Recht oder Gesetz. Juristische Identität und Autorität in den Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit [1. ed.] 9783161520037, 9783161604096

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Recht oder Gesetz. Juristische Identität und Autorität in den Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit [1. ed.]
 9783161520037, 9783161604096

Table of contents :
Cover
Titel
Vorwort
Inhaltsübersicht
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
I. Naturrechtsbegeisterung
II. Nicht Rechtsphilosophie, sondern Wendeliteratur
III. Identität und Autorität der Jurisprudenz
1. Entstehung wissenschaftlicher Konjunkturen
2. Professionelle Identität von Jurist/innen
3. Systemumbrüche als Identitätskrise der Jurisprudenz
4. Identitätsbildungsprozess
5. Autorität der Jurisprudenz
IV. Zu dieser Arbeit
1. Vielstimmigkeit und Gleichklang in der Naturrechtsliteratur: Zum Gang der Untersuchung
Kapitel 1: Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus als mächtiger Gegner
I. Ausgangspunkt: Eine ‚falsche‘ Erinnerung
II. Feindbild Positivismus
1. Imaginationen: Positivismus und Nationalsozialismus
a. Kritik an argloser Gesetzestreue
b. Kritik an „Staatsabsolutismus“ und ‚Geltungspositivismus‘
c. Kritik an „Naturalismus“ und an der Politisierung des Rechts
2. Vorstellungen vom 19. Jahrhundert: die Kritik an einem „formalistischen“ und „relativistischen“ Positivismus
3. Der ‚Strohmann‘ Positivismus
III. Fundierende Geschichte: Eine Erzählung von Schuld und Recht
1. Schuld
2. Recht
3. Eine „Wahrheit auf anderer Ebene“
Kapitel 2: Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität: übergesetzliches Recht in der Diskussion um richterliche Entscheidungen in der Umbruchszeit 1945–1949
I. Rückwirkende Strafverfolgung ohne Rückwirkungsgesetz? Radbruchs Intervention in die Praxis der Gerichte
1. Drei Fälle als Ausgangspunkt
2. Kontrollratsgesetz Nr. 10 und die Anwendung deutschen Strafrechts
3. Aufruf an die Rechtspraxis, die Rechtssicherheit zu schützen
4. Anwendung der Formel: Lösung in Richtung der Rechtssicherheit
5. Doch nur eine ethische Lösung
II. Kein rechtliches Vakuum: Diskussion um die Legitimität des Kontrollratsgesetzes Nr. 10
1. Keine Naturrechtsdebatte: Übergesetzliches Recht in der Diskussion um das Kontrollratsgesetz Nr. 10
2. Anerkennung und Verengung der rückwirkenden Strafverfolgung
III. Entlastung vor Gericht: Rezeption der Wehrlosigkeitsthese
1. NS-Richter: Strafbar wegen Rechtsbeugung?
2. Schuldausschluss wegen „Wehrlosigkeit“
IV. Die Justiz als Hüterin des Rechts? Positivismus und übergesetzliches Recht in der Diskussion um das materielle Prüfungsrecht
V. Fortsetzung der Diskussion nach 1949: Geltungsgrenzen für positives Verfassungsrecht?
Kapitel 3: Zwischen organischer Staatslehre, kirchlicher Interessenspolitik und vorsichtiger Öffnung gegenüber der Demokratie: die Renaissance katholischen Naturrechts
I. Gleichklang: Rückkehr des Neothomismus nach 1945
1. Erkenntnistheoretische Begründung und Konzeption des Naturrechts
2. Nicht bloß oberste Grundsätze, sondern eine umfassende Staatslehre
II. Naturrecht und das schwierige Verhältnis der Kirche zum Staat
III. Katholische Naturrechtsliteratur nach 1945: Rechristianisierung statt Demokratisierung
1. Abschütteln der Schuld: Anbindung des Rechts an Kirche und Religion
2. Demokratie: Zwischen verhaltener und offener Skepsis
3. Zusammenfassung: Verfestigung der Grundsätze der Neuscholastik
IV. Naturrecht und katholische Interessenpolitik im rheinlandpfälzischen Verfassungsgebungsprozess
1. Adolf Süsterhenn (1905–1974)
2. Verankerung des Katholizismus in der Gesellschaft als Gebot der Stunde
3. Eine „christliche Idealverfassung“
a. Keine Grundrechte ohne Grundpflichten
b. „Solidarismus“ als Leitmotiv: Soziale Ausrichtung der Verfassung
c. Sicherung kirchlicher Interessen: „Elternrecht“ auf konfessionelle Schulbildung
d. „Organische Demokratie“ und „echter Föderalismus“: Das Zweikammersystem
4. Zusammenfassung: Gemeinwohl, natürliche Sozialeinheiten und Subsidiarität als Schlüsselbegriffe der Verfassung
V. Süsterhenns verhaltenes Bekenntnis zur Demokratie
Kapitel 4: Die schwierige Suche nach einer evangelischen Rechtslehre: vom Naturrecht zum „bekennenden Kirchenrecht“
I. Bekenntnis zum Nationalsozialismus und Abkehr: Erik Wolfs Weg vor 1945
II. In der „Stunde der Kirche“: Annäherung an das Naturrecht
1. „Naturrecht“ oder „natürliche Gerechtigkeit“?
2. „Biblische Weisung“ als Richtschnur für politisches Handeln der Kirche
3. Die Bedeutung der „biblischen Weisung“ für das positive Recht
4. Überzeitlich-absolute oder wandelbare Normen?
5. Zusammenfassung: Distanzierung und Offenheit
III. Juristisch-Theologische Gespräche: Von Göttingen 1949 bis Hemer 1955
1. Göttingen: Zwischen den Positionen Karl Barths und Emil Brunners
2. Treysa und Hemer: Christologische vs. trinitarische Rechtsbegründung
3. Theologische oder juristische Fachdiskussion?
4. Zusammenfassung: Vom Naturrecht zur Institutionenlehre
IV. Rechtstheologie: Aufgabe der Anschlussfähigkeit an die Rechtswissenschaft
1. Abschied von der Rechtsphilosophie
2. Radikalisierung konkret-situativen Denkens: Das Recht des Nächsten
3. Zusammenfassung: Rückzug in die Rechtstheologie
V. Abwanderung der Naturrechtsdiskussion ins Kirchenrecht
Kapitel 5: Von säkularer Naturrechtslehre zur Theorie des Richterrechts: Die Dynamisierung des Naturrechtsdenkens in den 1950er Jahren
I. Ausgangspunkt: Helmut Coings „Neubegründung des Naturrechts“
1. Wertphilosophische Begründung der „obersten Grundsätze des Rechts“
2. Ein detailliertes System „oberster Grundsätze des Rechts“
3. Überzeitliche Werte und die Zeitbedingtheit des Rechts
a. Geschichte als fortschreitende Werterkenntnis
b. Wiederkehrende Phänomene als Bindeglieder zwischen geschichtlichem Recht und objektiven Werten
4. Naturrecht oder Kulturrecht?
5. Zusammenfassung: Öffnung des Naturrechts für die Geschichtlichkeit des Rechts
II. Naturrechtsskepsis – und dennoch Suche nach etwas Objektivem im Recht
1. Historisch-soziologische Werteinsichten: Franz Wieacker und Erich Fechner
2. Auseinandersetzungen mit der Existenzphilosophie: Hans Welzel, Werner Maihofer und Erich Fechner
3. Ein schmaler Konsens: Die Lehre von der Natur der Sache
4. Zusammenfassung: Verengung des Naturrechts
III. Vom Naturrecht zur Einzelfallgerechtigkeit: Übergang der Naturrechtsdiskussion in eine Diskussion um richterliche Rechtsschöpfung
1. Erste Verschiebungen: Hinwendung zu Methodenfragen bei Helmut Coing
a. Wertphilosophische Interessenjurisprudenz: Verhältnis überpositiver Normen und positiven Rechts bei Coing
b. Schwerpunktverlagerung von der Rechtskritik auf die richterliche Rechtsschöpfung
c. Verschwinden des Topos des gesetzlichen Unrechts
d. Zusammenfassung: Verbindung von Naturrecht und Richterrecht
2. Naturrechtskritik: Wertungsjurisprudenz und die Forderung nach richterlicher Autorität
a. Gegen Deduktion: „Topik und Jurisprudenz“ von Theodor Viehweg
b. Begründungsveränderungen in der Ablehnung des Positivismus: Nationalsozialismus, Naturrecht und Naivität
c. Tradition, Richterkunst und sittliche Werte als Destillat der Naturrechtsbesinnung: Josef Esser, Franz Wieacker und Karl Larenz
d. Zusammenfassung: Flexibilisierung und Dynamisierung des Naturrechtsdenkens
Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung: Gemeinsamkeiten der Naturrechtsdebatten
A. Naturrechtsinhalte: Ordnungsvorstellungen für die Nachkriegsgesellschaft
I. Frei – Sozial
II. Individuum – Gemeinschaft
1. Gebundene Freiheit
2. Individuelle Rechte in der Gemeinschaft?
III. Bürger/innen – Staat
1. Das Widerstandsrecht als Abwehrrecht gegen extremes Unrecht
2. Subjektiver Rechtsschutz im Normalfall staatlichen Unrechts?
3. Keine Frage des Naturrechts: Mitgestaltungsrechte
IV. Unverbundene Gegensätze: Ein hinkender Neuanfang in der Wertorientierung
B. Erzählungen von der Vergangenheit, Vorstellungen von der Zukunft
I. Positive und negative Traditionen: Eckpunkte der Geschichtserzählungen
1. Christliches Mittelalter
2. Reformation
3. Aufklärung
4. Bewertung der Vergangenheit – Werte für die Zukunft
II. Erzählstrukturen
1. Glanzzeit, Verfall und Erlösung
2. Positive Konstanten als Pfeiler für die Zukunft
3. Geschichte als Fortschritt
III. Die Zukunft der Vergangenheit und der Ort der Gegenwart
1. Unpolitische Zukunftsvisionen
2. Abtrennung der Gegenwart von der Vergangenheit
3. Fazit: Bruch und Kontinuität zugleich
C. Der ‚gute Jurist‘ als Garant gegen erneutes Unrecht: Berufsethik als Legitimation für eine starke Jurisprudenz
I. Verankerung des Naturrechts im individuellen Gewissen
II. Das ‚objektive‘ Gewissen
III. Erziehung und Apologie: Berufsethik für Juristen
IV. Autorität der Jurisprudenz
1. Eine volksnahe Justiz, eine starke Justiz
2. Gerechtigkeit durch Richterrecht: Angloamerikanisches Recht als Vorbild
3. Überlappungen: Die Naturrechtsdebatten und die Diskussion um die „Große Justizreform“
V. Fazit
D. Verortung in der politischen Landschaft der Nachkriegszeit
Zusammenfassung und Ergebnisse
I. Reaktionen auf den Nationalsozialismus
II. Naturrechtsdebatten
III. Positionierung in der Umbruchsituation
Kapitel 7: Zwei Zeitsprünge: Die Unfähigkeit zu trauern und ihr Preis
I. Abklingen der Naturrechtsdebatten
II. Aufbruch der Rechtstheorie
1. Paradigmenwechsel: Realismus, Rationalität und Ideologiekritik
2. Von der Politik gegen das Recht zur Politik im Recht
3. Positivismus: Rückkehr ohne Rehabilitation
III. Mauerschützenprozesse und die neue alte Naturrechtsfrage
Quellen- und Literaturverzeichnis
Personenregister
Stichwortregister

Citation preview

I

Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts herausgegeben von Thomas Duve, Hans-Peter Haferkamp, Joachim Rückert und Christoph Schönberger

73

II

III

Lena Foljanty

Recht oder Gesetz Juristische Identität und Autorität in den Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit

Mohr Siebeck

IV Lena Foljanty, geboren 1979; Studium der Rechtswissenschaften in Greifswald und Ber-­ lin (HU); Promotion 2011; derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main.

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT ISBN 978-3-16-152003-7 / eISBN 978-3-16-160409-6 unveränderte eBook-Ausgabe 2021 ISSN 0934-0955 (Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. D 30 © 2013 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg/N. aus der Stempel-Garamond gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

V

Vorwort An den Ausgangspunkt bundesrepublikanischen Rechtsdenkens zurückzugehen – das hat mich bewegt, mich der Naturrechtsbesinnung der Nachkriegszeit zuzuwenden. Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis. Sie wurde im April 2011 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation angenommen. Später erschienene Literatur konnte nur ausnahmsweise berücksichtigt werden. Entstanden ist die Arbeit in einem Gefühl des Glücks über den Ort, an den sie mich geführt hat. In den wöchentlichen Seminaren des Internationalen MaxPlanck-Forschungskollegs für vergleichende Rechtsgeschichte habe ich einen intensiven Austausch über Methodik und Konzeption rechtshistorischen Arbeitens genossen und am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte durfte ich en passant Rechtsgeschichten verschiedener Epochen und Erdteile kennenlernen. Die Arbeitsbedingungen, die ich dort vorgefunden habe, waren kaum zu übertreffen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Verwaltung und der Bibliothek möchte ich daher an erster Stelle danken. Tief verbunden bin ich Prof. Dr. Joachim Rückert, der die Arbeit mit seiner einzigartigen Gabe zuzuhören, Gedanken aufzugreifen und zugespitzt zurückzugeben betreut hat. Er hat mich teilhaben lassen an seinem Denken, hat wieder und wieder neue Fragen in mir entstehen lassen und mich hineingenommen in die Welt rechtshistorischen Forschens. Mein Dank gilt außerdem Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Stolleis, der die Arbeit als zweiter Gutachter aufmerksam und in sehr unterstützender Weise begleitet hat. Er war immer für mich ansprechbar, hat mir viele wertvolle Hinweise gegeben und weiterführende Vorschläge gemacht. Sein nicht abreißendes Interesse an der Arbeit hat mich sehr ermutigt. Wichtige Impulse für die Konzeption hat mir darüber hinaus Prof. Dr. Joachim Lege gegeben. Wie kein anderer hat er mich angeregt, darüber nachzudenken, wie ich erzählen und schreiben will. Ich hatte das große Glück, dass mir Prof. Dr. Dr. h.c. Alexander Hollerbach und Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Maihofer (†) ein lebhaftes Bild von ihrem Lehrer Erik Wolf vermittelten. Dr. Heinz Mohnhaupt ließ mich an seinen Erinnerungen an Helmut Coing teilhaben. Die Gespräche mit ihnen waren ungemein hilfreich, um ein Gespür für die Zeit zu entwickeln, von der diese Arbeit handelt. Mein Blick auf Recht und Rechtsgeschichte wäre ein anderer ohne die vielen Gespräche mit meinen Freundinnen und Kolleginnen Jun.-Prof. Dr. ­Ulrike

VI

Vorwort

Lembke und Prof. Dr. Christiane Wilke. Mit ihnen über Rechtstheorie und Vergangenheitspolitik zu diskutieren hat mich beflügelt, mit ihnen habe ich erste Ideen entwickelt und schließlich meine Thesen zugespitzt. Inspiriert haben mich auch die Gespräche mit Dr. Christina Kleiser und Prof. Dr. Martin ­Reisigl, die mich mit den Möglichkeiten der kritischen Diskursanalyse vertraut gemacht haben. Für Anmerkungen zu meinen Texten, Anregung und Austausch möchte ich außerdem Dr. Aurore Gaillet, Dr. David Johst, Thomas Pierson, Michael Plöse, PD Dr. Stefan Ruppert und Ralf Seinecke herzlich danken. Dr. Kathrin Brunozzi und Detlef Foljanty haben die unsagbare Mühe auf sich genommen, das gesamte Manuskript kritisch und genau zu lesen und haben mir wertvolle Hinweise für die Fertigstellung gegeben. Schließlich danke ich der Stifterin des Werner-Pünder-Preises, der Kanzlei Clifford Chance, für die Förderung, die sie mir hat zuteil werden lassen. Es bleiben ein paar private Worte, denn mein größter Dank gilt denen, die an meiner Seite waren, während dieses Buch entstanden ist. Ich denke an viele, vor allem aber an meine Eltern. Meine Mutter war mir eine unschätzbare Ratgeberin und mein Vater hat mich immer wieder daran erinnert, dass das gute Leben aus mehr besteht als aus Wissenschaft. Dafür und für vieles mehr danke ich Euch von Herzen. Frankfurt am Main, im Herbst 2012

Lena Foljanty

VII

Inhaltsübersicht Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     V Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     IX Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  XVII Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    1 Kapitel 1 Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus als mächtiger Gegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    19 Kapitel 2 Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität: übergesetzliches Recht in der Diskussion um richterliche Entscheidungen in der Umbruchszeit 1945–1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   51 Kapitel 3 Zwischen organischer Staatslehre, kirchlicher Interessenspolitik und vorsichtiger Öffnung gegenüber der Demokratie: die Renaissance katholischen Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . .   97 Kapitel 4 Die schwierige Suche nach einer evangelischen Rechtslehre: vom Naturrecht zum „bekennenden Kirchenrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  137 Kapitel 5 Von säkularer Naturrechtslehre zur Theorie des Richterrechts: Die Dynamisierung des Naturrechtsdenkens in den 1950er Jahren . . . . . . . .  175 Kapitel 6 Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung: Gemeinsamkeiten der Naturrechtsdebatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  225

VIII

Inhaltsübersicht

Zusammenfassung und Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   331 Kapitel 7 Zwei Zeitsprünge: Die Unfähigkeit zu trauern und ihr Preis . . . . . . . . . . . . . .  343

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  373 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  401 Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  407

IX

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     V Inhaltsübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    VII Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  XVII

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

  1

I. Naturrechtsbegeisterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   3 II. Nicht Rechtsphilosophie, sondern Wendeliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   4 III. Identität und Autorität der Jurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   6

1. Entstehung wissenschaftlicher Konjunkturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Professionelle Identität von Jurist/innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Systemumbrüche als Identitätskrise der Jurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . 4. Identitätsbildungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Autorität der Jurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

  6   8   9  10  12

IV. Zu dieser Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  13 1. Vielstimmigkeit und Gleichklang in der Naturrechtsliteratur: Zum Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   14 2. Vier Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  16

Kapitel 1 Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus als mächtiger Gegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  19 I. Ausgangspunkt: Eine ‚falsche‘ Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  20 II. Feindbild Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  23 1. Imaginationen: Positivismus und Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . .  25

a. Kritik an argloser Gesetzestreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  25 b. Kritik an „Staatsabsolutismus“ und ‚Geltungspositivismus‘ . . . . . . . . . . . .  27 c. Kritik an „Naturalismus“ und an der Politisierung des Rechts . . . . . . . . .  29

2. Vorstellungen vom 19. Jahrhundert: die Kritik an einem „formalistischen“ und „relativistischen“ Positivismus . . . . . . . . . . . . . .   31 3. Der ‚Strohmann‘ Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  35

X

Inhaltsverzeichnis

III. Fundierende Geschichte: Eine Erzählung von Schuld und Recht . . . . . .  37 1. Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  37 2. Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  41 3. Eine „Wahrheit auf anderer Ebene“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  45 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  50

Kapitel 2 Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität: übergesetzliches Recht in der Diskussion um richterliche Entscheidungen in der Umbruchszeit 1945–1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 51

I. Rückwirkende Strafverfolgung ohne Rückwirkungsgesetz? Radbruchs Intervention in die Praxis der Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  52 1. Drei Fälle als Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  53 2. Kontrollratsgesetz Nr. 10 und die Anwendung deutschen Strafrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  54 3. Aufruf an die Rechtspraxis, die Rechtssicherheit zu schützen . . . . . .  56 4. Anwendung der Formel: Lösung in Richtung der Rechtssicherheit . 58 5. Doch nur eine ethische Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   61 II. Kein rechtliches Vakuum: Diskussion um die Legitimität des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  66 1. Keine Naturrechtsdebatte: Übergesetzliches Recht in der Diskussion um das Kontrollratsgesetz Nr. 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  68 2. Anerkennung und Verengung der rückwirkenden Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   74 III. Entlastung vor Gericht: Rezeption der Wehrlosigkeitsthese . . . . . . . . . .  76 1. NS-Richter: Strafbar wegen Rechtsbeugung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  77 2. Schuldausschluss wegen „Wehrlosigkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  79 IV. Die Justiz als Hüterin des Rechts? Positivismus und übergesetzliches Recht in der Diskussion um das materielle Prüfungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  81 V. Fortsetzung der Diskussion nach 1949: Geltungsgrenzen für positives Verfassungsrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  88 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  94

Inhaltsverzeichnis

XI

Kapitel 3 Zwischen organischer Staatslehre, kirchlicher Interessenspolitik und vorsichtiger Öffnung gegenüber der Demokratie: die Renaissance katholischen Naturrechts . . . . . . . .

  97

I. Gleichklang: Rückkehr des Neothomismus nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . .   99 1. Erkenntnistheoretische Begründung und Konzeption des Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  100 2. Nicht bloß oberste Grundsätze, sondern eine umfassende Staatslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  101 II. Naturrecht und das schwierige Verhältnis der Kirche zum Staat . . . . .  104 III. Katholische Naturrechtsliteratur nach 1945: Rechristianisierung statt Demokratisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  107 1. Abschütteln der Schuld: Anbindung des Rechts an Kirche und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  108 2. Demokratie: Zwischen verhaltener und offener Skepsis . . . . . . . . . . .   110 3. Zusammenfassung: Verfestigung der Grundsätze der Neuscholastik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   114 IV. Naturrecht und katholische Interessenpolitik im rheinland pfälzischen Verfassungsgebungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   116 1. Adolf Süsterhenn (1905–1974) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   117 2. Verankerung des Katholizismus in der Gesellschaft als Gebot der Stunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   118 3. Eine „christliche Idealverfassung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   119 a. Keine Grundrechte ohne Grundpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b. „Solidarismus“ als Leitmotiv: Soziale Ausrichtung der Verfassung . . . . . c. Sicherung kirchlicher Interessen: „Elternrecht“ auf konfessionelle Schulbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d. „Organische Demokratie“ und „echter Föderalismus“: Das Zweikammersystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 120  122  127  129

4. Zusammenfassung: Gemeinwohl, natürliche Sozialeinheiten und Subsidiarität als Schlüsselbegriffe der Verfassung . . . . . . . . . . . .  130 V. Süsterhenns verhaltenes Bekenntnis zur Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . .  132 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  135

XII

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 4 Die schwierige Suche nach einer evangelischen Rechtslehre: vom Naturrecht zum „bekennenden Kirchenrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . .

 137

I. Bekenntnis zum Nationalsozialismus und Abkehr: Erik Wolfs Weg vor 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  138 II. In der „Stunde der Kirche“: Annäherung an das Naturrecht . . . . . . . . .   143 1. „Naturrecht“ oder „natürliche Gerechtigkeit“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   145 2. „Biblische Weisung“ als Richtschnur für politisches Handeln der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  146 3. Die Bedeutung der „biblischen Weisung“ für das positive Recht . .  150 4. Überzeitlich-absolute oder wandelbare Normen? . . . . . . . . . . . . . . . . .   151 5. Zusammenfassung: Distanzierung und Offenheit . . . . . . . . . . . . . . . .  153 III. Juristisch-Theologische Gespräche: Von Göttingen 1949 bis Hemer 1955 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  153 1. Göttingen: Zwischen den Positionen Karl Barths und Emil Brunners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  155 2. Treysa und Hemer: Christologische vs. trinitarische Rechtsbegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  159 3. Theologische oder juristische Fachdiskussion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   161 4. Zusammenfassung: Vom Naturrecht zur Institutionenlehre . . . . . .  163 IV. Rechtstheologie: Aufgabe der Anschlussfähigkeit an die Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  164 1. Abschied von der Rechtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  164 2. Radikalisierung konkret-situativen Denkens: Das Recht des Nächsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  166 3. Zusammenfassung: Rückzug in die Rechtstheologie . . . . . . . . . . . . . .   169 V. Abwanderung der Naturrechtsdiskussion ins Kirchenrecht . . . . . . . . .   169 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  171

Inhaltsverzeichnis

XIII

Kapitel 5 Von säkularer Naturrechtslehre zur Theorie des Richterrechts: Die Dynamisierung des Naturrechtsdenkens in den 1950er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 175

I. Ausgangspunkt: Helmut Coings „Neubegründung des Naturrechts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   176 1. Wertphilosophische Begründung der „obersten Grundsätze des Rechts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  178 2. Ein detailliertes System „oberster Grundsätze des Rechts“ . . . . . . .  179 3. Überzeitliche Werte und die Zeitbedingtheit des Rechts . . . . . . . . . .   181 a. Geschichte als fortschreitende Werterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  182 b. Wiederkehrende Phänomene als Bindeglieder zwischen geschichtlichem Recht und objektiven Werten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  183

4. Naturrecht oder Kulturrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  185 5. Zusammenfassung: Öffnung des Naturrechts für die Geschichtlichkeit des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  187 II. Naturrechtsskepsis – und dennoch Suche nach etwas Objektivem im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  188 1. Historisch-soziologische Werteinsichten: Franz Wieacker und Erich Fechner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auseinandersetzungen mit der Existenzphilosophie: Hans Welzel, Werner Maihofer und Erich Fechner . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ein schmaler Konsens: Die Lehre von der Natur der Sache . . . . . . . 4. Zusammenfassung: Verengung des Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 188  190  196  202

III. Vom Naturrecht zur Einzelfallgerechtigkeit: Übergang der Naturrechtsdiskussion in eine Diskussion um richterliche Rechtsschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  204 1. Erste Verschiebungen: Hinwendung zu Methodenfragen bei Helmut Coing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  204 a. Wertphilosophische Interessenjurisprudenz: Verhältnis überpositiver Normen und positiven Rechts bei Coing . . . . .  205 b. Schwerpunktverlagerung von der Rechtskritik auf die richterliche Rechtsschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  207 c. Verschwinden des Topos des gesetzlichen Unrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . .  209 d. Zusammenfassung: Verbindung von Naturrecht und Richterrecht . . . . .   211

2. Naturrechtskritik: Wertungsjurisprudenz und die Forderung nach richterlicher Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  211

XIV

Inhaltsverzeichnis

a. Gegen Deduktion: „Topik und Jurisprudenz“ von Theodor Viehweg . . .  212 b. Begründungsveränderungen in der Ablehnung des Positivismus: Nationalsozialismus, Naturrecht und Naivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   214 c. Tradition, Richterkunst und sittliche Werte als Destillat der Naturrechtsbesinnung: Josef Esser, Franz Wieacker und Karl Larenz . .   216 d. Zusammenfassung: Flexibilisierung und Dynamisierung des Naturrechtsdenkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  220

IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  222

Kapitel 6 Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung: Gemeinsamkeiten der Naturrechtsdebatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  225 A. Naturrechtsinhalte: Ordnungsvorstellungen für die Nachkriegsgesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  227

I. Frei – Sozial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  228



II. Individuum – Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  235

1. Gebundene Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  236 2. Individuelle Rechte in der Gemeinschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  238

III. Bürger/innen – Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  247

1. Das Widerstandsrecht als Abwehrrecht gegen extremes Unrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  247 2. Subjektiver Rechtsschutz im Normalfall staatlichen Unrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  251 3. Keine Frage des Naturrechts: Mitgestaltungsrechte . . . . . . . . . . .  252 IV. Unverbundene Gegensätze: Ein hinkender Neuanfang in der Wertorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  255 B. Erzählungen von der Vergangenheit, Vorstellungen von der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  258 I. Positive und negative Traditionen: Eckpunkte der Geschichtserzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  259

1. Christliches Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung der Vergangenheit – Werte für die Zukunft . . . . . . . .

 260  263  266  272

II. Erzählstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  273

Inhaltsverzeichnis

XV

1. Glanzzeit, Verfall und Erlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  274 2. Positive Konstanten als Pfeiler für die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . .  278 3. Geschichte als Fortschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  281

III. Die Zukunft der Vergangenheit und der Ort der Gegenwart . . . . .  282

1. Unpolitische Zukunftsvisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  283 2. Abtrennung der Gegenwart von der Vergangenheit . . . . . . . . . . .  286 3. Fazit: Bruch und Kontinuität zugleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  289 C. Der ‚gute Jurist‘ als Garant gegen erneutes Unrecht: Berufsethik als Legitimation für eine starke Jurisprudenz . . . . . . . . . . . .  291

I. Verankerung des Naturrechts im individuellen Gewissen . . . . . . . .  292



II. Das ‚objektive‘ Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  296



III. Erziehung und Apologie: Berufsethik für Juristen . . . . . . . . . . . . . . .  298



IV. Autorität der Jurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  304

1. Eine volksnahe Justiz, eine starke Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  304 2. Gerechtigkeit durch Richterrecht: Angloamerikanisches Recht als Vorbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  308 3. Überlappungen: Die Naturrechtsdebatten und die Diskussion um die „Große Justizreform“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   310

V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   315

D. Verortung in der politischen Landschaft der Nachkriegszeit . . . . . . . . . .   316 E. Fazit: Wiederherstellung einer juristischen Identität und Begründung juristischer Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  325

Zusammenfassung und Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  

331

I. Reaktionen auf den Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   331 II. Naturrechtsdebatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  332 III. Positionierung in der Umbruchsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  338 IV. Konjunktur des Naturrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  341

XVI

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 7 Zwei Zeitsprünge: Die Unfähigkeit zu trauern und ihr Preis . . . . . . .

 343

I. Abklingen der Naturrechtsdebatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  343 II. Aufbruch der Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  349 1. Paradigmenwechsel: Realismus, Rationalität und Ideologiekritik .  350 2. Von der Politik gegen das Recht zur Politik im Recht . . . . . . . . . . . . .  355 3. Positivismus: Rückkehr ohne Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  359 III. Mauerschützenprozesse und die neue alte Naturrechtsfrage . . . . . . . . .  365 IV. Fazit: Die Unfähigkeit zu trauern und ihr Preis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  370

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  373 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  401 Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  407

XVII

Abkürzungsverzeichnis AcP Archiv für die civilistische Praxis AG Amtsgericht AöR Archiv des öffentlichen Rechts ARSP Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie BadV Badische Verfassung BayV Bayrische Verfassung BayVerfGH Bayrischer Verfassungsgerichtshof BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGH Bundesgerichtshof BGHSt Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen BGHZ BK Bekennende Kirche BremV Bremische Verfassung BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts DBE Deutsche Biographische Enzyklopädie DJT Deutscher Juristentag DÖV Die öffentliche Verwaltung DRiZ Deutsche Richterzeitung DRZ Deutsche Rechtszeitung EKD Evangelische Kirche in Deutschland Europäische Grundrechtszeitschrift EuGRZ Ev. Ak. Evangelische Akademie GG Grundgesetz GRGA Gustav Radbruch Gesamtausgabe Hessische Verfassung HessV HRG Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte JR Juristische Rundschau Juristische Schulung JuS Juristische Wochenschrift JW JZ Juristenzeitung KJ Kritische Justiz KRG Kontrollratsgesetz KritV Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtsprechung LG Landgericht LHA Koblenz Landeshauptarchiv Koblenz m.w.N. mit weiteren Nachweisen MdB Mitglied des Bundestags Monatsschrift für Deutsches Recht MDR

XVIII

Abkürzungsverzeichnis

NDB Neue deutsche Biographie Neue Justiz NJ NJW Neue Juristische Wochenschrift OLG Oberlandesgericht Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht und Völkerrecht ÖZÖR R-PfalzV Rheinland-Pfälzische Verfassung Rg Rechtsgeschichte RJ Rechtshistorisches Journal RTh Rechtstheorie SJZ Süddeutsche Juristenzeitung UAF Universitätsarchiv Freiburg VerwRspr. Verwaltungsrechtsprechung in Deutschland. Sammlung obergerichtlicher Entscheidungen aus dem Verfassungsund Verwaltungsrecht VfZ Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte VVdStRL Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Würt-BadV Württemberg-Badische Verfassung Würt-HV Württemberg-Hessische Verfassung ZAkdR Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht ZevKR Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht ZRG Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung ZRGG Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik ZStW Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft

1

Einleitung Mai 1945. Das Ende des zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Herrschaft ließ die deutsche Jurisprudenz nicht verstummen – im Gegenteil. Schon bald erschienen erste Artikel, zunächst in der Tagespresse, dann in den juristischen Zeitschriften, die ab 1946 nach und nach neu gegründet wurden.1 Schmale Büchlein wurden verlegt, 60 Seiten, 70 Seiten, selten mehr. Blättert man in diesen ersten Veröffentlichungen der Nachkriegszeit, sticht die Präsenz der jüngsten Vergangenheit ins Auge. Von „schmerzlichen“ oder „bitteren“ Erfahrungen war da die Rede, von „roher Gewalt“ und „Barbarei“, von einem „Fiebertraum“ und einer „apokalyptischen Epoche“, die man nun hinter sich gelassen habe. Der Nationalsozialismus sei ein „Einbruch des Bösen“ gewesen, eine Zeit der „Unterdrückung“ durch eine „tyrannische Regierung“, in der „dämonische Gewalt“ geherrscht habe. 2 Die Texte zeigen Erschütterung über das Geschehene und zeugen von dem Bedürfnis, diese zum Ausdruck zu bringen. Vor allem aber spricht aus ihnen das Bewusstsein einer tiefen Krise des Rechts und der Jurisprudenz. „[A]uch das Recht hat uns der Nationalsozialismus als Trümmerfeld hinterlassen“, schrieb der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch 1947.3 Von der „Rechtskatastrophe des Nationalsozialismus“ war die Rede und von „ungeheuren Rechtszerstörungen“, die dieser mit sich gebracht habe.4 Mehr 1  Die erste juristische Zeitschrift, die nach Kriegsende erschien, war die Süddeutsche Juristenzeitung (SJZ) im April 1946 für die amerikanische Zone, es folgten die Deutsche Rechtszeitung (DRZ) im Juli 1946 für die französische Zone, die Monatsschrift für Deutsches Recht (MDR) im April 1947 für die britische Zone und die Juristische Rundschau (JR) im Juli 1947 für Berlin. 2  In der Reihenfolge der Zitierung: „schmerzliche Erfahrung“, Georg Stadtmüller, Naturrecht im Lichte der geschichtlichen Erfahrung, 1948, S. 7; „Erfahrung bitterer Jahre“, Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 76; „rohe Gewalt“ und „Barbarei“, Walther Schönfeld, Über das Widerstandsrecht, 1955, S. 37; „Fiebertraum“; Walter Roemer, SJZ 1946, Sp. 9 (ebd.); „apokalyptische Epoche“, Hermann Weinkauff, Die Aufgaben des Bundesgerichtshofs, in: Festschrift zur Eröffnung des Bundesgerichtshofs, 1950, S. 39 (42); „Einbruch des Bösen“, ders., Militäropposition gegen Hitler, 1954, S. 13; „Unterdrückung“ und „tyrannische Regierung“, Georg Stadtmüller, aaO., S. 7; „dämonische Gewalt“, Adolf Süsterhenn, Die Wiederherstellung von Freiheit und Recht als politische Aufgabe der Gegenwart (1946), in: Schriften zum Natur-, Staats- und Verfassungsrecht, 1991, S. 1 (7). 3  Gustav Radbruch, Die Erneuerung des Rechts (1947), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 1 (ebd.). 4 „Rechtskatastrophe“, Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952, S. 326; „Rechtszerstörungen“, Hans Dombois, Naturrecht und christliche Existenz, 1952, S. 7.

2

Einleitung

noch: Man sah sich nun, nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft, einem „Chaos des Zusammenbruchs aller bisheriger Ordnung“ und einem „gigantischen Trümmerfeld“ gegenüber. Es herrsche eine „furchtbare Verwirrung und Unordnung […] auf dem Gebiet der Ethik“ und eine „unsagbare Verwirrung darüber, was Rechtens ist“.5 Die „Wiederherstellung des heute fast zerstörten Rechtsglaubens“ sei das Gebot der Stunde, so der Rechtshistoriker Franz Wieacker.6 Verbrechen waren im Nationalsozialismus gerade auch im Namen des Rechts und durch Gerichte verübt worden.7 Einfach zur Tagesordnung überzugehen, war für Juristen nach 1945 keine Option. In den ersten Veröffentlichungen nach Ende des Krieges suchten Juristen nach einem Umgang mit der vielfach beschworenen „Krise des Rechts“. Die Titel dieser Veröffentlichungen waren programmatisch: Sie lauteten „Gerechtes Recht“, „Degeneration und Regeneration der Rechtswissenschaft“, „Die obersten Grundsätze des Rechts“, „Mensch, Recht und Staat“ oder „Die Erneuerung des Rechts“.8 Es ging um die großen Fragen der Rechtsphilosophie, um Recht, Gerechtigkeit, Naturrecht und Religion. Die sogenannte ‚Naturrechtsrenaissance der Nachkriegszeit‘ begann, kaum dass Krieg und Nationalsozialismus beendet waren.

5  „Chaos des Zusammenbruchs“, Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 11; „Trümmerfeld“, Adolf Süsterhenn, Wir Christen und die Erneuerung des staatlichen Lebens (1948), in: Schriften, 1991, S. 227 (235); „furchtbare Verwirrung“, ders., Die naturrechtlichen Grundlagen der internationalen Zusammenarbeit (1949), in: Schriften, 1991, S. 315 (318); „unsagbare Verwirrung“, Hermann Weinkauff, Naturrecht in evangelischer Sicht (1952), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Positivismus?, 1962, S. 210 (218). 6  Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952, S. 361. 7  Im Nürnberger Juristenprozess 1947 hieß es in der Anklage: „The German criminal laws […] became a powerful weapon for the subjugation of German people and for the extermination of certain nationals of the occupied countries“, in: Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10, Bd. 3, 1951, S. 23. Zu Justiz und Recht im Nationalsozialismus siehe statt aller Bernhard Diestelkamp/Michael Stolleis (Hg.), Justizalltag im Dritten Reich, 1988 sowie die trotz Überblickscharakter facettenreiche Darstellung im Ausstellungskatalog Bundesjustizministeriums der Justiz (Hg.), Im Namen des deutschen Volkes, 1989. 8  Friedrich Buchwald, Gerechtes Recht, 1946; Valentin Tomberg, Degeneration und Regeneration der Rechtswissenschaft, 1946; Heinrich Kipp, Mensch, Recht und Staat, 1947; Gustav Radbruch, Die Erneuerung des Rechts (1947), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 1–10.

I. Naturrechtsbegeisterung

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I. Naturrechtsbegeisterung Naturrecht nach 1945 – viele Rechtsphilosophinnen und Rechtsphilosophen quittieren das Stichwort heute mit einem müden Lächeln. „Die ‚Naturrechtsrenaissance‘ der ersten Nachkriegsjahre war Episode“, sagte Arthur Kaufmann in seiner Abschiedsvorlesung 1990. Sie sei „nicht gerade eine Ausgeburt der Rationalität und der Vernünftigkeit“ gewesen, „aber aus der Rechtsnot jener Jahre […] kann man so manchen Fehltritt doch wohl verstehen“.9 Die Einschätzung Kaufmanns, dass das Naturrechtsdenken der Nachkriegszeit heutige Rechtsphilosophie nicht mehr zu inspirieren vermöge, ist weit verbreitet.10 Auch ich teile sie. Die Besinnung auf Naturrecht in der Nachkriegszeit ist dennoch – ja gerade deswegen – eines näheren Blickes wert. Rechtsphilosophie war vor 1945 ebenso ein Randgebiet juristischen Interesses,11 wie sie es nach Abklingen der ersten Begeisterungswelle gegenüber Naturrechtslehren wieder werden sollte. Für einen kurzen Zeitraum von höchstens fünf Jahren waren aber die sonst eher starren disziplinären Grenzen zwischen der Rechtsphilosophie, den übrigen rechtswissenschaftlichen Disziplinen, Rechtspraxis und Politik durchlässiger. Naturrecht war ein Thema für die Rechtsprechung im Umgang mit nationalsozialistischem Unrecht und Besatzungsrecht, es war ein Thema der Rechtspolitik in Verfassungsgebungsprozessen nach 1945 und eine feste Größe in der Programmatik der CDU in ihren Gründungsjahren. Vor allem aber war die Naturrechtsfrage in kirchlichen Kreisen beider Konfessionen virulent und wurde dort von Juristen und Theologen gemeinsam diskutiert. In einem für eine rechtsphilosophische Diskussion aus heutiger Sicht ungewöhnlichem Maße beteiligten sich an der Naturrechtsbesinnung somit nicht nur Rechtsphilosophen, sondern auch Theologen, Wissenschaftler der übrigen juristischen Disziplinen und Rechtspraktiker, allen voran Richter. In Zeiten von Papierrationierung und Wiederaufbauarbeiten12 war es für viele von ihnen das erste Thema, dessen sie

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Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie in der Nach-Neuzeit, 1990, S. 8. Ulfrid Neumann spricht von einer „ebenso durchschlagskräftigen wie methodisch unreflektierten Naturrechtsrenaissance“ in: Karl Graf Ballestrem (Hg.), Naturrecht und Politik, 1993, S. 69 (72); Heinz Mohnhaupt, in: Horst Schröder/Dieter Simon (Hg.), Rechtswissenschaft in Deutschland 1945 bis 1952, 2001, S. 97 (107) bezeichnet die Naturrechtsbesinnung als „rechtliche und moralphilosophische Bewältigungsarbeit nach 1945 im westdeutschen Teilstaat“, sie habe sich als „situationsgebunden, zeitabhängig und historisch bedingt“ erwiesen (S. 109 ff.). Um die Zeitbedingtheit zu betonen, spricht er von „Naturrechtsideologie“ (S. 103); als „interimistisch“ wird die Debatte von Ralf Dreier bezeichnet, in: Rechtstheorie 18 (1987), 368 (371). 11 Für die Zeit des Nationalsozialismus Hubert Rottleuthner, in: ders. (Hg.), Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, 1983, S. 20 (24). 12 Hierzu Joachim Rückert, NJW 1995, 1251–1259. 10 

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sich publizistisch überhaupt wieder annahmen. Eine wahre Flut von Aufsätzen und kleineren Büchern entstand in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren. Was die Verfasser dieser Schriften skizzierten, war keineswegs nur Naturrecht im Sinne objektiv-überzeitlicher, nicht menschlich geschaffener Normen. Es waren vielfältige Konzepte übergesetzlichen Rechts. Gemeinsam war den Verfassern, dass sie davon ausgingen, dass ‚Recht‘ mehr sei, als nur das positive ‚Gesetz‘ und seine Anwendung. Genau genommen ging es in den rechtsphilosophischen Diskussionen des ersten Nachkriegsjahrzehnts also um die Frage, in welchem Verhältnis ‚Recht‘ und ‚Gesetz‘ stehen sollten. Einigen Beteiligten erschien die Rede vom „Naturrecht“ als nicht treffend, sie distanzierten sich von ihr. Das vorherrschende Schlagwort, unter dem über ‚Recht‘ und ‚Gesetz‘ diskutiert wurde, war allerdings das des „Naturrechts“.13 Sicherlich ist es nicht falsch, allgemein auf die Umstände der Zeit und die ‚Rechtsnot‘ zu verweisen, um zu erklären, warum ‚Naturrecht‘ in einem solchen weiten Sinn nach 1945 Konjunktur hatte. Es ist aber keineswegs ausreichend. Übergesetzliches Recht wurde in den ersten Nachkriegsjahren an verschiedenen Orten und in verschiedenen Gesprächskreisen diskutiert. Nicht nur die philosophischen Begründungen waren unterschiedlich, sondern auch die Fragen, um die es unter der Oberfläche der Debatten ging. Und so muss die Frage, warum vom ‚Naturrecht‘ in den ersten Nachkriegsjahren eine solche Anziehungskraft ausging, differenzierter beantwortet werden. Hier werden daher die Orte erkundet, an denen Juristen nach 1945 über ‚Naturrecht‘ diskutierten. Es wird danach gefragt, welche Vorstellungen und Hoffnungen sie mit dem ‚Naturrecht‘ verbanden. Worum genau ging es, wenn von ‚Naturrecht‘ die Rede war?

II. Nicht Rechtsphilosophie, sondern Wendeliteratur So zu fragen bedeutet, nicht bloß den rechtsphilosophischen Gehalt der Naturrechtsliteratur zu betrachten, sondern den Blick auch darauf zu lenken, in welchem Kontext die Texte entstanden sind und wie ihre Verfasser in ihnen auf eben diesen Kontext reagierten. Zweifelsohne war die Naturrechtsbegeisterung der Umbruchsituation geschuldet, doch wie genau gingen die Autoren der Naturrechtsschriften mit ihr um? Auf welche Weise suchten sie nach Möglichkeiten, die „Krise des Rechts“ zu überwinden und wo sahen sie sich selbst darin? 13  In dieser Arbeit wird daher die Literatur, die sich mit der Frage übergesetzlichen Rechts befasste, vereinfachend als „Naturrechtsliteratur“ bezeichnet, ebenso wird von „Naturrechtsbesinnung“ gesprochen. Die Unterschiede in Konzeption und Terminologie bei den einzelnen Beteiligten werden in den Kapiteln 2 bis 5 genauer beleuchtet. Zum terminologischen Umgang in Kapitel 6 siehe dort Fn. 3.

II. Nicht Rechtsphilosophie, sondern Wendeliteratur

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Für eine solche Betrachtung der Naturrechtsliteratur erweist sich das Konzept der „Wendeliteratur“ von Bernd Rüthers als hilfreich.14 Rüthers konnte in vergleichender Betrachtung aller Systemumbrüche, die sich im Deutschland des 20. Jahrhunderts ereigneten, feststellen, dass sie alle von einer Veröffentlichungsflut insbesondere in Rechts- und Geisteswissenschaften begleitet waren. Diese „Wendeliteratur“ zeichnete sich dadurch aus, dass sie auf die Legitimierung des Umbruchs sowie der neuen politischen Ordnung abzielte. Sie unterbreitete Vorschläge, wie eine „Rechtserneuerung“ in Gesetzgebung, Verwaltung, Justiz und Wissenschaft am besten bewerkstelligt werden könne.15 Zudem bot sie einen Rahmen, die Entwicklung bestimmter Berufs- und Wissenschaftsbereiche in der alten Zeit zu diskutieren.16 Ihre Funktion sei es gewesen, „das kollektive Handeln und/oder das kollektive Erinnern in bestimmte, politisch erwünschte Bahnen zu lenken.“17 Wendeliteraturen lassen sich Rüthers zufolge aber nicht nur an ihren Inhalten, sondern auch an ihrem Stil erkennen. Sie seien zum Teil aus einer stark emotionalen Haltung gegenüber der eigenen Erfahrungswelt heraus geschrieben, da die Autoren persönlich in den Umbruch verstrickt gewesen seien.18 Die einzelnen Texte bildeten damit Mosaikstücke einer allgemeinen gesellschaftlichen Stimmung; erst in der Summe ergebe sich für die Nachwelt ein Bild.19 Für Wendeliteraturen gelte daher in einem besonderen Maße, was bei der Analyse von Texten ohnehin beachtet werden müsse: Sie seien in ihrem vollen Bedeutungsgehalt nur erfassbar, wenn man die Umstände ihrer Entstehung und die Erfahrungswelt der Zeitgenossen einbeziehe. Dies trifft auf die Naturrechtsliteratur der Nachkriegszeit zu. Gerade die Texte, die in den ersten drei Jahren nach Ende des Krieges geschrieben wurden, sind häufig schnell und ohne Angabe von Referenzen verfasst, der Tonfall ist pathetisch, die Sprache metaphernreich. Das Konzept der Wendeliteratur vermag zu erklären, warum diese Texte auch über die disziplinären Grenzen der 14  Bernd Rüthers, Geschönte Geschichten – Geschonte Biographien, 2001. Im Übrigen finden sich in der Forschungsliteratur die Bezeichnungen „Besinnungsliteratur“ und „Bewältigungsbücher“, erstere bei Viktor Winkler, in: forum historiae juris, http://www.forhistiur. de/zitat/0507winkler.htm, Artikel vom 29.7.2005, letztere bei Joachim Rückert, in: Quaderni Fiorentini 24 (1995), S. 531 (535). Die Bezeichnung als „Besinnungsliteratur“ ist missverständlich, denn es bleibt unklar, ob mit dieser Bezeichnung nur gemeint ist, dass in ihr Besinnung repräsentiert wird, oder auch, dass tatsächlich mit dem Verfassen der Schriften eine Besinnungsleistung verbunden war. Der Begriff der Besinnung ist zudem zu undifferenziert, um zu erfassen, wie sich die Autoren zu der jüngsten Vergangenheit positionierten, indem sie auf Naturrecht zurückgriffen. Die Bezeichnung als „Bewältigungsliteratur“ ist unproblematischer, nimmt jedoch das Ergebnis vorweg und wird daher hier nicht verwendet. 15  Bernd Rüthers, Geschönte Geschichten – Geschonte Biographien, 2001, S. 10. 16  Bernd Rüthers, ebd., S. 11. 17  Bernd Rüthers, ebd., S. 11. 18  Bernd Rüthers, ebd., S. 12. 19  Bernd Rüthers, ebd., S. 19.

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Rechtsphilosophie hinaus so hohe Wellen schlagen konnten – es ging um mehr als um einen gelehrten Fachdiskurs. Denn Wendeliteraturen stellen ein Bindeglied zwischen der Erschütterung des Umbruchsmoments, der sagenumwobenen ‚Stunde null‘ und der Restabilisierung dar. Wie die Naturrechts-Wendeliteratur nach 1945 diese Aufgabe ausgefüllt hat, wird in der vorliegenden Arbeit erkundet. Meine These lautet, dass die Besinnung auf ‚Naturrecht‘ für die Jurisprudenz gerade deswegen diese Bindegliedfunktion erfüllte und erfüllen konnte, weil sie einen Ort darstellte, an dem sich Juristen über ihre professionelle Identität und über die Autorität ihrer Profession verständigen konnten. Beide waren nach 1945 grundlegend in Frage gestellt.

III. Identität und Autorität der Jurisprudenz Mit dieser These ist der Zugriff angesprochen, dem die vorliegende Arbeit folgt. Zugleich sind die Begriffe genannt, die als Stütze dienen, um das Phänomen der Naturrechtsbegeisterung nach 1945 zu durchleuchten. Die Naturrechtsliteratur als Wendeliteratur zu betrachten bedeutet, Wissensproduktion als sozialen Prozess zu begreifen, der untrennbar verbunden ist mit seinem jeweiligen historischen Kontext und dem ebenfalls historisch bedingten Selbstverständnis seiner Akteure. Da eine umfassende wissenssoziologische und rechtssoziologische Theoriebildung bezüglich der Jurisprudenz bislang nicht versucht worden ist, 20 möchte ich mich darauf beschränken, im Folgenden einige Gesichtspunkte herauszugreifen, die für das Verständnis einer juristischen Wendeliteratur nach 1945 von Bedeutung sind und damit die Grundgedanken zu skizzieren, die meiner These zugrunde liegen: Was ist unter einer „professionellen Identität von Jurist/ innen“ zu verstehen, was unter der „Autorität der Jurisprudenz“ und warum bedurfte es einer Verständigung über beide in einer Umbruchsituation wie der nach 1945?

1. Entstehung wissenschaftlicher Konjunkturen Zunächst sei jedoch ein Blick darauf geworfen, wie überhaupt wissenschaftliche Konjunkturen entstehen und welchen Regeln wissenschaftliche Diskussionen folgen. Dies erleichtert es nachzuvollziehen, wie es in einer gesellschaftlichen 20  Während das Selbstverständnis von Richter/innen empirisch in den 1970er und 1980er Jahren breit erforscht wurde, gibt es abgesehen von Ekkehard Klausas „Deutsche und amerikanische Rechtslehrer“ (1981) bislang keine Arbeit, die sich mit Rechtswissenschaft beschäftigt. Klausas Studie ist quantitativ-empirisch und synchron angelegt und kommt zu dem Ergebnis, dass dem Einfluss der Tradition und der Wissenschaftskultur, die mit der Methode des Verfassers nicht hinreichend erfasst werden konnten, möglicherweise eine entscheidende Rolle zum Verständnis der sozialen Bedingungen der rechtswissenschaftlichen Theoriebildung zukommt. Eine Soziologie der Jurisprudenz bleibt also ein Desiderat.

