Recht und Kultur: Drei Reden [1 ed.] 9783428532032, 9783428132034

Recht ist eine soziale Technik zur Ordnung der Gesellschaft sowie zur Vermeidung und Lösung sozialer Konflikte. Als solc

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Recht und Kultur: Drei Reden [1 ed.]
 9783428532032, 9783428132034

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 55 HASSO HOFMANN

Recht und Kultur Drei Reden

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Hasso Hofmann

Recht und Kultur

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 55

Recht und Kultur Drei Reden

Von

Hasso Hofmann

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-13203-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Recht ist eine soziale Technik zur Ordnung der Gesellschaft und zur Vermeidung und Lösung sozialer Konflikte und muss als solche begriffen und gepflegt werden. Recht ist aber auch Ausdruck der Vorstellungswelt einer Gesellschaft vom Notwendigen und Richtigen und verlangt insofern geisteswissenschaftliches Verständnis. Darum vor allem hat sich der Verfasser von jeher bemüht. Der erste der drei folgenden Texte – in mehreren Jahren gereift – ist eine Art Resümee und hat eine längere Vorgeschichte. Im Kern geht er auf einen Vortrag zurück, den der Verfasser am 17. 11. 2005 in der Universität Bayreuth gehalten hat. Nachdem einzelne Teile am 2. Februar 2006 in der Universität Passau zur Diskussion gestellt worden waren, bildete die detaillierte Ausarbeitung einiger Partien die Grundlage für einen Beitrag des Verfassers zu dem Geburtstagssymposion zu Ehren von Prof. Dr. Rainer Wahl am 7. Juli 2006 in Freiburg / Br. (Dieser Vortrag ist mit Belegen unter dem Titel „Methodische Probleme der juristischen Menschenwürdeinterpretation“ in der Festschrift für Rainer Wahl erschienen: Mensch – Staat – Umwelt, hg. v. I. Appel u. G. Hermes [Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte, Bd. 48], Berlin 2008, S. 47 – 78.) Eine thematisch erweiterte, inhaltlich dafür komprimiertere Fassung hat der Autor am 13. April 2007 bei den „Dritten Berliner Gesprächen über das Verhältnis von Staat, Religion und Weltanschauung“ vorgetragen, die die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung und die Humanistische Union in Potsdam veranstaltet haben. (Die Bürgerrechtsorganisation „Humanistische Union“ sollte übrigens nicht mit dem „Humanistischen Verband“, einer Weltanschauungsgemeinschaft, verwechselt werden.) Ein Redemanuskript ist unter dem Titel „Christlich-weltanschauliche Traditionen

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Vorwort

und Verfassungswerte“ in den Protokollen der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung gedruckt worden: Religionen – Weltanschauungen – Grundrechte, hg. v. M. Weyrauch u. R. Will, 2008, S. 15 – 27. Für den Abdruck in dieser Sammlung ist die Rede geringfügig überarbeitet und mit Belegen versehen worden. Entsprechend der Vorgeschichte stimmt er in einzelnen Partien mit dem Text in der Festschrift für R. Wahl überein. Im Hinblick auf die Verschiedenheit der Perspektiven und der Kontexte mag man dem Verfasser die teilweise Wiederholung nachsehen. Die zweite Rede ist eine geistesgeschichtliche Betrachtung der zweiten Ebene: Sie beobachtet die Entwicklung einer bestimmten geisteswissenschaftlichen Deutung des Rechts. Anlass war die Einladung, beim 37. Deutschen Rechtshistorikertag, der vom 7. bis 11. September 2008 in Passau stattfand, den Eröffnungsvortrag zu halten. Das Generalthema der Tagung – „Europa und Ostasien“ – regte den Verfasser an, ein darauf bezogenes Zitat aus Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte als Überschrift zu wählen und das Thema von daher zu entfalten. Eine Druckfassung mit Belegen ist in der JuristenZeitung erschienen: „In Europa kann’s keine Salomos geben.“ – Zur Geschichte des Begriffspaars Recht und Kultur (JZ 64 [2009], S. 1 – 10). Über „Recht, Politik und Religion“ hat der Verfasser bei einer den verschiedenen Facetten des Themas „Recht und Politik“ gewidmeten Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie am 28. 9. 2002 in Frankfurt (Oder) gesprochen. Veröffentlicht ist der Vortrag mit Belegen in der JuristenZeitung 58 (2003), S. 377 – 385. Den Anstoß für diese Überlegungen hatte die Friedenspreisrede von Jürgen Habermas im Jahr zuvor (2001) in Frankfurt / Main gegeben: Glauben und Wissen, 2001. Bei diesem Text handelt es sich um einen Versuch, die beiden eingangs genannten Sichtweisen auf das Recht miteinander zu verbinden. Würzburg, 4. August 2009

H. H.

Inhaltsverzeichnis Unsere Verfassungswerte und die christlich-weltanschaulichen Traditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Freiheit und Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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„In Europa kann’s keine Salomos geben.“ – Zur Geschichte des Begriffspaars Recht und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Emanzipation des Kulturbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Das Recht und die anderen „Kulturgebiete“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Kulturphilosophie als Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 5. Verfassungsrecht und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

6. Schluss: Der Cultural Turn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Recht, Politik und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Die normative Struktur des Problemfelds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Wiederkehr des Religiösen in der säkularisierten Gesellschaft

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4. Bewährung der weltanschaulich neutralen Verfassungsordnung . .

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Unsere Verfassungswerte und die christlich-weltanschaulichen Traditionen 1. Einleitung Unter dem Begriff der Verfassungswerte geht es um jene Güter, welche die in den Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts entwickelten Verfassungen in ihren besonderen Schutz genommen haben, nämlich Leben, Freiheit, Gleichheit, Eigentum, dazu in der jüngeren Verfassungsgeschichte Menschenwürde und soziale Gerechtigkeit als Kern des Sozialstaatsgedankens. Das Thema wirft die Frage nach dem Verhältnis dieser verfassungsrechtlichen Hochschätzungen zu den christlich-weltanschaulichen Traditionen auf, von denen sie in einer näher zu bestimmenden Weise, wenn nicht geprägt, so doch jedenfalls beeinflusst worden sind. Weil dabei offenkundig auch antikes Erbe mit im Spiel ist, führt eine solche Spurensuche auf mehr oder minder verschlungenen Wegen weit zurück. Zur Illustration mag hier vorab schon der Begriff der Humanität dienen, dem die Bürgerrechtsorganisation „Humanistische Union“ verpflichtet ist. Entwickelt hat diesen Inbegriff der Fähigkeit des Menschen, sein Leben nach seiner Vernunft zu gestalten, im zweiten vorchristlichen Jahrhundert der griechische Philosoph Panaitios, der die Lehre der Stoa nach Rom brachte1; verbreitet hat ihn Cicero. Tertullian, der 1 Dazu und zum Folgenden L. Labowsky, Der Begriff des Prepon in der Ethik des Panaitios, Diss. Hamburg 1934, S. 1 f.; R. Newald, Humanitas, Humanismus, Humanität, 1947, S. 14 f., 20 ff., 27 ff., 35 ff., 52 ff.; F. Klingner, Römische Geisteswelt, 5. Aufl. 1965, S. 159; Brandt, Tertullians Ethik, 1929; J. Flamant, Die Anfänge der lateinischen christlichen Literatur, in: Die Geschichte des Christentums, dt. Ausg. hg. v. N. Brox

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Verfassungswerte und Traditionen

älteste und einer der originellsten Kirchenschriftsteller des lateinischen Westens, ursprünglich ein Stoiker, hat ihn übernommen. Der Moderne ist er vor allem durch die italienische Renaissance des Tre- und des Quattrocento vermittelt worden. Seine pädagogisch-ästhetische Akzentuierung verdankt sich der künstlerischen Blütezeit des Neuhumanismus. Soweit diese kleine Kostprobe. Bloß von historischem Interesse sind solche Aufhellungen freilich nicht. Es geht stets auch um ein Stück Interpretationsmacht über die Verfassungswerte. So ist immer wieder behauptet worden, die Menschenwürde sei ein genuin christlicher Gedanke, folglich könne die entsprechende Verfassungsgarantie auch nur von daher authentisch interpretiert werden. Für das Verhältnis von christlich-weltanschaulichen Traditionen und Verfassungswerten dürfte die Überprüfung dieser These besonders aufschlussreich sein. Den Anfang sollen jedoch einige Bemerkungen zur Genealogie der Begriffe Freiheit und Gleichheit und zur Entwicklung des Lebensschutzes machen. Am Ende des Ganzen wird der Versuch stehen, Schlussfolgerungen zu ziehen.

2. Freiheit und Gleichheit Die Verfassungswerte Freiheit und Gleichheit pflegen in einem Atemzug genannt zu werden. Das entspricht der aufklärerischen Tradition, die in den revolutionären Rechteerklärungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts ihren Niederschlag gefunden hat. „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es“, beginnt in einem „vagen Rousseauismus“2 Art. 1 der berühmten französischen Menschenrechtserklärung von 1789. Freiheit und Gleichheit, miteinanu. a., Bd. 1, 2003, S. 948 f.; R. Rieks, Homo, humanus, humanitas, 1967, S. 13 ff., 257 f.; W. Rüegg, Cicero und der Humanismus, Zürich 1946. 2 Formulierung in Anlehnung an J. Starobinski, Das Pathos der Erneuerung. Rousseauismus der Menschenrechte, in: FAZ Nr. 158 v. 12. 7. 1989.

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der aus demselben Mutterschoß der Natur hervorgegangen, bleiben nach jener Déclaration politisch einander verbunden. Denn die Freiheit findet ihre Grenzen allein an den Gesetzen (Art. 4), und deren Festlegung ist – direkt oder indirekt durch Repräsentanten – nach Art. 6 die Sache aller in gleicher Weise. Diese politische Verklammerung von Freiheit und Gleichheit durch Teilhabe am Gemeinwesen ist altes Erbe republikanischen Denkens. Nicht von ungefähr haben die französischen Revolutionäre mit dem idealistisch überhöhten Andenken an die römische Republik einen großen Kult betrieben3. Die antiken Bürger waren in gleicher Weise frei, soweit sie als Vollbürger Anteil hatten an einem Gemeinwesen, das frei von Tyrannei und Fremdherrschaft war. Die Vorstellung individueller Grundrechte gegen die Polis, gegen den „Staat“, fehlte dagegen völlig. Solche Rechte hatten die Bürger nicht, und die Sklaven erst recht nicht. Zwar haben die römischen Juristen von den stoischen Philosophen gelernt, dass die Menschen von Natur aus frei und die Sklaverei folglich gegen die Natur sei, haben aber doch gleichzeitig die Sklaverei mit dem ius gentium, also den bei allen zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen gerechtfertigt4. Auch die stoischen Philosophen selbst zogen aus ihrer Lehre von der natürlichen Freiheit und Gleichheit aller über das moralische Gebot mitmenschlicher Behandlung der Sklaven hinaus keine sozialen und politischen Konsequenzen. Vielmehr entwickelten sie eine Philosophie der inneren Freiheit. Die innere Freiheit, und nur sie, war auch das Thema der frühen christlichen Theologen des griechischen Ostens, die unter dem Einfluss der Platonischen Philosophie standen. Wir werden ihnen im Zusammenhang mit der Genealogie der Menschenwürde noch einmal begegnen. 3 Dazu E. Schulin, Die Französische Revolution, 1988, S. 230: Antike als „Ersatzreligion“. 4 Dazu jetzt eingehend O. Behrends, Das Geheimnis des klassischen römischen Rechts – Menschliche Freiheit und Würde in schützenden, friedlichen Wettbewerb erlaubenden Formen, in: Law, Peace and Justice, ed. Byong Jo Choe, Seoul 2007, S. 3 (8 ff., 13 ff., 40 ff.).

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Verfassungswerte und Traditionen

In der deutschen Tradition zeigt sich das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit nicht ebenso harmonisch wie im altrepublikanisch-französischen Modell. Bei uns herrscht eher Dissonanz. Was der ehemalige Verfassungsrichter Gerhard Leibholz vor gut 50 Jahren geschrieben hat, bringt einen weithin bemerkbaren Grundzug deutscher Staatsanschauung zum Ausdruck: „Liberalismus und Demokratismus (sind) letzthin an verschiedenen politischen Grundwerten orientiert . . . Liberale Freiheit und demokratische Gleichheit stehen nicht zueinander in einem Verhältnis wechselseitiger natürlicher Harmonie. So wie liberale und soziale Grundrechte stehen liberale Freiheit und demokratische Gleichheit in Wirklichkeit zueinander im Verhältnis einer letzthin unaufhebbaren Spannung. Freiheit erzeugt zwangsläufig Ungleichheit und Gleichheit notwendig Unfreiheit.“5 Ursache dieser Dissonanz ist offenkundig ein anderer, nicht in der res publica, sondern im Individuum zentrierter Freiheitsbegriff. Von daher werden rechtliche Regelungen von vornherein nicht als Ermöglichungsbedingungen von Freiheit, sondern als deren Einschränkungen verstanden. Die Genealogie führt auch hier auf die Philosophie der Stoa zurück. Im Gegensatz zur klassischen Aristotelischen Philosophie der geschlossenen, in sich gestuften und, wie wir heute sagen würden, kommunitaristischen Polis, war sie, die Ethik der Stoa, universal, egalitär und individualistisch6. Sie zielte auf die Unerschütterlichkeit und innere Unabhängigkeit der moralisch selbstbestimmten Person. Dieser Tugend der Selbstbehauptung korrespondierte die stoische Oikeiosis- oder Aneignungslehre7. Sie besagt, dass 5 G. Leibholz, Der Strukturwandel der modernen Demokratie (1952), in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Aufl. 1967, S. 78 (88). 6 Dazu vom Verf., Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, 4. Aufl. 2008, S. 87 ff. 7 Dazu jetzt Chang-Uh Lee, Oikeiosis – Stoische Ethik in naturphilosophischer Perspektive, 2002; Ch. Horn, Die stoische oikeiosis als Konzeption gelingender Lebensführung und als Moraltheorie, in: Denkformen – Lebensformen, hg. v. T. Borsche, 2003, S. 95 ff.

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der für das naturgemäße Leben maßgebliche Naturtrieb der Selbsterhaltung beim Menschen nicht nur das Streben nach dem Glück des tugendhaften, naturgemäß-vernünftigen Lebens trägt, sondern auch das damit verbundene Streben nach allen Dingen, die seine seelische und leibliche Befindlichkeit fördern. So sie sich denn bieten – man soll ihnen also nicht nachjagen –, wählt er je nach den Umständen die ihm gemäß seiner Eigenart zukommenden Dinge aus und eignet sie sich an. Unter weniger beschaulichen Umständen, weniger bescheiden, weniger in sich gekehrt, weniger sanftmütig, den Blick mehr nach außen als auf das innere Glück des Weisen gerichtet, kann jene Lehre von der Selbsterhaltung dann neustoisch auch folgendermaßen lauten: „Das natürliche Recht . . . ist die Freiheit eines jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignetste Mittel ansieht.“

So steht es in dem staatsphilosophischen Riesenwerk „Leviathan“ von Thomas Hobbes aus der Zeit der englischen Bürgerkriege8. Es ist dies ein Schlüsseltext für das neuzeitliche politische Denken, auch wenn der Leviathan Staat, ist er einmal aus dem Unterwerfungsakt seiner ursprünglich grenzenlos freien Untertanen hervorgegangen, keine Grundrechte oder andere Machtschranken kennt. Das revolutionär Neue liegt im methodischen Individualismus dieser Staatskonstruktion, die nur noch das Eigeninteresse der Individuen und den Willen der Einzelnen als Rechtfertigungsgrund staatlicher Herrschaft anerkennt9. In diesem neuartigen Spannungsver8 Th. Hobbes, Leviathan (1651), Kap. XIV. Zitiert. nach der Übers. v. W. Euchner, hg. v. I. Fetscher, 1966, S. 99. Zu der verwickelten Diskussion des Verhältnisses von antiker Stoa und dem Neustoizismus im Blick auf Hobbes G. Abel, Stoizismus und Frühe Neuzeit, 1978, S. 23 ff., 35 ff. 9 Dazu vom Verf., Die klassische Lehre vom Herrschaftsvertrag und der „Neo-Kontraktualismus“, in: Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, hg. v. Ch. Engel u. M. Morlok, 1998, S. 257 (258 ff.).

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hältnis von persönlicher Freiheit und staatlicher Herrschaft verlangt der Begriff der Freiheit alsbald nicht nur den Schutz durch staatliche Allgewalt vor den Schrecken eines gesetzlosen Zustands wie bei Hobbes, sondern auch Schutz vor ihr im staatlichen Zustand durch Anerkennung fundamentaler Freiheitsrechte. Den epochalen Wendepunkt markiert die Unabhängigkeitserklärung der amerikanischen Revolutionäre oder genauer gesagt: der nordamerikanischen Sezessionisten von 1776: „Folgende Wahrheiten“, verkündeten sie unter Berufung auf den christlichen Schöpfergott, „erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; dass, wenn immer irgendeine Regierungsform sich als diesen Zielen abträglich erweist, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen usw.“ Jene „Wahrheiten“, auf die sich die Verfasser beriefen, sind die Lehren der Aufklärungsphilosophie, namentlich diejenigen von John Locke, der schon reichlich 80 Jahre früher, zur Zeit der unblutigen und daher glorreich genannten Revolution von 1688 für das, was man die rechtliche „Urausstattung“ des Menschen nennen könnte, die Formel life, liberty, property geprägt hatte10. John Locke, dieser Erzvater des Liberalismus und des „Besitzindividualismus“, wusste freilich noch, dass das Recht notwendige Bedingung der Freiheit ist: Where there is no Law, there ist no Freedom. Die erwähnte scharfe Antithese von Freiheit und notwendig egalisierender Rechtsetzung 10 Hierzu und zum Folgenden Verf., Einführung (N 6), S. 156 ff.; im einzelnen klassisch C. B. Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism (1962), dt. u. d. T. Die politische Theorie des Besitzindividualismus, 1967. Siehe jetzt U. Steinvorth, Stationen der politischen Theorie, 2. Aufl. 1983, S. 55 ff.

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als prinzipieller Freiheitsbeschränkung zeigt sich erst im Liberalismus des 19. Jahrhunderts, bei John Stuart Mill vor allem11. Daneben gab es eine Einstellung, die sich aus der kritischen Beobachtung des Verlaufs der Französischen Revolution gespeist haben mag. Goethe hat sie in die Worte gefasst: „Gesetzgeber oder Revolutionärs, die Gleichsein und Freiheit zugleich versprechen, sind Phantasten oder Charlatans.“ Jedenfalls erwies sich dieser negative, bloß abwehrende Begriff der Freiheit gegenüber der älteren Tradition des positiven, auf Teilhabe am Politischen, Freiheit und Gleichheit in der repräsentativen Gesetzgebung versöhnenden Freiheitsbegriffs in den modernen zentralistischen Flächenstaaten als der stärkere. Im Wesentlichen dominierte er auch das Verständnis der einflussreichen Freiheitsphilosophie Kants, obwohl darin noch Elemente der positiven republikanischen Freiheitsphilosophie aufleuchten. Denn die Freiheit ist bei Kant schon im Ansatz durch die Freiheit der anderen beschränkt, wie sie in „einem möglichen allgemeinen Gesetz“ zusammen bestehen können12. Demnach ist die Gleichheit, wie sie im allgemeinen Gesetz mitgedacht wird, das zweite Prinzip des bürgerlichen Zustands. Ansatzweise ist damit auch die notwendige, aber unvermeidlich bloß repräsentative Mitwirkung aller an der Gesetzgebung berührt. Doch bleibt die Gleichheit bei Kant dann doch die rechtliche Gleichheit der Untertanen, eingeschränkt dazu durch das Erfordernis der Selbständigkeit, das Bediensteten und Eigentumslosen die aktiven Bürgerrechte verwehrte (die Möglichkeit des Aufstiegs freilich nicht ausschloss)13. 11 J. St. Mill, On Liberty (1859), dt. u. d. T. Die Freiheit, hg. v. A. Grabowsky. 4. Aufl. 1965. 12 I. Kant, Metaphysik der Sitten. Einleitung in die Rechtslehre § B; ders., Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. II. Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis im Staatsrecht (Gegen Hobbes): „Recht ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetz möglich ist.“ Werke , Ed. Weischedel, Bd. 9 (2. Aufl. 1964), S. 144. 13 I. Kant, Metaphysik der Sitten. Rechtslehre § 46.

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Kern des Verfassungswerts der negativen, abwehrenden, das Individuum schützenden Freiheit, also der Freiheit im Sinne individueller Selbstbestimmung, ist die Glaubens- und Gewissensfreiheit14. Sie beschränkt nicht nur die staatliche Gewalt, sondern untergräbt auch deren Rechtfertigung aus dem Absolutheitsanspruch einer bestimmten Glaubensüberzeugung. Zwar führte dieser Gedanke keineswegs umstandslos und direkt zur Statuierung der Glaubensfreiheit eines jeden und auch nicht schnurstracks zur weltanschaulichen Neutralität des Staates. Religionsfreiheit bestand zunächst in der Freiheit der zwei, dann der drei großen Religionsparteien, der Katholiken, Lutheraner und Calvinisten. Über die Glaubenszugehörigkeit entschieden vor allem die Landesherren und Städte für ihre Untertanen und Bürger. Dieses im Augsburger Religionsfrieden von 1555 etablierte Bestimmungsrecht (cuius regio, eius religio) wurde durch den Westfälischen Frieden ein knappes Jahrhundert später mit der Fixierung des Bekenntnisstandes auf das sog. „Normaljahr“ 1624 wieder eingeschränkt. Obrigkeiten, die auf diese Weise durch die Aufhebung von politischen Bekenntnisentscheidungen nach diesem „Normaljahr“ unversehens zu andersgläubigen Untertanen kamen, mussten deren Gewissensfreiheit respektieren, ihnen Hausandachten und gegebenenfalls die Auswanderung gestatten. Gleichwohl erstarkten die absolutistischen Herrschaften in diesen Auseinandersetzungen, weil sie die weltliche Hoheit über die religiösen Angelegenheiten erlangten. Die Konfessionalisierung der Staatsgewalt unter dem Vorbehalt gewisser religiöser Duldungen erwies sich als ein folgenreicher Schritt zur Säkularisierung des Staates. Ihr korrespondiert der Weg von der religiösen Duldung zur Anerkennung der Religionsfreiheit. „Toleranz“, sagte schon Goethe, „sollte eigentlich nur 14 Diese Feststellung ist nicht gleichbedeutend mit G. Jellineks These, dass die Glaubensfreiheit historisch den Ur-Typ und die Keimzelle der Menschenrechte darstelle. Dazu H. Hofmann, Zur Herkunft der Menschenrechtserklärungen, in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 3 (13). Zum Folgenden siehe die Hinweise bei dems., Recht, Politik und Religion (2003), jetzt in diesem Bd. unter III., S. 65 ff.

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eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ Heute ist die Glaubens- und Religionsfreiheit fraglos eine notwendige Bedingung der modernen Staatlichkeit. Nach der mittelalterlichen Trennung des geistlichen und des weltlichen Bereichs, die bekanntlich nicht alle Kulturen kennen, haben wohl hauptsächlich die Glaubensspaltung und deren Folgen zu diesem Ergebnis geführt. Eine politische Befriedung ist damit jedoch nicht unbedingt und für alle Fälle erreicht. In scheinbar paradoxer Weise geraten jetzt manche Glaubensrichtungen in Opposition zu eben diesen Funktionsbedingungen des Verfassungsstaates, die doch zugleich ihre Freiheit sichern. Das ist freilich gar nicht so verwunderlich. Man erinnere sich nur, welche enormen Schwierigkeiten die katholische Kirche mit der Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution hatte15. Über Generationen galt ihr jene Déclaration als Teufelswerk. Gewiss: da spielte die Religions- und Kirchenfeindlichkeit der französischen Aufklärung eine aufreizende Rolle. Dergleichen Radikalität war den deutschen Aufklärern wie den amerikanischen Rebellen fremd. Aber allein in der historisch gewachsenen Kirchenfeindschaft in Frankreich lag die Ursache des kirchlichen Widerstandes nicht. Letztlich war es die für die Kirche mit ihrem absoluten Wahrheitsanspruch unerträgliche Proklamation der Glaubensfreiheit. Mit ihr hat die katholische Kirche denn auch erst auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 ihren Frieden gemacht, unter hörbarem konservativen Zähneknirschen. In solche Schwierigkeiten kommt jede religiöse Richtung, die für ihre das private und das öffentliche Leben ihrer Anhänger erfassenden Lehren einen absoluten Wahrheitsanspruch erhebt, wenn das Gemeinwesen nicht ihr, sondern einer anderen oder überhaupt keiner derartigen Lehre folgt. Vielleicht ist für eine solche Gruppe ein religiös-welt15 Dazu J. Isensee, Die katholische Kritik an den Menschenrechten, in: Menschenrechte und Menschenwürde, hg. v. E.-W. Böckenförde u. R. Spaemann, 1987, S. 138 ff.; R. Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, 2005.

