Fn. 16), S. 41.

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wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen . . . zur Richtschnur“45. Dabei handele es sich, wie im Streit der Fakultäten ausdrücklich vermerkt wird, nicht nur um „ein platonisches Ideal . . . , sondern [um] die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt“46. In der Metaphysik der Sitten begegnet an der berühmten Stelle zur Frage „was ist Recht“ die Wendung vom Zweck des richtigen Rechts: es diene dazu, „um zu einer möglichen positiven Gesetzgebung die Grundlage zu errichten“47. Und dieses richtige Recht drängt in geschichtsphilosophischer und schon „fast hegelisch“48 anmutender Perspektive zur Realisierung49. a) Rechtsordnung nach Vernunftgrundsätzen Hier ist zunächst ein zuweilen begegnendes Mißverständnis oder doch eine zu Mißverständnissen einladende Fehlinterpretation auszuräumen. Wahres Recht, Recht aus Vernunftprinzipien o.ä. besteht nicht aus der Überführung von Moralsätzen in solche des Rechts. So trifft es den Kern der Sache nicht, wenn die Kantsche Trennung von Recht und Moral dahingehend erläutert wird, daß in der Rechtslehre zwischen dem positiv geltenden und dem moralisch gültigen Recht unterschieden werde50; denn es geht ihm um das Vernünftige im staatlichen Recht, nicht um das moralisch Gebotene in Form Kant, Metaphysik (Fn. 9), S. 431 (AA 6, S. 313). Kant, Streit (Fn. 10), S. 364 (AA 7, S. 91). 47 Kant, Metaphysik (Fn. 9), S. 336 (AA 6, S. 230). 48 Hofmann, Rechts- und Staatsphilosophie (Fn. 16), S. 41. 49 Zu dieser geschichtsphilosophischen Komponente eingehend C. Langer, Reform nach Prinzipien, 1986, S. 29 ff., 47 ff., 85 ff., 104 ff., 124 ff.; s. noch C. Ritter, Der Staat 16 (1977), 250 ff.; S. Breuer, Sozialgeschichte des Naturrechts, 1983, S. 526 ff.; K.-H. Nusser, Die Geschichtsphilosophie bei Immanuel Kant, in: Festschrift für Robert Spaemann, 1987, S. 189 ff.; H. Dreier, AöR 113 (1988), 450 (474 ff.); Herb, Bürgerliche Freiheit (Fn. 29), S. 203 ff.; Kersting, Einleitung (Fn. 13), S. 83 ff. 50 So aber Höffe, Kants Rechtsphilosophie aktuell? (Fn. 24), S. 280 f. 45 46

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des staatlichen Rechts oder als staatliches Recht. Kant will gerade nicht, daß Sätze der Moral vollständig und unmittelbar zu solchen des Rechts würden; er will vielmehr eine Rechtsordnung auf Vernunftgrundsätzen fußen lassen. Es steht also nicht die Moral im Wartestand oder im Vorhof des Rechts; sondern es gilt, in der äußerlichen Sphäre des Rechts die (nochmals: aus Vernunftbegriffen deduzierten bzw. ableitbar vorgestellten) Normen eines vernünftigen Staatswesens zu entwickeln51. Sofern dieses noch nicht realisiert ist, handelt es sich nicht um die unerfüllte Moral, sondern um Rechtssätze notwendig möglicher Geltung, also gleichsam um (richtiges) potentielles Recht52. Wir haben es daher mit einer qualitativen Stufung innerhalb der Rechtssphäre, nicht mit einem noch ausstehenden Transfer von der Moral- in die Rechtssphäre zu tun53. 51 Daß individueller Moralstandard und gesamtgesellschaftliche Organisation nicht konvergieren (müssen), hat Kant selbst in seiner berühmten „Volk von Teufeln“-Sentenz zu Ausdruck gebracht: „Aber nun kommt die Natur dem . . . in der Vernunft gegründeten Willen, und zwar gerade durch jene selbstsüchtigen Neigungen zu Hilfe, so daß es nur auf eine gute Organisation des Staats ankommt . . . , jener ihre Kräfte so gegen einander zu richten, daß eine die anderen ihrer zerstörenden Wirkung aufhält oder diese aufhebt: so daß der Erfolg für die Vernunft so ausfällt, als wenn beide gar nicht da wären, und so der Mensch, wenn gleich nicht ein moralisch-guter Mensch, dennoch ein guter Bürger zu sein gezwungen wird. Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar . . .“ (Kant, Ewiger Friede [Fn. 8], S. 146 [= AA 8, S. 366]). Dazu R. Brandt, Kant-Studien 88 (1997), 229 ff.; eingehend Niesen, Volk-von-Teufeln-Republikanismus (Fn. 21), S. 569, 583 ff.; ferner etwa Sandermann, Moral (Fn. 17), S. 255 ff.; Herb, Bürgerliche Freiheit (Fn. 29), S. 75 ff. 52 Kants Rechtsphilosophie ebnet nicht die Differenz von Moral und Recht ein, sondern entwirft (durchaus im möglichen Gegensatz zum positiven Recht) ein vernunftrechtliches Programm von Rechtssätzen – denn auch diese Normen richtigen (d. h. vernünftigen) Rechts betreffen Sätze, „die in einer spezifischen Weise nur das äußere, sozial wirksame Handeln und nicht Handlungsmotivationen oder Handlungszwecke (betreffen) und . . . insofern ein zwar nicht wirkliches, aber kraft seiner Vernünftigkeit doch wenigstens ,provisorisches‘ oder ,präsumtives‘ Recht (bilden), das in einem ständigen Aufklärungsprozeß auf Verwirklichung durch staatliche Sanktionierung drängt“: Hofmann, Rechtsund Staatsphilosophie (Fn. 16), S. 7 f. 53 Kant pflegt, modern gesprochen, einen Interessendiskurs, keinen Tugenddiskurs (Niesen, Volk-von-Teufeln-Republikanismus [Fn. 21], S. 583); daß bei

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b) Politische Selbstgesetzgebung und Repräsentation Wer ist nun der Gesetzgeber jener nur äußeren, aber erzwingbaren Gesetze, von denen Kant in seinen einschlägigen Schriften handelt? Wer gibt die Gesetze, die zur Koordinierung der vielen Freiheitsbetätigungen notwendig sind? Wer erfüllt die anspruchsvolle legislatorische Aufgabe, eine Koexistenzordnung in Freiheit zu schaffen? aa) Unser Autor läßt auch hier keinen Zweifel. Es kann dies keine fremde, heteronome Instanz sein, sondern nur der Einzelne als autonomes Subjekt selbst, der sich seine (Rechts-) Gesetze gibt. Wiederum dominiert der Gedanke der Selbstbestimmung54. Es gehöre, so formuliert Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, zur „Idee der Würde eines vernünftigen Wesens“, daß es „keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt“55. Kant zögert nicht, diesen Gedanken aus der Sphäre der Moralphilosophie auf die Ebene der Staatslegitimation zu übertragen. Beide verbindet der Gedanke der Selbstgesetzgebung, der Autonomie, der Selbstbestimmung56. Und weil das für die Moral- wie für die Rechtssphäre gleichermaßen gilt, erweist sich hier die Wendung von der „Einheit der praktischen Philosophie Kants“ als zutreffend57. Es offenbart sich darin die innere Strukturverwandtschaft von Moral- und Staatsihm zunächst eine „tugendtheoretische Leerstelle“ klafft (ebd., S. 582 Fn. 55), ist freilich kein Defizit, sondern – wie Niesen präzise ausführt – Konstruktionsprinzip; erwartet Kant doch nicht von moralisch guten Bürgern eine gute Staatsverfassung, sondern umgekehrt von einer guten Staatsverfassung die „moralische Bildung eines Volks“ (Kant, Ewiger Frieden [Fn. 8], S. 146 [AA 8, S. 366]). 54 V. Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, 1999, S. 136 ff.; W. Kersting, „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein“, in: O. Höffe (Hrsg.), Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, 1995, S. 87 ff. (92 ff.). 55 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), AA 4, S. 434. 56 Siehe auch W. Brugger, JZ 1991, 893 (898 f.). 57 R. Dreier, Einheit (Fn. 1), S. 286 ff.

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philosophie. Im Rahmen der Staatsphilosophie tritt der privatindividuellen die gesamtstaatlich-kollektive Selbstbestimmung an die Seite. Es macht gerade die Größe und Bedeutung der Rechtslehre Kants aus, sowohl die eine als auch die andere Seite zu bedenken. Niemand ist obligiert außer durch seine Einstimmung, so heißt es mehr als einmal nicht nur in den Reflexionen zur Rechtsphilosophie58. Strukturell gefaßt bedeutet das zunächst einmal, daß nicht nur in individueller, sondern auch in kollektiver Hinsicht der Gedanke der Selbstgesetzgebung dominiert59. Die positive äußere Gesetzgebung kann nach Vernunftgrundsätzen wiederum nur eine von allen gebilligte sein60. Und deshalb kann die gesetzgebende Gewalt nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen, wie Kant wiederholt einschärft61. Das heißt also: nur über den Weg der Set58 I. Kant, Reflexion 6954: „Es kann niemand den andern obligiren, als durch eine nothwendige einstimung [sic] des Willens anderer mit dem seinen nach allgemeinen Regeln der Freyheit. Also kann er niemals den andern obligiren, als vermittelst desselben eignen Willen“ (AA 19, S. 212 f.). S. auch Kant, Ewiger Frieden (Fn. 8), S. 126 Fn. * (AA 8, S. 350 Fn. *): „Vielmehr ist meine äußere (rechtliche) Freiheit so zu erklären: sie ist die Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können.“ 59 Das spiegelt sich deutlich in der Struktur des ursprünglichen Vertrages, des pactus originarius; zu dessen Bedeutung Langer, Reform (Fn. 49), S. 22 ff., 55 ff.; Kersting, Einleitung (Fn. 13), S. 23 ff.; eingehend ders., Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994, S. 193 ff.; knapp W. Brugger, JZ 1991, 893 (897). – Allgemein zur zentralen Bedeutung der Selbstgesetzgebung in der neuzeitlichen politischen Philosophie M. Pawlik, „Selbstgesetzgebung der Regierten“: Glanz und Elend einer Legitimationsfigur, in: J. C. Joerden / R. Wittmann (Hrsg.), Recht und Politik, 2004, S. 115 ff. 60 Kohler, Grundlagen (Fn. 24), § 15 Rn. 20: der Kantsche Staat der Freiheit fordere „aus rechtslogischen Gründen die Identität von Herrschern und Beherrschten, die Selbstbestimmung aller durch alle, des Volkes durch es selber“. 61 Kant, Metaphysik (Fn. 9), S. 432 (AA 6, S. 313 f.); ähnlich ders., Streit (Fn. 10), S. 364 (AA 7, S. 90 f.): „Die Idee einer mit dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Konstitution: daß nämlich die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich, vereinigt, gesetzgebend sein sollen . . .“; ferner ders., Gemeinspruch (Fn. 7), S. 92 f. (AA 8, S. 294 f.). – Vgl. Böckerstette, Aporien (Fn. 25), S. 352, 354 m. w. N.

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zung allgemeiner Normen durch die Sozietät selbst kann der zentrale Selbstbestimmungsgedanke aufrechterhalten werden, „weil nur so individueller und allgemeiner Wille kompatibel werden können“62. Der Einzelne ist Mitgesetzgeber63 und muß sich diesen Gesetzen deswegen legitimerweise unterordnen, weil „diese Abhängigkeit nur seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt“64. Wenn das Recht in der sittlichen Autonomie des Einzelnen seine Grenze findet, so findet es Kant zufolge im vereinigten Willen des Volkes seinen legitimatorischen und legislatorischen Grund. bb) Dies alles klingt außerordentlich modern. War Kant also ein Frühdemokrat bzw. mehr noch, da seine Wendungen doch sehr rousseauistisch klingen, gar ein Radikaldemokrat? Man hat ihn zuweilen so interpretiert und sogar als strengen Verfechter identitärer Demokratie präsentiert65. Aber die Sache liegt ein wenig komplizierter. Derartige Interpretationen scheitern zunächst noch nicht daran, daß Kant an einer vielzitierten Stelle aus dem Ewigen Frieden davon spricht, daß die Demokratie notwendig „despotisch“ sei66. Hier meint er ersichtlich die identitäre Versammlungsdemokratie, nicht die repräsentative Demokratie. Und er meint ganz offenbar – vielleicht mit Blick auf die antike Polis oder auf das revolutionäre Frankreich – Beschlüsse der Volksversammlung, die nicht allgemeine Gesetze, sondern Rückert, Kant (Fn. 31), S. 93. Kant, Gemeinspruch (Fn. 7), S. 92 (AA 8, S. 294). 64 Kant, Metaphysik (Fn. 9), S. 434 (AA 6, S. 316). 65 Tendenz in diese Richtung bei I. Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie, 1992, z. B. S. 18, 39 f., 199 f. 66 Kant, Ewiger Frieden (Fn. 8), S. 129 (AA 8, S. 352); zum folgenden eingehend Langer, Reform (Fn. 49), S. 118 ff.; V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf ,Zum Ewigen Frieden‘. Eine Theorie der Politik, 1995, S. 79 ff., insb. S. 89 f.; B. Ludwig, Kommentar zum Staatsrecht (II), in: Höffe, Metaphysische Anfangsgründe (Fn. 24), S. 173 ff. (182, 187); s. auch H. Dreier, AöR 113 (1988), 450 (471 ff.). 62 63

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konkrete Regelungen zum Gegenstand haben, denen nicht alle mit der gleichen Distanz gegenüberstehen. Das hatte schon Rousseau als tödlich für die volonté générale erachtet, und eine derartige Distanzlosigkeit ist auch der zentrale Aspekt von Kants Despotismus-Vorwurf. Daß Kant aber nicht die Demokratie als solche und in unserem heutigen Verständnis ablehnt, wird etwa in der Metaphysik der Sitten ganz deutlich, wenn er sie dort als die „allerzusammengesetzteste“ bezeichnet, die aber anders als die Monarchie nicht die gefährlichste für das Volk sei, weil die Monarchie zur Despotie einlade67. Und einen Paragraphen weiter wird dann ohne Umschweife als wahre Republik ein „repräsentatives System des Volks“ bezeichnet, „um im Namen desselben, durch alle Staatsbürger vereinigt, vermittelst ihrer Abgeordneten (Deputierten) ihre Rechte zu besorgen.“68 cc) War Kant also ein Befürworter der repräsentativen, der parlamentarischen Demokratie? Kann er auch insofern als Vor-Denker unserer heutigen verfassungsrechtlichen Lage gelten? Natürlich nicht, werden manche sagen, und auf das berühmt-berüchtigte Kantsche Kriterium der Selbständigkeit für die Ausübung der Bürgerrechte verweisen, das Unselbständige und Frauen mit der gleichen Selbstverständlichkeit ausschloß wie Kinder69. Einmal ganz abgesehen von vielfältigen Ausdeutungsmöglichkeiten des SelbständigkeitskriKant, Metaphysik (Fn. 9), S. 462 (AA 6, S. 339). Kant, Metaphysik (Fn. 9), S. 464 (AA 6, S. 341). 69 Kant, Gemeinspruch (Fn. 7), S. 151 f. (AA 8, S. 295 f.). – Dazu näher Böckerstette, Aporien (Fn. 25), S. 356 ff.; W. Schild, Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit (Kant): Strukturmomente der Freiheit, in: J. Schwartländer (Hrsg.), Menschenrechte und Demokratie, 1981, S. 135 ff.; Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (Fn. 2), S. 254 ff. (Tb-Ausgabe, S. 388 ff.); R. Brandt, Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit bei Kant, in: Die Ideen von 1789, hrsgg. v. Forum für Philosophie Bad Homburg, 1989, S. 90 ff.; W. Bartuschat, Zur kantischen Begründung der Trias „Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit“ innerhalb der Rechtslehre, in: G. Landwehr (Hrsg.), Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit. Zur Aktualität der Rechtsphilosophie Kants für die Gerechtigkeit in der modernen Gesellschaft, 1999, S. 11 ff. 67 68

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teriums70 muß man hier, wenn man nicht anachronistisch werden und Entwicklungen des 20. Jahrhunderts als normative Kriterien an das 18. anlegen will, berücksichtigen, daß die fortschrittlichsten Verfassungsstaaten jener Zeit in diesem Punkt kaum weiter waren als Kant. Ein anderer Punkt ist ausschlaggebend, der ebenfalls etwas mit der konkreten historischen Lage zu tun hat, nämlich mit derjenigen im Preußen seiner Zeit. Dieses war von einem repräsentativ-parlamentarischen System der Volksvertretung bekanntlich weit entfernt. Die Spannung zwischen dem richtigen Recht nach Vernunftgrundsätzen und den realen Verhältnissen überbrückt Kant nun in eigengearteter, ganz unrousseauistischer Weise. Einerseits delegitimiert sich in seinen Augen eine den Prinzipien seiner Staatsphilosophie nicht entsprechende staatliche Ordnung keineswegs automatisch von selbst, um nach Möglichkeit dem Umsturz durch Vernunftrepublikaner überantwortet zu werden. Andererseits verficht er keine bloße Apologie des Bestehenden. Ihm geht es vielmehr darum, notwendige Veränderungen auf dem Wege hin zu einer „reinen Republik“ nicht durch Revolution und Umsturz, sondern durch zielgerichtete „Reform nach Prinzipien“71 zu erlangen. Die Staaten sollen sich von innen heraus modernisieren und umstrukturieren, die Monarchen und Aristokraten sich kraft Selbstaufklärung letztlich überflüssig machen72. Den Fortschritt zum Besseren, der die zentrale Frage im Streit der Fakultäten bildet, erwartet Kant nicht „von unten hinauf, sondern ( . . . ) von oben herab“73: Evolution, nicht Revolution heißt das Programm – statt gewaltsamen 70 Vgl. vorstehende Fn. sowie Niesen, Volk-von-Teufeln-Republikanismus (Fn. 21), S. 582 f., demzufolge Kant mit seinem Kriterium zentral auf die Abwehr der Vertretung fremder Interessen abhebt. 71 Langer, Reform (Fn. 49), insb. S. 85 ff. 72 Herb, Bürgerliche Freiheit (Fn. 29), S. 205; Niesen, Volk-von-TeufelnRepublikanismus (Fn. 21), S. 580. 73 Kant, Streit (Fn. 10), S. 366 (AA 7, S. 92); s. auch Kant, Metaphysik (Fn. 9), S. 441, 498 (AA 6, S. 321 f., 372).