III. Identität und Autorität der Jurisprudenz

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und politischen Umbruchsituation dazu kommen kann, dass ein Thema oder ein Zugriff so breiten Zuspruch findet, wie dies in der Naturrechtsbesinnung nach 1945 der Fall war. Die Frage wissenschaftlicher Konjunkturen wurde in den 1930er Jahren von dem Biologen Ludwik Fleck aufgeworfen. Wie auch seine Vorläufer in der Wissenssoziologie21 sah Fleck jegliches Wissen als sozial bedingt an. Ihn beschäftigte die Frage, wie und warum sich bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse in der Fachwelt durchsetzen, andere aber nicht. Er führte hierfür die Figur des „Denkstils“ ein. 22 Mit ihr bezeichnete er nicht rein individuelle Denkweisen, sondern solche, die sozial verankert sind: Denkstile würden von bestimmten sozialen Gruppen getragen, die er „Denkkollektive“ nannte. Der Denkstil bestimme die Möglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis weitreichend: Von ihm hinge die Wahl des Forschungsgegenstandes ab, die Entscheidung für eine bestimmte Methode, die Sprache und überhaupt die Möglichkeit, Dinge als wahr oder falsch zu benennen. 23 „Er wird zum Zwange für Individuen, er bestimmt, was nicht anders gedacht werden kann“, so Fleck. 24 Neue Erkenntnis sei stets an den bisherigen Denkstil gebunden. Dieser könne nie ganz abgestreift und revolutioniert, sondern lediglich verschoben werden, wodurch ein neuer Denkstil entstehe. 25 Er sprach von einer „Beharrungstendenz“, die jeder Denkstil habe, bedingt durch den Erwartungshorizont der Öffentlichkeit, von der er getragen werde.26 Welche neuen Theorien erdacht werden und welche sich wiederum durchsetzen, ist demzufolge alles andere als zufällig und hängt auch nicht in erster Linie von einer in ihnen selbst liegenden „Wahrheit“ oder „Richtigkeit“ ab. Vielmehr spielen die Denkstile eine maßgebliche Rolle: Sie bestimmen den Rahmen dessen, was wahrgenommen, gedacht und formuliert werden kann. Vor allem aber hängt von ihnen ab, ob eine neue Erkenntnis von der (Fach-)Öffentlich-

21  Die Wissenssoziologie geht auf Max Scheler und Karl Mannheim zurück, wobei Schelers Ansatz entgegen späterer Zugriffe noch der Metaphysik verhaftet ist. Grundlegend Max Scheler (Hg.), Versuche zu einer Soziologie des Wissens, 1924; Karl Mannheim, Das Problem einer Soziologie des Wissens, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 53 (1925), S. 577–652; ders., Wissenssoziologie, in: Alfred Vierkandt (Hg.), Handwörterbuch der Soziologie, 1931, S. 659–680. 22  Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935), 1980. 23  Ludwik Fleck, ebd., S. 130 f.; Ähnliche Überlegungen zur Wirkungsweise von Denkstilen, liegen den Arbeiten Michel Foucaults zugrunde. Was Fleck als „Denkstil“ bezeichnete, ist in der Terminologie Foucaults der „Diskurs“, vgl. zum Diskursbegriff: Die Ordnung des Diskurses (frz. 1972), 2003. 24  Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935), 1980, S. 130. 25  Ludwik Fleck, ebd., S. 123. 26  Ludwik Fleck, ebd., S. 131, 139.

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keit Würdigung erfährt. 27 Das revolutionär Neue, vielleicht auch das, was von späteren Generationen als „wahr“ angesehen wird, ist nicht immer das, was sich unmittelbar durchsetzt. Dass sich Juristen unmittelbar nach Kriegsende über Grundlagen des Rechtsdenkens verständigen wollten, war auf den ersten Blick mehr den äußeren Ereignissen als einem Denkstil geschuldet. Angesichts der Schwere der Schuld des Nationalsozialismus und aller, die ihn unterstützt hatten oder zumindest an seinem Funktionieren beteiligt gewesen waren, ist es nahe liegend, ja selbstverständlich, dass man nicht einfach kommentarlos weitermachen konnte. Genau betrachtet hatten die äußeren Ereignisse zwar mit Sicherheit eine erhebliche Macht. Wie Juristen diese äußeren Ereignisse deuteten und welche Handlungsoptionen sie als adäquat wahrnahmen, war jedoch von ihrem Denkstil geprägt. Er ist integraler Bestandteil professionellen Selbstverständnisses.

2. Professionelle Identität von Jurist/innen Damit ist die Frage der „professionellen Identität“ von Jurist/innen angesprochen. Was ist gemeint? Jeder Wissenschaft und erst recht jeder Berufsgruppe liegt ein bestimmtes Selbstverständnis zugrunde. Es kann je nach Zeit, Ort und Gruppe sehr unterschiedlich sein. In jedem Fall stellt es so etwas wie den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ dar, welcher es überhaupt ermöglicht, sich als Gruppe in der Gesellschaft wahrzunehmen. Betrifft dies Berufsgruppen, so kann von einer fachlichen oder professionellen Identität gesprochen werden. Identität wird in dieser Arbeit als eine soziale Konstruktion begriffen, die permanent in Bewegung ist: Sie wird durch jedes menschliche Verhalten stabilisiert, verschoben, verändert. 28 Bei Identitäten handelt es sich um Selbstbilder, die der Sinnstiftung dienen. Es geht z.B. darum, einer Lebensgeschichte Kontinuität oder zumindest Kohärenz zu verleihen und damit ihren einzelnen Bausteinen eine Bedeutung zu geben – auch denen, die auf den ersten Blick nicht hineinpassen und als Bruch oder Krise erlebt wurden. Dies geschieht in Auseinandersetzung mit der Außenwelt: Gesellschaftliche Normen werden mit der eigenen Person in Verbindung gebracht. Mit den sich daraus möglicherweise ergebenden Widersprüchen muss umgegangen werden. Identitätsbildung ist stets 27  Hier klingt an, was Michel Foucault später deutlicher herausgearbeitet hat: dass der Konstruktion von Wahrheit stets Macht zugrunde liegt. Foucault bezeichnet diese Macht als „Willen zur Wahrheit“. Wie die Konstruktion von Wissen als Wahrheit eben diesen Willen verschleiert, erklärt er folgendermaßen: „Der wahre Diskurs, den die Notwendigkeit seiner Form vom Begehren ablöst und von der Macht befreit, kann den Willen zur Wahrheit, der ihn durchdringt, nicht anerkennen; und der Wille zur Wahrheit, der sich uns seit langem aufzwingt, ist so beschaffen, daß die Wahrheit, die er will, gar nicht anders kann, als ihn zu verschleiern.“, in: Die Ordnung des Diskurses (1972), 2003, S. 16. 28  Siehe hierzu statt aller Ruth Wodak u.a., Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, 1998, S. 48.

III. Identität und Autorität der Jurisprudenz

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eine Positionierung in der Welt. Sie spielt sich ab in dem Spannungsverhältnis zwischen einem inneren Wissen über die eigene Person, einem gegenüber der Außenwelt beanspruchten Selbstbild und der zurückgespiegelten Wahrnehmung eben dieser Außenwelt. 29 Alle drei stehen in einem Wechselspiel zu einander.30 Geht es nun, wie in dieser Arbeit, um „Juristen“ nach 1945, so richtet sich der Blick weniger auf die private Person und die Identitätskonstruktion, die ihre individuelle Lebensgeschichte durchzieht. Es geht vielmehr um eine professionelle und damit öffentliche Identität, die in Auseinandersetzung mit einer öffentlichen und damit kollektiven Wahrnehmung der jeweiligen Profession entsteht und in einer vielschichtigen Beziehung zur individuellen Identität der Angehörigen dieser Profession steht.31

3. Systemumbrüche als Identitätskrise der Jurisprudenz Was geschieht nun in Systemumbrüchen, warum werden sie von der Jurisprudenz als Identitätskrise erlebt? Zunächst bedeuten sie für Jurist/innen eine potentielle Gefahr für ihre berufliche Existenz und können dadurch materiell sehr reale Folgen haben: Als Teil einer Elite, der in aller Regel systemtragende Funktion zukam, hatten sie möglicherweise Stellungen inne, die sie nun im Zuge einer ‚Abrechnung‘ nicht würden behalten können.32 An den Erschütterungsbekundungen, die nach 1945 von Juristen ausgesprochen wurden, lässt sich allerdings erkennen, dass sich die Krisenwahrnehmung auch daraus speiste, dass mit dem Umbruch rückwirkend gerade die Ordnung in Frage gestellt wurde, aus der sie die Legitimation nicht nur ihrer konkreten Tätigkeit, sondern ihrer gesamten beruflichen Existenz zogen: das Recht. Jurisprudenz legitimiert ihren gesellschaftlichen Einfluss über ihre Rechtskundigkeit. Ihr wird die Macht zugestanden zu entscheiden oder entscheidungsrelevantes Wissen beizusteuern, denn sie ist Expertin für das Recht: Sie weiß um 29  Xenia Chryssouchoou, in: Journal of Language and Politics 2 (2003), 225 (232). Sie visualisiert den Identitätsbildungsprozess mithilfe eines Dreiecks, wobei sie von „Anerkennung“ statt von „Außenwahrnehmung“ spricht. 30  Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 1992, S. 135. 31  Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Identität eines Menschen stets vielfältige Facetten hat, je nach Kontext, in dem er sich gerade bewegt. Man kann sogar davon sprechen, dass jeder Mensch vielfältige Identitäten hat. In der Regel sind diese Identitäten miteinander verschränkt, da nur dann eine kohärente Selbstwahrnehmung möglich ist. Auch eine kollektive Identität ist damit niemals als etwas Monolithisches und Homogenes zu verstehen, sondern als ein Geflecht aus vielfältigen, unterschiedlichen Identitäten der Angehörigen der Gruppe in dem spezifischen Gruppenkontext, die wiederum verschränkt sind mit den übrigen Facetten ihrer persönlichen Identität. Der Begriff der „multiplen“ oder „hybriden“ Identität bezeichnet diesen Umstand treffend, siehe hierzu Ruth Wodak u.a., Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, 1998, S. 59 ff. 32  Darauf weist auch Bernd Rüthers hin, in: Geschönte Geschichten – geschonte Biographien, 2001, S. 10.

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Recht und Unrecht, sie weiß, was rechtens ist. Rechtskundigkeit kann aber nur dann legitimierend wirken, wenn Recht selbst gesellschaftlich als wichtig und gut angesehen wird. Die Jurisprudenz hat damit ein Legitimationsproblem, das nur durch die Legitimität des Rechts gelöst werden kann. 33 Legitimation bedeutet Rechtfertigung und beinhaltet die Behauptung, dass man das, was man tut, tun dürfe und dass dies gut sei. Legitimation schafft moralische Berechtigung und ist eines der Grundelemente eines professionellen Selbstverständnisses. Wird Recht nun als willkürlich oder illegitim angesehen, wie dies in Abwicklungsphasen von Unrechtsregimen der Fall ist, bricht für die Jurisprudenz die Möglichkeit zusammen, sich über Recht und Rechtskundigkeit zu legitimieren. Eben davon zeugt die Besinnung auf ‚Naturrecht‘ in den ersten Nachkriegsjahren. Juristen spürten nicht nur um des Rechts willen, sondern auch um ihrer selbst willen die Notwendigkeit, sich zu vergewissern, was den Wert des Rechts ausmachte. Die „Krise des Rechts“, der man mit den Naturrechtstexten begegnen wollte, war zugleich eine Legitimationskrise der Jurisprudenz.

4. Identitätsbildungsprozess Während in gesellschaftlich stabilen Zeiten die Legitimationsquellen für die eigene Tätigkeit und damit die eigene professionelle Identität kaum bewusst sind, war spätestens im Mai 1945 die Sicherheit darüber verloren gegangen. Die kollektive professionelle Identität der Jurisprudenz war ins Wanken geraten. Wie der Prozess aussah, der daraufhin einsetzte, wird in dieser Arbeit analysiert. Einige Überlegungen dazu, wie sich Identitäten bilden, wie sie in einer Krisensituation wiederhergestellt oder neu konfiguriert werden und was sie stabilisiert, seien an dieser Stelle eingeführt, denn sie erklären den Blick, der in der vorliegenden Arbeit auf die Naturrechtsliteratur geworfen wird. Identität wird in erster Linie diskursiv hergestellt. Sie lebt von Erzählungen, mit denen sich die Angehörigen einer Gruppe vergewissern, wer zu der eigenen Gruppe gehört und wer nicht, was die Besonderheiten der Gruppe sind und wodurch sie sich von anderen abhebt. Zugleich verständigen sich die Angehörigen der Gruppe in diesen Erzählungen darüber, woher sie kommen und wohin sie gehen. Will man erfassen, was die Naturrechtsliteratur zur Identitätsstiftung beitrug und wie sie dies tat, müssen also eben diese „Identitätserzählungen“34 analysiert werden. Identitätsstiftung ist ein komplexer Prozess und die Erzählungen, die ihr zugrunde liegen sind vielschichtig. Es können jedoch drei Elemente benannt wer33 Ähnlich Ekkehard Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, 1981, S. 13 f. Die

Legitimation der Jurisprudenz lebe von der „Zauberkraft des Glaubens der Beherrschten an die Richtigkeit der Entscheidung oder zumindest der Entscheidungskompetenz.“ 34 So Ruth Wodak u.a., Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, 1998, S. 68.

III. Identität und Autorität der Jurisprudenz

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den, die in Identitätserzählungen typischerweise eine zentrale Rolle spielen und auf die sich daher in der vorliegenden Arbeit das Augenmerk richten wird. Bei dem ersten Element handelt es sich um das der Abgrenzung von anderen. Abgrenzung ist eine Möglichkeit, sich darüber zu verständigen, wie man nicht ist und nicht sein möchte, und damit auch darüber, wie man ist oder sein möchte. Diese „Anderen“ werden hierfür in der Regel in einer Weise beschrieben, welche die eigenen Vorstellungen spiegelt. Der „Andere“ dient also vor allem als Folie, die das eigene Selbstverständnis, dessen man sich vergewissern will, plastischer hervortreten lässt. Die Eigenschaften, die dem Anderen zugeschrieben werden, erlauben damit zugleich einen Rückschluss auf das Selbstbild der Erzählenden. In der vorliegenden Arbeit spielt der Positivismus die Hauptrolle dieses ‚imaginierten Anderen‘, es wird sich aber zeigen, dass es noch weitere gibt: der Nationalsozialismus etwa oder auch ‚die Politik‘, die als Gegenspielerin zum Recht und zur Jurisprudenz in Szene gesetzt wurde.35 Die beiden weiteren charakteristischen Elemente von Identitätserzählungen betreffen die Selbstverortung in der Zeit: Um sich seiner selbst zu vergewissern, bedarf es auch einer Klärung, wie Vergangenheit gedeutet wird und was aus ihr für Gegenwart und Zukunft folgt.36 Für kollektive Identitätsstiftung bedarf es einer Verständigung über eine gemeinsame Deutung der Geschichte.37 Individuelle Erfahrungen und die sich daraus speisenden Perspektiven und Identitäten sind vielfältig, eine gemeinsame Sicht auf die Vergangenheit muss erst entwickelt werden. Hierfür werden Geschichtsbilder kreiert; es entsteht eine für alle Angehörigen der jeweiligen Gruppe gültige und damit ‚wahre‘ Deutung des Geschehenen. Erinnerung muss vereinheitlicht werden,38 denn nur dann kann es einen gemeinsamen Ausgangspunkt für die Zeit nach dem Umbruch geben. Zudem muss eine Verständigung über die gemeinsame Aufgabe erfolgen, die der jeweiligen Gruppe in der Zukunft zukommen soll. Tatsächlich war die Naturrechtsbesinnung ein Rahmen, in dem eine solche für die Jurisprudenz der Nachkriegszeit formuliert und abgestützt wurde. Dies ergab sich schon aus dem Thema der Diskussion, der Frage einer naturrechtlichen oder positivistischen 35 

Hierzu besonders Kapitel 1 und 6 B. Für die nationale Identitätsbildung in Deutschland nach 1945 Mary Fulbrook, German national identity after the Holocaust, 1999, S. 16 ff.; allgemein zu nationaler Identitätsbildung Ruth Wodak u.a. Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität, 1998, S. 61 ff. mit weiteren Nachweisen zur Forschungslage. 37 Hierzu Mary Fulbrook, German national identity after the Holocaust, 1999, S. 16. Sie bringt die zentralen Faktoren kollektiver Identätsbildung auf folgende Formel: „A sense of collective identity will be stronger if there is A. Legacy: or, A shared myth of a common past […], B. Destiny: A community of common fate.“ 38  Auf den Zusammenhang von Identität und Erinnerung weisen vor allem die Arbeiten von Aleida Assmann hin, etwa: Der lange Schatten der Vergangenheit, 2006, S. 150 ff.; Erinnerungsräume, 4.A. 2009, S. 64 ff. Zur Vereinheitlichung von Erinnerung durch Repräsentation siehe Kapitel 1, S. 45. 36 

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Fundierung der Rechtsordnung. Sie war in den Diskussionen der Nachkriegszeit eng verbunden mit der Frage, wem die Deutungshoheit über das Recht zukommen sollte. Rechtswissenschaft, Gerichten und Kirchen auf der einen Seite stand der Gesetzgeber auf der anderen gegenüber. Während eine positivistische Rechtslehre in letzter Instanz dem Gesetzgeber die Kompetenz überträgt zu definieren, was in einer Gesellschaft als Recht angesehen wird, ist diese Kompetenz in einer naturrechtlich fundierten Rechtsordnung breiter verteilt: der Gesetzgeber teilt sie sich mit Rechtswissenschaft und Gerichten, Theologie und Philosophie. Über ‚Naturrecht‘ zu schreiben, bedeutete also auch, über die Zuständigkeiten für das Recht nachzudenken.

5. Autorität der Jurisprudenz Diese Zuständigkeiten für das Recht sind das, was in dieser Arbeit als „Autorität“ über das Recht bezeichnet wird. Sie sind Ergebnisse komplexer sozialer Prozesse, denn es geht hier um etwas, das weit hinausgeht über formale Festlegungen, wie sie etwa in Kompetenzordnungen rechtlich getroffen werden. „Autorität“ im Sprechen über Recht hat derjenige, dessen Äußerungen Gehör finden und dessen Stimme Gewicht hat. Der Blick auf das Verhältnis von Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Rechtsprechung vermag dies zu veranschaulichen: Die Einflussmöglichkeiten der Rechtswissenschaft sind an keiner Stelle rechtlich geregelt, dennoch gibt es eine Praxis, die der Rechtswissenschaft eine Mitsprache gewährt und ihr zu einem gewissen Grade Gehör schenkt.39 „Autorität“ in dieser Arbeit meint eben diesen realen Einfluss, der nicht nur durch formale Ordnung, sondern vor allem auch durch gesellschaftliche Anerkennung abgesichert ist.40 Schon in gesellschaftlich stabilen Zeiten ist die Zuständigkeit für das Recht somit Gegenstand permanenter Aushandlung. In Umbruchsituationen wie der nach 1945 wird die Frage, wem die Deutungshoheit darüber zukommen soll, was Recht ist, drängender denn je. Die rechtliche Kompetenzordnung ist obsolet, bis zur Verfassungsgebung muss man sich mit einer Interimsordnung 39 Historisch wird dies zurückgeführt auf die Einheit von Wissenschaft und Praxis, welche die klassischen Professionen an den Universitäten charakterisierte, vgl. Rudolf Stichweh, Wissenschaft, Universität, Professionen, 1994, S. 286. Den Einfluss der Rechtswissenschaft auf die Rechtsentwicklung für die Zeit vor 1933 bestätigt Michael Stolleis, in: Serge Dauchy u.a. (Hg.), Auctoritates, 1997, S. 118 (123 ff.). Genau beziffern lasse sich dieser Einfluss nicht, sie sei aber Teil einer „Kommunikationsgemeinschaft“ gewesen, von der maßgebliche Veränderungen der Rechtsordnung ausgegangen seien. 40  Alexander Somek stellt Autorität und rechtliches Wissen schon deshalb in einen Zusammenhang, weil Recht nach seinem Erlass niemals statisch sei, sondern – gerade auch durch den Beitrag der Rechtswissenschaft – stetig neu produziert werde. Zugespitzt formuliert er: „Rechtliches Wissen ist demnach von der Ausübung sozialer Autorität nicht zu trennen.“, in: Der Gegenstand der Rechtserkenntnis, 1996, S. 13.

IV. Zu dieser Arbeit

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be­gnügen. Vor allem aber ist das Recht als Ordnung insgesamt brüchig geworden, auch da, wo es in Kraft bleibt. Tradition bietet nur noch eingeschränk­ tes Legitimationspotential. Diejenigen, die über das Recht sprechen, können sich nicht mehr unproblematisch darauf verlassen, dass sie ihrer Stimme Gewicht verleiht. Am Ende des Prozesses, der nun einsetzt, steht eine neue Kompetenzordnung, und zwar nicht nur als eine rechtliche Regelung, sondern als eine gelebte Praxis. Das Jahr 1945 wird in dieser Arbeit als Beginn eines solchen Konsolidierungsprozesses gesehen. Am Anfang wurde darum gerungen, wem das Recht anvertraut werden sollte. Hierfür war eine Legitimationsstrategie nötig, und so war der Diskurs um die Autorität der Jurisprudenz eng verbunden mit Selbstinszenierungen, die den Anspruch auf das Recht wirksam unterstreichen sollten. Das Ringen um Anerkennung und um eine legitime gesellschaftliche Aufgabe war damit sowohl Teil des Identitätsbildungsprozesses als auch Element der Konsolidierung der rechtlichen wie auch der sozial anerkannten und gelebten Kompetenzordnung. Der Blick auf den Anfang ermöglicht es zu zeigen, auf welche Weise das Ringen um Identität und Autorität der Jurisprudenz in der Naturrechtsbesinnung der Nachkriegszeit genau zusammenhingen.

IV. Zu dieser Arbeit Es wird also der Frage nachgegangen, warum ‚Naturrecht‘ für einige Jahre eine solche Anziehungskraft entfalten konnte. Hierfür werden die Naturrechtstexte, die von Juristen im Zeitraum zwischen 1945 bis etwa 1955 verfasst wurden, untersucht. Ziel ist es, die Bedeutung nachzuvollziehen, welche die Frage des Naturrechts für Juristen im Kontext der Umbruchsituation nach 1945 hatte. Es handelt sich um einen historischen und wissenssoziologischen Zugriff. Von Forschungen, die – wie insbesondere noch in den 1960er Jahren üblich – den Diskussionsstand aufzeichnen, um diesen zum Ausgangspunkt für eigene philosophische Überlegungen zu machen,41 unterscheidet sich diese Herangehens-

41  So besonders die umfassende Darstellung von Hans-Dieter Schelauske, Naturrechtsdiskussion in Deutschland, 1968. Zeitgenössisch gibt Thomas Würtenberger einen Überblick in drei Beiträgen: Wege zum Naturrecht in Deutschland (1946–1948), ARSP 38 (1949/50), 98–138; Neue Stimmen zum Naturrecht in Deutschland (1948–1951), ARSP 40 (1952/53), 576–597; Zur Geschichte der Rechtsphilosophie und des Naturrechts. Deutschsprachige Beiträge seit 1948, ARSP 41 (1954/55), 58–87. Außerdem Alexander Hollerbach, Das christliche Naturrecht (1973), in: Katholizismus und Jurisprudenz, 2003, S. 231 (250 ff.); ders. im selben Band: Was ist aus der deutschen Naturrechtsdiskussion geworden? (1984), S. 278–294. In jüngerer Zeit: Kristian Kühl, Rückblick auf die Renaissance des Naturrechts nach dem 2. Weltkrieg, in: Gerhard Köbler (Hg.), Geschichtliche Rechtswissenschaft, 1990, S. 331–357; Arthur Kaufmann, Die Naturrechtsrenaissance der ersten Nachkriegsjahre – und was daraus

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Einleitung

weise ebenso wie von einer kritisch-konfrontativen Auseinandersetzung, wie sie sich in den 1970er Jahren entwickelte.42

1. Vielstimmigkeit und Gleichklang in der Naturrechtsliteratur: Zum Gang der Untersuchung Ein solcher Ansatz muss der Vielgestaltigkeit der Naturrechtsbesinnung Rechnung tragen. Es wurde bereits angesprochen, dass sich Juristen nach 1945 an verschiedenen Orten mit der Naturrechtsfrage befassten. Juristen waren involviert in verschiedene Gesprächskreise, die sich nur punktuell berührten. Gesprächspartner, Diskussionsverläufe und auch die Probleme, für die man sich vom ‚Naturrecht‘ eine Antwort erhoffte, waren unterschiedlich. Wenn in dieser Arbeit von „Naturrechtsdebatten“ im Plural die Rede ist, soll eben dieser Umstand ausgedrückt werden. Um der Eigenart und dem Kontext der verschiedenen „Naturrechtsdebatten“ gerecht zu werden, folgt die Arbeit in ihrem Hauptteil (Kapitel 2 bis 5) den Strömungen der Naturrechtsbesinnung und widmet ihnen je eigene Abschnitte: In Kapitel 2 wird die Bedeutung des übergesetzlichen Rechts für die Rechtspraxis beleuchtet. Für sie stellte übergesetzliches Recht weniger einen Gegenstand philosophischer Auseinandersetzung dar, als eine Möglichkeit, rechtlichen Problemen, die sich aus Umbruch und Besatzung ergaben, zu begegnen. Kapitel 3, 4 und 5 analysieren die Diskussionen, die in übergesetzlichen Normen die Chance einer moralischen Erneuerung der Gesellschaft und des Rechts sahen. Sie reagierten auf die „geistige Krise“, die in den ersten Nachkriegsjahren vielfach beschworen wurde. Kapitel 3 widmet sich hier der Renaissance des katholischen Naturrechts, es folgt in Kapitel 4 eine Darstellung der Diskussionen im Umfeld der evangelischen Kirche, die Juristen und Theologen in engem Austausch miteinander führten. In Abgrenzung von diesen beiden christlichen Naturrechtsdebatten entwickelte sich unter Rechtswissenschaftlern eine Diskussion um die Möglichkeit einer säkularen Begründung des Naturrechts oder zumindest eines objektiven Kerns des Rechts (Kapitel 5). Die Anordnung dieser Diskussionsstränge ist nicht beliebig, sondern folgt der Chronologie. Die Diskussionen in den einzelnen Feldern überlappten sich zwar, die rechtspraktische Diskussion hatte ihren Höhepunkt allerdings bereits um 1947, während geworden ist, in: Michael Stolleis (Hg.), Die Bedeutung der Wörter, 1991, S. 105–132; Arndt Künnecke, Auf der Suche nach dem Kern des Naturrechts, 2003. 42  Wolf Rosenbaum, Naturrecht und positives Recht, 1972; Heinrich Lau, Naturrecht und Restauration in der BRD, KJ 1975, 244–254; Ingo Müller, Gesetzliches Recht und übergesetzliches Unrecht, in: Leviathan 1979, 308–338; Heinrich Lau, Naturrecht und Restauration, 1994; Manfred Walther, Hat der juristische Positivismus die deutschen Juristen im „Dritten Reich“ wehrlos gemacht?, in: Ralf Dreier/Wolfgang Sellert (Hg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, 1989, S. 323–354.

IV. Zu dieser Arbeit

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die Auseinandersetzung mit der Naturrechtsfrage aus säkularer Sicht erst in den frühen 1950er Jahren volle Fahrt gewann.43 Diese Einteilung entspricht der zeitgenössischen Wahrnehmung.44 Die Unterschiede zwischen den einzelnen Diskussionsfeldern wurden damals möglicherweise in weit größerem Ausmaß als trennend wahrgenommen, als aus heutiger Perspektive.45 Blättert man heute durch die Texte, stechen jedoch zunächst die Gemeinsamkeiten ins Auge. Die Erschütterung über das Geschehene und die Erklärungsversuche, wie es dazu hatte kommen können, insbesondere die Abgrenzung vom Positivismus, dem die Schuld an der „Perversion der Rechtsordnung“46 im Nationalsozialismus zugeschrieben wurde, waren feste Elemente in den Schriften. Auch die Vorstellungen von der neuen Gesellschaftsordnung und der Rolle des Rechts und der Jurisprudenz in dieser ähnelten sich. Erst diese für die Identitätsstiftung so zentralen Gemeinsamkeiten machen das Bild vollständig und geben einen Eindruck davon, warum ‚Naturrecht‘ nach 1945 einen solchen Schwung gewann. Sie rahmen daher die Darstellung der einzelnen Debattenteile ein: Die Positionierung gegenüber der Vergangenheit ist Gegenstand von Kapitel 1, die Zukunftsvorstellungen werden in Kapitel 6 analysiert. Auch methodisch ist die Arbeit zweigleisig angelegt: In ihrem Hauptteil, den Kapiteln 2 bis 5, steht die Frage im Mittelpunkt, für welche Probleme sich die Autoren eine Lösung durch die Rückgriff auf ‚Naturrecht‘ erhofften. Während sie in diesem Teil also einem problemgeschichtlichen Ansatz folgt,47 sind Kapitel 1 und 6 diskursanalytisch angelegt.48 In diesen Kapiteln werden die Struk43  Unzutreffend insofern die Beschreibung der zeitlichen Abfolge bei Arndt Künnecke, Auf der Suche nach dem Kern des Naturrechts, 2003, S. 39 ff. Er verkennt, dass sich die rechtspraktische und die übrigen Debatten zeitlich überschnitten haben, auch wenn ihre Höhepunkte einander zeitlich nachgelagert waren. 44  So etwa Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952, S. 348 ff. 45  Zugespitzt und dennoch treffend hierzu die Verweisung auf ein Zitat Umberto Ecos: „Umberto Eco hat einmal zu Mönchskontroversen des Mittelalters bemerkt, es sei für den heutigen Betrachter kaum mehr auszumachen, worum es dabei gegangen sei. Alle sagten sie dasselbe und doch haben sie sich gegenseitig als Ketzer verbrannt. In der Retrospektive rücken die Standpunkte enger zusammen als die Zeitgenossen es für möglich gehalten hätten“, Rolf-Peter Sieferle, Die konservative Revolution, 1995, S. 20. 46  So der Titel einer Schrift von Fritz von Hippel, Perversion von Rechtsordnungen, 1955. 47  Zur Problemgeschichte Joachim Rückert, Rg 3 (2003), 58–65; Otto Gerhard Oexle, in: ders. (Hg.), Das Problem der Problemgeschichte 1880–1932, 2001, S. 11–37. 48  Der Begriff der „Diskursanalyse“ wird in der historischen Forschung sehr breit und oft unkonturiert verwendet. Hier ist damit gemeint, dass der Blick gerade auch darauf gelenkt wird, wie in den Naturrechtstexten Bedeutungen sprachlich konstruiert und hierdurch Wahrnehmungskategorien und legitime Weltsichten etabliert wurden. Siehe hierzu eingehend Achim Landwehr, Geschichte des Sagbaren, 2001. Auf argumentationstheoretische Analysen wird in dieser Arbeit punktuell zurückgegriffen, auf eine sprachwissenschaftlich fundierte Methodologie jedoch verzichtet. Zum Nutzen einer solchen Martin Reisigl, Projektbericht: Der Wiener Ansatz der Kritischen Diskursanalyse, in: Forum Qualitative Sozialforschung 8/2 (2007), http://nbnresolving.de/urn:nbn:de:0114–fqs0702P75.

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Einleitung

turen der Argumentationen sowie die zentralen Topoi der Erzählungen analysiert, welche die Naturrechtsbegründungen abstützten und umrankten.

2. Vier Autoren Die Mischung aus Vielstimmigkeit und Gleichklang macht es schwierig, bedeutsame Nuancen genau zu erfassen. Die Autoren waren sparsam mit Bezügen zu anderen Texten, setzten vergleichsweise wenige Fußnoten und die Bezüge zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren oft eingekleidet in allgemein gehaltene Ausführungen zur Philosophiegeschichte oder Appelle an Humanität und Gewissen. Die Texte bieten heutigen Leser/innen damit häufig keine klaren Anhaltspunkte, um den Problemrahmen und die Dimension, die sie damals hatten, zu verstehen. Um diesen Dimensionen nachspüren zu können, konzentriert sich diese Arbeit analytisch auf vier Autoren. Es handelt sich um Hermann Weinkauff, den ersten Präsidenten des Bundesgerichtshofs, der noch bis Ende der 1960er Jahre ein energischer Verfechter einer echt naturrechtlichen Fundierung der Justiz war, sowie um Adolf Süsterhenn, der als katholischer CDU-Politiker nach 1945 zunächst auf eine naturrechtliche Ausrichtung der Verfassung von Rheinland-Pfalz hinwirkte und dann als Mitglied des Konvents von Herrenchiemsee und des Parlamentarischen Rats naturrechtliche Positionen in das entstehende Grundgesetzes einbrachte. Für die evangelische Diskussion konzentriert sie sich auf Erik Wolf, dessen Beschäftigung mit dem Naturrecht in die Forderung nach einer Rechtstheologie mündete und für die säkulare Diskussion auf Helmut Coing, der als erster und einziger in diesem Bereich eine umfassende Naturrechtskonzeption vorlegte. Süsterhenn, Wolf und Coing gehörten eindeutig einem der Gesprächskreise an. Ihre Konzeptionen werden daher in den Kapiteln 3 bis 5 vorgestellt. Weinkauff hingegen war selbst evangelisch, stand der katholischen Naturrechtslehre nahe und äußerte sich zur naturrechtlichen Fundierung der Justiz erst eingehend, als die rechtspraktische Diskussion längst ihren Höhepunkt überschritten hatte. Seine Konzeption hat in dieser Arbeit daher keinen festen Ort. Auf seine Schriften wird insbesondere in den Kapiteln 1 und 6 zurückgegriffen. Nicht unter den vier Autoren ist Gustav Radbruch, der heute oft mit der Naturrechtsbesinnung der Nachkriegszeit in Verbindung gebracht wird. Sein zeitgenössischer Einfluss auf die „Neubegründung des Naturrechts“ war begrenzt, was wohl dem Umstand geschuldet war, dass sich seine Konzeption „übergesetzlichen Rechts“ in keine der Strömungen einfügte. Er blieb eine Randfigur der Naturrechtsbesinnung. Einzig in die rechtspraktische Diskussion um die Bedeutung übergesetzlichen Rechts für die rückwirkende Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen intervenierte er wirkungsvoll. Kapitel 2 ist damit der

IV. Zu dieser Arbeit

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Ort, an dem seine Schriften zum „übergesetzlichen Recht“ aus den Jahren 1945 bis 1947 eingehend diskutiert werden. Die vier Autoren Weinkauff, Süsterhenn, Wolf und Coing sind nicht repräsentativ für die einzelnen Strömungen. Ihre Texte entsprechen nicht denen eines ‚Durchschnitts‘. Sie als ‚Meinungsführer‘ in ihren Gesprächskreisen zu bezeichnen, ginge allerdings auch zu weit. Das Naturrecht war ihnen ein ernstes Anliegen, sie alle zeichnen sich dadurch aus, dass sie vergleichsweise viel zu naturrechtlichen Fragen publizierten. Ihre Positionen wurden in den jeweiligen Gesprächskreisen und zum Teil auch darüber hinaus wahrgenommen und diskutiert. Ihre Texte, Vorträge und Aktivitäten gaben den jeweiligen Diskussionen Impulse. Mal gaben sie erste Anstöße, mal entwickelten sie Vorhandenes weiter, mal war es gerade die Kritik am Verlauf der Diskussion, die ihnen Gehör verschaffte. Wie genau ihre Rolle in den jeweiligen Gesprächskreisen war, wird in den einzelnen Kapiteln deutlich, denn es werden nicht nur ihre Position und ihre Aktivitäten beleuchtet, sondern auch die Diskussion um sie herum. Es gab weitere Impulsgeber in der Naturrechtsbesinnung, auf die sich diese Arbeit ebensogut hätte konzentrieren können. Die Arbeit wäre dann mit Sicherheit in vielerlei Hinsicht anders als die vorliegende. Vermutlich wäre sie aber keine völlig andere.

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Kapitel 1

Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus als mächtiger Gegner Die Erschütterungsbekundungen über die „Pervertierung des Rechts“ im Nationalsozialismus stellten den Ausgangspunkt der Besinnung auf das Naturrecht in der Nachkriegszeit dar. Doch nicht nur das Anliegen, Entsetzen über die jüngste Vergangenheit zu bekunden, teilten Rechtswissenschaftler und -praktiker nach 1945. Auch über die Erklärung, wie es dazu kommen konnte, dass das Recht im Nationalsozialismus zu einem Instrument des Unrechtsregimes hatte werden können, herrschte ein breiter Konsens: Der Positivismus war schuld, so die allgemeine Erklärung. Hundert Jahre habe dieser geherrscht und Juristen unempfänglich für moralische Fragen gemacht. Eine strikte Trennung von Moral und Recht habe es möglich gemacht, dass im Nationalsozialismus etwas als Recht habe gelten können, was mit Moral schlechterdings nicht vereinbar gewesen sei. Diese, häufig als „Wehrlosigkeitsthese“ oder allgemeiner als „Positivismusthese“ bezeichnete Annahme, wird heute in erster Linie mit Gustav Radbruch in Verbindung gebracht. Dieser hatte 1946 griffig formuliert: „Der Positivismus hat […] mit seiner Überzeugung ‚Gesetz ist Gesetz‘ den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts.“1

Tatsächlich brachte Radbruch lediglich auf den Punkt, wovon gemeinhin ausgegangen wurde. Die „Positivismusthese“ trat in den Diskurs ein, kaum dass der Krieg beendet war. In den Jahren 1945/46 finden sich eine Vielzahl paralleler Äußerungen, so dass sich ein Urheber nicht ausmachen lässt.2 Zweifel meldeten nur ganz wenige an.

1  Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105 (107). 2  Dies ist Ludwik Fleck zufolge für die Entstehung von wissenschaftlichen Gedanken typisch, da sich diese stets in Kommunikation herausbilden. Im Verlaufe dieser Kommunikation veränderten sie sich so, dass ihr Ausgangspunkt bald nicht mehr erkennbar sei. Fleck nennt das, was in einem solchen Kommunikationsprozess entsteht, einen „Kollektivgedanken […], der keinem Individuum angehört“, in: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935), 1980, S. 58.

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Kapitel 1: Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus

I. Ausgangspunkt: Eine ‚falsche‘ Erinnerung Diese Einigkeit konnte sich nicht auf historische Fakten stützen. Schon die Annahme, es habe ‚den‘ einen Positivismus gegeben, der hundert Jahre ‚geherrscht‘ habe, entbehrt in dieser Undifferenziertheit jeder Grundlage.3 Die jüngere rechtshistorische Forschung hat eindrucksvoll gezeigt, wie vielgestaltig Rechtstheorie im 19. und frühen 20. Jahrhundert gewesen ist. Positivismus wie auch Antipositivismus veränderten mit dem Wandel der politischen Verhältnisse ihre Gestalt und auch das Kräfteverhältnis zwischen ihnen war alles andere als statisch. Will man Rechtstheorie dieser Zeit überhaupt in den Kategorien von Positivismus und Antipositivismus fassen,4 so zeigt sich schnell, dass sich die Geschichten, die man von ihnen erzählt, unterscheiden, je nachdem, welche Aspekte und welche Zeit man genau in den Blick nimmt: Sieht man etwa die Gesetzesbindung der Gerichte als Kern des Positivismus an, so war seine Blüte zu Beginn des 19. Jahrhunderts, eine Zeit, in der eine aufklärerische Gesetzeseuphorie nachwirkte und darin eine Chance erblickt wurde, der Staatsmacht eine unabhängige Rechtsprechung abzutrotzen. 5 Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts hingegen dominierten Theorien, die ausloteten, wie weit Gerichte rechtsschöpferisch tätig werden sollten, es finden sich kaum solche, die dies gänzlich ablehnten.6 Verbindet man Positivismus mit einer Ergebenheit gegenüber dem Staat und seinen Anordnungen, so war dies ein spezifisches Phänomen der Restaurationszeit Mitte des 19. Jahrhunderts.7 Eine logische Me3  Zeitgenössisch bereits Adolf Julius Merkl, Neue Naturrechtssysteme (1951), in: Walter Barfuß (Hg.), 125 Jahre Wiener Juristische Gesellschaft, 1992, S. 118 (122), der kritisiert, dass „die Naturrechtslehre gemeiniglich übersieht, daß auch innerhalb des Positivismus widersprechende Standpunkte bestehen.“ 4  Die Notwendigkeit, die historiographischen Ordnungsbegriffe zu hinterfragen mahnen an Joachim Rückert, Autonomie des Rechts, 1988, S. 59 ff.; Hans-Peter Haferkamp, in: Okko Behrends/Eva Schumann (Hg.), Franz Wieacker, 2010, S. 181–211. Zweifel an der Sinnhaftigkeit, von „Positivismus“ zu sprechen, äußert etwa auch Annette Brockmöller, Die Entstehung der Rechtstheorie im 19. Jahrhundert in Deutschland, 1997, S. 32 ff. 5  Regina Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 1986, S. 39 ff. 6  Regina Ogorek, ebd., passim. In ihrer Studie wird deutlich, wie wenig angemessen die Beschreibung der Rechtslehren dieser Zeit als „positivistisch“ ist, da so die Vielfältigkeit der Ansätze und ihre unterschiedliche gesellschaftspolitische Stoßrichtung untergehen. Insgesamt sei im 19. Jahrhundert die für den Positivismus charakteristische These von der Trennung von Moral und Recht abgesehen von Bergbohm und Bierling nicht strikt vertreten worden, vgl. Annette Brockmöller, Die Entstehung der Rechtstheorie im 19. Jahrhundert in Deutschland, 1997, S. 275. Zweifel daran, ob jemals ein Gesetzespositivismus in Reinform vertreten worden sei, auch bei Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 3, 2.A. 1993, S. 266. Ablehnend für das späte Kaiserreich Jan Schröder, in: Rechtswissenschaft in der Neuzeit, 2010, S. 505–521. Es habe zwar einige strenge Gesetzespositivisten gegeben, diese hätten jedoch nicht die Rechtstheorie ihrer Zeit dominiert. Zum frühen 20. Jahrhundert differenziert ders. im selben Band, S. 585–598 und ders., Rg 13 (2008), S. 160 (164 ff.). 7  Regina Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat?, 1986, S. 247 ff.

I. Ausgangspunkt: Eine ‚falsche‘ Erinnerung

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thode der Rechtswissenschaft, die zuweilen als charakteristisch für den Positivismus angesehen wird, wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenfalls nicht mehr vertreten.8 Um die Jahrhundertwende fanden sich zahlreiche Versuche, die richterliche Freiheit gegenüber dem Gesetzgeber zu begründen9 und Gerichte als volksnahe, mehr der Gesellschaft als dem Staat verpflichtete Institutionen zu begreifen.10 Ist diesen Befunden nach schon zweifelhaft, wie es um die Dominanz positivistischer Positionen im 19. Jahrhundert und um die Jahrhundertwende stand, so lässt sich eine solche für die Weimarer Zeit in keiner Weise behaupten. Antipositivistische Strömungen in der Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik wurden nach Ende des ersten Weltkriegs immer stärker.11 Die 1920er Jahre  8  Regina Ogorek, ebd., S. 259 f. Insbesondere auf die Begriffsjurisprudenz, die lange als Inbegriff einer „formalistischen“ Rechtslehre galt, trifft dies nicht zu, siehe Ulrich Falk, Ein Gelehrter wie Windscheid, 1989; Joachim Rückert, JuS 1992, 902–908; Hans-Peter Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die „Begriffsjurisprudenz“, 2004. Anders in der Staatsrechtslehre, wo der Positivismus mit der „juristischen Methode“ erst um 1880 zum Durchbruch kam und zunächst das Fach dominierte, vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 2, 1992, S. 330 ff.; Walter Pauly, Der Methodenwandel im deutschen Spätkonstitutionalismus, 1993. Allerdings kann auch für diese Zeit nicht die Rede davon sein, dass der Positivismus unangefochten vorgeherrscht habe, Michael Stolleis, aaO., S. 348 ff. Ab 1900 war er zudem Angriffen von denen ausgesetzt, die später den scharfen Antipositivismus der Weimarer Zeit anführten, vgl. Stefan Korioth, AöR 117 (1992), 212–238.  9  So die Lehre von der objektiven Auslegung, nach der das Gesetzesrecht entsprechend der Gerechtigkeitsvorstellungen zum Zeitpunkt der Entscheidung auszulegen sei, hierzu Jan Schröder, in: Rechtswissenschaft in der Neuzeit, 2010, S. 585 (588 ff.). 10  So neben der Freirechtsbewegung und der teleologischen Richtung in der Strafrechtswissenschaft auch die Ansätze, die Recht als Kulturwissenschaft betrachten, vgl. Hans-Peter Haferkamp, in: Marcel Senn u.a. (Hg.), Rechtswissenschaft als Kulturwissenschaft?, 2007, S. 105–120. Zur Freirechtsbewegung Joachim Rückert, ZRG 125 (2008), 199–255. 11  Dies ist besonders für die Staatsrechtslehre gut dokumentiert, siehe Michael Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts, Bd. 3, 1999, S. 171 ff. und entsprach der zeitgenössischen Wahrnehmung. So stellte Gerhard Anschütz auf der Staatsrechtslehrertagung 1926 fest: „Die Welt wandelt sich. Das Naturrecht ist wieder Mode“ und Hans Kelsen im sagte im gleichen Sinne: „[D]er Schrei nach Metaphysik tönt jetzt, – nach einer Periode des Positivismus und Empirismus, – wieder allenthalben und auf allen Erkenntnisgebieten.“ Erich Kaufmann, der auf dieser Tagung das antipositivistische Lager mit einem Referat vertrat, bezeichnete den Positivismus als „erledigt“, VVdStRL 3 (1927), S. 3, 47, 53 f. In der Rechtsphilosophie ging dies mit einer Hinwendung zu Neuhegelianismus und Geisteswissenschaft nach dem ersten Weltkrieg einher, siehe zu Ersterer Sylvie Hürstel, RJ 14 (1995), 368–398, zu Letzterer Klaus Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“, 1987. Zur Vielfältigkeit der antipositivistischen Zugriffe der Weimarer Zeit sowohl in rechtsphilosophischer als auch in staatstheoretischer und methodischer Hinsicht jüngst Axel-Johannes Korb, Kelsens Kritiker, 2010, der zu dem Ergebnis gelangt, dass sie einzig durch die gemeinsame Ablehnung des Positivismus geeint waren, S. 183. Im Bereich des Privatrechts nahm die Justiz gestützt auf eine antipositivistisch-geisteswissenschaftliche Semantik mehr und mehr eine schöpferische Rolle in Anspruch, dazu Joachim Rückert, in: Knut Wolfgang Nörr u.a. (Hg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik, 1994, S. 267–313. Sie wurde hierbei gestützt von der Privatrechtswissenschaft, siehe Einzelstudien: Wilhelm Wolf, Vom alten zum neuen Privatrecht,

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Kapitel 1: Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus

waren für die Jurisprudenz eine Zeit des erbitterten Kampfes zwischen positivistischen und antipositivistischen Strömungen.12 Es war die antipositivistische Richtung, die sich in den Nationalsozialismus hinein fortsetzte.13 Dessen „neue Rechtswissenschaft“ lehnte den Positivismus als „abstrakt“, „lebensfremd“,14 „formalistisch“ und „jüdisch“15 ab. Statt der Trennung von Recht und Moral forderten führende Rechtswissenschaftler nach 1933 die Einheit von Recht und nationalsozialistischer Ideologie bzw. Politik.16 Rechtsanwendung sollte der Verwirklichung nationalsozialistischer Ideologie dienen. Die rechtshistorische Forschung seit den 1960er Jahren hat gezeigt, dass hierbei durchaus auch auf strikte Bindung der Gerichte an nationalsozialistische Gesetze und Erlasse sowie auf Lenkung der Justiz durch Personalpolitik und Weisungen seitens des Justizministeriums gesetzt wurde,17 dass die Justiz in weiten Teilen aber selbstständig überkommenes Recht im Wege einer „unbegrenzten Auslegung“ anpasste und mit nationalsozialistischer Ideologie füllte.18 Gerichte hatten ihre Spielräume aktiv genutzt, das Recht in den Dienst des Nationalsozialismus zu stellen. Positivistisch war ihre Haltung nicht. 1998, S. 101 ff. zu Heinrich Lange; André Depping, Das BGB als Durchgangspunkt, 2002, S. 144 ff. zu Heinrich Lehmann; Christine Wegerich, Die Flucht in die Grenzenlosigkeit, 2004, S. 135 ff. zu Justus Wilhelm Hedemann. 12  Michael Stolleis, Der Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre, 2001. 13  Statt aller Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994. 14  Bernd Rüthers, Entartetes Recht, 1988, S. 26 ff. Für die rechtshistorische Literatur im Nationalsozialismus jüngst Hans-Peter Haferkamp, in: Okko Behrends/Eva Schumann (Hg.), Franz Wieacker, 2010, S. 181–211. Zeitgenössisch zeugt von der Entgegensetzung von Abstraktion und „Leben“ etwa Heinrich Lange, Lage und Aufgabe der deutschen Privatrechtswissenschaft, 1937, S. 16: „Aus dem gläsernen Wald eines weltanschaulich und technisch bedingten Begriffssystems zog es die Rechtsjugend zum lebenden Rechte, zur Rechtswirklichkeit.“ Ähnlich Karl Larenz, Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie, 1934, passim. 15  Zur Vorgeschichte der Zuschreibung der Positivismus sei „jüdisch“ und zu ihrem antisemitischen Gehalt eingehend Raphael Gross, Carl Schmitt und die Juden, 2000, S. 206 ff. 16 Z.B. Ernst Rudolf Huber, Neue Grundbegriffe des hoheitlichen Rechts, in: Georg Dahm u.a. (Hg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, 1935, S. 143 (144): „Völkisches Recht ist ‚politisches Recht‘, das aus der politischen Ordnung des Volkes wächst und mit Bestand und Leben, Zerfall und Erneuerung der politischen Einheit unmittelbar verbunden ist.“ 17  Statt aller Lothar Gruchmann, Justiz im Dritten Reich 1933–1940, 1988; Sarah Schädler, ‚Justizkrise‘ und ‚Justizreform‘ im Nationalsozialismus, 2009. 18 Grundlegend Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1968; Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1972. Die Zweigleisigkeit zwischen Gesetzesbindung und „unbegrenzter Auslegung“ wird zeitgenössisch sehr deutlich bei Karl Larenz, Deutsche Rechtserneuerung, 1934, S. 33 ff. Ähnlich auch Heinrich Lange, Lage und Aufgabe der deutschen Privatrechtswissenschaft, 1937, S. 24 f., der einerseits die Anpassung der Gesetze an NS-Ideologie fordert, andererseits die Rechtswissenschaft in der Pflicht sieht. Sie müsse „hinter den Mauern des alten Rechts den Bau des neuen planen, gründen und errichten, muß mit allen Kräften danach streben, das alte Gesetz mit dem Geiste des neuen Rechtes zu erfüllen.“ Hierzu auch Wilhelm Wolf, Vom alten zum neuen Privatrecht, 1998, S. 116.

II. Feindbild Positivismus

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Die Schuldzuweisung an den Positivismus beruhte damit auf Annahmen, die heute weithin als widerlegt gelten. In der Literatur der vergangenen 30 Jahre ist zuweilen gar von einer „Positivismuslüge“ gesprochen worden, die der Besinnung auf Naturrecht nach 1945 zugrunde gelegen habe.19 So wichtig und richtig die konfrontative Kritik der Positivismusthese war, so lohnt es sich doch, nicht bei der Frage ihrer historischen Wahrheit stehen zu bleiben. Denn auch Erinnerungen, die ‚manifest falsch‘ sind, vermögen etwas zu erzählen.20 In den Geschichten über den Positivismus in der Naturrechtsliteratur der Nachkriegszeit zeigt sich ein Grundkonsens der Verfasser über Nationalsozialismus und Schuld, Recht und Politik. Er bildete den gemeinsamen Rahmen für durchaus unterschiedliche Konzeptionen übergesetzlichen Rechts in den verschiedenen Gesprächskreisen. Bevor der Blick in den folgenden Kapiteln den einzelnen Rechtskonzeptionen zugewandt wird, soll daher zunächst die Erzählung über die Schuld des Positivismus nachvollzogen werden. Mit dieser Erzählung formulierten die Autoren der Naturrechtsschriften das Problem, zu dem sie sich positionieren wollten. Welchen Ausgangspunkt wählten sie mit ihr für ihren eigenen Neuanfang nach 1945?