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anschaulich neutraler, in ihren Augen also „gottloser“ Staat noch schwerer zu ertragen als ein Staat der „falschen“ Gottesverehrung. 3. Leben Was den Verfassungswert „Leben“ betrifft, so ist heute die Frage heftig umstritten, von welchem Zeitpunkt an der verfassungsrechtliche Schutz das werdende Leben erfasst. Dass Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in einer Vorwirkung (wie immer man sie begründen mag), schon den Embryo schützt, steht fest16. Die Frage ist nur, ob die Garantie bereits ab der Verschmelzung von Ei und Samenzelle oder erst ab Nidation, der Einnistung des befruchteten Eis in die Schleimhaut der Gebärmutter, oder von einem noch späteren Zeitpunkt der Schwangerschaft an gilt. Das Bundesverfassungsgericht scheint der erstgenannten Auffassung zuzuneigen. Jedenfalls hat es in seiner zweiten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch von 1993 den bedeutungsschweren Satz aufgestellt, dass das menschliche Leben sich von seiner individuellen genetischen Bestimmung an – und die wird weithin, auch wenn das so nicht stimmt, mit der Befruchtung angesetzt – nicht zum Menschen, sondern als Mensch entwickle17. Das klingt wie ein Zitat und in gewisser Weise ist es das auch. Denn das Gericht beschwört damit eine bestimmte Position in einem naturphilosophischen Streit, der das Abendland in verschiedenen Versionen seit der Antike beschäftigt hat. Die Ausgangslage: In der Antike und im mittelalterlichen weltlichen Recht gab es ursprünglich kein allgemeines Abtrei16 Siehe statt aller H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 2 II Rn. 26. Dazu H. Dreier, Stufungen des vorgeburtlichen Lebensschutzes, in: ZRP 2002, S. 377 ff.; R. Merkel, Forschungsobjekt Embryo, 2002, S. 143 ff., 171 ff., 186; E. Hilgendorf, Stufungen des vorgeburtlichen Lebens- und Würdeschutzes, in: Recht und Ethik in der Präimplantationsdiagnostik, hg. v. A. Gethmann-Siefert u. S. Juster, 2005, S. 115 ff. 17 BVerfGE 88, 203 (251 f.).

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bungsverbot18. Der Fetus hatte keinen eigenen Rechtsstatus. Folglich hatte die Abtreibung nur dann Rechtsfolgen, wenn sie zum Tod der Schwangeren führte, gegen den Willen des Vaters geschah und damit die väterliche Gewalt verletzte oder – in gemeingefährlicher Weise – mit Giftmischerei verbunden war. Eine grundsätzliche Änderung dieser Einstellung bewirkte die Übersetzung von 2. Mose 21, 22 – 23 ins Griechische im Rahmen der sog. Septuaginta. Das Werk der angeblich 70 Übersetzer (daher der Name) entsprach einem Bedürfnis des Diasporajudentums, in dem man nicht mehr genug Hebräisch verstand, sondern im griechischen Kontext lebte. Diese aus praktischen Bedürfnissen des Kultus entstandene Übersetzung war aber nicht nur eine philologische Übertragung, sondern bewirkte darüber hinaus eine Hellenisierung des Textes im Ganzen19. In Luthers Übersetzung lautet die ursprüngliche hebräische Fassung: „Wenn Männer hadern und verletzen ein schwangeres Weib, dass ihr die Frucht abgeht, und ihr kein Schade widerfährt, so soll man ihn um Geld strafen, wie viel des Weibes Mann ihm auferlegt, und er soll’s geben nach der Schiedsrichter Erkennen. Kommt ihr aber ein Schade daraus, so soll er lassen Seele um Seele.“

Nach der Septuaginta aber greift das ius talionis, die Vergeltung mit Gleichem, nicht nur, wenn die Schwangere zu Tode kommt, sondern bereits dann, wenn der abgetriebene Fetus menschliche Züge aufweist – ein paidion exeikonismenon ist, wie es im griechischen Text heißt, also ein ausgebildetes Menschlein (praktisch meinte das die Ausformung der Gliedmaßen) – , während es sonst für den nicht ausgebildeten Fetus beim Schadensersatz bleibt20. Damit wird der Embryo selbst zum ersten Mal Schutzgut. Zugleich entsteht das Urmuster aller im Einzelnen freilich sehr unterschiedlichen „Fristenlö18 Dazu G. Jerouschek, Lebensschutz und Lebensbeginn – Kulturgeschichte des Abtreibungsverbots, 1988, S. 20 ff., 62 ff. 19 Dazu M. Rösel, Übersetzung als Vollendung der Auslegung – Studien zur Genesis-Septuaginta, 1994. 20 Jerouschek (N 18), S. 28 ff.

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sungen“ im Sinne zeitlicher Abstufungen des Schutzes. Im Prinzip entspricht das der Aristotelischen Lehre von der „Sukzessivbeseelung“. Sie besagt, dass gemäß dem langsamen Aufbau aller organischen Komplexe auch das Wesen des Menschen sich nicht sofort bei der Befruchtung auspräge. Vielmehr erfolge die Formung oder Beseelung des Embryos 40 oder 90 Tage später, je nachdem, ob es sich um einen männlichen oder weiblichen Fetus handelt. Und dieser Vorgang – als sozusagen stufenweise Ausbildung von vegetativer, animalischer und geistiger Struktur der einen Seele gedacht21 – ist verkürzt und vergröbert als „Drei-Seelen-Lehre“ bekannt geworden. Die Auffassung, dass der Embryo erst im Verlauf seiner Entwicklung zum Menschen heranreife, bestimmte auch die von Augustin und Thomas von Aquin geprägte mittelalterliche Tradition. Aristoteles folgend lehrt Thomas von Aquin: embrio antequam habeat animam rationalem non est ens perfectum22. Oder kurz: Der noch nicht (vollständig) beseelte Embrio ist kein Mensch. Hier gründet die kanonische Rechtstradition23 und ihr folgt mit maßgeblicher Wirkung nun auch für das weltliche Recht Kaiser Karls V. Peinliche Gerichtsordnung von 1532, die sog. Carolina. Deren Art. 133 stellt alle Abtreibungen unter Strafe, unterscheidet aber im Sinne der Tradition, ob „eyn lebendig kindt“ oder „eyn Kind, das noch 21 Dazu E. Lesky, Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken, 1950, S. 1358 ff., 1365 ff.; F. Inciarte, Der Begriff der Seele in der Philosophie des Aristoteles, in: Seele, hg. v. K. Kremer, 1984, S. 46 (48, 53 ff.). 22 Thomas von Aquin, Quaestiones Disputatae de potentia qu. 3 a. 3. Dazu H. Cassirer, Aristoteles’ Schrift „Von der Seele“ und ihre Stellung innerhalb der aristotelischen Philosophie, 1932, S. 26 ff., 57 ff., 192 f.; A. Mitterer, Die Zeugung der Organismen, insbesondere des Menschen, nach dem Weltbild des Hl. Thomas von Aquin und dem der Gegenwart, 1947, S. 169 f.; J. Hirschberger, Seele und Leib in der Spätantike, 1969, S. 9 f.; J. Mundhenk, Die Seele im System des Thomas von Aquin, 1980, S. 68 ff., 76 ff.; W. Kluxen, Seele und Unsterblichkeit bei Thomas von Aquin, in: Seele (N 21), S. 66 (76 ff.). 23 Dazu G. Jerouschek, Mittelalter – Antikes Erbe, weltliche Gesetzgebung und kanonisches Recht, in: Geschichte der Abtreibung, hg. v. R. Jütte, 1993, S. 44 (58 ff.).

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nit lebendig wer“, abgetrieben wurde, und bedroht nur den erstgenannten Fall mit der Todesstrafe. Das entspricht also der Septuaginta-Übersetzung des Alten Testaments: Ein nur eingeschränkter Schutz des Embryos, der noch nicht voll ausgebildet ist, ein starker Schutz für den ausgebildeten Fetus. Es gab allerdings von Anfang an einen geistigen Kontrapunkt. Für ihn steht ein Mann, der uns schon begegnet ist: Tertullian. In einem zeittypischen Streit gegen die Neuplatoniker und die Gnostiker betonte er die Bedeutung des Körperlichen. Alles Wirkliche sei körperlich – auch Gott. Daher betont er in seiner Schrift De anima auch die Körperlichkeit der Seele in der Gestalt des Leibes. Die Seele, heißt es, werde zusammen mit dem Leib „empfangen, ausgebildet, vollendet“24. Diese keineswegs spezifisch christliche Vorstellung, dass der Organismus aus seiner im Keim bereits fertigen verkleinerten Form erwächst, geht nach dem Zeugnis des Aristoteles auf den von ihm kritisierten Anaxagoras, Philosoph des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, zurück25. Mikroskopische Entdeckungen und mechanisches Denken brachten diese Auffassung im 17. Jahrhundert zur Blüte. Leibniz prägte dafür den Begriff der Präformation, also der Vorformung des vollständigen Organismus bereits im Keimling26. Und er unterstrich diese Vorstellung im Hinblick auf die Bedeutung, die sie für eine mechanische Deutung der organischen Entwicklungen hatte. Dabei gab es zwei Richtungen: Die sog. Animalkulisten gingen von einem kleinen Menschlein im Spermium, die sog. Ovulisten von einem solchen in der Eizelle aus. Verbesserte Beobachtungsmöglichkeiten führten ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zur Ablösung durch die Theorie der Epigenesis – der Theorie des Zuwachses. Gemeint ist damit, dass ein Organismus sich allmählich durch aufeinanderfolgende Neubildungen 24 Tertullian, De anima 27, 1. Zit. nach der Ausg. v. J. H. Wasznink, Amsterdam 1947, S. 38. Dazu G. Esser, Die Seelenlehre Tertullians, 1893, S. 65 ff., 219 ff.; Th. Brandt, Tertullians Ethik, 1929, S. 21, 53 f., 55. 25 Dazu Lesky (N 21), S. 1275 ff. 26 Siehe H. Schlüter, Art. Präformation, in: Hist.Wb.Philos. 7, Sp. 1233 f.

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entwickelt. Bahnbrechend wirkte ein Buch des von Goethe hochgeschätzten Mediziners Caspar Friedrich Wolff: Theorie von Generation, 176427. Das bedeutete allerdings keine einfache Rückkehr zur Lehre von der Sukzessivbeseelung im Sinne der „Drei-Seelen-Lehre“, die damals längst als widerlegt galt. Wohl aber verhalfen die Epigenetiker der Aristotelischen Grundidee der Unterscheidung vom ungeformten und dem daraus erwachsenden geformten Leben, dieser generalissima Aristotelis veritas, wie Wolff gesagt hatte28, neuerlich zur Geltung. So waren die Präformisten wissenschaftlich in Rückstand geraten, aber dafür jetzt im kirchlichen Strafrecht siegreich. Hatte die Verschärfung des Abtreibungsverbots durch Nichtberücksichtigung des Beseeltheitszustands des Embryos 1588 durch Sixtus V. unter dem Druck der uralten und mächtigen Traditionen schon drei Jahre später wieder der Fristenlösung weichen müssen, so war Pius IX. mit der Rückkehr zur Position Sixtus’ V. 1869 dauerhaft erfolgreich29. Seiner Lehre folgte 1993 auch das Bundesverfassungsgericht, jedenfalls in seinen theoretischen Grundsätzen, ohne dies erkennbar zu reflektieren. Die vom Bundesverfassungsgericht gezogenen Konsequenzen stimmen damit freilich nicht überein30.

4. Menschenwürde Etwas verwickelter ist die Genealogie des Verfassungswerts „Menschenwürde“, dieses „humanistischen Leitbegriffs“, wie Hans-Georg Gadamer gesagt hat31. „Die dignitas humana“, 27 Zusammen mit Wolffs Dissertation: Theoria generationis, Halle 1759, nachgedr. mit einer Einführung v. R. Herrlinger, 1966. 28 C. F. Wolff, Diss. § 232, Nachdr. (N 27), S. 106. 29 Jerouschek (N 18), S. 28 ff. 30 Zu innere Widersprüchlichkeit dieses Urteils H. Hofmann, Methodische Probleme der juristischen Menschenwürdeinterpretation, in: FS f. R. Wahl, 2008, S. 47 (71). 31 H.-G. Gadamer, Die Menschenwürde auf ihrem Weg von der Antike bis heute, in. Humanistische Bildung 12 (1988), S. 95 (96, 102).

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schrieb kürzlich der Bonner Staatsrechtler Josef Isensee, habe „keine andere Begründung als den christlichen Glauben“; sie sei „unmittelbares Derivat des Christentums, von jeher Lehre der Kirche“32. Das mag man von einem bestimmten Glaubensstandpunkt aus so sehen. Tatsache aber ist, dass es sich bei der dignitas hominis, der Würde des Menschen, um eine Begriffsprägung Ciceros handelt33. Er hat in seiner Ethik die der Antike ziemlich selbstverständliche Vorstellung von der Sonderstellung des Menschen in der Natur aufgegriffen und mit dem Geist der stoischen Philosophie erfüllt. Danach haben wir alle Anteil an der einen, den ganzen Kosmos erfüllenden göttlichen Weltvernunft und sind sämtlich Glieder eines großen, göttlich beseelten Körpers. Da konnten die Christen anschließen. Die in der Apostelgeschichte berichtete Predigt des Paulus in Athen (17, 16 ff.) bietet eine Schlüsselszene. Im Blick auf die epikureischen und stoischen Philosophen, die da anwesend waren und vermutlich skeptisch dreinschauten, sagte der Apostel: „Führwahr, er (Gott) ist nicht ferne von einem jeglichen unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir; wie auch etliche Dichter bei euch gesagt haben: ,Wir sind seines Geschlechts‘.“ Die Angesprochenen wussten selbstverständlich, wer und was gemeint war: der Hymnus auf den allgegenwärtigen Gott (Zeus) des Kleanthes, den Aratos am Anfang seines ungemein populären, auch als Schullektüre dienenden Lehrgedichts über Sternbilder und Wetterzeichen zitierte34. Kleanthes aber hatte nicht nur wie Aratos bei Zenon, dem Gründer der Stoa gehört, sondern war dessen Nachfolger 32 J. Isensee (N 15), S. 165; ebenso ders., Menschenwürde: die säkulare Gesellschaft auf der Suche nach dem Absoluten, in: AöR 131 (2006), S. 173 (174 ff., 209 ff.). 33 Dazu detailliert V. Pöschl, Der Begriff der Würde im antiken Rom und später, 1989, S. 37 ff.; W. Pannenberg, Christliche Wurzel des Gedankens der Menschenwürde, in: Menschenrechte und kulturelle Identität, hg. v. W. Kerber, 1991, S. 61 (63 f.); s. auch U. Barth, Herkunft und Bedeutung des Menschenwürdekonzepts, in: ders., Religion in der Moderne, 2003, S. 345 (354 f.). 34 Dazu mit Nachweisen H. Hofmann, Menschenrechte und Demokratie, in: JZ 2001, S. 1 (s).

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in der Leitung dieser Philosophenschule. Nicht zufällig bildet sich dieser geistesgeschichtliche Zusammenhang auch in der Biographie des nun schon wiederholt zitierten Kirchenlehrers Tertullian ab: er, der sich verhältnismäßig spät taufen ließ, war zunächst in der stoischen Philosophie heimisch gewesen35. Nach der theologiegeschichtlichen Forschung haben christliche Autoren den ursprünglich stoischen Begriff der Menschenwürde später mit der biblischen Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen gemäß 1. Mose Kap. 1 Vers 27 in Verbindung gebracht, wo es bekanntlich heißt: „Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib.“36 Damit gewinnt der Begriff der Würde insofern eine spezifisch christliche Bedeutung, als er sich auf die Ähnlichkeitsbeziehung zu einem der Welt transzendenten persönlichen Schöpfergott stützt37. Das geht über die Stoa weit hinaus. Auch kann die Gottesebenbildlichkeit so als Fähigkeit des Menschen verstanden werden, vermöge der ihm verliehenen Freiheit und Schöpferkraft, Gott ähnlich zu werden. Hier öffnet sich die christliche Lehre nun andererseits der griechischen Freiheitsphilosophie. Das zeigt sich z. B. bei Tertullian, hauptsächlich aber in der mystischen Theologie der griechischen Kirchenväter des Ostens. Nicht das Wesen des Menschen definiere seine Freiheit, lehrte etwa Gregor von Nyssa, sondern seine Freiheit bestimme sein Wesen. Wir seien gewissermaßen die Väter unserer selbst, indem wir uns nach unserer Vorstellung von uns bilden38. In dieser Tradition steht auch der sehr um Dazu Brandt (N 24), S. 59 ff., 70 ff. u. passim. Dazu R. Bruch, Die Würde des Menschen in der patristischen und scholastischen Tradition, in: FS f. P. Asveld, Graz 1981, S. 139 (140). 37 Dazu Pannenberg (N 33), S. 65 ff.; K. Koch, Imago Dei – Die Würde des Menschen im biblischen Text, 2000, S. 54, 63 u. passim. 38 Ganz ähnlich Johannes Chrysostomus. Belege bei T. Kobusch, Die Würde des Menschen – ein Erbe der christlichen Philosophie, in: Des Menschen Würde – entdeckt und erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance, hg. v. R. Gröschner u. a., 2008, S. 235 (247). Siehe auch Pöschl (N 33), S. 43 f. 35 36

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die Wiedervereinigung der West- und der Ostkirche bemühte Kardinal Nikolaus von Kues. Ihn hat dieser griechisch-patristische Freiheitsgedanke gegen die Mitte des 15. Jahrhunderts in seiner Erkenntnistheorie zur Bezeichnung des Menschen als eines „zweiten Gottes“ (deus secundus) geführt: Wie Gott der Schöpfer des wirklichen Seienden und der natürlichen Formen, so sei der Mensch Urheber des gedanklichen Seienden und der künstlichen Formen39. Ein Echo findet diese überlieferte Freiheitsphilosophie noch Ende des 15. Jahrhunderts bei den Renaissance-Humanisten der platonischen Akademie im Mediceischen Florenz. Einer jener gelehrten Humanisten hat es in den letzten Jahren zu größerer Bekanntheit gebracht. Mittlerweile wird er in allen juristischen Kommentaren zu Art. 1 GG zitiert: Giovanni Pico della Mirandola, der Verfasser der oratio de hominis dignitate von 1486. Mit geradezu „existenzialistischem Timbre“ leitet Pico, an der Schwelle zur Moderne einen neuen Horizont erschließend, die Würde des Menschen nicht aus der im göttlichen Schöpfungsplan fixierten Stellung des Menschen im Kosmos zwischen Gott und der übrigen Schöpfung her, sondern aus des Menschen gottgegebener Freiheit und Schöpferkraft, sich und seine Stellung im Kosmos ohne Bindung an ein Urbild selbst zu bestimmen. Das eröffnet eine neue Welt, eine neue Perspektive, ist aber im Kern der Aussage uralt40. Der erwähnten christlichen Vertiefung der Menschenwürdeidee durch den Gedanken eines personalen Bezugs zu einem jenseitigen Schöpfergott entspricht andererseits eine gewisse 39 Dazu mit Nachweisen H. Hofmann, Natur und Naturschutz im Spiegel des Verfassungsrechts (1988), in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 406 (412); s. auch V. Rüfner, Homo secundus Deus, in: PhJb 63 (1955), S. 248 (267 ff.). 40 Dazu H. Reinhardt, Freiheit zu Gott, 1989; P. R. Blum, Philosophieren in der Renaissance, 2004, S. 148 ff., 173 ff., 178 ff., 194 f.; T. Kobusch, Die Entdeckung der Person, 2. Aufl. 1997, S. 257; ders, Würde des Menschen (N 38), S. 236 ff., 242 ff.; A. A. Schillinger-Kind, Die Affirmation des Unvermeidlichen in Widerstand und Würde, 1988; O. Lembcke, Die Würde des Menschen, frei zu sein, in: Des Menschen Würde (N 38), S. 159 ff.

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religiöse Exklusivität dieser Sicht. Die für die Neuzeit charakteristische Frage nach der Stellung des Menschen im Gemeinwesen und gegenüber der Obrigkeit, wie sie aus der Behandlung des Menschen als eines Naturwesens und der Würde als sittlicher Qualität sich ergibt, erscheint in dieser Perspektive nicht41. So hat die Kirche trotz ihrer Lehre von der gleichen Gottesebenbildlichkeit aller, die Menschen über Jahrhunderte durchaus folgenreich nach Christen, Häretikern und Nichtchristen sowie nach Männern und Frauen unterschieden. Und die Sklaverei (vom dunklen Kapitel inquisitorischer Folter zu schweigen) haben die Päpste nach partikulären Vorstößen – keine Versklavung von Christen, kein Sklavenhandel, Anmahnung menschlicher Behandlung der Sklaven – erst im 19. Jahrhundert definitiv verworfen. Es waren Laien, die die imago-dei-Lehre (die Lehre vom Bild Gottes im Menschen) unbefangen schon früher gegen die Kirche auf die soziale Sphäre bezogen. So lesen wir im „Sachsenspiegel“ des Eike von Repgow (um 1230)42: „Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen und hat ihn durch sein Martyrium erlöst, den einen wie den anderen. Ihm steht der Arme so nah wie der Reiche. . . . Als man zum ersten Mal Recht setzte, da gab es keinen Dienstmann und da waren alle Leute frei. Mit meinem Verstand kann ich es auch nicht für Wahrheit halten, dass jemand des anderen Eigentum sein sollte.“

Und der puritanische Dichter John Milton hat zur Zeit der englischen Revolution aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen nicht nur gefolgert, dass alle Menschen von Natur aus frei, sondern dass sie alle zum Herrschen geboren seien und in der Glaubens-, Gewissens- und Meinungsfreiheit ihr wichtigstes Recht hätten43. Mit gewissen Konsequenzen einer solchen Bedeutungsverschiebung hatte bekanntlich schon Luther in den Bauernkriegen seine Not. 41 Dazu P. Kondylis, Art. Würde II –VII, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. O. Brunner u. a., Bd. 7, 1992, S. 645 (663 ff.). 42 Ed. C. Schott, 1984, III 42 = 189 ff. 43 Siehe J. Milton, Zur Verteidigung der Freiheit – Sozialphilosophische Traktate, hg. v. H. Klenner, 1987.

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Damit ist das in diesem Zusammenhang wichtige Stichwort „Reformation“ gefallen. Sie aktivierte in besonderer Weise noch einen ganz anderen Strang der christlichen Überlieferung, der viel stärker war als der bislang behandelte. Hatte Augustin, der einflussreichste der lateinischen Kirchenväter, in seinem epochalen Werk über den Gottesstaat doch gelehrt, dass der nach Gottes Bild geschaffene, durch Seele, Geist und Einsicht vor allen anderen Geschöpfen ausgezeichnete Mensch seine Würde durch Sündenfall und Erbsünde verloren habe, wenn er nicht durch die Gnade Gottes erlöst werde44. Damit wird die christliche Lehre von der Menschenwürde in sich widersprüchlich, es ergibt sich eine „Unstimmigkeit“, wie man gesagt hat, die nur durch die Annahme zweier Würdebegriffe für den Zustand vor und nach dem Sündenfall zu beheben ist45. Die Reformatoren Luther und Calvin folgten Augustin46: Die sündigen Menschen haben ihre Gottesebenbildlichkeit eingebüßt; sie wiederzuerlangen, sei eine bloße Hoffnung, die sich auf die Güte und Gnade Gottes richte und aus unser aller Gotteskindschaft nähre. Da wir aber über Gottes Gnadenwahl nichts wissen, müssen wir alle Menschen als unsere Brüder achten und an ihnen die gnadenweise wiedergewinnbare Gottähnlichkeit ehren. Der Gedanke der Gottesebenbildlichkeit wird so von dem der gemeinsamen Gotteskindschaft überlagert. Damit deutet sich ein Gemeinschaftsbezug des Gedankens an und verschiebt sich der Akzent von der Freiheit auf die Gleichheit der Menschen. Dementsprechend legt Luther die Schöpfungsgeschichte dahin aus, dass die Menschen ihre Würde vor Gott durch den Sündenfall verloren haben, im gegenseitigen Verhältnis (inter se) aber von gleicher Würde und Beschaffenheit sind (aequali dignitate et conditione). 44 Aurelius Augustinus, De civitate dei, lib XII c. 24, lib. XIII c. 14. Zit. nach der dt. Ausg. v. W. Thimme u. C. Andresen, 3. Aufl. 1991, Bd. 2, S. 100, 124. 45 Dazu Bruch (N 36), S. 141 ff. (148). 46 Siehe Luthers Kommentare zu Gen. 1, 26 u. 9, 6; J. Calvin, Institutio christianae religionis I, 15, 4 u. III 20, 38.