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Umsturzes die friedliche Reform74. Für die begriffliche Fassung dieser Position bedient sich Kant unterschiedlicher Wendungen wie der von der „republikanischen Verfassung“, dem „Republikanismus“ und vor allem der „republikanischen Regierungsart“. Damit erfährt sein Republikbegriff eine ganz eigentümliche Färbung, Funktion und Ausprägung. Das bedarf der Erläuterung und Präzisierung. 4. Republik, Republikanismus, republikanische Regierungsart Wir sind somit beim zentralen Punkt der staatsstrukturellen Seite und damit bei der Frage angekommen, was unter Kants Republik genau zu verstehen ist. Konstruktives Mittel für Kants evolutionäre Reformperspektive ist ein doppelter theoretischer Kunstgriff. Der eine besteht in einer Virtualisierung des Verständnisses vom „vereinigten Willen aller“, der andere (darauf aufbauend) in einer bemerkenswerten Relativierung des Staatsformenproblems. Beide haben die theorietechnische Funktion einer Vermittlung zwischen noch unzulänglicher politischer Realität und einer auf Vernunftprinzipien gegründeten staatlichen Ordnung; sie vermitteln in der Weise, daß sie das Ziel einer „reinen Republik“ nicht aus den Augen verlieren, ohne aber den (noch) defizitären status quo zu delegitimieren. a) Virtualisierung, als-ob-Gedanke Anders als Rousseau faßt Kant den vereinigten Willen aller, den allein er als legitime Gesetzgebungsinstanz anspricht, 74 Zu Kant Reformismus siehe I. Fetscher, Immanuel Kants bürgerlicher Reformismus (1971), in: ders., Herrschaft und Emanzipation, 1976, S. 176 ff.; W. Euchner, Kant als Philosoph des politischen Fortschritts (1974), in: Z. Batscha (Hrsg.), Materialien zu Kants Rechtsphilosophie, 1976, S. 390 ff.; umfassend Langer, Reform (Fn. 49), S. 104 ff., 124 ff.

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nicht als empirische Willensbekundung der Bürgergesamtheit. Er hält nicht allein einen Staat für legitim, in dem die Bürger die Gesetzgebung im Wege direkter oder repräsentativer Demokratie ausüben. Vielmehr stellt der vereinigte Wille aller bei ihm eine regulative Leitidee dar, einen Fixpunkt, an dem sich das historisch kontingente, real existierende Staatswesen orientieren kann und soll, um sich selbst sukzessive dem Idealbild einer Republik anzunähern. Konsequent faßt Kant denn auch die tradierte Figur eines ursprünglichen Vertrages als gedankliche Prämisse, als Gedankenexperiment75. Es kommt also zu einer bemerkenswerten Virtualisierung76 des zunächst sehr direkt-demokratisch klingenden Ansatzes einer notwendigen Übereinstimmung aller bei der Gesetzgebung. Diese Gesetze müssen dem vereinigten Willen nicht tatsächlich entsprungen sein; gefragt wird lediglich, ob sie ihm hätten entspringen können, ob also die Bürger als Urheber der betreffenden Gesetze hätten gedacht werden können77. Diese als-ob-Konstruktion bildet den Kern der Formel vom „Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes“78; sie trägt den Charakter eines Aktes der Simulation79, eines analogischen Handelns80. Unterstrichen sei Kants HinKohler, Grundlagen (Fn. 24), § 15 Rn. 22. H. Dreier, AöR 113 (1988), 450 (470 f.); Kohler, Grundlagen (Fn. 24), § 15 Rn. 24. 77 Eindringlich Hofmann, Rechts- und Staatsphilosophie (Fn. 16), S. 167 ff. 78 Kant, Gemeinspruch (Fn. 7), S. 95 (AA 8, S. 297): „es ist eine bloße Idee der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen können, und jeden Untertan, sofern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammengestimmt habe.“ 79 Kersting, Einleitung (Fn. 13), S. 32; auch Niesen, Volk-von-Teufeln-Republikanismus (Fn. 21), S. 573, 602. Sandermann, Moral (Fn. 17), S. 301 will hier in der Reduktion der aktuellen Beistimmung auf die potentielle „Inkonsistenzen“ erblicken. 80 Kant, Streit (Fn. 10), S. 351 (AA 7, S. 88); dazu Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (Fn. 2), S. 287 (Tb-Ausgabe S. 428); Niesen, Volk-von-Teufeln-Republikanismus (Fn. 21), S. 572. 75 76

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weis, daß dieses normative Kontrollkriterium, wie wir es nennen können, durchaus eine „unbezweifelte (praktische) Realität“81 hat – und sei es nur (aber immerhin), um für öffentliche Kritik einen festen Maßstab zu bieten. Kants Republik ist also demokratisch im Sinne einer notwendigen Legitimation oder doch Legitimierbarkeit der staatlichen Gesetzgebung durch das Volk; dabei trägt die Virtualisierung durch den als-obGedanken der seinerzeitigen historischen Situation Rechnung, ohne die Hoffnung auf ebenso realen Fortschritt und die Überwindung jener Verhältnisse aufzugeben. b) Relativierung der Staatsformen Der zweite Punkt betrifft die systematische Unterscheidung zwischen den Staatsformen (Monarchie, Aristokratie und Demokratie) und der Regierungsart, also gleichsam dem Geist, in dem regiert wird. An Regierungsarten gibt es, wie Kant im „Ewigen Frieden“ pointiert ausführt, nur zwei: die republikanische und die despotische82. In der Friedensschrift erscheint die republikanische Regierungsart wie auch der Republikanismus im wesentlichen als Kürzel für eine bestimmte Form der Gewaltenteilung83. Diese wird aber nicht genauer institutionell ausformuliert, sondern lediglich in ganz grundsätzlicher Weise bestimmt als systematische Trennung von Normsetzung Kant, Gemeinspruch (Fn. 7), S. 95 (AA 8, S. 297). Kant, Ewiger Frieden (Fn. 8), S. 128 f. (AA 8, S. 352). 83 Kant, Ewiger Frieden (Fn. 8), S. 128 f. (AA 8, S. 352): „Der Republikanismus ist das Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden; der Despotismus ist das der eigenmächtigen Vollziehung des Staats von Gesetzen, die er selbst gegeben hat . . .“. – Zu Kants wenig ausformulierter Gewaltenteilungslehre etwa R. Saage, Eigentum, Staat und Gesellschaft bei Immanuel Kant, 1973, S. 124 ff.; G. Luf, Freiheit und Gleichheit, 1978, S. 171 ff.; Bielefeldt, Freiheitsrecht (Fn. 17), S. 207 ff. – Hofmann, Rechts- und Staatsphilosophie (Fn. 16), S. 178 weist darauf hin, daß Kants Vorstellungen teils eher rousseauistisch geprägt, teils eher an Montesquieu angelehnt (und durch die als-ob-Konstruktion relativiert) sind. 81 82

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und Normausführung, wodurch der Allgemeinheit des Gesetzes ähnlich wie bei Rousseau eine tragende Funktion zuwächst84. Eine andere und in unserem Kontext weiterführende Erläuterung liegt in der „Streit“-Schrift vor. Dort wird die republikanische Regierungsart dahingehend umschrieben, das „Volk nach Prinzipien zu behandeln, die dem Geist der Freiheitsgesetze (wie ein Volk mit reifer Vernunft sie sich selbst vorschreiben würde) gemäß sind“85. Nach dieser Bestimmung kommt es für das rechte Verständnis von republikanischer Regierungsart ganz im Sinne des Virtualisierungsgedankens auf die Orientierung am (hypothetischen) Willen des vereinigten Volkes an. Vielleicht lassen sich auch beide Umschreibungen, die in der Friedensschrift wie die in der Streitschrift, als Form der Gemeinwohlorientierung (republikanisch) oder der Orientierung am privaten Nutzen und der eigenen Willkür (despotisch) fassen86. Mit der bipolaren Unterscheidung zwischen despotischer und republikanischer Regierungsart stellt Kant das überkommene qualitative Kriterium zwischen guten und schlechten Staatsformen in den Vordergrund und relativiert das numerische87. Eine sachlich-inhaltlich am Gemeinwohl orientierte Regierungsart kann danach auch in einer Monarchie Platz 84 Vertiefend H. Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes (1987), in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 260 ff. (270 ff.). 85 Kant, Streit (Fn. 10), S. 364 f. (AA 7, S. 91). 86 Dafür spricht die folgende Stelle (Kant, Ewiger Frieden [Fn. 8], S. 154 [= AA 8, S. 372]: „Ein Staat kann sich auch schon republikanisch regieren, wenn er gleich noch der vorliegenden Konstitution nach despotische Herrschermacht besitzt: bis allmählich das Volk des Einflusses der bloßen Idee der Autorität des Gesetzes (gleich als ob es physische Gewalt besäße) fähig wird und sonach zur eigenen Gesetzgebung (welche ursprünglich auf Recht gegründet ist) tüchtig befunden wird.“ 87 R. Koselleck, Art. Demokratie (IV.1), in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, 1972, S. 848 ff. (852), formuliert schärfer: Kant habe „die aristotelische Triade . . . unterwandert“; ähnlich G. Bien, Revolution, Bürgerbegriff und Freiheit, in: Batscha, Materialien (Fn. 74), S. 77 ff. (83 ff.).

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greifen88. Der Republikanismus „verlangt nach keiner besonderen Staatsform“89. So gefaßt, erscheint Republikanismus als regulative Idee, die der Fort- und Höherentwicklung des realen politischen Systems Orientierung bietet; er wird zur „geschichtsphilosophischen Bewegungskategorie“90. Damit bleibt das Ziel einer wahren Republik, die nach unseren heutigen Begriffen die Gestalt einer repräsentativen Demokratie mit starken rechtsstaatlichen Gehalten91 hat, stets im Blick. In ihr soll bzw. kann der vereinigte Wille aller nicht lediglich Probierstein, sondern Realgrund der Gesetze sein. Aber Kants „theoretischer Vorgriff“92 läßt nicht zugleich die defizitäre Realität am hohen Anspruch einer auf Vernunftprinzipien gegründeten Rechtsordnung scheitern. c) Historischer Fortschritt und respublica noumenon Freilich – kann man wirklich vom Volk als Realgrund der Gesetze sprechen? Ist der vereinigte Wille aller nicht die Formulierung eines bloßen Ideals, das man anstreben, nie aber wirklich erreichen kann? Kommt es also einer ganz mißverständlichen Aussage, ja Fehlinterpretation gleich, hier die Rea88 Zu dieser Relativierung des Staatsformenproblems H. Mandt, Tyrannislehre und Widerstandsrecht, 1974, S. 111 ff.; Langer, Reform (Fn. 49), S. 105 ff. 89 So Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (Fn. 2), S. 279 (Tb-Ausgabe, S. 418). – Aus Kants Vorarbeiten zum Ewigen Frieden stammt die Notiz: „In allen drey Staatsformen kann die Regierungsform republicanisch seyn.“ (AA 23, 159). Dazu auch Ludwig, Kommentar (Fn. 66), S. 175. 90 G. Bien / U. Dierse, Art. Despotie, Despotismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, 1972, Sp. 132 ff. (140). 91 Vgl. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (Fn. 2), S. 305 ff. (Tb-Ausgabe, S. 448 ff.); Unruh, Herrschaft (Fn. 1), S. 59; Hofmann, Rechts- und Staatsphilosophie (Fn. 16), S. 168 ff.; B. Recki, Art. Kant, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. 4, 2001, Sp. 779 ff. (783); V. Gerhardt, Immanuel Kant. Vernunft und Leben, 2002, S. 236: Kant als „Anwalt einer repräsentativen Demokratie“. 92 R. Koselleck, Art. Staat und Souveränität (III), in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, 1990, S. 25 ff. (30).