II. Feindbild Positivismus Betrachtet man die Kritik am Positivismus in der Naturrechtsliteratur, so fallen zwei Dinge auf: zum einen, dass es kaum einen Text gibt, der auf sie verzichtet, zum anderen, dass sie stets nur wenig Raum einnimmt, nie im Mittelpunkt der Texte steht. Sie wurde angetippt aber nicht vertieft. Es bestand kein Bedarf, sich über die Begründung der Kritik auszutauschen. Es herrschte Einigkeit. Während nüchterne Analysen kaum in den Texten zu finden sind, 21 stechen die vielfältigen Attribuierungen des Positivismus ins Auge. Sie ließen keinen Zweifel daran, dass er der gemeinsame Gegner war. Positivismus wurde wahlweise als gefährlich und böse oder als „steril“, lebensfremd und naiv dargestellt. Er wurde mit „Terror“, „Wahn“ und „Finsternis“ in Verbindung gebracht, mit einem „Irrgarten“ oder einem „kalten Winter“ verglichen. Er galt als „despotisch“ und „verderblich“ und wurde als zerstörerisch, unkritisch und feige beschrieben. Wo nicht die Bedrohung, die von ihm ausging, in den Mittelpunkt gestellt wurde, kritisierten die Autoren, dass er dem Recht seine Würde nehme, indem er es als bloße Technik begreife. Er galt als „herzlos“, „geistesfern“, „vertrocknet und verdorrt“. 22 Mittels dieser Attribute wurden Positivismus und 19 

Hans Wrobel, Verurteilt zur Demokratie, 1989, S. 213. Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, 2006, S. 138 ff. 21  Dies bemängelt zeitgenössisch auch Franz Wieacker, der von „ohnmächtigen Kampfrufen“ spricht, in: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952, S. 327. 22 „Steril“, Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 138; 20 

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Kapitel 1: Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus

Naturrecht zu entgegengesetzten Polen eines klaren Gut-Böse-Schemas. Die Einigkeit darin war so überwältigend, dass Walter Jellinek auf der Staatsrechtslehrertagung 1951 bemerkte: „Übrigens sollten wir einmal auf die Tagesordnung unserer Versammlung die Frage setzen: Was ist Positivismus? mit der Unterfrage: Ist die Bezeichnung als ‚Positivist‘ eine Beleidigung?“ 23

Die Kritik am Positivismus bestand aus verschiedenen Elementen. Nicht alle finden sich in allen Texten, so dass das Bild, das bei der Durchsicht der Texte entsteht, nicht völlig einheitlich ist. Es lassen sich verschiedene Stoßrichtungen der Positivismuskritik ausmachen. Die Elemente der Kritik allerdings scheinen von den Autoren nicht als einander entgegengesetzt wahrgenommen worden zu sein, sondern als Teile einer zusammengehörigen Gesamtkritik. Diskussionen über die ‚richtige‘ Positivismuskritik gab es jedenfalls nicht. Die Autoren waren sich einig in der Kritik, auch wenn nicht alle ihre Elemente von allen ausgesprochen wurden. Die verschiedenen Elemente wurden vielfältig kombiniert und miteinander verbunden. ‚Reine‘ Typen finden sich kaum und nicht immer waren die Darstellungen kohärent. Gerade in dieser Mischung aus Einigkeit und Vielstimmigkeit sowie aus Omnipräsenz und Beiläufigkeit der Kritik deutet sich an, dass es in der Auseinandersetzung mit dem Positivismus nicht primär darum ging, ihn in seiner historischen Gestalt zu erfassen und auf dieser Grundlage einer Kritik zu unterziehen. Auf Präzision bei der Beschreibung des Positivismus kam es nicht an. Der „seit hundert Jahren herrschende Positivismus“24 war eine Konstruktion. 25 „Terror“, Ernst von Hippel, Einführung in die Rechtstheorie, 2.A. 1947, S. 66; „Wahn“, Walther Schönfeld, Grundlegung der Rechtswissenschaft, 1951, S. 524; „Finsternis“, Adolf Süsterhenn, Naturrecht und Verfassungsgesetzgebung (1947), in: Schriften, 1991, S.174 (175); „Irrgarten“, Carl Haensel, Zum Nürnberger Urteil, SJZ 1947, 19 (25); „kalter Winter“, Heinrich Rommen, aaO., S. 138; „despotisch“, Adolf Süsterhenn, aaO., S. 175; „verderblich“, Walther Schönfeld, aaO., S. 524; „herzlos“, Ernst von Hippel, aaO., S. 177; „geistesfern“, Heinrich Mitteis, Vom Lebenswert der Rechtsgeschichte, 1947, S. 24 f.; „vertrocknet und verdorrt“, Walther Schönfeld, Zur Frage des Widerstandsrechts, 1955, S. 11. 23  VVdStL 10 (1952), S. 73. 24  So z.B. Adolf Süsterhenn, Naturrecht und Verfassungsgesetzgebung (1947), in: Schriften, 1991, S. 174 (ebd.); ders., Die naturrechtlichen Grundlagen der internationalen Zusammenarbeit (1949), in: Schriften, 1991, S. 315 (316); Robert Figge, Die Verantwortung des Richters, SJZ 1947, Sp. 179 (181); Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 75 f.; Walther Schönfeld, Grundlegung der Rechtswissenschaft, 1951, S. 524; Hermann Weinkauff, Richtertum und Rechtsfindung in Deutschland, in: Berliner Kundgebung 1952 des Deutschen Juristentages, 1952, S. 15 (21); ders., Naturrecht in evangelischer Sicht (1952), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 210 (ebd.); Hans Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus (1953), im selben Band, S. 322 (335). 25  So auch Hans-Peter Haferkamp für die Positivismusbilder in der rechtshistorischen Literatur der Nachkriegszeit, in: Okko Behrends/Eva Schumann (Hg.), Franz Wieacker, 2010, S. 181–211.

II. Feindbild Positivismus

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Auf die Diskussion divergierender Darstellungen und Inkohärenzen konnte verzichtet werden, da die Positivismuskritik auch ohne sie ihre Funktion erfüllte: Ein monolithisch gedachter Positivismus als gemeinsamer Gegner bot die Projektionsfläche für alles, was man nicht wollte. Wie beschrieben die Verfasser der Naturrechtstexte nun diesen Gegner „Positivismus“? Angesichts der Fülle von Äußerungen und Nuancen konzentriere ich mich in der Rekonstruktion auf die vier Autoren Hermann Weinkauff, Adolf Süsterhenn, Erik Wolf und Helmut Coing, die ich auch in den folgenden Kapiteln genauer betrachte. Der Kontext – Konsens wie auch vereinzelte Interventionen in diesen – wird dabei jedoch nicht aus dem Blick geraten.

1. Imaginationen: Positivismus und Nationalsozialismus Unter den Positivismusbeschreibungen lassen sich drei Typen ausmachen, die alle ‚den Positivismus‘ dafür kritisierten, dass wegen seiner Vorgaben das Recht in den Dienst nationalsozialistischer Herrschaft habe gestellt werden können.

a. Kritik an argloser Gesetzestreue Bei dem ersten Typ handelt es um jenen Positivismus, den Radbruch als auf die Formel „Gesetz ist Gesetz“ sich gründend beschrieben hatte. Einem solchen Positivismus wurde vorgehalten, dass er „inhaltsleer“ sei 26 und dem Gesetzgeber keine eigenen Werte entgegenzusetzen gehabt habe. 27 Juristen hätten in ihrer positivistischen Ausbildung gelernt, dass Gesetze Befehle des Gesetzgebers darstellten, denen sie unbedingten Gehorsam schuldeten. Ausgeprägt findet sich diese Positivismusvorstellung in den Schriften Hermann Weinkauffs: „Als sich daher unter dem Nationalsozialismus der Einbruch des Bösen, des Unrechts und des Verbrechens in den staatlichen Raum vollzog, und zwar des vom Staate selbst veranlaßten und befohlenen Unrechts und Verbrechens, dem die ausgeklügelte Technik des Rechtsstaates und formale Demokratie nichts entgegenzusetzen hatte, stand das deutsche Volk, standen die deutschen Theologen und Juristen, Politiker und Offiziere zunächst ratlos und hilflos vor dieser Erscheinung. Mit den zuletzt überkommenen Wertvorstellungen ‚Gesetz ist Gesetz‘ und ‚Befehl ist Befehl‘ war ihr ersichtlich nicht beizukommen: die Befolgung dieser Grundsätze beschleunigte und unterstützte vielmehr den Sturz in den Abgrund der Rechtlosigkeit und des Verbrechens.“28

26 Z.B. Fritz von Hippel, Die nationalsozialistische Herrschaft als Warnung und Lehre, 1946, S. 30. 27  Ota Weinberger weist zu Recht darauf hin, dass bis in die Gegenwart auf die Inhaltslehre des Positivismus verwiesen werde, wobei übersehen werde, dass der Positivismus zwar „apriorische Wertfilter“ ablehne, nicht aber behaupte, dass tatsächlich jeder denkbare Inhalt möglich sein solle, in: Herbert Miehsler u.a. (Hg.), Ius Humanitatis, 1980, S. 321 (336). 28  Hermann Weinkauff, Militäropposition gegen Hitler, 1954, S. 13.

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Kapitel 1: Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus

Weinkauff zufolge hatte der Positivismus Juristen deswegen dem nationalsozialistischen Regime ausgeliefert, weil dieser von ihnen strikten Gehorsam gegenüber dem Gesetzgeber verlangte. Es war die Autoritätsgläubigkeit positivistischer Juristen, die er als Problem ansah. Weinkauff machte sie ihnen nicht persönlich zum Vorwurf: Sie seien „ratlos und hilflos“ gewesen, 29 und hätten sich arglos überkommenen Werten wie dem der Loyalität gegenüber dem Gesetzgeber verpflichtet gefühlt. Das sei bis 1933 gut gegangen, dem nationalsozialistischen Gesetzgeber seien diese Juristen dann aber ausgeliefert gewesen.30 Das Pendant zu der positivistisch „verbildeten“31 Jurisprudenz war in dieser Erzählung dann nicht ein ebenfalls positivistischer Nationalsozialismus, sondern ein „verbrecherischer“ Gesetzgeber32, der die Macht, die ihm durch den Gesetzespositivismus eingeräumt worden war, „willkürlich“, also selbstherrlich ausgenutzt habe. Bei Weinkauff mischte sich diese Beschreibung unbedingter Loyalität mit einem anderem Aspekt: Juristen hätten sich nach 1933 der „Willkür“ des Gesetzgebers aus Angst untergeordnet. Verbrecherische Gesetze seien nur mit Zwang und Gewalt durchsetzbar. Das nationalsozialistische Regime habe sich eben dieser beiden Instrumente bedient und damit potentiellen Widerstand seitens der Juristen im Keim erstickt. Eine etwas andere, aber doch ähnliche Erzählung findet sich bei Helmut Coing, der einräumte, dass Richter von sich aus ohne unmittelbare Bedrohung politisch konform das Recht gebeugt hätten, was er der durch das Regime erzeugten allgemeinen Atmosphäre der Angst zuschrieb.33 Beide Beschreibungen – die des Gehorsams aus Loyalität und die des Gehorsams aus Angst oder auch aus vorauseilendem Gehorsam – existierten parallel. Weinkauff ließ im Unklaren, in welchem Verhältnis beide zueinander standen. Dies ist insofern bemerkenswert, als Gehorsam aus Angst mit einem Gehorsam aus Loyalität nur schwer in Einklang zu bringen ist: Gehorsam aus Angst zeigt gerade keine „Blindheit“ gegenüber dem Unrecht, sondern eine bewusste Entscheidung, sich dem Unrecht in einer Situation der Ausweglosigkeit zu beugen. Waren die „verbildeten“ Positivisten Opfer ihrer Ausbildung, dann waren Juristen, die sich aus Angst dem Regime unterwarfen, erst recht Opfer. Diese

29  In vielen Texten wird in gleicher Stoßrichtung davon gesprochen, dass der Positivismus Juristen „blind“ gemacht habe, so Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 76; Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 142; Heinrich Mitteis, Die Rechtsgeschichte und das Problem der historischen Kontinuität, 1947, S. 24 f. 30  Hermann Weinkauff, Über das Widerstandsrecht, 1955, S. 11. 31  Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (108); ders., Die Erneuerung des Rechts (1947), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 1 (9). 32  Hermann Weinkauff, Richtertum und Rechtsfindung (1952), S. 15 (21). 33  Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 143, wobei Coing insgesamt sehr zurückhaltend mit der Wehrlosigkeitsthese ist. Auch Hermann Weinkauff, Richtertum und Rechtsfindung (1952), S. 15 (21 f.).

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hatten schließlich oft, wie Weinkauff anmerkte, gegen ihr Gewissen handeln müssen.34 Es blieb ein Widerspruch, dass Juristen, die aufgrund ihrer positivistischen Erziehung nicht in der Lage waren, Unrecht zu erkennen, zugleich aus Angst gegen ihr Gewissen gehandelt haben sollten. Gerade an diesem Widerspruch zeigt sich die exkulpierende Funktion dieser Vorstellung von Positivismus und Nationalsozialismus, die sicherlich nicht von ungefähr insbesondere unter Praktikern verbreitet war. Ob Juristen sich aus Loyalität, Angst oder vorauseilendem Gehorsam hatten in den Dienst nationalsozialistischer Herrschaft stellen lassen, Schuld trug in jedem Fall der Gesetzgeber.35 In allen drei Varianten lebte die Erzählung davon, dass einem politisch neutralen, oder sich sogar der Gerechtigkeit sich verpflichtet fühlenden Juristenstand ein politisch willkürlich Unrecht setzender und seinen Willen zur Not auch mit Gewalt durchsetzender Gesetzgeber gegenübergestellt wurde. „Gesetzgeber“ bezeichnete dabei nichts weiter als einen Gegenpol zur Justiz, der Begriff war austauschbar mit solchen wie „Staat“ oder „Herrschaft“. So sprach Weinkauff beispielsweise von dem „vom nationalsozialistischen Machthaber gesetzte[n] krasse[n] Unrecht“.36 Der Rechtsstab sei ein Opfer eben dieses Machthabers gewesen. In der Wehrlosigkeitsthese, wie Weinkauff sie vertrat, war damit im Grunde nicht der Positivismus schuld am nationalsozialistischen Unrecht. Schuld war vielmehr das von der Jurisprudenz strikt getrennt gedachte politische Regime, das sich zwar den Positivismus geschickt hatte zunutze machen können, das sich aber auch auf anderen Wegen durchzusetzen verstanden hatte.

b. Kritik an „Staatsabsolutismus“ und ‚Geltungspositivismus‘ Der zweite Typ der Kritik speiste sich aus der Vorstellung, dass der Positivismus eine Lehre sei, die jede real existierende Herrschaftsordnung – also in der Moderne stets den Staat – stütze. Positivismus sichere staatliche Macht, er sei Garant für einen starken Staat. Adolf Süsterhenn, der diese These in das Zentrum seiner Positivismuskritik stellte, sprach davon, dass eine positivistische Rechtslehre „Staatsabsolutismus“ und „Staatsdespotismus“ fördere, ja „staatstotalitär“ sei:37

34 

Hermann Weinkauff, Richtertum und Rechtsfindung (1952), S. 15 (21). Eindeutig bei Fritz von Hippel, Die nationalsozialistische Herrschaft als Warnung und Lehre, 1946, S. 30; Eberhard Schmidt, Unabhängigkeit der Rechtspflege, in: Tagung deutscher Juristen in Bad Godesberg, 1947, S. 223 (231); Robert Figge, SJZ 1947, Sp. 179 (181); Hermann Weinkauff, Richtertum und Rechtsfindung (1952), S. 15 (21); ders., Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (1960), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 554 (ebd.). 36  Hermann Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (1960), S. 554 (ebd.). 37  Adolf Süsterhenn, Schriften, 1991, passim. 35 

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Kapitel 1: Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus

„Der Rechtspositivist, der im Staat die Quelle allen Rechts erblickt, kreist naturgemäß in seinem politischen Denken stets um den Staat. Er wird geneigt sein, auf allen Lebensgebieten die Vorherrschaft des Staates zu proklamieren. Für ihn ist der Staat letzten Endes der Höchstwert menschlichen Lebens. […] In seiner Grundhaltung wird der Rechtspositivist immer staatstotalitär sein. Denn wenn der Staat der einzige Schöpfer des Rechts ist, dann gehen alle übrigen Rechte letztlich auf staatliche Verleihung zurück und können daher jederzeit durch den Staat eingeengt oder gar aufgehoben werden.“38

Positivismus war in Süsterhenns Verständnis eine politische Haltung, welche die Interessen des Staates protegierte. Er dachte den Staat dabei als eine monolithische Einheit mit eigenen Interessen, die auf Ausweitung der eigenen Herrschaftsmacht gerichtet sei. Folgten Jurisprudenz und Politik einem positivistischen Verständnis, so bedeutete dies für Süsterhenn, dass sie sich in den Dienst eben dieses Staates stellten. Seine Vorstellung vom Positivismus unterschied sich damit von der, die der Kritik des ersten Typs zugrunde lag. Er war inhaltlich nicht „leer“, sondern verstand die Sicherung staatlicher Macht als höchsten Zweck des Rechts. Eine positivistische Jurisprudenz in diesem Sinne folgte zwar ebenfalls gehorsam gesetzgeberischen Befehlen. Sie tat dies jedoch nicht, weil sie die Gesetzesbindung als solche ernst nahm. Vielmehr fühlte sie sich dem Inhaber staatlicher Gewalt verpflichtet, auch wenn dieser seine Herrschaft mittels Gewalt aufrecht hielt und hierbei die Rechtsform außer Acht ließ. Positivismus stellte in Süsterhenns Beschreibung eine Denkweise dar, welche jedwede staatliche Herrschaft und ihre Befehle unhinterfragt anerkannte. Recht war einem solchen Positivismus das, was die Macht befahl, die sich faktisch durchsetzte und damit das, was tatsächlich galt. Manfred Walther spricht in diesem Zusammenhang treffend von der Vorstellung eines „Geltungspositivismus“ anstelle eines „Gesetzespositivismus“.39 Diese Beschreibung des Positivismus war in der Naturrechtsliteratur weit verbreitet. Positivismus sei die Lehre, die Recht gleich Macht setzte, so die griffige Formel, die dutzendfach wiederholt wurde.40 Der Nationalsozialismus wurde damit als eine Ordnung beschrieben, in der alles einem exzessiven Macht­streben des Staates untergeordnet gewesen sei.41 Eine ‚geltungspositivis38 

Adolf Süsterhenn, Naturrecht und Politik (1947), in: Schriften, 1991, S. 113 (116). Wobei er Geltungs- und Gesetzespositivismus synonym verwendet, was weder der Beschreibung des Geltungspositivismus in der Naturrechtsliteratur vollständig gerecht wird noch dem historischen Gesetzespositivismus. Manfred Walther, in: Ralf Dreier/Wolfgang Sellert (Hg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, 1989, S. 323 (324). 40 Z.B. Ernst von Hippel, Einführung in die Rechtstheorie, 2.A. 1947, S. 48 f.; Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 28, 96 f.; Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 138; Hermann Weinkauff, Über das Widerstandsrecht, 1956, S. 11; ders., Naturrecht und Justiz, in: Die Politische Meinung, Heft 71, 1962, S. 21 (ebd.); Walther Schönfeld, Grundlegung der Rechtswissenschaft, 1951, S. 524. 41  Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechts und Staates, 1949, S. 93; Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1951, S. 197. 39 

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tische‘ Jurisprudenz war dabei nicht bloß Opfer dieser nationalsozialistischen Staatsgewalt. Sie diente sich dieser auch an, war ihr damit nicht entgegengesetzt, sondern ein Teil von ihr.42

c. Kritik an „Naturalismus“ und an der Politisierung des Rechts Der dritte Typ der Positivismuskritik war weniger verbreitet als die ersten beiden. Er findet sich vor allem in der katholischen Literatur, im Übrigen spielt er bei Franz Wieacker eine Rolle, ansatzweise auch bei Erik Wolf. Von den ersten beiden Typen unterscheidet er sich signifikant. Die Kritik am ‚arglosen Gesetzespositivismus‘ wie auch am ‚Geltungspositivismus‘ warnte zwar vor Gefahren positivistischen Denkens angesichts despotischer Regime im Allgemeinen. Mit den Besonderheiten nationalsozialistischen Rechtsdenkens setzten sie sich jedoch nicht auseinander. Im dritten Typ nun wurde die nationalsozialistische Jurisprudenz nicht nur als bloß autoritätsgläubig, sondern selbst als aktiv ideologisch beschrieben. Im Rahmen dieses Typs der Positivismuskritik fand somit eine Auseinandersetzung mit spezifisch nationalsozialistischem Rechtsdenken statt, wenn auch eine begrenzte. Eine vertiefte Analyse nationalsozialistischen Rechtsdenkens lag auch diesem Kritiktyp nicht zugrunde. Herausgegriffen wurde vielmehr einzig die nationalsozialistische Formel „Recht ist, was dem Volke nützt“.43 Nationalsozialistisches Rechtsdenken wurde auf dieser Grundlage als radikal „zweckorientiertes“, utilitaristisches Denken charakterisiert. Die Kritik machte sich daran fest, dass das Recht in den Dienst völkischer Ideologie gestellt worden war. Völkische Ideologie stützte sich, so die Annahme, auf Erkenntnisse aus der Biologie und machte damit die ‚Wirklichkeit‘ zur Quelle höchster Rechts42  Diese Vorstellung vom Positivismus erinnert an das, was Carl Schmitt als Dezisionismus bezeichnet und als ein Element des Positivismus des 19. Jahrhunderts beschrieben hatte, in: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 24 ff.: „Für den Juristen des dezisionistischen Typus ist nicht der Befehl als Befehl, sondern die Autorität oder Souveränität einer letzten Entscheidung, die mit dem Befehl gegeben wird, die Quelle allen ‚Rechts‘ […].“ Souverän sei aus dezisionistischer Perspektive dabei „nicht ein legitimer Monarch oder eine zuständige Instanz, sondern eben der, der souverän entscheidet“ (S. 25, 27). Schmitt hatte mit seinem Satz „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ selbst einen solchen Dezisionismus seiner Rechtslehre der 1920er Jahre zugrunde gelegt, in: Politische Theologie (1922), 1934, S. 11, sowie S. 18 ff. Nach 1933 stellte er dem das konkrete Ordnungsdenken entgegen, in: Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 42 ff. In der Naturrechtsliteratur wird Carl Schmitt so gut wie nicht erwähnt. Namentlich in Verbindung mit Dezisionismus und konkretem Ordnungsdenken nur bei Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1951, S. 194 f.; Adolf Süsterhenn, Die Wiederherstellung von Freiheit und Recht als politische Aufgabe der Gegenwart (1946), in: Schriften, 1991, S. 1 (8). 43  Sehr deutlich etwa Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechts und Staates, 1949, S. 6; Adolf Süsterhenn, Wir Christen und die Erneuerung des staatlichen Lebens (1948), in: Schriften, 1991, S. 227 (243).

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Kapitel 1: Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus

werte. Als ‚positivistisch‘ wurde dies angesehen, weil Positivismus begriffen wurde als eine Lehre, welche die Werte, denen das Recht verpflichtet war, der Wirklichkeit entnehme. Die Kritik richtete sich also gegen die Determinierung des Rechts durch die Wirklichkeit. Kritisiert wurde ein Denken, das unzulässigerweise von Tatsachen auf Normen schließt.44 Franz Wieackers Kritik am „juristischen Naturalismus“45 fällt aus diesem Rahmen etwas heraus. Er ließ offen, ob es sich bei diesem um eine Form des Positivismus handelte. Er beschrieb ihn einmal als Folge des Gesetzespositivismus, ein anderes Mal als neben dem Gesetzespositivismus bestehend.46 Bei Erik Wolf trat die Positivismuskritik völlig zugunsten einer allgemeinen Ideologiekritik in den Hintergrund.47 Sowohl Wieacker als auch Wolf versuchten nicht, das, was sie als „zweckorientiertes“ Rechtsdenken kritisierten, in das antagonistische Deutungsschema von Naturrecht und Positivismus zu pressen. Sie kontrastierten es jedoch mit wertbezogenen Rechtslehren und rückten es hierdurch in die Nähe des Positivismus. Die Kritik an einem Rechtsdenken, das sich an Werten orientierte, die der ‚Wirklichkeit‘ entnommen worden sein sollten, richtete sich nicht allein gegen völkisches Rechtsdenken. In der katholischen Literatur fällt auf, dass unter dem Oberbegriff des „zweckorientierten“ Rechtsdenkens stets zwei Strömungen diskutiert wurden, die sich beide im 19. Jahrhundert herausgebildet hätten. Die eine sei in den Nationalsozialismus gemündet, die andere in sozialistische Gesellschafts- und Rechtstheorien. Eine solche allgemeine Totalitarismuskritik fasste etwa Heinrich Rommens 1947 in die Worte: „[…] ‚Natur‘ ist in einen kraß materialistischen Begriff umgedeutet: ‚Natur‘ ist ‚Blut‘, ist die biologische Erbmasse der ‚Rasse‘. In dieser Umdeutung bleibt vom nunmehr eifrig zitierten ‚Naturrecht‘ nur ein Prinzip übrig: Recht ist, was dem Volke als rassischer Einheit nützt; nicht anders als bei dem proletarischen ‚Naturrecht‘, das in dem einzigen Prinzip besteht: ‚Recht ist, was dem Proletariat nützt.‘“48 44  Dahinter stand die Kritik, dass der Positivismus naturwissenschaftlichem Denken entspringe. Besonders ausführlich bei Ernst von Hippel, Einführung in die Rechtstheorie, 2.A. 1947, S. 54 ff. 45  Gegen einen als „positivistisch“ abzulehnenden „Naturalismus“ wurde unter den nach 1945 an der Naturrechtsbesinnung beteiligten Juristen bereits im NS polemisiert, so im Bereich des Strafrechts bei Erik Wolf, Krisis und Neubau der Strafrechtsreform, 1933; Hans Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie (1935), in: Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie, 1975, S. 29–119. Zur Kontinuität bei Letzterem Monika Frommel, in: Udo Reifner u.a. (Hg.), Strafjustiz und Polizei im Dritten Reich, 1984, S. 86 (87, 90 f.). 46  Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952, S. 347 f. 47  Die Wehrlosigkeitsthese findet sich in Wolfs Schriften überhaupt nicht. Er kritisiert zwar den Positivismus, lässt den Zusammenhang zum Nationalsozialismus aber offen. Umgekehrt betont er die Instrumentalisierbarkeit der „Gerechtigkeit“ durch Ideologien der Neuzeit, vgl. Erik Wolf, Vom Wesen der Gerechtigkeit (Vortrag 1946), in: Rechtsgedanke und biblische Weisung, 1948, S. 9 (11). 48  Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 161.

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Auch bei anderen Autoren richtete sich die Kritik an einem Rechtsdenken, dass seine Maßstäbe der Wirklichkeit entnimmt, nicht allein gegen die nationalsozialistische Ideologisierung des Rechts. Recht in den Dienst von Werten zu stellen, die der ‚Wirklichkeit‘ entstammen, wurde ganz allgemein als eine Politisierung des Rechts wahrgenommen und kritisiert. Fritz von Hippel etwa schrieb, ein solches Rechtsdenken führe zu einer „Auflösung“ des Rechts in „Politik“, die „,elastisch im Mittel, unbeirrbar im Ziel“, als reine Klugheitslehre nach vorgefaßten Zwecken fortschreitet.“49 Wirklichkeitsbezug und Zweck­ mäßigkeitsdenken standen für das Politische.50 Eine Orientierung an Zwecken, die der ‚Wirklichkeit‘ entnommen sind, vermochte das Recht hier deswegen „aufzulösen“, weil sie einer objektiv-transzendent verstandenen Gerechtigkeit den Rang des zentralen Bezugspunkts des Rechts streitig machte. Der dritte Typ der Positivismuskritik zielte damit vor allem darauf, vor Rechtsbegründungen zu warnen, die auf eben einen solchen außerweltlichen Bezugspunkt verzichteten.51 Diese wurden als ideologieanfällig angesehen, als geeignet, partikularen Interessen zu dienen. Dahinter verbarg sich eine Vorstellung von „rechtsfremden“ Zwecken, welche die Autonomie des Rechts gefährdeten. Spezifiziert wurde dies in der Kritik „zweckorientierter“ Rechtslehren nicht näher.

2. Vorstellungen vom 19. Jahrhundert: die Kritik an einem „formalistischen“ und „relativistischen“ Positivismus Neben diesen drei Typen der Positivismuskritik, die Positivismus und Nationalsozialismus in eine Beziehung zueinander setzten, finden sich in den Naturrechtsschriften der ersten Nachkriegsjahre auch Argumente gegen den Positivismus, die vergleichsweise zeitlos erscheinen. Verbreitet war es insbesondere, 49  Fritz von Hippel, Die nationalsozialistische Herrschaft als Warnung und Lehre, 1946, S. 14. 50 So auch schon in der nationalsozialistischen Rechtslehre, wo strikt unterschieden wurde zwischen dem „politischen Recht“ im Sinne des NS und einem Recht, das auf die politische Ziele des jeweiligen Gesetzgebers ausgerichtet war. Siehe Ernst Rudolf Huber, Neue Grundbegriffe des hoheitlichen Rechts, in: Georg Dahm u.a. (Hg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, 1935, S. 143 (144 f.): „Diese [nationalsozialistische, LF] untrennbare Einheit von Politik und Recht besagt aber nicht, daß das Recht ein bloßes Mittel für politische Zwecke sei, und daß es im Alltagswechsel politischer Ziele, Bestrebungen, Möglichkeiten und Notwendigkeiten ohne weiteres einen anderen Inhalt annehme, daß es im Rahmen der sich schnell wandelnden politischen Zweckmäßigkeit oder Bequemlichkeit durchbrochen oder aufgehoben werden könne. Solches ‚Recht‘, das feiler Diener tagespolitischer Interessen und ein bloßer Reflex der wechselnden politischen Situation wäre, bedeutete kein wirkliches Recht mehr, am wenigsten völkisches Recht.“ 51  Besonders deutlich in der Kritik der Gerechtigkeitslehren seit der Antike bei Erik Wolf, Vom Wesen der Gerechtigkeit (1946), S. 9 ff. Ebenso in einem kurzen Abriss über die Rechtswissenschaft seit dem 18. Jahrhundert, wo er die Durchsetzung „ethisch-religiöser Indifferenz“ kritisiert, die Bezeichnung „Positivismus“ aber nicht verwendet, ders., Fragwürdigkeit und Notwendigkeit der Rechtswissenschaft, 1953, S. 16.

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ihn als „formalistisch“ und „relativistisch“ abzulehnen. Dies konnte, musste aber nicht mit Aussagen zum nationalsozialistischen Recht verbunden sein. Die Kritik des Positivismus als „formalistisch“ und „relativistisch“ verdient Beachtung, denn in ihr zeigt sich, dass sich der Antipositivismus nach 1945 nicht allein aus der konkreten historischen Erfahrung des nationalsozialistischen Unrechtsstaats speiste. In der Naturrechtsliteratur nach 1945 lebten vielmehr antipositivistische Argumente fort, welche die Rechtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert beschäftigt hatten.52 Trotz aller Unterschiede hinsichtlich analytischer Genauigkeit deckten sich die Positivismuskritiken in der Annahme, der Positivismus habe die Jurisprudenz auf „wertfreie Rechtssystematik“, „reine Logik“ oder „Mathematik“ reduziert. Positivismus wurde mit Systemdenken und Deduktionsdenken in Verbindung gebracht und auch wenn der polemische Terminus „Subsumtionsautomat“ nicht genannt wurde, war diese Vorstellung doch in allen Texten präsent. Häufig blieb die zeitliche Verortung dieses Positivismus unklar. Wo Namen genannt wurden, fiel stets nur der Name Karl Bergbohms. Die Kritik richtete sich dabei allerdings nicht gegen den Konstruktivismus der Begriffsjurisprudenz. Sie richtete sich vielmehr gegen eine Mischung aus striktem Gesetzespositivismus, in der die Jurisprudenz über keinerlei Wertungsspielräume verfügte, und der Idee eines lückenlosen Rechtssystems, aus dem hätte deduziert werden können.53 Es handelte sich damit um eine in sich widersprüchliche Darstellung, denn ein System, aus dem hätte deduziert werden können, müsste erst einmal induktiv konstruiert sein. Gerade dies aber verlangte Eigenständigkeit der Jurisprudenz gegenüber dem Gesetzgeber, die sich mit strikter Gesetzesbindung nicht vertrug. Die Verfasser problematisierten diesen Widerspruch nicht. So schrieb beispielsweise Ernst von Hippel: „Jenes Ideal entspricht eben der Ansicht, daß alles Recht im Gesetz steckt, und zwar in der Form reiner Begriffe. Die Anwendung geschieht dann als Begriffsentfaltung ohne Rücksicht auf Wirklichkeit und Wert. Die Verantwortung trägt in jeder Hinsicht der Gesetzgeber. Der Jurist ist bloße Funktion, Denktechniker, er folgert, er rechnet…“ 54

Um die Anfälligkeit positivistischen Denkens für gesetzliches Unrecht ging es in dieser Spielart der Positivismuskritik nicht. Die Kritik, die Ernst von Hippel formulierte, richtete sich gegen die „Gegenstandsferne“ positivistischen Den52  Zur Kritik am „Formalismus“ seit dem 19. Jahrhundert Überblick bei Joachim Rückert, in: Reiner Schulze (Hg.), Deutsche Rechtswissenschaft und Staatslehre im Spiegel der italienischen Rechtskultur, 1990, S. 169 (173). 53  Kritisch gegenüber dieser Zuschreibung Jan Schröder, in: Rechtswissenschaft in der Neuzeit, 2010, S. 505 (513 ff.). Bergbohm habe weder einen strikten Gesetzespositivismus vertreten noch sei er vom Lückenlosigkeitsdogma ausgegangen. Er habe sich vielmehr nur dagegen gewandt, dass Lücken mit außerrechtlichem Material wie naturrechtlichen Normen gefüllt würden und im Übrigen eine historisch-empirische Rechtstheorie vertreten. 54  Ernst von Hippel, Einführung in die Rechtstheorie, 2.A. 1947, S. 173.

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kens. Ein Rechtsdenken, dass weder auf „Wirklichkeit“ noch „Wert“ Rücksicht nehme, werde dem Wesen des Rechts nicht gerecht. Die positivistische Rechtswissenschaft habe Deduktion und Begriffsbildung als „Selbstzweck“ betrieben, schrieb Helmut Coing im gleichen Sinn.55 Der Positivismus behandele das Recht als bloße Organisationstechnik, die es „virtuos“ zu beherrschen gelte, schrieb etwa auch Fritz von Hippel.56 In den Worten Fritz von Hippels sind die zentralen Elemente der Formalismus- und Relativismuskritik benannt: „Virtuosität“ deutete auf Spielerei und in der Bezeichnung als „bloße Technik“ schwang der Vorwurf mit, dass der Positivismus das Recht seiner Würde entkleide, indem er den wertenden Charakter der Rechtsanwendung ausblende.57 „[A]uch auf dem Gebiete der Jurisprudenz vermag der technische Virtuose nur insoweit heilsam und zweckmäßig zu handeln, als er zuvor die juristischen Grundwahrheiten erkannte“, heißt es dementsprechend bei Fritz von Hippel weiter58 und auch Erik Wolf schrieb ähnlich: „Die reine Logik vermag nur Denkformen herauszuarbeiten, nach denen begrifflich als Recht bestimmt werden kann, was sich als Recht ausgibt. Gerechtigkeit aber ist Idee und nicht Begriff des Rechts, und die formalen Möglichkeiten, unter denen etwas überhaupt als Recht gedacht werden kann, besagen nichts über seinen Wert und seine Rechtfertigung.“59

Hinter der Formalismuskritik stand freilich die Annahme, dass ein Rechtsdenken, das den Wert der Gerechtigkeit für das Recht nicht anerkennt, notwendig Ungerechtigkeit mit sich bringe.60 Zu „Einseitigkeiten und Verzerrungen“ führe ein formalistisches Rechtsdenken, warnte Fritz von Hippel,61 es bringe „Absurditäten“ hervor, so Heinrich Rommen.62 Nationalsozialistisches Recht galt ihnen als Inbegriff eines solchen „einseitigen“, „verzerrten“ oder „absurden“ Rechts. Es ging jedoch nicht in erster Linie um den Nationalsozialismus: Sie sahen in ihm lediglich den Gipfel eines Berges. Den formalistischen Posi55  Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 128, bezogen hier freilich auf die „späten Kommentatoren“. 56  Fritz von Hippel, Die nationalsozialistische Herrschaft als Warnung und Lehre, 1946, S. 50. 57  Dieses Sprachspiel findet sich bereits in den Weimarer Diskussionen und im Antipositivismus des NS. So z.B. Heinrich Lange, Vom Gesetzesstaat zum Rechtsstaat, 1934, S. 21: „Der Nationalsozialismus hat so die Technik des Gesetzesdenkens zur Ethik des Rechtsempfindens emporgeführt; er hat gegen den hohlen Positivismus dem höheren Wert des Rechts […] zum Siege verholfen.“ 58  Fritz von Hippel, Die nationalsozialistische Herrschaft als Warnung und Lehre, 1946, S. 50. 59  Erik Wolf, Vom Wesen der Gerechtigkeit (1946), S. 9 (18). 60  So auch Hermann Weinkauff, Richtertum und Rechtsfindung (1952), S. 15 (25); ebenso die Rede vom „Scharfsinn“ als Gegensatz zu einer eher auf dem Gefühl basierenden Gerechtigkeitsorientierung, ebd. S. 29. 61  Fritz von Hippel, Zur Unterscheidbarkeit von Recht und Unrecht, in: Thomas Würtenberger u.a. (Hg.), Existenz und Ordnung, 1962, S. 321 (333). 62  Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 221.

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Kapitel 1: Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus

tivismus lehnten sie schon aufgrund dessen ab, was sie am Fuß des Berges zu sehen meinten. In der Kritik am formalistischen Rechtsdenken war Hans Kelsen die Reizfigur schlechthin. Neben Bergbohm war er der einzige Vertreter des Positivismus, der in der Naturrechtsliteratur namentlich erwähnt wurde. Seiner „Reinen Rechtslehre“ von 1934 wurde vorgeworfen, dass sie die Orientierung an formaler Logik des 19. Jahrhunderts auf die Spitze getrieben habe – sie wurde als „radikal“, „extrem“ und „logizistisch“ bezeichnet.63 Während Erik Wolf an ihr kritisierte, dass sie das Recht auf die „laue Forderung formaler Widerspruchslosigkeit“ beschränkt hätte,64 warf Helmut Coing ihr vor, nicht nur Jurisprudenz wie „Mathematik“ zu handhaben, sondern auch „nihilistisch“ zu sein, da sie radikal alle ethischen Werte aus dem Recht ausschließe. Damit stellte er eine Verbindung von Formalismus, Relativismus und Nationalsozialismus her, denn er schrieb, kaum dass er Kelsens Lehre als „juristischen Nihilismus“ bezeichnet hatte, „[…] die nationalsozialistische Formel: Recht ist, was dem Volke nützt, d.h. seiner Macht und Wohlfahrt, war im Grunde eine ähnliche nihilistische Konzeption, die den sittlichen Gehalt des Rechtes leugnete.“65 Coing ordnete Kelsens Lehre letztlich als Geltungspositivismus ein. So heißt es bei ihm, sie habe die „Neigung, alles Recht auf die Macht des Staates zurückzuführen (als einer realen, positiven Gegebenheit) […].“66 Beide Darstellungen, als formalistisch-lebensfremd und als relativistischnihilistisch und geltungspositivistisch, blieben fast in der gesamten Naturrechtsdiskussion unwidersprochen.67 Dabei beruhten sie beide auf der Aus­ blendung eines wesentlichen Elements von Kelsens Rechtslehre. Zwar hatte Kelsen tatsächlich in seiner „Theorie des positiven Rechts“ eine strikte Tren63  Damit wurde ein Sprachspiel fortgesetzt, das bereits in den Weimarer Diskussionen präsent war und in der Ablehnung des Positivismus durch den Nationalsozialismus eine große Rolle spielte. So z.B. Karl Larenz, Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie, 1934, S. 17, der die „abstrakte Scheidung von Sein und Sollen“ kritisiert, von einem „künstlichen Gebäude der Reinen Rechtslehre“ spricht und ihr vorwirft, dass sie das Recht bloß als „formal-logische Konstruktion“ betrachte. Die Entgegensetzung von „Abstraktion“ und „Leben“ kommt zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Indem der Richter diese Rückbeziehung der Norm auf die konkrete Rechtsidee und damit auf das lebendige Rechtsbewußtsein der Gemeinschaft vollzieht, trägt er nichts Fremdes an die Norm heran, sondern löst sie aus der Erstarrung, der sie im positivistischen Denken anheimfällt, und holt damit erst das lebende Recht aus ihr heraus.“ (ebd. S. 32). Topos des Lebens schon in Vortragstiteln wie Wilhelm Sauer, Lebendes Recht und lebende Wissenschaft, 1936. 64  Erik Wolf, Vom Wesen der Gerechtigkeit (1946), S. 9 (18). 65  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 97. 66  Helmut Coing, Vom Sinngehalt des Rechts, in: Ernst Sauer (Hg.), Forum der Rechtsphilosophie, 1950, S. 61 (63). 67  Ausnahme ist Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie (1948), GRGA Bd. 3, 1990, S. 121 (218), der knapp aber ausdrücklich auf die demokratische Haltung Kelsens und die Verbindung zwischen dieser und der wertrelativistischen Rechtslehre hinweist.

II. Feindbild Positivismus

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nung von Ethik und Recht für die Jurisprudenz gefordert.68 Dies bedeutete jedoch nicht, dass er die politisch kritische Positionierung von Jurist/innen gegenüber Gesetzgeber und Staat ausgeschlossen hätte. Im Gegenteil: Er selbst war ein ausgesprochener Anhänger der Demokratie 69 und hatte sich stets politisch engagiert.70 Er verlangte von Juristinnen und Juristen lediglich, dass sie ihr moralisches und politisches Denken als solches kennzeichneten und es nicht unmittelbar in ihr rechtliches Handeln einfließen ließen.71 Es waren gerade nicht autoritätshörige Juristinnen und Juristen, die alles, was der Gesetzgeber verlangte, formalistisch umsetzten, die Kelsen im Sinn hatte, sondern jene, die für ihr Handeln politische Verantwortung zu übernehmen bereit waren.72

3. Der ‚Strohmann‘ Positivismus Betrachtet man diese Erzählungen über den Rechtspositivismus, so fällt auf, wie weit der Positivismusbegriff in der Naturrechtsliteratur der Nachkriegszeit gefasst war. Das, was eine Rechtslehre als „positivistisch“ charakterisierte, war nicht eindeutig definiert. Eine Rechtslehre wurde als „positivistisch“ ange68 

Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, S. 38. Siehe nur die Zusammenstellung seiner Beiträge zur Demokratie in: Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, 2006, hrsg. v. Matthias Jestaedt/Oliver Lepsius. Zu der engen Beziehung zwischen Kelsens Rechtslehre und seiner demokratischen Haltung grundlegend Horst Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1985, S. 278 ff.; zuvor schon Ota Weinberger, Normentheorie als Grundlage der Jurisprudenz und Ethik, 1981, S. 197 f.; außerdem Klaus Günther, in: Red. Kritische Justiz (Hg.), Streitbare Juristen, 1988, S. 367 (373 ff.); Brigitte Lanz, Positivismus, Werterelativismus und Demokratie bei Hans Kelsen, 2007; jüngst auch Axel-Johannes Korb, Kelsens Kritiker, 2010, S. 192 ff.; Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, 2010, S. 129 ff. sowie Ralf Seinecke, JZ 2010, 279–286. 70  So hatte er 1932 die „Verteidigung der Demokratie“ zu einer Pflicht für Demokraten erklärt, auch wenn ihre Rettung angesichts der Angriffe, die sie zu diesem Zeitpunkt ausgesetzt war, hoffnungslos erscheine, Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie (1932), in: Verteidigung der Demokratie, 2006, S. 229 (231). Zu seiner demokratischen Haltung Rudolf Aladár Métall, Hans Kelsen, 1969, S. 32 ff.; Axel-Johannes Korb, Kelsens Kritiker, 2010, S. 187 ff. In seiner Autobiographie heißt es knapp: „So stehe ich denn persoenlich einer sozialistischen und zugleich demokratischen Partei durchaus sympatisch gegenueber; und habe aus dieser Sympathie niemals einen Hehl gemacht“, Hans Kelsen im Selbstzeugnis, hrsg. v. Matthias Jestaedt, 2006, S. 61. 71  Hans Kelsen, Juristischer Formalismus und reine Rechtslehre, JW 1929, 1723 (1724 f.). 72  Dass diese Spielart des Positivismus von der Naturrechtsliteratur nicht zur Kenntnis genommen wurde, kritisiert zeitgenössisch bereits Adolf Julius Merkl, Neue Naturrechtssysteme (1951), in: Walter Barfuß (Hg.), 125 Wiener Juristische Gesellschaft, 1992, S. 118 (122). Er bezeichnet dies als „gemäßigten Positivismus“, dem zufolge „es zwar die Aufgabe der Wissenschaft sei, die Geltungsansprüche einer bestimmten Staatsautorität unverfälscht durch die Wertungen und Absichten des Betrachters klarzustellen, daß es aber der Entscheidung des Bürgers anheimgestellt sei, ob er dieser Forderung entspricht oder nicht der Forderung einer inhaltlich widersprechenden Wertordnung (etwa im Sinne der Stimme des Gewissens) Folge leistet und die Folgen des staatsbürgerlichen Ungehorsams auf sich nimmt.“ 69 

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Kapitel 1: Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus

sehen, wenn sie wertrelativistisch war, sich formal-logischer Deduktionen bediente, den Willen des Gesetzgebers oder auch des Richters zum Maßstab dessen erhob, was Recht ist, oder das Recht als determiniert durch die Wirklichkeit ansah. Die verschiedenen Elemente der Positivismuskritiken wurden einzeln herausgegriffen oder auch vermischt. Jedes einzelne reichte für die Zuschreibung „Positivismus“ aus. Das Positivismusbild der Nachkriegszeit lebte sowohl davon, dass einzelne Elemente des Rechtsdenkens des vergangenen Jahrhunderts ihres Kontexts entkleidet herausgegriffen wurden und zu „dem“ Positivismus erklärt wurden, als auch davon, dass Elemente verschiedener Rechtslehren zu einem als einheitlich verstandenen Positivismus zusammengefasst wurden. Vergleicht man die eingangs knapp dargestellten Ergebnisse jüngerer rechtshistorischer Forschung mit den Erzählungen vom Positivismus, wie sie hier rekonstruiert worden sind, so wird deutlich, wie vielfältig die Ausblendungen waren, von denen das Positivismusbild der Nachkriegszeit lebte. In der praktischen Argumentationstheorie werden Argumentationsfiguren, in denen man sich statt mit der vom Gegner tatsächlich vertretenen Position mit einer verzerrten Darstellung auseinandersetzt, als „Strohmann“ bezeichnet, unabhängig davon ob dies absichtlich oder unabsichtlich geschieht.73 In diesen Fällen ist schon die Art und Weise, wie man den Gegner darstellt, Teil der Argumentation, wenn auch eine implizite. Es handelt sich um eine rhetorische Technik, die der Schwächung des Gegners dient und auf die Überzeugung eines Dritten zielt. Beim „Positivismus“ in den Naturrechtstexten handelte es sich um einen solchen ‚Strohmann‘. Welche Argumentation findet sich also in den Darstellungen des Positivismus? Verschiedene Äußerungen in den Texten zeigen, dass den Autoren bewusst war, dass der Positivismus, gegen den sie sich wandten, nach 1945 so gut wie nicht mehr vertreten wurde. Für die Gegenwart war also kaum Überzeugungsarbeit nötig. Der ‚Strohmann‘ Positivismus war vielmehr ein historischer Gegner, was daran deutlich wird, dass der Sieg über ihn als „Überwindung“ bezeichnet wurde. Es hatte in der Vorstellung der Verfasser der Naturrechtstexte eine zeitliche Schwelle gegeben, die überschritten worden war und mit der man überkommene Vorstellungen abgelegt hatte. Der Positivismus diente der Abgrenzung und war eine Folie für die eigene Position. Nach 1945 wurde er wie ein Geist aus der Vergangenheit beschworen, herbeigerufen, um die eigene Lebendigkeit unter Beweis zu stellen.

73 

Trudy Govier, A Practical Study of Argument, 2010, S. 155 ff.

III. Fundierende Geschichte: Eine Erzählung von Schuld und Recht

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III. Fundierende Geschichte: Eine Erzählung von Schuld und Recht Richtet man den Blick weniger auf die Beschreibungen des Positivismus, als darauf, wie durch diese Abgrenzungen vorgenommen wurden und welche Vorstellungen ihnen zugrunde lagen, so fällt nicht ins Gewicht, dass die verschiedenen Elemente der Positivismuskritik nicht ohne weiteres zusammenpassten. Es ergibt sich dann sogar eine recht kohärente Geschichte: eine Erzählung von Schuld und Recht.

1. Schuld Die Frage, wer die Schuld daran trug, dass im Nationalsozialismus Unrecht im Namen des Rechts begangen werden konnte, war zentraler Gegenstand der Positivismuskritiken. So unterschiedlich in den verschiedenen Beschreibungen das Verhältnis zwischen Positivismus und Nationalsozialismus war, so haben sie doch alle eines gemeinsam: Es gab in ihnen ein „Anderes“, dem die Schuld zugewiesen wurde. Dieses „Andere“ konnte ein anderer Akteur sein oder eine andere Person. Es konnte von dem „Ich“ oder „Wir“ aber auch ideell oder zeitlich abgesetzt sein. So tauchen in den Positivismuskritiken verschiedene „Andere“ auf: der Gesetzgeber oder der Staat als Akteure, der Positivismus als Rechtslehre sowie eine als „überwunden“ bezeichnete Vergangenheit. Dieses Phänomen war nicht allein für die Naturrechtsliteratur in der Rechtswissenschaft charakteristisch, sondern in der deutschen Nachkriegsgesellschaft weit verbreitet. Der Soziologe M. Rainer Lepsius hat es als „Externalisierung“ beschrieben: Schuld wurde nach 1945 zwar anerkannt, aber sie wurde auf andere verlagert.74 In der schlichtesten und wohl bekanntesten Form dieses Vorgangs wurde Hitler oder die nationalsozialistische Führungselite als allein verantwortlich dargestellt, während das Volk verführt worden sei oder lediglich Befehlen gehorcht habe.75 Die Historikerin und Erinnerungstheoretikerin Aleida Assmann ordnet die Externalisierung, auch wenn sie komplexer verlief, als eine von fünf typischen Verdrängungsstrategien ein.76 Es waren zwei wesentliche Schuldverschiebungen, die in der Positivismuskritik der Naturrechtsliteratur vorgenommen wurden. Auf beide ist in der Literatur der letzten Jahrzehnte bereits hingewiesen worden. Bei der ersten handelt es sich um eine Verschiebung der Schuld von der Jurisprudenz auf den Gesetzge74 

M. Rainer Lepsius, in: Max Haller u.a. (Hg.), Kultur und Gesellschaft, 1989, S. 247 (250). Dazu ausführlich aus psychoanalytischer Sicht Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu Trauern (1967), 2007, S. 27 ff.; zur gleichen Funktion des in der Nachkriegsliteratur gängigen Topos der Vermassung als Erklärung für den Nationalsozialismus Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur, 1996, S. 303. 76  Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, 2006, S. 169 ff. 75 

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Kapitel 1: Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus

ber.77 Besonders deutlich wird dies im Fall der Kritik am ‚arglosen Gesetzespositivismus‘, für die der Positivismus eine Lehre war, die der Formel „Gesetz ist Gesetz“ folgte. Die Justiz wurde hier als „wehrloses“ Opfer des Gesetzgebers dargestellt. Der Gesetzgeber habe die arglose Loyalität der Justiz ausgenutzt, so die Annahme. Die Verantwortung für das Unrecht wurde damit alleine dem Gesetzgeber zugeschrieben. Die eigenständige Rolle der Justiz und der Rechtswissenschaft im Nationalsozialismus blieb vollständig ausgeblendet. Auch in der Kritik am ‚Geltungspositivismus‘ vollzog sich eine ähnliche Schuldverschiebung, wenn auch nicht so offensichtlich. Nicht ‚Arglosigkeit‘ hatte in dieser Version der Positivismuskritik Juristen dazu gebracht, den Nationalsozialismus bereitwillig zu unterstützen. Sie hatten sich ihm vielmehr verpflichtet gesehen, weil sie ihn als legitime Herrschaft anerkannten. Die Jurisprudenz hatte sich in dieser Darstellung damit durchaus schuldig gemacht. Es gab jedoch auch hier eine Abstufung hinsichtlich dessen, was der Jurisprudenz vorzuwerfen war und was dem Staat, dem sie gedient hatte. Aufschlussreich ist Süsterhenns Formulierung, der Rechtspositivismus habe die „Staatswillkür bejaht“78. Willkürlich – und damit im damaligen Sprachgebrauch als Urheber des Unrechts – handelte demnach „der Staat“. Die Jurisprudenz hatte dies lediglich ermöglicht, indem sie ihm nichts entgegengesetzt hatte. Auch auf die zweite Schuldverschiebung, die durch die Wehrlosigkeitsthese vorgenommen wurde, wurde in der Literatur bereits hingewiesen.79 Sie vollzog sich rechtswissenschaftsintern. Aus den Opfern des Nationalsozialismus wurden nachträglich Täter gemacht. Prominente Vertreter des Positivismus wie Gerhard Anschütz, Hans Kelsen, Hans Nawiasky oder Gustav Radbruch hatten die Weimarer Demokratie gegen ihre Gegner verteidigt und sich entschieden gegen den Nationalsozialismus gewandt. Anschütz hatte sich 1933 aus Lehre und Forschung zurückgezogen, weil er dem neuen Regime nicht dienen wollte, Kelsen und Nawiasky wurden des Amtes enthoben und mussten Deutschland verlassen, Radbruch blieb in Deutschland, die Lehrtätigkeit wurde ihm jedoch verboten.80 77  Wolf Rosenbaum, Naturrecht und positives Recht, 1972, S. 147 ff.; Ingo Müller, in: Leviathan 1979, 308 (319 ff.); Hans Wrobel, Verurteilt zur Demokratie, 1989, S. 212 ff.; Horst Dreier, in: Heinz Mayer (Hg.), Staatsrecht in Theorie und Praxis, 1991, S. 117 (128); Helmut Kramer, in: Stephanie Holzwarth u.a. (Hg.), Die Unabhängigkeit des Richters, 2009, S. 33 (34 ff.). 78  Adolf Süsterhenn, Der Hüter des Rechtsstaates (1946), in: Schriften, 1991, S. 65 (66). 79  Ingo Müller, in: Leviathan 1979, 308 (324 f.); Manfred Walther, in: Ralf Dreier/Wolfgang Sellert (Hg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, 1989, S. 323 (335 ff.); Joachim Rückert, in: Quaderni Fiorentini 24 (1995), S. 531 (557 f.). 80  Richard Thoma hingegen blieb im Dienst, hielt sich zurück, verfasste dann aber doch Schriften, in denen er sich dem neuen Regime andiente, siehe hierzu Hans-Dieter Rath, Positivismus und Demokratie, 1981, S. 25 ff. Zum demokratischen Rechtsdenken in der Weimarer Zeit nun grundlegend Kathrin Groh, Demokratische Staatslehre in der Weimarer Republik, 2010.