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Die neuzeitliche politische Entwicklung der Idee von Freiheit, Gleichheit und Würde des Menschen vollzieht sich im Wesentlichen außerhalb der kirchlichen Lehren, teilweise entschieden gegen sie47. Theologiegeschichtlich tut sich hier mit anderen Worten eine große Lücke auf. Erst angesichts des proletarischen Elends infolge der Industrialisierung und nach dem Protest gegen die bourgeoise Zerstörung der „persönlichen Würde“ im „Kommunistischen Manifest“ zeigt sich im sog. „Sozialprotestantismus“ eine gewisse Wiederbelebung der theologischen Diskussion im Kontext von sozialer Frage und sozialer Gerechtigkeit. Auf dem 4. evangelisch-sozialen Kongress von 1893 wandte sich der Berliner Theologieprofessor Julius Kaftan, ein durchaus konservativer Mann, gegen die Missstände bei der Arbeitszeit, den Wohnungsverhältnissen der Arbeiter und der Lohnregulierung, „die den Grundsatz von der Menschenwürde verletzen“. Denn die Wirtschaftsordnung sei um der Menschen willen gemacht und nicht umgekehrt. Kaftan sagte weiter: „Der Mensch darf nie und in keinem Fall zum bloßen Mittel herabgewürdigt werden, darf es selbst dann nicht, wenn er sich selbst dazu anbietet“48. Andere Theologen sprachen in diesem Kontext freilich lieber vom „ewigen Wert“ der einzelnen Person, da ihnen der Terminus Menschenwürde sozialistisch imprägniert schien. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 zog in Art. 151 Abs. 1 dann eine gewisse Bilanz der neueren Diskussion: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen.“ Die entsetzlichen Erfahrungen der Hitler-Herrschaft führten 1949 zu einer Verschiebung der Akzente: Die Menschenwürdegarantie stieg zur Staatsfundamentalnorm auf. Dazu Barth (N 33), S. 346; auch Isensee (N 32), S. 203. J. Kaftan, Christenthum und Wirthschaftsordnung, in: Zeitschr. f. Theologie u. Kirche 3 (1893), S. 248 (275). Dazu und zum Folgenden A. v. Scheliha, „Menschenwürde“ – Konkurrenz oder Realisator der christlichen Freiheit?, in: Freiheit und Menschenwürde – Studien zum Beitrag des Protestantismus, hg. v. J. Dietken u. A. v. Scheliha, 2005, S. 21 (246 ff.). 47 48

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In der aktuellen bioethischen Debatte um den Embryonenschutz, in der Art. 1 Abs. 1 GG gern zum Zwecke der Verstärkung des Lebensschutzes instrumentalisiert wird, fällt auf, dass die theologischen Vertreter der Menschenwürde sich selten auf die Schöpfungsgeschichte und die Gottesebenbildlichkeit des Menschen berufen, sehr oft und nachhaltig aber auf Kant49. Das ist wahrscheinlich weniger eine Folge der erwähnten großen Traditionslücke, vielleicht eher schon eine Konsequenz jener gewissen, durch die Lehre vom Sündenfall bewirkten inneren Unstimmigkeit der imago-dei-Lehre, entspringt hauptsächlich aber wohl dem Bemühen, das theologische Anliegen den Zeitgenossen verständlich zu machen. Es scheint, dass manche Theologen Kants Philosophie menschlicher Würde kraft absoluter moralischer Selbstzweckhaftigkeit des Menschen im Sinne von Jürgen Habermas als eine „Übersetzung“ religiöser Erfahrung der Gottesnähe in eine gänzlich säkularisierte Umwelt verstehen50. Das bedeutet freilich einen ziemlich radikalen Wechsel der Kontexte: statt personalem Gottesbezug absolute moralische Selbstbezüglichkeit des Menschen. Denn Würde steht bei Kant für den „absoluten inneren Wert“, der aus der moralischen Selbstzweckhaftigkeit der sittlichen Autonomie einer jeden Person kommt. Sie nötigt allererst zur Selbstachtung, die einen jeden jedem anderen moralisch gleichstellt, so dass er Achtung von ihm verlangen darf, wie er dann umgekehrt dessen Würde anerkennen muss. So findet sich der maßgebliche Text bei Kant denn auch nicht in der Rechts-, sondern in der Tugendlehre, und zwar im Abschnitt über die Pflichten des Menschen gegen sich selbst. Dort ist er gegen ein bestimmtes Laster gerichtet, nämlich gegen die „Kriecherei“51. Wie man sieht, schließt die theologische Verwendung der Kantischen Philosophie im Zusammenhang mit dem Embryonenschutz noch eine zweite VerfremDazu Scheliha (N 48), S. 243. J. Habermas, Glauben und Wissen, 2000, S. 28 f. 51 I. Kant, Metaphysik der Sitten. Tugendlehre, in: Werke (Ed. Weischedel), Bd. 7, S. 568 ff. 49 50

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dung ein, weil dort von Selbstachtung als Basis der Würde schwerlich die Rede sein kann. Doch mag das im einzelnen auf sich beruhen. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass auch Kants idealistische Philosophie der Freiheit, Autonomie und Würde nur aus einem kulturellen Wurzelgrund erwachsen konnte, in dem Motive der antiken Philosophie, der christlichen Lehre in mehreren Varianten, des Humanismus und der Aufklärung verflochten sind. Dabei ist im Auge zu behalten, dass das Christentum, mit dem nach Hegel die Idee in die Welt gekommen ist, dass „das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat“52, nicht nur neue Werte geprägt, sondern in einem hohen Maße kontinuitätswahrend gewirkt hat.

5. Resümee Was folgt aus alledem für das Verständnis und den Umgang mit unseren Verfassungswerten? Ihre Genealogien bieten – wie zu sehen war – ein buntes Bild mit vielen Übermalungen. Manche Linie ist gebrochen, verschwindet, setzt sich an anderer Stelle in anderem Lichte fort. Oppositionen verändern sich. Was unsere Verfassungswerte trägt, ist eine Weltanschauung, in der das Individuum einen zentralen Platz und einen besonders hohen Rang einnimmt. Dieser Verfassungshumus resultiert aus einem kulturellen Sedimentierungsprozess, in dem verschiedene, heterogene oder gar gegensätzliche Elemente sich aus ihren ursprünglichen Kontexten von Philosophie, Religion und Theologie lösen, ihren kantigen Charakter als Bruchstücke anspruchsvoller, ja exklusiver Lehr- oder Glaubenssysteme verlieren und zu einer Art von common sense zusammenfinden. Der Verfassungswert der Menschenwürde ist ein Beispiel dafür, dass sich von verschiedenen feststehenden Ausgangspositionen her Folgerun52 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie § 482, zit. nach: Werke (stw) 10, S. 301 f.

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gen entwickeln können, die die Bildung sich überlappender gesellschaftlicher Konsense ermöglichen. Dieser Befund bedeutet keine Schwäche der Verfassungswerte – im Gegenteil: In der pluralistischen Gesellschaft muss die Verfassung für das Leben nach unterschiedlichen Moralen Verbindlichkeit beanspruchen. Und das kann sie umso erfolgreicher, je mehr Motive der Folgebereitschaft sie anspricht, je mehr Raum sie verschiedenen Grundüberzeugungen lässt. Verfassungswerte in einer lehrhaft-strengen Weise auf bestimmte einzelne Traditionselemente festzulegen, stärkt die Verfassung daher nicht, sondern schwächt sie. Andererseits gilt: Die Ausübung individueller und kollektiver Religions- und Weltanschauungsfreiheit im religiös-weltanschaulich neutralen Staat setzt die Akzeptanz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates und die Profanität seiner Moral ebenso voraus wie die Aufnahme des Anerkennungspostulats für andere in die eigene religiöse Verkündung. Aktivitäten jenseits dieser Grenze können dem fundamentalen Ordnungsanspruch des Staates nicht durch Berufung auf die Freiheit von Religion und Weltanschauung entzogen werden. Eine andere Frage ist, ob der Ordnungsanspruch des Staates stets derart existenziell und nicht manchmal bloß traditionell begründet ist.

„In Europa kann’s keine Salomos geben.“ – Zur Geschichte des Begriffspaars Recht und Kultur 1. Einleitung Die ruhmredigen Erzählungen im 1. Buch der Könige haben Salomo, den Thronerben Davids, zum Inbegriff des gerechten Richters und weisen Herrschers gemacht. „In Europa“, sagt Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, „kann’s“ freilich „keine Salomos geben“, und wendet sich der orientalischen Welt zu. Dabei schaut er allerdings nicht nach Israel, sondern (wie es unser Tagungsmotto „Europa und Ostasien“ verlangt) auf China und dessen konfuzianische Kaiser1. Hier – so fährt er fort – sei „der Boden und die Notwendigkeit von solchen“, d. h. salomonischen, „Regierungen“. Gewiss verlangen und erzeugen die großen kulturellen Unterschiede ganz verschiedene Formen von Recht und Herrschaft. Nur: so spricht Hegel nicht. Der Ausdruck „Kultur“ kommt bei ihm nicht vor. Was wir kulturelle Unterschiede nennen, ist für ihn eine weltgeschichtliche Entwicklungsdifferenz in der dialektischen Selbstentfaltung des Geistes. Dem chinesischen „Staatsganzen“ fehle noch das Moment der Subjektivität, der Innerlichkeit und der Gesinnung. Das Prinzip der Verfassung sei dort der den Einzelnen gänzlich einbindende Geist der Familie, die „objektive Familienpietät“. Sie besteht nach Hegel in der „unmittelbare(n) 1 Hegel, Werke (stw), Bd. 20, S. 157. Hier auch das Folg. Religionssoziologische Analyse dieser „,salomonischen‘ Kadi-Justiz“ einer „theokratischen Wohlfahrtsjustiz“ ohne formalisiertes Rechtssystem im konfuzianischen China bei M. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, in: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie I (1920), 9. Aufl. 1988, S. 276 (437 ff.).

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Einheit des substantiellen Geistes und des Individuellen“. Die Substanz aber „ist unmittelbar ein Subjekt“: der Kaiser als salomonischer Patriarch. Aus heutiger Sicht fehlt auch bei Hegels Berliner Antipoden Savigny dort, wo man ihn erwartet, der Begriff der Kultur. Wird der in seiner Programmschrift behauptete „organische Zusammenhang des Rechts mit dem Wesen und Charakter des Volkes“2 eben nicht als ,Nationalkultur‘ gefasst. Savignys „Volksgeist“ ist ein naturalistisch-organischer und ganz innerlicher Begriff. Zwar kommt in demselben Kontext auch der Terminus Kultur vor. Aber Savigny verwendet ihn nur zur Bezeichnung der Verfeinerung eines naturgemäß-ursprünglichen, einfachen Zustands3. So drücken „Zeit der Cultur“ und „steigende Kultur“ die soziale und geistige Differenzierung des Volkes aus, bezeichnen bei den „neueren Völkern“ aber keine national-eigentümliche Entwicklung. Savignys Sprachgebrauch bewahrt auf diese Weise etwas von dem originären Sinn von cultura als eines nomen actionis: der Kultivierung von etwas. Die folgende Nachschau gilt der Frage, woher die begriffliche Verbindung „Recht und Kultur“ stammt. Soweit damit eine raumzeitliche Relativierung und Kontextualisierung des Rechts ausgedrückt wird, gab es dafür bei Pascal und Montesquieu ja längst klassische Beispiele. Aber: wo, wann und mit welcher Absicht wurde dieses Umfeld unter dem selbständigen Objekt-Namen der „Kultur“ dem Recht gegenübergestellt, und wie hat sich diese neue begriffliche Paarung entfaltet? 2 F. C. v. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814), in: Thibaut und Savigny, hg. v. J. Stern, 1959, S. 69 (77). 3 Ebd. S. 76, 78. Die folg. Zit. ebd. S. 78 u. 93. Nach dem dort Gesagten kann man also auch von einer parallelen Kultivierung von Recht und Volk sprechen. Das von F. Wieacker (Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 393) ohne Angabe der Fundstelle gebrachte Savigny-Zit. hält sich mithin in diesem Sinnzusammenhang (Hervorhebungen von Wieacker): „Gerade durch die ,organische (!) Aufnahme des römischen Rechts ist der gesunde (!) Parallelgang von Cultur und Recht erhalten geblieben; denn die ganze Cultur der modernen Völker ist international geblieben‘“.

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2. Emanzipation des Kulturbegriffs Für eine gleichgewichtige konzeptionelle Paarbildung mit dem Begriff des Rechts taugte das Wort ,Kultur‘ allerdings erst, als es über den Sinn der Kultivierung und Kultiviertheit von etwas hinausgehend Selbständigkeit und eine eigene Gegenstandsbedeutung gewonnen hatte. Voraussetzung war zum einen die Ablösung von dem im Genitiv obligat folgenden Objekt der Pflege (wie in Savignys und Jherings „Kultur des Rechts“) und zum anderen die Auflösung des exklusiven Bezugs des Veredelungsgedankens auf die Persönlichkeitsentwicklung (wie in Ciceros berühmter cultura animi durch Philosophie)4. Nach dem Stand der Wissenschaft erfüllt zuerst Pufendorfs Verwendung des Worts diese Bedingungen. Denn bei ihm ist nun auch selbständig von cultura die Rede, wenn er sie der Rohheit des Naturzustandes gegenüberstellt. In dieser Hinsicht bedeutet Kultur bei ihm das, was Erfindung und Fleiß der Menschen, einzeln und in Gemeinschaft, der Natur zur Überwindung der menschlichen Schwachheit und zugunsten eines besseren Lebens hinzugefügt haben5. Das begriffsgeschichtlich Wesentliche ist diese Sinnkombination von höherem, verfeinertem Dasein mit den Gegenständen menschlicher Schöpferkraft und mit der menschlichen Sozialität. Ins Deutsche übertragen erlebte der Terminus Kultur nach 1760 alsbald die erste von drei großen Konjunkturen. Der ein4 Cicero, Tusc. Disp. II, 5 (13). Hierzu u. zum Folg. grundlegend J. Niedermann, Kultur. Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, Firenze 1941; I. Baur, Die Geschichte des Wortes „Kultur“ und seiner Zusammensetzungen, Diss. München 1951; K. J. Narr, Urgeschichte der Kultur, 1961; M. Pflaum, Die Kultur-Zivilisations-Antithese im Deutschen, in: Europäische Schlüsselwörter, hg. v. Sprachwissenschaftlichen Colloquium (Bonn), Bd. III, 1967, S. 288; W. Perpeet, „Kulturphilosophie“, in: Arch. Begriffsgesch. 20 (1976), S. 42; J. Fisch, Art. „Zivilisation, Kultur“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. O. Brunner u. a., Bd. 7, 1992, S. 679 (700); D. Baecker, Art. Kultur, in: Ästhetische Grundbegriffe, hg. v. K. Barck u. a., Bd. 3, 2001, S. 510 (512 ff., 515 ff.). 5 Dazu mit Nachw. H. Denzer, Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf, 1972, S. 96 ff., 104.

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flussreiche Sprachforscher und Lexikograph Adelung nimmt „Cultur“ wie Pufendorf als Übergang von der mehr tierischen zur gesellschaftlichen Existenz, weitgehend gleichbedeutend mit „Verfeinerung, Aufklärung, Entwickelung der Fähigkeiten“6. Im Kontext von Erziehung und Bildung steht zunächst noch der subjektive Sinn von Kultur der Persönlichkeit des Einzelnen oder eines Volkes im Vordergrund. Dafür finden sich von Hamann bis Wilhelm von Humboldt zahlreiche Beispiele7, wobei Herder das Verdienst zukommt, dem Kulturbegriff das weitere Element der Historizität implantiert zu haben8. Damit gewinnt er die dritte seiner „klassischen“ Dimensionen hinzu: nach der Sach- und Sozial- auch die Zeitdimension. Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784) nimmt die Bedeutung der Persönlichkeitsbildung auf, markiert gewisse Übertreibungen und inauguriert zugleich eine typisch deutsche Begriffsspaltung: „Wir sind im hohen Grade durch Kunst und Wissenschaft cultivirt. Wir sind civilisirt, bis zum Überlästigen, zu allerlei gesellschaftlicher Artigkeit und Anständigkeit. Aber, uns schon für moralisirt zu halten, daran fehlt noch sehr viel. Denn die Idee der Moralität gehört noch zur Cultur; der Gebrauch dieser Idee aber, welcher nur auf das Sittenähnliche in der Ehrliebe und der äußeren Anständigkeit hinausläuft, macht die bloße Civilisirung aus.“9

Vor diesem Hintergrund spottet Goethes Mephisto, als die alte Hexe ihn in seinem Aufputz nicht gleich erkennt: „. . . die Kultur, die alle Welt beleckt, hat auf den Teufel sich erstreckt“10. Der Kollektiv-Singular „Kultur“ als Bezeichnung 6 J. Ch. Adelung, Versuch einer Geschichte der Cultur des menschlichen Geschlechts, 2. Aufl. 1800, ND 1979, Vorwort S. 3, 5. 7 Dazu B. Kopp, Beiträge zur Kulturphilosophie der deutschen Klassik, 1974, S. 19 ff. 8 Dazu D. W. Jöns, Begriff und Problem der historischen Zeit bei Johann Gottfried Herder, Göteborg 1956, S. 18 f., 20 f.; Perpeet (N 4), S. 43; Fisch (N 4), S. 708 ff.; jetzt auch Ch. Strub, Kultur als Organismus, Kultur als Collage und unser unabweisbares kulturelles Bedürfnis, in: IZPH 15 (2006), S. 36 (40 ff.). 9 Akademie-Ausg. 8, 26. Dazu Fisch (N 4), S. 725 ff.

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der objektiven Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft resultiert aus dem mit der räumlichen und zeitlichen Ausweitung des europäischen Bewusstseinshorizonts wachsenden Interesse an der Benennung einer ubiquitären, aber je begrenzten Basis für eine distanziert vergleichende Betrachtung sozialer Erscheinungen11. Eine Schlüsselrolle für die Verwendung des Wortes Kultur zur Bezeichnung einer gesellschaftlichen Ganzheit dürfte Jacob Burckhardts „Cultur der Renaissance in Italien“ von 1860 gespielt haben12. Dieser Titel sprach ja nicht nur die künstlerischen und literarischen Zeugnisse des Quattro- und des Cinquecento an, sondern meinte, wie es in der Einleitung heißt, die „geistigen Umrisse einer Kulturepoche“, welche Staat und Krieg, Bildung und Wissenschaft, Geselligkeit, Sitte und Religion einschlossen.

3. Das Recht und die anderen „Kulturgebiete“ Das erste deutsche juristische Werk, das die Gegenüberstellung von Recht und Kultur zum Thema machte, erschien, soweit ersichtlich, 1865. Es trägt den Titel „Cultur und Rechtsleben“ und stammt von „einem vergessenen Germanisten des 19. Jahrhunderts“ namens Wilhelm Arnold, seinerzeit Professor des deutschen Rechts und des Staatsrechts in Marburg13. 10 Goethe, Faust I, Hexenküche. Zum Sprachgebrauch in der GoetheZeit Baur (N 4), S. 64 ff.; zum Rückbezug auf Cicero (siehe bei N 4) W. H. Bruford, Culture and Society in Classical Weimar 1775 – 1806, 1962, S. 432 ff. 11 Dazu N. Luhmann, Kultur als historischer Begriff, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik 4, 1995, S. 31 (40 ff., 49, 54); Fisch (N 4), S. 713 ff., 747; D. Baecker, Wozu Kultur?, 2000, S. 47. 12 Dazu W. Kaegi, Jacob Burckhardt, Bd. III, 1956, S. 7 ff.; Kopp (N 7), S. 4; M. Landmann, Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur, 1961, S. 189. 13 K. Kroeschell, Ein vergessener Jurist des 19. Jahrhunderts, in: FS f. H. Krause, 1975, S. 253; siehe dazu auch A. B. Stier, „Richtiges Recht“ zwischen Entwicklungs- und Kutlurgedanken, 2006, S. 33 f.

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Arnold hat es dem Andenken an Jacob Grimm gewidmet, aber sogleich klargestellt, dass nicht der Volksgeist „die Eigentümlichkeit seiner Lebensäußerungen (erklärt)“, sondern dass wir umgekehrt „aus diesen . . . auf jenen (zurückschließen)“: Er wolle den „innigen Zusammenhang des Rechts mit dem Leben“ nach dem überall geltenden „Gesetz der Wechselwirkung“ durch historisch-empirische Forschung erfassen14. In der zeittypischen, die Dominanz der Naturwissenschaften bezeugenden Analogiemanier15 nannte er das „Physiologie des Rechts“. Konkret ging es Arnold um die Wechselwirkung zwischen den Ausprägungen des geistigen Lebens „kultivierter Völker“ auf sieben Gebieten. Er nennt Sprache, Kunst, Wissenschaft, Sitte, Wirtschaft, Recht und Staat16. Die Religion fehlt, weil er sie nach dem Sieg des Christentums nicht mehr für einen die „kultivierten Völker“ unterscheidenden Kulturfaktor hielt. Im Zentrum der Betrachtung jener Wechselwirkungen steht bei Arnold das Verhältnis von Recht, genauer: von Privatrecht, und Wirtschaftsleben. Dementsprechend hat er, der Germanist, in der historischen Version seiner Themenstellung – „Cultur und Recht der Römer“ (1868) – nach eigenen Worten versucht, für die Entwicklung des römischen Rechts „die vollkommene Übereinstimmung mit der Volkswirtschaft nach(zu)weisen“17. Was Wunder: Arnold schreibt in der Blütezeit der einflussreichen historischen Schule der Nationalökonomie von Wilhelm Roscher und Karl Knies, auf die er sich denn auch ausdrücklich beruft18. Zudem ist es die Zeit, W. Arnold, Cultur und Rechtsleben, 1865, S. 5, VIII, 71. Ein groteskes Beispiel dafür: A. H. Post, Einleitung in eine Naturwissenschaft des Rechts, 1872. 16 Arnold (N 14), S. 204. Das Folg. nach S. 18 u. 142. 17 ND 1964, S. 46 ff., 115. 18 Dazu A. Janssen, Otto von Gierkes Methode der geschichtlichen Rechtswissenschaft, 1974, S. 171 ff., 176 ff. Siehe auch W. Arnold, Die Nationalökonomie der Gegenwart, in: Recht und Wirtschaft nach geschichtlicher Ansicht – Drei Vorlesungen, 1863, S. 78 ff. Zur Bedeutung der Nationalökonomie für die Rechtswissenschaft der Zeit H. Contzen, 14 15

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die jenen bis dahin beispiellosen wirtschaftlichen Boom erlebt, der zwischen 1850 und 1873 die Folge des Durchbruchs der industriellen Revolution in Deutschland war19. Fasziniert und gleichzeitig voller Stolz bemerkt Arnold in der Vorrede seines Buchs zum Aufschwung der deutschen Rechtswissenschaft im Gleichklang mit den großen Fortschritten der Industrie und des Verkehrs: „Die Technik der Jurisprudenz (hat) mit der der Maschinen und Fabriken gleichen Schritt gehalten“20. Der Rückbezug auf die „Kultur“ als Chiffre für gesellschaftliche Wechselwirkungen erlaubt es, eine enge Beziehung zwischen Recht und Wirtschaft herzustellen, ohne umstandslos dem Materialismus zu verfallen. Übrigens hatte Arnold seine Thesen zu Recht und Kultur bereits zuvor in einer Vorlesung skizziert21. Da war er noch Professor in Basel, der Wirkungsstätte Jacob Burckhardts. Die Paarung der Begriffe Recht und Kultur thematisiert also in erster Linie das wechselseitig prägende Verhältnis von bürgerlichem Recht und Wirtschaftsleben. Wissenschaftliche Charakteristika dieser Themenstellung sind: der empirische Ansatz, das positivistische, an den Naturwissenschaften orientierte Wissenschaftsverständnis und die Dominanz der Nationalökonomie. Die bewegenden Anstöße aber kamen aus dem Wirtschaftsleben und dessen bislang so nicht erlebter Dynamik. Die Probleme wuchsen und veränderten sich. Und auch der Rechtsstoff wuchs und veränderte sich. Seit 1847 gibt es eine Allgemeine Deutsche Wechselordnung, die 1861 modifiziert und ergänzt wird. Von 1861 datiert auch das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch. In den 1860er Jahren beginnt der Erlass von Gewerbeordnungen. Die deutsche Rechtswissenschaft reagiert mit der Bildung des Begriffs „IndustrieGeschichte, Literatur und Bedeutung der Nationalökonomie oder Volkswirtschaftslehre, 2. Aufl. 1881, S. 145 ff. 19 Dazu H.-U. Wehler, Deutsche Sozialgeschichte, Bd. 3, 1995, S. 66 ff. 20 Arnold (N 14), S. XVII. 21 W. Arnold, Über das Wesen des Rechts, in: ders., Recht und Wirtschaft (N 18), S. 1, bes. S. 18, 24 ff., 30, 36.

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recht“, unter dem man Gewerbe-, Urheber-, Marken-, Kartell-, Arbeitsvertrags-, Koalitions- und Arbeiterschutzrecht bis hin zum Unfallversicherungsgesetz zusammenfasst, was später teils dem Arbeits-, teils dem Wirtschaftsrecht zugerechnet wird22. In dieser Perspektive kann man die Aufstellung eines vornehmlich in der Wirtschaft objektivierten Begriffs der Kultur und dessen Koppelung mit einem mobilisierten Rechtsbegriff als Nebenwirkung der Industrialisierung verstehen23. Dieselbe „realistische“ Wendung des Rechtsdenkens, die den traditionellen Rahmen der romanistischen Wissenschaft des gemeinen Rechts ökonomisch sprengte, hat noch einer anderen „Wechselwirkung“ zwischen zwei „Kulturgebieten“ i. S. Arnolds zu großer und nachhaltiger Aufmerksamkeit verholfen: der Beziehung zwischen Recht und Sitte. Es war Rudolf von Jhering, der nach der legendären Erschütterung seines Vertrauens in die produktive Logik der Rechtsbegriffe mit dem Rekurs auf den „Zweck im Recht“ (1877 / 83) den Rechtsbegriff gesetzespositivistisch auf die staatlichen Imperative einengte, das juristische Untersuchungsfeld aber gleichzeitig auf die gesellschaftlichen Verhaltensnormen jeder Art als notwendige soziale Komplemente ins schier Uferlose ausdehnte24. Damit wird das Verhältnis des Rechts zu Sitte und Moral eine zentrale Frage der Rechtswissenschaft. Der Vergleich führte zur Hervorhebung der höheren Durchsetzungskraft des Rechts, die es Schmoller als „ethisches Maximum“ erscheinen ließ, betonte andererseits dessen geringere inhaltliche Reichweite: dafür lieferte Georg Jellinek im Anschluss 22 J. Landgraf, Handels- und Industrierecht mit besonderer Rücksicht auf die deutsche und österreichische Gesetzgebung, 2. Aufl. 1889, S. 4 ff., 20 ff., 35 ff.; H. Lehmann, Grundlinien des deutschen Industrierechts, in: FS f. E. Zitelmann, 1913, S. 1 – 46; W. Fikentscher, Wirtschaftsrecht, Bd. 1, 1983, S. 16 ff. (21). 23 Dazu Baecker (N 4), S. 161 f., mit dem Hinweis auf R. Williams, Culture and Society 1780 – 1950, London 1958. 24 Siehe dazu u. zum Folg. vom Verf.: From Jhering to Radbruch, demnächst in: A Treatise of Legal Philosophy and General Jurisprudence (Ed. E. Pattaro), Vol. IX, Chap. 8 sub I 4 – 6.