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lisierung des definitionsgemäß nicht realisierbaren status quo einer reinen Republik anzunehmen? Man muß, um den ganzen, unverkürzten Kant auszuschöpfen, beim Hinarbeiten auf das Ideal zwischen einem realisierbaren und einem nur annäherungsweise erreichbaren Aspekt unterscheiden93. Treffend hat man insofern von einem „Doppelcharakter“ gesprochen94. Der realisierbare Aspekt betrifft die Umwandlung monarchischer oder aristokratischer Staatsformen in eine Republik im euphemistischen Sinne, worunter letztlich eine Repräsentativverfassung auf der Grundlage gleicher Freiheit aller mit rechtsstaatlichen Elementen verstanden wird. Das ist die Republik als Staatsform, und das Exempel für erste Schritte ihrer Realisierbarkeit bildet der welthistorische Vorgang der Französischen Revolution95. Das bloße Simulieren der Übereinstimmung des vereinigten Willens aller mit dem staatlichen Gesetz hat in einer solchen Republik insofern ein Ende, als es nun Institutionen und Verfahren gibt, in denen sich der vereinigte Wille des Volkes als realer bilden kann. Allerdings ist mit der Realisierung und Institutionalisierung eines entsprechend eingerichteten politischen Gemeinwesens die ,reine‘ Republik noch nicht erreicht. Sie kann, als respublica noumenon96 gefaßt, auch gar nicht erreicht werden – so 93 Einige frühere Überlegungen (H. Dreier, AöR 113 [1988], 450 ff. [473 ff.]) werden im folgenden aufgegriffen und fortgeführt. Siehe nunmehr eingehend auch Unruh, Herrschaft (Fn. 1), S. 16, 60 ff. 94 Niesen, Volk-von-Teufeln-Republikanismus (Fn. 21), S. 571. 95 Zu Kant und der Französischen Revolution etwa K. Vorländer, Kants Stellung zur französischen Revolution, in: Philosophische Abhandlungen. Hermann Cohen zum 70. Geburtstag, 1912, S. 247 ff.; D. Henrich, Kant über die Revolution (1967), in: Batscha, Materialien (Fn. 74), S. 359 ff.; P. Burg, Kant und die französische Revolution, 1974; I. Fetscher, Immanuel Kant und die Französische Revolution (1974), in: Batscha, Materialien, a. a. O., S. 269 ff.; Luf, Freiheit (Fn. 83), S. 183 ff.; Unruh, Herrschaft (Fn. 1), S. 28 ff. 96 Diese Wendung begegnet in der „Streit“ -Schrift und in den Reflexionen, aber nicht in der Metaphysik der Sitten: vgl. Kant, Streit (Fn. 10), S. 364 (AA 7, S. 91); ders., Reflexion 8077 (AA 19, S. 609 f.): „Respublica noumenon oder

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wenig, wie das Ding an sich der Erkenntnis zugänglich ist. Man kann sich dieser ideellen, gleichsam platonischen Sphäre immer nur anzunähern versuchen, und diese niemals endende Annäherungsarbeit bleibt in der Tat eine ewige Aufgabe für alle Staatsformen. Hier stehen alle realen politischen Gestaltungsformen gleichsam im Verhältnis der Äquidistanz zur respublica noumenon. Und doch bleibt ebenso wahr und richtig, daß Kant dem realen Fortschritt zum Besseren auch bezüglich der Staatsverfassung keineswegs gleichgültig gegenübersteht. Die Relativierung des Staatsformenproblems wird nicht etwa in alle Ewigkeit philosophisch perpetuiert und vertieft. Es trägt durchaus etwas aus, ob man in einer absoluten Monarchie oder einer freien Republik lebt, auch wenn in beiden Fällen eine ewig unüberbrückbare Distanz zur respublica noumenon besteht97. Anders gesagt: die philosophisch uneinholbare Differenz zwischen respublica noumenon und respublica phaenomenon suspendiert nicht die geschichtsphilosophisch fundierte Hoffnung auf einen Übergang zu republikanischen Verhältnissen im Sinne einer Überwindung von Monarchie und Aristokratie98. phaenomenon. Die letztere hat drey Formen, aber respublica noumenon ist nur eine und dieselbe.“ – Zur Frage von Repräsentation und Staatsformenlehre in diesem Kontext insb. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (Fn. 2), S. 288 ff. (Tb-Ausgabe S. 428 ff.); Ludwig, Kommentar (Fn. 66), S. 176 ff. 97 Deutlich Kant, Metaphysik (Fn. 9), § 49, S. 437 (AA 6, S. 318), der unter dem „Heil des Staats“ den „Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien versteht, als nach welchem zu streben uns die Vernunft durch einen kategorischen Imperativ verbindlich macht.“ Desgleichen ders., Streit (Fn. 10), S. 364 (AA 7, S. 91): Eine dem republikanischen Ideal gemäße Gesellschaft ist „die Darstellung derselben nach Freiheitsgesetzen durch ein Beispiel in der Erfahrung (respublica phaenomenon) und kann nur nach mannigfaltigen Befehdungen und Kriegen mühsam erworben werden; ihre Verfassung aber, wenn sie im großen und ganzen errungen worden, qualifiziert sich zur besten unter allen . . .“. Siehe auch die Vorarbeiten zum Ewigen Frieden, AA 23, S. 163 f. 98 Siehe Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (Fn. 2), S. 297 ff. (Tb-Ausgabe, S. 439 ff.); Maluschke, Grundlagen (Fn. 17), S. 112, 138, 140 ff. – Auch Kohler, Grundlagen (Fn. 24), § 15 Rn. 25 ortet bei Kant die „immanente Tendenz, über die bloss virtuelle Repräsentanz des Volkes und der Bürger hinauszuweisen: 12 Dreier

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Kant ist zu sehr Rousseauist und zu wenig Platoniker, um hier nicht Möglichkeiten echten Fortschritts im Sinne einer orientierenden „Entwicklungsperspektive“99 auszumachen, entsprechende Umgestaltungskräfte zu motivieren und ihr friedliches Wirken philosophisch zu fundieren100. Die„postulatorische Zukunftsdimension“101 bleibt wirksamer Stachel im Fleisch eines unvollkommenen status quo. 5. Friede unter den Staaten: die transnationale Perspektive Dieses zu evolutionärer Weiterentwicklung „hin zum Besseren“ fähige politische Gemeinwesen stellt Kant nun noch in einen den Nationalstaat transzendierenden inter- oder supranationalen Zusammenhang102. Damit unterscheidet er sich Ihr Telos ist die reale Demokratie, die wirkliche, nicht mehr bloss imaginäre Selbstgesetzgebung der Freien und Gleichen.“ (Hv. i. O., H.D.). 99 Niesen, Volk-von-Teufeln-Republikanismus (Fn. 21), S. 571. 100 Nach Koselleck, Art. Demokratie (Fn. 87), S. 850 enthielt Kants Republikanismus „die moralische Aufforderung, auf das theoretisch zwingend ableitbare Ziel einer Republik als der einzig wahren Verfassung hinzuarbeiten.“ Ähnlich Sandermann, Moral (Fn. 17), S. 298: bei Kant werde die Errichtung einer respublica phaenomenon zur „kompromißlosen Forderung“ praktischer Vernunft; desgleichen Unruh, Herrschaft (Fn. 1), S. 16, 60, 213. – Koselleck, Staat und Souveränität (Fn. 92), S. 32 spricht bündig davon, das Kantsche Reformprogramm sei „zugleich rechtstheoretisch und geschichtsphilosophisch begründet“. Eingehend dazu Langer, Reform (Fn. 49), S. 42 ff., 81 ff., 124 ff. 101 Koselleck, Staat und Souveränität (Fn. 92), S. 31 f. Ähnlich Sandermann, Moral (Fn. 17), S. 295: Kants Staatsphilosophie erlaube die „Formulierung einer durch die Idee der Selbstbestimmung ausgezeichneten bürgerlichen Rechtsordnung als eine konkrete soziale Utopie.“ 102 Kants Schrift zum Ewigen Frieden (Fn. 8) kann hier natürlich nicht umfassend gewürdigt, sondern nur kurz in ihren wesentlichen Intentionen vergegenwärtigt werden. Eingehende Interpretationen: Kersting, Einleitung (Fn. 13), S. 67 ff.; Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf (Fn. 66), insb. S. 74 ff.; O. Höffe (Hrsg.), Immanuel Kant. Zum ewigen Frieden, 1995; R. Merkel / R. Wittmann (Hrsg.), „Zum ewigen Frieden“. Grundlagen, Aktualität und Aussichten einer Idee von Immanuel Kant, 1995; W. Kersting, Philosophische Friedenstheorie und internationale Friedensordnung, in: C. Chwaszcza / W. Kersting (Hrsg.), Politische Philosophie der internationalen Beziehungen, 1998, S. 523 ff.

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einmal mehr in signifikanter Weise von seinen ideengeschichtlichen Vorläufern. Zu Recht hat man hervorgehoben, daß etwa Hobbes zwar den Naturzustand für den innerstaatlichen Bereich zu überwinden lehrt, für ihn die Staaten untereinander aber weiterhin im Naturzustand und damit im Zustand des Krieges verharren: für den „neuen, zwischen den Staaten entstehenden Naturzustand“ habe „die Hobbessche Philosophie dann keine institutionelle Lösung mehr anzubieten“, während Kant „für alle Naturzustandsverhältnisse eine rechtliche Friedenslösung“ offeriere: „nicht nur der interindividuelle Naturzustand ist durch eine Rechtsordnung abzulösen, auch der interstaatliche Naturzustand muß durch eine rechtliche Verfassung überwunden werden“103. Im einen wie im anderen Fall muß man aus dem „gesetzlosen Zustande der Wilden“104 heraustreten105. Im einen wie im anderen Falle drängt das Prinzip des Rechts als System von Gesetzen für ein Volk bzw. eine Menge von Völkern zur Realisierung106. Staatsrecht und Völkerrecht beruhen insofern auf dem gleichen Prinzip107. Diese Kontextualisierung der Staatsphilosophie macht ein weiteres modernes Theoriesegment Kantscher Rechtslehre aus, indem sie die Einbettung des Einzelstaates in das Staaten103 Kersting, „Die bürgerliche Verfassung“ (Fn. 54), S. 89; ähnlich, aber weniger präzise Höffe, Kants Rechtsphilosophie aktuell (Fn. 24), S. 290: „Die Leitaufgabe des Rechts, die Ablösung privater Willkür durch Gesetze und deren Bindung an moralische Prinzipien, wird vielmehr erst dann vollendet, wenn sowohl innerhalb der Staaten als auch zwischen ihnen öffentliches Recht statt privater Gewalt herrscht.“ 104 I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: Immanuel Kant. Werke in zehn Bänden, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Bd. 9, 1964, S. 31 ff. (42; = AA 8, S. 24). 105 Kant, Ewiger Frieden (Fn. 8), S. 144 (AA 8, S. 365) spricht auch von den Philosophen, die dem Kriege „als einer gewissen Veredlung der Menschheit, eine Lobrede halten“, und fährt lapidar fort: „uneingedenk des Ausspruchs jenes Griechen: ,Der Krieg ist darin schlimm, daß er mehr böse Leute macht, als er deren wegnimmt.‘“ 106 Kant, Metaphysik (Fn. 9), S. 429 (AA 6, S. 311); ders., Ewiger Frieden (Fn. 8), S. 125 ff. (AA 8, S. 343 ff.). 107 Böckerstette, Aporien (Fn. 25), S. 289 f.

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geflecht überhaupt als Thema faßt und diesem sogleich die Perspektive der Friedenswahrung oder -gewinnung aufprägt. Die Endlichkeit der Erdkugel weist auch hier den Weg zu wahrhaft globalen, also den Raum des eigenen Staates überschreitenden Lösungen. Insofern kann man mit Reinhard Brandt sagen, daß Kant folgenreich die „Rechtstotalität auf unserem Globus“ berücksichtige und gerade der vermeintlich enge, weil formale Freiheitsbegriff Kants zur „Einbeziehung der Totalität freiheitsfähiger (und läsionsfähiger) Vernunftwesen“ führe108. Dies letztlich auch dadurch, daß er einen Bezug zwischen der inneren Staatsverfassung und ihrer Geneigtheit zu zwischen- und überstaatlichen Friedenslösungen herstellt. Konkret präsentiert er die innerstaatliche republikanische Verfassung als eine „friedensfunktionale Verfassung“109: diese begünstigt aufgrund ihrer inneren Strukturen und Qualitäten die „Etablierung einer internationalen Rechtsordnung“110. Kants Grundgedanke sukzessiver Realisierung des Rechtsprinzips zwischen den Staaten lautet, daß der Friede zwischen ihnen mit ihrer inneren Verfassung beginnt, die für das zwischenstaatliche Verhältnis keineswegs gleichgültig ist111. Vielmehr kommt der „parallelen Entwicklung der Staaten zu freiheitlichen Republiken auch in ihrem Außenverhältnis eine Schlüsselrolle zu“112. So ist und bleibt Kants Republik eingebunden in die Völkerrechtsgemeinschaft, in ein globales rechtliches System der Friedenssicherung – insofern aber gerade nicht in Gestalt der zwar naheliegenden, aber letztlich doch kurzschlüssigen Idee eines Weltstaates, sondern im Wege einer friedlichen Koexistenz ,souveräner‘ Staaten113. Seine 108 R. Brandt, Locke und Kant, in: Thompson, Locke und / and Kant (Fn. 2), S. 87 ff. (107). 109 Kersting, „Die bürgerliche Verfassung“ (Fn. 54), S. 91. 110 Kersting, „Die bürgerliche Verfassung“ (Fn. 54), S. 91; ähnlich Niesen, Volk-von-Teufeln-Republikanismus (Fn. 21), S. 587. 111 Kant, Ewiger Frieden (Fn. 8), S. 127 f., 130 ff. (AA 8, S. 349 ff., 354 ff.). 112 E.-J. Mestmäcker, Kants Rechtsprinzip als Grundlage der europäischen Einigung, in: Landwehr, Freiheit (Fn. 69), S. 61 ff. (91).

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Vorstellungswelt ist die eines Pluriversums114, nicht eines Staatsuniversums im Sinne einer Weltrepublik. Kants Weltbürgerrecht115 ist so beschaffen, daß es eine Staatenvielfalt gerade voraussetzt und eine Weltrepublik negiert116. III. Kants Republik und der demokratische Verfassungsstaat Fassen wir das bisher Gesagte zusammen: Kants Republik umschreibt einen Staatsentwurf, dessen wesentlicher Existenzzweck in der Sicherung und Bewahrung der gleichen Freiheit aller liegt; dessen Gesetzgebung ihren tatsächlichen oder virtuellen Grund im vereinigten Willen aller Bürger findet; in dem die Vermengung von Recht und Moral mit der Gefahr des Gesinnungsterrors abgewiesen und der Verpflichtungsmodus der staatlichen Normen auf die Legalität beschränkt ist; in dem Gewaltenteilung herrscht. Sie ist schließlich eine den Frieden suchende und sichernde Republik. Ihr normativer Gehalt bestätigt die eingangs geäußerte Vermutung, daß Kants Rechtsphilosophie mit zentralen Elementen moderner Verfassungsstaaten einen bemerkenswert hohen Grad an Übereinstimmung aufweist117. Und weil das deutsche 113 Deutlich Kant, Ewiger Frieden (Fn. 8), S. 147 (AA 8, S. 367): „Die Idee des Völkerrechts setzt die Absonderung vieler voneinander unabhängiger benachbarter Staaten voraus“, was „nach der Vernunftidee besser als die Zusammenschmelzung derselben durch eine die andere überwachsende und in eine Universalmonarchie übergehende Macht“ sei. 114 Zum Begriff H. Hofmann, Art. Pluriversum, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, 1989, Sp. 995. 115 Kant, Ewiger Frieden (Fn. 8), S. 135 ff. (AA 8, S. 357 ff.), Dritter Definitivartikel: „Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.“ 116 Bielefeldt, Autonomie (Fn. 21), S. 68; Mestmäcker, Rechtsprinzip (Fn. 112), S. 68; a.A. Höffe, Kants Rechtsphilosophie aktuell (Fn. 24), S. 289 ff., der aber wohl stark von eigenen Vorstellungen einer Weltrepublik geleitet wird. 117 Deutlich schon Forsthoff, Grenzen (Fn. 26), S. 14: bei Kant sei „sozusagen das Modell der rechtsstaatlichen Rechtsverfassung in allen wesentlichen

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Grundgesetz als Prototyp einer modernen, freiheitlichen Verfassung im Sinne westlicher Demokratien gelten darf, könnte man durchaus sagen, daß sich Kants Republik und die Bundesrepublik Deutschland verblüffend ähnlich sehen. Freilich ist an dieser Stelle aus mehreren Gründen Vorsicht und Reserve geboten. Ganz allgemein läßt sich konstatieren, daß bislang noch fast jede Epoche sich „ihren“ Kant geformt und meistens entsprechend affirmativ vereinnahmt hat; der Königsberger wirkt vielleicht auch heute wieder wie ein Spiegel, in dem sich der Geist der Zeit selbst erblickt118. Bezogen auf unsere verfassungsrechtliche Situation muß man sich zudem vor allem vor kurzschlüssigen Inanspruchnahmen Kants bei der detaillierten Auslegung der vielschichtigen Normen des Grundgesetzes hüten und gegenüber hypertrophen Behauptungen seiner Allbezüglichkeit und absoluten Verbindlichkeit verwahren, für die es durchaus abschreckende Beispiele gibt119. Fest steht auch, daß das Grundgesetz, was seine konkrete historische Entstehung im Parlamentarischen Rat sowie seine weitere Veränderungsgeschichte angeht, nicht auf der Blaupause Kantscher Schriften entstanden ist120. Und doch sind Teilen vorgezeichnet“. – Der junge Marx hatte Kants politische Philosophie als „deutsche Theorie der französischen Revolution“ charakterisiert (K. Marx, Das philosophische Manifest der historischen Rechtsschule [1842], in: Marx / Engels-Werke, Bd. 1, 1983, S. 78 ff. [80]). Aus der jüngeren Literatur: W. Brugger, JZ 1991, 893 ff.; Bielefeldt, Autonomie (Fn. 21), S. 48 ff. 118 Instruktive Hinweise bei R. Malter, Einleitung, in: J. Kopper / R. Malter (Hrsg.), Immanuel Kant zu ehren, 1974, S. 7 ff. (18 ff., 23 ff.); siehe auch Rückert, Kant-Rezeption (Fn. 2), S. 175 ff. 119 K.A. Schachtschneider, Res publica res populi, 1994 (berechtigte Kritik daran: S. Huster, Der Staat 34 [1995], 606 [610 ff.]; R. Gröschner, JZ 1996, 637 ff.); ähnlich inakzeptabel wie Schachtschneider H. Schulz-Schaeffer, JZ 2003, 554 ff.; leichte Tendenz zur Überinterpretation auch bei Bielefeldt, Autonomie (Fn. 21), S. 64. Eindeutig überzogen G. Süchting, Eigentum und Sozialhilfe, 1995, der ein ganzes System staatlicher Leistungsansprüche aus Kants Schriften meint ableiten zu können. 120 Einige Hinweise auf verschiedene wirksame Einflüsse bei H. Dreier, DVBl. 1999, 667 ff. (669 ff.); P. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, 2002, S. 321, 332 ff. – In langfristiger Vergleichsperspektive zu den USA P. Krüger, ZNR 18 (1996), 226 ff.