III. Fundierende Geschichte: Eine Erzählung von Schuld und Recht

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Dass führende Positivisten zu entschiedenen Gegnern des Nationalsozialismus wurden, war kein Zufall. Die Nationalsozialisten wandten sich denn auch in erster Linie aus politischen Gründen gegen den Positivismus: Er stand für ein liberales und demokratisches Denken.81 Im Nationalsozialismus war damit noch etwas davon bekannt, was in der Weimarer Republik im Brennpunkt der Auseinandersetzungen gestanden hatte: dass ein Zusammenhang bestand zwischen rechtstheoretischer Positionierung und politischer Haltung.82 Nach 1945 wurde dieses Wissen dem Vergessen anheim gegeben. Die Schuldzuweisung an den Positivismus lebte davon, dass der Zusammenhang zwischen demokratischer Haltung und Gesetzesbindung ausgeblendet wurde. Die Schriften emi­grierter Rechtswissenschaftler wie Ernst Fraenkel, Franz L. Neumann und Otto Kirchheimer, die in den 1940er Jahren vom amerikanischen Exil aus nachdrücklich auf eben diesen Zusammenhang hingewiesen hatten,83 wurden von den Verfassern der Naturrechtsschriften der Nachkriegszeit nicht zur Kenntnis genommen und erst in den 1970er Jahren ins Deutsche zurückübersetzt.84 Anhand zahlreicher Beispiele aus der Rechtsprechung hatten diese den Weg zu einem nationalsozialistischen Rechtssystem nachgezeichnet: Sie arbeiteten heraus, dass er mit einer fortschreitenden Erweiterung richterlicher Gestaltungsmacht einhergegangen war und wie sich im Nationalsozialismus antipositivistisches Denken mit politischer Lenkung der Justiz verbunden ­hatte.85 81  Siehe z.B. Karl Larenz, Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie, 1934, S. 13 f., 15: „Die in solchen [positivistischen, LF] Auffassungen zutage tretende Gesinnung ist eine extrem individualistische. […] Die Erneuerung des deutschen Rechtsdenkens ist ohne eine radikale Abkehr vom Positivismus und Individualismus nicht denkbar“ [Hervorhebung im Original]. Ähnlich auch Carl Schmitt, Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 42 ff. (52); Heinrich Lange, Vom Gesetzesstaat zum Rechtsstaat, 1934, S. 18 ff.; Karl Larenz, Rechtsperson und subjektives Recht. Zur Wandlung der Rechtsgrundbegriffe, in: Georg Dahm u.a. (Hg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, 1935, S. 225 (238 f.); Heinrich Lange, Lage und Aufgabe der deutschen Privatrechtswissenschaft, 1937, S. 15 f. 82  Explizit hergestellt wurde dieser Zusammenhang etwa in einem Diskussionsbeitrag von Hans Kelsen auf der Staatsrechtslehrertagung 1926, VVdStRL 3 (1927), S. 54. 83  Vor allem Franz L. Neumann, Behemoth (1942, 1944), dt. 1977, S. 515 ff. 84 Zumindest der „Doppelstaat“ von Ernst Fraenkel muss jedoch zeitgenössisch verfügbar gewesen sein, seine Analyse des nationalsozialistischen Rechts wurde außerhalb der Naturrechtsliteratur immerhin punktuell zur Kenntnis genommen. So ist im Urteil im Euthanasie-Prozess vor dem OLG Frankfurt am Main vom 12.8.1947 die Rede von der „Zweispurigkeit“ der nationalsozialistischen Herrschaft. In der Urteilsanmerkung stellte Gustav Radbruch offen Bezug zu Fraenkels Analyse her: „Das vorliegende Urteil schildert die ‚Zweispurigkeit‘ des nationalsozialistischen Gewaltregimes, das einerseits in den äußeren Formen des Rechtsstaats, andererseits durch Rechtsbruch seine Ziele verfolgte. Diese Zweispurigkeit ist in einem amerikanischen Buche gerade als die Theorie der deutschen Diktatur aufgewiesen worden: Ernst Fraenkel, The dual State, Oxford University Press, 1941“, SJZ 1947, Sp. 633 (ebd.). 85  Franz L. Neumann, Behemoth (1942, 1944), dt. 1977, S. 44 ff.; Otto Kirchheimer, Von der Weimarer Republik zum Faschismus, 1976, S. 152 ff., 186 (188 ff.); Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat (1941, dt. 1974), 1984, S. 164 ff. beschreibt das nationalsozialistische Rechtsdenken als

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Kapitel 1: Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus

Positivismus wie auch Antipositivismus stellten sie damit in einen breiteren gesellschaftspolitischen Kontext und schrieben Schuld nicht allein einer bestimmten Denkweise oder Methode zu, sondern dem Zusammenspiel vielfältiger Faktoren. Die strikte Dichotomie zwischen Naturrecht und Positivismus, in welcher in der Naturrechtsliteratur die Schuldfrage verhandelt wurde, blendete nicht nur die politischen Positionierungen aus, die mit den jeweiligen rechtstheoretischen Zugriffen in der Weimarer Zeit und im Nationalsozialismus verbunden waren. Auch die persönliche Verortung der Verfasser der Naturrechtsschriften in dieser Dichotomie blieb eigentümlich vage. Die Geschichten über die Schuld des Positivismus kamen weitgehend ohne Akteure aus: Abgesehen von gelegentlichen Hinweisen auf Bergbohm und Kelsen blieb schon unklar, wer sich eigentlich hinter dem Positivismus verbarg. Noch unklarer jedoch blieb, wo sich die Autoren selbst in der Geschichte vom „herrschenden Positivismus“ sahen. Sahen sie sich als ehemals überzeugte Positivisten, die es nun besser wussten? Zählten sie sich zu der Gruppe gutgläubiger Opfer eines verbrecherischen Gesetzgebers? Oder hatte es neben dem „herrschenden“ Positivismus noch Raum für Opposition gegeben, der sie sich zugehörig fühlten? Diese Fragen blieben offen. Individuelle Schuldbekundungen waren ebenso tabuisiert wie individuelle Schuldzuweisungen,86 und auch als abgrenzbare Gruppe beispielsweise der Rechtslehrer verortete man sich nicht. Diese unpersönliche und auch nicht nach Berufsgruppen oder gesellschaftlichen Funktionen differenzierte Darstellungsweise erzeugte den Eindruck einer Distanz zwischen den Autoren der Naturrechtsliteratur und denjenigen, die in den Erzählungen der Naturrechtsliteratur Schuld am Nationalsozialismus trugen. Dies zeigt sich besonders in der Kritik an der Politisierung des Rechts, wie etwa die Freiburger Franz Wieacker und Erik Wolf sie formuliert hatten. Auf den ersten Blick scheint diese Form der Positivismuskritik deutlich anders als die Kritiken am Gesetzes- und Geltungspositivismus mit der Schuldfrage umzugehen. Sie erkannte die Verstrickung der Jurisprudenz in das nationalsozialistische Unrecht grundsätzlich an und verwies Schuld nicht an einen anderen Akteur. Indem sie insgesamt eher zurückhaltend mit der Dichotomie Naturrecht versus Positivismus umging, schrieb sie die Schuld auch nicht einer als monolithisch gedachten Rechtslehre zu, sondern einer Tendenz, welche die Rechtswissenschaft insgesamt in ihren Augen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert „gemeinschaftliches Naturrecht“, das allerdings nicht nur gegen den Positivismus, sondern auch gegen christliches und aufgeklärtes Naturrecht gerichtet gewesen sei. 86 Dies war kein Charakteristikum allein der Naturrechtsliteratur, ein „Kartell des Schweigens“ ist etwa auch in der Staatsrechtslehre zu beobachten, siehe Birgit von Bülow, Die Staatsrechtslehre der Nachkriegszeit (1945–1952), 1996, S. 187 f. Eine große Ausnahme unter den Naturrechtsschriften war in dieser Hinsicht Wilhelm R. Beyer, Rechtsphilosophische Besinnung, 1947.

III. Fundierende Geschichte: Eine Erzählung von Schuld und Recht

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erfasst hatte. Dennoch zogen auch die Autoren dieser Darstellungen in subtiler Weise eine Trennlinie zwischen sich und dem Denken, das ihrer Analyse zufolge den Rechtsmissbrauch im Nationalsozialismus ermöglicht hatte. Dies zeigt sich gerade darin, wie persönliche Involviertheit aus den Analysen ausgespart wurde: Es wurden in weiten Teilen weder die Vertreter der beschriebenen Lehren benannt noch ihre Kritiker. Akteure waren nicht einzelne Rechtswissenschaftler mit Gesicht und Namen, sondern die Ideen selbst.87 Die Frage, wo sich die Autoren in dem von ihnen beschriebenen Prozess der Politisierung des Rechts verorteten, blieb auch hier offen. Die Beschreibungen lesen sich – gerade durch diese Ausklammerung jeglichen persönlichen Bekenntnisses – als entstammten sie der Perspektive eines nicht involvierten Beobachters. Die Existenz einer Schuld-Unschuld-Grenze wurde auf diese Weise angedeutet, ihr Verlauf aber nicht näher dargestellt. Das einzige, was angesichts der vagen Bestimmung des eigenen Standpunkts dem „Anderen“ gegenübergestellt werden konnte, war die zeitliche Distanz: Das „Wir“ fand sich in der Gegenwart, die Abgrenzung erfolgte von der Vergangenheit. Die Grenze verlief im Jahr 1945. In allen Positivismuskritiken also ging es um Schuld. Thematisiert wurde sie stets, indem eine Trennlinie gezogen wurde zwischen Schuld und Unschuld. Schuldig waren Akteure, die zwar nicht näher benannt wurden, sich aber jedenfalls von den Verfassern unterschieden. Schuldig waren abstrakte Ideen und rechtstheoretische Strömungen, die der Vergangenheit angehörten. Obgleich über Unschuld in den Texten nicht gesprochen wurde, vermitteln diese auf diese Weise den Eindruck, dass die Autoren, zumindest nach 1945, auf der richtigen Seite der Schuld-Unschuld-Grenze standen.

2. Recht Während Personen keinen Auftritt hatten, war die Hauptfigur in diesen Erzählungen von der Schuld das Recht. Denn in einem waren sich alle Darstellungen einig: Das Recht als solches trug keine Schuld, es wurde nicht an sich in Frage gestellt. Im Gegenteil: Das Recht wurde als etwas der Gerechtigkeit verpflichtetes und damit als etwas Gutes und Wertvolles und beschrieben. Dies war nicht selbstverständlich, ist doch beispielsweise bezweifelt worden, ob Dichtung nach Auschwitz überhaupt noch möglich sei.88 Für die Möglichkeit rechtlich garantierter Gerechtigkeit wurde diese Frage nicht gestellt. Die Vorstellungen von dem, was das Recht ausmachte und ausmachen sollte, zeigen sich zunächst einmal in den Erzählungen über die Schuld, die der Positivismus auf sich geladen hatte. In der Gegenüberstellung von Justiz und Gesetzgeber oder Jurisprudenz und Staat wird deutlich, dass aus Sicht der Autoren 87 

Für Wieacker bereits Joachim Rückert, in: Quaderni Fiorentini 24 (1995), S. 531 (556 f.). Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft (1951), Nachdruck in: Kulturkritik und Gesellschaft I, 2003, S. 11 (30). 88 

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Kapitel 1: Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus

Unrecht erst dadurch habe Einzug halten können, dass die Definitionshoheit über das, was Recht ist, Justiz und Jurisprudenz aus der Hand genommen oder von diesen selbst aus der Hand gegeben worden sei. Justiz und Jurisprudenz waren in dieser Vorstellung der Sphäre des Rechts zugehörig und hatten die Aufgabe, für seinen Schutz zu sorgen, während Gesetzgeber und Staat ‚außerrechtliche‘ oder ‚rechtsfremde‘ Interessen an das Recht herantrugen. In dieser Vorstellung zeigt sich nicht nur die geschilderte Schuldverlagerung auf Gesetzgeber und Staat. In ihr steckt auch die Vorstellung von einer Dichotomie originärer Eigenschaften und Ziele des Rechts auf der einen und außerrechtlichen oder rechtsfremden Zwecken auf der anderen Seite. Diese Vorstellung, dass Einwirkungen von ‚außen‘ korrumpierend auf das Recht gewirkt hätten, verband alle Typen der Positivismuskritik. Sie steckte bereits in der Grundkritik, die alle Spielarten der Positivismuskritik in der Naturrechtsliteratur teilten: der Kritik an der wertrelativistischen Haltung des Positivismus. Wertrelativismus bezeichnet ein Rechtsdenken, das davon ausgeht, dass mit dem Begriff des Rechts nicht schon gewisse Inhalte notwendig verbunden seien. Die Verfasser der Naturrechtsschriften stießen sich hieran, da dies für sie bedeutete, dass ‚außerrechtliche‘ Faktoren die Inhalte des Rechts bestimmten. Trotz aller Unterschiede, wer oder was in den verschiedenen Typen der Positivismuskritik als eben diese außerrechtliche Instanz angesehen wurde, waren sich alle Kritiken darin einig, dass das Recht durch den Relativismus in Abhängigkeit vom „Willen“ oder von der „Wirklichkeit“ gerate. Gedacht war hier ebenso an die Abhängigkeit der Rechtsbildung von bloß subjektiven richterlichen Wertungen wie auch von Zwecksetzungen des Gesetzgebers. Beides galt als Gefahr für die Verwirklichung von Gerechtigkeit. Auch die Kritik am Formalismus zielte darauf, dass das Recht vor dem Einfluss ‚außerrechtlicher‘ Faktoren geschützt werden müsse. Die Bezeichnung eines Rechtsdenkens als „formalistisch“ bedeutete, dass es rechtliche Auslegung und Entscheidung als logische Operationen betrachte; der Gegenbegriff war der der „Wertung“. Kritisiert wurde, dass eine Rechtslehre, welche die Logik und nicht die Wertung ins Zentrum ihrer Betrachtungen stellt, dem Wesen des Rechts nicht gerecht werde. Gesetze der Logik wurden hier als etwas dem Recht Fremdes verstanden. Das Recht eines „formalistischen“ Positivismus wurde nicht als außerrechtlichen Akteuren oder Zwecken ausgeliefert gesehen, sondern als einer dem Recht selbst fremden Methode geopfert. Den verschiedenen Positivismuskritiken lag also durchweg zugrunde, dass sie sich gegen ein Rechtsdenken richteten, das Recht nicht primär als wertbezogen betrachtete. Trotz der vielfältigen Nuancen in den Beschreibungen ‚des‘ Positivismus und der Uneinheitlichkeit der Angriffspunkte, erklärt dieser gemeinsame Hintergrund, warum die Positivismuskritiken nicht als konkurrierend, sondern als einander ergänzend wahrgenommen wurden. Die sich durch alle Kritiken ziehende Trennung eines ‚rechtlichen‘ und ‚außerrechtlichen‘

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Bereichs zeigt zudem, dass der Konsens noch weiter reichte: Neben der Vorstellung, Recht müsse wertbezogen sein, zeigt sich in den Kritiken auch die Überzeugung, dass dies nur gewährleistet werden könne, wenn die Autonomie des Rechts gesichert sei. Es gebe einen originären, autonomen Bereich des Rechts, so die Annahme, dem Positivismus wurde vorgehalten, diese Autonomie des Rechts preisgegeben zu haben. Das Recht, das man Recht sein ließ, war in der Vorstellung der Autoren etwas Gutes, der Gerechtigkeit Verpflichtetes. „Außerrechtliche Faktoren“ wurden als Hindernis für die Verwirklichung von Gerechtigkeit angesehen. So sehr sich schließlich die Kritik am „juristischen Naturalismus“ und an der Politisierung des Rechts auf den ersten Blick von den übrigen Typen der Positivismuskritik unterschied, weil sie nicht schlicht Schuld von der Jurisprudenz weg wies, so gut fügt sie sich nun in die Erzählung von den ‚außerrechtlichen Faktoren‘ ein. Die Jurisprudenz hatte sich der Kritik am „juristischen Naturalismus“ zufolge nationalsozialistischen Ideen geöffnet. Indem sie aber nicht nur nationalsozialistische, sondern etwa auch sozialistische Rechtslehren als wirklichkeits- und zweckorientiertes Rechtsdenken ablehnte, richtete sich ihr Fokus auf den ideologischen Charakter eines solchen Rechtsdenkens im Allgemeinen. Die nationalsozialistische Rechtslehre wurde nicht aufgrund ihrer spezifisch nationalsozialistischen Gehalte kritisiert, sondern als eine Form der Ideologisierung von Recht. Ideologisches Recht wiederum galt als Inbegriff korrumpierten Rechts. „Ideologie“ war dabei das Gegenteil von Objektivität und Neutralität, ideologisches Recht partikularen Vorstellungen verpflichtet. Ein der Gerechtigkeit verpflichtetes Recht dagegen verlangte Unabhängigkeit von jeglicher Ideologie. Eine klare Bestimmung, was ‚rechtliche‘ und ‚außerrechtliche‘ Einflüsse auf das Recht trennte, ist in den Texten freilich nicht zu finden. „Wirklichkeit“ und „Wille“ waren „außerrechtlich“, sozialpolitische Zwecke und Ideologien ebenso. Gewissen, Moral und Werte wurden hingegen der Sphäre des Rechts zugeordnet. Obgleich der Begriff „Politik“ in den Naturrechtstexten wenig verwendet wurde, könnte man die Grenzziehung zwischen „rechtlichen“ und „außerrechtlichen“ Faktoren grob als eine zwischen Recht und Politik bezeichnen, zumal die „außerrechtlichen“ Einflüsse als subjektiv oder partikular beschrieben wurden. Recht und Politik wurden hier gegeneinander gesetzt und das Recht gerade in Abgrenzung zur Politik konstituiert. Gerechtigkeit war in dieser Dichotomie apolitisch und Recht sollte es ebenso sein.89

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Genau genommen handelt es sich um eine „antipolitische“ Haltung, so treffend für die Rechtslehre Karl Larenz’ Ralf Seinecke, JZ 2010, 279 (284). Der „antipolitische“ Charakter der Naturrechtsliteratur wird deutlich an den Zukunftsvisionen für die Nachkriegszeit, siehe ausführlich Kapitel 6 B.

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Kapitel 1: Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus

Die Annahme, es gebe grundsätzlich einen originär rechtlichen Bereich, war für die Jurisprudenz in der Umbruchsituation 1945 bedeutsam: Sie machte es möglich, eine Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Rechtsdenken auszusparen und dennoch über Recht und Rechtsphilosophie zu reden. Denn obgleich die meisten Autoren davon ausgingen, dass nationalsozialistisches Recht zunächst einmal durchaus ‚Recht‘ war oder diese Frage offen ließen, gingen alle Autoren davon aus, dass es originäre Eigenschaften des Rechts gebe, die gut und gerecht seien. Es war von „Würde“, „Wert“ und sogar von „Heiligkeit des Rechts“90 die Rede. Diese Eigenschaften seien im Nationalsozialismus überlagert oder verdrängt worden, es habe eine „Entrechtlichung des Rechts“ stattgefunden.91 Nationalsozialistisches Recht war damit, auch wenn es als formal gültiges ‚Recht‘ anerkannt wurde, kein ‚Recht‘ im eigentlichen Sinne. Es war allenfalls eine „Perversion“.92 Es wurde damit aus dem Bereich dessen, was Recht eigentlich war, ausgeschlossen. Auf diese Weise war es möglich, sich mit ‚Recht im eigentlichen Sinne‘ auseinanderzusetzen, ohne dass damit eine vertiefende Diskussion der Funktionsweise nationalsozialistischen Rechts einhergehen musste. Nationalsozialistisches Recht konnte in den Naturrechtsschriften damit schemenhaft bleiben, das Recht als solches konnte losgelöst von seiner jüngsten Geschichte betrachtet werden. Die grundsätzliche Möglichkeit, rechtlich Gerechtigkeit herzustellen, musste nicht in Frage gestellt werden. Auch unter einem weiteren Gesichtspunkt war die Vorstellung eines autonomen und apolitischen Rechts bedeutsam für Juristen, die sich in der Umbruchsituation nach 1945 positionieren wollten. Mit der Erzählung von den ‚außerrechtlichen Faktoren‘ und dem ihnen gegenübergestellten ‚reinen‘ Recht ging einher, dass die Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes rechtsphilosophisches oder methodisches Konzept in der Naturrechtsliteratur nicht als politisch wahrgenommen werden konnte. Methodenfragen waren dem Bereich des Rechts zugeordnet, sie konnten damit nicht politisch sein. Schon in der Art und Weise, wie der Positivismus in den Schriften kritisiert wurde, hat sich dies gezeigt: Dass die Ausblendung des Zusammenhangs von Demokratie, Rechtsstaat und Positivismus und die schleichende Aushöhlung der Weimarer Republik von innen u.a. durch eine antipositivistische Jurisprudenz nicht thematisiert wurden, zeugt eben hiervon. Doch auch über diese Vergangenheitsdeutung hinaus bestimmte diese Sichtweise den Diskussionsmodus der Naturrechtsdebatten maßgeblich. Naturrechtsschriften zu verfassen und sich gegen den Positivismus zu wenden, stellte in der Selbstwahrnehmung der Autoren keinen politischen Akt dar. Sie begaben sich damit der Möglichkeit, den Zusammenhang von Theorie und Selbstverständnis der Jurisprudenz offen und transparent als 90 

So bei Walther Schönfeld schon im Titel „Über die Heiligkeit des Rechts“ (1957). Hermann Weinkauff, Das Naturrecht in evangelischer Sicht (1952), S. 210 (218). 92  Fritz von Hippel, Die Perversion von Rechtsordnungen, 1955. 91 

III. Fundierende Geschichte: Eine Erzählung von Schuld und Recht

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eine politische Verortung in der Nachkriegsgesellschaft zu diskutieren. Wie die Methodenfrage der Weimarer Zeit ihres politischen Kontextes enthoben wurde, so wurde auch die Methodenfrage der Nachkriegszeit als eine Frage der Wahrheit angesehen und nicht als eine gesellschaftliche Positionierung.

3. Eine „Wahrheit auf anderer Ebene“ Beide Erzählungen, die von der Schuld und die vom Recht, hatten also ihren Kern in der Grenzziehung zwischen einem ‚rechtlichen‘ und einem ‚außerrechtlichen‘ Bereich. Das Recht hatte in der Vorstellung der Verfasser der Naturrechtsschriften seine Gerechtigkeit verloren, indem es „außerrechtlichen Faktoren“ ausgesetzt worden war. Es hatte mithin seinen originär „rechtlichen“ Charakter verloren. Erst hierdurch hatte sich das Recht in der Vorstellung der Verfasser schuldig machen können. Es hatte also, um es zugespitzt zu formulieren, erst seine ‚Reinheit‘ einbüßen müssen, um in den Dienst nationalsozialistischer Herrschaft gestellt werden zu können. Die Geschichten von der Schuld und vom Recht, welche die Positivismuskritiken erzählten, waren also trotz aller Unterschiede eine kohärente Geschichte. Diese deutete auf das hin, was die Autoren zu beschützen suchten und was sie als wertvoll und wichtig erachteten: ein der Gerechtigkeit verpflichtetes, mit Gewissen und Moral verbundenes, von politischem Denken aber unabhängiges Recht. Die Kritik am Positivismus schuf Raum um festzustellen, dass es ein solches Recht gab. Der Blick auf die Vorstellungen, die den Positivismuskritiken vom Rechtsdenken der Weimarer Zeit und des Nationalsozialismus zugrunde lagen, hat gezeigt, dass dieser Raum erst durch signifikante Ausblendungen geschaffen werden konnte. Dies ist nichts Ungewöhnliches. Kollektive Gründungserzählungen, wie die Positivismusthese für die Jurisprudenz nach 1945 eine war, leben stets von einer Auswahl für relevant gehaltenen Wissens über die Vergangenheit. Was als relevant angesehen wird und was nicht, ist bedingt durch Vorstellungen, Bedürfnisse und Selbstbilder in der jeweiligen Gegenwart. Der Vorgang, in dem diese Selektion stattfindet und sich die Erzählung herausbildet, ist ein Prozess, in dem individuelle Wahrnehmungen und Erfahrungen homogenisiert werden.93 So wird der Rahmen abgesteckt, in dem die Vergangenheit thematisiert werden kann und ausgehandelt wird, welcher Sinn der Gegenwart zukommen soll.94 Kollektive Vergangenheitserzählungen sind somit immer normativ – so 93  „Erinnerungen sind […] multiperspektivisch und darin von Grund auf heterogen. Ihre Homogenisierung gewinnen sie erst auf der Ebene der Repräsentationen, die zu Harmonisierung und Vereinnahmung tendieren“, so Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, 2006, S. 202. 94  Die Figur des „Gedächtnisrahmens“ wurde in die Erinnerungstheorie von Maurice Halbwachs eingeführt und bezeichnet die sozialen und politischen Bedingungen und Werte, nach denen sich bestimmt, welche Erinnerungen kommuniziert werden können und welche

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Kapitel 1: Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus

auch die Positivismusthese. Sie war nicht bloß Beschreibung, sondern gab eine Struktur vor, in der über die Vergangenheit wie auch über die Gegenwart gesprochen werden konnte. Schuld/Unschuld, rechtlich/außerrechtlich sowie damals/heute lauteten die Leitbegriffe, die den Kommunikationsrahmen absteckten. Sie markierten Grenzen und Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit: Was nicht in dieses Schema passte, hatte es schwer, artikuliert zu werden und Gehör zu finden. Unter den Juristen, die sich in die Naturrechtsdebatten einbrachten, finden sich nicht viele, die von dem vorherrschenden Erzählschema grundlegend abwichen. Die Positivismusthese wurde nur von ganz wenigen Autoren in Frage gestellt, etwa von Adolf Arndt und Wilhelm R. Beyer.95 Sie stellten gegen den Konsens ihrer Zeitgenossen fest, dass die nationalsozialistische Rechtslehre einem naturrechtlichen Denken näher gestanden habe, als einem positivistischen. Beyer legte sogar eine vergleichsweise detaillierte Analyse rechtwissenschaftlicher Ansätze im Nationalsozialismus vor, im Gegensatz zu allen übrigen Darstellungen nannte er die Namen derer, die nationalsozialistisches Rechtsdenken entwickelt und getragen hatten.96 Im Gegensatz zu Arndt, dessen Thesen in der Naturrechtsliteratur weitgehend ignoriert wurden, wurde Beyer zwar zitiert, allerdings nicht um seine Infragestellung der Positivismusthese zu diskutieren, sondern weil er einer der sehr wenigen war, die sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit offen zum Positivismus bekannt hatten. Die Annahme beider, nationalsozialistisches Rechtsdenken sei strukturell dem naturrechtlichen ähnlich gewesen, passte nicht in das Schema, das Gerechtigkeit und Ideologie einander entgegensetzte. Sie verhallte im Konsens der Positivismusthese. Unrezipiert blieb auch ein Aufsatz des Richters Walter Mannzen, der als einziger in den späten 1940er Jahren auf den Zusammenhang von Positivismus und Demokratie hingewiesen hatte.97 Auch dies lässt sich damit erklären, dass sich nicht, vgl. Das Gedächtnis und seine sozialen Beziehungen, (frz. 1925), 1985, S. 158 ff.; dazu Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, 2006, S. 150, 157 ff. 95  Beide intervenierten nur punktuell in die Naturrechtsbesinnung. Schon aufgrund ihrer politischen Haltung gab es zwischen ihnen und den Naturrechtsautoren erhebliche Differenzen. Adolf Arndt (1904–1974) war nach 1945 einer der führenden Rechtspolitiker der SPD und ab 1949 Mitglied des Bundestags, zu ihm Dieter Gosewinkel, Adolf Arndt, 1991. Wilhelm R. Beyer (1902–1990) engagierte sich für den Linkshegelianismus in der BRD und in der DDR, zu ihm knapp Manfred Buhr u.a. (Hg.), Wilhelm Raimund Beyer. Eine Bibliographie, 2.A. 1972, S. 5, 7. 96  Adolf Arndt, Die Krise des Rechts (1948), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 117 (118); Wilhelm R. Beyer, Rechtsphilosophische Besinnung, 1947. Gegen die Positivismusthese dezidiert auch Ernst Wolff, Freiheit und Gebundenheit des englischen Richters, in: Tagung deutscher Juristen Bad Godesberg, 1947, S. 103 (125). Auch Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 159 räumte ein, dass sich der NS auf „eine Art Naturrecht“ berufen habe. Es habe sich allerdings um ein „relatives Naturrecht“ gehandelt, welchem er nun ein absolutes Naturrecht entgegensetzen wollte. 97  Walter Mannzen, Die Bindung des Richters an Gesetz und Recht, SJZ 1948, Sp. 646– 650. Etwas später auch Willibalt Apelt, Die Gesetzgebungstechnik, 1950.

III. Fundierende Geschichte: Eine Erzählung von Schuld und Recht

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seine Darstellung nicht in das normative Schema einordnen ließ, das der Positivismusthese zugrunde lag. Mit dem Hinweis auf den Zusammenhang zwischen einem rechtstheoretischen Ansatz und einer politischen Herrschaftsform sprengte er die Dichotomie von Recht und Politik. Schwieriger zu rekonstruieren ist, ob es Skepsis an der vorherrschenden Erzählung gegeben hat, die nicht artikuliert werden konnte. Angesichts dessen, dass es üblich war, die Positivismusthese in den Texten zumindest knapp anzutippen, fallen diejenigen auf, die dies nicht in der üblichen Weise taten: So kritisierte Erik Wolf den Positivismus zwar für seinen Formalismus und die nationalsozialistische Rechtslehre für ihren ideologischen Charakter. Die Verbindung zwischen beiden ließ er aber offen. Im Falle Erik Wolfs gibt es Gründe zu mutmaßen, dass seine persönliche Erinnerung nicht in die kollektive integrierbar war und dass er auch nach 1945 nicht vergessen konnte, dass er sich selbst als Antipositivist für eine gewisse Zeit begeistert dem Nationalsozialismus hingegeben hatte.98 Möglicherweise vermied er es, in Konflikt mit der vorherrschenden Erzählung zu geraten, indem er den Positivismus zwar in allgemeiner Form kritisierte, dabei aber nicht zu der Frage Stellung nahm, ob ihm auch Schuld für die Verstrickung der Jurisprudenz in den Nationalsozialismus anzulasten sei. Hätte er seine persönlichen Erfahrungen ausgesprochen, hätte er womöglich eine andere Grenzlinie zwischen Schuld und Unschuld gezogen – durch Schweigen fügte er sich jedenfalls den Vorgaben der gemeinsamen Geschichte. Diese wenigen Fälle lassen erahnen, dass der Konsens über die Positivismusthese 1945 nicht einfach da war, sondern erst durch Ausschluss bestimmter Erinnerungen zustande kam. Spuren von diesem Prozess finden sich in den Veröffentlichungen allerdings nicht. Es lässt sich beispielsweise nicht feststellen, dass abweichende Meinungen zunächst noch vertreten wurden, um schließlich zu verschwinden. Ein stabiler, normativer Gedächtnisrahmen war offenbar bereits 1945/46 errichtet. Die geringe Zahl abweichender Erzählungen und die Nichtbeachtung, die ihnen entgegengebracht wurde, zeigen, wie eng dieser Rahmen war. Dieser Rahmen wirkte für Jahrzehnte fort.99 Warum er sich trotz seiner Enge als so stabil erwies, lässt sich nur vermuten. Ein wichtiger Faktor war mit Sicherheit, dass die meisten derjenigen, die den Konsens durch ihr Wissen um die demokratische Ausrichtung des Weimarer Positivismus hätten irritieren können, nicht an den Diskussionen nach 1945 beteiligt waren. Kelsen war im USamerikanischen Exil geblieben und schaltete sich erst spät und nur ganz punktuell in die deutsche rechtsphilosophische Diskussion ein.100 Fraenkel kehrte  98 

Hierzu ausführlich Kapitel 4. Siehe Kapitel 7. 100  Hans Kelsen, Existentialismus in der Rechtswissenschaft?, ARSP 43 (1957), 161–186; ders., Die Grundlage der Naturrechtslehre, ÖZÖR 13 (1964), 1–37; ders., Was ist juristischer Positivismus?, JZ 1965, 465–469.  99 

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Kapitel 1: Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus

als Politikwissenschaftler nach Deutschland zurück und auch Neumann und Kirchheimer hatten sich im Exil der Politikwissenschaft zuwenden müssen.101 Andere, die in Deutschland geblieben oder nach 1945 zurückgekehrt waren und auch nach ihrer Rückkehr als Juristen Anerkennung fanden, beteiligten sich schlicht nicht an den Diskussionen um Naturrecht und Positivismus, so Nawiasky, Thoma und Anschütz. Sie brachten sich stattdessen in die Verfassungsgebungsprozesse der Länder bzw. des Bundes ein und wählten damit den Weg aktiver politischer Gestaltung in der Umbruchsituation nach 1945.102 Die Diskussionen dort folgten gänzlich anderen Regeln und Mustern und berührten sich mit den Naturrechtsdebatten nur ganz am Rande.103 Dass nach 1945 so schnell ein stabiler Gedächtnisrahmen errichtet werden konnte, dürfte im Übrigen dadurch begünstigt worden sein, dass die Positivismuskritik stetig durch knappes Antippen wiederholt wurde.104 Auch die Griffigkeit des klaren Gut-Böse-Schemas wirkte mit Sicherheit stabilisierend, zumal mit ihm eine Externalisierung von Schuld einherging. Zudem waren weder die Kritik am Positivismus noch die zur Begründung dieser Kritik bemühte Vorstellung eines formalistischen, dem Recht seine Würde nehmenden Positivismus neu.105 Es konnte auf Bekanntes zurückgegriffen werden, das nur der Ergän101 Zu ihren Biographien siehe Red. Kritische Justiz (Hg.), Streitbare Juristen, 1988, S. 390 ff. Dass die Rechtswissenschaft nach 1945 ihre Ansätze unrezipiert lassen konnte (dazu oben S. 39), wurde durch diese im Exil notwendig gewordenen Umorientierung in die Politikwissenschaft begünstigt. Sie galten nun als ‚amerikanische Politikwissenschaftler‘ und wurden damit doppelt ausgebürgert: 1933 als Juden aus Deutschland, dann, nach 1945 durch Nichtrezeption aus der Jurisprudenz. Hierzu, am Beispiel Franz L. Neumanns, Joachim Rückert, NDB, Bd. 19, 1999, S. 145 (146 f.). 102  Hans Nawiasky war maßgeblich am Verfassungebungsprozess in Bayern beteiligt, ­Richard Thoma wurde als Berater zum Parlamentarischen Rat hinzugezogen, zu dessen Engagement knapp Hans-Dieter Rath, Positivismus und Demokratie, 1981, S. 28 f. Daneben könnte die Ursache dafür, dass sich die wenigen nach 1945 wieder in Deutschland als Rechtswissenschaftler tätigen Weimarer Positivisten an den Naturrechtsdiskussionen nicht beteiligten, auch mit der Generationszugehörigkeit zu tun haben: Es waren vor allem Juristen der Jahrgänge 1895–1910, die sich an den Naturrechtsdiskussionen beteiligten. Gerhard Anschütz etwa gehörte dieser Generation nicht an und war nach 1945 in fortgeschrittenem Alter, ebenso Willibalt Apelt, der aber punktuell intervenierte, so in die Diskussion um verfassungswidriges Verfassungsrecht, siehe Kapitel 2, S. 88 ff. 103  Zu einem Berührungspunkt Kapitel 3, S. 116 ff., im Übrigen war die Naturrechtsliteratur an Verfassungsfragen auffallend wenig interessiert, dazu ausführlich Kapitel 6 C. 104  Peter L. Berger und Thomas Luckmann beschreiben es als notwendiges Element der Aufrechterhaltung von Wirklichkeit, dass das Gespräch über diese nicht abreißt, vgl. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 16.A. 1999, S. 165. 105  Dies gilt nicht nur für den Antipositivismus, auch erste Ansätze für naturrechtliche Ordnungsvorstellungen, wie sie nach 1945 vertreten wurden, entwickelten sich bereits während des NS, vor allem im kirchlichen und konservativen Widerstand. Siehe für den kirchlichen Bereich Kapitel 3 und 4, für den konservativen Widerstand Joachim Rückert, in: Eva Schumann (Hg.), Kontinuitäten und Zäsuren, 2008, S. 11 (24 ff.). Ernst Fraenkel stellte dementsprechend 1941 fest: „Im heutigen Deutschland bahnt sich eine Einheitsfront all derer an, die naturrechtliche Ideen der verschiedensten Schattierungen vertreten; es ist eine Re-

III. Fundierende Geschichte: Eine Erzählung von Schuld und Recht

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zung um die jüngsten historischen Ereignisse bedurfte. Vor allem aber vermag die beschriebene Kohärenz der Erzählung über Schuld und Recht zu erklären, warum die Positivismusthese nach 1945 so wirkmächtig war: In all ihren Varianten lief sie auf die Forderung hinaus, einen originär rechtlichen Bereich von „außerrechtlichen“ Einflüssen zu schützen. Sie legte damit nahe, dass es auch ein ‚gutes‘ Reden über Recht gebe, dass also trotz der Erfahrung des Nationalsozialismus nicht alles Reden über Recht problematisch sei. Es zeigt sich hier das Bedürfnis, das Recht als solches zu rehabilitieren. All dies lässt verstehen, weshalb der normative Rahmen, in dem Unschuld und Recht, Schuld und außerrechtliche Einflüsse miteinander verbunden waren, trotz seiner Enge so breit akzeptiert und fortgeschrieben wurde. Wie weit dabei wahrgenommen wurde, was in der Erzählung ausgeblendet und verzerrt wurde, war sicherlich individuell unterschiedlich und lässt sich anhand veröffentlichten Materials nicht rekonstruieren. Insbesondere die Kohärenz dieser Geschichte und ihre Passgenauigkeit mit dem Bedürfnis, wieder legitimiert über Recht reden zu können, lässt aber vermuten, dass die Positivismusthese für viele Zeitgenossen Vergangenheitsdeutung und Gegenwart so gut miteinander verband, dass ihre Wahrheit nicht angezweifelt wurde. Es handelte sich um eine Umschreibung der Wirklichkeit in der Art, für die Peter L. Berger und Thomas Luckmann bemerkt haben: „Weil dem Einzelnen die neue Wirklichkeit nun absolut plausibel erscheint, kann er absolut ‚aufrichtig‘ sein. Subjektiv erzählt er keine Lügen über die Vergangenheit, er bringt sie vielmehr ‚auf Vordermann‘ jener einen ‚Wahrheit‘, die Vergangenheit und Gegenwart umgreift.“106 In Abgrenzung von dem, was gemeinhin unter ‚historischer Wahrheit‘ verstanden wird, bezeichnet Aleida Assmann dies als eine „Wahrheit auf anderer Ebene“.107 aktion gegen die totale Negierung aller absoluten Werte von Seiten des opportunistischen Leviathan“, in: Der Doppelstaat (1941, dt. 1974), 1984, S. 152. Zur Vorgeschichte der Naturrechtsbesinnung nach 1945 auch Christoph Scheuren-Brandes, Der Weg von Nationalsozialistischen Rechtslehren zur Radbruchschen Formel, 2006, allerdings wenig kontextualisierend und daher erklärungsschwach. Überzeugender hinsichtlich der Anziehungskraft des Naturrechtsdenkens nach 1945 Hubert Rottleuthner, in: ders. (Hg.), Recht, Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, 1983, S. 20 (31 f.), der auf strukturelle Ähnlichkeit zwischen NS-Rechtsphilosophien und der Naturrechtsbesinnung verweist. Trotz verbreiteter Ablehnung des religiösen wie des aufklärerischen Naturrechts gab es auch Versuche, Naturrecht für nationalsozialistisches Rechtsdenken fruchtbar zu machen, siehe Fabian Wittreck, Nationalsozialistische Rechtslehre und Naturrecht, 2008; Oliver Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994, S. 286 ff. 106  Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 16.A. 1999, S. 171. Ludwik Fleck spricht im gleichen Sinne davon, dass Aussagen „selbstverständliche Realität“ würden, da sie Begriffe bildeten und „Denkgewöhnungen“ schafften. Sie bestimmten damit, was man „anders nicht denken kann“, vgl. Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (1935), 1980, S. 53. 107  Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 4.A. 2009, S. 278; dies., Der lange Schatten der Vergangenheit, 2006, S. 136.

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Kapitel 1: Abgrenzung als Identitätsfrage: die Konstruktion des Positivismus

IV. Fazit Die Positivismuskritiken haben in diesem Kapitel einen ersten Blick auf die Naturrechtsliteratur gewährt. Gezeigt wurde ein Teilaspekt. Viele für einzelne Debattenstränge relevante Aspekte wurden noch nicht sichtbar. Doch geben die Positivismuskritiken einen Einblick in grundlegende Positionierungen, welche im Rahmen der Naturrechtsbesinnung vorgenommen wurden. Es zeigen sich zwei für die Jurisprudenz der Nachkriegszeit zentrale Bedürfnisse: eine Deutung der Vergangenheit zu etablieren und zu formulieren, was Recht in einem positiven Sinn ausmachen sollte. Die Macht der Positivismusthese in diesem Zusammenhang lässt sich damit erklären, dass sie auf beide Bedürfnisse mit einer kohärenten Geschichte reagierte. Die Erzählungen über die Vergangenheit hatten die Frage zum Gegenstand, wie das Recht hatte in den Dienst nationalsozialistischer Herrschaft gestellt werden können. Die Verfasser zogen mit ihnen eine Trennlinie zwischen den schuldigen Akteuren bzw. deren Rechtslehren und sich selbst. Dieselben Linien waren es, die für die Gegenwart nach 1945 um das Recht gezogen wurden. Mit ihrer Ablehnung des Rechtspositivismus konstituierten die Verfasser der Naturrechtsschriften einen Minimalkonsens, wie Recht verstanden werden sollte: Einem als formalistisch, gerechtigkeitsblinden und von der Politik abhängig beschriebenen Positivismus wurde ein autonomes, der Gerechtigkeit verpflichtetes und damit eigenständig wertbezogenes Rechtsverständnis ge­ genübergestellt. Die Positivismusthese fundierte diesen Konsens und schuf damit einen gemeinsamen Rahmen für die Konzepte übergesetzlichen Rechts der Nachkriegszeit, der freilich unterschiedlich ausgefüllt wurde. Davon handeln die folgenden Kapitel.

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Kapitel 2

Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität: übergesetzliches Recht in der Diskussion um richterliche Entscheidungen in der Umbruchszeit 1945–1949 Sich auf Naturrecht zu besinnen bedeutete nach 1945 nicht zwangsläufig, sich in rechtsphilosophische Diskussionen zu begeben. Die Frühphase bis etwa Ende 1947 war vielmehr dadurch gekennzeichnet, dass naturrechtliche Argumente vielfach als Bausteine in rechtspraktischen Auseinandersetzungen verwendet wurden. Bereits im November 1945 erging ein Urteil des Amtsgerichts Wiesbaden, das sich naturrechtlicher Argumentationen bediente: Es erklärte im Leitsatz, dass „Gesetze, die das Eigentum der Juden dem Staat für verfallen erklärten, […] mit dem Naturrecht in Widerspruch [stehen] und […] zur Zeit ihres Erlasses nichtig [waren].“1 Das Gericht löste damit das Problem des gutgläubigen Erwerbs an diesem Eigentum: Dessen Möglichkeit richte sich nach § 935 BGB, da die Sachen aufgrund der Rechtswidrigkeit der Enteignung als gestohlen oder abhandengekommen anzusehen seien. Doch vor allem die Diskussion um die Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen eröffnete das Feld für naturrechtliche Argumente. In gerichtlichen Entscheidungen, deren Besprechungen und dogmatischen Aufsätzen wurden diese Fallkonstellationen diskutiert, die konkret erst mit dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft hatten entstehen können und die somit einen Schritt in rechtliches Neuland bedeuteten – doch: War es wirklich dieses ‚rechtliche Vakuum‘ nach Kriegsende, das naturrechtliche Argumentationen herausforderte oder gar notwendig machte? Welche Rolle spielte das Naturrecht in den Diskussionen um richterliche Entscheidungen dieser Zeit? In diesem Kapitel wird diesen Fragen anhand dreier ausgewählter Debatten nachgegangen: der Diskussion um die Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen (I–III), der Diskussion um die Frage, ob den Gerichten ein materielles Prüfungsrecht zukommen sollte (IV) und der Diskussion um verfassungswidriges Verfassungsrecht, die Anfang der 1950er Jahre zwischen Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht entbrannte (V). 1 

AG Wiesbaden, Urteil v. 13.11.1945, SJZ 1946, 36.

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Kapitel 2: Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität

I. Rückwirkende Strafverfolgung ohne Rückwirkungsgesetz? Radbruchs Intervention in die Praxis der Gerichte Eine breite Diskussion um die rückwirkende Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen begann in der juristischen Fachpresse mit der Veröffentlichung des Aufsatzes von Gustav Radbruch „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ im August 1946. 2 In ihm entwickelte Radbruch seine berühmte Formel zum rechtlichen Umgang mit nationalsozialistischem Unrecht. Er lieferte mit ihr Stichworte, die für die Diskussion um die rückwirkende Bestrafung zentral waren. Kaum eine Passage aus einem rechtsphilosophischen Text ist in den vergangenen 60 Jahren so umfassender Exegese und Interpretation unterzogen worden wie diese Formel. Der Kontext ihrer Entstehung ist dabei allerdings weitgehend unberücksichtigt geblieben. Tatsächlich lässt sich die Position Radbruchs nach 1945 in ihrer vollen Dimension jedoch nur erfassen, wenn man eben diesen in den Blick nimmt. Der Blick auf den historischen Diskussionszusammenhang, in welchem die Formel entstand, ermöglicht es zudem nachzuvollziehen, auf welche Weise Radbruchs Überlegungen seinerzeit aufgegriffen und eingesetzt wurden. Der Blick auf den Diskussionszusammenhang zeigt vor allem erst einmal eines: Auch wenn die Diskussion um die rückwirkende Bestrafung in der Fachpresse mit Radbruchs Aufsatz begann, stellte dieser weder für die Naturrechtsbesinnung in der Rechtspraxis noch für die Diskussion um die rückwirkende Bestrafung den Anfangspunkt dar.3 Radbruch reagierte mit ihm auf eine Praxis, die sich im Umgang mit nationalsozialistischen Verbrechen in dem einen Jahr, das seit Kriegsende vergangen war, herausgebildet hatte.4 Mit der Formel wandte er sich an die Gerichte, die mit der Frage konfrontiert waren, ob und wie eine Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen möglich sei, auch wenn die Taten zum Zeitpunkt ihrer Begehung durch nationalsozialistisches Recht gedeckt waren. Er schlug vor: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß 2 

Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105–108. Zuvor war bereits Friedrich Buchwald in seiner Schrift „Gerechtes Recht“ (1946) für die Bestrafung von Justizunrecht eingetreten. Buchwald war als Sozialdemokrat im Nationalsozialismus seines Amtes als Verwaltungsjurist enthoben worden und auch danach der Verfolgung ausgesetzt. Er stützte die Forderung nach Bestrafung nicht auf naturrechtliche Argumente, argumentierte aber sowohl in der Bewertung des NS als auch in seinen Forderungen für die Neuorientierung nach 1945 gegen den Gesetzespositivismus. Seine Schrift wurde nur von Radbruch beachtet und gewürdigt. 4  Eine Auswertung der Rechtsprechung auf die Verwendung naturrechtlicher Argumente in diesem Zeitraum steht noch aus. 3 

I. Rückwirkende Strafverfolgung ohne Rückwirkungsgesetz?

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das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“5

Diese Sätze, die als „Radbruchsche Formel“ in den Kanon der Rechtsphilosophie eingegangen sind, begründete er auf kaum mehr als einer halben Seite. Weit mehr Raum nimmt in seinem Aufsatz die Auseinandersetzung mit konkreten Rechtsproblemen ein, die sich im Umgang mit nationalsozialistischen Verbrechen für die Justiz der unmittelbaren Nachkriegszeit stellten. Eben diese rechtspraktischen Probleme, die Radbruch und seine Zeitgenossen beschäftigten, stellen einen Schlüssel dar, um Radbruchs Position und den Impuls, den er der weiteren Diskussion gab, zu verstehen.

1. Drei Fälle als Ausgangspunkt Bevor der Blick der Formel selbst und der Diskussion um sie zugewandt wird, sollen daher zunächst kurz die Fälle vorgestellt werden, anhand derer Radbruch seine Argumente entwickelte. Es handelte sich um drei Fälle. In allen dreien ging es um die Frage, welcher rechtliche Maßstab an Handlungen angelegt werden sollte, die im Nationalsozialismus als rechtmäßig angesehen worden waren. Konnten diese nachträglich zu Unrecht erklärt werden und wenn ja wie? Im ersten Fall hatte der Angeklagte einen Regimegegner denunziert; dieser war durch ein nationalsozialistisches Gericht verurteilt und hingerichtet worden. Das Gericht, das nach Kriegsende über diesen Fall zu befinden hatte, verurteilte den Denunzianten wegen Beihilfe zum Mord und stützte dies auf das deutsche Strafrecht zum Zeitpunkt der Tat. Auch im Nationalsozialismus sei der Angeklagte nicht zur Denunziation verpflichtet gewesen. Dass das Gericht das Recht beugen würde und die Anzeige in der Hinrichtung münden könnte, sei ihm bekannt gewesen. Im zweiten Fall waren zwei Scharfrichtergehilfen wegen Teilnahme an zahlreichen Hinrichtungen während des Nationalsozialismus zum Tode verurteilt worden. Verurteilt wurden sie wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit unabhängig davon, ob die Taten zum Tatzeitpunkt strafbar waren oder nicht. Die Begründung stützte sich darauf, dass die Angeklagten dieser Tätigkeit aus freien Stücken nachgegangen seien, sich also nicht damit entschuldigen konnten, dass sie Befehlen gehorchen mussten. Auch im dritten Fall ging es um die Frage, ob und wie eine Umwertung nationalsozialistischer Rechtsvorstellungen vorgenommen werden konnte, allerdings in etwas anderer Weise: Ein Deserteur hatte, nachdem er von der Front 5 

Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (107).

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Kapitel 2: Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität

geflohen war einen Polizisten erschossen, um Verhaftung und Hinrichtung zu entgehen. Er konnte ins Ausland fliehen und kehrte nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft nach Deutschland zurück. Die Staatsanwaltschaft wollte ihn nun nach 1945 wegen Mordes an dem Polizisten anklagen. Der Generalstaatsanwalt intervenierte hiergegen, da das „was damals von den Rechtswahrern als Recht ausgegeben wurde, heute nicht mehr gelte.“6 Die Tat des Deserteurs habe sich gegen eine rechtswidrige Verhaftung gerichtet und sei damit als Notwehr gerechtfertigt.

2. Kontrollratsgesetz Nr. 10 und die Anwendung deutschen Strafrechts Um die Probleme, die diese Fälle rechtlich aufwarfen, verstehen zu können, ist es nötig, einen Blick auf die damalige Rechtslage zu werfen. Die Besatzungsmächte hatten zunächst mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 1 vom 20. September 1945 die Gesetze, auf denen das nationalsozialistische Regime beruhte, außer Kraft gesetzt und gleichzeitig jede Diskriminierung aufgrund von „Rasse“, Staatsangehörigkeit, Religion oder oppositioneller Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Regime in der Anwendung von Gesetzen untersagt. Mit der Proklamation Nr. 3 zur Umgestaltung der Rechtspflege vom 20. Oktober 1945 wurde die Justiz zur Beachtung des Gleichheitssatzes und rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze verpflichtet und es wurde angeordnet, dass „Verurteilungen, die unter dem Hitler-Regime ungerechterweise aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen erfolgten“, aufgehoben werden müssten (Art. II Nr. 5). In der amerikanischen Zone wurde dies durch das Gesetz zur „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Strafrechtspflege“ umgesetzt, wonach Verurteilungen aufgrund bestimmter Gesetze automatisch aufgehoben wurden, andere nach richterlicher Prüfung. Die gesetzlichen Grundlagen, um eine Justiz wieder aufzubauen, die rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtet war, und um diejenigen zu rehabilitieren, die Justizunrecht erfahren hatten, waren also vorhanden und wurden auch nicht weiter kritisch diskutiert. Das Kontrollratsgesetz (KRG) Nr. 10 vom 20. Dezember 1945 regelte die Strafbarkeit nationalsozialistischen Unrechts.7 Der Tatbestand war an das Statut des internationalen Militärtribunals in Nürnberg (IMT) angelehnt und umfasste Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Es sollte die gesetzliche Grundlage für die Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen in breiterem Maßstab sein, als dies im Rahmen der Nürnberger Prozesse möglich war. Das Gesetz zielte ausdrücklich auf alle 6 

J. U. Schroeder in einem Artikel vom 9.5.1946, zitiert bei Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (107). 7  Zu Entstehung und Implementierung des Gesetzes eingehend Martin Broszat, VfZ 29 (1981), 477–544.