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an Arnold das Schlagwort vom Recht als dem ethischen Minimum. Gierke hat uns dann im „Logos“, der Zeitschrift für Kulturphilosophie, das Bild von den zwei sich schneidenden Kreisen eingeprägt25. Auf jeden Fall schärft der kulturwissenschaftliche Aspekt der Frage nach Recht und Sitte den Blick auf das Recht im Gesellschaftsvergleich. Wenn nun die Geltung des Rechts allein auf die Autorität des Gesetzgebers gestützt und das Recht – entsprechend seinem angeblich imperativischen Charakter – begrifflich dem proximum genus der sozialen Verhaltensregel unterstellt wird, und wenn man außerdem mit gutem Grund annimmt, dass die sozialen Verhaltensregeln im Bewusstsein der Rechtsunterworfenen allemal stärker verankert sind als die Befehle des staatlichen Gesetzgebers, dann kann das Verhältnis von Recht und Sitte auch in der Perspektive der Rechtfertigung des Rechts gesehen werden. Ein Schüler Jherings hat diesen Zusammenhang auf den Begriff gebracht. Die Rede ist von Max Ernst Mayer und seinen 1903 erschienenen „Rechtsnormen und Kulturnormen“26. Dieser Titel stammt nicht zufällig von einem Strafrechtler. Denn am ehesten leuchtet die These, dass das Recht nichts anderes als ein Komplex von Imperativen sei, im Blick auf das Strafrecht ein. Damit empfiehlt sich dieses Rechtsgebiet mehr als das bürgerliche und das Wirtschaftsrecht als Referenzgebiet für das so verstandene Thema „Recht und Kultur“. „Die Rechtfertigung des Rechts und in Sonderheit die Verbindlichkeit der Gesetze“ – schreibt Mayer – „beruht darauf, 25 G. Schmoller, Grundriss der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, 1. Teil (1900), ND 1920, S. 57. Die folg. Zit. bei G. Jellinek, Die socialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 1878, S. 42 ff., und O. v. Gierke, Recht und Sittlichkeit, in: Logos VI (1916 / 17), zit. nach der Sonderausg. 1963, S. 22, vgl. S. 32 u. 38. 26 M. E. Mayer, Rechtsnormen und Kulturnormen, 1903, ND 1965, S. 16; die folg. Zit. S. 17 u. 24; siehe auch ders., Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1926, S. 38 ff. Unter dem Titel „Kultur und Recht“ handelte auch F. Münch das Verhältnis von Recht und Sittlichkeit ab: Zeitschr. f. Rechtsphilosophie 1 (1914), S. 345 (357 ff.).

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dass die Rechtsnormen übereinstimmen mit Kulturnormen, deren Verbindlichkeit das Individuum kennt und anerkennt.“ Der Ausdruck „Kulturnormen“ steht dabei für alle religiösen, moralischen, gesellschaftlichen und beruflichen Gebote und Verbote, die an das Individuum herantreten. Die Übereinstimmung der beiden Normenkomplexe erklärt sich nach Mayer „vollständig aus der Wechselwirkung zwischen Recht und Kultur“. Allerdings ist die Kultur bei Mayer so nicht als objektive Gegebenheit Rechtfertigungsgrund des Rechts, sondern als Inbegriff der akzeptierten sozialen Verhaltensregeln nur Medium individueller Anerkennung der Rechtsnormen. Das entspricht der seinerzeit blühenden, demokratisch-genossenschaftlich gedachten sog. Anerkennungstheorie Ernst Rudolf Bierlings27. 4. Kulturphilosophie als Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft Mayers Theorie führte offenkundig in eine Sackgasse. Die koordinierte Betrachtung von Recht und Sitte ergab keinen übergeordneten Gesichtspunkt der Rechtfertigung des Rechts und bot für dessen Entwicklung und Gestaltung keine Perspektive. Beides war nur von einer Veränderung des Blickwinkels zu erwarten. Statt der horizontalen Beziehungen von Teilgebieten der Kultur zueinander war das sozusagen vertikale Verhältnis des Rechts zur Kultur als eines überwölbenden Ganzen ins Auge zu fassen. Und das taten sowohl die Neuhegelianer wie die Neukantianer im Zeichen der zweiten Hochblüte des Kulturbegriffs. Die erste große Konjunktur zur Zeit Goethes hatte – wir sprachen davon – ganz im Zeichen der Persönlichkeitsbildung gestanden, so dass vor lauter kultureller Politur am Ende gar der Teufel nicht mehr als solcher zu erkennen war. Nun, gegen Ende des „langen 19. Jahr27 Dazu vom Verf.: Legitimität und Rechtsgeltung, 1977, S. 45 ff., 77; jetzt Ch. Bahlmann, Die Rechtslehre Ernst Rudolf Bierlings unter besonderer Berücksichtigung seiner Anerkennungstheorie, 1995, S. 30 ff., 47 ff.

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hunderts“28 lag der Schwerpunkt im Bereich der Wissenschaft. Die unübersehbare Vielfalt einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse vermittelte, wie Wilhelm Windelband, Begründer des südwestdeutschen Neukantianismus, formulierte, keinen „Gesamtsinn aller Wirklichkeit“ mehr und provozierte „Hunger nach Weltanschauung“, wie sie die Neuhegelianer anboten29. Da kam um die Jahrhundertwende der integrative Begriff der „Kulturphilosophie“ wie gerufen30. Bald gab es unter dem schönen Titel „Logos“ eine „Internationale Zeitschrift für Kulturphilosophie“. In seinem programmatischen Eröffnungsaufsatz setzte das andere Schulhaupt, Heinrich Rickert, der Philosophie „Weltanschauung“ im Sinne einer „Wissenschaft vom Ganzen“ als Ziel und begründete die Notwendigkeit, bei den Wertproblemen anzufangen, damit, dass der Begriff des Ganzen kein „reiner Wirklichkeitsbegriff“31 sei. 28 Dazu statt aller F. J. Bauer, Das ,lange‘ 19. Jahrhundert (1789 – 1917), 2004; differenzierend M. Stolleis, Der lange Abschied vom 19. Jahrhundert, 1997. Zum Folg. R. vom Bruch, Bürgerlichkeit, Staat und Kultur, hg. v. H.-Ch. Liess, 2005, S. 84; G. Sprenger, Recht als Kulturerscheinung, in: ders. (Hg.), Deutsche Rechts- und Sozialphilosophie um 1900, 1991, S. 134 (136 ff.). 29 W. Windelband, Die Erneuerung des Hegelianismus, 1910, S. 7. Zu „Weltanschauungsbedarf“ und „Weltanschauungsangebote(n)“ G. Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik, 2007, S. 199 ff. Zum Folg. G. Sprenger, Die Wertlehre des Badener Neukantianismus und ihre Ausstrahlungen in die Rechtsphilosophie, in: Neukantianismus und Rechtsphilosophie, hg. v. R. Alexy u. a., 2002, S. 157 (160 ff.). 30 Entwickelt zuerst von dem Berner Philosophieprofessor Ludwig Stein als „Philosophie des westeuropäisch-amerikanischen Kultursystems“, gestützt auf die Übertragung des Darwin-Spencerschen Evolutionsprinzips auf geistige Erscheinungen und mit Blick auf die „immanente Teleologie des Kulturgeschehens“ hin zur „Weltherrschaft unseres Kultursystems“: an der Wende des Jahrhunderts. Versuch einer Kulturphilosophie, 1899, S. III, 13, 19 ff., 27, 47 ff., 53. Älter ist der Ausdruck „Kulturwissenschaft(en)“; er stammt wohl von dem Sprachwissenschaftler H. Paul: Prinzipien der Sprachgeschichte (1880), 7. Aufl, 1966, S. 6 f. Von ihm hat ihn H. Rickert übernommen. 31 H. Rickert, Vom Begriff der Philosophie, in: Logos I (1910 / 11), S. 1 (2, 14 f.). Zur Entwicklung des Begriffs der Weltanschauung H. G. Meier, „Weltanschauung“, Diss. Münster 1967; über Rickerts Weltanschauungsphilosophie ebd. S. 269 ff. Zur sozial- und bildungsgeschichtlichen Bedeu-

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Diesen prinzipiellen Dualismus von Wirklichkeit und Wert hatte Rickert schon 1899 in seinem nicht von ungefähr außerordentlich erfolgreichen Büchlein über „Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft“ entwickelt32. Mittels dieser Opposition hoffte er die für die Philosophie geradezu lebensgefährliche wissenschaftliche Konkurrenz mit den so erfolgreichen empirischen Naturwissenschaften zu bestehen und gleichzeitig die vielen blühenden Zweige historischer Detailforschung zur Einheit zu verbinden33. Damit nun die Kulturphilosophie über die Befangenheit in das eigene Kulturleben hinaus zu einem universalen Standpunkt gelangen kann, muss sie im Anschluss an die geschichtlichen Kulturwissenschaften versuchen, so Rickert, „sich im Historischen dem Ueberhistorischen anzunähern“, und zwar durch die Frage, „welche allgemeinen und formalen Werte . . . der Mannigfaltigkeit des historischen Kulturlebens zugrunde liegen und worin also die Wertvoraussetzungen der Kultur überhaupt bestehen“34. In einer „methodenkritischen Untersuchung“ unter dem Titel: „Die Rechtswissenschaft als Norm- oder als Kulturwissenschaft“ hat Hans Kelsen Rickerts Unterscheidung von Natur- und Kulturwissenschaften als zu wenig klar gerügt und insbesondere gegenüber den rechtsphilosophischen Folgerungen, die Emil Lask daraus gezogen hat, auf der Untung dieser Philosophie der „Werte“ instruktiv J. Gebhardt, La sociogenesi del concetto di valore da Lotze a Rickert, in: Rickert tra storicismo e ontologia, Ed. M. Signore, Mailand 1989, S. 95; eine Zusammenfassung in: Rickert zwischen Historismus und Ontologie, Ed. M. Signore, Mailand 1989, S. 14. 32 H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft (1910), zit. nach der 3. (von 6 Aufl.), 1915. 33 Zu dieser Krise („Unsicherheit des Bodens“, „chaotische Lage“) z. B. R. Eucken, Geistige Strömungen der Gegenwart, 3. Aufl. 1904, S. VI, 4. Zur Kulturwissenschaft als Krisensymptom D. Simon, Die Rechtswissenschaft als Geisteswissenschaft, in: RJ 11 (1992), S. 351 (361 f.); K. Seelmann, Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft – ein neukantianischer Gedanke und sein Fortleben, in: Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft?, hg. v. M. Senn / D. Puskás, 2007, S. 121 (126 f.). 34 Rickert, Kulturwissenschaft (N 32), S. 162.

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möglichkeit bestanden, Wirklichkeit und Wert zu verbinden35. Deshalb könne nicht nur die Rechtsphilosophie, sondern auch die Rechtswissenschaft nur die Geltung des Rechts, niemals dessen Faktizität zum Gegenstand haben. Gerade dies hatte jedoch in einer differenzierten Weise der Rickert-Schüler Lask vertreten36. Zwar stellte er der Rechtsphilosophie als reiner Wertwissenschaft gemäß der Unterscheidung von Wirklichkeit und Wert die Rechtswissenschaft als empirische Kulturwissenschaft gegenüber, unterschied dann aber noch einmal zwei Spielarten: die Sozialtheorie des Rechts, die das Recht als einen realen Kulturfaktor erfasst, und die Jurisprudenz im engeren Sinne, die zwar auch empirisch arbeitet, aber nur mit gedachten Bedeutungen. Lask, 1915 gefallen, konnte seine Auffassung nicht mehr verteidigen und weiterentwickeln, hatte aber in der gemeinsamen Heidelberger Zeit in dem jungen Privatdozenten Gustav Radbruch einen Schüler und wirkungsmächtigen Nachfolger gefunden. Gegen das Entweder-Oder: wirklichkeitswissenschaftliche Betrachtung oder Erkenntniskritik des Rechts setzt Radbruch in seiner „Rechtsphilosophie“ einen „Methodentrialismus“. Er basiert auf dem neukantischen Methodendualismus, bleibt aber nicht bei dem Gegensatz von „Wirklichkeitsurteil und Wertbeurteilung“ stehen, sondern schiebt die „Wertbeziehung“ dazwischen, charakterisiert das Recht dementsprechend als „wertbezogene Wirklichkeit“ und in diesem Sinn als „Kulturerscheinung“. Die Rechtswissenschaft erklärte er folglich zur „verstehenden Kulturwissenschaft“ und die Rechtsphilosophie zur „Kulturphilosophie des Rechts“37. 35 H. Kelsen, Die Rechtswissenschaft als Norm- oder als Kulturwissenschaft (1916), jetzt in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule, hg. v. H. Klecatsky u. a., Bd. 1, 1968, S. 27 (39 ff., 62 ff.). 36 E. Lask, Rechtsphilosophie, in: FS f. K. Fischer, Bd. 2, 1905, S. 4 f., 11 f., 27, 31 ff.; dazu E. Bohlen, Der Wertbegriff des Rechts in der Rechtsphilosophie Emil Lasks und Heinrich Rickerts, in: Neukantianismus (N 29), S. 283; G. Mohr, Kultur und Recht: Was kann eine Theorie der Rechtskultur vom Neukantianismus lernen?, ebd. S. 111 (116 ff.).

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Die ersten Neuhegelianer: Josef Kohler, nach seinem Selbstverständnis Universaljurist, Universalhistoriker und Universalphilosoph, sowie sein Adlatus Fritz Berolzheimer, von dem die Selbstbezeichnung „Neuhegelianer“ stammt, waren von Haus aus Wirtschaftsrechtler. Die ökonomische Akzentuierung ihres Kulturbegriffs ist Ausdruck der anhaltenden Aktualität des Themas Recht und Wirtschaft, die aus der Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung mit ihren wachsenden Regelungsbedürfnissen wie aus den Nöten der „sozialen“ oder „Arbeiterfrage“38 und dem Aufstieg des Sozialismus resultierte. Berolzheimer hatte 1904 – 1907 ein fünfbändiges „System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie“ veröffentlicht. Darin war die formal-normativ-abstrakte Seite der Gerechtigkeit der Rechts-, ihre materielle Seite der Wirtschaftsphilosophie zugewiesen. Zusammen mit ihm gründete Kohler 1907 eine Zeitschrift unter dem programmatischen Titel „Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie“. Die Verbindung der beiden Gegenstände wird in der „Einführung“ der Herausgeber auf die bekannte Weise mit der „gegenseitigen Wechselwirkung“ begründet. Doch geht es in einer dichten Folge von Beiträgen der beiden zunächst und vor allem um Recht und Kultur im Allgemeinen, da „die ganze Rechtsentwicklung“, so die „Einführung“ weiter, „nur vom Standpunkt einer großen Weltanschauung begriffen . . . werden kann“. Abschätzig wendet sich Kohler in seinem Eröffnungsaufsatz39 37 G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1932, zit. nach der Studienausg. 1999, S. 13 ff., 31, 115 ff. Dazu Simon (N 33), S. 355 ff. 38 Ein Schlaglicht: G. Schmoller, Ueber einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft (1875), 1998. Der Ausdruck „Arbeiterfrage“ an Stelle von „Sozialer Frage“ sollte aktuelle Begehren der sich parteipolitisch und gewerkschaftlich formierenden „Arbeiterbewegung“ aus der fundamentalen Gesellschaftskritik herauslösen, um weitergehende politische Forderungen abzuwehren, d. h. die radikalen sozialutopischen Entwürfe in eine „realpolitische“ Reformdiskussion über Einzelmaßnahmen staatlicher Sozialpolitik zu überführen. 39 J. Kohler, Wesen und Ziele der Rechtsphilosophie, in: ARWP I (1907 / 08), S. 1 ff., die folg. Zit. S. 4, 6 f., 9. Dazu W. Gast, Historischer Optimismus – Die juristische Weltsicht Josef Kohler, in: ZvglRWiss 85 (1986), S. 1.

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gegen die ungeschichtliche Lehre vom richtigen Recht, indem er die kulturelle Relativität des Rechts betont: „Das Recht ist . . . wesentlich bedingt durch die Zwecke des Daseins, welchen eine bestimmte Kulturperiode zustrebt: jedes Kulturleben hat sein besonderes Recht, und jedes Recht wieder sein besonderes Kulturleben“. Ziel sei es, heißt es bei dem Protagonisten des Urheber- und Erfinderrechts weiter, jeweils „möglichst viele unvergängliche Werte zu erzeugen“, nämlich solche der Erkenntnis, der Kunst und der Erfindung – notfalls auf Kosten der Freiheit und des Glücks der Einzelnen. Die Weltentwicklung rechtfertige die Kultur und diese die Rechtsordnung. Denn das Recht ist nach Kohler „ein unentbehrliches Element der Entwicklung, es ist die Vernunft des Unendlichen, die sich im geschichtlichen Werden zutage ringt, es hilft dazu, dieses Werden den Zielen des Weltprozesses zuzuführen, bis einst die Menschheit in unendlicher Aufhäufung der Kulturwerte zur Gottähnlichkeit gelangt ist und der Weltprozess im Ewigen aufgeht.“ Kollegen spotteten über „des Reiches größten Kohler“. In der Tat liegen die unbestreitbaren Verdienste Kohlers mehr im Bereich des Immaterialgüterrechts, der Rechtsgeschichte und der Rechtsvergleichung40. Berolzheimer formulierte vorsichtiger. Er schrieb: „Wir sind Neuhegelianer, indem wir mit Hegel die immanente Rechtsvernunft, die relative Berechtigung jeder Stufe der Rechtsentwicklung erkennen und anerkennen. Wir sind Neuhegelianer, soweit wir die empirische Forschungsmethode der neuen Zeit in uns aufgenommen haben.“41 Gegenstand dieser empiri40 Siehe dazu die respektvolle Gesamtwürdigung von G. Spendel: Josef Kohler, 1989; über den Spott der Kollegen ebd. S. 5. 41 F. Berolzheimer, Grundprobleme der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie samt der Soziologie, in: ARWP III (1909 / 10), S. 28 (31). Das Folg. nach F. Berolzheimer, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 1, 1904, S. 98 ff., 102 f.; Bd. 2, 1905, S. 223 ff., 237 ff., 247; ders., Die Gefahren der Gefühlsjurisprudenz, 1911, S. 19. – Zum Ganzen W. Schild, Die Ambivalenz einer Neo-Philosophie, in: Deutsche Rechts- und Sozialphilosophie um 1900, hg. v. G. Sprenger, 1991, S. 46 ff.; Stier (N 13), S. 99 f. – Grundlegende philosophische Analyse des Neuhegelianismus bei

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schen, nämlich völkerpsychologischen und historischen Betrachtung sei die reale Kultur in ihrer Vielfalt und Veränderlichkeit. Das dabei erhobene tatsächliche Rechtsbewusstsein der jeweiligen Phase der kulturellen Entwicklung soll als Maßstab der Vernunft des Rechts fungieren. An die Stelle des absoluten Naturrechts tritt so ein „relatives Kulturrecht“, das trotz seiner Relativität mit seinen induktiv ermittelten „objektiven Rechtsprinzipien“ gegenüber dem positiven Gesetz eine höherrangige Rechtsordnung bildet. Berolzheimer vertritt die einleuchtende Überzeugung, dass auf diese Weise ein Maßstab für Grenzziehungen erfahrbar sei, „jenseits deren das Recht als ungerecht gewertet würde.“ Und dieses „Rechtsbewusstsein, wie es einer bestimmten Kultur zu eigen ist und in und mit (ihrer) Entfaltung . . . weiterentwickelt wird, (lasse) sich nicht ungestraft verletzen“. Unterdrückung führe zu Gewaltausbrüchen42. Objektivität, die den historischen Moment übersteigt, kann dem sich wandelnden kulturellen Rechtsbewusstsein indes nur zugesprochen werden, insofern daraus auch die Vernunft des Weltprozesses im Ganzen zu erkennen ist. Hier setzte Berolzheimer an die Stelle der begrifflichen Entfaltung aus dem Hegelschen System der Vernunft etwas, was er „realidealistische Erkenntnisphilosophie“ nannte, die auf das eigentlich „Reale im Seienden, auf die Idee“ ziele43. Da sie als solche offenbar nicht zu fixieren ist, läuft das Ganze darauf hinaus, die vielfältigen historisch-empirischen Untersuchungen des Rechts durch eine „geschichtsphilosophische Betrachtung“ zu ergänzen, die – so Berolzheimer – das „Entwicklungsgesetz der Rechtsidee“ und „Richtpunkte der Entwicklungskurve“ K. Löwith, Von Hegel zu Nietzsche, 3. Aufl. 1953, S. 136 ff.; jetzt in ders.: Sämtl. Schriften 4, 1988, S. 1 (157 ff.). 42 F. Berolzheimer, Zum Methodenstreit in der Rechtsphilosophie der Gegenwart, in: ARWP III (1909 / 10), S. 522, (525 f.). 43 Ders., System I (N 41), S. 187 ff., 320; System II (N 41), S. 1 f. Vgl. damit einen ähnlichen kulturrechtlichen Gedankengang auf der Basis der nationalen Traditionen schon bei O. v. Gierke: Naturrecht und deutsches Recht, 1883, S. 9 ff., 32.

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erfasst44. Er glaubte drei Perioden der kulturgeschichtlichen Entwicklung ausmachen zu können, die er zugleich als Stufen des menschlichen Emanzipationsprozesses begriff. Darin trete die zentrale sittliche Idee der Menschheit hervor und offenbare sich im Recht – ganz hegelisch – als Idee der Freiheit, vollendet in der Emanzipation der Arbeiterschaft. Rechtspolitischer Sinn solcher Kulturphilosophie des Rechts war das offenkundige Bestreben, den Rechtsquellencharakter der Rechtswissenschaft zu verteidigen. Wissenschaftstheoretisch liegt die Spitze von Berolzheimers „Realidealismus“ in dem Versuch, im „Methodenstreit der Rechtsphilosophie“ die teleologische Weltsicht zu retten und auf dieser Grundlage dem Methodendualismus der Neukantianer eine monistische Theorie entgegenzusetzen, ohne dem puren Materialismus zu huldigen45. In der Tat hatte – wie zu sehen war – die Kulturphilosophie des Neukantianismus gemäß der scharfen Scheidung von Sein und Sollen, Wirklichkeit und Wert sowohl in der Marburger wie in der badischen Version für den Bereich des Rechts und der Rechtswissenschaft zur Notwendigkeit eines doppelten methodischen Ansatzes geführt.

5. Verfassungsrecht und Kultur Im Bann der Kulturphilosophie hat sich das Thema Recht und Kultur mithin gänzlich verwandelt. Es bezeichnet nicht mehr die Wechselwirkung von Kulturelementen, seien es Recht und Wirtschaftsleben oder Recht und gesellschaftliche Sitten, sondern steht für eine Erkenntniskritik des Rechts und eine Wissenschaftstheorie und Methodologie der Rechtswissenschaft im Ganzen der Kultur. Und wie in der Kulturphilosophie der philosophischen Fakultäten entsprangen die wissenschaftstheoretischen und methodologischen Bemühungen in der Rechtswissenschaft und in der Rechtsphilosophie einer 44 45

Berolzheimer, System III (1906), S. V, 101; das Folg. ebd. S. 12. Ders., Methodenstreit (N 42), S. 522.