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eindeutige Entsprechungen gar nicht von der Hand zu weisen, die nicht nur die eingangs geäußerte These von der Affinität Kantscher Rechtsphilosophie mit der Erfolgsgeschichte des demokratisch-freiheitlichen Verfassungsstaates im allgemeinen bestätigen, sondern sich auch und gerade in bezug auf das bundesdeutsche Grundgesetz erhärten. Man kann insofern zwischen sachlichen und strukturellen Parallelen unterscheiden. 1. Sachliche Parallelen a) Dienende Funktion des Staates Bei den sachlichen Parallelen ist von zentraler Bedeutung die Idee, daß der Staat nicht eine Institution zur Realisierung materieller Sittlichkeit ist, sondern ganz der Sicherung und dem Schutz individueller Freiheit dient. Insofern findet hier der für die Grundrechtsordnung fundamentale Gedanke des Vorrangs der Freiheit des Einzelnen vor dem Staat und seiner Inpflichtnahme für diesen seine Bestätigung und Fundamentierung. Demgemäß ist der Staat eine Institution zur Bewahrung und Realisierung der Menschenrechte, die ihm strukturell vorgegeben sind. Deutlich wird der „nichtstaatliche Sinn staatlicher Organisation“121. Den Staat faßt Kant nüchtern und ohne Apotheose, er ist bei ihm weder Selbstzweck noch letzter Bezugspunkt der Rechtsordnung, schon gar nicht „Wirklichkeit der sittlichen Idee“, sondern bloßer „Not- und Verstandesstaat“, um nochmals auf Hegel zurückzukommen122. Der Staat ist vielmehr, wie es der Herrenchiemseer Konvent 1948 formuliert hat, um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen123. Die gleiche sach121 H. Hofmann, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, VVDStRL 42 (1983), S. 7 ff. (68). 122 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, 1821, § 257 (Wirklichkeit der sittlichen Idee), § 183 (Not- und Verstandesstaat).

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liche Grundaussage läßt sich der herausragenden Stellung der Menschenwürde-Garantie entnehmen124. Auch die gern apostrophierte „Vorstaatlichkeit“ der Grund- und Menschenrechte ist logisch-strukturell, nicht historisch-ontologisch zu verstehen: nicht als Wesensaussage über die Existenzweise bestimmter Normen, sondern als Strukturvorgabe für die Verfaßtheit des politischen Gemeinwesens125. b) Koexistenzordnung der Freiheit In der Idee personaler individueller Freiheit ist freilich deren Bezug auf die Freiheiten anderer immer schon mitgedacht, wie Kants Rechtsdefinition unmißverständlich deutlich macht126. Freiheit gibt es zwar für alle, doch für alle nur unter der Bedingung ihrer Einschränkung aus Gründen der friedlichen Koexistenzordnung potentiell kollidierender und daher prinzipiell koordinierungsbedürftiger Freiheitsbetätigungsansprüche. Auf der Ebene konkreter verfassungsrechtlicher Grundrechtsgewährleistungen bildet sich dies in den unterschiedlichen expliziten und impliziten Schrankenregelungen der bundesdeutschen Verfassung ab, wobei auch die normtextlich „vorbehaltlosen“ Grundrechte in der Sache keine „schrankenlosen“ sind127. 123 Art. 1 I GG sollte gemäß dem Vorschlag des Herrenchiemseer Konvents lauten: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“ Vgl. P. Bucher (Hrsg.), Der Parlamentarische Rat, Bd. 2: Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, 1981, S. 580 (dort auch Erläuterungen S. 513). – Eingehend zur Entstehungsgeschichte C. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, 1997, S. 404 ff. 124 Zu Rang und Bedeutung vgl. H. Hofmann, AöR 118 (1993), 353 ff.; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 1 I Rn. 39 ff. 125 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Vorbemerkungen vor Art. 1 GG, Rn. 70. 126 Vgl. oben bei und in Fn. 30. Siehe nochmals Böckerstette, Aporien (Fn. 25), S. 283; Hofmann, Rechts- und Staatsphilosophie (Fn. 16), S. 165 ff. 127 Dreier (Fn. 125), Vorb. Rn. 139 ff.

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c) Volkssouveränität Schließlich ist über die individuelle Seite hinaus auch die kollektive zu bedenken: der Gedanke der Selbstbestimmung bezogen auf die politische Ordnung ist letztlich nichts anderes als der Grundgedanke der Demokratie, wie er im Prinzip der Volkssouveränität und in weiteren Konkretisierungen des Art. 20 GG seinen normativen Niederschlag gefunden hat128. Wenn der zentrale Selbstgesetzgebungsgedanke auch in der staatlichen Ordnung aufrechterhalten werden soll, so bedarf es dazu der Ableitungsmöglichkeit der für alle geltenden Gesetze aus deren (vereinigtem) Willen als Staatsbürger. Der Adressat der (heteronomen) Rechtssätze soll auch deren Autor sein129. Im Großflächenstaat wird demzufolge Repräsentation zu einem ebenso zentralen wie schwierigen Thema130. d) Freiheit und Frieden Über die Sphäre individueller wie kollektiver Freiheit und Selbstbestimmung hinausgehend macht es schließlich Bedeutung wie Aktualität Kants aus, die Idee der Menschenrechte und der republikanischen Freiheitlichkeit auch und gerade in ihrer Verknüpfung mit dem Friedensgedanken gesehen und so in freilich besonderer Weise eine alte Tradition der Verbindung von pax et iustitia in Erinnerung gerufen zu haben131. 128 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. II, Art. 20 (Demokratie) Rn. 76 ff., 87 ff. 129 J. Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 135. 130 H. Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert (1974), Vierte Auflage mit einer neuen Einleitung, 2003; A. Podlech, Art. Repräsentation, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S. 509 ff.; H. Hofmann / H. Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, in: H.-P. Schneider / W. Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis. Ein Handbuch, 1989, § 5 Rn. 1 ff., 21 ff.; B. Haller, Art. Repräsentation (II), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992, Sp. 812 ff.

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Sie begegnet in Art. 1 II GG, indem dort von den Menschenrechten als „Grundlage . . . des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ die Rede ist132. e) Staat unter Staaten Und auch, um einen letzten Punkt zu nennen, die Einbindung des nationalen Staates in transnationale Kontexte, die in der Friedensschrift zum Thema gemacht worden ist, führt uns auf zentrale Aussagen des Grundgesetzes, etwa zu Art. 23 und 24 GG oder den Gedanken seiner internationalen Offenheit133. Bemerkenswerterweise legt unsere Verfassung großen Wert darauf, daß die Europäische Union in ihrer Binnenstruktur den gleichen demokratischen, rechtsstaatlichen, föderalen und sozialen Grundsätzen verpflichtet ist wie das Grundgesetz selbst; umgekehrt kennt auch die Europäische Union, die in ihren Anfängen als EWG auch und zugleich als zentrale Institution der Kriegsverhinderung gedacht war, eine Struktursicherungsklausel für ihre Mitgliedstaaten134. Dies alles demonstriert die Überzeugungskraft des Gedankens, daß für die Beziehungen von Staaten untereinander ihre innere Struktur und Verfaßtheit keineswegs gleichgültig sind. 131 H. Hofmann, Bilder des Friedens oder Die vergessene Gerechtigkeit. Drei anschauliche Kapitel der Staatsphilosophie (= Privatdruck der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Reihe THEMEN Band 64), 1997, S. 64 ff. 132 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 2004, Art. 1 II Rn. 2. 133 Die vielzitierte Formel von der ,offenen Staatlichkeit‘ stammt von K. Vogel, Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes für eine internationale Zusammenarbeit, 1964, S. 42; Darstellung aus jüngerer Zeit: C. Tomuschat, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII, 1992, § 172 Rn. 1 ff. – Belege und Hinweise zu den verschiedenen inter- und supranationalen Aspekten des Grundgesetzes bei H. Dreier, DVBl. 1999, 667 (674 ff.). 134 Speziell dazu F. Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union – Ausgestaltung und Gewährleistung durch Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 EUV, 2000, S. 69 ff.

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f) Gefahr der Überinterpretation Mit diesen exemplarischen Hinweisen ist nun nicht die Behauptung direkter oder gar einliniger Kausalzusammenhänge zwischen Kant und der Ordnung unseres freiheitlichen Grundgesetzes verbunden, geschweige denn einer Art „authentischer Interpretation“ unter Stützung auf seine Autorität das Wort geredet. Der Königsberger ist, realhistorisch betrachtet, weder geistiger Urahn des Grundgesetzes noch Vater der Verfassungsväter. Zudem ist ganz offensichtlich, daß längst nicht alle zentralen Bestandteile unserer Verfassung eine Entsprechung bei Kant finden: Bundesstaat und Sozialstaat oder gar die heute so überragend wichtige Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit135 spielen bei ihm ebenso ersichtlich wie einsichtig keine Rolle, wie es überhaupt nicht überraschen kann, daß in institutioneller Hinsicht viele Fragen offen bleiben136 und wir das Ensemble verfassungsstaatlicher Elemente (Verfassung als Kodifikation, mit Vorrang auch gegenüber dem Gesetzgeber sowie einer effektiven Kontrollinstanz, üblicherweise in Gestalt eines Verfassungsgerichts)137, das uns heute so selbstverständlich geworden ist, in seinem Werk nicht schon in perfekter Ordnung vorfinden138. Der Rang und die Bedeutung von Kants Rechtslehre liegen vielmehr in der philosophischen Grundierung elementarer rechtsstaatlicher, freiheitsrechtlicher und demokratischer Verfassungsprinzipien, in 135 Wenn er sie nicht gar ganz ausschließt: vgl. Henrich, Kant über die Revolution (Fn. 95), S. 359 f. 136 Böckerstette, Aporien (Fn. 25), S. 367; W. Brugger, JZ 1991, 893 (897); Bielefeldt, Autonomie (Fn. 21), S. 60. 137 E.-W. Böckenförde, NJW 1999, 9 ff.; G.F. Schuppert, Staatswissenschaft, 2000, S. 804 ff.; R. Wahl, JuS 2001, 1041 ff.; H. Hofmann, Vom Wesen der Verfassung (= Öffentliche Vorlesungen der Humboldt-Universität zu Berlin, Heft 112), 2002 (auch erschienen in: JöR 51 [2003], 1 ff.). 138 Das bedeutet natürlich auch: dort, wo Kant von Gleichheit spricht, kann man nicht ohne weiteres Art. 3 I GG (weder als verfassungsrechtlich höherrangige Norm noch ihre gefestigte Interpretation) assoziieren; Kants Sittengesetz ist nicht identisch mit dem des Art. 2 I GG; sein Hinweis auf gewählte Abgeordnete hilft bei konkreten Problemen der Parteienfinanzierung nicht weiter.

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der Aufhellung entsprechender Interpretationshorizonte, die ohne derartige Rückgriffe und Rückbezüge gar nicht in den Blick gerieten139. g) Fazit Insgesamt bestätigt sich die Einsicht, daß der moderne Verfassungsstaat zentrale Postulate der Aufklärungsphilosophie in geltendes Recht umgesetzt hat140 – und zwar auf höchster innerstaatlicher Rechtsstufe, der der Verfassung selbst. Das hat durchaus Konsequenzen für ein vertieftes Verständnis der Verfassung und ihre Interpretation. Diese muß in gewissem Umfang philosophisch und historisch informiert sein, das heißt, konkrete ideengeschichtliche und verfassungsgeschichtliche Verwurzelungen aufspüren und entfalten141. Nur so können tieferliegende Bedeutungsschichten freigelegt und für das Verständnis der einschlägigen Verfassungsprinzipien fruchtbar gemacht werden142. 139 Dazu jüngst, wenn auch im Detail der Auslegung anfechtbar, D. v. d. Pfordten, JZ 2004, 157 (163 f.). 140 R. Dreier, Recht und Gerechtigkeit, in: D. Grimm (Hrsg.), Einführung in das Recht, 2. Aufl. 1991, S. 95 ff. (124); N. Hoerster, JuS 1987, 181 (186); M. Morlok, Was ist und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, 1988, S. 45, 91 ff.; H. Hofmann, Rechtsphilosophie, in: P. Koslowski (Hrsg.), Orientierung durch Philosophie, 1991, S. 118 ff. (126); H. Dreier, Universitas 48 (1993), 377 (388 f.). 141 In diese Richtung bereits R. Thoma, § 1. Gegenstand. – Methode. – Literatur, in: G. Anschütz / R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, S. 1 ff. (2, 5). – Insgesamt handelt es sich bei der Erschließung dieser Deutungsperspektiven um kein besonders intensiv bestelltes Feld der Rechtswissenschaft; auch im Kontext von Methodenlehren, Interpretations- und Argumentationstheorien begegnet dieses Element eher selten. – Anregend und mit vielen Beispielen freilich P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, insb. S. 44 ff., 55 ff.; nicht auf Ideen- und Geistesgeschichte beschränkte Hinweise zur (ambivalenten) Rolle von Herkunft beim Verfassungsverständnis finden sich bei A. Blankenagel, Tradition und Verfassung, 1987, S. 211 ff. 142 Speziell für Grundrechte ausdrücklich U. Scheuner, Die institutionellen Garantien des Grundgesetzes (1953), in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht. Gesammelte Schriften, 1978, S. 665 ff. (681): „Jedes Grundrecht bedarf einer geistesgeschichtlichen Ausdeutung an Hand seiner Geschichte und Tradition.“

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Ein weiteres kommt hinzu: soweit sich in diesen Prinzipien materielle Gerechtigkeitsvorstellungen niederschlagen, ist es zu einer Verlagerung der Gerechtigkeitsfrage im Sinne einer rechtsinternen Verdoppelung gekommen. Entsprechende Postulate treten nicht, wie sich dies Kant noch vorgestellt hat143, gleichsam von außen an den Staat und primär den Gesetzgeber heran, indem sie auf die Realisierung natur- oder vernunftrechtlicher Postulate drängen, die aber eben definitionsgemäß noch nicht den Status von Rechtssätzen (sondern oft den von Vorschlägen an den Gesetzgeber) haben – für Kant etwa ist das nach Vernunftgrundsätzen konstruierte Staatsrecht zwar notwendig mögliches, aber eben noch nicht wirkliches, noch nicht realisiertes Recht, gleichsam potentielles Recht144. Im Verfassungsstaat sind nun genau jene Prinzipien von Subjektautonomie, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in dessen normative Struktur selbst eingelassen und haben den Charakter verbindlicher Rechtsnormen angenommen. Aber damit ist die Arbeit und auch die Geschichte noch nicht zu Ende. Denn nun kommt es auf die Konkretisierung, Entfaltung und Realisierung jener Gehalte in der konkreten Staats- und Verfassungsordnung an. Und diesem Prozeß wohnt notwendigerweise etwas Unabgeschlossenes, Unabgegoltenes inne. Das sei unter dem Stichwort der strukturellen Parallelen noch mit wenigen Sätzen im Blick auf Kant erläutert.