I. Rückwirkende Strafverfolgung ohne Rückwirkungsgesetz?

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Tätergruppen. In Art. II Satz 1 heißt es, dass Schuldige „ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit oder die Eigenschaft in der er handelte“ strafrechtlich verfolgt würden. Für Taten, die nicht einen der Tatbestände des KRG Nr. 10 erfüllten, galt das deutsche Recht zum Zeitpunkt der Begehung der Tat.8 In der amerikanischen Besatzungszone sollte das „Gesetz über die Ahndung nationalsozialistischer Straftaten“ vom 15. Juni 1946 gewährleisten, dass diese Verfolgung nach deutschem Recht auch noch nach Kriegsende möglich war: Es regelte, dass eine Tat auch dann bestraft werden könne, wenn sie wegen Nichtverfolgung im Nationalsozialismus verjährt war, ihre Verfolgung niedergeschlagen wurde oder eine rechtskräftige Einstellung erfolgt war. Eine rückwirkende Strafbarkeit war aber, anders als im KRG Nr. 10, nicht vorgesehen. Während die Bestrafung nach deutschem Recht in den Händen deutscher Gerichte lag, sollten Anklagen aufgrund des KRG Nr. 10 in den jeweiligen Zonen durch eigens geschaffene Sondergerichte verhandelt werden.9 Deutsche Gerichte durften von den Militärregierungen allerdings für zuständig erklärt werden. Während dies in der amerikanischen und sowjetischen Zone fallweise geschah, wurden in der britischen Zone durch die Verordnung der Militärregierung Nr. 47 vom 30. August 1946 deutsche Gerichte für zuständig erklärt. Diese Ermächtigung wurde zunächst auf bestimmte Verbrechensgruppen beschränkt: Deutsche Gerichten sollten für (a) Verbrechen, die das Wachpersonal sowie Gestapo, SS oder zivile Polizei gegen die Insassen von Strafanstalten sowie Konzentrations- oder Zwangsarbeiterlagern begangen haben und (b) Verbrechen, die Verstöße gegen das deutsche Strafrecht darstellen, zuständig sein.10 Im November 1946 wurde diese Zuständigkeit auf die Verurteilung von Denunziant/ innen ausgedehnt. Als Radbruch seinen Aufsatz für die Süddeutsche Juristenzeitung im Sommer 1946 schrieb, war die Militärverordnung der britischen Zone noch nicht erlassen. Das KRG Nr. 10 wurde also allenfalls punktuell durch deutsche Gerichte angewandt. Radbruch entschied sich, es aus diesem Grund bei seinen Überlegungen außen vor zu lassen und sich ausschließlich mit der Strafbarkeit nach deutschem Recht zu befassen.11 Er wandte sich damit an deutsche Gerichte, die mit „gesetzlichem Unrecht“ des Nationalsozialismus umgehen muss­ ten, ohne auf ein Rückwirkungsgesetz zurückgreifen zu können. Die Frage  8  Für Taten, die nach beiden Rechtsgrundlagen strafbar waren, war stark umstritten, welche anzuwenden war, dazu unten, S. 75 f.  9 Art. III Nr. 2 Kontrollratsgesetz Nr. 10. 10  Tatsächlich wurden mit der Regelung vom 30.8.1946 zunächst deutsche Gerichte pauschal für zuständig erklärt, die Einschränkung wurde jedoch vorgenommen, noch ehe am 10.9.1946 die OLG-Präsidenten über die Verordnung informiert wurden. Im Amtsblatt veröffentlicht wurde sie erst im November 1946, hierzu Martin Broszat, VfZ 29 (1981), 477 (519). 11  Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (106).

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rückwirkender Strafbarkeit war für diese virulent: Bereits wenige Wochen nach Kriegsende hatten die Staatsanwaltschaften ihre Arbeit wieder aufgenommen. Zwischen 1945 und 1949 wurden allein in den westdeutschen Zonen über 14.000 Verfahren eingeleitet.12 Mit der Figur des „gesetzlichen Unrechts“ bezeichnete Radbruch Rechtsnormen, die zwar formell rechtmäßig, aber in einem unerträglichen Maße ungerecht waren. Das herkömmliche Rechtsverständnis sah vor, dass die Gerichte auch solche Normen anwenden mussten. Der Grundsatz nulla poena sine lege forderte im Bereich des Strafrechts, dass Urteilen das Recht zugrunde gelegt werde, das zu Zeitpunkt der Tat galt. Waren die Taten nach nationalsozialistischer Rechtsanschauung gerechtfertigt, bedeutete dies, dass ein Freispruch erfolgen musste. Dies erschien nach Ende des Krieges nicht nur politisch nicht mehr opportun, es wurde auch als moralisch inakzeptabel wahrgenommen. Es war eine Umwertung nationalsozialistischen Rechts in Unrecht gefordert. Außerhalb des Anwendungsbereichs des KRG Nr. 10 war den Gerichten hierfür jedoch keine Regel an die Hand gegeben. Radbruch stellte fest, dass sich die Gerichte in dieser Situation selbst ihren Weg bahnten und zur Delegitimierung der nationalsozialistischen Rechtfertigungsgründe auf übergesetzliche Rechtsgrundsätze zurückgriffen. Nicht nur in den drei Fällen, mit denen er sich in seinem Text auseinandersetzte, sondern weit darüber hinaus sei dies zu beobachten: „Allerorten wird also unter dem Gesichtspunkt des gesetzlichen Unrechts und des übergesetzlichen Rechts der Kampf gegen den Positivismus aufgenommen.“13

3. Aufruf an die Rechtspraxis, die Rechtssicherheit zu schützen Radbruch schlug mit seiner Formel auf den ersten Blick im Umgang mit derartigen Fällen eine Lösung vor, die mit der Praxis der Gerichte auf einer Linie lag: Gesetzliches Unrecht sollte als „unrichtiges Recht“ unangewendet bleiben. Er wusste aber um die Gefahren dieses Weges und stand der Gerichtspraxis, die seiner Ansicht nach „allerorten“ zu beobachten sei, kritisch gegenüber. So liest sich sein Artikel auf den zweiten Blick weniger als Begründung der These, wonach ungerechtes Recht unangewendet bleiben dürfe, denn als Einschränkung dieser. Unangewendet bleiben durften Gesetze seiner Ansicht nach nur, wenn „der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu 12  Aktueller Forschungsstand mit Übersicht über Verfahren, Verurteilungen und Einstellungen bei Andreas Eichmüller, VfZ 2008, 621 (626). Demzufolge richteten sich allein 38,3 % der Verfahren zwischen 1945 und 1949 gegen Denunziant/innen, wohingegen sich nur ein geringer Anteil der Verfahren gegen Verbrechen im Zusammenhang mit dem Holocaust richtete, so auch Gerhard Werle, NJW 1992, 2529 (2530). 13  Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (107).

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weichen hat.“14 Dies sei dort gegeben, wo „Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde“.15 Er warnte eindringlich davor, die Rechtssicherheit geringzuschätzen und zu gefährden: Gerade nach der Erfahrung nationalsozialistischer Justizwillkür sei der Rechtsstaat nun „wie das tägliche Brot, wie Wasser zum Trinken und wie Luft zum Atmen“.16 Um einen Beitrag zur Naturrechtsbesinnung nach 1945 handelte es sich bei diesem Aufsatz damit nicht.17 Radbruch hatte zum Naturrecht bereits in kurzen Artikeln im September 1945 und im Januar 1946 in der Rhein-Neckar-Zeitung Stellung genommen und signalisiert, dass er einer solchen Besinnung grundsätzlich positiv gegenüberstehe.18 In seinem Artikel vom August 1946 über das ge-

14  Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (107); diese These wird in der exegetischen Literatur als „Unerträglichkeitsthese“ bezeichnet, vgl. statt aller Frank Saliger, Radbruchsche Formel und Rechtsstaat, 1995, S. 4–6. 15  Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (107); diese These wird als „Verleugnungsthese“ bezeichnet, vgl. statt aller Frank Saliger, Radbruchsche Formel und Rechtsstaat, 1995, S. 4–6. Sie konkretisiere die Unerträglichkeitsthese, ebd. S. 18. 16  Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (108). 17  So schon Ingo Müller, in: Leviathan 1979, 308 (327); Arthur Kaufmann, NJW 1995, 81–86; Joachim Rückert, in: Karl Acham u.a. (Hg.), Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste, 1998, S. 113 (130 f.). 18  Gustav Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie (1945), GRGA Bd. 3, 1999, S. 78 f.; ders., Erneuerung des Rechts (1946), GRGA Bd. 3, 1999, S. 80–82. Dass er der Naturrechtsbesinnung nach 1945 aufgeschlossen gegenüberstand wird auch deutlich in: Vorschule der Rechtsphilosophie (1948), GRGA Bd. 3, 1999, S. 121–227. Dort wiederholt er mehrfach die Formel (S. 149 f., 153 f., 225 ff.) und stellt diese in Zusammenhang mit Naturrecht und der allgemeinen Besinnung auf dieses nach 1945: „[W]ie immer man dieses Recht im einzelnen bezeichnen möge, sei es als Recht Gottes, als Recht der Natur als Recht der Vernunft“, die „Idee eines übergesetzlichen Rechts, an dem gemessen auch positive Gesetze als gesetzliches Unrecht sich darstellen können, [ist] nach einem Jahrhundert des juristischen Positivismus wieder mächtig auferstanden“, ebd. S. 226 f. Er begrüßt zudem die Suche nach einem religiösen Naturrecht im Umfeld der evangelischen Kirche, ebd. S. 159 f.; Die Erneuerung des Rechts (1947), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositvismus?, 1962, S. 1 (9 f.). Auch aus den Briefen geht eine Aufgeschlossenheit gegenüber der Naturrechtsbesinnung hervor, so am 10.8.1948 an Giorgio del Vecchio: „Hier in Deutschland ist ein starkes rechtsphilosophisches Interesse erwacht. Der Positivismus, der wehrlos war gegen noch so verbrecherische Gesetze, sitzt sozusagen auf der Anklagebank. Der Gedanke eines gesetzlichen Unrechts und eines übergesetzlichen Rechts, wie ich selbst ihn formuliert habe, kurz eines neuen Naturrechts, steht im Mittelpunkt des Interesses, […]“, GRGA Bd. 18, 1995, S. 281. In seinem Brief vom 10.2.1948 an Eugenio di Carlo bekundete er, dass er plane, die „Rechtsphilosophie“ neu herauszugeben, wobei „dem Naturrecht mehr Raum gewährt werden soll“, GRGA Bd. 18, 1995, S. 274. Radbruch zog es wohl vor, dem Positivismus eine kulturrechtlich-richterrechtliche Rechtslehre in freirechtlich-angloamerikanischer Tradition entgegenzusetzen (dazu unten Fn. 49), er äußerte sich aber nicht strikt ablehnend gegenüber naturrechtlich-metaphysischen Ansätzen seiner Zeit, auch nicht in: Neue Probleme der Rechtswissenschaft, in: Eine Feuerbach-Gedenkrede und drei Aufsätze aus dem wissenschaftlichen Nachlaß, 1952, S. 31 (32 f.). In diesem Sinne auch Guiliano Vassilli, Rad-

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setzliche Unrecht streifte er diese Debatte zwar, der Fokus war jedoch ein völlig anderer. Zwar stellte er fest, dass sich die Jurisprudenz „durch die grundsätzliche Überwindung des Positivismus […] gegen die Wiederkehr eines solchen Unrechtsstaates zu wappnen“ habe.19 Er vertiefte dies jedoch nicht. Mit der Formel wollte er keinen Beitrag zur Neufundierung des Rechtsdenkens für die Zukunft leisten, sondern eine Lösung anbieten für die Frage, wie ein praktikabler Umgang mit dem vergangenem Unrecht in der Gegenwart aussehen konnte. 20 Sein Anliegen war es, eine Leitlinie zu finden, die das Bedürfnis nach Bestrafung und die Garantie der Rechtssicherheit in eine angemessene, in gewisser Weise pragmatische Balance brachte. Seine Sorge galt dabei der Rechtssicherheit: „Gegenüber dem gesetzlichen Unrecht jener vergangenen zwölf Jahre müssen wir die Forderung der Gerechtigkeit mit einer möglichst geringen Einbuße an Rechtssicherheit zu verwirklichen suchen.“21

Die Formel war ein Kompromiss, dessen Gefahren Radbruch klar vor Augen hatte. Sie stellte für ihn eine Notlösung in Übergangszeiten dar, vorzuziehen waren andere Wege im Umgang mit gesetzlichem Unrecht: Er plädierte für ein Rückwirkungsgesetz, das den Rückgriff auf übergesetzliche Grundsätze überflüssig gemacht hätte, zumindest aber für eine klare Zuständigkeitsregelung für die Anwendung übergesetzlichen Rechts: „Nicht jeder Richter sollte auf eigene Faust Gesetze entwerfen dürfen, diese Aufgabe sollte vielmehr einem höheren Gericht oder der Gesetzgebung vorbehalten bleiben.“22

4. Anwendung der Formel: Lösung in Richtung der Rechtssicherheit Die Lösungen, die er für die von ihm diskutierten Fälle vorschlug, zeigen, dass es ihm ernst war um seine Warnung vor leichtfertigen Rückgriffen auf „übergesetzliches Recht“, ernster möglicherweise, als der reine Wortlaut der Formel ahnen lässt. In allen drei Fällen, mit denen er sich in seinem Text auseinander

bruchsche Formel und Strafrecht (ital. 2001), 2010, S. 24 ff. Radbruchs Metaphysikskepsis überbewertend Arthur Kaufmann, NJW 1995, 81–86; Joachim Rückert, in: Karl Acham u.a. (Hg.), Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste, 1998, S. 113 (130 f.). Unverträglich war Radbruchs Konzept des „übergesetzlichen Rechts“ und den zeitgenössischen Naturrechtslehren allerdings hinsichtlich des Werts, den er der Rechtsstaatlichkeit zumaß, sowie hinsichtlich seiner Orientierung auf individuelle Menschenrechte, so bereits Manfred Walther, in: Ralf Dreier/Wolfgang Sellert (Hg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, 1989, S. 323 (346 f.); Rückert, NJW 1995, 1251 (1257). Dazu auch Kapitel 6, S. 238, Fn. 45 sowie S. 311. 19  Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (107). 20  So bereits Joachim Rückert, in: Karl Acham u.a. (Hg.), Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste, 1998, S. 113 (130 f.). 21  Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (107). 22  Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (107).

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setzte, argumentierte er dicht am positiven Recht. 23 Er plädierte für eine restriktive Handhabung der von ihm selbst in die Welt gesetzten Formel. Im Scharfrichter-Fall hielt er eine Strafbarkeit schon deswegen nicht für gegeben, weil einem Scharfrichter traditionell nicht die Prüfung der zu vollstreckenden Urteile obliege.24 Was er für Juristen und auch für Soldaten nicht gelten ließ, galt demnach aus Radbruchs Sicht für Scharfrichter. Ihnen billigte er das Recht zu, die eigene Handlung als eine Handlung auf Befehl zu begreifen, die nicht hinterfragt werden musste. Nach Radbruchs eigener Terminologie muss dies als eine positivistische Lösung bezeichnet werden, hatte er Positivismus doch als ein Denken beschrieben, in welchem die Grundsätze „Befehl ist Befehl“ und „Gesetz ist Gesetz“ galten. 25 Auch für den Fall des Deserteurs schlug er eine Lösung vor, für die kein Rückgriff auf übergesetzliches Recht notwendig war: Aufgrund des Gesetzes über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Strafrechtspflege seien „die Schwierigkeiten […] gelöst.“ 26 Das Gesetz hatte auch passive Widerstandshandlungen wie das Desertieren rückwirkend für straffrei erklärt. Damit war die Tötung des Polizisten, der den Deserteur festnehmen wollte, eine rechtmäßige Notwehrhandlung und ebenfalls straffrei. Einzig bei der Lösung des Denunzianten-Falles hielt er eine Anwendung der Formel für denkbar. Der Denunziant war im konkreten Fall wegen Beihilfe zum Mord verurteilt worden. Voraussetzung hierfür war, dass sich die Richter des nationalsozialistischen Gerichts wegen Mordes strafbar gemacht hatten. Dies sei nur dann der Fall, wenn die Richter durch die Verurteilung gegen „das Gesetz, d.h. das Recht“27 verstoßen hätten, sprich, wenn zugleich Rechtsbeugung vorliege. Hier wendete Radbruch nun seine Formel an: Wenn die Verurteilung des Denunzierten durch das nationalsozialistische Gericht oder das verhängte Strafmaß „jeder Gerechtigkeit Hohn spreche“, sei objektiv Rechtsbeugung gegeben. 28 Er wendete hier also die Formel an, um dem Urteil des nationalsozialistischen Gerichts den Rechtscharakter abzusprechen und damit den Weg für eine Bestrafung von Verbrechen zu öffnen, die von der Justiz im Wege der Rechtsbeugung begangen worden waren. Aufgrund dieser Wirkung der Formel wird in der Literatur davon gesprochen, dass die Radbruchsche Formel zwei Funktionen gehabt habe: Sie delegitimiere nationalsozialistisches Recht (1.) und ermögliche zugleich die Bestrafung von NS-Verbrechen (2.). 29 Betrachtet man Radbruchs Argumentation in dem 23  So auch Giuliano Vasssalli, Radbruchsche Formel und Strafrecht (ital. 2001), 2010, S. 22 f. 24  Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (108). 25  Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (ebd.). 26  Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (107). 27  Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (108). 28  Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (108). 29  Joachim Perels, in: Das juristische Erbe des „Dritten Reiches“, 1999, S. 71 (78); Clea Laage, KJ 1989, 409 (410).

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einzigen Fall, in dem er die Formel angewandt wissen wollte, zeigt sich jedoch, dass ihr eine solch weit reichende Funktion gerade nicht zukam. Zwar begründete er im Denunzianten-Fall mittels der Formel, dass der objektive Tatbestand der Rechtsbeugung durch das nationalsozialistische Gericht erfüllt sei. Er koppelte diese Feststellung jedoch sogleich mit der Entlastung der Richter auf subjektiver Ebene. So schrieb er, kaum dass er den objektiven Tatbestand für erfüllt erklärt hatte: „Aber konnten Richter, die von dem herrschenden Positivismus soweit verbildet waren, daß sie ein anderes als das gesetzte Recht nicht kannten, bei der Anwendung positiver Gesetze den Vorsatz der Rechtsbeugung haben?“30

Radbruch verknüpfte hier seine Formel mit der Positivismusthese, welche in der Nachkriegsliteratur omnipräsent war. In vielen Schriften diente sie der Etablierung einer Deutung der jüngsten Vergangenheit, welche die Jurisprudenz gegenüber Gesetzgeber und Politik entlasten sollte. Zugleich wurde mit ihr erklärt, warum nun eine Besinnung auf Naturrecht notwendig sei. 31 In Radbruchs Argumentation zum Denunzianten-Fall kam ihr nun eine weitere Funktion zu: Sie diente ihm als klassisches strafrechtliches Argument. Mit seinem Rückgriff auf die Positivismusthese im Denunzianten-Fall formulierte er einen auf die nationalsozialistische Justiz zugeschnittenen in-dubio-pro-reoGrundsatz. Die mittels der Formel auf objektiver Ebene begründete Strafbarkeit nationalsozialistischer Richter stellte er auf subjektiver Ebene in Frage. Er löste den Fall damit trotz Anwendung übergesetzlichen Rechts in Richtung Rechtssicherheit auf. Die Botschaft war klar: Keine Bestrafung um den Preis erneuten Unrechts.32 „Wir sind vielmehr der Meinung, daß es nach zwölf Jahren Verleugnung der Rechtssicherheit mehr als je notwendig sei, sich durch ‚formaljuristische‘ Erwägungen gegen die Versuchungen zu wappnen, welche sich begreiflicherweise in jedem, der zwölf Jahre der Gefährdung und Bedrückung durchlebt hat, leicht ergeben können.“33 30 

Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (108). Hierzu ausführlich Kapitel 1. 32  In der Literatur zur Radbruchschen Formel werden zumeist die Formel und die Positivismusthese unabhängig von einander betrachtet, wobei der Formel Bedeutung auch für die heutige Rechtsphilosophie zugemessen und die Positivismusthese als zeitbedingter Irrtum abgetan wird, sehr ausgeprägt bei Frank Saliger, Radbruchsche Formel und Rechtsstaat, 1995, S. 5 f.; isolierte Betrachtungsweise auch bei Ralf Dreier, in: Herbert Haller u.a. (Hg.), Recht und Staat, 1997, S. 193 (213 f.); Monika Frommel, in: Fritjof Haft u.a. (Hg.), Strafgerechtigkeit, 1993, S. 81 (87 ff.). Eine solch partielle Rezeption führt jedoch zu einer Fehlinterpretation Radbruchs. Für Radbruch stellte die Formel weniger rechtsphilosophisches Bekenntnis dar, denn ein Mittel der Lösung praktischer juristischer Probleme. Der Denunzianten-Fall zeigt, dass sie gerade in dieser ihrer Kernfunktion mit der Positivismusthese eng verknüpft war. Die Notwendigkeit, gerade die Verknüpfung zu betrachten, ist zumindest angedeutet bei Horst Dreier, in: Heinz Mayer (Hg.) Staatsrecht in Theorie und Praxis, 1991, S. 117 (119). 33  Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (108). 31 

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Dies fügt sich in das Bild, dass bereits die Lösung der anderen beiden Fälle ergeben hat. Hatte Radbruch in beiden Fällen die Formel gar unangewendet gelassen und den Gerichten, die mit übergesetzlichem Recht argumentierten, dadurch gezeigt, dass es eine zu bevorzugende positivistische Lösung gebe, plädierte er nun dafür, auch bei Anwendung der Formel Straf- und Schuldausschließungsgründe nicht zu übersehen. Zugleich führte er mit der Koppelung von Formel und Positivismusthese eine besondere Konstruktion im Umgang mit Justizunrecht ein, mit Unrecht also, das von Richtern in Ausübung ihrer richterlichen Tätigkeit begangen worden war. Indem er die Formel auf den Denunziantenfall anwandte, verlangte er von Richtern, was er den Scharfrichtern gerade nicht zumuten wollte:34 dass sie positives Recht kritisch zu prüfen und gesetzliches Unrecht unangewendet zu lassen haben. Indem er Formel und Positivismusthese miteinander verband, stellte er die abstrakte Verantwortung von Richterinnen und Richtern angesichts gesetzlichen Unrechts fest, zog jedoch eine Grenze für die konkrete Bestrafung um der Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze willen.

5. Doch nur eine ethische Lösung Der Duktus, in dem Radbruch diese Gedanken formulierte, lässt vermuten, dass er mit seiner Lösung nicht glücklich war, sondern eine Strafbarkeit durchaus wünschte. Er sah jedoch keine Handhabe, denn, wie er schrieb, Richtern bliebe im Zweifel die Möglichkeit, sich auf Notstand zu berufen und damit einer Strafbarkeit zu entgehen. „Peinlich“ nannte Radbruch diesen Weg.35 Dies ist bemerkenswert. Denn „Peinlich“ ist allenfalls eine moralische, nicht jedoch eine juristische Kategorie. Letztlich kam es aus Radbruchs Sicht darauf an, ob Richter sich zu ihrer Schuld bekannten, wodurch sie die Strafe nicht nur akzeptieren, sondern überhaupt erst ermöglichen würden. Radbruchs Aufsatz ist in diesem Punkte als ein Appell an die richterliche Berufsethik zu lesen und als eine Aufforderung zur Buße. Solange es an einem Rückwirkungsgesetz fehlte, neigte Radbruch somit zu einer ethischen Lösung im Umgang mit gesetzlichem Unrecht. Thomas Osterkamp hat in seiner Exegese der Formel herausgearbeitet, dass Radbruch eine feine Unterscheidung genau in dieser Hinsicht bereits in der theoretischen Konzeption der Formel vornahm: Radbruch habe in den beiden Teilen der Formel – der Unerträglichkeits- und der Verleugnungsformel – zwei verschiedene Geltungslehren formuliert: War ein Gesetz in unerträglichem Maße ungerecht, sollte es als „unrichtiges Recht“ zwar juristisch, aber nicht moralisch verbindlich sein. Für den äußersten Fall, dass der Gesetzgeber Gerechtigkeit noch nicht 34  „Eine

Nachprüfung der Rechtmäßigkeit des Urteils liegt dem Scharfrichter nicht ob. Die Annahme seiner Unrechtmäßigkeit kann ihm also nicht schaden“, Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (108). 35  Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (108).

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einmal anstreben sollte, müsse allerdings auch die juristische Geltung aufgehoben werden.36 Tatsächlich wandte Radbruch diese Unterscheidung in seinem Aufsatz auf nationalsozialistische Gesetze an. Diese entbehrten „überhaupt der Rechtsnatur“, sie stellten vielmehr „nicht etwa nur unrichtiges Recht, sondern überhaupt kein Recht“ dar.37 Radbruch nahm die Differenzierung zwischen „unrichtigem Recht“ und „Nichtrecht“ also bewusst vor.38 Für eine solche Interpretation spricht zudem, dass Radbruch schon vor 1932 die Frage der moralischen Geltung von der der juristischen Geltung abtrennte, eine solche Differenzierung seinem Denken also nicht fernlag. Zwar ging er grundsätzlich von einer moralischen Gehorsamspflicht gegenüber Rechtsnormen aus, in seiner „Rechtsphilosophie“ von 1932 räumte er aber ein, dass gegenüber „Schandgesetzen“ diese Pflicht aufgehoben sei.39 Er sah die Entscheidung, ein solches Gesetz nicht zu befolgen, als individuelle Gewissensentscheidung an. Das Recht dazu räumte er allerdings in seiner damaligen Konzeption Richtern nicht ein. Diese müssten auch ungerechte Gesetze uneingeschränkt anwenden. Sich aus moralischen Gründen über die juristische Geltung von Normen hinwegzusetzen, gestand er erst nach 1945 auch Richtern zu.40 Das eigentlich Neue aber war, dass er nun auch der juristischen Geltung von Gesetzen für Fälle äußersten Unrechts eine Grenze setzte.41 Angesichts des Wortlauts der Formel als auch aufgrund der Entwicklungsgeschichte von Radbruchs Denken erscheint es durchaus überzeugend, dass er mit der Formel zwischen der Reichweite moralischer Verbindlichkeit und juristi36 

Thomas Osterkamp, Juristische Gerechtigkeit, 2004, S. 42 ff. Rechtscharakter fehle Gesetzen, durch welche „die nationalsozialistische Partei die Totalität des Staates für sich beanspruchte“, Gesetzen, „die Menschen als Untermenschen behandelten und ihnen Menschenrechte versagten“ sowie „Strafdrohungen, die ohne Rücksicht auf die unterschiedliche Schwere der Verbrechen […] Straftaten verschiedenster Schwere mit der gleichen Strafe, häufig mit der Todesstrafe, bedrohten“, Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (107). 38  Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (107). 39  Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), 2003, S. 85. 40  So auch Ralf Dreier, in: Herbert Haller u.a. (Hg.), Staat und Recht, 1997, S. 193 (203); Maja Bleckmann, Barrieren gegen den Unrechtsstaat?, 2003, S. 146. 41  Ob und in welcher Hinsicht 1945 im Werk Radbruchs einen Bruch markiert, ist eine Frage, die in der Rechtsphilosophie seit Jahrzehnten diskutiert wird. Während lange davon ausgegangen wurde, dass Radbruch vor 1945 überzeugter Positivist gewesen sei und sich erst unter dem Eindruck des NS von diesem abgewandt habe, wird in jüngerer Zeit davon ausgegangen, dass Radbruch schon vor 1933 eine Position zwischen Positivismus und Antipositivismus vertreten habe, vgl. z.B. Stanley Paulson, JZ 2008, 105–115; Ralf Dreier, in: Martin Avenarius u.a. (Hg.), Ars iuris, 2009, S. 147 (161 ff.). Für die zeitgenössische Diskussion spielte die Frage von Kontinuität und Bruch allerdings keine bedeutende Rolle. Radbruch wurde kaum vorgehalten, dass er vormals Positivist gewesen sei, und auch sein Bruch mit dem Positivismus wurde kaum als ‚Beweis‘ für die gelungene Überwindung gefeiert. Argumente ad personam gegenüber Radbruch finden sich in den Naturrechtsschriften insgesamt auffallend wenig. 37  Der

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scher Geltung differenzieren wollte. Das Verhältnis von moralischer und juristischer Geltung „gesetzlichen Unrechts“ blieb dennoch in seinem Aufsatz von 1946 insgesamt schillernd. In der Theorie hatte Radbruch mit der Formel ein Fenster für die Anwendung übergesetzlichen Rechts geöffnet. Die Mahnung an die Gerichte, um der Rechtssicherheit willen mit diesem Instrument äußerst vorsichtig umzugehen, war dabei schon in der theoretischen Konzeption eine doppelte: Zum einen sollte die Anwendung der Formel auf extreme Ausnahmefälle beschränkt sein. Sie sollte nur dort angewendet werden, wo ein ‚rechtliches Vakuum‘ herrschte und nicht bereits das herkömmliche positive Recht einen befriedigenden Umgang mit gesetzlichem Unrecht ermöglichte und wo nicht ein Rückwirkungsgesetz oder eine klare Kompetenzregelung dieses ‚Vakuum‘ ausfüllten. Zum anderen mahnte er mit der Verknüpfung von Formel und Positivismusthese an, die Rechtsstaatlichkeit der Verfahren, konkret die subjektive Tatseite und den Grundsatz in dubio pro reo, im Auge zu behalten. Schon in der theoretischen Konzeption drückt sich damit eine Ambivalenz gegenüber dem Rückgriff auf übergesetzliches Recht aus, die in ihrer vollen Dimension erst erkennbar wird, wenn man die Auseinandersetzung Radbruchs mit den Fällen, die er in seinem Aufsatz diskutiert, in den Blick nimmt. Er hatte mit der Formel die Grundlage für die Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen unter Rückgriff auf übergesetzliches Recht gelegt. Zugleich beurteilte er die Frage der Strafbarkeit in den Fällen, mit denen er sich in seinem Aufsatz auseinandersetzte, deutlich milder als die Gerichte.42 Dass er sich mit seinem Aufsatz auch gegen staatsanwaltliche Äußerungen wandte, die sich wie eine Vorwegnahme der eigenen Formel lesen, macht vollends deutlich, wie ambivalent seine Haltung gegenüber einer Praxis war, die zu einer Bestrafung kam, indem sie „gesetzlichem Unrecht“ die juristische Geltung versagte. So setzte er sich kritisch mit Äußerungen des sächsischen Generalstaatsanwalt J.U. Schroeder auseinander, den er mit den Worten zitierte: „Kein Richter kann sich auf ein Gesetz berufen, das nicht nur ungerecht, das verbrecherisch ist. Wir berufen uns auf die Menschenrechte, die über allen geschriebenen Satzungen stehen, auf das unentziehbare, unvordenkliche Recht, das verbrecherischen Befehlen unmenschlicher Tyrannen Geltung versagt.“43 Schroeder hatte Gesetze verbrecherischen Inhalts für Nicht-Recht erklärt und die Menschenrechte als Maßstab dafür herangezogen, ob das positive Recht angewendet werden dürfe oder nicht.44 Nicht anders Radbruch. Die Positionen fielen dort auseinander, wo es

42  Dies bezieht sich auf den Scharfrichterfall und den Denunziantenfall. Der Deserteurfall wurde von der zuständigen Staatsanwaltschaft eingestellt, womit Radbruch einverstanden war. 43  Zitiert bei Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (106). 44  Es handelt sich um Äußerungen, die J. U. Schroeder in der Täglichen Rundschau vom 14.3.1946 tätigte, zitiert bei Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (106).

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um die Frage ging, was die Folgen dieser Einsicht sein sollten: Radbruch favorisierte letztlich in der Praxis eine ethische, nicht eine juristische Lösung. In das Nachkriegswerk Radbruchs passt diese Ambivalenz. Radbruch entwickelte nach Ende des Krieges bis zu seinem Tode 1949 keine in sich geschlossene Rechtsphilosophie mehr.45 Die Akzente, die er im Spannungsfeld zwischen Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen und der Aufforderung zur Buße, Naturrecht, Kulturrecht und positivem Recht, Gerechtigkeit und Rechtssicherheit setzte, lassen sich nicht auf eine kohärente Formel bringen. Er hielt die Abwendung vom Positivismus für geboten,46 war aufgeschlossen gegenüber christlichen Naturrechtsbesinnungen47 wie auch der aufklärerischen Tradition der Menschenrechte48 und zeigte in Anknüpfung an seine freirechtlichen Wurzeln Sympathie für das englische Richterrechtssystem und dessen Lösung der Antinomie von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit.49 Die Vielfältigkeit der Akzente in Radbruchs Nachkriegsschriften lässt sich damit erklären, dass er diese je nach Kontext und Publikum variierte. Seinen Texten nach 1945 lag damit durchaus eine politische Diktion zugrunde. In dem Aufsatz über das gesetzliche Unrecht wird dies besonders deutlich: Radbruch intervenierte in eine Rechtspraxis, die ihm in der Anwendung übergesetzlichen Rechts zu weit ging.50 Er argumen45  In diesem Sinne auch die Interpretation bei Giuliano Vassilli, Radbruchsche Formel und Strafrecht (ital. 2001), 2010, S. 24 ff. Eine Interpretation, die nicht den Kontext der einzelnen Schriften und ihre Chronologie beachtet, geht daher fehl, so aber z.B. Arndt Künnecke, Auf der Suche nach dem Kern des Naturrechts, 2003, S. 84 ff. 46  Wiederholt etwa in Gustav Radbruch, Gesetz und Recht (1947), GRGA Bd. 3, 1999, S. 96 (ebd.); Vorschule der Rechtsphilosophie (1948), GRGA Bd. 3, 1999, S. 121 (226); Neue Probleme in der Rechtswissenschaft (1952), S. 31 (32 f.). 47  Dazu oben, Fn. 18. 48  Dies schlägt sich besonders in der individualistisch-liberalen Freiheitskonzeption nieder, die Radbruchs „übergesetzliches Recht“ ausfüllt, siehe dazu Kapitel 6, Fn. 45. 49  Gustav Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, 1946; ders., Neue Probleme der Rechtswissenschaft (1952), S. 31 (33 f.). Dieser Aspekt von Radbruchs Nachkriegsphilosophie wird in dem Versuch, sie in der Dichotomie von ‚Naturrecht‘ und ‚Positivismus‘ zu verorten, oft übersehen. Zu Recht wird sie hervorgehoben bei Arthur Kaufmann, NJW 1995, 81–86, der allerdings Radbruchs gesamte Nachkriegsphilosophie auf diesen Zugriff zulaufen sieht und damit dessen Offenheit gegenüber anderen Ansätzen, etwa den Naturrechtslehren, unterschätzt, dazu oben, Fn. 18. Zur Verbindung zwischen freirechtlicher Tradition und der Sympathie für das englische Rechtssystem auch Kapitel 6, S. 304 ff. 50  Möglicherweise machte er die Rechtssicherheit in diesem Aufsatz besonders stark, weil er größere politische Zusammenhänge im Blick hatte. Es fällt auf, dass er ausschließlich Fälle diskutierte, die in der Sowjetischen Besatzungszone verhandelt wurden. Dies lässt aus heutiger Sicht vermuten, dass er den Rechtsstaat und die Rechtssicherheit gerade deswegen so stark machte, weil er bereits befürchtete, dass diese in der sowjetischen Zone in Gefahr geraten würden. Ob er dies tatsächlich im Blick hatte, lässt sich nur mutmaßen. Als Radbruch seinen Aufsatz schrieb, war zumindest für die deutsche Gerichtsbarkeit in der Sowjetischen Zone noch nicht absehbar, wie sich die Verfolgungspraxis im Umgang mit nationalsozialistischen Verbrechen entwickeln würde. Obgleich mit Erlass des KRG Nr. 10 bereits ab Dezember 1945 die Möglichkeit bestand, die deutsche Justiz weitreichend für zuständig zu erklären, war die sowje-

I. Rückwirkende Strafverfolgung ohne Rückwirkungsgesetz?

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tierte für Rechtssicherheit und formal-rechtsstaatliche Verfahren, während er andernorts die Besinnung auf Naturrecht lobte. Diese Mischung machte Radbruch zu einer Randerscheinung der Naturrechtsbesinnung nach 1945. Mit der Betonung der Rechtssicherheit, des Werts der aufklärerischen Tradition der Menschenrechte, der Sympathie für eine kulturrechtliche Herleitung übergesetzlichen Rechts und für das englische Common Law stand er in der Jurisprudenz der Nachkriegszeit zwar nicht alleine. In die Naturrechtsdebatten fügte er sich damit jedoch nicht ein.51 Während seine Formel heute weithin als Inbegriff der Naturrechtsbesinnung der Nachkriegszeit wahrgenommen wird, war der Einfluss Radbruchs zu seiner Zeit begrenzt. Aufgenommen wurde sein Beitrag in erster Linie in den rechtspraktischen Diskussionen. Mit der Formel und mit der Wehrlosigkeitsthese hatte er Stichworte geliefert, die in den folgenden rechtspraktischen Diskussionen um rückwirkende Bestrafung wiederholt aufgegriffen werden sollten. Radbruch hatte beide für eine Situation entwickelt, in der es den Gerichten an einer gesetzlichen Regel für die Umwertung nationalsozialistischen Rechts in Unrecht fehlte. Ihm ging es darum, dem eigenmächtigen Rückgriff auf übergesetzliches Recht bei der Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen Einhalt zu gebieten. Er warnte eindringlich vor den Gefahren für die Rechtssicherheit, wenn um der Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen willen übergesetzliches Recht mobilisiert werde. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass er sich damit nicht gegen die rückwirkende Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen generell wandte. In aller Deutlichkeit befürwortete er ein Rückwirkungsgesetz. Die Stichworte „gesetzliches Unrecht“, „Rechtssicherheit“ und „durch den Positivismus wehrt­ ische Militärregierung in dieser Hinsicht zögerlich. Ähnlich wie in der amerikanischen Zone wurde dies fallweise entschieden. Für die vergleichsweise wenigen Fälle, die vor deutschen Gerichten landeten, gab es nur wenige Direktiven der durch die Militärregierung kontrollierten Deutschen Justizverwaltung (DJV). Die Anzahl der Verurteilungen durch die ostdeutsche Justiz war daher zumindest bis April 1947, als diese Politik mit dem SMAD-Befehl Nr. 201 geändert wurde, gering. Das KRG Nr. 10 und sein Verhältnis zum deutschen Strafrecht waren auch hier umstritten. Der Widerstand gegen die offizielle Linie der DJV schlug sich vor allem in Anwendung des deutschen StGBs statt des KRG Nr. 10 und des KRG Nr. 38 nieder sowie in milden Strafmaßentscheidungen. Inwiefern hierbei naturrechtliche Argumentationen gegen die rückwirkende Bestrafung eine Rolle gespielt haben, ist bislang nicht ausgewertet worden. Der Eindruck, dass in der sowjetischen Zone zu leichtfertig auch gegen das bestehende positive Recht verurteilt würde, muss daher – wenn er für Radbruch treibend gewesen sein sollte – eher von den Prozessen der sowjetischen Militärregierung selbst hergerührt haben: Bis August 1947 wurden vor den sowjetischen Militärtribunalen 17.175 Urteile auf der Grundlage des KRG Nr. 10 und des KRG Nr. 38 gefällt, siehe zum Ganzen Ruth-­ Kirstin Rössler, Justizpolitik in der SBZ/DDR 1945–1956, 2000, S. 122 ff.; Annette Weinke, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland, 2002; Günther Wieland, Naziverbrechen und deutsche Strafjustiz, 2004. 51 Zutreffend Joachim Rückert, NJW 1995, 1251 (1257).

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los gemachte Juristen“ sollten in den folgenden Diskussionen jedoch gerade auch denen in die Hände spielen, die sich gegen ein solches Gesetz wandten.

II. Kein rechtliches Vakuum: Diskussion um die Legitimität des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 Mit dem existierenden Rückwirkungsgesetz, dem Kontrollratsgesetz (KRG) Nr. 10 hatte Radbruch sich in seinem Aufsatz vom August 1946 nicht auseinander gesetzt. Er konzentrierte sich auf die Konstellationen, mit denen es deutsche Gerichte zu tun hatten. Das KRG Nr. 10 war für sie im August 1946 noch nicht anwendbar, ihnen fehlte es damit noch an einer positivrechtlichen Grundlage für eine Verurteilung nationalsozialistischer Verbrechen. Radbruch mahnte in dieser Situation um der Rechtssicherheit willen zur Vorsicht bei rückwirkenden Verurteilungen. Schon in der ersten Reaktion auf Radbruchs Aufsatz im Dezember 1946 weitete der Münchner Staatsrechtslehrer Willibalt Apelt die Kritik an rückwirkenden Verurteilungen aus. Apelt war Gegner des Nationalsozialismus, wie Radbruch war er 1933 entlassen worden.52 Die Stoßrichtung von Radbruchs Kritik veränderte er jedoch beträchtlich. Ihm ging es nunmehr um die Frage, ob eine rückwirkende Bestrafung von Justizunrecht überhaupt angezeigt sei, unabhängig davon, ob sie durch ein Rückwirkungsgesetz gedeckt war oder nicht. Wenn man Richter wegen Rechtsbeugung bestrafen wolle, weil sie gesetzliches Unrecht ungeprüft angewendet hatten, setzte dies Apelts Argumentation zufolge voraus, dass man ihnen ein Prüfungsrecht zugestand. Wolle man dieses einem höchsten Gericht in die Hände legen, wie Radbruch es vorgeschlagen hatte, so müsste „[a]uch der am Juristenstand der Vergangenheit geübte Tadel der positivistischen Verbildung und des hieraus resultierenden Mangels an Widerstandskraft […] gerechterweise dann auf die Richter der höchsten Gerichte, also des Reichsgerichts und des Volksgerichtshofs etwa, beschränkt werden.“53 Apelt machte sich Radbruchs Forderung, die Rechtssicherheit im Umgang mit nationalsozialistischem Unrecht zu achten, zu eigen, nutzte sie jedoch, um die rückwirkende Bestrafung von Richtern generell in Frage zu stellen und vorsorglich gegen ein mögliches Rückwirkungsgesetz zu argumentieren. Um die Frage, die Radbruch bewegt hatte, wie mit einem ‚rechtlichen Vakuum‘ juristisch umgegangen werden könne, ging es damit nun nicht mehr.

52 

Willibalt Apelt (1877–1965) war als Mitarbeiter Hugo Preuß’ an der Ausformulierung der Weimarer Verfassung beteiligt und war Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei in Sachsen. Von 1927 bis 1929 war er sächsischer Innenminister, DBE Bd. 1, 1995, S. 155. 53  Willibalt Apelt, Zum Kampf gegen den Rechtspositivismus, DRZ 1946, 174 (ebd.).

II. Kein rechtliches Vakuum

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Dies galt erst recht für die Diskussion um die rückwirkende Bestrafung, die im Herbst 1946 in der britischen Zone entbrannte. Im September 1946 ordnete die dortige Militärregierung an, dass das KRG Nr. 10 auch von deutschen Gerichten angewendet werden sollte. Damit waren deutsche Gerichte ermächtigt und verpflichtet, rückwirkend wegen nationalsozialistischer Verbrechen zu verurteilen. Hiergegen regte sich heftiger Widerstand in der Richterschaft,54 der sich zunächst in interner Kritik am KRG Nr. 10 niederschlug, bald aber auch die juristische Fachpresse erreichte. Zwischen Februar und April 1947 erschienen in den drei damals führenden juristischen Zeitschriften insgesamt sieben Artikel, in denen das Für und Wider dieses Gesetzes ausführlich diskutiert wurde. Die Süddeutsche Juristenzeitung widmete dem sogar ein Sonderheft.55 Eindeutig gegen das Kontrollratsgesetz sprach sich dabei der Celler Oberlandesgerichtspräsident Freiherr von Hodenberg aus. Während sich auf der anderen Seite der Präsident des Zentralen Justizamtes der britischen Zone Wilhelm Kiesselbach, der Senatspräsident am Kölner Oberlandesgericht August Wimmer und Gustav Radbruch für eine rückwirkende Strafbarkeit und uneingeschränkt für eine Anwendung des Kontrollratsgesetzes durch deutsche Gerichte eintraten, gab es auch einige Zwischenpositionen. So befürwortete Helmut Coing grundsätzlich die rückwirkende Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen auch für die Fälle, in denen die Taten durch naturrechtswidrige Befehle gedeckt waren. Für Richter machte er jedoch eine Ausnahme: Sie sollten straffrei bleiben, wenn sie entsprechend dem im Nationalsozialismus geltenden positiven Recht geurteilt hatten, auch wenn sie damit gegen Naturrecht verstießen. Mit dieser Differenzierung folgte Coing dem Kurs, die Radbruch in seinem Artikel vom August 1946 eingeschlagen hatte. Wenig später formulierte Oberlandesgerichtsrat Robert Figge eine im Ergebnis, nicht in der Argumentation, sehr ähnliche Position. Beide 54 Zu dieser internen Diskussion umfassend mit wertvollen Nachweisen aus Archiv­ quellen Martin Broszat, VfZ 29 (1981), 477 (519 ff.). Zeitgenössisch findet sich etwa auch bei ­August Wimmer, Die Bestrafung von Humanitätsverbrechen und der Grundsatz „nullum crimen sine lege“, SJZ 1947, Sp. 123 (125) der Hinweis, dass die Mehrheit der Juristen dem Gesetz kritisch gegenüberstehe und meine, es „nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren“ zu können. 55  In zeitlicher Reihenfolge: Helmut Coing, Die Frage der strafrechtlichen Haftung der Richter für die Anwendung naturrechtswidriger Gesetze, SJZ 1947, Sp. 61–64; Hodo ­Freiherr von Hodenberg, Zur Anwendung des Kontrollratgesetzes Nr. 10 durch deutsche Gerichte, SJZ 1947, Sp. 113–124; August Wimmer, Die Bestrafung von Humanitätsverbrechen und der Grundsatz „nullum crimen sine lege“, SJZ 1947, Sp. 123–132; Gustav Radbruch, Zur Diskussion über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, SJZ 1947, Sp. 131–136; ­Wilhelm ­K iesselbach, Zwei Probleme aus dem Gesetz Nr. 10 des Kontrollrats, MDR 1947, 2–6; Max Güde, Die Anwendung des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 durch die deutschen Gerichte, DRZ 1947, 111–118; Robert Figge, Die Verantwortung des Richters, SJZ 1947, Sp. 179–184. Ausführliche Darstellung der Positionen zur Rückwirkungsproblematik bei Susanne Jung, Die Rechtsprobleme der Nürnberger Prozesse, 1992, S. 150 ff.; Eckardt Buchholz-Schuster, Rechtsphilosophische Legitimation der Rechtspraxis nach Systemwechseln, 1998, S. 53 ff.

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Kapitel 2: Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität

trennten die Frage der Richterstrafbarkeit von der übrigen Rückwirkungsdiskussion ab und privilegierten Richter gegenüber anderen Angeklagten.56

1. Keine Naturrechtsdebatte: Übergesetzliches Recht in der Diskussion um das Kontrollratsgesetz Nr. 10 In den im Frühjahr 1947 veröffentlichten Aufsätzen argumentierten sowohl die Gegner als auch die Befürworter des KRG Nr. 10 unter Rückgriff auf übergesetzliche Grundsätze. Übergesetzliches Recht diente ihnen dabei nicht als Behelf angesichts fehlender gesetzlicher Regelungen. Es wurde vielmehr herangezogen, um das KRG Nr. 10 zu legitimieren oder zu delegitimieren. Obgleich die Diskussion unter Rückgriff auf übergesetzliches Recht geführt wurde, lassen sich weder die Positionen der Gegner noch die der Befürworter eindeutig als ‚naturrechtlich‘ oder ‚positivistisch‘ beschreiben. Beide Seiten stützten ihre Argumentationen sowohl auf geltendes Recht als auch auf übergesetzliche Grundsätze.57 Überdies ließen beide Seiten weitgehend offen, ob es sich bei diesen übergesetzlichen Grundsätzen um ein objektives, überzeitliches Naturrecht oder um ein Recht handelte, das in Tradition oder im Konsens der internationalen Gemeinschaft verankert war. Um Existenz und Begründung des Naturrechts ging es in dieser Diskussion nicht. Die Verschränkung positivistischer und übergesetzlicher Argumentationen wurde vorgegeben durch die Kritiker des KRG Nr. 10. Hodenberg, ihr Wortführer, kleidete seine Argumentation positivistisch ein, stützte sie aber zugleich wesentlich auf die ‚deutsche Rechtstradition‘. In einem historischen Abriss stellt er dar, dass das Rückwirkungsverbot seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland ein „tragender Grundsatz“ gewesen sei.58 Einzig der Nationalsozialismus sei von diesem Grundsatz abgewichen, indem er mit § 2 RStBG (1935) die analoge Anwendung von Strafgesetzen erlaubt und es damit ermöglicht habe, dass die Strafbarkeit begründet werde, nachdem die Tat begangen worden war. Dies „sollte bei jedem, der die damaligen Zeiten und ihre Folgen miterlebt hat, besonders ernste Bedenken dagegen hervorrufen, jetzt mit ähnlicher Begründung einen Rückfall in damals vorgenommene Maßnahmen zu

56 

So auch Eckhardt Buchholz-Schuster, ebd., S. 83. Ausnahme stellt die Argumentation des OLG Hamburg dar, Urteil v. 18.6.1947, SJZ 1948, Sp. 35–39, welches auf rein positivrechtlicher Grundlage die Verbindlichkeit des KRG Nr. 10 begründet. In seiner im Ergebnis zustimmenden Besprechung kritisiert der Celler Oberlandgerichtsrat Gerhard Erdsiek das Urteil eben hierfür scharf: „Die hier in so apodiktischer Form ausgesprochene überraschende Rückwendung zu einem bereits als überwunden betrachteten Gesetzespositivismus […] kann nicht anders als alarmierend wirken.“, ebd. Sp. 40. 58  Hodo Freiherr von Hodenberg, SJZ 1947, Sp. 113 (118). 57  Eine

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rechtfertigen.“59 Er warnte vor Rückfällen „in eine seit 150 Jahren überwundene Handhabung strafrechtlicher Willkür.“60 Versuche, rückwirkende Strafbarkeit nach 1945 zu begründen, rückte er in die Nähe nationalsozialistischer Strafrechtspraxis und wandte sich entschieden gegen sie.61 Die Tradition des deutschen Rechts, welche die rückwirkende Bestrafung verbot und auf die er seine Kritik am KRG Nr. 10 wesentlich stützte, verfestigte sich in seiner Argumentation dabei ihrerseits zu einem übergesetzlichen Grundsatz. Er knüpfte an die Radbruchsche Formel an und leitete aus ihr – wohl nicht ganz ohne Häme – ab, dass Richter die Anwendung rückwirkender Gesetze verweigern würden, würden sie die Lehren aus dem Nationalsozialismus ernst nehmen. „Das ganze Bemühen in der Erziehung eines neuen, innerlich gefestigten deutschen Richterstandes ist seit der Umwälzung dahin gegangen, den Richter davon zu überzeugen, daß er sein altes Ansehen nur wiedererlangen kann, wenn er ausschließlich nach seiner richterlichen Überzeugung handelt und sich keinerlei politischem oder sonstigen Druck fügt, der gegen sein Gewissen ist. Wenn dieser Appell an den Richter des neuen deutschen demokratischen Staates Erfolg gehabt hat, wird er diesen Konflikt ernst nehmen, und es ist damit zu rechnen, daß er daraus die Folgerung ziehen wird, die Anwendung rückwirkender Strafgesetze abzulehnen.“62

Hodenberg konstatierte ein moralisches Recht oder gar eine moralische Pflicht der Richter, Rückwirkungsgesetze unangewendet zu lassen und warnte eindringlich vor der Zerreißprobe, die dies für Richter bedeute, die die Gesetzesbindung ernst nahmen. Eine Erschütterung des Rechtsbewusstseins sei „in allen Fällen unvermeidbar, in denen der Richter gezwungen wird, formale Gesetze anzuwenden, die mit seinem inneren Rechtsempfinden nicht übereinstimmen. Dadurch würde seine eigene Selbstachtung genau so wie in der nationalsozialistischen Zeit erschüttert werden, er würde die innere Sicherheit verlieren müssen, deren er zur Ausübung seines richterlichen Amtes bedarf.“63

Der tragische Gestus dieser Beschreibung der richterlichen Gewissensnöte bei der Anwendung des KRG Nr. 10 lebte davon, dass Hodenberg sich positivistisch präsentierte. Eines seiner Kernargumente lautete, dass das KRG Nr. 10 dem KRG Nr. 1 widerspreche, welches das Rückwirkungsverbot 1945 wieder in Kraft gesetzt hatte. Auch die Besatzungsmacht sei an ihre eigenen Gesetze gebunden, das KRG Nr. 10 damit nichtig.64 Im Übrigen konstatierte er zwar, dass rückwirkende Strafverfolgung moralisch verwerflich sei, die Folgen hieraus ließ 59 

Hodo Freiherr von Hodenberg, ebd., Sp. 120, 121 f. Hodo Freiherr von Hodenberg, ebd., Sp. 121. 61  Hodo Freiherr von Hodenberg, ebd., Sp. 120. 62  Hodo Freiherr von Hodenberg, ebd., Sp. 122. 63  Hodo Freiherr von Hodenberg, ebd., Sp. 122. 64 Ähnlich Waldow, Naturrecht oder Rechtspositivismus?, MDR 1948, 338 (339). 60 

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Kapitel 2: Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität

er jedoch offen. Er konnte das KRG Nr. 10 auf diese Weise in die Nähe gesetzlichen Unrechts rücken, ohne seine positivistische Inszenierung durchbrechen zu müssen. Eine solche Inszenierung war wichtig für seine Argumentation, da er davon ausging, dass das nationalsozialistische Rechtsdenken im Kern naturrechtlich gewesen sei. Die bloß moralische Gegnerschaft zur positivrechtlich angeordneten rückwirkenden Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen erschien damit als konsequent antinazistische Haltung. Indem er das Rückwirkungsverbot mittels der ‚deutschen Rechtstradition‘ zu einem zwingenden Rechtsgrundsatz erhob, ohne dies am Maßstab des positiven geltenden Rechts zu begründen, griff auch er tatsächlich jedoch im Kern seiner Argumentation auf übergesetzliches Recht zurück. Diese außergesetzlichen Grundsätze setzten in seinem Rechtsverständnis zwar nicht die Bindungswirkung des positiven Gesetzes außer Kraft, er stilisierte sie jedoch zu einem immanenten Bestandteil des richterlichen Gewissens. Damit suggerierte er, dass sie eine Grenze zögen zwischen Recht und Unrecht, die gewichtiger war als die positivrechtliche Verbindlichkeit. Das KRG Nr. 10 war in seiner Argumentation ‚gesetzliches Unrecht‘. Das Landgericht Siegen, das die Argumentation Hodenbergs übernahm, lehnte die Anwendung des KRG Nr. 10 in einem Urteil im Mai 1947 ab und stellte fest, dass das Rückwirkungsverbot „schlechthin als ein ‚Naturrecht‘ zu bezeichnen“ sei.65 Radbruch und Wimmer argumentierten in dem Sonderheft der Süddeutschen Juristenzeitung im März 1947 gegen diese Position. Beide legitimierten das KRG Nr. 10 unter Rückgriff auf übergesetzliches Recht und mussten hierfür begründen, dass übergesetzliches Recht nicht nur eine Geltungsgrenze für gesetzliches Unrecht darstelle, sondern auch positiv Strafbarkeit begründen könne. Wimmer bediente sich dabei des Terminus ‚Naturrecht‘.66 Ihm zufolge kam dem Rückwirkungsverbot als solchem kein naturrechtlicher Wert zu. War die Tat ethisch verwerflich, sei eine rückwirkende Bestrafung durchaus naturrechtlich zu billigen.67 Ob sie auch geboten sei, müsse durch eine Abwägung mit dem Wert der Rechtssicherheit festgestellt werden. Es stehe dem Staat frei, das Rückwirkungsverbot gesetzlich festzuschreiben. Diese Freiheit des Staates aber war ihm zufolge eingeschränkt, wenn der Staat es dadurch verfehle, schwere Untaten zu bestrafen: „Genügt aber das anzuwendende Strafrecht diesen Voraussetzungen nicht, sei es wegen unvorhergesehener Entwicklung der Kriminalität, sei es wegen zeitweiligen Versagens des Staates selbst, so ist der Staat auf jenen gesetzlich festgelegten Grundsatz insoweit ethisch nicht verpflichtet, selbst wenn er in seiner Verfassung steht. Geht es um die Bestrafung

65 

LG Siegen, Beschluss v. 8.5.1947, MDR 1947, 203 (204). Dieses Urteil wurde vom OLG Hamm aufgehoben, Beschluss v. 21.6.1947, MDR 1947, 205. 66  August Wimmer, SJZ 1947, Sp. 123 (127). 67  August Wimmer, ebd.