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Verunsicherung hinsichtlich der wissenschaftlichen Tragfähigkeit der bisherigen Bestimmung ihres Gegenstandes. Noch um einiges heftiger erlitt eine solche Erschütterung die Wissenschaft vom öffentlichen Recht durch den Ausgang des 1. Weltkriegs. Die Basis der bisherigen staatsrechtlichen Ordnung war durch einen Akt revolutionärer Verfassunggebung beseitigt worden, das monarchisch-kulturprotestantische Staatsbewusstsein erschüttert und in verfassungsrechtliche Legitimitätszweifel gestürzt, die Lage labil. Im Streit über den richtigen Umgang mit der neuen Verfassung stand letztlich die Existenz der Republik auf dem Spiel. Und methodisch war die Staatsrechtslehre durch den neukantisch-erkenntniskritischen Normativismus Hans Kelsens vor eine um so größere Herausforderung gestellt, als sie in der Methodendiskussion gegenüber der Zivilistik zurückgeblieben war. Denn während der staatsrechtliche Positivismus Gerbers und Labands mit dem zweiten Kaiserreich aufblühte und an dessen Ende noch immer herrschte, hatte im Bereich des Zivilrechts nach Jherings legendärem „Umschwung“ von der Begriffsjurisprudenz zu einer teleologischen Sozialtheorie des Rechts längst national und international eine breite postpositivistische wissenschaftstheoretische und methodologische Neuorientierung begonnen: von der „Freirechtsbewegung“ und der „Interessenjurisprudenz“ bis hin zur „Soziologischen Jurisprudenz“ Roscoe Pounds und der „Neuen wissenschaftlichen Schule“ Francois Génys46. Gewiss, es gab schon vor der Revolution Opposition gegen den staatsrechtlichen Positivismus47. Aber Gierkes und auch 46 Dazu im Einzelnen mit Nachw. Hofmann (N 24). Eindringliche Analyse bei R. Schröder, Die deutsche Methodendiskussion um die Jahrhundertwende, in: Rechtstheorie 19 (1988), S. 323. Zum Grund des methodischen Rückstands der Publizistik, die noch mit der juristischen „Konstruktion“ beschäftigt war, treffend Stolleis, Der lange Abschied (N 28), S. 13. 47 Zu dieser zunächst noch vorherrschenden Richtung M. Friedrich, Geschichte des deutschen Staatsrechts, 1997, S. 241 ff., 256 ff.; K. Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatslehre der Weimarer Republik, 1987, 51 f. Zum Weimarer Positivismus differenzierend W. Heun, Der staatsrechtliche Positivismus in der Weimarer Republik, in:

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Hänels Kritik an Labands Staatsrecht48 war ohne breitere Wirkung geblieben. Und die Distanzierung der Jüngeren hatte sich – von Kelsens zunächst randständigem Ansatz 1911 abgesehen49 – noch nicht methodologisch artikuliert. Die neuen Entwürfe – darunter die große Herausforderung durch Kelsens rein normative „Allgemeine Staatslehre“ – erschienen erst in den zwanziger Jahren. Nun erst entbrannte auf dem Feld des öffentlichen Rechts der legendäre „Methodenstreit“50. Ausgetragen wurde er sozusagen in offener Feldschlacht auf den Jahrestagungen der „Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer“ 1926 in Münster und 1927 in München51. Beide Debatten entzündeten sich an der Frage der Grundrechtsinterpretation. In dem einen Fall wirkte Erich Kaufmanns Bericht über den Gleichheitsgrundsatz (Art. 109 WRV), im anderen Smends Referat über die Meinungsfreiheit (Art. 118, 142 WRV) als Herausforderung52. Den traditionellen Positivismus verteidigten in der ersten Linie Nawiasky, Anschütz und Richard Thoma, der den Neuerern vorwarf, sie redeten chinesisch. Kelsen bekannte sich selbstverständlich auch als PosiDer Staat 28 (1989), S. 377; O. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994, S. 318 ff. 48 Siehe O. v. Gierke, Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft (1883), ND der 2. Aufl. 1961; A. Hänel, Deutsches Staatsrecht I, 1892, S. 98 ff. Dazu W. Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, 1993, S. 228 ff.; Friedrich, Geschichte (N 47), S. 275 ff. 49 H. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, 1911. 50 Dazu M. Friedrich, Der Methoden- und Richtungsstreit, in: AöR 102 (1977), S. 161; ders., Geschichte (N 47), 320 ff.; M.-E. Geis, Der Methoden- und Richtungsstreit in der Weimarer Staatslehre, in: JuS 1989, S. 91 (95 f.); S. Korioth, Erschütterungen des staatsrechtlichen Positivismus im ausgehenden Kaiserreich, in: AöR 117 (1992), S. 212 (221 ff., 225 ff., 228). 51 Siehe dazu den Überblick bei M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 3, 1999, S. 1153 ff.; H. Dreier, Positivisten, Antipositivisten und Österreicher, in: RJ 19 (2000), S. 82 (86 ff.). 52 E. Kaufmann, Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Rechtsverfassung, in: VVDStRL 3 (1927), S. 2; R. Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: VVDStRL 4 (1928), S. 44.

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tivist, war den Vertretern der alten Lehre aber ebenso selbstverständlich keine Hilfe, weil er sie mit seinem erkenntniskritischen Positivismus womöglich noch gründlicher in Frage stellte. Die positivistische Vorstellung eines rechtsetzenden subjektiven Staatswillens verwarf Kaufmann mit den naturrechtlichen Behauptungen, dass der Staat nicht Recht, sondern nur Gesetze schaffe und dass der Staat und seine Gesetze unter dem Recht stünden, dass dieses auf „ewigen Werten“ beruhe und in den objektiven Instituten der sittlichen Welt sich auspräge. Jede Generation habe ihren eigenen Geist in sie „hineinzulegen“, sie mit ihren „Legitimitätsvorstellungen zu erfüllen“ und so „ein eigenes Kultursystem von individueller Werthaftigkeit zu schaffen“. Daraus folgert er: „Die Tatsache, dass die Legitimitätsanschauungen des Zeitalters und der deutschen Volksgemeinschaft“ in dem Abschnitt der Verfassung über Grundrechte und Grundpflichten „bezeugt worden sind, macht ihn so wichtig für den Juristen, der aus ihm für die Anwendung der Gerechtigkeitsprinzipien die letztlich maßgebenden und leitenden Gesichtspunkte selbst da ablesen kann und soll, wo die einzelnen grundrechtlichen Sätze kein unmittelbar aktuell geltendes Recht geschaffen haben. Als Zeugnisse für die auch den Richter bindenden Legitimitätsund Wertauffassungen sind daher auch diese Sätze von praktisch juristischer Bedeutung.“53 In der Diskussion hob Günther Holstein eine Gemeinsamkeit von Kulturideen selbst bei den konkurrierenden demokratischen, liberalen, sozialistischmarxistischen und christlich-konservativen „Weltanschauungen“ und „Wertsystemen“ hervor, allesamt indes, wie er meinte, charakteristisch unterschieden von der Geisteshaltung Westeuropas. Diese „ideengeschichtlichen Zusammenhänge als Erkenntnisquelle gerade für die Erfassung des positiven Rechts fruchtbar . . . machen“, nannte Holstein „die Wendung zur geistesgeschichtlichen Methode in der Jurisprudenz“ und führte als methodische Vorbilder u. a. die ideengeschichtlichen 53

Kaufmann (N 52), S. 16, 18.

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Untersuchungen Diltheys sowie hauptsächlich – das ist bezeichnend – die rechtsgeschichtlichen Arbeiten Gierkes an54. Eben dies: die Grundrechte als „Festlegung eines kulturellen Systems, eines bestimmten Wertkonstellationssystems“, als verfassungsrechtliche Stellungnahme „zu bestimmten sachlichen Kulturgütern“ zu denken, war das zentrale methodologische Postulat Smends auf der Münchener Tagung 192755. In der Aussprache brachte Kaufmann wieder seinen von Maurice Hauriou inspirierten Lieblingsgedanken ins Spiel, indem er die „methodisch grundlegende Bedeutung“ der Ausführungen Smends mit gutem Grund als Hervorhebung der „institutionellen Seite und Bedeutung der Grundrechte“ und ihres „objektiven Ethos“ begriff. Wenn in diesen Verhandlungen der Staatsrechtslehrer zwar noch mehr von Geisteswissenschaft und Geistesgeschichte als von Kulturgütern, Kultursystemen und Kulturgeschichte die Rede war, so bedeutete das keinen sachlichen Unterschied. Vom deutschen Idealismus herkommend hatte Dilthey den Terminus „Geisteswissenschaft“ bevorzugt, den die Neukantianer Rickert und Windelband wegen seines angeblich psychologischen Klanges ablehnten56. In den zwanziger Jahren hat man jedoch keinen terminologischen Unterschied mehr gemacht57. An diese methodologischen Auseinandersetzungen knüpfte Hermann Heller an, als er eine Staatslehre unter Einschluss ihrer kulturwissenschaftlichen Aspekte entwarf. Er ging in seinem Werk, das – unvollendet – nach seinem Tod im spanischen Exil 1934 in Leiden erschien, gegen Kelsens Normativismus wie gegen den in objektiven Sinngebilden denkenden 54 G. Holstein, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 3 (1927), S. 55 ff.: siehe auch dessen Tagungsbericht: Von Aufgaben und Zielen heutiger Staatsrechtswissenschaft, in: AöR 11 (1926), S., 1 (31). 55 Smend (N 52), S. 51, 53, 96. Die folg. Kaufmann-Zit. ebd. S. 78, 82. 56 Siehe etwa Rickert, Kulturwissenschaft (N 32), S. 11 ff. 57 Dazu E. Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften (1927), ND 1965, S. 4 ff.

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geisteswissenschaftlichen Idealismus von einem „wirklichkeitswissenschaftlichen“ Begriff des Staates aus58. Er bestimmt ihn als „Organisation“, d. h. als „Einheit der Entscheidung und Wirkung planmäßig organisierter Handlungsgefüge“ mit der spezifischen Eigenart „souveräner Gebietsherrschaft“. Dadurch soll eine psychophysische Wirklichkeit bezeichnet sein, welche ein Stück der physischen Welt nach menschlichen Zwecken formt, mithin Kultur schafft. „Das Sein des Staates“ ist nach Heller folglich „sein Werden in immer erneuten politischen Entscheidungsakten, sein Werden im politischen Kampf zwischen wirklichen Willensmächten, denen gegenüber eine absolute Neutralität des Erkenntnissubjektes glattweg unmöglich ist“59. Daraus ergibt sich für ihn weiter, dass ohne Zukunftsvorstellung kein Bild des Staates möglich ist. Gibt es so allemal einen in der Zukunft liegenden Zweck des Staates, so hat er auch einen Sinn, ist „durchgeistetes“ Leben und insofern auch ein Gegenstand verstehender Kulturwissenschaft60, nicht nur der Soziologie und der Geschichtswissenschaft. Um den Staat in seiner Verfassung als eine Ganzheit zu bezeichnen, die nicht als bloße Summierung der Eigenschaften ihrer Teile zu erfassen ist und von den Menschen, die sie psychisch und durch ihre Aktionen immer neu realisieren, nicht abgelöst werden kann, übernimmt Heller den in der Psychologie entwickelten Begriff der Gestalt und nennt den Staat, dieses „wirkliche Sozialgebilde“, dieses geistgeformte Leben eine „offene Gestalt“, „durch die die Zeit hindurchgeht“. Im Gegensatz zum Staat sieht er dessen Recht und rechtsförmliche Verfassung als ein von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abgehobenes, relativ selbständiges normatives Sinngebilde. Um deren geistige Kulturgehalte zu verstehen, bedarf 58 H. Heller, Staatslehre, hg. v. G. Niemeyer, Leiden 1934 (jetzt auch in: Ges. Schriften III, 2. Aufl. 1992, S. 79 ff.), S. 59 u. passim. Die folg. Zit. ebd. S. 237, 34, 37 f. Zum methodologischen Aspekt H. Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit und der Methodenstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, 1984, S. 186 ff. 59 Heller, Staatslehre (N 58), S. 54. Das folg. Zit. ebd. S. 56. 60 Ebd. S. 32 ff., 43. Die folg. Zit. ebd. S. 62 f., 250.

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es nach Heller in erster Linie einer spezifisch juristischen Methode. Die durch die rechtswissenschaftliche Dogmatik bewirkte Verselbständigung des Sinnzusammenhangs „Recht“, diese Objektivierung des ideellen Sinngebildes „gesellschaftliche Ordnung“, ist jedoch kein Selbstzweck, sondern dient dem wirklichen Sozialgebilde „gesellschaftliche Ordnung“61. Folglich müssen Recht und Rechtswissenschaft nun sozusagen gegenläufig auch wirklichkeitswissenschaftlich interpretiert werden. „Die soziologische Deutung der geistigen Kulturgehalte versteht diese nicht immanent, sondern als eine Form, in der sich eine gesellschaftliche Wirklichkeit selbst auslegt“62. Eine so umfassende und differenzierte methodologische Reflexion hat es in der deutschen Staatslehre seither nicht mehr gegeben. Überhaupt ist das reiche rechtswissenschaftliche Theorie-Erbe der Jahrzehnte zwischen der Pandektistik und der Katastrophe unserer Kultur ziemlich verkümmert. Geblieben ist uns der Begriff des „Kulturstaats“, und wieder belebt wurde der Gedanke des „grundrechtlichen Wertsystems“. Die auf das Grundgesetz von 1949 gebaute Bundesrepublik Deutschland ist, so hat man gesagt, eigentlich erst 1958 mit dem viel beredeten Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts „aus der Taufe gehoben worden“63. Denn erst mit dieser Entscheidung beginnt der Prozess der „Konstitutionalisierung“, d. h. der verfassungsrechtlichen Durchdringung der überkommenen Rechtsordnung64. Das „Wertsystem des Grundgesetzes“ hatte das Gericht zwar schon 1956 im KPD-Verbotsurteil beschworen65. Aber jetzt erst wird von der „objektiven Wertordnung der Grundrechte“ als von einem „Wertsystem“ geEbd. S. 259 ff. Ebd. S. 47. 63 G. Roellecke, 75 Jahre Grundgesetz, in: RJ 19 (2000), S. 632 (633). Dazu jetzt: J. Schaefer, 1958 – Schicksalsjahr der Rechtsentwicklung in beiden deutschen Teilstaaten, in: JZ 2008, S. 703 (703 ff.). 64 Dazu R. Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzente, 2006, S. 32 ff. 65 BVerfGE 5, 85 (138 f.). 61 62

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sprochen, das „für alle Bereiche des Rechts gelten“ und alle Zweige der Staatstätigkeit leiten müsse66. Diese Sentenzen waren wegen ihrer Terminologie (und des identischen Streitthemas „Meinungsfreiheit“) leicht mit den Lehren Smends in Verbindung zu bringen. Hier sind indessen zwei (untereinander zusammenhängende) Unterschiede von größerem Interesse, die den historischen Abstand vom Weimarer Methodenstreit markieren. Der eine liegt in dem Entwurf einer systematischen Grundrechtsdogmatik, der die verfassungsgerichtliche Wertordnungsrechtsprechung trägt67. Denn Smend hatte zwar immer wieder von einem Wertsystem der Grundrechte gesprochen, sich aber ausdrücklich gegen dessen Klassifizierung als „Kodifikation“, d. h. als systematisches Regelwerk gewehrt68. Die zweite Differenz ergibt sich aus dem andersartigen Verhalten zur geschichtlichen Situation. Geisteswissenschaftliche Interpretation bedeutete nach Smend in erster Linie geistesgeschichtliche Deutung, die sich auf das „System der Grundrechte“ „als ein geschichtlich begründetes und bedingtes Ganzes“ bezog. In seiner Integrationslehre hat Smend den Sinn des Grundrechtskatalogs dann dreifach bestimmt: als Normierung eines „Kultursystems“, weiter als ein nach dem politischen Umsturz besonders nötiges Mittel der „Volksintegration“ und schließlich als „wichtigste Legitimitätsquelle“, insofern dieses Kultursystem „die bisherige bürgerliche Rechtsordnung in ihren Kerninstituten (Vertragsfreiheit, Eigentum, Ehe, Erbrecht) festhält“69. Ähnlich hatte ja auch Erich Kaufmann die Grundrechte und Grundpflichten bereits als Zeug66 BVerfGE 7, 198 (205, 207). Dazu zuletzt Th. Rensmann, Wertordnung und Verfassung, 2007, S. 68 ff. 67 Dazu H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 13 ff.; ders., Integration durch Verfassung?, in: FS f. H.-P. Schneider, 2008, S. 71 (86 ff.). 68 R. Smend, Schlusswort, in: VVDStRL 4 (1928), S. 96. Zum Folg. ders., ebd. S. 51; ders.; Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 119 (266). 69 Smend, Verfassung (N 68), S. 266.

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nisse der „Legitimitätsanschauungen des Zeitalters und der deutschen Volksgemeinschaft“ bezeichnet und die Aufgabe jeder Generation betont, die objektiven Institute der sittlichen Welt mit dem eigenen Geist zu erfüllen, um so – wie wir hörten – ein je „eigenes Kultursystem von individueller Werthaftigkeit zu schaffen“70. Ganz anders der prononciert menschenrechtliche Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes und die quasi zeitlose Wertphilosophie, die namentlich Günter Dürig zu dessen Interpretation initiiert hat. Diese an den Eigenwert des Menschen „als etwas immer Seiendes“ (Dürig)71 anknüpfende, ein wenig krause Mischung von ontologisch-naturrechtlichen, christlichen, kantischen und phänomenologischen Motiven hat mit der Kulturphilosophie der Jahrhundertwende nichts mehr zu tun. Sie ist oft und gründlich kritisiert worden. Doch geht die Kritik letztlich ins Leere. Denn die Bedeutung jener Wertordnungslehre folgt nicht aus ihrem dürftigen philosophischen Gehalt, sondern ergibt sich aus ihrer politischen Leistung: Sie hat die Integration und Stabilisierung der jungen Bundesrepublik gestützt, die im Wege der Kompensation ja mehr von einem der Zeit enthobenen Recht als von der Demokratie bewirkt wurde. Erst angesichts der neuartigen international-rechtlichen Herausforderungen, die eine historische Verschiebung der Koordinaten bewirken, ist in jüngster Zeit eine „Historisierung“ der Bonner Gründerzeit und ihrer Rechtsentwicklung in Gang gekommen72. Auf der Linie des Lüth-Urteils hat das Bundesverfassungsgericht später die Kunstfreiheit als eine „objektive Wertentscheidung für die Freiheit der Kunst“ gedeutet und ihr die verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Kunstförderung entnommen. Obwohl für die Begründung der Entscheidung unnötig und vielleicht auch gar nicht als Argument gemeint, hat das Kaufmann, Gleichheit (N 52), S. 18. Dazu und zum Folg. mit Nachw. H. Hofmann, Methodische Probleme der juristischen Menschenwürdeinterpretation, in: FS f. R. Wahl, 2008, S. 47, (51 ff.). 72 Dazu Wahl (N 64), S. 12 ff.; Th. Henne, Das Lüth-Urteil in (rechts-) historischer Sicht, 2005; Schaefer (N 63). 70 71

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Gericht die Bemerkung eingeschoben, dass der „moderne Staat . . . sich im Sinne einer Staatszielbestimmung als Kulturstaat versteh(e)“73. Der Terminus „Kulturstaat“ wird gern auf Fichte zurückgeführt. Tatsächlich sprach Fichte schon in seinen populären Vorlesungen über „Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“ von 1804 / 5 wiederholt (aber stets nur im Singular) vom „Kultur-Staat“ und nannte die Kultur den Zweck des Staates wie des Menschengeschlechts überhaupt, meinte damit aber im Sinne Pufendorfs die vernunftgemäße Vervollkommnung der zunächst rohen gesellschaftlichen Zustände. Letztlich verwendete er den Terminus – gleichbedeutend mit „Abendland“ – für den christlichen Kultur-Status der Menschheit74, der bei Savigny, wie eingangs angedeutet, als „Zeit der Kultur“ erscheint. Doch ist richtig, dass das Bürgertum des 19. Jahrhunderts nicht nur den Rechtsstaat der persönlichen Freiheitssicherung, sondern auch den Kulturstaat als Förderer von Wissenschaft und Kunst, Bildung und Erziehung wollte, wie das etwa Bluntschli in seinem „Allgemeinen Staatsrecht“ von 1852 zum Ausdruck gebracht hat75. Aus jener eher beiläufigen Bemerkung des Bundesverfassungsgerichts über das Selbstverständnis des modernen Staates hat der bei uns herrschende „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“76 indes sogleich die Feststellung gemacht, die Bun73 BVerfGE 36, 321 (331); siehe auch schon BVerfGE 35, 79 (114) zur Wissenschaftsfreiheit. 74 J. G. Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 1806, in: Gesamtausg. I 8 (1991), S. 189, 300, 310 f., 321 f., 345, 354. Dazu die vorbildliche begriffsgeschichtliche Studie von O. Jung, Der Kulturstaat, 1976, S. 10 – 26, – Zum Folg. E. R. Huber, Zur Problematik des Kulturstaats, 1958, S. 3 f., 11.; U. Engelhardt, „Bildungsbürgertum“, 1986; D. Grimm, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, in: VVDStRL (1984), S. 47 ff.; 53. – Zur folg. Erwähnung Savignys siehe noch einmal vorne in und bei N 3. 75 J. C. Bluntschli, Allgemeines Statsrecht (1852), zit. nach der 5. Aufl. 1875 u. d. T.: Allgemeine Statslehre, S. 365. Dazu Jung (N 74), S. 30 ff., 48 ff. 76 B. Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Der Staat 28 (1989), S. 161 (163).

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desrepublik sei „im Sinne von Staatszielbestimmung und Verfassungsauftrag Kulturstaat“77. Als „wichtigste Strukturmerkmale“ werden „Garantie und Schutz von Bildung, ferner Freiheit, Autonomie und Pluralität von Kunst und Wissenschaft sowie die Gewährleistung von Geistesfreiheit schlechthin“ genannt. Die Konkretisierung nach den Grundsätzen des Rechts- und Bundesstaats macht daraus zwangsläufig eine dürre Liste von Zuständigkeiten für Gegenstände in öffentlicher Pflegschaft. Eine gewisse Belebung hat die Debatte über das Staatsziel Kulturstaat auf der Kölner Tagung der Staatsrechtslehrer 1983 gebracht, wo über den „Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen“ gesprochen wurde78. Stärker war der Impuls, der 1990 von Art. 5 des Einigungsvertrages ausging. Denn die demgemäß gebildete Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat sollte auch über die Aufnahme neuer Staatszielbestimmungen ins Grundgesetz beraten. Das regte Bemühungen an, auch eine Kulturstaatsklausel im Verfassungstext unterzubringen79. Nachdem dieser Versuch gescheitert war, ebbte die Diskussion wieder ab. Unter der Rubrik staatlicher „Daseinsvorsorge“, in der die alten „Wohlfahrtszwecke“ aufgegangen sind, bieten unsere Lehr- und Handbücher des Verfassungsrechts zum Thema „Recht und Kultur“ heute also ein eher blasses Bild. Extra muros erleben wir indes – und damit komme ich zum Schluss – die dritte große Konjunktur, um nicht zu sagen: Inflation des Kulturbegriffs. 77 Th. Oppermann, Freiheit von Forschung und Lehre, in: Hdb. des Staatsrechts, hg. v. J. Isensee u. P. Kirchhof, Bd. VI, 1989, § 145 Rn. 23; hier auch das folg. Zit. 78 Berichte von U. Steiner u. D. Grimm, in: VVDStRL 42 (1984), S. 7; 46. 79 Zu dieser nicht gerade leidenschaftlichen Diskussion über eine Kulturklausel im GG: Th. Oppermann, Ergänzung des Grundgesetzes um eine Kultur(Staats)Klausel?, in: FS f. O. Bachof, 1984, S. 3 ff. Zum Ganzen auch A. Dittmann, Föderalismus in Gesamtdeutschland, in: Hdb. des Staatsrechts (N 77), Bd. IX, 1997, § 205 Rn. 22; M. Heintzen; Erziehung, Wissenschaft, Kultur, Sport, ebd., § 218 Rn. 19.

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6. Schluss: Der Cultural Turn Zum Ende des 20. Jahrhunderts haben die „Kulturwissenschaften“ in Deutschland eine schier unglaubliche Karriere gemacht. Ihre hochschulpolitische Förderung hat das Gesicht unserer philosophischen Fakultäten verändert und deren Lehr- und Forschungsprogramme verwandelt80. Es gibt neue Schwerpunkte wie z. B. Kulturgeschichte der Natur und der Technik, historische Anthropologie, Gedächtnis und Erinnerung, Kulturen als Zeichensysteme, Kulturökologie, Xenologie, innerkulturelle Kommunikation, Geschlechterforschung und mehr. Die alten Relevanzkriterien – durch Kultur (mehr Such- als Sachbegriff) sozusagen „weichgespült“ (U. Daniel) – gelten nur noch wenig, die Überschreitung der disziplinären Grenzen ist im Namen von Inter- und Transdisziplinarität zum Prinzip erhoben worden. Und es gibt kein „geisteswissenschaftliches“ Tagungsthema mehr ohne ausdrücklichen Kulturbezug. Wir können jenem Autor nur zustimmen, der sein Buch über „Das Problem der Kultur“ mit der Feststellung beginnt, dass „immer und überall . . . von Kultur die Rede (sei)“81. Zwar ist das Buch 1888 erschienen. Aber dieser Satz aus der zweiten Begriffs-Hochblüte gilt nach der viel besprochenen „kulturwissenschaftlichen“ oder „kulturalistischen Wende“ auch heute wieder82. Gewiss: die Geschichte wiederholt sich nicht; aber bisweilen wiederholen sich Geschichten. Diese hier erzählt vom Rekurs auf die Kultur aus einer wissen80 Dazu vorzüglich D. Bachmann-Medick, Cultural Turns, 2006 S. 7 ff.; instruktiv auch A. Nünning u. V. Nünning (Hg.), Konzepte der Kulturwissenschaften, 2003; H. Böhme / P. Matussek / L. Müller, Orientierung Kulturwissenschaft, 3. Aufl. 2007; siehe ferner A. Hetzel, Zwischen Poiesis und Praxis, 2001, S. 33 ff.; Seelmann (N 33), S. 127 ff.; F. Vollhardt, Heinrich Rickerts Begriff der „Kulturwissenschaft“ und die gegenwärtig geführte Diskussion über die Grundlagen der geisteswissenschaftlichen Disziplinen, in: Neukantianismus (N 29), S. 373. 81 R. v. Nostiz-Rieneck, Das Problem der Cultur, 1888, zit. nach Bruch (N 28), S. 85. Zur gegenwärtigen Inflation Heztel (N 80), S. 33. 82 Dazu R. Konersmann, Der Cultural Turn in der Philosophie, in: Symbolische Welten, hg. v. D. Rustemeyer, 2002, S. 67.