143 Vgl. die auf reflexionslose Anwendung des gegebenen Rechts beschränkte Rolle, die er dem Juristen ,als solchem‘ in der Streit-Schrift zumißt: Kant, Streit (Fn. 10), S. 351 ff. (AA 7, S. 79 ff.); besser schneiden nur diejenigen „Rechtslehrer“ ab, die das richtige Vernunftrecht lehren, also als Aufklärer tätig werden. Schon vorher heißt es ähnlich in der Friedensschrift von den Juristen: „Denn da dieser ihr Geschäfte nicht ist, über Gesetzgebung selbst zu vernünfteln, sondern die gegenwärtigen Gebote des Landrechts zu vollziehen, so muß ihnen jede jetzt vorhandene gesetzliche Verfassung und, wenn diese höhern Orts abgeändert wird, die nun folgende immer die beste sein; wo dann alles so in seiner gehörigen mechanischen Ordnung ist.“ (Kant, Ewiger Frieden [Fn. 8], S. 155 [AA 8, S. 373 f.]). 144 Hofmann, Rechts- und Staatsphilosophie (Fn. 16), S. 8.

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2. Strukturelle Parallelen Über die angedeuteten sachlichen Entsprechungen hinaus gibt es tieferliegende strukturelle Parallelen zwischen Kants Staatsphilosophie und dem bundesdeutschen Grundgesetz. Gemeint ist damit etwa der Umstand, daß bei Kant der Gedanke des Anstrebens eines letztlich nie erreichbaren Ideals dominant bleibt, eines Ideals, auf das hin man sich orientiert und agiert, von dem man aber zugleich weiß, daß man es niemals vollständig wird realisieren und umsetzen können. Diese Letztunmöglichkeit der Realisierung wohnt auch den Verfassungsprinzipien inne. Ihnen eignet ebenfalls etwas vom Unabschließbaren, vom ewigen Progreß-Prozeß. Denn Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat oder die Menschenrechte kann man nicht erfüllen wie Fünfjahrespläne (die selbst auch niemals erfüllt worden sind!)145. Es ist auch gar kein Punkt denkbar, an dem man feststellen könnte, nun seien Menschenrechte oder der Rechtsstaat zu 100 Prozent realisiert. Als Prinzipien der Verfassung sind sie vielmehr auf dynamische Fortentwicklung und permanente Konkretisierung hin angelegt146. Sie dürfen und können nicht als etwas Gegebenes und nur noch zu Konservierendes angesehen werden. Diese Vorstellung einer beständigen gedanklichen Orientierung auf eine Art Leitstern hin, die Idee eines „Bewegungssinn(es)“147 und der damit verbundenen inneren kritischen Unruhe charakterisiert Kants Denken ebenso wie den recht verstandenen modernen Verfassungsstaat, der dauerhafte Aufgabe ist und bleibt. Es fügt sich gut zu einem solchen Verständnis, daß es nicht allein für Kants Rechtslehre treffend erscheint. Vielmehr hat 145 Speziell zur Unabgeschlossenheit der Demokratie H. Hofmann, Legitimität und Rechtsgeltung, 1977, S. 77, 89. 146 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. II, 1998, Art. 20 (Einführung) Rn. 10; aufgegriffen in BVerfGE 107, 59 (91). Eingehend F. Reimer, Verfassungsprinzipien, 2001, S. 458 ff. 147 Hofmann, Rechts- und Staatsphilosophie (Fn. 16), S. 26.

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kürzlich Dieter Henrich als ganz allgemeines Merkmal für Kants Denken hervorgehoben, daß hier die Arbeit am philosophischen System als Arbeit erscheine, „in der die Rückfragen, die Differenzierungen und der systematische Gang des Begründens nirgends ein Ende nehmen“148.

IV. Schlußbemerkung: Ein republikanisches Desiderat Insgesamt steht Kants Rechtslehre anders als im 19. Jahrhundert und über weite Strecken des 20. frisch, anregend und herausfordernd vor uns. Eine Musealisierung ist schon wegen des letztlich unabschließbaren Progreß-Prozesses bei der Realisierung der wahren oder reinen Republik nicht zu befürchten. Und so kann auch der Blick auf die eigene Verfassungsordnung nicht zu bequemer Saturiertheit oder selbstgefälliger Überheblichkeit im Sinne eines „wie herrlich weit haben wir es gebracht“ führen, sondern nur zu anhaltender Anstrengung des Begriffs sowie der Realisierung, Befestigung und Fortentwicklung der leitenden Prinzipien. Von alledem abgesehen bleibt aber ein ganz offensichtliches Desiderat, etwas, dessen Realisierung noch nicht ansatzweise begonnen hat. Die Rede ist von einem Thema, das in den letzten Jahren auch in Deutschland wieder von bedrückender Aktualität ist und sich wie ein roter Faden durch Kants Schrift über den „Streit der Fakultäten“ zieht. Es handelt sich um den Krieg, genauer: seine Vermeidung. Kant präsentiert in seiner Schrift ein interessantes Kriterium zur Identifikation eines monarchischen oder autokratischen Herrschers: das sei derjenige, der den Krieg befehlen könne, ohne vorab sein Volk um Zustimmung fragen zu müssen149. So gesehen, ha148 D. Henrich, Die Vernunft am Abgrund der Unwissenheit, in: FAZ Nr. 32 v. 7. 2. 2004, S. 41. 149 Kant, Streit (Fn. 10), S. 363 f. Fn. * (AA 7, S. 90 Fn. *).

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ben wir noch einen weiten Weg zur wahren Republik mit einem wahrhaftig freien Volk vor uns150 – und zwar nicht nur jenseits des Atlantiks.

150 Kant, Reflexionen Nr. 8077, S. II (AA 19, S. 606): „Welcher Monarch (aus eigener Machtvollkommenheit) aussprechen darf: es soll Krieg seyn, und es ist alsdann Krieg, der ist ein unbeschränkter Monarch (und seyn Volk ist nicht frey.) – Der aber, welcher zuvörderst bey dem Volk öffentliche Anfrage thun muß, ob es einwillige, daß Krieg sey, und wenn dieses sagt, es soll nicht Krieg seyn, alsdann auch kein Krieg ist, (der ist) ein beschränkter Monarch (und ein solches Volk ist wahrhaftig frey.)“

Rückblick Von Hasso Hofmann Verehrte Gäste, liebe Freunde, Epikur schreibt: „Philosophieren muß der junge wie der alte Mensch“. Und zwar der alte, „damit er jung bleibt im dankbaren Genuß des Guten, das die Vergangenheit ihm schenkte.“ So gesehen, war der heutige Tag ein wahrer Jungbrunnen für mich. Denn er zeigte aufs Schönste, wie viel wissenschaftliche und menschliche Zuwendung allseits hochgeschätzter Fachkollegen mir mein Lebensweg beschert hat. Die Vorträge und Diskussionen waren für mich ein außerordentliches intellektuelles Vergnügen. Ich danke allen Mitwirkenden des Symposions von Herzen, vor allem den Referenten, sodann den Moderatoren, den Diskutanten und überhaupt allen, die sich die Zeit genommen und die Mühe gemacht haben, zu meinem Fest zu kommen. Ein besonderes Wort besonderen Dankes gilt natürlich dem, der diese wissenschaftliche Veranstaltung organisiert hat, meinem Freund Horst Dreier, der einmal mein Assistent und Schüler war und der sich schon vor fünf und vor zehn Jahren große Verdienste dieser Art erworben hat. Lieber Horst, mein Dank ist tief gefühlt – auch wenn ich weiß, daß Du sonst nicht viel zu tun hattest! Mit diesem Dank sei ein Trostwort verbunden. Selbst wenn ich 80 Jahre werden sollte – keine derartige Feier mehr! Das Maß der Ehrungen ist schon übervoll. Was sollen meine Jugendfreunde, die alten Stoiker von mir denken! 13 Dreier

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Meine Dankbarkeit Ihnen gegenüber, liebe Freunde, die Sie gekommen sind oder nicht haben kommen können, hat noch einen anderen weit über diesen Tag hinaus reichenden Grund: ich habe von Ihnen allen, auch von den Nichtjuristen, gelernt – gerade aus Ihrer Unterschiedlichkeit. Es ist ja kaum zu übersehen, daß schwerlich eine Fußnote vorstellbar ist, in der Sie alle erschienen, ohne daß irgendwo dazwischen ein fettgedrucktes A. A. stünde. Überhaupt habe ich Gegensätzliches auf mich wirken lassen. Wie sagte Gadamer? Es könnte doch sein, daß der andere recht hat. So habe ich zugehört, gelesen und gelernt – und bin dann meinen eigenen Weg gegangen. Meinen eigenen Weg? Das klingt so selbstbewußt und sicher. Aber das war ich nicht, ganz und gar nicht. Und doch: Vielleicht war etwas vorgezeichnet. I. Aufgewachsen bin ich in den Kriegs- und den ersten neun Nachkriegsjahren in Ansbach, einer Stadt von etwas über 30.000 Einwohnern im westlichen Mittelfranken. Hier hatten seit 1385 die Hohenzollern residiert, bevor sie auf dem Konstanzer Konzil mit der Mark Brandenburg belehnt wurden. Die Standeserhöhung wirkte zurück. Nun firmierten auch ihre fränkischen Fürstentümer – fernab von allen Grenzen des Reichs – als Markgrafschaften, die frühzeitig ebenfalls protestantisch wurden. Nachdem der letzte der fränkischen Markgrafen seine Länder an die Vettern in Berlin abgetreten hatte, wurde Ansbach 1791 – 1805 als preußische Provinz von Hardenberg verwaltet. Dann mutierten die Ansbacher zu Bayern von Napoleons Gnaden. Die Stadt blieb, was sie, abgesehen von der Residenz der Markgrafen, schon immer gewesen war: eine Stadt der Verwaltung, der Gerichte und der Schulen. Handel, Gewerbe und Industrie spielten eine durchaus untergeordnete Rolle. Dies war der Ort, wo meine Mutter nach dem frühen Kriegstod meines Vaters – sie war 35 Jahre, ich

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noch nicht eingeschult – ihre drei Kinder durch Krieg und Nachkrieg zu bringen sich mühte. Zwei Bombenangriffe hatten wir überstanden und zunächst auch das Dach über dem Kopf behalten, bis es uns die amerikanische Besatzungsmacht nahm. So hausten wir im Sommer 1946 mangels einer anderen Unterkunft acht Wochen in einer Jagdhütte, weit draußen mitten im Wald. Meine Mutter fand das nicht ganz so vergnüglich wie wir Kinder. Das Land war unsicher. Im Herbst wurden wir vier in zwei Zimmer einer Vierzimmerwohnung eingewiesen; denn man brauchte meine Mutter in der Stadt als Lehrerin am Mädchen-Lyzeum. Freilich: allzu viel sollte sie auch nicht unterrichten, sonst wäre die Witwenversorgung entsprechend gekürzt worden. Je kleiner die Pension, desto geringer die Abzugsfreiheit für den Zuverdienst: erste Begegnung mit der Logik des Beamtenrechts. Die Ernährung war karg und sehr eintönig. Noch Jahrzehnte später konnte ich keine roten Rüben sehen – oder rote Beete, wie meine Mutter sagte, die aus Norddeutschland stammte, aus einem preußischen Beamtenhaushalt, geboren in Berlin, Bezirk Friedrichshain. Meine ältere Schwester ging mit einem Teil unserer Wäsche und gebrauchten Kleidern auf sog. „Hamsterfahrt“ über Land. Sie war darin nicht ungeschickt. Einmal nahm sie mich mit. Das Ergebnis war niederschmetternd. Lieber hungern. Von da an stand fest: Für das Geschäftsleben – gleich welcher Art – bin ich vollkommen untauglich. Dann kam die Währungsreform mit ihren höchst wundersamen Folgen. Die über Nacht gefüllten Schaufenster reizten uns weniger zum Kauf – Womit denn? Mit den 20 Mark Kopfgeld? – als daß sie viel Stoff zum Nachdenken boten. Es folgte eine „Verordnung zur Sicherung der Währung“, welche u. a. die Pensionen der Kriegerwitwen kürzte – rückwirkend, mit Rückzahlungsverpflichtungen von den reduzierten Bezügen. Unsere Mutter wußte nicht, wovon sie die Kohlen für den Winter bezahlen sollte. Die Verordnung ist später für nichtig erklärt worden: erste Begegnung mit dem Rechtsstaat. Wir kauften einen großen, schönen Radioapparat. Aus ihm 13*

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hörte ich später den die Nation erlösenden Torschrei der Fußballweltmeisterschaft. Das geschah in meinem Abiturjahr 1954. „Natürlich“ war ich auf das humanistische Gymnasium mit den alten Sprachen und der kleinen Schülerschar geschickt worden. Das gehörte sich so, ebenso wie die intensive Pflege der Musik. In jenem charakteristischen Milieu lag es nahe, daß zutiefst verunsicherte, verschreckte, zu offensiver Auseinandersetzung mit dem in Deutschland Geschehenen aus unterschiedlichen Gründen unfähige Menschen, nächst dem Kampf ums Überleben, durch Anknüpfung an die Traditionen des deutschen Bildungsbürgertums wieder Ordnung in die eigene Welt zu bringen versuchten. Auch die autoritär geführte Schule war damals alles andere als ein Ort freier Diskussion. Der Geschichtsunterricht endete vorsichtshalber mit Bismarcks Reichsgründung. Aber wie auch immer: Humanistische Bildungsideale sind ebenso zu einem Teil meines Lebens geworden wie die musischen Interessen, zudem Sinn für Pflicht und Disziplin, großer Respekt vor dem, was Frauen leisten, schließlich die konstitutionelle Unfähigkeit, mich für den Neo-Liberalismus zu begeistern. Und dann klang noch etwas nach: die Erzählungen meiner Mutter von ihrer Heimat: Rostock, Schwerin, Stralsund und immer wieder Greifswald, die Stadt ihrer Gymnasialzeit. Ferne Orte, unzugänglich. Noch nicht einmal zur Beerdigung meiner Großeltern bekamen die Enkelkinder von den DDR-Behörden eine Aufenthaltserlaubnis für Müritz an der Ostsee, wo das Altenheim der Stadt Rostock stand. Der Weg nach Westen trennte uns immer weiter. Bilder des 17. Juni 1953: eine Hoffnung, die rascher verwelkte, als sie aufblühen konnte. II. Zum Studium ging ich 1954 nach Heidelberg. Das war damals eine fast exotische Wahl. Von Ansbach aus ging man, den historischen und konfessionellen Verbindungen folgend, in das ebenfalls fränkisch-markgräfliche Erlangen, für die tech-

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nischen Fächer nach München, sonst allenfalls nach Würzburg. Aber Heidelberg? Ich wollte den Philosophen Karl Löwith hören. Von ihm war kurz zuvor ein Büchlein über Martin Heidegger erschienen. Und ich hatte Heideggers Humanismus-Brief gelesen, war aufgewühlt, obwohl oder vielmehr weil ich wenig verstanden hatte. Einer der Heidegger-Sätze, den ich mir seinerzeit angestrichen habe, lautet: „Das Denken, das nach der Wahrheit des Seins fragt und dabei den Wesensaufenthalt des Menschen vom Sein her und auf dieses hin bestimmt, ist weder Ethik noch Ontologie. Darum hat die Frage nach der Beziehung beider zueinander in diesem Bereich keinen Boden mehr.“ Womit auch die Verantwortlichkeit des Fundamentalontologen entfällt? Vielleicht ahnte ich dunkel den Hintersinn. Freilich: Philosophie studieren, das traute ich mich nicht. Also Rechtswissenschaft. Das war etwas Solides, in den Konsequenzen überschaubar, wobei die eigentliche Berufswahl, wie schön, um Jahre hinausgeschoben werden konnte. Und irgendwie freute es meine Mutter, weil doch mein Vater Jurist gewesen war. Der prächtige Reichsgerichtsräte-Kommentar zum BGB stand noch im Bücherschrank. Wie gut die Juristische Fakultät in Heidelberg damals war, wußte ich zunächst nicht. Heidelberg erwies sich als unzerstörte Idylle. Die heute kaum noch vorstellbare Bescheidenheit der äußeren Lebensverhältnisse war der Konzentration auf das Universitätsleben nur förderlich. Nach Abzug der Miete blieben mir 105 Mark monatlich zum Leben. Stipendien, von denen ich nicht weiß, ob es sie damals schon gab, kamen von vornherein nicht in Betracht. Denn erstens, so hatte ich gelernt, bittet man nicht um Geld, zweitens legt man seine Verhältnisse nicht offen, und drittens hätten es andere allemal nötiger als wir. In der Tat gab es da von den väterlichen, den fränkischen Ahnen her noch die kleine Beteiligung an einer Waldgemeinschaft. Und Mitte der fünfziger Jahre kauften die Zechen im Ruhrgebiet Grubenholz, wie ich von meinem Onkel hörte. Ich war eben auch ein Wirtschaftswunderkind.