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schwerer Untaten, deren Ahndung zu den verpflichtenden Aufgaben eines Rechtsstaates gehört, so besteht sogar eine ethische Verpflichtung, den Grundsatz zu durchbrechen, und die Taten rückwirkend strafbar zu machen.“68

Wimmer bezeichnete diese Verpflichtung des Staates zur rückwirkenden Bestrafung als „ethisch-naturrechtlich“.69 Ob es sich hierbei um eine moralische, politische oder rechtliche Verpflichtung handelte, blieb in seinem Text offen. Radbruch, der insgesamt sehr ähnlich argumentierte, war hier deutlicher und erklärte die Pflicht eindeutig zu einer rechtlichen: „Der Inhalt des angeblich zurückwirkenden Rechts“ habe in Fällen „schon vorher in freilich nicht positiv gefaßter Form gegolten“ und zwar „als Naturrecht, Vernunftrecht, kurzum übergesetzliches Recht.“ 70 Es handele in solchen Fällen gar nicht um eine echte Rückwirkung. Bereits im Januar 1947 hatte er in der Stuttgarter Rundschau über das KRG Nr. 10 geschrieben: „[D]as Gesetz formuliert hier nur, was schon vorher Recht war.“71 Die Nähe dieser Konstruktion zu der, der sich die Ankläger in den Nürnberger Prozessen bedient hatten, sticht ins Auge: Sie hatten argumentiert, dass der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit im „Recht zivilisierter Völker“72 verankert sei und damit bereits zum Zeitpunkt der Begehung der Tat gegolten habe.73 Besonders deutlich werden die Anleihen in dem Artikel des Staatsanwalts Max Güde, der die rückwirkende Bestrafung verteidigte, indem er schrieb: „[…] daß es sich im KRG 10 in entsprechender Weise um die von den zivilisierten Staaten anerkannten allgemeinen Strafgrundsätze handelt, die hier als Rechtsquelle aufgestellt werden. […] Dieses Recht gilt – quasi als natürliches Strafrecht –, weil und soweit es in den staatlichen Rechtsordnungen der zivilisierten Staaten positiviert ist.“74

Güdes Argumentation bewegte sich damit an der Schnittstelle von positivem Recht und Naturrecht. Das „gemeinmenschliche Recht“, wie Güde es nannte, war nicht metaphysisch, sondern historisch und im Wege der Rechtsvergleichung abgeleitet. Im Ergebnis verdichtete es sich aber zu einem das geltende 68 

August Wimmer, ebd., Sp. 128. August Wimmer, ebd., Sp. 127. 70  Gustav Radbruch, SJZ 1947, Sp. 131 (135). 71  Gustav Radbruch, Gesetz und Recht (1947), GRGA Bd. 3, 1990, S. 96 (ebd.). In einem Artikel im Herbst 1947 bekräftigte er dies abermals: „Unrecht ist nicht Unrecht, weil es verboten ist, sondern es wird verboten, weil es Unrecht ist“, SJZ 1947, Sp. 634. Zum deklaratorischen Charakter des KRG Nr. 10 in Radbruchs Konzeption bereits Knut Seidel, Rechtsphilosophische Aspekte der „Mauerschützenprozesse“, 1999, S. 275. 72  Kritisch zu dieser Formel unter Berücksichtigung ihres Bedeutungsgehaltes im Kontext zeitgenössischer US-amerikanischer Völkerrechtsdiskurse Christiane Wilke, in: Canadian Journal of Law and Society 24 (2009), 181–201. 73  Z.B. im Juristenprozess, siehe: Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10, Bd. 3, 1951, S. 22. 74  Max Güde, DRZ 1947, 111 (114). 69 

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Kapitel 2: Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität

Gesetzesrecht durchbrechenden Grundsatz und hatte damit übergesetzliche Qualität. Helmut Coing und Wilhelm Kiesselbach sahen die Legitimität rückwirkender Bestrafung in erster Linie durch die gesetzliche Regelung gegeben, nicht durch übergesetzliche Grundsätze. Coing bekannte sich zwar zum Naturrecht, wandte sich jedoch entschieden gegen die Vorstellung eines „natürlichen Strafrechts“. Naturrecht könne nur ein Widerstandsrecht, nicht auch eine Widerstandspflicht begründen. Das KRG Nr. 10 hatte für Coing einen konstitutiven, nicht bloß einen deklaratorischen Charakter. Auch Wilhelm Kiesselbach war zurückhaltend im Rückgriff auf übergesetzliches Recht, verteidigte aber dennoch entschieden die Legitimität der rückwirkenden Bestrafung. Er war 1945 von der britischen Besatzungsbehörde als Präsident des hamburgischen Oberlandesgerichtes eingesetzt worden und spielte eine zentrale Rolle beim Wiederaufbau der Justiz in der britischen Zone. In seinem Aufsatz stellte er klar, dass keinerlei Zweifel daran bestehen könnten, dass das KRG Nr. 10 als Besatzungsrecht positivrechtlich verbindlich sei. Naturrechtliche Argumente standen dem aus seiner Sicht nicht entgegen. Er ließ zwar offen, ob es ein Naturrecht gebe. Sicher war aus seiner Sicht aber jedenfalls, dass der Satz nulla poena sine lege nicht zwingend Teil eines solchen Naturrechts sei. Zwar bezeichnete er ihn als „Fundamentalsatz“ und als „Grundpfeiler“ einer modernen Rechtsordnung. Allerdings gebe es in der Geschichte keine Anhaltspunkte dafür, dass er „jemals aus sich heraus, also ohne verfassungsmäßige Verankerung die Kraft gehabt hätte, einem mit ihm als solchem in Widerspruch stehenden Gesetz die Gültigkeit zu versagen.“75 In seiner Verteidigung rückwirkender Bestrafung zog er Radbruch als Beistand heran: Dieser habe den Wert der Rechtssicherheit zu recht betont, hinter diese müssten „alle anderen Bedenken zurücktreten“.76 Nur in äußersten Fällen von Unrecht könne daher die Verbindlichkeit eines Gesetzes in Frage gestellt sein. Er erkannte die Radbruchsche Formel also als ein Korrektiv an und trat mit ihr den Versuchen entgegen, rückwirkende Strafbarkeit als gesetzliches Unrecht ihrerseits für unzulässig zu erklären.77 Die Verbindlichkeit des KRG Nr. 10 werde durch die Formel nicht in Frage gestellt, da es sich bei diesem jedenfalls nicht um extremes Unrecht handele. Wie auch Radbruch und Güde78 sah er das KRG Nr. 10 dabei weniger als ein Rückwirkungsgesetz, denn als eine 75 

Wilhelm Kiesselbach, MDR 1947, 2 (3). Wilhelm Kiesselbach, MDR 1947, 2 (ebd.). 77  Wilhelm Kiesselbach, MDR 1947, 2 (3, 4 f.); anders Martin Broszat, VfZ 29 (1981), 477 (524), der Kiesselbachs Text als Aufruf zum „puren Gehorsam gegen über den ‚Gesetzesbefehlen‘“ interpretiert und daher zu dem Ergebnis kommt, er hätte der Diskussion keinen guten Dienst erwiesen, da er als „willfähriges Hilfsorgan der Besatzungsmacht“ wahrgenommen werden musste. 78  Gustav Radbruch, SJZ 1947, Sp. 131 (133); Max Güde, DRZ 1947, 111 (113). 76 

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Ermächtigung für die Gerichte an, ein Richterrecht zur Strafbarkeit nationalsozialistischer Verbrechen herauszubilden.79 Die Existenz oder Nichtexistenz übergesetzlichen Rechts spielte für Kiesselbachs Argumentation keine bedeutende Rolle. Er beschäftigte sich mit übergesetzlichem Recht nur soweit dies nötig war, um Angriffe abzuwehren. Seine eigene Position war für ihn bereits durch die gegebene positive Rechtslage begründet. Dass er das Kontrollratsgesetz anhand der Radbruchschen Formel auf seine Verbindlichkeit hin prüfte, kann als Versuch gelesen werden, die Argumentation der Kritiker aufzunehmen und systematisch zu widerlegen, um sie von der eigenen Position zu überzeugen. Der Historiker Martin Broszat hat herausgearbeitet, dass der Artikel Kiesselbachs in Reaktion auf die zunächst intern vorgetragene Kritik der OLG-Präsidenten am KRG Nr. 10 entstanden war.80 Hodenberg hatte diese Kritik angeführt und seine Argumente bereits im Oktober 1946 in einem Rundschreiben an die übrigen OLG-Präsidenten vorgetragen.81 Kiesselbach konnte gezielt auf die Argumente der Gegner des Gesetzes reagieren. Er verteilte seinen Artikel zunächst intern an den Gerichten, bevor er ihn im April 1947 veröffentlichte.82 Er war als Handreichung für Richter konzipiert und verfolgte das Ziel, diese von der Notwendigkeit zu überzeugen, das Kontrollratsgesetz anzuwenden.83 Schaut man sich die Argumentationsweisen dieser Autoren und ihre Positionen zur Rückwirkung an, so wird deutlich, dass es in der damaligen Diskussion keinen zwingenden Zusammenhang zwischen beiden gab: Eine naturrecht­liche Argumentation führte nicht automatisch dazu, das KRG Nr. 10 zu bejahen, ebenso wenig wie eine positivistische Position seine Ablehnung bedeutete. Bei vielen Autoren finden sich vielmehr Elemente beider Argumentationsweisen: so bei Kiesselbach und Hodenberg, die aus unterschiedlichen Positionen heraus positivistisch argumentierten, aber naturrechtliche Elemente einbezogen, bei Radbruch und Güde, die das Kontrollratsgesetz mittels eines Naturrechts legitimieren, das seine Wurzeln im positiven Recht hat, und bei Coing, der die Frage der Rückwirkungsstrafbarkeit trotz grundsätzlicher Bejahung einer naturrechtlichen Ordnung dem Gesetzgeber überlässt. Auch die zeitgenössische Wahrnehmung spiegelt wider, dass die Lager alles andere als deutlich identifizierbar waren: Wimmer beschimpfte die KRG-Gegner als Positivisten. Hoden79 

Wilhelm Kiesselbach, MDR 1947, 2 (5). Martin Broszat, VfZ 29 (1981), 477 (521; 527); so auch Clea Laage, KJ 1989, 409 (427). Bestätigt wird dies durch zeitgenössische Einschätzungen: Max Güde, DRZ 1947, 111 (ebd.); August Wimmer, SJZ 1947, 123 (125). 81  Quellennachweis und teilweise Wiedergabe des Wortlautes bei Martin Broszat, VfZ 29 (1981), 477 (520). 82  Martin Broszat, VfZ 29 (1981), 477 (523). 83  Neben der Frage, ob das Gesetz überhaupt anzuwenden sei, bargen die sehr offen formulierten Tatbestände Unsicherheitsquellen. Darauf weisen neben Wilhelm Kiesselbach auch Gustav Radbruch, SJZ 1947, Sp. 131 (132 f.) und Max Güde, DRZ 1947, 111 (ebd.) hin. 80 

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Kapitel 2: Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität

berg hingegen kam gegen das positivrechtliche Argument der Verbindlichkeit des Kontrollratsgesetzes als Besatzungsrecht kaum an und benötigte trotz aller Skepsis, die er dem Naturrecht entgegenbrachte, letztlich doch nicht nur außer-, sondern auch übergesetzliche Argumentationsfiguren, um dem Kontrollratsgesetz die Legitimation zu entziehen. Hieran zeigt sich, dass beide Argumentationsweisen in der damaligen Debatte als gültig anerkannt wurden und dass somit tatsächlich die Sachfrage im Mittelpunkt stand: Die Autoren rangen um überzeugende Argumentationen für die eigene Position zur Rückwirkungsstrafbarkeit, nicht um die Existenz oder Nicht-Existenz einer übergesetzlichen Ordnung und ihrer rechtstheoretischen Implikationen.

2. Anerkennung und Verengung der rückwirkenden Strafverfolgung Zu diesem Befund passt, dass sich die Diskussion um rückwirkende Bestrafung keineswegs nur solcher Argumente bediente, welche die grundsätzliche Frage von Naturrecht oder Positivismus berührten. Schon in der ersten Diskussionsphase im Frühjahr 1947 ist dies festzustellen. So wurde von den Befürwortern der rückwirkenden Strafbarkeit, insbesondere von Radbruch, ihre Notwendigkeit nicht nur naturrechtlich, sondern vor allem auch damit begründet, dass das Kontrollratsgesetz der Tradition des Common Law folge. Dieses kenne naturgemäß kein so strenges Rückwirkungsverbot, wie das kontinentale Recht.84 Radbruch, Wimmer, Güde und Kiesselbach wiesen zudem darauf hin, dass im Nationalsozialismus Unrecht von bisher ungekannten Ausmaßen begangen worden sei und dass das herkömmliche Strafrecht mit seinem strengen Rückwirkungsverbot hier keine angemessenen Lösungen böte.85 Dieses Argument sollte später von Hannah Arendt stark gemacht werden.86 Coing und Hoden84  Gustav Radbruch, SJZ 1947, Sp. 131 (135); Wilhelm Kiesselbach, MDR 1947, 2 (4); August Wimmer, SJZ 1947, Sp. 123 (125). 85  Gustav Radbruch, SJZ 1947, Sp. 131 (136); August Wimmer, SJZ 1947, Sp. 123 (129 f.); Max Güde, DRZ 1947, 111 (114); Wilhelm Kiesselbach, MDR 1947, 2 (4). 86  Grundlegend skeptisch gegenüber der strafrechtlichen Verfolgung nationalsozialistischer Verbrechen äußerte sie sich in einem Brief an Karl Jaspers vom 17.8.1946 angesichts dessen, dass der Holocaust eine Verbrechensdimension eröffnet habe, welche die Menschheit bis dahin nicht gekannt habe: „Diese Verbrechen lassen sich, scheint mir, juristisch nicht mehr fassen, und das macht gerade ihre Ungeheuerlichkeit aus. Für diese Verbrechen gibt es keine angemessene Strafe mehr; Göring zu hängen ist zwar notwendig, aber völlig inadäquat. Das heißt, diese Schuld, im Gegensatz zu aller kriminellen Schuld, übersteigt und zerbricht alle Rechtsordnung. Das ist auch der Grund, warum die Nazis in Nürnberg so vergnügt sind; sie wissen das natürlich“, Abdruck in: Hannah Arendt – Karl Jaspers. Briefwechsel 1926– 1969, hrsg. v. Lotte Köhler/Hans Saner, 1985, S. 90. Später betonte sie die Notwendigkeit der Bestrafung und hielt eine rückwirkende Bestrafung für unvermeidbar, weil erst ein dem neuen Typ des Verbrechens angemessener Beurteilungsmaßstab geschaffen werden müsse: „[W]enn ein bis dahin unbekanntes Verbrechen wie Völkermord geschieht, verlangt gerade die Gerechtigkeit ein Urteil, das einem neuen Gesetz folgt“, Hannah Arendt, Eichmann in

II. Kein rechtliches Vakuum

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berg hingegen wiesen statt auf die Common-Law-Tradition auf die deutsche Rechtstradition hin. Sie verwiesen auf die Erfahrung des Nationalsozialismus mit seiner willkürlichen Justizpraxis und mahnten an, wie wichtig das Rückwirkungsverbot sei. Auf beiden Seiten finden sich außerdem Versuche, das ‚Volk‘ Pate für die eigene Argumentation stehen zu lassen: Während beispielsweise Kiesselbach betonte, dass es dem Volk nicht vermittelbar sei, wenn die Verbrechen aufgrund des Rückwirkungsverbotes ungesühnt blieben,87 war Hodenberg der Überzeugung, dass das Volk nicht der erneuten Rechtsunsicherheit ausgesetzt werden wolle, die durch rückwirkende Bestrafung entstehe.88 Auch wenn eine solche Dichte an Veröffentlichungen wie im Frühjahr 1947 in der Folgezeit nicht mehr erreicht wurde, blieb die Diskussion um das Kontrollratsgesetz Nr. 10 bis 1949 in den juristischen Zeitschriften präsent. Mit Fortgang der Diskussion veränderte sich ihr Charakter allerdings: Die Rückwirkungsfrage stellte schon bald nicht mehr den Schwerpunkt dar, obgleich sie bis zuletzt in den meisten Artikeln erwähnt und kurz besprochen wurde.89 Völlig neue Argumente kamen dabei nicht hinzu. Im Gegenteil: Es lässt sich eine Verengung der Diskussion auf das Argument beobachten, dass die Tatbestände des KRG Nr. 10 lediglich auf das „Recht der zivilisierten Völker“ zurückgriffen und damit keine echte Rückwirkung gegeben sei.90 Über die Frage der Rückwirkung hinaus gerieten nun vor allem Fragen in den Blick, die sich bei der rechtspraktischen Anwendung stellten. Das Verhältnis von ­Jerusalem (engl. 1964), 2005, S. 374. Zu Arendts Konzeption des Urteilens angesichts des Holo­causts: Leora Bilsky, in: History and Memory, Bd. 8, Heft 2 (1996), S. 137–173. 87  Wilhelm Kiesselbach, MDR 1947, 2 (4). 88  Hodo Freiherr von Hodenberg, SJZ 1947, Sp. 113 (123). Zur Argumentation mit dem Volk in justizpolitischen Diskussionen der Nachkriegszeit bis in die 1950er Jahre Kapitel 6, S. 304 ff. 89  Meyer, Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 in der Praxis der deutschen Strafgerichte, MDR 1947, 110 (112); Richard Lange, Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 in Theorie und Praxis, DRZ 1948, 155 (155 ff.); ders., Zum Denunziantenproblem, SJZ 1948, Sp. 302 (303); ders., Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit, SJZ 1948, Sp. 655 (656); Hellmuth von Weber, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, MDR 1949, 261 (262 f.). Die Rückwirkungsfrage als Schwerpunkt behandeln Georg Strucksberg, Zur Anwendung des Kontrollratsgesetz Nr. 10, DRZ 1947, 277–280; R. H. Graveson, Der Grundsatz „nulla poena sine lege“ und Kontrollratsgesetz Nr. 10, MDR 1947, 278– 281. Die Einschätzung, dass die Diskussion um das KRG Nr. 10 in zwei Phasen unterteilt werden muss, findet sich bereits bei Martin Broszat, VfZ 19 (1981), 477 (518). Die erste Phase sei von Konfrontation zwischen den Gegnern der rückwirkenden Bestrafung mit der Besatzungsmacht gekennzeichnet. In der zweiten Phase hätten die Widerstände gegen das Gesetz auf deutscher Seite merklich nachgelassen, zugleich sei aber das Interesse der britischen Besatzungsmacht an stringenter Strafverfolgung zurückgegangen. 90 So [Anton] Henneka, Anm. zu OLG Dresden, Urt. v. 21.3.1947, SJZ 1947, Sp. 522 (ebd.); LG Konstanz, Urt. v. 28. 2.1947 (Tillessen-Fall), SJZ 1947, Sp. 338 (341) mit zustimmender Anmerkung von Gustav Radbruch Sp. 343 ff.; Richard Lange, SJZ 1948, Sp. 302 ff.; Hellmuth von Weber, MDR 1949, 261 (262 f.); in diese Richtung auch die Diskussion auf der Konstanzer Juristentagung, vgl. Tagungsbericht in: DRZ 1947, 231 ff.

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Kapitel 2: Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität

deutschem Strafrecht und dem Kontrollratsgesetz wurde vielfach diskutiert,91 ebenso wie die Frage der Anwendung der Regelungen aus dem Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Fragen von Vorsatz, Teilnahme, Rechtfertigung und Schuld rückten nun in den Mittelpunkt. Bei alldem spielten durchaus Grundsatzfragen eine Rolle. Insbesondere die Diskussion um Konkurrenzen und um die genaue Bestimmung von Tatbestand und Entschuldigungsgründen bildete eine Arena, in der um den Wirkungsradius des Kontrollratsgesetzes gestritten wurde.92 Kritiker des Gesetzes drängten nun auf eine möglichst enge Handhabung,93 was nicht unwidersprochen blieb.94 In ihrer Rechtsprechungsanalyse zum KRG Nr. 10 weist Clea Laage darauf hin, dass sich diese dogmatischen Einschränkungen des Anwendungsbereichs des Kontrollratsgesetzes höchst praktisch auswirkten: Ab etwa 1950 schlugen sie sich in einer deutlich verminderten Verurteilungsquote nieder.95 Laage führt dies darauf zurück, dass der Oberste Gerichtshof der britischen Zone, der bis dahin maßgeblich die Rechtsprechung der Untergerichte beeinflusst hatte, das KRG Nr. 10 zunehmend vermieden habe. Der BGH habe ab Oktober 1950 diese Tendenz aufgegriffen und Revisionen zum KRG Nr. 10 gar nicht erst angenommen.96

III. Entlastung vor Gericht: Rezeption der Wehrlosigkeitsthese Eine Möglichkeit der Einschränkung der rückwirkenden Strafbarkeit bot auch die sogenannte Wehrlosigkeitsthese, wie Radbruch sie in seinem Aufsatz vom August 1946 in die Diskussion eingeführt hatte. Radbruch hatte gefragt, ob Juristen, die durch den Positivismus „verbildet“ seinen, überhaupt die Nichtigkeit des gesetzlichen Unrechts hätten erkennen können. Er hatte damit angemahnt, dass bei der rückwirkenden Strafverfolgung im Einzelfall genau geprüft werden müsse, ob die Taten vorsätzlich begangen worden waren. Welche Karriere machte die Annahme, dass der Positivismus Juristen wehrlos gemacht habe, in

91  August Wimmer, Unmenschlichkeitsverbrechen und deutschrechtliche Straftat in einer Handlung, SJZ 1948, Sp. 253–258; Meyer, MDR 1947, 110–112; Richard Lange, DRZ 1948, 185 (192 f.). 92  Clea Laage, KJ 1989, 409 (423 ff.). 93  So bei Th. Klefisch, Die NS Denunziation in der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs für die britische Zone, MDR 1949, 324–329; Hans-Georg Meister, Die Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung, MDR 1947, 47–49; Hellmuth von Weber, MDR 1949, 261 (264 ff.). 94 Hier sind insbesondere zwei Beiträge Richard Langes hervorzuheben: SJZ 1948, Sp. 655–660; DRZ 1948, 185–193. 95  Clea Laage, KJ 1989, 409 (429 ff.). 96  Clea Laage, ebd., S. 432.

III. Entlastung vor Gericht: Rezeption der Wehrlosigkeitsthese

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der Folgezeit in einer Situation, in der die rückwirkende Strafbarkeit als solche so hart umkämpft war?

1. NS-Richter: Strafbar wegen Rechtsbeugung? Eine unmittelbare Rezeption der von Radbruch formulierten Wehrlosigkeitsthese findet sich vor allem in den Artikeln, die sich mit der Strafbarkeit von Richtern befassten, die das Recht gebeugt hatten. Es handelt sich hierbei im Wesentlichen um zwei Artikel von Helmut Coing und Robert Figge, die beide 1947 in der Süddeutschen Juristenzeitung erschienen.97 Sie wandten sich mit der Radbruchschen Wehrlosigkeitsthese gegen eine strafrechtliche Verfolgung von Richtern, die gesetzliches Unrecht angewendet hatten, unterschieden sich jedoch in Schärfe und Gewichtung. Coing sah die Strafbarkeit nicht als naturrechtlich gefordert an, hielt sie aber für eine mögliche politische Option. Er wandte sich damit gegen die Anwendung der Radbruchschen Formel auf Richter, die ‚gesetzliches Unrecht‘ angewandt hatten. Ihnen könne keine Rechtsbeugung vorgeworfen werden, solange ein rückwirkendes Gesetz nicht die Grundlage hierfür schaffe: „Das Naturrecht, das auf den sittlichen Werten der Gerechtigkeit, der Treue, der Zuverlässigkeit usw. beruht, gebietet wohl, bestimmten Gesetzen, die diesen Werten widersprechen, den Gehorsam zu verweigern, es gibt ein Recht zum Widerstand gegen sie; aber es fordert keine Bestrafung dessen, der diesem Gebot nicht gehorcht, von diesem Recht keinen Gebrauch macht. Die Bestrafung solchen naturrechtswidrigen Handelns bleibt stets eine Maßnahme menschlicher Zweckmäßigkeit im Interesse der Sittlichkeit des Rechts, ist aber selbst nicht zwingend sittlich geboten.“98

Gegen die politische Entscheidung, ein Rückwirkungsgesetz zu erlassen und Richter auf dieser Grundlage für die Anwendung ‚gesetzlichen Unrechts‘ zu verurteilen, wandte er ein, dass ein richterliches Prüfungsrecht „auch in der Zeit vor Hitler“ in Wissenschaft und Praxis „keineswegs anerkannt war“.99 Anders als Radbruch, der die Wehrlosigkeitsthese in den Raum gestellt hatte, ohne diese mit Wissen über die Jurisprudenz vor 1933 zu unterfüttern, verwies Coing auf die Kontroverse um das materielle Prüfungsrecht auf der Staatsrechtslehrertagung 1926: „Auch in der Wissenschaft war die Frage sehr umstritten, und ein derartiges Prüfungsrecht wurde überwiegend abgelehnt. […] Um so bedenklicher ist es, jetzt nicht nur ein Prüfungsrecht anzunehmen – ein Recht zur Prüfung vor dem Forum des Naturrechts –, sondern eine Prüfungspflicht und diese Pflicht unter Strafsanktion zu stellen.“100

 97 

Helmut Coing, SJZ 1947, Sp. 61–65; Robert Figge, SJZ 1947, Sp. 179–184. Helmut Coing, SJZ 1947, Sp. 61 (63).  99  Helmut Coing, ebd. 100  Helmut Coing, ebd. [Hervorhebung im Original].  98 

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Kapitel 2: Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität

Er kam zum selben Ergebnis wie Radbruch: „Der deutsche Richter wurde also, […], von der politischen Entwicklung gänzlich unvorbereitet getroffen; die Rechtstheorie gab ihm keine Waffen an die Hand, mit denen er sich wehren konnte.“101

In Coings Argumentation spielte die Wehrlosigkeitsthese jedoch eine völlig andere Rolle als bei Radbruch: Radbruch hatte mittels der Formel begründet, dass Richter, die ‚gesetzliches Unrecht‘ im Nationalsozialismus angewandt hatten, den objektiven Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllt hätten. Die Wehrlosigkeitsthese war für ihn ein Korrektiv auf subjektiver Ebene. Für Coing jedoch war schon der objektive Tatbestand der Rechtsbeugung nicht erfüllt, solange nicht ein Rückwirkungsgesetz die Strafbarkeit anordnete. Er gebrauchte die Wehrlosigkeitsthese als Argument gegen ein solches Rückwirkungsgesetz. Es handelte sich damit bei ihm um ein politisches, nicht um ein juristisches Argument. Er stellte damit die Legitimität der Bestrafung von Richtern viel grundsätzlicher in Frage, als Radbruch dies getan hatte. Weit schärfer noch wandte sich Robert Figge gegen die Bestrafung von Richtern, die ‚gesetzliches Unrecht‘ angewendet hatten. Er ließ offen, ob er den objektiven Tatbestand der Rechtsbeugung überhaupt als gegeben ansah, widmete sich aber dann umso ausführlicher der subjektiven Tatseite. Wo Radbruch die Frageform wählte und Coing Zwischentöne zuließ,102 lesen sich die Ausführungen Figges als pauschale Exkulpation des gesamten Berufsstandes. Nicht zuletzt die Hervorhebungen in seinem Text deuten auf ein tiefes Ungerechtigkeitsempfinden bezüglich der Strafbarkeit von Richtern, man könnte gar von Entrüstung sprechen: „Die Strafbarkeit des Richters setzt aber voraus, daß er wirklich bewußt das Recht verletzt hat. Das vorliegende, geschriebene, staatliche Recht wies aber den Richter ausdrücklich an, gerade das zu tun, was er getan hat. Wie konnte der Richter erkennen, daß er gleichwohl etwas unerlaubtes, ja sogar verbrecherisches getan hatte?“103

Das Naturrecht, aus dem sich die Radbruchsche Formel speise, entspringe zudem der Aufklärung, der er mit ihrem unklaren Humanitätsbegriff neben dem Positivismus die Mitschuld an der Wehrlosigkeit der Juristen gab: Die Wehrlosigkeit der Richter, die Figge hiermit behauptete war somit eine doppelte und 101 

Helmut Coing, ebd., Sp. 64. eine moralische Verurteilung stellte Helmut Coing nicht in Frage. Er stützte seine Ablehnung der rückwirkenden Bestrafung von Richtern auf die besondere Schwierigkeit, die es für Richter bedeutete, sich gegen das Gesetz zu stellen: „[W]er rechtswidrige Befehle verweigert, steht mit der positiven Rechtsordnung – und damit letzten Endes mit dem Schutz der Gemeinschaft – gegen einen Einzelnen, wenn auch vielleicht Mächtigen; der Richter, der sich im Namen des Naturrechts gegen das Gesetz auflehnt, steht als Einzelner gegen die politische Ordnung. Seine Tat wiegt schwerer; daher wiegt ihre Unterlassung leichter“, SJZ 1947, Sp. 61 (64) [Hervorhebungen im Original]. 103  Robert Figge, SJZ 1947, Sp. 179 (181) [Hervorhebungen im Original]. 102 Zumindest

III. Entlastung vor Gericht: Rezeption der Wehrlosigkeitsthese

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zugleich widersprüchliche: Richtern fehlte aufgrund des Positivismus jeglicher moralischer Maßstab, zugleich waren sie irregeleitet durch das aufgeklärte Naturrecht und ließen sich von der nationalsozialistischen Propaganda verleiten, die suggerierte, im Sinne der Humanität zu handeln. Zwar habe es beispielsweise mit dem Buch von Heinrich Rommen „Die ewige Wiederkehr des Naturrechts“ von 1936 die Möglichkeit gegeben, sich mit anderen Entwürfen auseinanderzusetzen.104 Doch – und hierum ging es ihm: „Die meisten Deutschen, auch die Mehrzahl der deutschen Richter, standen aber schon weltanschaulich diesen Dingen zu fern.“105 Im Gegensatz zu Radbruch und Coing nahm Figge eine deutliche Verschiebung vor und erweiterte damit die Wehrlosigkeitsthese erheblich: In seiner Version ging es nicht mehr nur um Richter, die dem Positivismus treu ergeben waren und sich verpflichtet gefühlt hatten, Entscheidungen zu treffen, die sie selbst moralisch ablehnten. Vielmehr rückte er einen Richter in den Fokus, der die moralische Richtigkeit seines Tuns nicht in Frage stellte oder sogar davon überzeugt war. Unabhängig von seiner Weltanschauung sollte die Strafbarkeit ausgeschlossen werden. Sie sollte eben gerade auch denjenigen umfassen, der ohne moralische Bedenken nationalsozialistisches Recht anwandte. Figge ging es nicht um eine individuelle Vorsatzprüfung, sondern um eine pauschale Entlastung von Richtern. In Verbindung mit dem ersten Teil seines Aufsatzes, in dem er historisch herleitete, dass Richter grundsätzlich verpflichtet seien, ihr Leben für die Gerechtigkeit zu riskieren,106 muss der Artikel als Versuch gelesen werden, den Richterstand zu rehabilitieren.

2. Schuldausschluss wegen „Wehrlosigkeit“ Die Wehrlosigkeitsthese war von Radbruch für den speziellen Fall der Strafbarkeit von Richtern entwickelt worden, die gesetzliches Unrecht angewandt und damit objektiv den Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllt hatten. Abgesehen von den beiden vorgestellten Artikeln wurde diese Frage in der juristischen Fachliteratur der späten 1940er Jahre kaum diskutiert. Auch die Nürnberger Juristenprozesse führten nicht dazu, dass das Thema verstärkt aufgegriffen wurde.107 In den wenigen Rechtsbeugungsfällen, die vor deutschen Gerichten verhandelt wurden,108 wurde die Konstruktion der Wehrlosigkeit letztlich nicht gebraucht.109 Der BGH forderte seit einem Urteil vom 104 Zu

Heinrich Rommen siehe Kapitel 3, S. 98 f. Robert Figge, SJZ 1947, Sp. 179 (184). 106  Robert Figge, SJZ 1947, Sp. 179 (179 ff.). 107  Joachim Perels, in: Das juristische Erbe des „Dritten Reiches“, 1999, S. 47 (64). 108 Wegen Rechtsbeugung im Nationalsozialismus wurden in der Nachkriegszeit 23 Richter in 15 Prozessen angeklagt, verurteilt wurden zwei, vgl. Kerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen, 2002, S. 298. 109  Monika Frommel, in: Fritjof Haft u.a. (Hg.), Strafgerechtigkeit, 1993, S. 81 (88). 105 

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Kapitel 2: Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität

7. Dezember 1956 dolus directus ersten Grades.110 Für eine Bestrafung wegen Rechtsbeugung reichte es damit nicht aus, dass ein Richter trotz bestehender Bedenken ein Unrechtsurteil gefällt hatte. Er musste nicht nur die Gründe für die Rechtwidrigkeit der Rechtsgrundlage gekannt haben, sondern tatsächlich davon ausgegangen sein, dass die Rechtsgrundlage nichtig sei. Dies war folgenreich: Ein Richter, der sich durch nationalsozialistische Gesetze, Befehle oder Rechtslehre gerechtfertigt sah, erfüllte nach dieser Rechtsprechung nicht den subjektiven Tatbestand der Rechtsbeugung und konnte damit nicht verurteilt werden.111 In anderen Bereichen, in denen der subjektive Tatbestand nicht so eng geführt wurde, wie im Falle der Rechtsbeugung, stellte sich die Frage, wie mit Verbotsirrtümern umzugehen sei. Das Reichsgericht hatte fehlendes Unrechtsbewusstsein nur in den Fällen als relevant angesehen, wo die Rechtswidrigkeit Teil des Tatbestandes war. Nach 1945 änderte sich diese Praxis. Die von Hans Welzel entwickelte Schuldtheorie112 setzte sich in der Rechtsprechung durch.113 Wem das Unrechtsbewusstsein fehlte, der handelte dieser Theorie zufolge nur dann vorsätzlich, wenn der Verbotsirrtum, in dem er sich befand, vermeidbar gewesen war.114 Welzel entwickelte seine Lehre maßgeblich am Beispiel der Strafbarkeit von Tötungshandlungen im Rahmen der Eutha­nasie im Nationalsozialismus und stellte die Schuld der Täter in den von ihm diskutierten Fällen in Frage.115 Die Rechtsprechungsanalyse von Kerstin Freudiger macht deutlich, dass die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums von den Gerichten weitgehend individuell geprüft wurde. Es fällt jedoch auf, dass die Gerichte bei der Beurteilung, ob das Unrechtsbewusstsein vermeidbar war oder nicht, Typisierungen vornahmen, die sich am Beruf der Angeklagten orientierten. Bei Beamten findet sich dabei eine der Wehrlosigkeitsthese verwandte Argumentation: So entlastete beispielsweise das LG Regensburg einen angeklagten Stapo-Mitarbeiter mit dem Argument, er sei als „subaltern denkender Beamter“ seinem Vorgesetzten „blind ergeben“ 110  BGHSt 10, 294 ff. Den Weg zu dieser Entscheidung beschreibt Dirk Quasten, Die Judikatur des Bundesgerichtshofs zur Rechtsbeugung im NS-Staat und in der DDR, 2003, S. 40 ff. 111  Ausführlich anhand konkreter Fälle: Kerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen, 2002, S. 383 ff. 112  Hans Welzel, Der Irrtum über die Rechtswidrigkeit des Handelns, SJZ 1948, Sp. 368–372. 113  Kerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen, 2002, S. 342. 114 Kritisch gegenüber dieser Theorie zeitgenössisch Gustav Radbruch, Anm. zu OLG Frankfurt a.M., Urt. v. 12.8.1947, SJZ 1947, Sp. 633 (634). Er argumentierte gegen die Schuldtheorie unter Rückgriff auf übergesetzliches Recht: Die Tat sei unabhängig vom konkreten gesetzlichen Verbot Unrecht, es komme daher für das Vorliegen des Vorsatzes nicht auf die Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums an. Welzel konterte, indem er die Schuldtheorie auf die scholastische Moraltheologie zurückführte, SJZ 1948, Sp. 368–372. 115  Herausgearbeitet von Kerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen, 2002, S. 340 ff.

IV. Die Justiz als Hüterin des Rechts?

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gewesen116 und das LG Weiden verneinte niedere Beweggründe eines Richters, der kriegsgerichtlich die Todesstrafe verhängt hatte, indem es feststellte, „dass hieraus gerade bei einem Beamten, der in der Pflichterfüllung gegenüber dem Staate groß geworden war, gemeinhin weniger der Sinn der Auflehnung gegen das Hitler-Regime, als vielmehr eine Gehorsamsbereitschaft […] erwuchs.“117 All diese Argumentationen stützten sich, anders als die Coings und Figges, nicht auf Radbruch. Die ursprüngliche Wehrlosigkeitsthese stellte keinen Bezugspunkt dar. Es zeigt sich an diesem kurzen Überblick über die Entwicklung der juristischen Argumentationen allerdings, dass das Muster, das Radbruch vorgegeben hatte, durchaus dem Geist der Zeit entsprach und zur Entlastung vor Gericht herangezogen wurde: Objektiv bejahte man die Strafbarkeit, um sie auf subjektiver Ebene wieder auszuschließen. Auf diese Weise diente die Delegitimierung des NS-Rechts, so es überhaupt als nichtig verworfen wurde,118 eher der rhetorischen Legitimierung des Rechts im Allgemeinen und damit der Selbstlegitimierung der Gerichte.119

IV. Die Justiz als Hüterin des Rechts? Positivismus und übergesetzliches Recht in der Diskussion um das materielle Prüfungsrecht Sollte im Sinne Radbruchs Recht nichtig sein, das gegen übergesetzliches Recht verstieß, so stellte sich für die Zukunft die Frage, ob und wie eine Überprüfung von Gesetzen institutionalisiert werden sollte. Radbruch, dem die Rechtssicherheit ein besonderes Anliegen war, hatte schon für die Vergangenheit die Ansicht vertreten, dass ein solches Prüfungs- und Verwerfungsrecht gesetzlich geregelt werden müsse und am besten in der Hand eines obersten Gerichts liege.120 Genau diesen Weg gingen die Landesverfassungen der westlichen Besatzungszonen aus den Jahren 1946/47: Sie alle sahen die Einrichtung eines Staats- oder Verfassungsgerichtshofs vor, dem Gesetze zur Prüfung in materieller wie auch in formeller Hinsicht vorgelegt werden konnten.121 Einige Verfassungen beton116  LG Regensburg, Urteil v. 27.7.1955, zitiert bei Kerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen, 2002, S. 365 ff., 374. 117  LG Weiden, Urteil v. 19.2.1948, zitiert bei Kerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen, 2002, S. 299 ff., 303. 118  Viele Gerichte umgingen dies, siehe Clea Laage, KJ 1989, 409 (416–423). 119  So auch Horst Dreier, in: Heinz Mayer (Hg.), Staatsrecht in Theorie und Praxis, 1991, S. 117 (132 f.). 120  Gustav Radbruch, SJZ 1946, 105 (107). 121 Art. 92 Würt-BadV (30.11.1946), Art. 131–133 HessV (1.12.1946), Art. 65 BayV (2.12.1946), Art. 65 Würt-HV (18.5.1947), Art. 135 R-PfalzV (18.5.1947), Art. 114 BadV (19.5.1947), Art. 142 BremV (21.10.1947). Zur Ausgestaltung in den Länderverfassungen der amerikanischen Zone im Detail: Walter Jellinek, in: Festschrift zu Ehren von Rudolf Laun, 1947, S. 269–274.

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Kapitel 2: Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität

ten dabei allerdings ausdrücklich, dass jedem Gericht die Prüfungskompetenz zukomme. Lediglich die Verwerfungskompetenz sollte beim Staatsgerichtshof monopolisiert werden.122 Als Prüfungsmaßstab sollte einzig die Verfassung herangezogen werden,123 wobei die Rheinland-Pfälzische124 und die Bremer Verfassung125 naturrechtliche Bezüge in den Verfassungstext aufgenommen hatten. Die Mehrheit der Juristen, die zu der Frage des materiellen Prüfungsrechts der Gerichte öffentlich Stellung nahmen, begrüßte eine Institutionalisierung dieses Rechts.126 Im Detail gab es jedoch erheblichen Diskussionsbedarf. Trotz der klaren Richtung, die in den frühen Landesverfassungen gewiesen wurde, riss die Diskussion nicht ab, ob das materielle Prüfungsrecht nur einem obersten Gerichtshof oder allen Gerichten zustehen solle und ob über die Verfassungsmäßigkeit hinaus auch die Vereinbarkeit mit überpositivem Recht geprüft werden dürfe. Insbesondere aus den Jahren 1947 bis 1949 finden sich hier einige Zeugnisse in den juristischen Zeitschriften und in den Materialien zu den seit 1946 regelmäßig stattfindenden Juristentagungen. Während sich der Deutsche Juristentag erst 1949 wieder gründete, 127 handelte es sich bei diesen Juristentagungen zwischen Kriegsende und Gründung der beiden deutschen Staaten um ein zunächst in einem kleinen Rahmen gehaltenes zonenübergreifendes Treffen von Justizangehörigen. 1946 und 1947 beteiligten sich noch Juristen aus der sowjetischen Besatzungszone, ab 1948 wurde das Treffen zu einer Veranstaltung westdeutscher Juristen sowie Vertretern der dazugehörigen Besatzungsmächte. Diskussionsgegenstand auf diesen Tagungen waren nicht nur die Rechtsentwicklung sowie die Möglichkeiten der zukünftigen Gestaltung des Rechtssystems. Regelmäßig hielten auch Angehörige der Besatzungsmächte Vorträge, die sich gezielt mit nationalsozialistischem Unrecht und dem Umgang mit diesem beschäftigten. So waren etwa die Nürnberger Prozesse oder die rückwirkende Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen Verhandlungsgegenstand auf diesen Juristentreffen. Die deutschen Teilnehmer sollten offenbar als Multiplikatoren angesprochen werden. Die Frage des materiellen Prüfungsrechts wurde auf diesen Juristentagungen mehrfach aufgegriffen. Bereits auf der Tagung in Bad Godesberg Anfang Oktober 1947 hielt Hellmuth von Weber, Professor für Strafrecht an der Universität 122 Art. 92 123 

BayV, Art. 92 I Würt-HV, Art. 114 I BadV. Darauf weist für die frühen Verfassungsentwürfe hin: Willibalt Apelt, DRZ 1946, 174

(ebd.). 124 Art. 1 III R-PfalzV. 125 Art. 1 BremV. 126 So Helmut Coing, SJZ 1947, Sp. 61 (ebd.); Walter G. Becker, Der richterliche Widerstand, SJZ 1947, Sp. 480–490; Hellmuth von Weber, Recht und Pflicht des Richters zur Prüfung der Gültigkeit des Strafgesetzes, in: Tagung deutscher Juristen, 1947, S. 163–183; Walter Mannzen, Die Bindung des Richters an Gesetz und Recht, SJZ 1948, Sp. 646–650. 127  Zu Auflösung und Wiedergründung des Deutschen Juristentages knapp Hermann Conrad, in: ders. u.a. (Hg.), Der Deutsche Juristentag 1860–1994, 1997, S. 9 (43 ff.).

IV. Die Justiz als Hüterin des Rechts?

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Bonn, einen Vortrag zu dieser Frage. Er wandte sich gegen ein weitreichendes richterliches Prüfungsrecht und plädierte dafür, nur die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit durch ein oberstes Gericht zuzulassen.128 Auf der folgenden Juristentagung, die im Juni 1948 in München stattfand, stand die Frage des materiellen Prüfungsrechts zwar nicht offiziell auf dem Programm. In den Diskussionen tauchte sie dennoch wieder auf und hinterließ offenbar Eindruck: In den beiden Tagungsberichten, die in der Fachpresse erschienen, wurde ihr jeweils ein eigener Absatz gewidmet.129 Weinkauff habe ein materielles Prüfungsrecht am Maßstab des Naturrechts für die einzelnen Gerichte gefordert, berichtete Walter Mallman in der DRZ.130 Ruscheweyh hingegen habe sich einschränkend zum Prüfungsrecht geäußert: Es könne der Justiz nur in Fällen zustehen, in denen Gesetzestreue „zu barem Unsinn führen würde“. Zuständig müsse zudem ein gesonderter Gerichtshof sein. Mallmann kommentierte diese Positionen in seinem Bericht nicht weiter, regte aber an, dieses Thema auf dem nächsten Juristentag wieder aufzugreifen. Generell in Frage gestellt wurde das materielle Prüfungsrecht nur von ganz wenigen.131 Die eingeschränkte Fassung, die Ruscheweyh und von Weber vertraten, markierte das Minimum dessen, auf das sich die an der Diskussion Beteiligten einigen konnten. Es wurde nach einer Balance zwischen der weitreichenden Zubilligung eines Prüfungsrechts und der völligen Ablehnung eines solchen gesucht. Das Hauptargument für die Beschränkung des Prüfungsrechts war die Gewaltenteilung: Mit einem umfassenden Prüfungsrecht würden sich die Gerichte über den Gesetzgeber stellen.132 Damit rückte das Verhältnis von Justiz und Gesetzgebung in den Mittelpunkt der Diskussion. Gleichzeitig entfernte sie sich vom Problem rückwirkender Bestrafung, an der sie sich entzündet hatte. 133 Das konkrete Rechtsproblem, ob und inwieweit Gerichten im Umgang mit nationalsozialistischem Unrecht das Recht zugestanden werden sollte, nationalsozialistischen Gesetzen die Geltung zu versagen, spielte in der Diskussion zwischen 1947 und 1949 um das materielle Prüfungsrecht kaum eine Rolle mehr.134 Stattdessen ging es nun um die Rolle, welche die Justiz in der neuen Gesellschaftsordnung spielen sollte.