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schaftlichen Notlage heraus. Um die Wende zum 20. Jahrhundert kämpfte die Philosophie als Kulturphilosophie um ihre methodisch eigenständige wissenschaftliche Bedeutung. 100 Jahre später müht sich die Philosophie seit 1959 nun im Kampf der „zwei Kulturen“ (Snow) immer noch oder wieder um einen festen Standort zwischen physikalischem Naturalismus und einem haltlosen Kulturrelativismus83. Unter Druck steht heute jedoch nicht nur die Philosophie, sondern mit ihr das ganze Ensemble der „Geisteswissenschaften“. Das macht allerdings nicht allein die geistige Konkurrenz mit den Naturwissenschaften, sondern auch die von den Kapitalverwertungsinteressen bestimmte Ökonomisierung des Wissenschaftsbetriebs. Dagegen baut die Verteidigung mit den schrecklichen Erfahrungen des ungeheuer gewalttätigen 20. Jahrhunderts im Rücken auf die Notwendigkeit gesellschaftlicher Selbstreflexion und eines orientierenden Blicks auf das Ganze, womit man zugleich der alten Klage über die Zersplitterung unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse begegnet. So werden die Geisteswissenschaften in der vom Wissenschaftsrat und der Rektorenkonferenz veranlassten Denkschrift „Geisteswissenschaften heute“ als „der disziplinäre ,Ort‘“ bezeichnet, „an dem sich moderne Gesellschaften ein Wissen von sich selbst in Wissenschaftsform verschaffen“ und zwar unter der Maßgabe, dass „ihre Optik . . . auf das kulturelle Ganze, auf Kultur als Inbegriff der menschlichen Arbeit und Lebensformen, naturwissenschaftliche Entwicklungen eingeschlossen, auf die kulturelle Form der Welt (geht)“84. Windelband hatte das einst noch schlicht „Hunger nach Weltanschauung“ genannt. Ein großer Unterschied ergibt sich allerdings aus dem Gewicht, das inzwischen die Religion für die kulturelle Identität beansprucht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war mit Kultur 83 Dazu R. Lange, Zwischen Skylla und Charybdis?, in: Die Kulturalistische Wende, hg. v. D. Hartmann u. P. Janich, 1998, S. 23. 84 W. Frühwald u. a., Geisteswissenschaften heute – Eine Denkschrift, 1991, S. 40 f.

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wie selbstverständlich die eine christliche Kultur Mittel- und Westeuropas sowie Nordamerikas gemeint. Unter diesem Blickwinkel hatte ja schon Arnold die Religion aus seiner Übersicht über die Kulturbereiche der „kultivierten Völker“ als unspezifisch ausgeschieden. Und ausschließlich als „Philosophie des westeuropäisch-amerikanischen Kultursystems“ hatte Ludwig Stein seine Vorstellung von Kulturphilosophie entwickelt85. Längst haben uns indes Minderheitenprobleme und Nationalitätenkonflikte mit dem Pluralismus der Kulturen wie der Religionen konfrontiert86. Sieht man von den Detailproblemen ab, die der Multikulturalismus für die Praxis und den Schutz der Freiheitsrechte mit sich gebracht hat, ist von der Gärung des Kulturbegriffs in der Rechtswissenschaft bislang verhältnismäßig wenig zu spüren, zumal sie sich wissenschaftstheoretisch inzwischen als Sozialwissenschaft versteht87. Nur ganz am Rande gibt es eine Zivilisationskritik der heilen liberalen Rechtswelt im Namen einer Kulturwissenschaft des Rechts, die sich den verbliebenen „Tiefenschichten“ des politischen Zusammengehörigkeitsgefühls widmet und in den Mythen von Gewalt, Krieg, Tod, der Allmacht, des Heiligen und des Opfers gründelt88. Von sich reden macht dagegen seit gut 25 Jahren mit ihrer optimistischen Perspektive die von dem Bayreuther Verfassungsrechtler Peter Häberle gepflegte „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“. Siehe vorne bei und in N 30. Dazu H. Dreier, Religion und Verfassungsstaat im Kampf der Kulturen, in: Kulturelle Identität als Grund und Grenze des Rechts, hg. v. H. Dreier / E. Hilgendorf, 2008, S. 11 (21 ff.). 87 Dazu L. M. Friedman, The Legal System. A Social Science Perspective, 1975, dt. U. d. T.: Das Rechtssystem im Blickfeld der Sozialwissenschaften, 1981. 88 Siehe U. Haltern, Was bedeutet Souveränität?, 2007; ders., Erklärungsnotstand des Liberalismus: Warum Rechtswissenschaft keine Wissenschaft der Politik ist, in: Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft? (N 33), S. 145; ders., Notwendigkeit und Umrisse einer Kulturtheorie des Rechts, in: Kulturelle Identität (N 86), S. 193; dazu die Rez. v. Ch. Schönberger in: JZ 2007, S. 628. 85 86

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Häberle kennzeichnet seinen Ansatz ausdrücklich im Anschluss an Hermann Heller als „kulturwissenschaftlich“89. Aber anders als Heller betreibt er keine kultursoziologische Staatslehre, sondern eine Erweiterung der traditionellen Hermeneutik von Verfassungstexten. Er will die Erarbeitung der „kulturellen Wurzeln“ des Rechts für „Verfassungstheorie und Verfassungsrecht fruchtbar machen“, weil die „juristische Methode“ sie, insbesondere was den „essentiellen Kern (der) Kultur“, nämlich deren „traditionale Ideen“ samt „den ihnen zugeordneten Werten“ betrifft, allenfalls teilweise erfasse. So müsse etwa beim „juristischen Erziehungsziel ,Toleranz‘“ – wer wollte das bestreiten – auch ein Klassikertext wie Lessings Nathan „mitgelesen werden“. Das führt rasch zu dem ideengeschichtlichen Ansatz der Weimarer „geisteswissenschaftlichen Methode“ zurück90, was mit Berufung u. a. auf die ethnographische Umschreibung von Kultur als dem, was alles biologisch nicht vererbt werden kann, bei dem englischen Völkerkundler Edward B. Tylor begonnen hatte91. Im Einzelnen macht Häberle vier „Plausibilitätsgesichtspunkte für die Notwendigkeit einer Verfassungslehre als Kulturwissen89 Die Veröffentlichungen von P. Häberle zum Thema Kultur reichen von: Kulturpolitik in der Stadt, 1979, über zahlreiche Beiträge bis zu: Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 2007, und: Nationalflaggen, 2008. Der hier allein mögliche kurze Hinweis konzentriert sich auf die wissenschaftstheoretischen Kernsätze in: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982 (84 Seiten), die H. unverändert in die auf 1188 Seiten angeschwollene 2. Aufl. von 1998 übernommen hat. Dies u. die folg. Zit. ebd. S. 10 (1. Aufl.) bzw. S. 2 f. (2. Aufl.) u. S. 57 f. bzw. S. 588 ff. 90 Siehe vorne bei N 54. 91 Häberle zitiert Tylors Einleitung zu seiner Grundlegung der Ethnologie (Primitive Culture, 2 Bde., 1871) wie üblich in etwas verkürzter Fassung; vollständig lautet der Passus nach der dt. Übers.: Die Anfänge der Cultur, Bd. 1, 1873, ND 2005, S. 1: „Cultur oder Civilisation im weitesten ethnographischen Sinne ist jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, welche der Mensch als Glied der Gesellschaft sich angeeignet hat.“ Dazu Fisch (N 4), S. 757 f. – Ca. 150 Definitionen haben A. L. Kroeber / C. Kluckhohn, Culture: A Critical Review of Concepts and Definitions, Repr. New York 1963, gesammelt.

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schaft“ geltend: für die volle Erfassung von Verfassungsveränderungen durch Interpretation und Normsetzungen; für die Aufklärung der hermeneutischen Vorverständnisse; als Forum für das interdisziplinäre Gespräch und schließlich als Pflege des allgemeinen Verfassungsbewusstseins. Alledem wird man zustimmen. Andererseits ist die Kritik begründet, wenn sie den Aufweis eines rationalen Wegs von den abstrakten Werten hin zu den konkreten Konzepten ihrer stets von Konflikten geprägten Verwirklichung, hin also zur Rechtslehre (Dogmatik) und zur juristischen Methode der Rechtsanwendung vermisst92. Hier zeigt sich eine strukturelle Schwierigkeit, die in der Kulturphilosophie als Opposition von „Sachbedeutung“ und „Kulturbedeutung“ begriffen wird93. Luhmann hat sie als Verdoppelungseffekt kultureller Betrachtungen charakterisiert, der ein Identitätsproblem aufwirft, z. B. eben für das Recht als Regelung in einem Regelungssystem mit der Aufgabe, für bestimmte Bereiche und Fälle Recht und Unrecht zu unterscheiden, und für das Recht als Kulturprodukt, in dem sich eine bestimmte Lebenswelt spiegelt94. Die Rechtsgeschichte bleibt von diesem Verdoppelungseffekt jedoch auch bei kulturwissenschaftlichen Erweiterungen unberührt, weil sie keine Rechtspraxis anzuleiten hat, sondern das Recht nach einem Wort von Heinrich Mitteis allemal „im Flusse der lebenden Entwicklung . . . als Gewordenes (zeigt)“95. Unter dem Namen der Kultur hat es die Rechtsgeschichte mit den, wenn schon nicht konstanten, so doch jedenfalls trägen Elementen des Geschehensablaufs zu tun. Sie schließen als politisch-soziale Struktur, als Moral, Mentalität 92 Dazu B. Pieroth, Kultur als juristisches Spiel ohne Grenzen, in: Der Staat 22 (1983), S. 394 (402 ff.); W. Brugger, Kultur, Verfassung, Recht, Staat, in: AöR 126 (2001), S. 271 (291 ff.). 93 R. Konersmann, Kultur als Metapher, in: ders. (Hg.), Kulturphilosophie, 1996, S. 327 (353). 94 Luhmann (N 11), S. 41 f.; dazu Baecker (N 4), S. 553 ff. 95 Mitteis, Deutsche Rechtsgeschichte, 3. Aufl. 1954, S. 1.

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und Wirtschaftsverfassung das flexiblere Recht ein und überragen als geheiligte Traditionen der herrschenden und leitenden Vorstellungen dessen situationsbedingte Handhabung und Pflege, begrenzen, wie man auch sagen könnte, den nur langsam sich verschiebenden kulturellen Horizont von Recht und Rechtspflege. So gesehen resultiert die Bedeutung der Konjunktion „und“ in unserem Thema „Recht und Kultur“ aus der Differenz der historischen Fließgeschwindigkeiten des geschichtlichen Lebens, wie es nach den Worten Jacob Burckhardts „tausendgestaltig . . . daherwogt“96.

96 J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, hg. v. R. Marx, 1963, S. 9.

Recht, Politik und Religion 1. Vorüberlegungen Lassen Sie mich mit vier Vorüberlegungen beginnen. Denn die bloße Reihung der Termini Recht, Politik und Religion evoziert noch keine Vorstellung eines bestimmten Problemfeldes, wie es die paarweise Gegenüberstellung der thematischen Begriffe durchaus täte: Recht und Politik, Recht und Religion, Religion und Politik. Alles das sind vergleichsweise klassische Themen. Auch würde die Einbeziehung des Staates in die Thematik sogleich vertraute Perspektiven eröffnen: Staat und Recht, Staat und Politik, Staat und Religion. Aber: Recht – Politik – Religion? Jeder Versuch, diese Phänomene und ihre Beziehungen kulturphilosophisch oder kulturanthropologisch zu erfassen, d. h. den symbolischen Formen von Recht, Macht und Religion nachzugehen, müsste schon am Umfang der Aufgabe scheitern1. Dagegen könnten alle drei Komplexe – zweitens – als je spezifische Handlungszusammenhänge gesellschaftlichen Lebens begriffen werden. Dieser Gesichtspunkt scheint zu einer systemtheoretischen Behandlung unserer Thematik einzuladen. Denn Recht wird in dieser Sicht bekanntlich ja nicht als Normenkomplex oder Institutionsgefüge begriffen, sondern als Inbegriff aller auf den Unterscheidungs-Code Recht / Unrecht bezogenen Kommunikationen verstanden2. In derselben Weise qualifizieren sich politische Prozesse als solche durch ihre Fixierung auf die Leitunterscheidung von Macht1 Zur Möglichkeit dieses Ansatzes O. Schwemmer, Die kulturelle Existenz des Menschen, 1997, S. 109 ff., 129 ff. 2 N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 38 ff.

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erwerb und Machtverlust. Zum System Religion schließen sich Kommunikationen nach Luhmann durch die Unbedingtheit zusammen, mit der sie die Welt unter dem Aspekt von Transzendenz und Immanenz betrachten3. Geschlossene Kommunikationssysteme dieser Art funktionieren definitionsgemäß nur nach ihren eigenen Gesetzen, können also auch nur in dieser ihnen je eigenen Weise auf ihre Umwelt, d. h. auf andere Systeme reagieren. Demgemäß müssen dann die herkömmlichen Vorstellungen vom wechselseitigen Einfluss der Systeme aufeinander, von ihrer Kooperation und ihren Konflikten neu gefasst werden. So hat Luhmann für das Verhältnis zwischen Recht und Politik von Maturana und Varela den biologischen Begriff der strukturellen Kopplung übernommen4. In seinem nachgelassenen Text über „Die Religion der Gesellschaft“5 findet sich zur Systemverknüpfung von Religion und Politik indes eine Passage, welche die bis dahin entwickelte systemtheoretische Begrifflichkeit sprengt, auch wenn Luhmann nur von einer „Modifikation“ spricht. Er räumt nämlich ein, dass es soziale Systeme gibt, die sich „nicht eindeutig dem einen oder dem anderen Funktionssystem zuordnen lassen; die zum Beispiel in ihren Motiven und ihrer Kommunikation auf Religion Bezug nehmen, aber in ihren Zielen primär politisch orientiert sind“. Hatte es zuvor noch quasi ,traditionell‘ geheißen: „Die Ausdifferenzierung führt zu einer operativen Schließung und zu autopoietischer Reproduktion dieses Systems“ – so wird jetzt die Möglichkeit einer „Verschmelzung“ von Religion und Politik in Betracht gezogen. Als Katalysator erscheint die Protesthaltung sozialer Bewegungen. Entsprechend der Entstehungszeit des Textes sind die Beispiele schon historisch: gewisse civil-rights-Bewegungen in den USA, die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarnosz und „die islamische Bewegung . . . , die zum Sturz des SchahRegimes führte“. Aber dass das damit angesprochene Problem 3 4 5

N. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, 2002, S. 63 ff., 77 ff. Luhmann, Recht der Gesellschaft (N 1), S. 285, 440 ff. Siehe N 3. Die folg. Zitate ebd. S. 223 f.

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von höchster Aktualität ist, steht außer Frage. Gleichwohl möchte ich das Thema nicht von hier aus und in dieser Weise angehen. Hauptsächlich deswegen nicht, weil der für uns interessanteste Fall hier nur als Sonderfall erscheint und andererseits im Hinblick auf andere historische Beispiele aus der Geschichte der häretischen Bewegungen oder des religiösen Widerstandes gegen Tyrannei zu fragen wäre, ob es sich nicht eher um eine typische Konstellation handelt. Auch bedürfte der angegebene religiöse Code, denkt man etwa an den Pantheismus, wohl noch einmal der Überlegung. Schließlich: Es geht um den systematischen Zusammenhang der drei Begriffe Recht, Politik, Religion. Aber vielleicht wäre es möglich – und das ist die dritte Vorüberlegung – die drei Erscheinungen unter einem speziellen Aspekt sozusagen von innen heraus zu systematisieren. Könnten etwa unter den Stichworten: Weltbewahrung, Weltveränderung und Welterlösung (als Erlösung der oder von der Welt) je besondere Ausrichtungen in der Dimension der Zeit namhaft gemacht werden? Scheint Politik mit einer Neigung zur Veränderung des Bestehenden doch eher zukunftsorientiert, auch wenn die Tendenz zum Machterhalt Gegenwart perpetuieren möchte. Dagegen operiert das Recht mit Entscheidungsgrundlagen, die in Institutionen und Ordnungsnormen immer schon vorhanden sind und ein aus sich selbst heraus vermehrbares Leitungswissen bewahren. Daraus folgt der Strukturkonservatismus der Juristen. Allerdings gibt es daneben das imperativische Gebotsrecht des modernen Gesetzgebungsstaates und das ist prinzipiell zukunftsorientiert6. In dieselbe Richtung weist auch jedes rechtliche Verfahren, insofern es die systembildende Unterscheidung von Recht und 6 Zu dieser Zweipoligkeit des Rechts O. Behrends, Jherings Evolutionstheorie des Rechts zwischen Historischer Rechtsschule und Moderne, in: Rudolf von Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?, hg. v. O. Behrends, 1998, S. 93 ff. (178 ff.); H. Hofmann, Das Recht des Rechts, des Rechts der Herrschaft und die Einheit der Verfassung, 1998. Allgemeiner zum Problem von Recht und Zeit S. Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewusstseins, 1998.

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Unrecht bis zur Entscheidung vertagt. Transzendenz versus Immanenz hingegen operiert mit dem Gedanken der die Zeit aufhebenden Ewigkeit, die – Werden und Vergehen überholend – zugleich Vollkommenheit bedeutet. „Flog die Zeit wohl davon?“, „Ward die Welt nicht eben vollkommen?“, fragt Nietzsches Zarathustra sein Herz am großen Mittag7. In der Form der Erlösungsreligion vermag das religiöse System die Aufhebung der Zeit in seiner Eschatologie, in seiner Heilsgeschichte freilich auch zu „futurisieren“, quasi juristisch bis zum Jüngsten Gericht aufzuschieben8. Und damit wären wir über den Marxismus als politische Erlösungsreligion wieder bei der besonderen Zukunftsorientierung der Politik. Das alles ließe sich gewiss vertiefen. Aber ein gewinnbringender Ertrag scheint keineswegs sicher – schon gar nicht in einem kurzen Vortrag. Bleibt also – viertens – nur der pragmatische Zugriff: Hauptgegenstand unserer Tagung ist das Verhältnis von Recht und Politik. Von daher lässt sich der dritte Begriff der Religion als Chiffre für das nehmen, was man die Wiederkehr des Religiösen in unserer Gesellschaft genannt hat, mithin als Frage nach deren Auswirkung auf die Beziehung von Recht und Politik verstehen. Das klingt nach einer soziologisch-politikwissenschaftlichen Untersuchung, die gewiss möglich und notwendig ist, aber nicht meine Aufgabe sein kann. Mir obliegt eine normative Betrachtung des Problemfeldes. Und das bedeutet zweierlei. Zum einen ist zu vergegenwärtigen, dass und wie die liberaldemokratische Verfassung das Verhältnis von Recht und Politik vermittelt und der Religion Wirkungsmöglichkeiten in den öffentlichen Raum hinein eröffnet. Darüber hinaus muss zweitens aber auch bedacht werden, dass dieses festgesetzte verfassungsrechtliche Regulierungssystem nicht geschlossen und starr ist, sondern über seine 7 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 4. Teil: Mittags (Werke in 3 Bden., hg. v. K. Schlechta, Bd. 2, S. 275 ff. [513 f.]); dazu K. Schlechta, Nietzsches großer Mittag, 1954. 8 Dazu Luhmann, Religion (N 3), S. 150 f.

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Leitbegriffe Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit gegenüber moralischen Appellen, d. h. gegenüber dem Ausdruck nicht formalisierter und positivierter, aber gesellschaftlich wirksamer Vorstellungen vom Richtigen offen und damit bis zu einem gewissen Grade flexibel bleibt. Die Moral ihrerseits verdankt ihren teilweise religiösen Wurzeln eine gewisse Empfänglichkeit für religiöse Momente. Das Religiöse kann also nicht nur im Rahmen des verfassungsrechtlichen Schleusensystems über die Politik das Recht beeinflussen, sondern vermag im Gewande von oder im Bunde mit moralischen Appellen auch dieses Regulierungssystem selbst zu affizieren. Daher sei im Folgenden zunächst das normative Problemfeld etwas näher beleuchtet, bevor wir uns der Wiederkehr des Religiösen in der säkularisierten Gesellschaft zuwenden. 2. Die normative Struktur des Problemfelds Die Verfassung im normativen Sinn gehört zwar, wiewohl nach Ursprung und Gegenstand so etwas wie politisches Recht, doch zum Bereich des Rechts, behauptet dort aber als paramount law, als Recht eines höheren Ranges eine überragende Stellung9 – in einer stets prekären Weise allerdings. Es ist ja die Entscheidung bestimmter politischer Akteure, der Konsens einer Führungsschicht, was unter bestimmten historischen Umständen und revolutionären Bedingungen einen rechtlichen Uranfang stiftet, in dem ein historischer subjektiver Wille als objektives Gesetz der Gesetze erscheint. Die Konstitution erhebt so den höchsten normativen Anspruch und besitzt doch die geringste Durchsetzungskraft. In Wahr9 Dazu R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1961), S. 485 ff.; H. Hofmann, Zur Idee des Staatsgrundgesetzes, in: ders., Recht – Politik – Verfassung, 1986, S. 261 ff. (275 ff., 279 f.); Zum Folgenden ders., Recht des Rechts (N 6), S. 54 f. – Zu den politischen Dimensionen des Verfassungsrechts J. Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: Handbuch des Staatsrechts, hg. von dems. u. P. Kirchhof, Bd. VII, 1992, S. 103 ff.

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heit ist sie nur „evokativ“, nicht „imperativ“. Sie regelt die Formung und Ausübung der Macht, ohne die politischen Kräfte tatsächlich zu beherrschen. Sie beansprucht für sich Gesetzeskraft, nimmt sich selbst aber aus dem Funktionszusammenhang der Gesetzgebung heraus – sachlich und zeitlich. Sachlich, indem sie die Frage nach der Gerechtigkeit des Rechts für die Parlamentsgesetze auf die Frage nach deren Geltung gemäß der Verfassung reduziert, für sich selbst indes nicht nur Geltung, sondern Richtigkeit nach Prinzipien und Wahrheiten beansprucht10. Dabei definiert sie den Ort der Religion primär durch Aussparungen, durch individuelle und kollektive Freiheitsgarantien, öffnet ihr damit und mittels gewisser institutioneller Gewährleistungen freilich zugleich einen weiten Bereich gesellschaftlich-politischer Wirksamkeit11. Zeitlich reicht die Selbst-Exemtion der Verfassung zurück und voraus. Mit dem Mythos von der verfassunggebenden Gewalt externalisiert sie ihren eigenen Entstehungsgrund, löst sich damit selbst rückblickend von Anfang an aus der Zeitperspektive beliebiger Setzung und Veränderung heraus und bekräftigt dies für die Zukunft durch die Behauptung eines höheren normativen Ranges. Denn der besteht ja in 10 Prototypisch die auf L. Locke gestützten Eingangsworte der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776: „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingesetzt werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten; dass, wenn immer irgendeine Regierungsform sich als diesen Zielen abträglich erweist, es Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und diese auf solchen Grundsätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es ihm zur Gewährleistung seiner Sicherheit und seines Glückes geboten zu sein scheint . . .“. 11 Siehe dazu die Beiträge von A. Hollerbach: „Grundlagen des Staatskirchenrechts“, „Der verfassungsrechtliche Schutz kirchlicher Organisation“ und „Freiheit kirchlichen Wirkens“ sowie den Artikel „Religionsfreiheit“ von A. Frh. v. Campenhausen, in: Handbuch des Staatsrechts, hg. v. J. Isensee u. P. Kirchhof, Bd. VI, 1989, S. 471 ff., 557 ff., 595 ff. bzw. S. 369 ff.

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nichts anderem als in der Außerkraftsetzung der Regel: lex posterior derogat legi priori, also darin, dass die Verfassung sich grundsätzlich gegen die spätere, aus der Sicht des Rechtsanwenders: jüngere Gesetzgebung immunisiert. Mit alledem ist die Verfassung mehr als die Summe formeller Verfassungsgesetze12. Und unbeschadet der förmlichen Verfassungsänderungsverfahren gewinnt ihre Substanz in der geistigen Welt der Legalität – selbst ohne förmlichen Revisionsausschluss – eine Art von säkularem Ewigkeitscharakter. Auch wenn Hegel in seiner Rechtsphilosophie gegen die revolutionäre Verfertigung von Verfassungen polemisiert und deren Gesetzescharakter – ehedem in der Landständeschrift verfochten und auch jetzt noch um der Bestimmtheit und Öffentlichkeit willen für notwendig gehalten13 – hinter den Gedanken ihrer allmählichen geschichtlichen Entwicklung aus dem Volksgeist zurücktreten lässt, trifft seine gegen die Machbarkeit von Verfassungen gerichtete These dennoch den Kern des neuzeitlichwestlichen Verfassungsverständnisses. Es sei nämlich, heißt es in § 27314, „überhaupt . . .. schlechthin wesentlich, dass die Verfassung, obgleich in der Zeit hervorgegangen, nicht als ein Gemachtes angesehen [!] werde.“ Sie sei „vielmehr das schlechthin an und für sich Seiende, das darum als das Göttliche und Beharrende und als über der Sphäre dessen, was gemacht wird, zu betrachten ist“. Die Verfassung als eine dauer12 Zu diesem letztlich weniger revolutionären als evolutionären, d. h. zu einem guten Teil sich quasi hinter dem Rücken der Akteure ereignenden Vorgang: Luhmann, Recht der Gesellschaft (N 2), S. 470 ff.; H. Hofmann, Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung?, in: JZ 1999, S. 1065 ff., jetzt auch in: Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts, hg. v. H. Dreier, 2000, S. 180 ff. (191 ff., 197 f., 200 ff.). 13 G. W. F. Hegel, (Beurteilung der) Verhandlungen in der Versammlung der Landstände des Königreichs Württemberg im Jahr 1815 und 1816, in: stw 4 (1986), S. 462 ff. (498); ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Teil III, in: stw 10 (1986), § 538 (S. 331); ders., Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: stw 7 (1986), §§ 211 u. 274 (S. 361 ff., 440). Dazu A. v. Bogdandy, Hegels Theorie des Gesetzes, 1989, S. 143, 147 f. 14 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: stw 7 (1986), S. 439. Dazu jetzt Kirste (N 6), S. 227 ff.