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Im übrigen hatten wir doch alle nicht viel. Wichtig war allein die philosophische Weltsicht Löwiths, sein Seminar, die Lektüre des Aristoteles im griechischen Original unter Anleitung des unvergleichlichen Hans-Georg Gadamer, die wunderbare, unerschöpfliche Gelehrsamkeit Kunkels im „Römischen Privatrecht“ und die Brillanz der „Allgemeinen Staatslehre“ von Ernst Forsthoff. In Forsthoffs Vorlesung begegnete ich mittelbar das erste Mal Carl Schmitt. Einen direkten Hinweis erhielt ich später von Löwith. Daneben lernte ich Stilgeschichte der mittelalterlichen Architektur und hörte etwas Literaturgeschichte, aber nur wenig. Der dortige emphatische Umgang mit den Texten nach dem Motto „Das ist echtester Goethe“ genügte meinen Interpretationsansprüchen nicht. Nebenbei absolvierte ich die vorgeschriebenen beiden Übungen im Zivilrecht und machte einen der beiden Strafrechtsscheine. Am Ende des dritten Semesters meinte ich mich entscheiden zu müssen. Löwith riet, vor der Philosophie zuerst eine möglichst strenge Fachwissenschaft zu studieren, am besten Mathematik. Ich erschrak. Zum Glück ließ er dann nach kurzem Zögern doch auch die Rechtswissenschaft noch gelten. So verließ ich Heidelberg, um nun entschlossen mein „Handwerk“ zu erlernen. Zunächst wandte ich mich nach München, seinerzeit eine „Massenuniversität“ mit sage und schreibe 13.000 Studierenden. Aber München war zu groß, zu betriebsam, zu vielfältig und zu laut für mich. Das stille, ein wenig langweilige fränkische Erlangen schien dagegen das Richtige. Dort fand ich denn auch gute Studienbedingungen und noch unendlich viel mehr: das Glück und den Halt meines Lebens – über die Musik. Und Halt brauchte ich schon auf einigen dunklen Wegstrecken. III. Mein „Handwerk“ habe ich gelernt. Mit Platzziffer 3 im bayerischen Assessorenexamen – 12 fünfstündige und 2 achtstündige Klausuren – hätte ich leicht bayerischer Notar wer-

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den können – Traum vieler meiner Mitprüflinge. Mich dagegen erschreckte diese Aussicht. Ich wollte in der Wissenschaft bleiben und ich wollte unterrichten. Wirtschaftswunderkind, das ich war, hatte ich schon nach dem Referendarexamen eine der Assistentenstellen bekommen, die gerade flächendeckend vermehrt wurden. Schwierigkeiten hatte es dagegen zunächst mit dem Thema der Dissertation gegeben. Mein „Patron“, der geistvoll-schöngeistige Alfred Voigt, vor dem Krieg Assistent bei Forsthoff in Königsberg, setzte meinem Vorschlag hartnäckig Widerstand entgegen. Erstens lebe Carl Schmitt noch, zweitens sei er andererseits ein toter Löwe, auf den einzuschlagen sich nicht schicke, und drittens sei das Ganze überhaupt ein viel zu heißes Eisen. Schließlich nahm ich meinen Mut zusammen und stellte ihm ein Ultimatum: Entweder Carl Schmitt oder ein Thema aus dem bayerischen Wasserrecht. Wie ich gerade auf dieses Rechtsgebiet kam, von dem ich nicht die geringste Ahnung hatte, weiß ich nicht. Aber das spielte auch keine Rolle. Ich wußte, daß es für Voigt eine fürchterliche Drohung war. Er gab nach. Und noch während der seinerzeit schier unendlich langen Referendarzeit wurde die Doktorarbeit fertig. Was mich dabei antrieb, war hauptsächlich die Frage: Gab es (über möglichen Opportunismus hinaus) in einem der intelligentesten und anspruchsvollsten rechtswissenschaftlichen Werke der Weimarer Zeit sachliche Dispositionen für den Absturz 1933 und welche waren es? Es ging m.a.W. um die symptomatische Bedeutung der Arbeiten Schmitts. Als Individuum interessierte mich der Autor herzlich wenig. Insoweit hielt ich größte Distanz, was mich noch Jahrzehnte später fast den Ruf nach Freiburg gekostet hätte. („Er hat Carl Schmitt nicht seine Aufwartung gemacht.“) Im übrigen war ich auf der Suche nach meinem Standort in der deutschen Staatsrechtswissenschaft, in der Rechts- und Staatstheorie mit ihrem Erbe. Für die Habilitation hatte ich mir ein ganz anderes Feld ausgesucht. Angeregt durch einige verwaltungssoziologische Studien wollte ich über „Formen und Verfahren nicht-hierarchi-

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scher Koordinierung in der öffentlichen Verwaltung“ schreiben und dem nachspüren, was man heute – nach Kuhn – einen Paradigmenwechsel nennt. Zur Entwicklung eines tragfähigen Konzepts hätte ich freilich methodisch und sachlich doch etwas Führung und kritische Diskussionen gebraucht. So gab ich schließlich entmutigt auf und warf meine Unterlagen weg. Inzwischen war das nebenbei für einen kleinen begriffsgeschichtlichen Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie zum Thema Repräsentation gesammelte Material zu einem stattlichen Gebirge angewachsen. Also ging ich daran, daraus ein Buch zu machen. Das dauerte freilich ziemlich lang. Auch nach der Habilitation habe ich noch einmal über zwei Jahre daran gewandt. Es waren Jahre großer wissenschaftlicher Einsamkeit. Aber auch wenn ich mir das Handwerkszeug für die Lektüre mittelalterlicher Texte erst aneignen und Rechtsgeschichte lernen mußte, bewegte ich mich im Grunde dennoch auf vertrautem Boden, dem der Textinterpretation. Ende der 60er Jahre drang einiger Lärm in meinen Elfenbeinturm, die Handschriftenabteilung der Erlanger Universitätsbibliothek, wo ich Tag für Tag zauberhaft schöne, taufrisch erscheinende Wiegedrucke, aber auch entsetzlich staubige Folianten späterer Jahrhunderte durchforstete. Hinauslocken ließ ich mich nicht. Zum einen schien mir, daß ich, der ich auch die neue Arbeit aus einer kritischen Beschäftigung mit der deutschen Tradition entwickelt hatte, mich nicht über die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit belehren lassen mußte. Zum anderen ist mir nichts mehr verhaßt als Selbstgerechtigkeit, bei den Jungen nicht weniger als bei den Alten. Und zum dritten kultivierte ich die geradezu provokativ altmodische Auffassung, daß zur Schaffung von Dauerhaftem historischer Sinn und viel stiller Fleiß vonnöten seien. Mit einer solchen Einstellung konnte man Anfang der 70er Jahre bei den Fakultäten in Bewegung natürlich nichts werden. Zwei Bewerbungen schlugen fehl. Später, nach meinem kritischen Atomrechts-Buch, hätte das vielleicht anders ausgesehen. Jahre später kamen nach Vorträgen, die ich gehalten

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hatte, zwei Kollegen jener Fakultäten auf mich zu, um mir ihr Bedauern darüber auszudrücken, daß sie sich seinerzeit falsch entschieden hätten. Ich fand das sehr honorig und war ein bißchen amüsiert – zu diesem Zeitpunkt. Indes war, ich sagte es schon, für uns Wirtschaftswunderkinder gesorgt. Es gab Universitätsdozentenstellen, und weil die Erlanger Fakultät nicht wußte, was sie mit dem ihr zugewiesenen Monstrum der Stelle eines „Wissenschaftlichen Rats und Professors“ anfangen sollte, setzte sie mich darauf, d. h. de facto auf einen der Prototypen einer C 3-Stelle. Mein Glück, daß die Würzburger Fakultät großen Wert auf die Vertretung der Rechtsphilosophie legte, neben der des öffentlichen Rechts. So erhielt ich 1976 den Vorzug vor den 37 Mitbewerbern. IV. Die 15 Jahre in Würzburg, meiner Geburtsstadt in dem anderen, dem katholisch-barocken, ein wenig weinseligen Franken, ermöglichten Entwicklung, Vertiefung und Reifung, zudem – da nicht gerade ein Ort geistiger Wirbelstürme – so etwas wie eine philosophische Existenz, auf die hin ich unterwegs gewesen war. Die Vorlesungen machten mir viel Freude. Das strahlte offenbar ein bißchen aus. Schönstes Betätigungsfeld fand die pädagogische Leidenschaft in den Seminaren, die sich bald zu Wochenendblockseminaren verdichteten. Auswärtige Aufforderungen, mich anderwärts zu bewerben, lehnte ich – mit Ausnahme der großen Versuchung Freiburg – ab. Wer weiß, was ich auf unserem wunderschönen Hügel über dem Maintal, angeregt auch durch einen Mitarbeiter von ganz außerordentlichen Qualitäten, ausgebrütet hätte, wäre da nicht die Einladung an das Wissenschaftskolleg zu Berlin für das akademische Jahr 1989 / 90 gekommen. So erlebte ich jenes „Wunderjahr“ hier in Berlin, inmitten einer bunten Schar von Wissenschaftlern aus aller Welt, die alle gleichermaßen faszi-

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niert waren. Die Emotionen reichten von Enthusiasmus bis Angst. Schon im Dezember 1989 nahmen wir Kontakt zur Humboldt-Universität auf, der nicht mehr abriß. Und wir begannen – von den regelmäßigen Besuchen Ost-Berlins abgesehen – an den Wochenenden kreuz und quer durch die DDR zu fahren. Natürlich auch nach Greifswald. Manches erkannte ich nach den Erzählungen meiner Mutter. Aber insgesamt: ein Schock. Hier war aus bösem Grund das bittere Wort geprägt worden: Ruinen schaffen ohne Waffen. Nach vielen Eindrücken solcher Art und manchen Gesprächen an Ort und Stelle empörte mich die Leichtfertigkeit, mit der den Menschen im Osten blühende Landschaften versprochen und denen im Westen vorgegaukelt wurde, das alles werde sie so gut wie nichts kosten. Andererseits konnte ich manchen Ängsten im Wissenschaftskolleg vor der plötzlichen Rückgewinnung großer deutscher Macht entgegentreten. Dieses Land würde sehr lange mit sich selbst beschäftigt sein – ökonomisch, politisch, moralisch, kulturell. Die Entscheidung, beim Um- und Aufbau der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität mitzuwirken, speiste sich aus mancherlei Gefühlen. Rational und rationell war das jedenfalls nicht: aus dem behaglichen Würzburger Dienstzimmer mit all’ den Büchern ringsum und dem eingespielten Apparat in einen kahlen Kasernenraum des Stasi-Wachregiments umzuziehen. Der Kanzler der Universität Würzburg hatte mich zuvor noch zu einem Gespräch gebeten: ich wisse ja, daß er mir kein Rufabwendungsangebot machen dürfe – das war seinerzeit für diese Fälle eine Abmachung der Wissenschaftsminister – aber niemand könne ihn daran hindern zu erkennen, daß ein Lehrstuhl nicht seiner Bedeutung entsprechend ausgestattet sei. Wie viel ich denn haben wolle? Aber darum ging es so wenig wie um die großen Berliner Versprechungen, von denen ich als gelernter Skeptiker indes sowieso nicht einmal die Hälfte glaubte. Mit der philosophischen Existenz war es vorerst jedoch vorbei. Auch die Situation im Hörsaal erwies sich mitunter als schwierig, aber auch

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äußerst lehrreich – für mich. Dann wurde ein Vizepräsident gesucht. Die kleine Schar von West-Professoren, die sich inzwischen an der Humboldt-Universität eingefunden hatte, sollte auch einen Vertreter im Präsidium bekommen. Das Problem: er mußte vom Konzil gewählt werden, und darin saßen vorerst ausschließlich Ost-Professoren. Es gab Anhörungen. Dann wurde ich mit größter Mehrheit gewählt. Man glaubte, daß ich es gut meinte. Das ist allerdings eine schlechte Voraussetzung für ein Amt in so schwieriger Situation. Ich nahm mir zu viel zu Herzen. Nach fünf Vierteljahren wurde eine Operation notwendig. Ich kehrte zu meiner philosophischen Lebensform zurück – nunmehr „Unter den Linden“ beim „Alten Fritz“. Diese Dienstadresse erschien mir wie eine beträchtliche Gehaltserhöhung. Und meine Arbeit trug die schönsten Früchte. Das waren meine Wochenendblockseminare, meist am Werbellinsee. Ein Freijahr, das ich der Carl Friedrich von Siemens-Wissenschaftsstiftung verdanke, führte mich 1996 noch einmal für ein Jahr konzentrierter und beglückender Arbeit nach München (mit einem Abstecher in das wundervolle Siena zu Ambrogio Lorenzetti). Welch ein Abstand zum Jahr 1957. Nach fast 40 Jahren war München kleiner geworden, fast beschaulich, ungemein herausgeputzt und ziemlich selbstzufrieden. Ich kehrte nicht ungern in die chaotische Mitte Berlins zurück. Hier gelang es mir endlich, für meine kleine Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie einen durchgehenden Gedankengang zu entwickeln. Die Beliebigkeit der Anordnung konventioneller Versatzstücke dieses Fachs in den einschlägigen Publikationen hatte mich immer gestört. Zeit der Ernte, sagte meine Frau. Ich danke einem gütigen Geschick für die vielen Jahre beglückender, manchmal kraftraubender, aber immer wieder begeisternder Arbeit mit jungen Menschen und für ein in meinen Grenzen per Saldo des heutigen Festtages gelungenes Gelehrtenleben.

Schriftenverzeichnis Hasso Hofmann Stand: 12. Dezember 2004

I. Selbständige Veröffentlichungen 1. Legitimität gegen Legalität – Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts (POLITICA Bd. 19), Neuwied und Berlin 1964, 304 Seiten; 2., durch eine Vorbemerkung erg. Aufl., Berlin 1992, XXX u. 304 Seiten; 3. Aufl., Berlin 1995, XXX u. 304 Seiten; 4. Aufl. mit einer neuen Einleitung, Berlin 2002, L und 285 Seiten. Italienische Übersetzung u. d. T.: Legittimità contro legalità. La filosofia politica di Carl Schmitt, a cura di Roberto Miccù, Napoli: Edizioni Scientifiche Italiane, 1999, 342 Seiten. 2. Der Herrschaftsvertrag – Übersetzungen von Peter Badura und Hasso Hofmann, hrsgg. v. Alfred Voigt (POLITICA Bd. 16), Neuwied 1965, 294 Seiten. 3. Repräsentation – Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert (Schriften zur Verfassungsgeschichte Bd. 22), Berlin 1974, 484 Seiten; 2. Aufl., Berlin 1990; 3. Aufl., Berlin 1998; 4. Aufl. mit einer neuen Einleitung, Berlin 2003, VIII und 484 Seiten. Italienische Übersetzung in Vorbereitung. 4. Legitimität und Rechtsgeltung – Verfassungstheoretische Bemerkungen zu einem Problem der Staatslehre und der Rechtsphilosophie (Schriften zur Rechtstheorie Heft 64), Berlin 1977, 103 Seiten. 5. Rechtsfragen der atomaren Entsorgung, Stuttgart 1981, 410 Seiten. 6. Recht – Politik – Verfassung. Studien zur Geschichte der politischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1986, IX und 299 Seiten. 7. Privatwirtschaft und Staatskontrolle bei der Energieversorgung durch Atomkraft (Schriften der Juristischen Studiengesellschaft Regensburg e. V. Heft 3), München 1989, 47 Seiten.