128 

Hellmuth von Weber, in: Tagung deutscher Juristen Bad Godesberg, 1947, S. 163–183. Walter Mallmann, DRZ 1948, 247–249; Stoecker, MDR 1948, 206 f. 130  Walter Mallmann, DRZ 1948, 247 (249). Dort auch das folgende Zitat. 131  Ausdrücklich dagegen nur Willibalt Apelt, DRZ 1947, 174 (175); skeptisch auch Waldow, MDR 1948, 338 f. 132  So wird Ruscheweyhs Position referiert von Stoecker, MDR 1948, 206 (ebd.), der sich ihr anschließt. Ähnlich Mannzen, SJZ 1948 Sp. 646 (648); Waldow, MDR 1948, 338 f. 133  Diese Einschätzung bestätigen zeitgenössisch Ernst Kern, Die Grenzen der naturrechtlichen Rechtserneuerung in Justiz und Verwaltung, MDR 1949, 137 (138); Mannzen, SJZ 1947, Sp. 646 (ebd.). 134  Sie klingt noch an bei Waldow, MDR 1948, 338 f.; Stoecker, MDR 1948, 206 (207). 129 

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Kapitel 2: Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität

In dem Vortrag, den Hellmuth von Weber auf der Bad Godesberger Juristentagung 1947 gehalten hatte, klang dies deutlich an. Zugleich zeigt der Vortrag, welch zentrale Rolle die nationalsozialistische Vergangenheit auch in dieser Diskussion um die Ausgestaltung des Kompetenzgefüges zwischen Justiz und Gesetzgeber spielte. Von Weber begründete, dass der Justiz ein Prüfungsrecht zugestanden werden müsse, indem er die in der damaligen Literatur weit verbreitete Vorstellung mobilisierte, die auch Radbruch mit seiner Wehrlosigkeitsthese nahe gelegt hatte: dass das nationalsozialistische Unrecht primär vom Gesetzgeber ausgegangen sei, nicht von der Justiz.135 Er sprach davon, dass in dieser Zeit eine „Pervertierung des Rechtes durch den Gesetzgeber“136 stattgefunden habe und nahm eine deutliche Schuldzuweisung vor, die weg von der Justiz auf den Gesetzgeber wies. Es habe sich gezeigt, dass auf diesen im Zweifel kein Verlass sei: „Der Glaube an die Unfehlbarkeit des Parlaments, dieser Abglanz der Autorität des von Gott geoffenbarten Rechts, die man noch der in der Volksvertretung verkörperten volonté générale zuschrieb, ist dahin. Die Notwendigkeit einer Kontrolle des Parlamentes, die den Gesetzesabsolutismus beschränkt, wird allgemein gefühlt.“137

Der Glaube an die Unfehlbarkeit des Parlaments war also aus seiner Sicht spätestens durch die Erfahrung des Nationalsozialismus zerstört, nicht jedoch der Glaube an das Recht und die Gerichte. Obgleich von Weber selbst skeptisch gegenüber Naturrecht oder gar der Idee eines „göttlichen Rechts“ war, hinterließ das entzauberte Parlament eine klaffende Lücke, die geschlossen werden ­musste. Da nicht das Recht selbst korrumpiert war, sondern nur die Politik, galt es, die Entscheidung darüber, was als Recht anerkannt werden sollte, einer anderen Instanz in die Hände zu legen – einer Instanz, die an die Stelle eines unfehlbaren Parlaments treten konnte und die des Rechts sich vielleicht sogar würdiger erweisen würde. „Die Besorgnis, das vor staatlicher Willkür bewahrte Recht würde damit nur richterlicher Willkür ausgeliefert, hält ernsterer Nachprüfung nicht stand. Die Macht des Richters und die Gefahr ihres Missbrauchs bei der Ausübung des richterlichen Prüfungsrechts ist unendlich geringer als die Macht des Gesetzgebers“, schrieb der Celler Oberlandgerichtsrat Gerhard Erdsiek in ähnlicher Weise.138

135 

Hierzu ausführlich Kapitel 1, S. 25 ff. Hellmuth von Weber, in: Tagung deutscher Juristen Bad Godesberg, 1947, S. 163 (173); vergleichbare Äußerungen finden sich auch bei Hans Rotberg, Entpolitisierung der Rechtspflege, DRZ 1947, 107 (ebd.); Eberhard Schmidt, Unabhängigkeit der Rechtspflege, in: Tagung deutscher Juristen Bad Godesberg, 1947, S. 223 (231); Menzel, Verhandlungen des 37. Deutschen Juristentages, 1950, S. 18; Schwering, ebd., S. 22. 137  Hellmuth von Weber, in: Tagung deutscher Juristen, 1947, S. 163 (173). 138  Gerhard Erdsiek, Anm. zum Urteil des OLG Hamburg v. 18.6.1947, SJZ 1948, Sp. 39 (42) [Hervorhebung im Original]. 136 

IV. Die Justiz als Hüterin des Rechts?

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Den Argumentationen von Webers und Erdsieks lag letztlich die Positivismusthese und die mit ihr verbundene Schuldzuweisung an den Gesetzgeber zugrunde. Sie begründeten mit ihrer Hilfe, warum den Gerichten nun Autorität gegenüber dem Gesetzgeber zugestanden werden sollte. Auf der Godesberger Tagung blieben weder diese Deutung der Rolle der Justiz im Nationalsozialismus noch die Konsequenzen daraus unwidersprochen: Schon im Be­ grüßungswort erinnerte der Präsident des Zentral-Justizamts der britischen Zone, Wilhelm Kiesselbach, an die Schuld, die sich die Justiz im Nationalsozialismus aufgeladen habe.139 Vor allem aber aus der im Tagungsband veröffentlichten Zusammenfassung seines Schlusswortes wird deutlich, dass er die Darstellung von Webers, die durch dessen Nachredner Eberhard Schmidt unterstützt worden war,140 nicht unwidersprochen lassen wollte. Kiesselbach verglich in seinem Schlusswort die Justiz mit einem Schiff, das ein Leck habe. Erst wenn dieses gedichtet und so das Vertrauen wieder gewonnen sei, gebe es Raum für Forderungen nach einer starken, unabhängigen Justiz.141 Noch deutlicher in Hinblick auf das materielle Prüfungsrecht äußerte sich Ernst Wolff in seinem Vortrag über „Freiheit und Gebundenheit des englischen Richters“, gehalten kurz vor dem Referat von Webers. Wolff hatte sich bereits vor 1933 als Präsident der Rechtsanwaltskammer einen Namen gemacht. Er musste 1939 aufgrund seiner jüdischen Herkunft nach England emigrieren, kehrte im Herbst 1947 kurz vor der Bad Godesberger Tagung nach Deutschland zurück und sollte wenig später zum Vizepräsident des Obersten Gerichtshofs für die britische Zone ernannt werden.142 In seinem Vortrag stellte er die Frage, was aus dem englischen Rechtssystem für Deutschland zu lernen sei und kam zu einer gänzlich anderen Einschätzung, als jene, die davon ausgingen, dass in Deutschland bis 1945 das Ideal einer mechanischen Subsumtion die Rechtspraxis beherrscht habe. So heißt es bei ihm: „Vage Begriffe wie Treu und Glauben, billiges Ermessen, Verkehrssitte und ähnliches bedeuten in gefestigten Zeiten mit geschlossener Weltanschauung kaum eine Gefahr, aber in despotischen Zeiten bieten sie eine bequeme Gelegenheit, die sogenannte Weltanschauung durchzusetzen, zu der sich die Diktatur bekennt. Schwachen Richtern wird es dann allzu leicht gemacht, Nachgiebigkeit gegen politischen Druck hinter allgemeinen Wendungen zu verbergen. […] die große Ermessensfreiheit, die der deutsche Richter genoß, ermöglichte es, selbst ohne eine Änderung der Gesetzgebung und deshalb in scheinbarer Aufrechterhaltung des bestehenden Rechts sog. nationalsozialistisches Rechtsgut in die Rechtsprechung einzuführen.“143 139 

Wilhelm Kiesselbach, in: Tagung deutscher Juristen Bad Godesberg, 1947, S. 9 (10 f.). Eberhard Schmidt, in: Tagung deutscher Juristen Bad Godesberg, 1947, S. 223 (231). 141  Wilhelm Kiesselbach, in: Tagung deutscher Juristen Bad Godesberg, 1947, S. 252 (ebd.). 142  Zur Biographie Ernst Wolffs Georg Maier-Reimer, in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/ Stolleis (Hg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 643–654. 143  Ernst Wolff, Freiheit und Gebundenheit des englischen Richters, in: Tagung deutscher Juristen Bad Godesberg, 1947, S. 103 (125). 140 

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Kapitel 2: Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität

Mit seinen Ausführungen zum englischen Recht wollte Wolff auf der Godesberger Tagung also nicht bloß zu einem Blick über den Tellerrand einladen, Rechtsvergleichung war kein Selbstzweck. Er hatte vielmehr eine Botschaft an die deutsche Jurisprudenz, für die das englische Recht das Material bildete. Wolff stellte grundlegend in Frage, dass die Justiz im Nationalsozialismus dem Gesetzgeber wehrlos ausgeliefert gewesen sei und wandte sich damit entschieden gegen die Vorstellungen über nationalsozialistische Rechtspraxis, die dem Vortrag von Webers zugrunde lagen und die auch im Übrigen weit verbreitet waren. So engagiert Wolff jedoch vortrug, seine Position fand keine Resonanz. Weder in den Beiträgen von Webers oder Schmidts auf dem Bad Godesberger Juristentag noch in den Tagungsberichten oder der Literatur in der Folgezeit finden sich Äußerungen, die ein kritisches Abarbeiten an einer Position, wie Wolff sie formuliert hatte, erkennen lassen. Wie wirkte sich nun dieser Unterschied in der Deutung der Rolle der Justiz im Nationalsozialismus aus? Wolff nahm zur Frage des materiellen Prüfungsrechts nicht direkt Stellung. Seine Warnung vor Generalklauseln lässt aber vermuten, dass er in diesen kaum eine sinnvolle Möglichkeit der Sicherung vor erneutem Unrecht sah. Bei Kiesselbach war dies anders. Er ließ bereits in seinem Aufsatz zum Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom April 1947 erkennen, dass er zwar aus Gründen der Rechtssicherheit ein materielles Prüfungsrecht für nicht unproblematisch hielt, dieses in Fällen äußersten gesetzlichen Unrechts aber anerkenne. Er beschränkte dabei die Zuständigkeit für die Verwerfung nicht auf einen obersten Gerichtshof, sondern sah dies als eine Entscheidung eines jeden einzelnen Richters an.144 Eine Einschränkung wollte er im Wege der Beweislastverteilung erreichen. Sie treffe „in vollem Umfang denjenigen, der die schwere Verantwortung auf sich zu nehmen gewillt ist.“145 Doch auch Autoren, die die Schuld des Gesetzgebers am Nationalsozialismus in den Vordergrund rückten, kamen zu keinem nennenswert anderen Ergebnis: Weinkauff, dem eine Prüfung von Gesetzen am Naturrechtsmaßstab vorschwebte, sah die Notwendigkeit, die Zuständigkeit um der „Einheit des Rechts“ willen auf ein oberstes Gericht zu beschränken.146 Von Weber teilte diese Position, nur dass er das Prüfungsrecht auf die Frage der Verfassungs­ mäßigkeit beschränkt sehen wollte, so dass Gerichte nicht über die Frage, was richtiges Recht sei, entscheiden müssten.147 Er fügte allerdings hinzu, dass

144  Wilhelm Kiesselbach, MDR 1947, 2 (ebd.); eine ähnliche Lösung verfolgte auch Walter G. Becker, SJZ 1947, Sp. 480 ff. 145  Wilhelm Kiesselbach, MDR 1947, 2 (3). 146  Hermann Weinkauff, Vortrag gehalten am 27.6.1947 auf einer deutsch-amerikanischen Kulturkonferenz in München, Auszüge abgedruckt bei Daniel Herbe, Hermann Weinkauff (1894–1981), 2008, S. 72 f. 147  Hellmuth von Weber, in: Tagung deutscher Juristen Bad Godesberg, 1947, S. 163 (177).

IV. Die Justiz als Hüterin des Rechts?

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der Unterschied in materieller Hinsicht nicht groß sei, wenn die Verfassung „Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit“ umfassend regeln würde. Wie sich die Diskutanten zwischen Naturrecht und Positivismus verorteten, spielte für ihre Haltung zum materiellen Prüfungsrecht eine erstaunlich geringe Rolle. Anhänger des Naturrechts wie Weinkauff befürworteten das Prüfungsrecht ebenso wie Naturrechtsskeptiker wie von Weber. Die rechtsphilosophische Grundhaltung wirkte sich allenfalls auf den Prüfungsmaßstab aus. Selbst hierbei war es jedoch mitnichten so, dass eine positivistische Grundhaltung immer zu der Forderung führte, dass auf übergesetzliche Maßstäbe bei der Prüfung gänzlich verzichtet werden sollte. Der Ministerialbeamte Ernst Kern etwa, der den Positivismus für die angemessene Grundlage für das Rechtssystem eines modernen Staates hielt, erkannte als Durchbrechung im Falle äußersten gesetzlichen Unrechts die Verwerfung von Gesetzen durch Gerichte an.148 Der Richter Walter Mannzen, deutete an, dass Demokratie einen absoluten Vorrang des Gesetzgebers und somit einen juristischen Positivismus verlange, schloss sich im Ergebnis aber dann doch ebenfalls der Radbruchschen Formel an.149 Es zeigt sich also, dass Begründungen und Diskussionslinien vielfältig waren, die geäußerten Ansichten aber auf nur zwei, überdies sehr dicht beieinander liegende Positionen zusammenliefen: Es herrschte Einigkeit, dass jedenfalls ein oberstes Gericht Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüfen und gegebenenfalls verwerfen können sollte. Die Diskutanten waren sich zwar nicht einig, ob diese Prüfung auch am Maßstab des übergesetzlichen Rechts erfolgen solle, auch hier gab es aber mit der Radbruchschen Formel einen kleinsten gemeinsamen Nenner. Sie hatte sich in der Diskussion um das materielle Prüfungsrecht durchgesetzt, obgleich sich viele der Beteiligten gegenüber einer naturrechtlichen Fundierung des Rechts skeptisch äußerten und eines der meist verwendeten Argumente die Bedeutung der Rechtssicherheit herausstellte. Trotz dieser Übereinstimmungen kann von einem echten Konsens nicht gesprochen werden. Unter der Oberfläche verbargen sich sowohl unterschiedliche rechtsphilosophische Positionierungen als auch unterschiedliche Vorstellungen über die Rolle der Justiz im Nationalsozialismus. Die oberflächliche Einigkeit war von Anfang an brüchig, es scheint angemessener von einem Kompromiss zu sprechen, auch wenn dieser nicht ausgehandelt werden musste: Die Ausgangspositionen blieben unterschiedlich, die Ziele auch. Am Beispiel der beiden Kontrahenten Hellmuth von Weber und Ernst Wolff zeigt sich, dass die Deutung der Rolle der Justiz im Nationalsozialismus in der Diskussion eine weit größere Bedeutung zukam als der Frage, ob die zukünftige Rechtsordnung naturrechtlich fundiert werden solle oder nicht. Aus der Vergangenheitsdeutung heraus begründeten die Diskutanten, welche Rolle der Justiz in der 148  149 

Ernst Kern, MDR 1949, 137 (140). Mannzen, SJZ 1947, Sp. 646 (647, 650).

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Kapitel 2: Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität

neuen Gesellschaftsordnung gegenüber dem Gesetzgeber zukommen sollte. Während Wolff den eigenständigen Beitrag der Justiz im Nationalsozialismus betonte und damit Skepsis gegenüber einer weitreichenden Überprüfung gesetzgeberischer Tätigkeit durch die Gerichte anklingen ließ, sah von Weber die Justiz als Garantin für Gerechtigkeit gegenüber einem für Unrecht anfälligen Gesetzgeber. Entscheidend wurde somit, ob der Blick auf Ermessensspielräume oder auf die Gebundenheit der Justiz im Nationalsozialismus gelenkt wurde: Wolff mahnte die Justiz zur Demut, von Weber begründete ihre Autorität in Sachen Gerechtigkeit. Die Positivismusthese strukturierte die Diskussion um das materielle Prüfungsrecht damit gewissermaßen subkutan. Anders als in den Diskussionen um die Strafbarkeit von Richtern wegen Rechtsbeugung diente sie hier nicht der Exkulpation vergangenen Unrechts. Sie diente vielmehr der Begründung, warum sich die Justiz als ‚Hüter der Gerechtigkeit‘ in der neuen Gesellschaftsordnung eigne.

V. Fortsetzung der Diskussion nach 1949: Geltungsgrenzen für positives Verfassungsrecht? Die Diskussion um das Prüfungsrecht endete nicht mit Inkrafttreten des Grundgesetzes. Dieses sah ein richterliches Prüfungsrecht vor, erklärte hierfür jedoch einzig das Bundesverfassungsgericht für zuständig. Die Kompetenzfrage zwischen den Gerichten war damit geklärt. Die Frage, ob sich das Prüfungsrecht am übergesetzlichen Maßstab orientiere oder bloß am Maßstab der Verfassung, setzte sich allerdings auch nach 1949 fort. Da das Grundgesetz nun mit Menschenwürde, Grundrechten und Rechtsstaatlichkeit wesentliche Inhalte dessen, was als „übergesetzliches Recht“ oder „Naturrecht“ angesehen wurde, als positives Verfassungsrecht normiert hatte, stellte sich die Frage in gewandelter Gestalt: Unter dem Stichwort „verfassungswidriges Verfassungsrecht“ diskutierten Gerichte und Literatur ab 1949, ob es „höherrangige Verfassungsnormen“ gebe und ob Verfassungsnormen, die diesen höherrangigen Normen widersprachen für nichtig erklärt werden könnten. Auslöser dieser erneuten Diskussion um die Bedeutung übergesetzlichen Rechts war nicht die Naturrechtsprechung des Bundesgerichtshofs, auf die zumeist verwiesen wird, wenn von Naturrecht in der Rechtspraxis der 1950er Jahre die Rede ist.150 Die Diskussion entzündete sich vielmehr an einem Urteil 150  Zu Recht kritisch gegenüber der Rede von der „Naturrechtsprechung“ des BGH ­Daniel Herbe, Hermann Weinkauff (1894–1981), 2008, der die Urteile der Senate, denen Hermann Weinkauff angehörte, analysiert hat und überzeugend feststellt, dass selbst in diesen Senaten weniger auf übergesetzliches Recht zurückgegriffen wurde, als gemeinhin angenommen. Auch dort, wo es erwähnt wurde, war es oft nicht tragender Grund der Entscheidung. In den veröffentlichten Entscheidungen der besagten Senate findet sich übergesetzliches Recht

V. Fortsetzung der Diskussion nach 1949

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des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, der 1950 in einem Urteil den Leitsatz formulierte: „Es gibt Verfassungsgrundsätze, die so elementar und so sehr Ausdruck eines auch der Verfassung vorausliegenden Rechts sind, daß sie den Verfassungsgeber selbst binden und daß andere Verfassungsbestimmungen, denen dieser Rang nicht zukommt, wegen ihres Verstoßes gegen sie nichtig sein können.“151

In der Literatur fand dieses Urteil Zustimmung, wobei die Terminologie variierte: Von einem „naturrechtlichen Maßstab“ war die Rede,152 von „übergesetzlichem Recht“153 oder auch von „ungeschriebenem Verfassungsrecht“.154 Vor allem aber wurde nun, anders als in den Diskussionen vor 1949, mit dem Verfassungsbegriff selbst argumentiert: Unter Rückgriff auf die Verfassungslehre Rudolf Smends wurde ein „materieller Verfassungsbegriff“ in die Diskussion eingeführt, der neben den positiven Normen der Verfassung auch übergesetzliche Grundsätze umfasste.155 Dieser sei der Maßstab, anhand dessen die Verfassungsgerichte zu entscheiden hätten, nicht bloß das „Verfassungsgesetz“. „[Der Richter] ist an ‚Gesetz und Recht‘ gebunden und daher verpflichtet, zu prüfen, ob der Gesetzgeber sich im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung gehalten hat; er darf nicht auf die Anwendung der in diese Ordnung einbezogenen ‚ewigen und nicht ewigen Grundsätze‘ verzichten und sich bei bloßer ‚Gesetzlichkeit‘ geruhigen.“156

Demgegenüber war in den Verhandlungen des Bundestages über das Bundesverfassungsgerichtsgesetz einem Prüfungsrecht, das sich an einem übergesetzlichen Maßstab orientierte, eine klare Absage erteilt worden. Hans-Joachim von Merkatz, dem im Plenum die Berichterstattung aus dem Rechtsausschuss als tragender Grund im Zivilrecht: Urteil v. 12.7.1951, BGHZ 3, 94 ff. (Haftung eines Volkssturmführers); Urteil v. 9./10.6.1952, BGHZ 6, 270 ff. (Enteignung); Urteil v. 16.11.1953, BGHZ 11, 156 ff. (Enteignung); Beschluss v. 20.5.1954, BGHZ 13, 265 ff. (Beamtenverhältnisse); nicht tragend: Gutachten v. 6.10.1952, BGHZ 11, Anhang S. 2 ff. (Beamtenverhältnisse); Gutachten vom 6.9.1953, BGHZ 11, Anhang S. 34 ff. (Art. 3 II, 117 GG). Als tragender Grund im Strafrecht: Beschluss v. 17.2.1954, BGHSt 6, 46 ff. (Kuppelei); Beschluss v. 10.3.1954, BGHSt 6, 147 ff. (Selbstmordversuch als Unglücksfall); Urteil v. 7.12.1956, BGHSt 10, 294 ff. (Rechtsbeugung). 151  BayVerfGH, Urt. v. 24.4.1950, VerwRspr. 2 (1950), Nr. 65. Es ging in diesem Verfahren um die Verfassungsmäßigkeit von Regelungen des bayrischen Beamtengesetzes, welche die Entnazifizierung betrafen. Art. 184 BayVerf sah vor, dass Regelungen, die gegen Nationalsozialismus oder Militarismus gerichtet waren oder ihre Folgen beseitigen wollten, durch die Verfassung nicht berührt würden. Die Antragsteller hielten diese Regelung für verfassungswidrig. Der BayVerfGH erteilte dem eine Absage, gab den Anträgen aber dennoch aufgrund einer einschränkenden Auslegung des Art. 184 BayVerf statt. 152  Otto Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen?, 1951, S. 42. 153  Otto Bachof, ebd. 154 So der Verhandlungsgegenstand der Staatsrechtslehrertagung 1951 in Göttingen, VVdStRL Bd. 10 (1952). 155  So bei Otto Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen?, 1951, S. 42. 156  Walter Mallmann, JZ 1951, 245 (ebd.).

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Kapitel 2: Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität

oblag, erklärte unter Bezugnahme auf die Beiträge Adolf Arndts in der Ausschusssitzung, es sei nicht die Aufgabe eines Verfassungsgerichts, „irgendeinen Griff in die Sterne zu tun; es ist die Aufgabe dieser Staatsgerichtsbarkeit, das, was im Grundgesetz vom Willen des Gesetzgebers vorentschieden ist, zu finden und damit zu konkretisieren.“157 Eine Verfassungsgerichtsbarkeit, deren Prüfungsrecht sich auf die Vereinbarkeit von Gesetzen mit Naturrecht oder sonstigem übergesetzlichem Recht erstrecke, sei „Dynamit“, denn „[d]er Richter wäre dann nicht gehalten, sich den im Parlament zu Ausdruck gebrachten Auffassungen zu fügen, und könnte sich im Gegensatz zu den demokratischen Entscheidungen des Parlaments an den Richtlinien einer ewigen Gerechtigkeit orientieren.“158 Die Gegenposition formulierte Otto Bachof 1951 in seiner Antrittsvorlesung: „Will ich meinen Standpunkt kurz kennzeichnen, so vermag ich mir nicht vorzustellen, daß das allein von der Idee der Gerechtigkeit seine Würde und Autorität empfangende Richteramt auf eine Prüfung am Maßstabe jener Idee grundsätzlich verzichten könne, ohne damit zugleich seine Würde und Autorität zu verlieren.“159

Willibalt Apelt reagierte hierauf, indem er die im Bundestag von Arndt und von Merkatz formulierte Position unterstützte. Hüter der Verfassung könne nicht nur die Rechtsprechung sein, auch das Parlament sei Hüter der Verfassung.160 Er entgegnete Bachof unter Verwendung eines formellen Verfassungsbegriffs: „Würde und Autorität des Gerichts beruhen auf der Verfassung und der Erfüllung der Aufgaben, welche diese der Rechtsprechung zuweist.“161 Nicht „allgemeine Prinzipien“, sondern der „konkrete Wille des Verfassungsgesetzgebers“ müssten hier maßgebend sein.162 Naturrecht und Positivismus waren damit auch in dieser Diskussion nach Inkrafttreten des Grundgesetzes unmittelbar mit der Frage der Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Gerichten verbunden. Arndt, von Merkatz und Apelt lehnten übergesetzliches Recht als Prüfungsmaßstab ab, weil dies die Autorität des demokratischen Gesetzgebers schmälere. Bachof hingegen ging es um die Autorität der Gerichte. Er sah diese erst dadurch gesichert, dass den Gerichten die Möglichkeit eröffnet werde, nicht nur über das Gesetz, sondern auch über die Gerechtigkeit zu entscheiden. Überwiegend wurde die Frage verfassungswidrigen Verfassungsrechts allerdings nicht derart auf die Kompetenzfrage zugespitzt. Im Vordergrund standen 157 

Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Berichte, 1. Wahlperiode, 1949, S. 4219.

158 Ebd. 159 

Otto Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen?, 1951, S. 51. Willibalt Apelt, Die Gesetzgebungstechnik, 1950, S. 10. 161  Willibalt Apelt, Erstreckt sich das richterliche Prüfungsrecht auf Verfassungsnormen?, NJW 1952, 1 (2). 162  Willibalt Apelt, ebd. 160 

V. Fortsetzung der Diskussion nach 1949

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vielmehr die Sachfragen, an denen sich die Diskussion entzündet hatte. „Verfassungswidriges Verfassungsrecht“ war eine Figur, mit der politisch hochumstrittene Regelungen des Grundgesetzes angegriffen wurden. Im Wesentlichen ging es dabei um zwei voneinander völlig unabhängige Problemkomplexe: das Erlöschen der Beamtenverhältnisse am 8.5.1945 und den damit verbundenen Streit um Art. 131 GG163 sowie die Frage der Gleichberechtigung der Geschlechter, die nun, mit Art. 3 Abs. 2 GG, der Umsetzung vor allem im BGB-Familienrecht harrte.164 Das Bundesverfassungsgericht setzte sich mit der Frage verfassungswidrigen Verfassungsrechts eingehend im Zusammenhang mit der Gleichberechtigungsproblematik auseinander. Das OLG Frankfurt legte ihm Art. 117 GG zur Prüfung vor, der eine Übergangsregelung für die Vorschriften beinhaltete, die gegen das Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 2 GG verstießen. Betroffen waren weite Teile des Familienrechts des BGB, welche die Stellung des Ehemanns und Vaters als Familienoberhaupt rechtlich absicherten. Art. 117 GG gewährte dem Gesetzgeber eine Frist von vier Jahren, ein Familienrecht zu schaffen, das dem Leitbild der Gleichberechtigung von Mann und Frau entsprach. Der Gesetzgeber ließ sie verstreichen. Für die Gerichte bedeutete dies, dass sie nun im Wege des Richterrechts die entstandenen Lücken füllen mussten. Das OLG Frankfurt hielt die dadurch entstandene Unsicherheit für untragbar. Es hielt Art. 117 GG wegen eklatanten Verstoßes gegen das Rechtsstaatsprinzip für verfassungswidriges Verfassungsrecht.165 Das OLG stützte seine Argumentation, es handele sich bei Art. 117 GG um verfassungswidriges Verfassungsrecht, auf die Annahme, dass durch Außerkraftsetzung der gleichheitswidrigen Normen ein ‚rechtliches Vakuum‘ entstehe. Tatsächlich bewirkte Art. 117 GG, dass Regelungslücken entstanden, die von Gerichten und Dogmatik eigenständig gefüllt werden mussten. Ein die Rechtssicherheit bedrohendes ‚Rechtsvakuum‘ stellten solche Lücken aber nur dann dar, wenn es an einer hinreichenden Richtlinie für die Lückenfüllung fehlte. Die Diskussion um die Verfassungswidrigkeit von Art. 117 GG stand damit in engem Zusammenhang mit der Frage, ob Art. 3 Abs. 2 GG eigenstän163 Hierzu Michael Kirn, Verfassungsumsturz oder Rechtskontinuität?, 1972; Urteilsübersicht über untere Instanzen bei Otto Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen?, 1951, S. 12 ff.; BGH, Gutachten v. 6.10.1952, BGHZ 11, Anhang S. 2 ff.; BVerfG, Urteil v. 17.12.1953, BVerfGE 3, 58 ff.; BGH, Beschluss v. 20.5.1954, BGHZ 13, 265 ff. Zu den politischen Debatten um Art. 131 GG und das Gesetz, das diesen konkretisieren sollte, Norbert Frei, Vergangenheitspolitik, 2.A. 2003, S. 69 ff. 164  Zu den Diskussionen um ein dem Gleichheitsgrundsatz Rechnung tragenden Familienrecht in den 1950er Jahren Christine Franzius, Bonner Grundgesetz und Familienrecht, 2005. Davon, wie schwer sich die Rechtslehre mit der Gleichberechtigung tat, zeugt gerade auch die Naturrechtsliteratur. Zu den Vorstellungen über Ehe und Familie und die Rolle der Frau, Kapitel 6, S. 243 ff. 165  OLG Frankfurt am Main, Beschluss v. 22.4.1953, NJW 1953, 746–748.

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Kapitel 2: Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität

dig justiziables Recht darstelle. In der Begründung des Vorlagebeschlusses des OLG wird deutlich, wie stark dies mit einer grundsätzlichen Infragestellung des Gleichberechtigungsgebots verbunden war: „Ehe und Familie sind gegenwärtig kein objektiver, durch richterliche Erkenntnis ermittelbarer Maßstab. Denn es fehlt an einer unbestrittenen Auffassung von Ehe und Familie. Art. 3 Abs. 2 GG erklärt ja gerade die dem bisher geltenden Recht zugrunde liegende Auffassung von Ehe und Familie für teils überholt und will insoweit einem neuen Wesensgehalt, einem neuen Verhältnis von Mann und Frau zueinander Ausdruck geben. Dieser neue Wesensgehalt aber ist grundsätzlich, und zwar vom Politisch-Weltanschaulichen her, wie schon erwähnt, umstritten. Und es kann kein Richter diesen Gehalt schon als einen gegenwärtig gültigen zugrunde legen, ehe nicht der Gesetzgeber seine ureigene Aufgabe des Gehaltgebens, des Gestaltens für die Zukunft erfüllt hat. Nur der Gesetzgeber kann danach auch entscheiden, ob und wieweit Ehe und Familie, die Art. 6 unter Schutz des GG gestellt hat, eine Einschränkung des Gleichberechtigungsgrundsatzes erlauben oder erfordern.“166

Das ‚rechtliche Vakuum‘, mit welchem das Gericht die Verfassungswidrigkeit von Art. 117 GG begründete, entstand genau besehen nicht durch diese Vorschrift. Art. 117 GG führte in der Argumentation des Gerichts nur deswegen zu Rechtsunsicherheit, weil die Auslegung des Art. 3 Abs. 2 GG in der Fachwelt umstritten war. Umstritten war aber tatsächlich nicht bloß die Auslegung, sondern die Gleichberechtigungsfrage selbst. Art. 3 Abs. 2 GG im Lichte des Art. 6 GG einschränkend auszulegen bedeutete schließlich, dass Gleichberechtigung doch nicht realisiert würde. Das Gericht erhob mit dieser Argumentation die Kritiker des Art. 3 Abs. 2 GG zu Richtern über die Verfassungsmäßigkeit von Art. 117 GG. Der BGH leitete dem BVerfG die Vorlage zu und verfasste in diesem Zusammenhang ein eigenes Gutachten.167 Im Ergebnis unterscheiden sich das Gutachten des BGH und die Entscheidung des BVerfG nicht wesentlich von einander. Sowohl BGH als auch BVerfG verneinten die Verfassungswidrigkeit von Art. 117 GG. Zugleich erklärten beide, dass grundsätzlich auch eine Verfassungsnorm als verfassungswidrig angesehen werden könne. Neben dem Maßstab des Art. 79 Abs. 3 GG gäbe es Verfassungsbestimmungen, „die ohne weiteres übergesetzlichen, ja überverfassungsmäßigen Rang haben und die die Verfassung in diesem ihren Rang nicht schafft, sondern nur anerkennt“,168 so der BGH. Das BVerfG zog die Radbruchsche Formel heran und pflichtete dem BGH insoweit bei. Andernfalls drohe der „Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzespositivismus“.169 Während der BGH eine weitreichende Offenheit gegenüber der Prüfung von Verfassungsrecht am übergesetzlichen Maßstab signalisierte, 166 

Ebd., S. 747 f. Gutachten vom 6.9.1953, BGHZ 11, Anhang, S. 34–81. 168  BGHZ 11, Anhang, S. 34 (40 f.). 169  BVerfG, Urteil v. 18.12.1953, BVerfGE 3, 225 (232). 167 

V. Fortsetzung der Diskussion nach 1949

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gab das BVerfG seiner Argumentation im Fortgang allerdings eine entscheidende Wendung. Es verschob seine Position zwar nur um eine Nuance, stellte gerade dadurch aber der Idee eines „verfassungswidrigen Verfassungsrechts“ unter dem Grundgesetz grundlegend in Frage: „Die Wahrscheinlichkeit, daß ein freiheitlich-demokratischer Verfassungsgeber diese Grenzen irgendwo überschritte, ist freilich so gering, daß die theoretische Möglichkeit originärer ‚verfassungswidriger Verfassungsnormen‘ einer praktischen Unmöglichkeit gleichkommt.“170

Auch in der Frage, ob Art. 117 GG ein ‚rechtliches Vakuum‘ schaffe, herrschte weniger Einigkeit zwischen BGH und BVerfG, als das gleichlautende Ergebnis erkennen lässt. Der BGH nahm das Argument des OLG Frankfurt ernst, dass Art. 3 Abs. 2 GG deswegen seine Wirkung vorerst nicht entfalten dürfe, da er in der Fachwelt umstritten war und damit die Gefahr bestünde, dass die Rechtsprechung keine einheitliche Linie finde.171 Er zeigte sich besorgt und musste sich erkennbar durchringen zu der Entscheidung, dass die durch Art. 117 GG geschaffene Rechtslage dennoch nicht so viel Rechtsunsicherheit mit sich bringe, dass es gerechtfertigt wäre, diese Norm für verfassungswidrig zu erklären. Das BVerfG verteidigte Art. 117 GG hingegen. Es sah in ihm einen Kom­ promiss zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeitspostulaten, der grundsätzlich zulässig sei. Die Rechtssicherheit stellte seiner Ansicht nach gerade keinen überpositiven, unabdingbaren Wert dar172 – eine Argumentation, die an solche aus der Rückwirkungsdiskussion erinnert. Nichtig sei die Norm nur, wenn dadurch eine „Rechtsnot“ entstehe, die „schlechthin nicht erträglich“ sei.173 Dies war nach Auffassung des BVerfG aber im Falle der Gleichberechtigung der Geschlechter nicht gegeben. Art. 3 Abs. 2 GG stelle eine echte, justiziable Rechtsnorm dar, die den Gerichten einen klare Anleitung an die Hand gebe, wie die entstandenen Lücken zu füllen seien.174 Der Annahme eines ‚rechtlichen Vakuums‘, welche das Frankfurter OLG seinem Vorlagebeschluss zugrunde gelegt hatte, erteilte das BVerfG damit eine klare Absage.

170 

BVerfGE 3, 225 (233). Sie schlagen sich auch im Gutachten des BGH zur Verfassungsmäßigkeit des Art. 117 GG nieder. In diesem konkurrierten zwei Auslegungen des Art. 3 II GG miteinander. Die erste sah Gleichheit durch ein als „natürlich“ geltendes patriarchiales Ehe- und Familienverständnis beschränkt. Die zweite hielt dagegen, dass Art. 3 II GG gerade der tradierten, hierachischen Geschlechterordnung entgegentrete. Dazu auch Daniel Herbe, Hermann Weinkauff, 2008, S. 207 f. 172  BVerfGE 3, 225 (238). 173  BVerfGE 3, 225 (239). 174  BVerfGE 3, 225 (239). 171 

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Kapitel 2: Vom ‚rechtlichen Vakuum‘ zur richterlichen Autorität

VI. Fazit Keine der in diesem Kapitel vorgestellten Diskussionen mündete in eine rechtsphilosophische Erörterung, ob es ein Naturrecht oder anderweitig begründete übergesetzliche Normen gebe und wie diese ausgestaltet seien. Übergesetzliches Recht blieb ein Axiom auf dessen Grundlage juristische Entscheidungen getroffen wurden – oder eben nicht. Umkämpft war nicht die Existenz oder Nichtexistenz übergesetzlichen Rechts, sondern das, was mit ihm begründet werden sollte. Es handelte sich bei den Diskussionen um den rechtspraktischen Nutzen übergesetzlichen Rechts nicht um ‚Naturrechtsdebatten‘ im engeren Sinn. Der Ministerialbeamte Ernst Kern nahm diese Einschätzung 1949 vorweg, als er schrieb: „Das erhebliche Ausmaß der forensischen Verwertung naturrechtlicher Gedankengänge und das völlige Fehlen eines Analogon hierzu im Bereich der Gesetzgebung, deutet darauf hin, daß der Anstoß zur Heranziehung des Naturrechts weniger in einer geistigen Neubesinnung zu suchen ist als in praktischen Bedürfnissen, die durch das Fehlen eines intakten deutschen Gerichts ausgelöst wurden. […] Es wird diese Eigenschaft wieder uneingeschränkt aufweisen, wenn der durch die fehlende Steuerung des gegenwärtigen Umbildungsprozesses bedingte Rückgriff auf das Naturrecht durch die vollzogene Rechtsanpassung gegenstandslos geworden ist.“175

So richtig es ist, dass Naturrechtsbesinnung in der rechtspraktischen Diskussion Bedürfnissen folgte, die der Umbruchszeit geschuldet waren, so vorsichtig muss jedoch der Annahme begegnet werden, dass der Rückgriff auf übergesetzliches Recht allein aufgrund „fehlender Steuerung“ und aufgrund der noch nicht vollzogenen „Rechtsanpassung“ erfolgt sei. Ein ‚rechtliches Vakuum‘ war keineswegs der einzige oder auch nur der dominante Grund für den Rückgriff auf übergesetzliches Recht in Diskussionen um richterliche Entscheidungen nach 1945. Es lassen sich vielmehr drei Muster benennen, mit denen übergesetzliches Recht in die Argumentationen Eingang fand: Davon, dass aufgrund eines ‚rechtlichen Vakuums‘ auf übergesetzliches Recht zurückgegriffen wurde, kann allenfalls für die Frühphase unmittelbar nach Kriegsende und außerhalb des Anwendungsbereichs des KRG Nr. 10 die Rede sein. Gerichte griffen auf übergesetzliches Recht zurück, um nationalsozialistische Gesetze zu delegitimieren und sich von der Bindung an diese loszusagen. Übergesetzliches Recht diente der Umwertung von Taten, die zu Zeiten des Nationalsozialismus als Recht gegolten hatten, und die man nun für Unrecht erklären und verurteilen wollte. Ein ‚rechtliches Vakuum‘ herrschte insofern, als dass die Gerichte diese Umwertung vornehmen mussten, ohne auf ein Gesetz zurückgreifen zu können, welches sie hierzu ermächtigte und Regeln vorgab. Radbruch beobachtete, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte diese 175 

Ernst Kern, MDR 1949, 137 (140).

VI. Fazit

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Lücke mit übergesetzlichem Recht füllten und versuchte mit seiner Formel, ihnen hierfür eine Regel an die Hand zu geben. Entgegen der Art und Weise, wie die Formel in späterer Zeit verwendet und diskutiert wurde, zielte sie in ihrer Entstehungszeit darauf, die Bestrafung nationalsozialistischer Verbrechen auf Grundlage übergesetzlichen Rechts um der Rechtssicherheit willen zu be­ grenzen. Im Übrigen wurde übergesetzliches Recht gerade nicht in Reaktion auf ein ‚rechtliches Vakuum‘ herangezogen. Es war vielmehr ein Argument, mit dem um die Frage gerungen wurde, ob bestehende positive Rechtsnormen legitim seien oder nicht. In der Diskussion um das KRG Nr. 10 wird dies besonders deutlich. Übergesetzliches Recht diente der Delegitimierung wie auch der Verteidigung des Rückwirkungsgesetzes, das der Kontrollrat erlassen hatte und das deutsche Gerichte nun zumindest partiell anwenden sollten. Nicht ganz so offensichtlich war dies in der Diskussion um ‚verfassungswidriges Verfassungsrecht‘. Doch auch in ihr ging es letztlich um die Legitimität positivrechtlicher Regelungen, im Falle der Auseinandersetzung um die Verfassungswidrigkeit von Art. 117 GG um die Legitimität der positivrechtlich angeordneten Außerkraftsetzung weiter Teile des Familienrechts. Verbunden war damit die Frage, ob Art. 3 Abs. 2 GG als justiziables Recht anzuerkennen sei. Der Rückgriff auf übergesetzliches Recht richtete sich damit gleich gegen zwei positivrechtliche Normen. Eine ganz eigenständige Funktion entfaltete daneben die These, der Positivismus habe dazu geführt, dass Juristen dem Nationalsozialismus wehrlos gegenüber gestanden hätten. In den rechtspraktischen Diskussionen diente sie nicht einfach der Begründung, warum eine Besinnung auf übergesetzliches Recht nach 1945 notwendig sei. Sie taucht vielmehr dort auf, wo es um die Belange des eigenen Berufsstands ging: Sie war ein juristisches und rechtspolitisches Argument gegen die Bestrafung von Richtern wegen Rechtsbeugung. In der Diskussion um das materielle Prüfungsrecht und in der Diskussion um die Kompetenz der Verfassungsgerichte, Verfassungsnormen für verfassungswidrig zu erklären, stellte sie zugleich die Grundlage für die Forderung dar, die Justiz in der künftigen Gesellschaftsordnung mit Autorität gegenüber dem Gesetzgeber auszustatten.

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Kapitel 3

Zwischen organischer Staatslehre, kirchlicher Interessenspolitik und vorsichtiger Öffnung gegenüber der Demokratie: die Renaissance katholischen Naturrechts In den ab 1946 erscheinenden juristischen Zeitschriften und auf den Juristentagungen der ersten Nachkriegsjahre wurde auf übergesetzliches Recht überwiegend in Auseinandersetzung mit rechtspraktischen Problemen zurückgegriffen, so etwa in der Diskussion um rückwirkende Strafverfolgung nationalsozialistischer Verbrechen. Eine Vielzahl anderer Texte kam dagegen ganz ohne solche rechtspraktischen Bezüge aus. Diese, zumeist als kleine Büchlein oder Hefte veröffentlichten Texte, machen den Kern der Naturrechtsliteratur der Nachkriegszeit aus. In ihnen standen die Begründung und der Inhalt des übergesetzlichen Rechts im Mittelpunkt. Sie skizzierten auf der Grundlage des Naturrechts eine Rechtsordnung, die der Gerechtigkeit verpflichtet sein solle. Es ging ihnen darum, Juristen daran zu erinnern, dass Recht grundsätzlich etwas Gutes sei. Sie begegneten auf diese Weise der ‚Krise‘, in der sich der juristische Berufsstand sah. Diese Texte waren Teil von weit über das juristische Feld hinausgehenden Bemühungen um „geistige Erneuerung“. Unmittelbar nach Kriegsende sahen sich nicht nur Juristen mit einer Krise des eigenen Berufsstandes konfrontiert, es war vielmehr weithin die Rede von einer umfassenden „geistigen Krise“, in der sich die gesamte Gesellschaft befinde. In kirchlichen Kreisen und unter Intellektuellen wurde nach kultureller, moralischer und weltanschaulicher Besinnung verlangt. Die ersten zwei Nachkriegsjahre wurden zu einer Zeit publizistischen Aufbruchs. Es wurden zahlreiche Zeitschriften gegründet, deren Namen Programm waren: Sie hießen „Wandlung“, „Orientierung“, „Besinnung“ oder „Aussaat“ und behandelten eine Mischung aus politischen, literarischen und religiösen Themen.1 Noch ehe der Wiederaufbau der Städte richtig begonnen und sich die wirtschaftliche Not gelegt hatte, wurde an kulturelle Tradi1  Zu den Zeitschriftengründungen umfassend Gerhard Hay u.a. (Hg.), Als der Krieg zu Ende war, 1973.

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Kapitel 3: Zwischen organischer Staatslehre und vorsichtiger Öffnung

tionen erinnert: Goethe und Schiller, Bach und Beethoven erhielten neue Aufmerksamkeit. Der jüngsten Vergangenheit wurden die ‚Dichter und Denker‘ entgegengesetzt. 2 Zugleich herrschte für eine kurze Zeit Offenheit gegenüber Neuem, etwa gegenüber dem französischen Existenzialismus.3 Der Aufbruch war auch ein Religiöser. Bereits in den letzten Kriegsjahren hatten die beiden großen Kirchen Zulauf erhalten. Nun, nach 1945, erhielten sie schon dadurch eine erhebliche gesellschaftliche Bedeutung, dass sie Schlüsselrollen für die soziale Fürsorge übernahmen.4 Zugleich wandten sie sich mit Tagungen und Vortragsveranstaltungen an das interessierte Publikum und nahmen das Bedürfnis nach „geistiger Erneuerung“ auf. Die Krise konnte aus ihrer Sicht durch ‚Rechristianisierung‘ der Gesellschaft überwunden werden und durch eine Stärkung des gesellschaftspolitischen Einflusses der Kirchen. Christliches Naturrecht war das Angebot der Kirchen in dieser Situation. Die katholische Kirche konnte hierbei auf eine jahrhundertealte Naturrechtstradition zurückgreifen. Naturrecht ging in den späten 1940er Jahren ein in die kirchliche Interessenpolitik wie auch in die Programmatik der Christlich Demokratischen Partei (CDP), der späteren CDU. Katholische Juristen wie Ernst von Hippel, Valentin Tomberg, Günther Küchenhoff, Friedrich August von der Heydte, Heinrich Kipp, Heinrich Rommen oder Adolf Süsterhenn begleiteten dies mit ihren Naturrechtsschriften. Ihre Entwürfe waren einander sehr ähnlich, obgleich sie vor 1945 zum Teil sehr unterschiedliche politische Positionen vertreten hatten: Günther Küchenhoff etwa hatte entschieden das Regime unterstützt,5 Friederich August von der Heydte hatte nach Allianzen 2  Der Historiker Friedrich Meinecke forderte etwa die Gründung von „Goethe-Gesellschaften“, die den kulturellen Wiederaufbau vorantreiben sollten, indem sie regional Kulturveranstaltung im Geiste Goethes organisierten, in: Die Deutsche Katastrophe, 1946, S. 173 ff. Die öffentliche Verehrung Goethes fand ihren Höhepunkt im Goethe-Jahr 1948, siehe hierzu Waltraud Wende, in: Georg Bollenbeck u.a. (Hg.), Die janusköpfigen 50er Jahre, 2000, S. 17– 29. In den Naturrechtsschriften vergleichsweise oft zitiert wurde die Passage aus Schillers „Wilhelm Tell“: „Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, wenn unerträglich wird die Macht, greift er hinauf getrosten Mutes in den Himmel und holt herunter seine ew’gen Rechte, die droben hangen unveräußerlich und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.“, z.B. bei Günther Küchenhoff, Naturrecht und Christentum, 1948, S. 34 sowie bei Adolf Süsterhenn, Wir Christen und die Erneuerung des staatlichen Lebens (1948), in: Schriften, 1991, S. 227 (236). 3 Hierzu Joachim Kaiser, in: Bernd Busch u.a. (Hg.), Doppelleben, 2009, S. 35 ff. 4  Hierzu für die katholische Kirche Adolf M. Birke, in: Victor Conzemius u.a. (Hg.), Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte, 1988, S. 180 (184 ff.). Für die evangelische Kirche Clemens Vollnhals, in: Martin Broszat u.a. (Hg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, 1990, S. 113–167. 5  Günther Küchenhoff (1907–1983) war vor 1945 Richter in Breslau und Stettin sowie Lehrstuhlvertreter in Greifswald. Im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens wurde er entlassen und erhielt erst 1956 einen Ruf für Staats- und Verwaltungsrecht, Rechtsphilosophie und Arbeitsrecht an die Universität Würzburg. Zu Küchenhoffs Veröffentlichungen aus der Zeit des Nationalsozialismus Michael Stolleis, Geschichte, Bd. 3, 1999, S. 263, 271 sowie Lena

I. Gleichklang: Rückkehr des Neothomismus nach 1945

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zwischen Nationalsozialismus und Katholizismus gesucht.6 Adolf Süsterhenn hingegen war ein erklärter Gegner des Regimes,7 Heinrich Rommen musste ins US-­amerikanische Exil gehen. Nennenswerte Kontroversen zwischen ihnen gab es nach 1945 keine, es kann kaum davon gesprochen werden, dass eine ‚Diskussion‘ stattgefunden hätte. Dennoch gab es feine Unterschiede in der Positionierung gegenüber der neuen Gesellschaftsordnung, insbesondere gegenüber Pluralismus und Demokratie. Von diesen handelt dieses Kapitel. Im ersten Teil wird die Grundkonzeption aller Schriften vorgestellt. Der zweite Teil befasst sich mit der Umsetzung des Naturrechtsdenkens in praktische Verfassungspolitik. Adolf Süsterhenn, der im Mittelpunkt der Betrachtung steht, wirkte als CDU-Politiker aktiv auf Grundlage katholischen Naturrechts auf die Verfassungsgebungsprozesse in Rheinland-Pfalz und im Bund ein. Es wird zu zeigen sein, wie dies seine Haltung zu Demokratie und Pluralismus beeinflusste und von der anderer Autoren abweichen ließ.

I. Gleichklang: Rückkehr des Neothomismus nach 1945 Die Ähnlichkeiten waren weitreichend. Den Schriften lag eine einheitliche Erkenntnistheorie zugrunde, sie folgten den gleichen Begründungen des Naturrechts und der gleichen Konzeption des Verhältnisses von Naturrecht und positivem Recht. Auch die Werte und die Gesellschaftskonzeption, die durch eine naturrechtlich fundierte Rechtsordnung abgesichert werden sollten, lagen dicht beieinander. Bücher wie Heinrich Rommens „Die ewige Wiederkehr des Naturrechts“, das in der ersten Auflage bereits 1936 erschienen war und 1947 neu aufgelegt wurde, Georg Stadtmüllers „Naturrecht im Lichte der geschichtlichen Erfahrung“ (1948), Günther Küchenhoffs „Naturrecht und Christentum“ (1948) und Heinrich Kipps „Naturrecht und moderner Staat“ (1950) folgten darüber hinaus einem übereinstimmenden Aufbau. Dass sich die Schriften bis in die Darstellungsweise hinein so ähnlich waren, war kein Zufall. Sie alle griffen zurück auf die neuscholastische Renaissance des Naturrechts, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingesetzt hatte und sich in Moraltheologie und päpstlichen Enzykliken niedergeschlagen hatte. Foljanty, in: Joachim Lege (Hg.), Greifswald – Spiegel der deutschen Rechtswissenschaft 1815–1945, 2009, S. 468 f. 6  Friedrich August von der Heydte (1907–1994) war vor 1933 Privatassistent Kelsens. Im Denken näher war ihm sein späterer Lehrer Karl Hugelmann, der ein engagierter Verfechter der katholischen Vision vom großdeutschen Reich war. Von der Heydte machte im NS in der Wehrmacht Karriere. Nach 1945 zunächst arbeitslos, erhielt wurde er 1951 nach Mainz und 1954 nach Würzburg berufen. Ausführlich Vanessa Conze, Das Europa der Deutschen, 2005, S. 63 ff. 7 Zu Adolf Süsterhenn ausführlich unten, S. 117 f.

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Kapitel 3: Zwischen organischer Staatslehre und vorsichtiger Öffnung

1. Erkenntnistheoretische Begründung und Konzeption des Naturrechts Die Erkenntnistheorie, die den katholischen Naturrechtstexten der späten 1940er Jahre zugrunde lag, wurde von den Autoren als „realistisch“ bezeichnet. Es handelte sich um einen objektiv-idealistischen Zugriff. Die zeitgenössische Terminologie lehnte sich an den Universalienstreit im Mittelalter an, wo als „Realisten“ diejenigen bezeichnet worden waren, die davon ausgingen, dass das zu Erkennende in den Dingen selbst liege, während ihre Gegenspieler, die „Nominalisten“ davon ausgingen, dass Erkenntnis stets abhängig vom Betrachter sei.8 Die katholischen Naturrechtstexte, die nach 1945 veröffentlicht wurden, gingen mit ihrer „realistischen“ Erkenntnistheorie davon aus, dass es ein „Wesen“ oder „wahres Sein“ der Dinge gebe. Dieses sei zwar nicht im Wege der einfachen Sinneswahrnehmung, wohl aber mittels der Vernunft erkennbar.9 Erkenntnis funktionierte demnach so, dass in der Betrachtung des jeweiligen konkreten Gegenstandes das in diesem liegende Allgemeine erkannt werden müsse. Zum Teil wurde hier von „Dasein“ und „Sosein“ oder – in direkter Anlehnung an Thomas von Aquin – von „Existenz“ und „Essenz“ gesprochen. Aus dem „Sosein“ oder der „Essenz“ der Dinge seien Normen ableitbar. Für das Recht gab es damit zwei Erkenntnismöglichkeiten: Zum einen konnte sich ‚wahres Recht‘ aus der Natur des Rechts selbst ergeben. Zum anderen konnten aus der Natur des jeweiligen Regelungsgegenstandes Normen abgeleitet werden, insbesondere aus der Natur des Menschen. Hierzu mussten dem Menschen Grundeigenschaften zugeschrieben werden, die naturrechtlichen Schutz verlangten. Dazu gehörten Freiheit, Würde und körperliche Unversehrtheit des Menschen sowie die Annahme, dass er ein soziales Wesen sei, das nur in der Gemeinschaft mit anderen seine Bestimmung finde. Von diesen Wesensmerkmalen der „Person“ – eines idealisierten Menschen – aus konnten weitere Werte und Bedürfnisse abgeleitet werden, deren Schutz zur Verwirklichung des Wesens des Menschen notwendig waren, so etwa das Eigentum zur Gewährleistung des „leiblich-seelisch-geistigen Wohls“10 der Menschen oder die Ehre, die es dem Menschen ermöglichte, würdevoll in der Gemeinschaft zu agieren.11 Warum welche Grundwerte als Wesensmerkmale des Menschen anzusehen waren, wurde in den Schriften nicht im Einzelnen begründet, sondern als etwas Offensichtliches und ohne weiteres Einsichtiges vorausgesetzt. Letztlich war

 8  Überblick bei Fritz Hoffmann, Stichwort Realismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, 1992, Sp. 148–150.  9 Z.B. Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 61 ff. 10  Heinrich Kipp, ebd., S. 83. 11  Heinrich Kipp, ebd., S. 82.