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hafte, sakralisierte Ordnung wird der normalen Gesetzgebung entrückt, das Produkt von Politik in eine Sphäre jenseits der Politik versetzt. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für die Wirksamkeit dieser „Entzeitung“ der die Rechtsordnung wie die Politik überwölbenden und den Ort der Religion primär negativ durch Aussparungen definierenden Verfassung bietet das Bonner Grundgesetz. Trotz der mittlerweile 49 förmlichen Grundgesetz-Änderungsgesetze und einer gut 50jährigen Verfassungsgerichtsjudikatur behandelt die deutsche Verfassungsrechtsdogmatik den Verfassungstext wie die europäischen Juristen einst das Corpus Juris Civilis: als die der Geschichte entrückte ratio scripta, mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Glossa ordinaria. Noch wer es Jahrzehnte nach der Verkündung unternahm, die Geschichte der Entwicklung des Grundgesetzes seit 1949 zu schreiben, bewegte sich weitgehend auf einer Brache, während die Historie der Entstehung des Grundgesetzes vor 1949, die Geschichte einiger weniger Jahre, längst in der detailliertesten Weise erforscht war15. Aber natürlich trügt der Schein. Selbstverständlich gibt es jenseits der förmlichen punktuellen Verfassungsrevisionen einen permanenten stillen Veränderungsprozess, den wir Verfassungswandel nennen16. Hegel hat das im Gro15 Siehe dazu einerseits das Material der Beiträge von M. Stolleis zu „Besatzungsherrschaft und Wiederaufbau deutscher Staatlichkeit 1945 – 1949“ und von R. Mußgnug: „Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland“ sowie andererseits den Artikel „Die Entwicklung des Grundgesetzes nach 1949“ vom Verf., in: Handbuch des Staatsrechts (N 11), Bd. I, 1. Aufl. 1987 (3., überarbeitete Aufl. 2003), S. 173 ff., 219 ff. bzw. 259 ff. 16 Dazu grundlegend G. Jellinek, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung, 1906. Aus der neueren Lit.: B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 20 ff., 254 ff., 295 ff., 356 ff.; E.–W. Böckenförde, Anmerkungen zum Begriff des Verfassungswandels, in: FS f. P. Lerche, 1993, S. 3 ff.; G. F. Schuppert, Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht, in: AöR 120 (1995), S. 32 ff.; M. Kenntner, Grundgesetzwandel, in: DÖV 1997, S. 450 ff. (455); Ch. Walter, Hüter oder Wandler der Verfassung?, in: AöR 125 (2000), S. 517 ff.; H. A. Wolf, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz, 2000, S. 26 ff., 79 ff.

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ßen nicht anders gesehen. Die Verfassung des Volksgeistes als kollektive Bewusstseinsverfassung gestaltet sich allmählich um17. Was jeweils die Unveränderlichkeiten definiert, sind für Hegel selbst nur Entwicklungsstufen18. Die Frage ist also die nach einem Wandel in dem skizzierten Verfassungsgefüge von Recht, Politik und Religion durch jene Bewegung, die man Wiederkehr des Religiösen nennt. Dabei will jedoch bedacht sein, dass selbst die liberale Verfassung des säkularisierten Staates keine Ordnung ist, die gegenüber Weltanschauung, Religion und Moral eine quasi technische Neutralität besäße. Für ein Volk von Teufeln taugen liberaldemokratische Verfassungen entgegen Kants bekannter Formulierung nicht19. Auch die liberalen Verfassungen beruhen trotz entschiedener Trennung von Recht und Moral, also von dem, was rechtlich korrektes Verhalten, und dem, was ein sittlich gutes Leben ist, auf moralischen Wertungen. Sie prägen sich in den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit, von Religionsfreiheit und Toleranz oder heute zudem im Postulat sozialer Gerechtigkeit aus. Dieser Verfassungshumus besteht zwar nur aus einer weltanschaulich sozusagen abgerüsteten Minimalmoral20. Gleichwohl kann er seine Herkunft aus der 17 G. W. F. Hegel, Rechtsphilosophie (N 13), § 274 mit Zus. (S. 440), § 298 Zus. (S. 465); ders., Enzyklopädie III (N 13), § 540 (S. 336); ders., Die Philosophie des Rechts. Die Mitschriften Wannenmann (Heidelberg 1817 / 18) und Homeyer (Berlin 1818 / 19), hg. v. K.–H. Ilting, 1983, § 134, S. 155 (Mitschrift Wannenmann). 18 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818 – 1831, Ed. u. Komm. in 6 Bden. v. K.–H. Ilting, Bd. 4: Vorlesungsnachschrift von K. G. v. Griesheim 1824 / 25, 1974, S. 663: „Jede Verfassung ist nur ein Produkt, eine Manifestation des eigenthümlichen Geistes eines Volks und der Stufe der Entwicklung des Bewußtseins seines Geistes. Diese hat ihre Nothwendigkeit im Fortgange, wo sich kein Glied überspringen läßt, man kann der Zeit nicht voreilen . . .“. 19 I. Kant, Zum ewigen Frieden: Erster Zusatz, Akademie-Ausg., Bd. VIII, Nachdr. 1968, S. 341 ff. (336). 20 Dazu S. Huster, Die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates, in: Der Streit um das Kreuz in der Schule, hg. v. W. Brugger v. dems., 1998, S. 69 ff. (74 ff., 81 ff.); jetzt umfassend ders., Die ethische Neutralität des Staates, 2002.

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über Idealismus und Aufklärung ins Christlich-Religiöse zurückreichenden abendländischen Tradition nicht verbergen. Wer sähe das dem Verfassungsbekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde nicht an21? Und die Bekundung des „Bewusstseins“ der „Verantwortung vor Gott“ in den Eingangsworten der Präambel des Grundgesetzes ist zwar keine invocatio Dei im eigentlichen Sinn, weil sie keine göttliche Vollmacht für die Verfassunggebung reklamiert22. Eher stellt sie ein Zeugnis der „Humanität und Selbstbescheidung“ in einer „Demutsformel“ dar23. Auch bleibt der Gottesbegriff unbestimmt, die rechtliche Tragweite der Formel sehr gering. Aber immerhin ist es eine Absage an den Atheismus als Staatsreligion24. Religiöse Toleranz und die weltanschauliche Neutralität des Staates haben selbst weltanschauliche Wurzeln. Über die verfassungsrechtliche Inkorporation jener Grundwerte bleibt das Rechtssystem jedenfalls an der Spitze der Normenhierarchie mit dem Moralsystem der Gesellschaft verbunden25. Und dieses Moralsystem ist eben teils selbst das Resultat einer Verschmelzung verschiedener, auch religiöser Vorstellungen des Guten und Richtigen, teils aber, entsprechend dem gesellschaftlichen Pluralismus, auch nur noch ein Konglomerat mehrerer Moralen. Damit ist klar, dass und warum das Rechtssystem in gewisse Bedrängnisse kommen muss, wenn sich die Moralen religiös sozusagen neu aufladen, erst recht natürlich, wenn nicht nur Moral und Religion, sondern auch Religion und Politik wieder verschmelzen. Denn die Wahrung des inneren Friedens durch den modernen Staat beruht auf der grundsätzlichen sachlichen Trennung von Recht und Politik, Recht und Moral, Recht und Religion. Und dafür 21 Differenzierend zur Ideengeschichte H. Dreier, Rn. 1 ff. zu Art. 1 I, in: Grundgesetz-Kommentar, hg. v. dems., Bd. I, 1996, S. 91 ff. 22 Hollerbach, Grundlagen (N 11), S. 517 ; J. Isensee, Rekurs des Verfassungsgebers auf Gott – Invocatio dei und provocatio ad deum in der Verfassung des säkularen Staates, in: Valeat aequitas, Katowice 2000, S. 177 ff. 23 Dreier (N 21), Rn. 15 zur Präambel (S. 13). 24 Ebd. Rn. 18 (S. 14). 25 Dazu R. Dreier, Recht – Staat – Vernunft, 1991, S. 36 f., 41.

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ist ein relativ selbständig funktionierendes Rechtssystem – das gilt historisch wie systematisch – die allererste Voraussetzung26. 3. Wiederkehr des Religiösen in der säkularisierten Gesellschaft Mit seiner Friedenspreisrede im anderen Frankfurt scheint Jürgen Habermas vor einem Jahr unter dem Titel „Glauben und Wissen“ das maßgebliche Stichwort gegeben zu haben, als er von der „postsäkularen Gesellschaft“ sprach27. Uns hätte sonach Recht und Politik und auch die Moral in der „postsäkularen Gesellschaft“ zu beschäftigen. Aber was genau meint dieser Ausdruck, was bedeutet die behauptete Wiederkehr oder das Wieder-Bewusstwerden des Religiösen? Diesen Fragen gilt der nächste Teil unserer Überlegungen, bevor wir uns den Konsequenzen zuwenden. Nach Habermas leben wir heute in einer postsäkularen Gesellschaft, „die sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung einstellt“28. Im Kontrast zu den Detonationen, in denen die „Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und Religion“, so Habermas, an jenem 11. September in New York explodiert ist, erscheint seine Definition recht leise und undramatisch, soll aber doch einen neuartigen Gesellschaftszustand bezeichnen. Da mag man sich allerdings fragen: Waren Erfahrung und Bewusstsein der „haltenden Mächte von Religion und Kirche“ nach 1945 und noch in den Anfangsjahren der Bundesrepublik aus leicht einsehbaren Gründen nicht viel stärker als heute? Nicht von ungefähr bestimmten bis in die 60er Jahre hinein Schlagworte wie „Koordination von Staat und Kirche“, „partnerschaftliche Gleichordnung“ und „Öffentlichkeitsauftrag der Kirche“ an Stelle der herkömmlichen Theorie von der 26 27 28

Dazu Luhmann, Religion (N 3), S. 101. J. Habermas, Glauben und Wissen, 2001, S. 13 u. ö. Ebd.

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staatlichen Kirchenhoheit die staatskirchenrechtliche Diskussion29. Noch 1957 hat das Bundesverfassungsgericht in der männlichen Homosexualität einen eindeutigen Verstoß gegen das Sittengesetz erkannt und dies umstandslos mit den Lehren der „beiden großen christlichen Konfessionen“ begründet30. Und es waren jene ersten Jahre der Bundesrepublik, in denen der Bundesgerichtshof in Strafsachen Moralvorstellungen christlicher Prägung zur unabänderlichen Wertordnung stilisieren und zur Grundlage seiner Entscheidungen machen konnte31. (Übrigens: dass das Grundgesetz, damals schon einige Jahre in Kraft, seinerseits eine eigene, vielleicht doch stärker aufklärerische Werteordnung statuiert hat, was heute im Blick auf die Verfassung als zeitlose Selbstverständlichkeit erscheint32, war damals in Karlsruhe noch unbekannt. Erst in seinem Lüth-Urteil von 1957 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Verfassung – mit kaum überschätzbaren Folgen – zum „Wertsystem“33.) Aber die Situation heute ist eine andere. Der große Unterschied liegt im ausgeprägten Bewusstsein der unablässig voranschreitenden Säkularisierung des Umfeldes, d. h. der wissenschaftlich-technischen Zivilisation entgrenzter Kapitalkräfte. Und das differenziert, ja polarisiert die Wahrnehmung der Kirche und der Religion überhaupt als „haltende Mächte“. Darauf zielt Habermas, wenn er „postsäkular“ eine Gesellschaft nennt, die in „einer sich fortwährend säkularisierenden Umgebung“ auf das Fortwirken jener Mächte sich einstellen 29 Dazu H. Weber, Grundprobleme des Staatskirchenrechts, 1970, S. 12 ff.; D. Ehlers, Der Bedeutungswandel im Staatskirchenrecht, in: Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung, hg. v. B. Pieroth, 2000, S. 85 ff. (86 f., 94 f.). 30 BVerfGE 6, 389 (434 f.). 31 Siehe BGHSt 6, 46; 6, 147; BGHZ 28, 375. Dazu statt aller F. Wieacker, Rechtsprechung und Sittengesetz, in: JZ 1961, S. 337 ff.; aber auch W. Rosenbaum, Naturrecht und positives Recht, 1972, S. 126 ff. 32 Dazu vorne nach N 14. 33 Dazu näher H. Hofmann, Vom Wesen der Verfassung, in: JöR 51 (2003), S. 1 (11 ff.).

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muss. Für die einen sind es nämlich „Katechonten“ im Sinne des 2. Thessalonicher Briefes (2, 7): Aufhalter der Apokalypse völliger Entseelung der Welt, anderen erscheinen sie als Bastionen des Obskurantismus, als Feinde des wissenschaftlichen Fortschritts. Und wo der Modernisierungsprozess ohne Geisteswandel durch Aufklärung bloß als Zerstörung traditioneller Lebensformen erfahren wird, da muss man damit rechnen, dass der Säkularisierungsprozess „entgleist“, wie Habermas plastisch formuliert34. Im Protest gegen jene vom Westen ausgehende Entwicklung verschmelzen Gefühle der Erniedrigung, religiöse Motive und politische Zielsetzungen zu einer sozialen Protestbewegung im Sinne Luhmanns, die – verkürzt – als ,islamischer Terrorismus‘, als Terrorismus ,islamischer Fundamentalisten‘ wahrgenommen wird. Dabei weiß jeder, der die europäische Geschichte kennt, von vielen verschiedenen engstirnigen Orthodoxien mit Totalitätsansprüchen auf das richtige Leben. Islamischer Fundamentalismus ist einer von mehreren. In der Geschichte war es eher ein seltener Glücksfall, wenn Moslems, Juden und Christen friedlich und in fruchtbarem Austausch beieinander wohnten. Cordoba etwa oder Toledo bewahren Spuren einer solchen Sternstunde. Die Finsternis kam von Süden und von Norden. Nun war es aber nicht erst der islamisch genannte Terrorismus der allerjüngsten Zeit, der die säkularisierte Gesellschaft irritiert und sensibilisiert und den Vorstand unserer Vereinigung längst vor dem 11. September 2001 zu der hier behandelten Erweiterung des Themenspektrums unserer Tagung bewogen hat. Die Staatsverfassung der säkularisierten Gesellschaft beruht – davon war andeutungsweise schon die Rede – auf einer profanen Moral, die teilweise aus christlichen Wurzeln stammt. Aber weniger unmittelbar wegen dieses ideellnormativen Erbes fielen die fremdartigen Lebensformen islamischer Herkunft und Prägung bei uns seit längerem in einer allgemach irritierenden Weise auf. Der Grund liegt eher darin, dass das Christentum mit seinen Lebensformen, Vorstellun34

Glauben und Wissen (N 27), S. 12.

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gen und Traditionen unsere kulturellen Überlieferungen in bestimmter Weise geprägt hat und damit trotz der sehr weitgehenden Entchristianisierung des alltäglichen Lebens glaubensunabhängige Normen des Zugehörigen abgibt. Seismographisch hat das Rechtssystem längst leichtere soziale Erschütterungen aus religiösen Beweggründen aufgezeichnet35. Beispiele bieten vom Kopftuch der Lehrerin in der Schule bis zum Schächten das Schul- und Beamtenrecht, das Recht der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, einschließlich des Baurechts, das Vereinsrecht und das Tierschutzrecht. Mit den Problemen des bewussten Kopftuches und des Sportunterrichts für Mädchen, mit gefährlichen fundamentalistischen Vereinigungen, im Streit um Moschee- und Minarettbauten, mit den schwierigen Problemen der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts in den staatlichen Schulen gemäß Art. 7 Abs. 3 GG, auch mit den durch Lautsprecher verstärkten Gebetsrufen der Muezzins, welche dem Konkurrenz machen, was Juristen gelegentlich das christliche Lärmprivileg (des liturgischen Glockenläutens) nennen36, scheint sich wiederum der Islam als „Störfaktor“ zu erweisen. Aber das Schächten ist auch ein jüdischer Ritus und an dem alten Streit um das Kreuz im Gerichtssaal37, an der neueren, ganz außerordentlichen Aufregung um das Kruzifix im Klassenzimmer38 und am Streit um die Einführung christlichen Religionsunter35 Siehe zum Folgenden aus dem reichhaltigen Schrifttum etwa N. Janz u. S. Rademacher, Islam und Religionsfreiheit, in: NVwZ 1999, S. 706 ff. 36 Dazu A. Hense, Glockenläuten und Uhrenschlag, 1998. 37 BVerfGE 35, 366 (375 ff.). 38 Vgl. die heftig umstrittene Kruzifix-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (E 93, 1) vom 16. 5. 1995 (s. auch später bei N 62). Dazu statt aller Brugger / Huster, Streit um das Kreuz in der Schule (N 20). An der Polemik gegen seine Entscheidung ist das Gericht insofern nicht ganz unschuldig, als es seine Formulierungen teilweise unnötig zugespitzt hat. Zu der dadurch aktualisierten Angst vor dem Verlust kultureller Identität B. Schlink, Zwischen Säkularisation und Multikulturalität, in: FS f. G. Roellecke, 1997, S. 301 ff. (303, 305). Sachlich liegt der Fehler der Debatte in der Vorstellung, es gehe letztlich um eine Abwägung zwischen positiver und negativer Glaubensfreiheit.

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richts als ordentliches Lehrfach in den staatlichen Schulen Brandenburgs39 waren und sind Muslime ganz unbeteiligt. Zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Kirchenführern und Vertretern der Wissenschaft haben jüngst darüber hinaus einige Fragen der sog. roten, den Menschen betreffenden Gentechnik geführt. Zum Hintergrund: Seit 1987 gibt es eine „Instruktion“ der römischen Kongregation für die Glaubenslehre „über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung“40. Darin wird unter Berufung auf „das Evangelium des Heils“, das von der Kirche ausgelegte „göttliche Gesetz“ und das „Licht der Offenbarung“ behauptet, der Staat sei u. a. verpflichtet, Experimente mit Embryonen zu verbieten. Im Klartext bedeutet das die Forderung an den Staat, in allen Fragen des Embryonenschutzes auch alle Nicht- oder Andersgläubigen mit dem Mittel des Strafrechts unter die Konsequenzen der römischen Glaubenssätze und theologischen Erkenntnisse zu beugen. In Deutschland ist das über die konfessionelle Besetzung verfassungsrechtlicher Begriffe in einem beachtlichen Umfang gelungen. Selbstredend ist das nicht allein das Werk der römischen Glaubenskongregation, aber ohne die Wirkung ihrer potestas indirecta doch schwer vorstellbar. Weswegen sonst wäre die Situation in den Niederlanden etwa oder in Großbritannien so augenfällig anders? Wie dem auch sei. Jedenfalls sind heute beim Streit um die Möglichkeiten und Grenzen humangenetischer Forschungen, in dem es um die rechtliche Bewertung und Behandlung wissenschaftlicher Projekte geht, Vertreter der beiden großen Kirchen als gesellschaftlichen Großorganisationen für Lebensführung ganz fraglos unver39 Dazu N. O. Oermann, Einigkeit und Recht und Werte: der Verfassungsstreit und das Schulfach LER in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion, 2001. 40 Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung, zit. nach dem Abdruck in: Lebensbeginn und menschliche Würde – Stellungnahmen zur Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre vom 22. 2. 1987, hg. v. S. Wehowsky, 1987, S. 3 ff.

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zichtbare Mitglieder der die Staatsorgane beratenden Ethikkommissionen41. Dabei verschlägt es nichts, dass ihre öffentlichen Ansprüche und deren öffentliche Wahrnehmung und Aufnahme in einem wachsenden Missverhältnis zum Einfluss auf das alltägliche Leben ihrer eigenen Mitglieder stehen, zu schweigen von deren Schwund42. Auch ficht sie die innerkirchliche Kritik, wie sie in je konfessionsspezifischer Weise geäußert wird, einstweilen jedenfalls wenig an. Liegt doch unter dem Aspekt der Kirche als Heilsanstalt die Frage nahe, ob die Kirche nicht ihren eigenen Auftrag verfehlt, wenn sie, statt alles weltliche Leben mit all seinen Werten stets und radikal unter ihre Wahrheitsfrage zu stellen, sich als hilfreicher Lückenbüßer beim staatlichen Dammbau gegen angebliche Werteverluste betätigt43. Und der im reformatorischen Sinn freie, zur Verantwortung in der Welt befreite Christenmensch, tatkräftig „der Stadt Bestes suchend“, muss eigentlich die Frage stellen, „ob die Kirche und die Christen stark und engagiert genug sind, um die politische Kultur einer . . . sich immer stärker säkularisierenden Gesellschaft . . . zu prägen, ohne dafür staatliche Privilegien in Anspruch zu nehmen“, d. h. ohne primär auf die institutionelle Sonderstellung der Kirche zu bauen44. Auch das mag hier auf sich beruhen. Für den Juristen und Rechtsphilosophen, der das Problemfeld: Recht, Politik und Ethik betrachtet, ist von besonderem Interesse, dass an jenen vom Staat eingerichteten Ethikkommissionen Theologen auch über den Kreis der Kirchenfunktionäre hinaus oder nicht nur in dieser Rolle als Experten beteiligt sind, als Experten für die Beratung der Politik in Fragen, die jedenfalls keine spezi41 Dazu H. Hofmann, Recht und Ethik, in: Verhandlungen des 64. Deutschen Juristentages, Bd. II / 1 (2002 / 03), S. K 5 ff. (Teil VI). 42 Dazu Ehlers (N 29), S. 98 ff. 43 Vgl. die Kritik von O. Depenheuer, Religion als ethische Reserve der säkularen Gesellschaft, in: FS f. J. Isensee, 2002, S. 3 ff. 44 G. Jasper, Christlicher Glaube und politische Kultur, in: Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, 57 (2002), S. 213 ff. (218 f.).

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fischen Religionsangelegenheiten sind. Silete Theologi in munere alieno ! Mit diesem Satz hat der italienische, als Glaubensflüchtling in Oxford wirkende Jurist Alberico Gentili vor über 400 Jahren den Theologen in den Rechtsfragen des gerechten Krieges Schweigen geboten45. Carl Schmitt hat diesen Imperativ gern und oft zitiert. Er sah darin ein Symbol für die neue rationale Ordnung des Staates, „der sich hier als der geschichtliche Träger der Ent-Theologisierung und Rationalisierung erweist“46. Sollte diese Ent-Theologisierung mit den Theologen als Experten in staatlichen Angelegenheiten an ihr Ende gekommen sein? Nun, wahrscheinlich ist diese Pointe nicht ganz so gut, weil schon ihre Voraussetzung, der Vordersatz, in solch’ schlichter Fassung nicht stimmt. In der „Säkularisierung des gesamten europäischen Lebens“ liege, so lehrte Schmitt in einer schulbildenden Weise, die eigene „geschichtliche Legitimation“ des Staates. Denn dessen zentrale Leistung bestehe in der Neutralisierung des innerstaatlichen Streits der Konfessionen durch eine zentralisierte, politische Einheit47. Aus großem Abstand mag sich das im Nachhinein so ausnehmen. Aber es ändert nichts daran, dass die Herausbildung geschlossener Territorialstaaten zunächst einmal zugleich ein Prozess der Konfessionalisierung war48. Cuius regio, eius religio. Der absolutistische Modellstaat Ludwigs XIV. ist nicht der Staat des Tole45 Zu diesem Autor P. Haggenmacher, Grotius and Gentili, in: Hugo Grotius and International Relations, hg. v. H. Bull u. a., 1990, S. 133 ff.; W. G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 1988, S. 247 ff. 46 C. Schmitt, Der Nomos der Erde, 1950, S. 131. 47 Ebd. S. 98 f. Dazu ders., Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen (1929), in: ders., Positionen und Begriffe, Nachdr. 1968, S. 120 ff.; auch in: ders., Der Begriff des Politischen, 3. Aufl. der Ausg. v. 1963, 1991, S. 79 ff. 48 Grundlegend dazu H. Schilling, Konfessionskonflikt und Staatsbildung, 1981; ders., Die Konfessionalisierung im Reich, in: HZ 246 (1988), S. 1 ff.; ders. (Hg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland, 1986: W. Reinhard, Zwang zur Konfessionalisierung, in: ZHF 10 (1983), S. 257 ff. Siehe jetzt H. Dreier, Kanonistik und Konfessionalisierung – Marksteine auf dem Weg zum Staat, in: JZ 2002, 1 ff. (6 ff.).