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8. Die versprochene Menschenwürde (Öffentliche Vorlesungen der Humboldt-Universität zu Berlin, Heft 2), Berlin 1993, 37 Seiten; auch in: AöR 118 (1993), S. 353 – 377. Italienische Übersetzung u. d. T.: La promessa della dignità umana. La dignità dell’uomo nella cultura giuridica tedesca, in: Rivista Internazionale di Filosofia del Diritto 1999, pp. 620 – 650. 9. Gebot, Vertrag, Sitte – Die Urformen der Begründung von Rechtsverbindlichkeit (Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie Heft 17), Baden-Baden 1993, 49 Seiten. 10. Verfassungsrechtliche Perspektiven, Aufsätze aus den Jahren 1980 – 1994, Tübingen 1995, 490 Seiten. 11. Neuere Entwicklungen in der Rechtsphilosophie (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Heft 145), Berlin 1996, 23 Seiten. Spanische Übersetzung u. d. T. Nuevos Desarrollos en la Filosofía del Derecho, in: Jurídica – anuario del departemento de derecho de la universidad iberoamericana, 1999 No. 29, S. 451 – 467. 12. Bilder des Friedens oder Die vergessene Gerechtigkeit – Drei anschauliche Kapitel der Staatsphilosophie, München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung, 1997, 92 Seiten. 13. Das Recht des Rechts, das Recht der Herrschaft und die Einheit der Verfassung (Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Bd. 24), Berlin 1998, 68 Seiten. 14. Die Entdeckung der Menschenrechte (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Heft 161), Berlin 1999, 19 Seiten. 15. Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, Darmstadt 2000, 224 Seiten; 2., um ein Register erweiterte Aufl., Darmstadt 2003, 228 Seiten; 3. Aufl. in Vorbereitung. Spanische Übers. von Luis Villar Borda u. d. T.: Filosofía del Derecho y del Estado, Bogotà – Colombia: Universidad externado de Colombia, 2002, 279 Seiten. Italienische Übersetzung u. d. T.: Introduzione alla filosofia del diritto e della politica, a cura di Giuseppe Duso, Roma – Bari: Gius. Laterza & Figli, 2003, 250 Seiten. 16. Vom Wesen der Verfassung (Öffentliche Vorlesungen der HumboldtUniversität zu Berlin, Heft 112), Berlin 2002, 37 Seiten; auch in: JöR NF Bd. 51 (2003), S. 1 – 20.

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II. Aufsätze, Beiträge in Sammelwerken, Rezensionsabhandlungen 1. Zur Anwendung des § 133 BBauG auf bebaute Grundstücke an vorhandenen Erschließungsanlagen, in: DVBl. 78 (1963), S. 212 – 215. 2. Präventivpolizeiliches Durchsuchungsrecht und Verfassung, in: BayVBl. NF 10 (1964), S. 36 – 40. 3. Feindschaft – Grundbegriff des Politischen? in: Zeitschrift für Politik NF 12 (1965), S. 17 – 39. 4. Bemerkungen zur Hobbes-Interpretation, in: AöR 91 (1966), S. 122 – 135. 5. Rechtsnatur der Widerspruchsfrist, in: VerwArch. 58 (1967), S. 63 – 69 und S. 135 – 170. 6. Nietzsche, in: Klassiker des politischen Denkens, hrsgg. v. Hans Maier u. a., Bd. 2, München 1968, S. 320 – 343 u. 395 – 399; 2. Aufl. 1969; 3. Aufl. 1974; 4. Aufl. 1979; 5., überarbeitete u. erweiterte Aufl., München 1987, S. 276 – 295, 350 – 356, 388 – 391. 7. Ausnahme, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsgg. v. Joachim Ritter, Bd. 1, Basel / Stuttgart 1971, Sp. 668 – 669. 8. Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche als Kritiker des Bismarckreiches, in: Der Staat 10 (1971), S. 433 – 453. 9. Dezision / Dezisionismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsgg. v. Joachim Ritter, Bd. 2, Basel / Stuttgart 1972, Sp. 159 – 161. 10. Diktatur, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsgg. v. Joachim Ritter, Bd. 2, Basel / Stuttgart 1972, Sp. 245 – 247. 11. Diskussion, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsgg. v. Joachim Ritter, Bd. 2, Basel / Stuttgart 1972, Sp. 262. 12. Freund / Feind, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsgg. v. Joachim Ritter, Bd. 2, Basel / Stuttgart 1972, Sp. 1104 – 1105. 13. Bemerkungen zur politischen Ideengeschichte, in: AöR 100 (1975), S. 628 – 639. 14. Kampf, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsgg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 4, Basel / Stuttgart 1976, Sp. 685 – 687. 15. Über Gemeinwohlformeln im NS-Recht, in: Die Verwaltung 10 (1977), S. 375 – 382.

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16. Das Problem der cäsaristischen Legitimität im Bismarckreich, in: Der Bonapartismus – Historisches Phänomen und politischer Mythos – 13. deutsch-französisches Historikerkolloquium des Deutschen Historischen Instituts Paris in Augsburg vom 16. bis 30. September 1975, hrsgg. v. Karl Hammer und Peter Claus Hartmann (Beihefte der FRANCIA, hrsgg. v. Deutschen Historischen Institut Paris, Bd. 6), München 1977, S. 77 – 101. 17. Hugo Grotius, in: Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, hrsgg. v. Michael Stolleis, Frankfurt a. M. 1977, S. 51 – 77; 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1987, S. 52 – 77. 18. Wege zum Europäischen Patent- und Markenamt, in: Mitteilungen der deutschen Patentanwälte 71 (1980), S. 2 – 6. 19. Langzeitrisiko und Verfassung, in: Scheidewege 10 (1980), S. 448 – 479. 20. Nietzsche, in: Katholisches Soziallexikon, hrsgg. v. Alfred Klose u. a., 2. Aufl., Innsbruck / Graz 1980, Sp. 1943 – 1948. 21. Rousseau, in: Katholisches Soziallexikon, hrsgg. v. Alfred Klose u. a., 2. Aufl., Innsbruck / Graz 1980, Sp. 2470 – 2475. 22. Legalität / Legitimität, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsgg. v. Joachim Ritter (y) u. Karlfried Gründer, Bd. 5, Basel / Stuttgart 1980, Sp. 161 – 166. 23. Ist die Festlegung auf Kernenergie mit einer freiheitlich-demokratischen Verfassung vereinbar?, in: Atomkraft – ein Weg der Vernunft?, hrsgg. v. Phillip Kreuzer u. a., München 1982, S. 327 – 338. 24. Zur Lehre vom Naturzustand in der Rechtsphilosophie der Aufklärung, in: Rechtsphilosophie der Aufklärung – Symposium Wolfenbüttel 1981, hrsgg. v. Reinhard Brandt, Berlin / New York 1982, S. 12 – 46, und in: Rechtstheorie 13 (1982), S. 226 – 252. 25. Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 41, Berlin / New York 1983, S. 42 – 83. 26. Grundpflichten – Oder: Die vergessene Kehrseite der Medaille, in: Mitteilungen der deutschen Patentanwälte 74 (1983), S. 1 – 4. 27. Atomgesetz und Recht auf Leben und Gesundheit, in: BayVBl. 114 (1983), S. 33 – 38. 28. Von den Ursprüngen deutschen Rechtsstaatsdenkens in der nachchristlichen Sozialphilosophie, in: JuS 24 (1984), S. 9 – 14. 29. Der Einfluß der Großtechnik auf Verwaltungs- und Prozeßrecht, in: Umwelt- und Planungsrecht 1984, S. 73 – 84.

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30. Atomenergie und Grundrechte, in: Energie und Gerechtigkeit, hrsgg. im Auftrag der Studiengruppe Entwicklungsprobleme der Industriegesellschaft (STEIG) e. V. v. Reiner Kümmel u. Monika Suhrcke (Politik-Recht-Gesellschaft, Bd. 6), München 1984, S. 33 – 47; auch in: Recht und Technik im Spannungsfeld der Kernenergiekontroverse, hrsgg. v. Alexander Roßnagel, Opladen 1984, S. 55 – 66. 31. Naturzustand, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsgg. v. Joachim Ritter (y) u. Karlfried Gründer, Bd. 6, Basel / Stuttgart 1984, Sp. 653 – 658. 32. Norm, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsgg. v. Joachim Ritter (y) u. Karlfried Gründer, Bd. 6, Basel / Stuttgart 1984, Sp. 906 – 910. 33. Öffentlich / privat, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsgg. v. Joachim Ritter (y) und Karlfried Gründer, Bd. 6, Basel /Stuttgart 1984, Sp. 1131 – 1134. 34. Kann der Mensch wollen, was er will? Zum Problem von Naturgesetzlichkeit, Willensfreiheit und rechtlicher Verantwortung, in: Wie erkennt der Mensch die Welt? – Grundlagen des Erkennens, Fühlens und Handelns – Geistes- und Naturwissenschaften im Dialog, Symposium der Universität Würzburg, hrsgg. v. M. Lindauer und A. Schöpf, Stuttgart 1984, S. 255 – 275. 35. Parlamentarische Repräsentation in der parteienstaatlichen Demokratie, in: Mitteilungen der deutschen Patentanwälte 76 (1985), S. 110 – 115; auch in: Politik und Kultur 12 (1985) Heft 5, S. 37 – 50. 36. Carl Schmitt oder: Die eigene Frage als Gestalt, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 7 (1985), S. 64 – 68. 37. Das Widerspruchsverfahren, in: System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes – Festschrift für Christian-Friedrich Menger, Köln / Berlin / Bonn / München 1985, S. 605 – 619. 38. Bundesstaatliche Spaltung des Demokratiebegriffs?, in: Festschrift für Karl H. Neumayer, hrsgg. v. Werner Barfuß u. a., Baden-Baden 1985, S. 281 – 298. 39. Verfassungsrechtliche Sicherungen der parlamentarischen Demokratie – Zur Garantie des institutionellen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses, in: Konsens und Konflikt – 35 Jahre Grundgesetz – Vorträge und Diskussionen einer Veranstaltung der Freien Universität Berlin vom 6. bis 8. Dezember 1984, hrsgg. v. A. Randelzhofer und W. Süß, Berlin / New York 1986, S. 267 – 286. 14 Dreier

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40. Biotechnik, Gentherapie, Genmanipulation – Wissenschaft im rechtsfreien Raum? in: Juristenzeitung 41 (1986), S. 253 – 260; auch in: Die Erde unser Lebensraum – Zweites Symposium der Universität Würzburg, hrsgg. v. M. Lindauer und A. Schöpf, Stuttgart 1987, S. 312 – 342. 41. Nachweltschutz als Verfassungsfrage, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 19 (1986), S. 87 – 90. 42. Die WAA Wackersdorf – Gefahren für die Freiheitsrechte? in: Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf: Befürworter und Kritiker im Gespräch; Beiträge und Ergebnisse eines wissenschaftlichen Kolloquiums vom 12. bis 14. Mai 1986 / Evangelische Akademie Tutzing, hrsgg. v. Martin Held, Tutzing 1986, S. 103 – 106. 43. Institution (Rechtlich), in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl., Bd. 3, Freiburg / Basel / Wien 1987, Sp. 102 – 105. 44. Jellinek, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl., Bd. 3, Freiburg / Basel / Wien 1987, Sp. 211 – 214. 45. Die Entwicklung des Grundgesetzes nach 1949, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsgg. v. Josef Isensee und Paul Kirchhof, Bd. I, Heidelberg 1987, S. 259 – 319; 2. Aufl., Heidelberg 1995, S. 259 – 319. 46. Individuum und allgemeines Gesetz. Zur Dialektik in Kleists „Penthesilea“ und „Prinz von Homburg“, in: Kleist-Jahrbuch 1987, S. 137 – 163. 47. Das Verfassungsprinzip der Freiheit, in: Recht und Rechtsbesinnung – Gedächtnisschrift für Günther Küchenhoff (1907 – 1983), hrsgg. v. Manfred Just u. a., Berlin 1987, S. 231 – 242. 48. Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: Die Allgemeinheit des Gesetzes, hrsgg. v. Christian Starck (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen – Phil.-Hist. Kl. – Dritte Folge Nr. 168), Göttingen 1987, S. 9 – 48. 49. Repräsentation in der Staatslehre der frühen Neuzeit – Zur Frage des Repräsentativprinzips in der „Politik“ des Johannes Althusius, in: Politische Theorie des Johannes Althusius, hrsgg. v. Karl-Wilhelm Dahm u. a. (= Rechtstheorie, Beiheft 7), Berlin 1988, S. 513 – 542. Spanische Übersetzung u. d. T. La representación en la teoria del estado premoderna. Sobre el principio de representación en la „política“ de Johannes Altusio, in: Fundamentos Nr. 3 / 2004, S. 37 – 70. 50. Was ist uns Carl Schmitt?, in: Politik, Philosophie, Praxis –, Festschrift für Wilhelm Hennis, hrsgg. v. Hans Maier u. a., Stuttgart 1988, S. 545 – 555.

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51. Natur und Naturschutz im Spiegel des Verfassungsrechts, in: Juristenzeitung 43 (1988), S. 265 – 278; gekürzte Fassung in: Natur in den Geisteswissenschaften I – Erstes Blaubeurer Symposion vom 23. bis 26. September 1987, hrsgg. v. Richard Brinkmann, Tübingen 1988, S. 151 – 179. 52. Person (Rechtsphilosophisch), in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl., Bd. 4, Freiburg / Basel / Wien 1988, Sp. 335 – 339. 53. Schmitt, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl., Bd. 4, Freiburg / Basel / Wien 1988, Sp. 1052 – 1055. 54. Zur Herkunft der Menschenrechtserklärungen, in: Juristische Schulung 28 (1988), S. 841 – 848. 55. „Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist“, in: Geschichte und Kultur des Judentums – Eine Vorlesungsreihe an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, hrsgg. v. Karlheinz Müller und Klaus Wittstadt (= Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg XXXVIII), Würzburg 1988, S. 223 – 240. 56. Der spätmittelalterliche Rechtsbegriff der Repräsentation in Reich und Kirche, in: Der Staat 27 (1988), S. 523 – 545; auch in: Höfische Repräsentation – Das Zeremoniell und die Zeichen, hrsgg. v. Hedda Ragotzky und Horst Wenzel, Tübingen 1990, S. 17 – 42. Italienische Übersetzung u. d. T.: Il concetto giuridico tardo-medievale della rappresentazione nell’ Impero e nella Chiesa, in: Filosofia Politica IV (Bologna 1990), S. 77 – 101. 57. Aufgaben und Grenzen des Staatshandelns unter den Bedingungen der Gegenwart, in: Die Zukunft gestalten – Möglichkeiten und Grenzen realpolitischen Handelns = Veröffentlichungen der Walter-Raymond-Stiftung, Bd. 27, Köln 1988, S. 21 – 46. 58. Die Aufgaben des modernen Staates und der Umweltschutz, in: Umweltstaat, hrsgg. v. Michael Kloepfer, Berlin u. a. O. 1989, S. 1 – 38. 59. Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz (zusammen mit Horst Dreier), in: Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland, hrsgg. v. Hans Peter Schneider und Wolfgang Zeh, Berlin / New York 1989, S. 165 – 197. 60. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789, in: Europa 1789. Aufklärung – Verklärung – Verfall, hrsgg. v. Werner Hofmann, Köln 1989, S. 41 – 45. 14*

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61. Art. Pluriversum, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsgg. v. Joachim Ritter (y) und Karlfried Gründer, Bd. 7, Basel 1989, Sp. 995. 62. Die Grundrechte 1789 – 1949 – 1989, in: Neue Juristische Wochenschrift 42 (1989), S. 3177 – 3187. 63. Die Pflicht des Staates zum Schutz des menschlichen Lebens, in: Viertes Symposium der Universität Würzburg. Woher, Wozu, Wohin? Fragen nach dem menschlichen Leben, hrsgg. v. Winfried Böhm und Martin Lindauer, Stuttgart 1990, S. 196 – 205; auch in: Recht und Kriminalität – Festschrift für Friedrich-Wilhelm Krause, hrsgg. v. Ellen Schlüchter und Klaus Laubenthal, Köln u. a. O. 1990, S. 115 – 122. 64. Über Verfassungsfieber, in: JUS COMMUNE – Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte XVII (1990), S. 310 – 317. 65. Natur- und Umweltschutz, in: Das Grundgesetz – Verfassung des geeinten Deutschland. Perspektiven für Schutz des Lebens, soziale Sicherheit und Bewahrung der Natur, Beiträge von Willi Geiger u. a. = Vorträge und Beiträge der Politischen Akademie der KonradAdenauer-Stiftung e. V. Heft 15, hrsgg. von Klaus Weigelt, Bonn 1991, S. 48 – 62. 66. Gerechtigkeit der privaten und öffentlichen Rechtsverhältnisse durch juristische Amtstätigkeit – Über eine Phänomenologie rechtlicher Urakte und ihrer Geschichte, in: Der Staat 30 (1991), S. 245 – 258. 67. Rechtsphilosophie, in: Orientierung durch Philosophie – Ein Lehrbuch nach Teilgebieten, hrsgg. v. Peter Koslowski, Tübingen 1991, S. 118 – 145. 68. Gebot, Vertrag, Sitte, in: Wissenschaftskolleg zu Berlin – Jahrbuch 1989 / 90, hrsgg. v. Wolf Lepenies, Berlin 1991, S. 62 – 64. 69. Zum Stand des Rechts der atomaren Entsorgung, in: Wissenschaftskolleg zu Berlin – Jahrbuch 1989 / 90, hrsgg. v. Wolf Lepenies, Berlin 1991, S. 273 – 287. 70. Il contenuto politico delle dichiarazoni dei diritti dell’ uomo, in: Filosofia Politica V (Bologna 1991), pp. 373 – 397. Deutsche Fassung u. d. T.: Menschenrechtliche Autonomieansprüche – Zum politischen Gehalt der Menschenrechtserklärungen, in: Juristenzeitung 47 (1992), S. 165 – 173. 71. Vier Erfahrungen des Rechts – vier Zugänge zur Rechtsphilosophie, in: Würde und Recht des Menschen, Festschrift für Johannes Schwartländer, hrsgg. v. Heiner Bielefeldt u. a., Würzburg 1992, S. 81 – 92.