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ranz-Edikts von Nantes (1598), sondern der Staat der Aufhebung dieses Edikts (1685). Und das alte Deutsche Reich ist gerade wegen der nicht behobenen, sondern rechtlich anerkannten konfessionellen Spaltung aus dem Prozess der europäischen Staatenbildung ausgeschieden49. In der Geschichtswissenschaft ist denn auch seit geraumer Zeit eine Revision der These von der „Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisierung“50 im Gange51. So muss man dann schon eine höhere Stufe der Abstraktion erklimmen, von der aus bereits die vom päpstlichen sacerdotium unabhängige Eigengesetzlichkeit des weltlichen imperium kraft der Autorität des römischen Rechts52 und die Instrumentalisierung der Konfessionen durch die Staatsräson53 als Momente säkularer Staatswerdung gesehen werden können54. 49 Dazu M. Stolleis, „Konfessionalisierung“ oder „Säkularisierung“ bei der Entstehung des frühmodernen Staates, in: Ius Commune XX (1993), S. 1 ff. 50 E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation (1967), in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, S. 42 ff. 51 Siehe die Nachw. in N 48. 52 Dazu die Nachweise in N 77 sowie H. Hofmann, Das antike Erbe im europäischen Rechtsdenken, demnächst in den Veröffentlichungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; J. Miethke, Die Anfänge des säkularisierten Staates in der politischen Theorie des späteren Mittelalters, in: Beiheft 11 zu Der Staat, 1997, S. 7 ff. 53 Dazu M. Stolleis, Säkularisation und Staatsräson in Deutschland um 1600, in: Christentum und modernes Recht, hg. v. G. Dilcher u. I. Staff, 1984, S. 96 ff. 54 Übrigens hat C. Schmitt am Ende in der Umkehrung seiner HobbesInterpretation selbst ebenfalls die Konfessionalisierungsthese vertreten. Wurde Hobbes von ihm in: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes (1938), hg. v. G. Maschke, 1982, S. 81 ff., wegen seiner vordergründig befriedenden Unterscheidung zwischen innerlichem Glauben und äußerlichem Bekenntnis für die Herausbildung der agnostischen Neutralität des modernen Staates verantwortlich gemacht, heißt es in Schmitts Bericht: Die vollendete Reformation (in: Der Staat 4 [1965], S. 51 ff. [62, 65]) nun: In Wirklichkeit habe Hobbes das nicht so gemeint. Im Gegenteil. Hobbes‘ Position bedeute eine „dogmatische Positivierung“ gegenüber dem konfessionellen Gegner und sei „die im Feuer des konfessionellen Bürgerkrieges gereifte Frucht . . . eines in spezifischer Weise theologischpolitischen Zeitalters“.

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Für uns viel wichtiger als jene Kontroversen ist indes der Umstand, dass auch der moderne Verfassungsstaat der bürgerlichen Revolution, der die Religion, anders als die dynastische Staatsanstalt der frühen Neuzeit, zur Privatsache gemacht, den Kirchen zumindest in Deutschland freilich zugleich eine herausragende Sonderstellung eingeräumt hat, dass auch dieser weltanschaulich neutrale Verfassungsstaat gewisse religiöse Wurzeln seiner profanen Moral nicht verleugnen kann. Im Kern ist es der Individualismus der westlichen verfassungsstaatlichen Ordnungen, zu dem das Christentum hauptsächlich beigetragen hat. Niemand hat diesen Gesichtspunkt stärker betont als Hegel. Im dritten Teil seiner „Enzyklopädie“ heißt es zusammenfassend, die „Idee der Freiheit“, nämlich „das eigene Wesen des Geistes“ als dessen „Wirklichkeit“ sei erst durch das Christentum in die Welt gekommen, „nach welchem das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat“55. Und Hegel fährt fort: „Wenn in der Religion als solcher der Mensch das Verhältnis zum absoluten Geiste als sein Wesen weiß, so hat er weiterhin den göttlichen Geist auch als in die Sphäre der weltlichen Existenz tretend gegenwärtig, als die Substanz des Staates, der Familie usf.“. Selbstverständlich ist damit nicht gesagt, dass durch die Annahme der christlichen Religion die Sklaverei sofort aufgehört hätte und Regierungen und Verfassungen umgehend auf vernünftige Weise organisiert und auf das Prinzip der Freiheit gegründet worden wären, wie Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte56 einräumt. Tatsächlich hat die alte Kirche in der Sklaverei bis ins 19. Jahrhundert keinen Widerspruch zur Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen gesehen57. Politisch aktiviert wird diese Doktrin erst durch die 55 G. W. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Teil III, stw 10 (1986), § 482 (S. 301 f.); das folg. Zit. ebd. S. 302. 56 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, stw 12 (1986), S. 31 f. 57 In der dt. Lit. sind Äußerungen dazu – aus welchen Gründen auch immer – eher spärlich; rühmliche Ausnahme J. Höffner, Kolonialismus und Evangelium, 3. Aufl. 1972, S. 74 ff., 216 ff. In den USA ist die Zurück-

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Reformation, vornehmlich im Calvinismus58. Auch haben bei der „Durchdringung des weltlichen Zustandes“59 mit der Idee des Individualismus sicher auch noch andere Momente – man denke an die Stoa wie den Neustoizismus und die Aufklärung – mitgewirkt60. Gleichwohl wird hier ein großes Erbe angesprochen. Und im Hinblick auf dieses Erbe können Theologen als Experten auch in Rechts- und Verfassungsfragen erscheinen, als Experten nämlich für gewisse Elemente des ethischen Fundaments unserer weltlichen Ordnung, ihrer „Zivilreligion“ sozusagen, wie Rousseau den religiös überhöhten geistigen Kitt einer autonomen Bürgergesellschaft einst gehaltung geringer: L. Hurbon (The Church and Afro-American Slavery, in: The Church in Latin America 1492 – 1992, hg. v. E. Dussel, Maryknoll, N. Y. 1992, S. 372 ff.) und J. T. Noonan, Jr. (Development in Moral Doctrine, in: Theological Studies 54 [1993], S. 675 ff.) datieren die prinzipielle, unbedingte und uneingeschränkte moralische Verurteilung jeder Form der Sklaverei durch das päpstliche Lehramt als unvereinbar mit der Brüderlichkeit aller Menschen – wohl mit Recht – erst auf das Ende des 19. Jahrhunderts, also das Pontifikat Leos XIII. J. F. Maxwell (Slavery und the Catholic Church, Chichester and London 1975, S. 11 f.) hatte diese Korrektur gar erst dem Zweiten Vaticanum (Gaudium et Spes, 27, 29) zugeschrieben. Die neuerdings von J. S. Panzer unternommene Ehrenrettung (The Popes und Slavery, New York 1996) rekuriert im wesentlichen auf die bekannte Tatsache, dass die Päpste seit dem 15. Jahrhundert immer wieder diese oder jene ungerechte Art der Sklaverei (etwa von weißen Christen und getauften Indianern, von Sklaverei ohne den Rechtfertigungsgrund der Kriegsgefangenschaft usw.) oder den Handel mit Sklaven verurteilt hatten. 58 Dazu etwa J. Milton, The Tenure of Kings and Magistrates, 1649, hg. v. W. T. Allion, Yales Studies in English XL, New York 1911, S. 9 ff. 59 Hegel, Philosophie der Geschichte (N 56), S. 32. 60 Erstaunliche Zuspitzung der These Hegels bei J. Habermas, Ein Gespräch über Gott und die Welt, in: ders., Zeit der Übergänge, 2001, S. 173 ff. (175): „Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechte und Demokratie entsprungen sind, ist unmittelbar [sic] ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik.“ Schon angesichts des ideengeschichtlichen Befundes zum Menschenwürdeprinzip (s. Dreier N 21) scheint mir das so nicht haltbar. Vgl. auch schon vom Verf. Menschenrechte und Demokratie oder: Was man von Chrysipp lernen kann, in: JZ 2001, S. 1 ff., jetzt in: FS f. E.-W. Böckenförde, 2002, S. 31 ff.

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nannt hat61. „Auch ein Staat, der die Glaubensfreiheit umfassend gewährleistet und sich damit selber zu religiös-weltanschaulicher Neutralität verpflichtet“, sagt das Bundesverfassungsgericht, „kann die kulturell vermittelten und historisch verwurzelten Wertüberzeugungen und Einstellungen nicht abstreifen, auf denen der gesellschaftliche Zusammenhalt beruht und von denen auch die Erfüllung seiner eigenen Aufgaben abhängt. Der christliche Glaube und die christlichen Kirchen sind dabei, wie immer man ihr Erbe heute beurteilen mag, von überragender Prägekraft gewesen. Die darauf zurückgehenden Denktraditionen, Sinnerfahrungen und Verhaltensmuster können dem Staat nicht gleichgültig sein.“ Diese Sätze stammen übrigens aus dem viel gescholtenen, mancherorts geradezu verteufelten Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts62. Aber vielleicht zieht man Theologen einfach deshalb heran, weil man bei ihnen ein höheres Maß an moralischer Sensibilität vermutet. 4. Bewährung der weltanschaulich neutralen Verfassungsordnung Mit der Organisation eines konzentrierten Austausches in Ethikkommissionen tut die Politik das, was Habermas in seiner bereits zitierten Friedenspreisrede einer, wie er sagt, „vom Kulturkampf zerrissenen Bürgergesellschaft“ empfohlen hat, nämlich: „von der Religion Abstand (zu) halten, ohne sich deren Perspektive zu verschließen“63. Denn durch entspre61 J.-J. Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, Buch IV Kap. 8, zit. nach: Sozialphilosophische und Politische Schriften, 1981, S. 267 ff. (380 ff.). Zur Zivilreligion aus heutiger Sicht H. Lübbe, Staat und Zivilreligion (1981), in: ders., Religion nach der Aufklärung, 1986, S. 306 ff.; H. Kleger / A. Müller, Der politische Philosoph in der Rolle des Ziviltheologen, in: Studia Philosophica 41 (1986), S. 86 ff.; N. Luhmann, Grundwerte als Zivilreligion, in: Religion des Bürgers – Zivilreligion in Amerika und Europa, hg. v. H. Kleger u. A. Müller, 1986, S. 175 ff.; W. Vögele, Zivilreligion in der Bundesrepublik Deutschland, 1994. 62 BVerfGE 93, 1 (22). 63 Habermas (N 27), S. 28 f. Die folg. Zitate ebd. S. 29 bzw. S. 23.

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chende ,Übersetzungsarbeit‘ könnten „(m)oralische Empfindungen, die bisher nur in religiöser Sprache einen hinreichend differenzierten Ausdruck besitzen, . . . allgemeine Resonanz finden, sobald sich für ein fast schon Vergessenes, aber implizit Vermisstes eine rettende Formulierung einstellt“. Das ist nicht mehr als eine Hoffnung. Einstweilen hört man von den Theologen auf diesem Felde jedenfalls hauptsächlich kantianische Argumentationen. Nun mag man in der Kantischen Ethik selbst ein Stück solcher Übersetzungsarbeit sehen, „eine säkularisierende und zugleich rettende Dekonstruktion von Glaubenswahrheiten“, wie Habermas sagt. Aber von hier aus gibt es keinen Weg zurück zu einer rettenden Rekonstruktion. Immerhin: Hoffnung auf einen Erfolg jener ,Übersetzungsarbeit‘ mag bleiben. Und jedenfalls ist es richtig, dass die politischen Entscheidungen des weltanschaulich neutralen Staates nicht von vornherein auf die Konzepte der Wissenschaft festgelegt sind. Denn die Neutralität der Verfassung der Freiheit, ihr Prinzip der Nicht-Identifikation mit irgendeiner Glaubensrichtung oder Weltanschauung beruht nicht auf eigenen liberalen Wertvorstellungen, sondern auf dem „normativen Grundsatz der Gleichheit in der Freiheit“64. Wenn das Neutralitätsprinzip im Ergebnis asymmetrische Wirkungen zugunsten der wissenschaftlich-technischen Weltorientierung zeigt, so liegt das in der Natur der gesellschaftlichen Entwicklung. Es ist nicht die Konsequenz einer vorgängigen verfassungsrechtlichen Option für Wissenschaft und Technik. Vielmehr lässt und garantiert die Verfassung nicht nur der Wissenschaft und jeglicher individueller geistiger, kultureller, kommerzieller und konsumtiver Entfaltung im Rahmen des Rechts Raum, sondern auch dem keineswegs auf den häuslichen Bereich beschränk64 S. Huster, Liberalismus, Neutralität und Fundamentalismus, in: ARSP-Beih. 66, 1997, S. 9 ff. (17). Zum Folg. ebd. S. 18. Siehe auch Th. Nagel, Equality and Partiality, New York / Oxford 1991, dt. u. d. T. Eine Abhandlung über Gleichheit und Parteilichkeit und andere Schriften zur politischen Philosophie, übers. u. hg. v. M. Gebauer, 1994, 214 ff. (217 ff., 229 ff.). Verfassungsrechtliche Kritik am Neutralitätsbegriff neuestens von F. Holzke, Die „Neutralität“ des Staates in Fragen der Religion und Weltanschauung, in: NVwZ 2002, 903 ff.

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ten religiösen Leben. Das Bundesverfassungsgericht hat den Schutzbereich der Religions- und Weltanschauungsfreiheit sogar weit über den Standard hinaus ausgedehnt, der sich für die öffentlichen Manifestationen von Glaubensinhalten bis hin zu Prozessionen und Glockengeläut historisch herausgebildet hat65. Dem darüber hinausdrängenden Selbstverständnis der Kirchen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsgemeinschaften folgend erstreckt die Rechtsprechung den grundrechtlichen Schutz aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG auch auf diakonische und karitative Betätigungen, die religiöse Erziehung, religiöse (und freilich auch atheistische) Feiern, ja schlechthin auf die Freiheit der Gläubigen, ihr „gesamtes Verhalten an den Lehren (ihres Glaubens) auszurichten und (ihrer) inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln“66. Hinzu treten über Art. 19 Abs. 3 und Art. 140 GG dann noch zahlreiche kollektive Gewährleistungen der Glaubens- und Weltanschaungsgemeinschaften, die de facto hauptsächlich den beiden großen Kirchen zugute kommen67. Deswegen konnte sich der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland in seiner Erklärung über Christentum und politische Kultur von 1997 mit Recht darauf berufen, dass die grundgesetzliche Trennung von Staat und Kirche im Hinblick auf die bei aller Neutralität dennoch praktizierte staatliche Anerkennung der Sonderstellung der christlichen Kirchen (nach einer Formulierung von Ulrich Stutz) „hinke“68. Politik und Öffentlichkeit, heißt es dort weiter, widersetzten sich dem nicht nur nicht, sondern erwarteten von den Christen hilfreiche Beiträge zur Entwicklung ethischer Maßstäbe in den schwierigen Gegenwartsfragen. In solchen gesamtgesellschaftlich nützlichen Leistungen sieht der Rat der 65 Siehe dazu BVerfGE 12, 1 (4). Vgl. zum Folg. M. Heckel, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2002, S. 379 ff. 66 BVerfGE 24, 236 (247 f.); 32, 98 (106); 93, 1 (15). 67 Dazu Frerk, Finanzen und Vermögen der Kirchen in Deutschland, 2002. Kritik an der „Privilegierungsthese“ bei Ehlers (N 29), S. 95 f. 68 Erklärung des Rats der EKD über Christentum und politische Kultur von 1997, zit. nach Jasper (N 44), S. 216 f., 220.

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EKD die Rechtfertigung für die Präsenz der Kirchen in der Gestaltung des staatlichen Zusammenlebens auch gegenüber den Nichtchristen. Im Gegensatz dazu hat es die römische Glaubenskongregation übrigens nicht für nötig gehalten, die Bindungswirkung ihrer früher erwähnten kategorischen Ansprüche an den Staat für Anders- oder Nichtgläubige auch nur mit einem einzigen Wort zu begründen. Dies sind die Rahmenbedingungen, unter denen Habermas versucht, dem „demokratisch aufgeklärten Commonsense . . . als Dritte(r) Partei zwischen Wissenschaft und Religion“ im gegenwärtigen „Kulturkampf“ Gehör zu verschaffen. Er soll vermitteln, „zivilisierend“ wirken, wie Habermas sich ausdrückt69. Und das ist ja auch dringend notwendig, wenn man nachliest, auf welchem Niveau Vertreter der Wissenschaftsund Religionspartei sich jüngst beschimpft haben. Zur Vermittlung befähigt sieht Habermas jenen Commonsense oder – wie er auch sagt: die „pluralisierte Vernunft des Staatsbürgerpublikums“ – durch das Vermögen und die Bereitschaft, ohne die Eigenständigkeit aufzugeben, nach beiden Seiten hin „osmotisch geöffnet (zu bleiben)“. Das soll heißen: der Commonsense muss sich von der Wissenschaft „vorbehaltlos aufklären lassen“ und andererseits Sensibilität für moralische Empfindungen bewahren, auch wenn diese einen hinreichend differenzierten Ausdruck bislang nur in religiöser Sprache gefunden haben. Was Habermas hier weniger beschreibt als dem Anlass der Rede entsprechend beschwört, ist der alte kulturelle Sedimentierungsprozess, in dem heterogene Elemente, aus ihren ursprünglichen Kontexten herausgelöst, zu der weltanschaulich abgerüsteten, profanen Moral der Gesellschaft verschmelzen, welche dann einigermaßen dauerhaft Politik und Recht der Gesellschaft trägt. Natürlich befindet sich dieser sozialpsychologische Vorgang immer in einem leisen Fluss. Insofern ist das physikalisch-biologische Bild der Osmose gut gewählt. Mitunter gibt es in diesem Prozess allerdings mehr oder weniger lautstarke Störungen. Sie treten bei Modernisie69

Habermas (N 27), S. 13. Die folg. Zitate ebd. S. 15, 22, 29.

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rungsschüben auf, wie sie aus dem Wechsel der Leitwissenschaft folgen70. Ein solcher Wechsel in der Führungsrolle – sei es von der scholastischen zur mathematischen Physik oder von Physik und Chemie zu den Bio-Wissenschaften – bedeuten einen Sprung in den Ansprüchen, die an Welterklärungen und Weltorientierungen gestellt werden. Und das provoziert mit geradezu naturgesetzlicher Sicherheit konservative Abwehrreaktionen. Wo der Konflikt nun über die beteiligten Wissenschaftler hinaus ganze Segmente der Gesellschaft mit unterschiedlichen Lebenseinstellungen erfasst und latente Spannungen zur offenen Konfrontation steigert, da haben wir es dann mit einer Art von Religionskrieg zu tun. Ob und wie viel genuin religiöse Motive involviert sind, spielt in diesem Stadium der Entwicklung eine durchaus untergeordnete Rolle. Denn die Form, in der diese Auseinandersetzungen ausgetragen werden, ist in erster Linie die eines Kampfes um die Deutungshoheit über verfassungsrechtliche Zentralbegriffe wie Menschenwürde, Leben, Wissenschaftsfreiheit, Glaubensfreiheit, religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates. Von deren genauerer Bestimmung hängt nämlich ab, welche Lösungsmöglichkeiten der Politik überhaupt offen stehen, den Konflikt rechtlich zu regulieren. Das ist die Folge der Schleusenfunktion der Verfassung zwischen Politik und Recht oder – in Luhmanns biologischer Ausdrucksweise – Folge der strukturellen Kopplung von Recht und Politik durch die Verfassung71. Was jene Schleuse fasst und passieren lässt, steht freilich gerade bei den Wertbegriffen der Verfassung nicht ein für allemal fest. Ihre juristische Auslegung funktioniert verlässlich nur insoweit, als die geschichtliche Erfahrung reicht, welche die Verfassung jeweils auf den Begriff gebracht hat72. In neuartigen Konfliktfällen muss der Verfassungskonsens – in 70 Diese These hat Verf. schon vor 15 Jahren vertreten: Natur und Naturschutz im Spiegel des Verfassungsrechts, in: JZ 1988, S. 265 ff., jetzt in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 406 ff. (416 ff.); s. auch ders., Recht und Ethik (N 41), Teil III. 71 Dazu Hofmann, Recht des Rechts (N 6), S. 52 ff. 72 Dazu Hofmann, Recht und Ethik (N 41), Teil V 1.

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der Regel mit Hilfe des Bundesverfassungsgerichts – fortgeschrieben werden. Und das ist ein offener Prozess. Weil es nun primär um jene verfassungsrechtliche Interpretationsdominanz geht und weil die verfassungsrechtlichen Wertbegriffe, davon war schon wiederholt die Rede, nach der Seite der Ethik hin offene Begriffe sind, deswegen hört man in jenen Debatten auch von Theologen und Kirchenführern tatsächlich kaum Theologisches, dafür hauptsächlich Ethisches nach Kant, dazu auffällig viel Naturalistisch-Zellbiologisches und selbst Juristisches. Im aktuellen Streit um die Humangenetik wird es auf alle absehbare Zeit keinen Konsens im Sinn der Auflösung des Konflikts in einer gemeinsamen Bewertung auf der Grundlage ethischer Übereinstimmung der Streitparteien geben. Die Heftigkeit der Störung des sozialpsychologischen osmotischen Prozesses verlangt hier rechtliche Lösungen. Das dafür maßgebliche historische Muster bietet die Befriedung des großen Religionskrieges durch das, was Rawls einen überlappenden oder übergreifenden Konsens genannt hat73. Es ist dies etwas anderes als ein schlichter Kompromiss. Man vergleicht sich nicht einfach durch wechselseitigen Austausch von Zugeständnissen, sondern einigt sich in einer sozusagen doppelbödigen Weise. Die je eigenen Ansprüche werden als ethische Position uneingeschränkt behauptet und die Einigung dahin beschränkt, auf einer abstrakteren rechtlichen Ebene einen modus vivendi einzurichten, und zwar so, dass die je eigene Ethik irgendwie als bewahrt gelten kann. Dass das keine widerspruchs- und reibungsfreie rechtliche Lösung ergibt, liegt auf der Hand. Aber wo steht, dass das Recht irgend etwas mit Logik zu tun hat? Ein hervorragendes Beispiel für diese allemal prekäre Lösung grundsätzlicher Konflikte bietet die heutige Regelung des Schwangerschafts73 J. Rawls, Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses, und: Der Bereich des Politischen und der Gedanke eines übergreifenden Konsenses, in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus – Aufsätze 1978 – 1989, hg. v. W. Hinsch, 1992, S. 293 ff. bzw. 333 ff.

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abbruchs74. Aber auch ein Blick auf die geradezu inflationär beschworene Menschenwürdegarantie ist lehrreich und stimmt in gewisser Weise hoffnungsvoll. Sie wird gemeinhin als Verbot verstanden, den Menschen beliebig zu instrumentalisieren. Dahinter steht die Überzeugung vom „unendlichen Wert des Individuums“, wie Hegel sie, wir hörten es schon, formuliert und vornehmlich auf das Christentum zurückgeführt hat. So berufen sich denn manche zur Begründung auch heute noch auf die Geschöpflichkeit des Menschen und dessen Gottesebenbildlichkeit nach Genesis 1, 27. Aber selbst die meisten christlichen Wissenschaftler ziehen es längst vor, Kant an Stelle von Moses als Gewährsmann zu nennen. Und das, obwohl Kants Begründung aus der absoluten Selbstzweckhaftigkeit des Menschen, gemessen an der Schöpfungsgeschichte, schlechterdings blasphemisch ist. Aber für die heute umstrittenen Fragen der Humangenetik ist auch ein einigermaßen tragfähiger Konsens der skizzierten zweiten Ordnung noch nicht in Sicht. Über die jüngst getroffene gesetzliche Regelung des Stammzellenimports unter Auflagen wird die Entwicklung jedenfalls ziemlich schnell hinweggehen. Bleibt das Stichwort Islam in einer sich kulturell weiter differenzierenden Gesellschaft. Hier stehen die Chancen für einen eher stillen Verfassungswandel mit Hilfe der Gerichte wohl besser. Dabei sind einige Rechtspositionen unverzichtbar, auch wenn sich leicht zeigen lässt, dass sie auf spezifisch westlichen religiös-kulturellen Voraussetzungen beruhen, die von anderen Kulturen und Religionen so nicht geteilt werden. Unverzichtbar sind sie deshalb, weil unser System der Wahrung des inneren Friedens darauf beruht75. Erste Voraussetzung ist, wie schon eingangs betont, ein relativ selbständiges Rechtssystem, dessen Funktionieren auf der Trennung von Politik, Moral und Religion basiert. Die eigenständige Tradi74 Dazu H. Tröndle, Strafgesetzbuch, 48. Aufl. 1997, und A. Schönke / H. Schröder, Strafgesetzbuch-Kommentar, 26 Aufl. 2001, jeweils Rn. 1 ff. vor § 218. 75 Dazu B. Schlink (N 38), S. 316.

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tion des römischen Rechts hat schon Max Weber in seiner vergleichenden Religionssoziologie als einen der Gründe für Entstehung und Entfaltung des okzidentalen Rationalismus genannt76. Hauptsächliche Entwicklungsbedingung war die Emanzipation des Rechts von Religion und Politik als Frucht der Auseinandersetzung zwischen imperium und sacerdotium77. Die Ausübung individueller und kollektiver Religionsfreiheit im religiös und weltanschaulich neutralen Staat setzt mithin die Akzeptanz des säkularen Charakters des Staates und die Profanität seiner Moral ebenso voraus wie die Aufnahme des Toleranzpostulats in die eigene religiöse Verkündung. Aktivitäten jenseits dieser Grenzen können dem Ordnungsanspruch des Staates durch die Berufung auf die Religionsfreiheit nicht entzogen werden. Eine andere Frage ist, ob der Ordnungsanspruch des Staates immer und überall in dieser Weise existentiell und mitunter nicht eher bloß traditionell begründet ist. Hier kann und muss die Entwicklung schrittweise vorangehen.

76 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1972, S. 335 f., 395 ff., 505, 511. 77 Dazu H. J. Berman, Law and Revolution – The Formation of the Western Legal Tradition, 1983, dt. u. d. T. Recht und Revolution – Die Bildung der westlichen Rechtstradition, 1991; E. Pitz, Der Untergang des Mittelalters, 1987, S. 104 ff. Siehe auch vorne bei N 52.