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72. Grundpflichten und Grundrechte, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsgg. v. Josef Isensee und Paul Kirchhof, Bd. V, Heidelberg 1992, S. 321 – 351; 2. Aufl., Heidelberg 2000, S. 321 – 351. 73. Die Legitimität der Legalität und deren Verwaltung, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 13 (1992), S. 294 – 309. 74. Das Versprechen gegenseitiger Achtung. Über das Gebot der Menschenwürde, in: FAZ Nr. 84 v. 10. 4. 1993, Beilage „Bilder und Zeiten“. 75. Technik und Umwelt, in: Handbuch des Verfassungsrechts, hrsgg. v. Ernst Benda, Werner Maihofer, Hans-Jochen Vogel, 2. Aufl., Berlin / New York 1994, S. 1005 – 1038. 76. § 11 Einwendungen Dritter bei Teilgenehmigung und Vorbescheid, in: Gemeinschafts-Kommentar zum Bundes-Immissionsschutzgesetz, hrsgg. v. Hans-Joachim Koch u. Dieter H. Scheuing, Düsseldorf 1994, 18 Seiten. 77. § 8 Teilgenehmigung, in: Gemeinschafts-Kommentar zum BundesImmissionsschutzgesetz, hrsgg. v. Hans-Joachim Koch und Dieter H. Scheuing, Düsseldorf 1994, 1. Ergänzungslieferung 1995, 52 Seiten. 78. § 9 Vorbescheid, in: Gemeinschafts-Kommentar zum Bundes-Immissionsschutzgesetz, hrsgg. v. Hans-Joachim Koch u. Dieter H. Scheuing, Düsseldorf 1994, 1. Ergänzungslieferung 1995, 55 Seiten. 79. § 13 BImSchG (Genehmigung und andere behördliche Entscheidungen), in: Gemeinschafts-Kommentar zum Bundes-Immissionsschutzgesetz, hrsgg. v. Hans-Joachim Koch u. Dieter H. Scheuing, Düsseldorf 1994, 2. Ergänzungslieferung 1996, 34 Seiten. 80. Geschichtlichkeit und Universalitätsanspruch des Rechtsstaats, in: Der Staat 34 (1995), S. 1 – 32; auch in: Der Universalitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaates, ARSP-Beiheft 1996, S. 9 – 32. 81. Development and Crisis of Constitutionalism, in: Christian Starck (Hrsg.), Studies in German Constitutionalism: The German Contributions to the Fourth World Congress of the International Association of Constitutional Law, Baden-Baden 1995, S. 17 – 46. Deutsche Fassung in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1995, S. 155 – 181. 82. Recht, Moral, Ethos, in: Festschrift für Hans Maier zum 65. Geburtstag, Paderborn u. a. O. 1996, S. 171 – 176.

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83. Rechtsdogmatik, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, in: Festschrift für Gerd Roellecke zum 70. Geburtstag, Stuttgart u. a. O. 1997, S. 117 – 130. 84. La dottrina classica del contratto sociale e il „neo-contrattualismo“, in: Filosofia Politica XI (Bologna 1997), pp. 445 – 467. Deutsche Fassung u. d. T.: Die klassische Lehre vom Herrschaftsvertrag und der „Neo-Kontraktualismus“, in: Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, hrsgg. v. Ch. Engel u. M. Morlok, Tübingen 1998, S. 257 – 277. 85. Vielfalt, Sicherheit und Solidarität statt Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, in: Sicherheit, Vielfalt, Solidarität. Ein neues Paradigma des Verfassungsrechts?, hrsgg. v. J. Bizer u. H.-J. Koch, Baden-Baden 1998, S. 101 – 116. 86. Menschenwürde und Naturverständnis in europäischer Perspektive, in: Der Staat 37 (1998), S. 349 – 360. 87. Gerechtigkeitsphilosophie aus Unrechtserfahrung – Zum Gerechtigkeitssinn der Arbeiter im Weinberg, in: Festschrift für Martin Heckel, Tübingen 1999, S. 547 – 562. 88. Perché Carl Schmitt, in: Diritto e cultura IX (1999): Legittimità e legalità in Carl Schmitt – Scritti in onore di Hasso Hofmann, a cura di Agostino Carrino e Roberto Miccú, Edizioni Scientifiche Italiane: Napoli, pp. 5 – 9. 89. Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung?, in: Juristenzeitung 54 (1999), S. 1065 – 1074; auch in: Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts – Gedächtnissymposion für Edgar Michael Wenz, hrsgg. v. Horst Dreier, Tübingen 2000, S. 180 – 205. 90. La fundamentación del Derecho a partir de principios y mediante procedimentos, in: Anuario de Derechos Humanos, Nueva Época, Vol. 1, Mexico 2000, S. 61 – 75. 91. Das Recht des Rechts und das Recht der Herrschaft, in: Die Begründung des Rechts als historisches Problem, hrsgg. v. Dietmar Willoweit, München 2000, S. 247 – 267. 92. Menschenrechte und Demokratie oder: Was man von Chrysipp lernen kann, in: Juristenzeitung 56 (2001), S. 1 – 8, und in: Das Recht des Menschen in der Welt – Kolloquium aus Anlaß des 70. Geburtstags von Ernst-Wolfgang Böckenförde, hrsgg. v. Rainer Wahl und Joachim Wieland, Berlin 2002, S. 31 – 58.

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93. Das Politische in Spinozas „Politischem Traktat“, in: Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach, hrsgg. v. J. Bohnert u. a., Berlin 2001, S. 429 – 453. 94. „Umweltstaat“: Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen und Schutz vor den Gefahren und Risiken von Wissenschaft und Technik in staatlicher Verantwortung, in: Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, hrsgg. v. Peter Badura u. Horst Dreier, 2. Bd., Tübingen 2001, S. 873 – 895. 95. Il diritto e il giusto: la questione della giustizia, in: Filosofia Politica XV (Bologna 2001), pp. 57 – 67. 96. Verfassungsrechtliche Annäherungen an den Begriff des Gemeinwohls, in: Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht, hrsgg. v. Herfried Münkler u. Karsten Fischer, Berlin 2002, S. 25 – 41. 97. Recht und Ethik. Festvortrag zur Eröffnung des 64. Deutschen Juristentages Berlin 2002, in: Verhandlungen des 64. Deutschen Juristentages, hrsgg. von der Ständigen Deputation, Bd. II / 1, München 2002 (tatsächlich: März 2003), S. K 5, S. K 23. 98. Vom Wesen der Verfassung, in: JöR NF 51 (2003), S. 1 – 20. 99. Recht, Politik und Religion, in: Juristenzeitung 58 (2003), S. 377 – 385. 100. Das antike Erbe im europäischen Rechtsdenken – Römische Jurisprudenz und griechische Rechtsphilosophie, in: Ferne und Nähe der Antike, hrsgg. v. Walter Jens u. Bernd Seidensticker, Berlin 2003, S. 33 – 47. 101. Die Entwicklung des Grundgesetzes von 1949 bis 1990, in: Handbuch des Staatsrechts, hrsgg. v. Josef Isenseee u. Paul Kirchhof, Bd. I, 3. Aufl., Heidelberg 2003, S. 355 – 421. 102. „Die Welt ist keine politische Einheit sondern ein politisches Pluriversum“ – Menschenrechte im politischen Pluriversum?, in: Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen – Ein kooperativer Kommentar, hrsgg. v. Reinhard Mehring, Berlin 2003, S. 111 – 122. 103. Bereicherung durch Rechts- und Staatsphilosophie, in: Rechtsgeschichte 3 (2003), S. 166 – 168. 104. I diritti dell’uomo, la sovranità nazionale, la Carta europea dei diritti fondamentali e la Costituzione europea, in: I diritti umani tra politica filosofia e storia, hrsgg. v. Pietro Barcellona u. Agostino Carrino, Bd. 1, Neapel 2003, S. 127 – 144.

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105. Freiheitsrechte und Demokratie, in: I diritti umani tra politica filosofia e storia, hrsgg. v. Pietro Barcellona u. Agostino Carrino, Bd. 2, Neapel 2003, S. 125 – 142. 106. Zu Entstehung, Entwicklung und Krise des Verfassungsbegriffs, in: Festschrift für Peter Häberle, Tübingen 2004, S. 157 – 171. Italienische Fassung u. d. T. Riflessioni sull’origine, lo sviluppo e la crisi del concetto di Costituzione, in: Sui concetti giuridici e politici della Costituzione dell’ Europa, hrsgg. v. Sandro Chignola u. Giuseppe Duso, Mailand 2005, S. 227 – 237. 107. Recht und Staat bei Christian Wolff, in: Juristenzeitung 59 (2004), S. 637 – 643. 108. Verfassung der Freiheit gegen Gentechnik? in: Menschliches Leben – was ist das ? hrsgg. v. Adolf-Arndt-Kreis, Berlin 2004, S. 63 – 72. 109. Änderungen des Grundgesetzes – Erfahrungen eines halben Jahrhunderts, in: Festschrift für Thomas Raiser, Berlin / New York 2005, S. 853 – 864.

III. Besprechungen und Anzeigen 1. Besprechung des Buches „Die Freund-Feind-Theorie Carl Schmitts“ von Mathias Schmitz, in: AöR 91 (1966), S. 407 – 413. 2. Anzeige des Buches „Die Problematik der Reinen Rechtslehre“ von Karl Leiminger, in AöR 94 (1969), S. 507. 3. Anzeige des Buches „Die Reichsstaatsrechtslehre des Johannes Limnaeus“ von Rudolf Hoke, in: AöR 100 (1975), S. 507 – 508. 4. Besprechung des Buches „Rationales Naturrecht als revolutionäre Praxis“ von Jürgen Sandweg, in: AöR 100 (1975), S. 344 – 347. 5. Anzeige des Buches „Die kaiserlichen Wahlkapitulationen“ von Gerd Kleinheyer, in: AöR 100 (1975), S. 347 – 349. 6. Besprechung des Buches „Johannes Popitz und Carl Schmitt – Zur wirtschaftlichen Theorie des totalen Staates in Deutschland“ von Lutz-Arwed Bentin, in: Die Verwaltung 8 (1975), S. 540 – 544. 7. Besprechung des Buches „Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wolffs“ von Hanns-Martin Bachmann, in: DVBl. 93 (1978), S. 650 – 651.

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8. Besprechung des Buches „Verfassungsmischung und Verfassungsmitte – Moderne Formen gemischter Verfassung in der politischen Theorie des beginnenden Zeitalters der Gleichheit“ von Viktor Wember, in: Zeitschrift für Historische Forschung 6 (1979), S. 236 – 238. 9. Anzeige des Buches „Quellen zur Geschichte des Sozialrechts“ von Michael Stolleis, in: AöR 107 (1982), S. 169 – 170. 10. Besprechung des Buches „Repräsentation in der politischen Theorie und Staatslehre in Deutschland – Untersuchung zur Bedeutung und theoretischen Bestimmung der Repräsentation in der liberalen Staatslehre des Vormärz, der Theorie des Rechtspositivismus und der Weimarer Staatslehre“ von Volker Hartmann, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 4 (1982), S. 87 – 89. 11. Besprechung des von Manfred Lurker herausgegebenen Buches „Beiträge zu Symbol, Symbolbegriff und Symbolforschung“, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte XXXVII (1985), S. 361 f. 12. Besprechung des Buches „Jus Publicum – Grundlagen und Entwicklung des öffentlichen Rechts und der deutschen Staatsrechtswissenschaft“ von Dieter Wyduckel, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 8 (1986), S. 202 – 204. 13. Anzeige des Buches „Planfeststellung für die Endlagerung radioaktiver Abfälle“ von Hans-Werner Rengeling, in: AöR 111 (1986), S. 489 f. 14. Besprechung des Buches „Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jh. bis 1806“ von Helmut Quaritsch, in: Zeitschrift für Historische Forschung 18 (1991), S. 101 – 104. 15. Besprechung des von Hans-Christian Lucas und Otto Pöggeler herausgegebenen Buches „Hegels Rechtsphilosophie im Zusammenhang der europäischen Verfassungsgeschichte“, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 13 (1991), S. 218 – 223. 16. Besprechung des Jahrbuchs für Recht und Ethik, hrsgg. von B. Sharon Byrd, J. Hruschka, Jan C. Joerden, Bd. 1 (1993), Bd. 2 (1994), Bd. 3 (1995), in: Theologische Literaturzeitung, 121. Jg. (1996), S. 671 – 758. 17. Besprechung des Buches „Die Repräsentation der Gruppen. Texte – Bilder – Objekte“, hrsgg. v. Otto Gerhard Oexle u. Andrea von Hülsen-Esch, Göttingen 1998, erschienen im Internet.

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Schriftenverzeichnis Hasso Hofmann

IV. Editionen 1. Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, hrsgg. v. Hasso Hofmann, Ulrich Weber und Edgar Michael Wenz, Alfred Metzner Verlag Frankfurt am Main, seit 1990 Nomos-Verlag Baden-Baden; seit 1991 hrsgg. v. Hasso Hofmann, Edgar Michael Wenz und Dietmar Willoweit, Hefte 1, 3 – 14. 2. Ökologie, Ökonomie und Jurisprudenz, hrsgg. v. Edgar Michael Wenz, Otmar Issing u. Hasso Hofmann, München 1987, 143 Seiten. 3. Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen – „Deutsche Politik“. Bearbeitet, eingeleitet und herausgegeben von Hasso Hofmann (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens, Bd. 13), München 2004, 475 Seiten.

Autorenverzeichnis Dreier, Horst, Prof. Dr., geb. 1954 in Hannover; Promotion 1985, Habilitation 1989; seit 1995 Ordinarius für Rechtsphilosophie, Staats- und Verwaltungsrecht an der Bayerischen Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Meyer, Hans, Prof. Dr. Dr. h.c.; geb. 1933 in Aachen; Promotion 1967, Habilitation 1971; seit 1996 Inhaber des Lehrstuhls für Staats-, Verwaltungs- und Finanzrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Schlink, Bernhard, Prof. Dr.; geb. 1944 in Großdornberg; Promotion 1975, Habilitation 1981; seit 1992 Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Schmidt-Aßmann, Eberhard, Prof. Dr. Dr. h.c.; geb. 1938 in Celle; Promotion 1966, Habilitation 1971; seit 1979 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbes. allgemeines und besonderes Verwaltungsrecht an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Stolleis, Michael, Prof. Dr. Dres. h.c.; geb. 1941 in Ludwigshafen / Rh.; Promotion 1967, Habilitation 1973; seit 1974 auf einer Professor für Öffentliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte an der Johann Wolfgang Goethe–Universität Frankfurt a.M.; seit 1992 Direktor am dortigen MaxPlanck-Institut für europäische Rechtsgeschichte. Wahl, Rainer, Prof. Dr., geb. 1941 in Heilbronn; Promotion 1969, Habilitation 1976; seit 1978 Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Verwaltungswissenschaft, Neuere Verfassungsgeschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.