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das „Wesen des Menschen“ in dieser Konzeption etwas Gottgegebenes. Es war für den Menschen nur deshalb erkennbar, weil Gott die Dinge so gestaltet hatte, dass der Mensch in der Lage war, ihr Wesen zu erkennen: „Indem der Schöpfer die menschliche Natur so, wie sie ist, und nicht anders erschaffen hat, indem er dem Menschen die Gabe des Intellekts gegeben hat, seine Natur in ihrem Wesen zu erkennen, hat er sich nicht nur als der Gesetzgeber offenbart, sondern damit gleichzeitig das ethische Gesetz des Sollens verkündet. Aus seiner Natur kann der Mensch das göttliche Gesetz erkennen. Es ist in und mit seiner Natur promulgiert worden.“12

Das so begründete Naturrecht war dreistufig aufgebaut – auch hierin folgten die Naturrechtsschriften der scholastischen Konzeption. Das Recht wurde als hierarchische Normenordnung begriffen, die von der lex aeterna an der Spitze über die lex naturalis hin zum menschlich gesetzten, also positiven Recht reichte. Es bestand Einigkeit, dass nur die Normen absolute und ewige Gültigkeit beanspruchen durften, die als evident gegeben angesehen wurden13 oder bei denen man davon ausging, dass sie den „tiefsten Kern“ betrafen.14 Das positive Recht hingegen sollte die konkrete Ausgestaltung in der jeweiligen Zeit und am jeweiligen Ort gewährleisten. Das Naturrecht war Legitimationsgrund und Geltungsgrenze des positiven Rechts. Der Gesetzgeber sollte an das Naturrecht gebunden sein. In dem Falle, in dem er Naturrecht verletzte, sei ein Gesetz „unverbindlich“.15 Ob dies als eine rechtliche Nichtigkeit verstanden werden sollte oder ob der Einzelne von der moralischen Befolgungspflicht entbunden werden sollte, blieb allerdings weithin unklar.16

2. Nicht bloß oberste Grundsätze, sondern eine umfassende Staatslehre Betrachtet man die konkreten Naturrechtsinhalte, zeigt sich jedoch, dass hierzu keinesfalls immer nur eng gefasste höchste Normen gezählt wurden. Es sticht vor allem eine Schrift Heinrich Kipps hervor, in welcher er einen Kanon von 24 Naturrechtssätzen zusammenstellte.17 Diese reichten von dem Recht auf Freiheit, körperliche Integrität, Eigentum und Ehrschutz über den Anspruch auf eine gerechte Gegenleistung in schuldrechtlichen Verhältnissen und einem Recht auf Arbeit bis zur Pflicht der Ehepartner zur gegenseitigen Treue sowie

12 

Heinrich Kipp, ebd., S. 70. Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 225. 14  Ernst von Hippel, Einführung in die Rechstheorie, 2.A. 1947, S. 149. 15  Ernst von Hippel, ebd., S. 43. 16  Anders bei Adolf Süsterhenn, Wir Christen und die Erneuerung des Staates (1948), in: Schriften, 1991, S. 227 (239). Zur Geltungslehre ausführlich und im Vergleich mit den Konzeptionen in den übrigen Naturrechtsdebatten Kapitel 6, S. 292 ff. 17  Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 102–108. 13 

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Kapitel 3: Zwischen organischer Staatslehre und vorsichtiger Öffnung

der Kinder zum Gehorsam gegenüber den Eltern. Auch Günther Küchenhoff buchstabierte das Naturrecht detailliert aus und leitete aus ihm zum Beispiel konkrete Regelungen zur betrieblichen Mitbestimmung ab.18 Naturrecht war in den katholischen Schriften durchgängig mehr als die Summe der Rechte, die im Falle extremen gesetzlichen Unrechts das positive Recht in seine Schranken weisen sollten.19 Naturrecht stellte vielmehr ein System von Rechten dar, das Teil einer umfassenden Staatslehre war. Diese war es, die in den Naturrechtsschriften skizziert wurde; auch die Titel der Bücher zeugen hiervon. Sie lauteten etwa: „Mensch, Recht und Staat“ und „Naturrecht im modernen Staate“ (Heinrich Kipp), „Gewaltenteilung im modernen Staate“ und „Vom Wesen der Demokratie“ (Ernst von Hippel), „Wir Christen und die Erneuerung des staatlichen Lebens“ (Adolf Süsterhenn) sowie „Grundlagen des Völkerrechts“ (Valentin Tomberg). Die Staatslehre, die in den Naturrechtsschriften entworfen wurde, entsprach derjenigen, die in der Neuscholastik seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelt worden war. Staat und Gesellschaft wurde als Organismus begriffen, der gegliedert war in Teilgemeinschaften wie Familie, Kirche und berufsständische Organisationen. Jede dieser Teilgemeinschaften erfüllte spezifische Funktionen für die Gesellschaft. Ihre Autonomie gegenüber dem Staat wurde als naturrechtlich begründet angesehen. Dies bedeutete, dass Subsidiarität eine gewichtige Maxime für den Aufbau der Rechtsordnung darstellte: „Im Mittelpunkt des politischen und gesellschaftlichen Organismus steht der Mensch. Um ihn schließen sich eine Reihe von konzentrischen Lebenskreisen, von denen der engste die Familie ist, und die sich schließlich über Gemeinde, Heimatlandschaft und Staat bis zur Völkergemeinschaft ausweiten. Jeder dieser Lebenskreise hat seine eigenen natürlichen Rechte, die sich aus seiner Wesensfunktion ergeben.“20

Dem Staat kam in dieser Konzeption vor allem die Aufgabe zu, das Gemeinwohl zu sichern, sofern dies durch die einzelnen gesellschaftlichen Einheiten nicht gewährleistet werden konnte. „Der Staat ist […] kein Selbstzweck.“, schrieb Süsterhenn, er sei vielmehr „um seiner Glieder willen da.“21 Eine solche Konzeption, in welcher der Staat die Selbstorganisation der Gesellschaft schützte und stützte, wurde als eine Überwindung des reinen Individualismus ebenso wie eines reinen Kollektivismus gelobt, die beide als Ursachen für Tyrannei beziehungsweise Totalitarismus angesehen wurden. 22

18 

Günther Küchenhoff, Naturrecht und Christentum, 1948, S. 104 ff. Dies hätte Radbruchschen Formel entsprochen, zu ihr ausführlich Kapitel 2. 20  Adolf Süsterhenn, Wir Christen und die Erneuerung des staatlichen Lebens (1948), in: Schriften, 1991, S. 227 (237). 21  Adolf Süsterhenn, ebd., S. 238. 22  Adolf Süsterhenn, ebd., S. 232 ff. 19 

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Tatsächlich jedoch wurden im katholisch-naturrechtlichen Denken Freiheiten des Einzelnen gegenüber dem Staat in einem deutlich stärkeren Maße als in der klassisch liberalen Konzeption eingeschränkt bzw. als einschränkbar angesehen. Den Schlüssel hierfür stellte der Begriff des „Gemeinwohls“ dar. Die Aufgabe, dem Gemeinwohl zu dienen, verband die Glieder der Gesellschaft: Sie alle waren beteiligt an der Hervorbringung des Gemeinwohls. Für Individuen bedeutete dies, dass sie nicht nur vom Staat gewährte Rechte genossen, sondern sowohl gegenüber den sozialen Teilgemeinschaften, denen sie angehörten, als auch gegenüber dem Staat Treue- und Mitwirkungspflichten hatten. Sie hatten die Pflicht, sich in die dem Gemeinwohl dienenden sozialen Einheiten einzufügen. 23 Der Staat hatte die Aufgabe, einen Rahmen zu schaffen, in welchem das Gemeinwohl verwirklicht werden konnte. Die Verwirklichung des Gemeinwohls war damit Gradmesser für die Legitimität des Staates. Solange der Staat das Gemeinwohl garantierte, konnten somit individuelle, aber auch naturrechtlich garantierte Rechte eingeschränkt werden, ohne dass die Legitimität des Staates in Frage gestellt würde. Der Gesellschaftsentwurf des Liberalismus, in welchem die Garantie subjektiver Freiheitsrechte der Individuen im Mittelpunkt stand, wurde als unzureichend kritisiert, stattdessen ein Mittelweg zwischen Individualismus und Kollektivismus gefordert: „Die Forderung, dass der Staat Rechtsstaat sei, gilt daher auch heute. Der Unterschied zwischen dem Ideal des wahren Rechtsstaats und dem Rechtsstaat liberaler Prägung beruht auf der Wesensverschiedenheit unseres und des liberalen Rechtsbegriffs. Während der Liberalismus im Recht nur die Garantie der Freiheit und Unabhängigkeit des Individuums erblickt, ist der christlich-naturrechtliche Rechtsgedanke wesentlich gemeinschaftsbezogen. Der von Aristoteles und Thomas entwickelte Begriff der Gerechtigkeit umfasst ausser der die Beziehungen des Einzelnen zueinander ordnenden ausgleichenden Gerechtigkeit auch noch die das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft ordnende allgemeine und austeilende Gerechtigkeit. Der Einzelne wird also nicht nur als Individuum sondern auch als Glied der Gemeinschaft und ebenso wird die Gemeinschaft selbst der Gerechtigkeitsnorm unterstellt. Diese Gerechtigkeitsnorm ist orientiert am Gemeinwohl, das nicht identisch ist mit dem Eigenwohl der Gemeinschaft als solcher, sondern das das Wohl des Einzelnen voraussetzt und mitträgt.“24

Die Konzeption individueller Rechte war damit eine völlig andere als im Liberalismus. Das „Gemeinwohl“ bezeichnete ein Ideal, in welchem die Interessen der Individuen optimal austariert waren. Rechte kamen den Individuen primär deswegen zu, weil dies vom Gemeinwohl gefordert war. Für die Natur-

23 

Zum damit verbundenen positiven Freiheitsbegriff Kapitel 6, S. 236 ff. namentlich gezeichnetes maschinenschriftliches Manuskript aus dem Nachlass Adolf Süsterhenns, vermutlich verfasst von diesem, LHA Koblenz, 700/177, Nr. 633, Bl. 49 v. [Hervorhebungen im Original]. 24  Nicht

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Kapitel 3: Zwischen organischer Staatslehre und vorsichtiger Öffnung

rechtsliteratur nach 1945 ist charakteristisch, dass eine solch radikal gemeinschaftsorientierte Ableitung nicht mehr erfolgte, sondern darauf hingewiesen wurde, dass sich die Rechte des Einzelnen neben dem Eigenwohl eben auch aus dem Gemeinwohl ergaben. Die Kernelemente dieser Staatslehre waren seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von katholischen Moraltheologen formuliert 25 und durch päpstliche Enzykliken zur offiziellen Doktrin der Kirche erklärt worden. 26 Das Naturrecht und die Philosophie der Scholastik hatten in dieser Zeit eine Renaissance erlebt und sich zu einer Einheitslehre verfestigt, die erst in den 1920er Jahren wieder in Bewegung geraten sollte. 27 Nach 1945 wurde an eben diese Einheitslehre angeknüpft. Zitiert wurde wenig, doch auf die für die Neuscholastik zentralen Enzykliken „Rerum Novarum“ (1891) von Leo XIII. und „Quadragesimo anno“ (1931) von Pius XI. wurde wiederholt zurückgegriffen. 28

II. Naturrecht und das schwierige Verhältnis der Kirche zum Staat Nach 1945 auf Neuscholastik und päpstliche Doktrinen zurückzugreifen bedeutete, ein stabiles Lehrgebäude zur Grundlage des Rechts zu erklären und Kirche und Religion an die Stelle zu setzten, an welcher der Nationalsozialismus eine Lücke hinterlassen hatte: Die Legitimation von Recht und Staat erfolgte in den katholischen Naturrechtsschriften über die von Gott geschaffene Natur. Recht war letztlich etwas göttlich vorgegebenes. 29 Die Stabilität der kirchlichen Lehre war jedoch nicht der einzige Grund, welcher die neuscholastische Doktrin nach 1945 attraktiv machte. Indem sie das Naturrecht in den Zusammenhang einer umfassenden Staatslehre stellte, bot sie die Möglichkeit, die Position der Kirche in der Nachkriegsgesellschaft und ihr Verhältnis zum Staat zu bestimmen. Bereits seit ihren Anfängen war die Neuscholastik ein Rahmen für die katholische Kirche, eben solche Positionsbestimmungen vorzunehmen. So fand die neuscholastische Lehre in 25 Z.B. Theodor Meyer, Die Grundsätze der Sittlichkeit und des Rechts, 1868; Victor ­ athrein, Die Aufgaben der Staatsgewalt und ihre Grenzen, 1882; ders., Recht, Naturrecht C und positives Recht, 1909; Joseph Mausbach, Naturrecht und Völkerrecht, 1918. 26  Vor allem durch die Enzyklika Aeterna Patris (1879) von Leo XIII. Die Renaissance des Naturrechts in der offiziellen Doktrin der Kirche war bereits von Pius IX. durch die Enzyklika Quanta Cura (1864) eingeleitet worden. 27  Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, 2005, S. 193 ff. 28  Direkte Zitate aus den Enzykliken besonders bei Adolf Süsterhenn, Schriften, 1991, passim; Günther Küchenhoff, Naturrecht und Christentum, 1948, passim. 29  So spricht Rudolf Uertz im Titel seines Buches über das katholische Rechtsdenken des 19. und 20. Jahrhunderts von „Gottesrecht“, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, 2005.

II. Naturrecht und das schwierige Verhältnis der Kirche zum Staat

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Deutschland Verbreitung im Zusammenhang mit dem „Kulturkampf“ der 1870er Jahre, also in Reaktion auf die Beschränkung von Rechten der Kirche durch den preußischen Staat.30 Kurz nach dem Ersten Vatikanischen Konzil hatte dieser so seine Autorität gegenüber der Kirche und damit seine uneingeschränkte Souveränität demonstriert. Von katholischer Seite wurde dies als traumatisch erlebt,31 katholische Wissenschaftler besannen sich auf die eigene verschüttete Tradition: das scholastische Naturrecht. Hans Maier spricht in diesem Zusammenhang von einem „Signal zum Rückzug auf die eigene, umgrenzte katholische Sonderwelt.“32 Sie aktualisierten damit nicht nur eine eigene Tradition, um sich hierdurch von einer als feindlich empfundenen Umwelt abzugrenzen. Naturrecht bot für die Kirche auch die Möglichkeit, Abwehrrechte gegenüber staatlichen Eingriffen zu beanspruchen. Zentrales Thema in der neuscholastischen Naturrechtsrenaissance des späten 19. Jahrhunderts war die Sicherung der Autonomie der Kirche gegenüber dem Staat, konkret die Ausgestaltung der Regelungen über Ehe und Familie, die Sicherstellung religiöser Erziehung sowie die Vereinigungsfreiheit. Diese konkreten Themen waren zeitbedingt, waren doch die Einführung der Zivilehe sowie der staatlichen Aufsicht über das Schulwesen die Auslöser des Konfliktes zwischen Kirche und Staat im Kulturkampf gewesen.33 Das katholische Verbandswesen wiederum war seinerzeit staatlichen Restriktionen ausgesetzt, die Forderung nach Vereinigungsfreiheit war eine Reaktion hierauf. Dass Naturrecht in der Neuscholastik in eine umfassende organische Staatslehre eingebettet wurde, war eben diesen Themen geschuldet: Mittels der Vorstellung, dass die Gesellschaft ein Organismus sei, der sich aus verschiedenen sozialen Einheiten als Glieder zusammensetze, konnte die Notwendigkeit autonomer Rechte für die einzelnen Glieder begründet werden – und somit auch für die Kirche und das katholische Verbandswesen. Obgleich die Neuscholastik mit ihrer Naturrechts- und Staatslehre eine Gesamtkonzeption von Staat und Gesellschaft entwarf, kreiste sie damit um die Frage, wie Einflusssphäre und der Autonomie der Kirche geschützt werden könnten. Konsequent erklärte sich die Kirche im ausgehenden 19. Jahrhundert für neutral gegenüber der staatlichen Politik, sofern ihre Rechte gewahrt

30  Zum „Kulturkampf“ siehe Überblick bei Gerhard Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, 1998, S. 20 ff. 31  Hans Maier, AöR 93 (1968), 1 (22). Ernst-Wolfgang Böckenförde weist darauf hin, dass aufgrund dieser traumatischen Wirkung noch in der Weimarer Zeit eine starke Orientierung unter den katholischen Gläubigen an den Bischöfen und dem Episkopat auch in politischen Fragen herrschte, vgl. Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933 (1961), 1988, S. 41. 32  Hans Maier, AöR 93 (1968), 1 (10). 33  Gerhard Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, 1998, S. 23 f.

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seien. Dies bezog sich vor allem auf die Frage der Herrschaftsform: Katholiken dürften keine Staatsform einer anderen vorziehen, lautete die Vorgabe Papst Leos XIII., wiederholt formuliert in seinen Enzykliken der letzten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts.34 Die Haltung der Kirche zum Staat und zu weltlicher Politik bewegte sich damit im Spannungsfeld zwischen selbstverordneter Neutralität und weitgehenden eigenen Vorstellungen, wie eine legitime Ordnung auszusehen habe. In der Praxis führte dies zu einer erheblichen Skepsis gegenüber der Demokratie als Herrschaftsform. Als Gradmesser für die Legitimität einer Ordnung galt, dass die Autonomie und der Einflussbereich der Kirche hinreichend geschützt wurden. Ob eine liberale Demokratie dies gewährleisten könne, erschien Katholiken zweifelhaft. Sie wurde als „mechanistisch“, und „individualistisch“ abgelehnt,35 da sie als „Formdemokratie“ ohne materialen Gehalt ein Feld für die Durchsetzung partikularer Interessen biete.36 Der Souveränität des Volkes müssten Grenzen gesetzt werden um sicherzustellen, dass die Anforderungen erfüllt würden, die kirchlicherseits an eine legitime staatliche Ordnung zu stellen seien. „Selbstregierung setzt ein hohes Maß von Einsicht, von sittlicher Hoheit und Kraft, von politischer Reife voraus, die bei den Massen nicht vorausgesetzt werden können […].“37 Auch wenn sich in den 1920er Jahren die Positionen ausdifferenzierten und sich Katholiken in der Weimarer Republik aktiv in die parlamentarische Politik einbrachten, wirkte diese Skepsis weithin fort. 38 Die Begründungslast lag bei denen, die Demokratie und Katholizismus für vereinbar hielten und selbst diese begegneten der Weimarer Demokratie ambivalent: Sie setzten ihr ein Konzept „organischer Demokratie“ entgegen und versuchten so, die katholische Vorstellung eines gegliederten Staates mit dem Gedanken moderner Demokratie zu verbinden.39

34 

So vor allem in den Enzykliken Diuturmum illud (1881) und Rerum Novarum (1891). So allgemein für den Liberalismus Victor Cathrein, Die Aufgaben der Staatsgewalt und ihre Grenzen, 1882, S. 75. 36  Kritisch gegenüber der katholischen Demokratieskepsis und sich dennoch in dieser Terminologie vom liberalen Modell abgrenzend Peter Tischleder, Staatsgewalt und katholisches Gewissen, 1927, S. 68 ff. 37  Eduard Eichmann, Kirche und Staat, ARSP 16 (1922/23), 131 (141 ff.). 38 Z.B. Eduard Eichmann, ebd. Diese Skepsis herrschte auch in der Zentrumspartei, die bereits in der ersten Hälfte der 1920er Jahre wieder ihr Bekenntnis zur Demokratie aufgab, um nicht Wähler nach rechts zu verlieren, vgl. Wilfried Loth, in: Martin Greschat u.a. (Hg.), Christentum und Demokratie im 20. Jahrhundert, S. 111 (125 ff.). Siehe zur Demokratieskepsis im katholischen Milieu der Weimarer Republik auch Hans Maier, AöR 93 (1968), 1 (32 f.); ders., in: Kirche und Demokratie, 1983, S. 74 (103 ff.). 39 Z.B. Peter Tischleder, Staatsgewalt und katholisches Gewissen, 1927, S. 55 ff., besonders S. 68 ff. 35 

III. Katholische Naturrechtsliteratur nach 1945

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Dem Nationalsozialismus brachten katholische Geistliche und Politiker anfänglich Zurückhaltung und Kritik entgegen, mit Abschluss des Konkordats im Juli 1933 änderte sich dies jedoch. Das nationalsozialistische Regime sicherte der Kirche ihre Rechte zu, im Gegenzug riefen Priester und Bischöfe die Gläubigen zur Unterstützung des Regimes auf. Die Haltung zum Staat folgte damit auch nach 1933 dem Primat der Autonomie der Kirche. Solange ihre naturrechtlich begründeten Rechte durch staatliche Herrschaft gesichert waren, galt diese als legitim – auch die nationalsozialistische.40 Erst als deutlich wurde, dass die Kirche trotz Konkordat Restriktionen ausgesetzt war und Geistliche verfolgt wurden, wandte sich die Kirche von höchster Stelle gegen das Regime: In der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ (1937) erklärte Papst Pius XI. das nationalsozialistische Regime für illegitim. Naturrecht war hier die Grundlage der Kritik. Die Kirche nutzte es, um politisch Stellung zu beziehen und ihre Unabhängigkeit gegenüber totalitären Regimes zum Ausdruck zu bringen. Der Boden unter dem Neutralitätsgebot, auf das sich die Kirche noch zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft berufen hatte, wurde instabil, eine Neuverortung notwendig.

III. Katholische Naturrechtsliteratur nach 1945: Rechristianisierung statt Demokratisierung In der von katholischen Juristen verfassten Naturrechtsliteratur in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde all dies nicht angesprochen. Abgesehen von Erschütterungsbekundungen gegenüber dem, was im Nationalsozialismus geschehen war, lesen sich die Texte zeitlos. Auf neuscholastische Literatur wurde kaum Bezug genommen,41 ebensowenig auf zeitgenössische theologische Positionen zur Neuverortung der Kirche. Tatsächlich übernahmen die Verfasser im Wesentlichen die neuscholastische Staatslehre und formulierten diese in ihren Schriften aus. Die Fragen, mit denen sie sich unter der Ober­ fläche der neuscholastischen Lehre befassten, waren jedoch der Umbruchsituation geschuldet, in welcher sich Kirche und staatliche Ordnung befanden. Die Re­christianisierung der Gesellschaft und die Haltung, die Katholiken zur de40  Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933 (1961), 1988, S. 60 ff. Daneben gab es jedoch auch katholische Intellektuelle, die von Anfang an für den Nationalsozialismus optierten. Böckenförde erklärt dies damit, dass sich das katholische Denken mit dem des Nationalsozialismus in Antiliberalismus und Antiindividualismus traf und sich der Nationalsozialismus obendrein mit der Organismusmetaphorik einer Terminologie bediente, die dem katholischen Denken vertraut erschien, vgl. ebd., S. 66 f. 41  In vielen Texten wurde allerdings auch auf keine andere Literatur verwiesen. Es wurde insgesamt wenig zitiert und wenig belegt. Anders Günther Küchenhoff, Naturrecht und Christentum, 1948, der wiederholt auf die Schriften Victor Cathreins Bezug nahm.

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Kapitel 3: Zwischen organischer Staatslehre und vorsichtiger Öffnung

mokratischen Nachkriegsordnung einnehmen sollten, waren die zentralen Themen, die in den Naturrechtsschriften ausgehandelt wurden.

1. Abschütteln der Schuld: Anbindung des Rechts an Kirche und Religion Recht und Rechtswissenschaft auf eine christliche Grundlage zu stellen, war ein Hauptanliegen von katholischen Juristen, die sich nach 1945 der Naturrechtsfrage widmeten. „Wir brauchen an unseren Universitäten Philosophen, die vom christlichen Gottesbegriff her ihr philosophisches Weltbild aufbauen und von der in der Gottesebenbildlichkeit begründeten Freiheit und Würde des Menschen ausgehen. Wir brauchen Rechtslehrer, die auf dem Boden des Naturrechts stehen und sich zum christl[ichen] Gedanken des Rechtsstaats und der naturrechtlich begründeten Völkerrechtsgemeinschaft bekennen […].“42 Mit einer solchen Forderung leisteten katholische Juristen nach 1945 einen Beitrag zu den Rechristianisierungsversuchen seitens der Kirche. Vertreter beider Kirchen verfolgten nach Kriegsende das Ziel, die Menschen zum Glauben und zur Kirche zurückzuführen. Bereits in den letzten Kriegsjahren hatten die Kirchen Zulauf erhalten43, nun wandten sich Pfarrer, Bischöfe und Theologen an die Bevölkerung mit der Botschaft, dass die Gesellschaft sich nur im Glauben vollständig vom nationalsozialistischen Schrecken abwenden könne.44 „Ihr seht die Hinterlassenschaft eines Staatsbegriffs und einer staatlichen Betätigung, die den heiligsten Gefühlen der Menschlichkeit in keiner Weise Rechnung trägt und die unverletzlichen Grundsätze des christlichen Glaubens mit Füßen tritt.“45 Die Aufforderung zur Rückbesinnung auf die christliche Religion lebte davon, dass christliche Werte und nationalsozialistische Ideologie in strikte Opposition gesetzt wurden.46 In der Säkularisierung wurde die Ursache 42 

Adolf Süsterhenn, Zur Universitätsfrage (1946), in: Schriften, 1991, S. 11 (12 f.). Gerhard Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, 2000, S. 32; diese Wahrnehmung äußerte zeitgenössich auch Ulrich Scheuner, in: Kirche und Recht, 1950, S. 27 (28). 44  Für beide Kirchen Martin Greschat, Die evangelische Christenheit und die deutsche Geschichte nach 1945, 2002, S. 310 ff. Die Rechristianisierungsversuche erwiesen sich für die katholische Kirche als nicht erfolgreich, bereits in den ersten fünf Nachkriegsjahren war der Kirchenbesuch wieder rückläufig. Hierzu und zum Rechristianisierungsversuch seitens der katholischen Kirche insgesamt Konrad Repgen, in: Victor Conzemius u.a. (Hg.), Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte, 1988, S. 127 (138 ff.). 45  Pius XII., Kirche und Nationalsozialismus, Ansprache an das Kardinalskollegium am 2.6.1945, Abdruck in: Utz/Groner, S. 1800 (1802). 46  Hierzu gehörte auch, dass im Selbstverständnis der Kirche Katholiken in erster Linie Verfolgte des Nationalsozialismus waren und zwar nicht unbedingt offen Widerstand geleistet, sich der geistigen Anpassung aber dauerhaft widersetzt hatten, Konrad Repgen, in: Victor Conzemius u.a. (Hg.), Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte, 1988, S. 127 (131 ff., 147 ff.). 43 

III. Katholische Naturrechtsliteratur nach 1945

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dafür gesehen, dass es zum Nationalsozialismus hatte kommen können.47 Religion galt als Schutz vor erneutem Unrecht.48 Eben diese Argumentation stützte auch die katholischen Naturrechtsentwürfe, die nach 1945 verfasst wurden. Besonders die These, dass es der Säkularisierung zuzuschreiben sei, dass es zum Nationalsozialismus hatte kommen können, erfreute sich großer Beliebtheit. Keine der katholischen Naturrechtsschriften aus der zweiten Hälfte der 1940er Jahre kam ohne sie aus. In vielen Schriften stellte sie den roten Faden einer Geschichtserzählung dar, welche vom Mittelalter bis in die Gegenwart reichte und die der eigentlichen Darstellung der Naturrechtskonzeption vorangestellt wurde.49 In dieser Erzählung war das christliche Mittelalter mit dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation ein ‚goldenes Zeitalter‘. Die Neuzeit hingegen wurde als Zeit der Abwendung von der christlichen Religion und damit als eine Zeit des Verfalls beschrieben, die folgerichtig in den Nationalsozialismus habe münden müssen. Mittelalter und Neuzeit standen dabei für einander entgegengesetzte Konzepte des Rechtsdenkens: Während im christlichen Mittelalter ein „realistisches“ und damit naturrechtliches Rechtsdenken geherrscht habe, sei dieses in der Neuzeit mehr und mehr vom „Nominalismus“ verdrängt worden, als dessen Pendant im Rechtsdenken der Rechtspositivismus ausgemacht wurde: „Und wie der steile Weg seiner Richtung nach zur ‚civitas coelestis‘ zum Gottesstaat, führt, der in Christus seine Mitte findet, führt der breite Weg des Nominalismus notwendig seinerseits zu dem ‚Reiche dieser Welt‘, d.h. zum Reich des Antichrist. Dabei enthält der Nominalismus als Gedankenkeime bereits in sich jene politische Entwicklung, welche die Geschichte seit dem Verfall des Mittelalters dann in der Zeit durchmessen hat.“50

Diese, von dem Kölner Staatsrechtslehrer Ernst von Hippel formulierten Sätze veranschaulichen, wie wertend die Darstellungsweise war. Sie lief auf eine zentrale Aussage hinaus: dass nämlich eine Verankerung des Rechts in der Religion notwendig sei. Damit ersetzte sie eine theologische oder philosophische Naturrechtsbegründung. Tatsächlich findet sich in den katholischen Naturrechtsleh47  Konrad Repgen, ebd., S. 138 ff. Eine solche Deutung des Nationalsozialismus war weit über das katholische Milieu hinaus verbreitet und schlug sich nicht nur in der katholischen Naturrechtsliteratur, sondern auch in den übrigen Naturrechtsdebatten nieder, hierzu Kapitel 6 B. 48  Adolf M. Birke, in: Victor Conzemius u.a. (Hg.), Die Zeit nach 1945 als Thema kirch­ licher Zeitgeschichte, 1988, S. 180 (181 ff.). 49  Eine solche Zweiteilung war charakteristisch für die katholischen Naturrechtsschriften, sie findet sich in den übrigen Naturrechtsdebatten nicht. Vgl. Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947; Valentin Tomberg, Degeneration und Regeneration der Rechtswissenschaft, 1946; Ernst von Hippel, Vom Wesen der Demokratie, 1947; Adolf Süsterhenn, Das Naturrecht (1947), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 11–26; Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950. 50  Ernst von Hippel, Vom Wesen der Demokratie, 1947, S. 30 f.

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Kapitel 3: Zwischen organischer Staatslehre und vorsichtiger Öffnung

ren jener Jahre kaum ein Verweis auf theologische Diskussionen und Schriften. Die Geschichte lieferte vielmehr den Stoff, der es plausibel machte, dass das Recht nur dann als legitim angesehen werden könne, wenn es im Einklang mit religiösen Werten stehe. Die Säkularisierungsthese war somit ein tragender Pfeiler der Naturrechtsbegründung.51 Die katholischen Naturrechtsschriften folgten damit einer Argumentation, die auch für das kirchlichen Projekt, die Gesellschaft zu rechristianisieren, eine bedeutende Rolle spielte. Ob man, wie die Verfasser der Naturrechtsschriften, begründen wollte, dass Recht und Staat auf christlichen Werten basieren müssten, oder ob man, wie die Kirche, die Einzelnen überzeugen wollte, sich dem Christentum aktiv zuzuwenden: In jedem Fall wurde ein Deutungsmuster bemüht, in dem Religion und Nationalsozialismus strikt entgegengesetzt waren. Ein religiös fundiertes Recht wurde als Gegenentwurf zum Nationalsozialismus wahrgenommen, die Kirche als Gegengewicht zum Staat, der sich schuldig gemacht hatte. Katholische Juristen versuchten mit ihren Naturrechtsentwürfen, die enge Bindung zwischen Recht und Staat zu durchtrennen und suchten Nähe zur Kirche, die als unbefleckt von nationalsozialistischer Schuld galt. Die Kollaboration der Kirche mit dem Nationalsozialismus wurde in den Naturrechtsschriften nicht angesprochen und folglich auch nicht problematisiert.52

2. Demokratie: Zwischen verhaltener und offener Skepsis Anders als die Frage der religiösen Fundierung des Rechts wurde die Frage der Demokratie in der katholischen Naturrechtsliteratur nicht breit und offen verhandelt. Es handelte sich bei den Naturrechtslehren um Entwürfe, wie eine gerechte Ordnung in materieller Hinsicht aussehen sollte. Getreu der neuscholastischen Tradition hielten sich die meisten der Autoren bedeckt, was die Frage anging, wie Willensbildung in einer solchen Ordnung organisiert sein 51  Zu den Geschichtserzählungen und den mit ihnen transportierten Werten ausführlich Kapitel 6 B. 52  Dies war kein Spezifikum der Naturrechtsliteratur, das Ausblenden der Verstrickungen der Kirche wurde vielmehr vom gesamten katholischen Spektrum getragen. Für die Haltung von kirchenoffizieller Seite siehe z.B. Pius XII., Kirche und Nationalsozialismus, Abdruck in: Utz/Groner, S. 1800 (1803) sowie die Auseinandersetzung mit der Schuldfrage im Hirtenbrief der Fuldaer Bischofskonferenz vom 23.8.1945, hierzu Konrad Repgen, in: Victor Conzemius u.a. (Hg.), Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte, 1988, S. 127 (144 ff.). Für den Linkskatholizismus, wie er in den Frankfurter Heften in den ersten Nachkriegsjahren vertreten wurde, Karl Prünn, in: Thomas Koebner u.a. (Hg.), Deutschland nach Hitler, 1987, S. 330 (337). Erst in den 1960er Jahren setzte eine kritische Aufarbeitung der Kollaboration der Kirche mit dem nationalsozialistischen Regime ein, z.B. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933 (1961), 1988. Überblick über die Auseinandersetzung mit der Geschichte der katholischen Kirche im NS bei Christoph Kösters, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte Bd. 120 (2009), S. 27–57.

III. Katholische Naturrechtsliteratur nach 1945

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solle. Da die Naturrechtsentwürfe jedoch als umfassende Staatslehren angelegt waren, war die Frage der Demokratie in den Schriften unweigerlich präsent. Konnte ungebrochen an der neuscholastischen Staatslehre festgehalten werden, wenn man sich ernsthaft klar machte, dass nun, nach 1945, die Anforderung im Raume stand, eine demokratische Gesellschaftsordnung zu errichten? Diese Frage war bereits vor Kriegsende durch eine Radiobotschaft von Papst Pius XII. aufgeworfen worden. Er hatte sich in seiner Ansprache zu Weihnachten 1944 der Frage der Demokratie gewidmet, „um darzulegen, wie eine der Menschenwürde entsprechende Demokratie im Einklang mit dem Naturgesetz und den in der Offenbarung kundgegebenen Plänen Gottes imstande sei, zu ersprießlichen Erfolgen zu gelangen.“53 Er erklärte den einzelnen Menschen als „Träger, Grundlage und Ziel“ aller Politik54 und durchbrach damit die Indifferenz der Kirche gegenüber der politischen Herrschaftsform. Erstmals bejahte ein Papst die Demokratie als Herrschaftsform.55 Er hielt dabei jedoch am Primat der religiösen Wahrheit in der Politik fest. 56 Die letzte Instanz blieb damit die Kirche, nicht der Demos: „Soll die Zukunft der Demokratie gehören, dann muß ein wesentlicher Teil der Erfüllung ihrer Aufgabe der Religion Christi und der Kirche zufallen, […]. Sie ist es in der Tat, welche die Wahrheiten lehrt und verteidigt, sie, welche die übernatürlichen Kräfte der Gnade mitteilt zur Verwirklichung der von Gott festgesetzten Ordnung des Seins und der Zwecke, jener Ordnung, die letzte Grundlage und Richtschnur jeder Demokratie ist.“57

Diese Ambivalenz zeigt sich auch in der nach 1945 von deutschen Juristen verfassten Naturrechtsliteratur. Die Haltungen zur Demokratie bewegten sich zwischen verhaltener und offener Skepsis. Zumeist zeigte sich dies nur zwischen den Zeilen: Valentin Tomberg etwa warf die Frage der Demokratie nicht auf, stellte die katholische Kirche mit ihrer hierarchischen Ordnung aber als die ideale Gemeinschaft dar.58 Heinrich Kipp und Ernst von Hippel dagegen widmeten sich der Frage der Demokratie offen und rückten sie in den Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzung. An ihren Schriften lässt sich gut erkennen, wie schwierig für sie die Positionierung gegenüber der Demokratie war, was der neuscholastischen Lehre 53  Pius XII., Grundlehren über die wahre Demokratie, Radiobotschaft an die Welt, 24.12.1944, Abdruck in: Utz/Groner, S. 1771 (1781). 54  Pius XII., ebd., S. 1775. 55  Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, 2005, S. 364. 56  Die Demokratieansprache ist vielfach als Durchbruch in der Haltung zur Demokratie gewertet worden. Angesichts des Primats der religiösen Wahrheit ist jedoch Vorsicht mit einer solchen Einschätzung geboten. Insbesondere fehlen in der Ansprache Aussagen über politische Rechte und ihre institutionelle Absicherung. Umfassend kritisch Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, 2005, S. 363 ff. 57  Pius XII., Grundlehren über die wahre Demokratie (1944), Abdruck in: Utz/Groner, S. 1771 (1786 f.). 58  Valentin Tomberg, Degeneration und Regeneration der Rechtswissenschaft, 1946, S. 55.

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Kapitel 3: Zwischen organischer Staatslehre und vorsichtiger Öffnung

geschuldet war: Die religiös abgeleitete, naturrechtliche Staatslehre war strukturell kaum mit den Grundsätzen einer modernen, liberal-demokratischen Ordnung in Einklang zu bringen. So erkannte Ernst von Hippel zwar grundsätzlich die Notwendigkeit an, das Volk an politischen Entscheidungen zu beteiligen, machte aber deutlich, dass das Recht aus seiner Sicht nicht demokratisch begründet werden konnte: „Hinz und Kunz, oder richtiger, die Gesamtheit hat über die Positivität des Rechts immer entschieden, denn dessen Wirklichkeit beruht stets auf Anerkennung oder zum mindesten Duldung durch das Volk. Aber die Geltung einer Ordnung und deren Verbindlichkeit gründen nicht hierin, sondern im Recht.“59

Er kritisierte die Demokratie dafür, dass in ihr politische Entscheidungen allein auf den Interessen und Präferenzen der Mehrheit gründeten. Die Gestaltung der Gesellschaft war seiner Auffassung nach jedoch keine Frage des Willens, sondern der Wahrheit. Eine ideale politische Ordnung konnte in seiner Vorstellung nur durch ein Gremium von Experten gewährleistet werden, die in der Lage waren, das Naturrecht, als „wahres“ Recht zu erkennen. Demokratie stellte ein Risiko für die Verwirklichung des Naturrechts dar. In seiner als Dialog zwischen einem Vater und seinem Sohn geschriebenen „Einführung in die Rechtstheorie“ (1947) heißt es: „V. […] Dazu kommt es hier, wo es sich um das Objektive der Werte handelt, auch gar nicht auf die Meinung aller an, sondern auf die Sache als solche und somit für uns Menschen auf das, was die Weisesten, Gerechtesten, Reinsten und Liebevollsten von ihr erkennen. S. Dann würde also unter Umständen das Wort eines Einzigen wichtiger und maßgeblicher sein können als die Meinung eines ganzen Volkes? Obwohl dies schwerlich jemals praktisch werden dürfte. V. Allerdings, und es ist sogar bereits im höchsten Sinne praktisch geworden. Denn was Christus als Gottmensch offenbarte, den Kaiphas streben ließ, weil er das Volk und so die Vielen für wertvoller hielt als den Einen, bildet für das Mittelalter den eigentlichen Inhalt der lex aeterna.“60

Heinrich Kipps Ausführungen zur Demokratie folgten einem ähnlichen Muster. Auch er erklärte sich zunächst mit der Demokratie als Herrschaftsform einverstanden, wich aber, kaum dass er dies ausgesprochen hatte, zurück auf die neuscholastische Herrschaftskonzeption, in welcher die Verwirklichung des Gemeinwohls, nicht die Selbstbestimmung der von der Herrschaft Betroffenen, Maßstab für die Legitimität der Gesellschaftsordnung war. „Alle Menschen sind als freie Wesen geboren“, schrieb er in seiner Staatslehre, die 1947 unter dem Titel „Mensch, Recht und Staat“ erschien. „Aus der Natur der Dinge und Menschen läßt sich kein vernünftiger Grund finden, warum die Staatsgewalt

59  60 

Ernst von Hippel, Einführung in die Rechtstheorie, 2.A. 1947, S. 51. Ernst von Hippel, ebd., S. 73.

III. Katholische Naturrechtsliteratur nach 1945

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einem einzelnen oder einer Personengruppe zustehen soll.“61 Er begründete mithin, dass insbesondere die direkte, aber in Massenstaaten auch die indirekte Demokratie die „naturrechtsgemäße“ Herrschaftsform sei. Schon im nächsten Zug schränkte er diese Aussage jedoch ein: Das Volk habe die Staatsgewalt direkt von Gott empfangen. Gott übergebe die Staatsgewalt allerdings nicht den einzelnen Individuen, sondern dem „Gemeinschaftsganzen“, „der Gesamtperson des Staates selbst.“62 Die Staatsgewalt kam damit einem „Volk“ zu, das von den konkreten Individuen, aus denen es sich zusammensetzte, abstrahiert war. Kipp beschrieb dieses „Volk“ als „Organ des Staatsganzen, der sittlichen Staatspersönlichkeit“.63 Schon in dieser Ausklammerung der Individuen aus den Überlegungen zur Staatsgewalt zeigt sich ein bedeutender Unterschied zur liberal-demokratischen Konzeption. Wie tiefgreifend die Diskrepanz war, wird deutlich, wenn man die folgende Argumentation Kipps verfolgt: Daraus, dass die Staatgewalt von Gott dem Volk übertragen worden ist, lasse sich nicht ableiten, dass auch die genaue Ausgestaltung der Herrschaft seitens des Volkes beeinflussbar sein müsse. Denn das Volk delegiere seine Staatsgewalt wiederum weiter; ob an einen Monarchen oder an ein demokratisch gewähltes Parlament spiele keine Rolle. Keine Herrschaftsform sei ausgeschlossen, „sofern sie nur in der rechten Art das Gemeinwohl erstrebt“64 und vom Volk zumindest konkludent Billigung erfahre. Auch folge daraus, dass dem Volk ursprünglich die Staatsgewalt anvertraut worden war, nicht, dass es das Recht habe, sie jederzeit vom Herrscher zurückzufordern. Widerstand gegen einen Herrscher, der die übertragene Staatsgewalt missbrauche, sei zwar zulässig,65 Revolution aber unsittlich, da diese einen Bruch des naturrechtlichen Grundsatzes pacta sunt servanda bedeute, also eine Vertragsverletzung seitens des Volkes darstelle.66 Zumindest sei das Volk nach erfolgter Revolution verpflichtet, die neue Herrschaft zu akzeptieren und dadurch zu legitimieren, solange diese dem Gemeinwohl diente. Konkrete Entwürfe für die Gestaltung der politischen Ordnung im Nachkriegsdeutschland finden sich in den katholischen Naturrechtsschriften kaum, auch nicht in denen Heinrich Kipps. Ausnahmen waren hier Adolf Süsterhenn und Ernst von Hippel. Da das Parlament zu einem „Absolutismus der Mehrheit“ neige,67 forderten beide ein Korrektiv. Süsterhenn sah in der Einrichtung des Bundesrats die ideale Lösung. Ernst von Hippel ging dies nicht weit genug. 61 

Heinrich Kipp, Mensch, Recht und Staat, 1947, S. 88. Heinrich Kipp, ebd., S. 89. 63  Heinrich Kipp, ebd., S. 90. 64  Heinrich Kipp, ebd., S. 91 f. 65  Heinrich Kipp, ebd., S. 92. 66  Heinrich Kipp, ebd., S. 93. 67  Das Stichwort des „Staatsabsolutismus“, an das sich die Rede vom „Parlamentsabsolutismus“ anlehnt, findet sich auch in der Radiobotschaft zur Demokratie von Pius XII., Abdruck in: Utz/Groner, S. 1771 (1780). Siehe hierzu auch Kapitel 1, S. 27 ff. 62 

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Kapitel 3: Zwischen organischer Staatslehre und vorsichtiger Öffnung

Auch ein Bundesrat könne nicht garantieren, dass materielle Gerechtigkeit im Sinne des Naturrechts verwirklicht werde.68 Während er in seiner Schrift „Vom Wesen der Demokratie“ (1947) vorschlug, dem Parlament ein Expertengremium mit Vertretern aus Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Kirchen beiseite zu stellen, entwickelte er in „Gewaltenteilung im modernen Staate“ (1948) gar ein Modell mit einer dreigliedrigen Legislative. Das Parlament sollte in dieser Konzeption in seinem Aufgabenbereich stark beschnitten werden, da alle kulturellen und wirtschaftlichen Fragen von zwei, dem Parlament beigeordneten Expertengremien getroffen würden.69 Ein Expertengremium hätte den Vorteil, dass es „nicht politische Mündigkeit allein darstellt, sondern kulturelle Reife […].“.70 Fehle diese, so drohe „der Prozeß der Barbarisierung, welcher heute die ganze Welt bedroht, aus der Fehlordnung der Gemeinschaft selber ständig neue Nahrung“ zu erhalten.71 Zudem versprach er sich von einem Expertengremium eine Entlastung des Parlaments, von welchem er befürchtete, dass es seinen Aufgaben nicht gewachsen sein könnte.72 Was Ernst von Hippel beschrieb, ist aus heutiger Sicht weniger eine demokratische Herrschaft, als vielmehr eine moderne Form des platonischen ‚Philosophenkönigs‘, eine Expertokratie. Obgleich er die Demokratie als eine geeignete und naturrechtsgemäße Herrschaftsform bezeichnete, zeigt sich in den Korrektiven, die er dem Parlament hinzufügen wollte, tiefe Skepsis gegenüber demokratischer Herrschaft.

3. Zusammenfassung: Verfestigung der Grundsätze der Neuscholastik Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die von Juristen in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre verfassten Naturrechtsschriften weitgehend der neuscholastischen Lehre folgten, wie sie sich im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelt hatte. Neuscholastisches Naturrecht hatte während des Nationalsozialismus erneut Aktualität gewonnen, als es herangezogen wurde, um die Kritik der Kirche am nationalsozialistischen Regime zu begründen. Sich nach 1945 auf diese Lehre zu stützen, symbolisierte die Abkehr vom Nationalsozialismus. Mit ihr wurde der Primat von Kirche und Religion gegenüber dem als religionsund kirchenfeindlich beschriebenen nationalsozialistischen Staat begründet. Die Naturrechtsschriften waren damit integraler Bestandteil der Rechristianisierungsbestrebungen nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft. Dies darf jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass die Verfasser Vorschläge gemacht hätten, wie das Verhältnis zwischen Staat, Kirche 68 

Ernst von Hippel, Vom Wesen der Demokratie, 1947, S. 62 f. Ernst von Hippel, Gewaltenteilung im modernen Staate, 1948, S. 41 ff., 51 ff. 70  Ernst von Hippel, Vom Wesen der Demokratie, 1947, S. 63. 71  Ernst von Hippel, ebd., S. 63. 72  Ernst von Hippel, ebd., S. 71. 69 

III. Katholische Naturrechtsliteratur nach 1945

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und Religion in der konkreten Situation nach 1945 ausgestaltet werden sollte. Die Schriften waren nicht darauf gerichtet, einen konstruktiven Beitrag zu den konkreten Verfassungsgebungsprozessen nach 1945 zu leisten. Sie präsentierten vielmehr etwas, das sie als Alternative ansahen: das in sich geschlossene, tradierte Naturrechtssystem der Neuscholastik. Sie aktualisierten es, ohne es an die konkreten Erfordernisse der Zeit anzupassen.73 Die Schwierigkeiten, welche die Autoren mit der Demokratie als Herrschaftsform hatten, lassen sich eben durch diese bruchlose Übernahme von Konzepten aus dem 19. Jahrhundert erklären. Erste Versuche von moraltheologischer Seite, personalethische Prinzipien in das katholische Staatsdenken einzuführen und es damit für eine demokratische Gesellschaftsordnung zu öffnen74 wurden nicht aufgegriffen. Selbst die Demokratieansprache von Pius XII. wurde in der Naturrechtsliteratur nicht erwähnt und nicht diskutiert.75 Ob dies Teil einer „Fundamentalisierung“ ist, wie sie der Historiker Karl Gabriel im katholischen Milieu nach 1945 beobachtet hat,76 soll hier offen bleiben. Festgehalten werden kann jedoch, dass Chancen zur Öffnung des katholischen Staatsdenkens gegenüber liberal-demokratischen Ordnungsvorstellungen nach 1945 zunächst nicht genutzt wurden. Sowohl in dieser Zurückhaltung gegenüber der liberalen Demokratie als auch in dem Bemühen um eine Reaktualisierung christlicher Denktraditionen war die katholische Naturrechtsdebatte eng verbunden mit der Besinnung auf das „Abendland“ nach 1945.77 Das „Abendland“ war ein Schlagwort, das für eine Summe christlich-humanistischer Traditionen stand, die als Gegenentwurf zum Nationalsozialismus idealisiert wurden. Radikal politisiert wurde es von der „Abendländischen Bewegung“, die den gegen liberale Demokratie und Moderne gerichteten Abendlandbegriff der Weimarer Zeit wiederbelebte. Sie schuf für katholisch-konservative Intellektuelle Diskussionsrahmen wie die Zeitschrift „Neues Abendland“ und die „Abendländische Akademie“ und versuchte in den 1950er Jahren, mittels ihrer Plattform, der „Abendländischen Ak73  So bereits Alexander Hollerbach, Das christliche Naturrecht (1973), in: Katholizismus und Jurisprudenz, 2003, S. 231 (250). 74  So hatte sich vor allem Robert Linhardt angesichts der unmittelbar bevorstehenden nationalsozialistischen Machtergreifung vehement für die Demokratie als Herrschaftsform plädiert und dies begründet, indem er liberale Grundsätze und katholisches Ordnungsdenken verband, in: Verfassungsreform und katholisches Gewissen, 1933. Hierzu Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, 2005, S. 347 ff. 75  Dies war kein Spezifikum der Naturrechtsliteratur. Auch die Gründer der späteren CDU stützten sich nicht auf die Demokratieansprache, leitend war vielmehr die Enzyklika Quadragesimo Anno (1931), in der Pius XI. die neuscholastische Soziallehre angesichts von Weltwirtschaftskrise und erstarkendem Sozialismus aktualisierte, vgl. Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, 2005, S. 365. Hierzu auch unten, S. 119 ff. 76  Karl Gabriel, in: Axel Schildt u.a. (Hg.), Modernisierung und Wiederaufbau, 1993, S. 418 (426). 77  Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, 1999, S. 32 ff.

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tion“, politisch Einfluss zu nehmen.78 Einige der Juristen, die als Verfasser von Naturrechtsschriften in Erscheinung traten, gehörten dieser Bewegung an oder standen ihr nahe.79

IV. Naturrecht und katholische Interessenpolitik im rheinland-pfälzischen Verfassungsgebungsprozess Obgleich in den von Juristen verfassten Schriften und Büchlein überwiegend kein Bezug zu den drängenden verfassungspolitischen Fragen der Zeit hergestellt wurde, spielte katholisches Naturrecht in der politischen Arena durchaus eine beachtliche Rolle. Die CDU orientierte sich an ihm und wirkte darauf hin, dass es in die Verfassungen der Länder einfloss. Dies gelang insbesondere in Rheinland-Pfalz, dessen Verfassung als „Musterbeispiel für die Verankerung des Naturrechts im modernen Staatsleben“ gelobt wurde.80 Anders als die Verfasser der Büchlein, die geschlossene neuscholastische Naturrechtskonzeptionen entwarfen, mussten sich Katholiken im praktisch-politischen Feld den liberal-demokratischen Anforderungen an den Verfassungsgebungsprozess und an die zu erschaffenden Verfassungen stellen. Wie sie diese Anforderungen mit dem neuscholastischen Staatsdenken verbanden, soll im Folgenden am Beispiel Adolf Süsterhenns beleuchtet werden. Der katholische Jurist und CDU-Politiker Süsterhenn (1905–1974) lenkte den Verfassungsgebungsprozess in Rheinland-Pfalz maßgeblich. Er war hierbei ein besonders engagierter Verfechter einer verfassungsrechtlichen Verankerung des Naturrechts. Neben seiner politischen Tätigkeit veröffentlichte er zahlreiche Artikel zum Natur- und Verfassungsrecht in der katholischen Wochenzeitung „Rheinischer Merkur“, wodurch sich nicht nur seine verfassungspolitischen Positionen, sondern auch die ihnen zugrunde liegenden sozialphilosophischen Grundannahmen gut rekon78  Zur Abendlandbewegung ausführlich Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, 1999; Vanessa Conze, Das Europa der Deutschen, 2005, S. 111 ff. Die politischen Visionen der Abendland-Bewegung waren denen, die in der Naturrechtsbesinnung formuliert wurden, nahe, oft aber in ihrem Konservativismus aggressiver. Siehe zur Verortung in der politischen Landschaft der Nachkriegszeit Kapitel 6 D. 79  Vor allem gilt dies für Friedrich August von der Heydte (Fn. 6). Er hing der Abendland-Idee bereits seit den 1920er Jahren an und war der erste Vorsitzende der Abendländischen Akademie. Mitglied der Abendländischen Akademie war auch Adolf Süsthenn, dem Beirat gehörte Ernst von Hippel an, dem Kuratorium Hermann Weinkauff, siehe m.w.N. ­Vanessa Conze, Das Europa der Deutschen, 2005, S. 63 ff., 91 f., 163; Daniel Herbe, Hermann Weinkauff (1894–1981), 2008, S. 97 f. Heinrich Kipp und Ernst von Hippel veröffentlichten zahlreiche Beiträge in der Zeitschrift „Neues Abendland“. Auch Ulrich Scheuner, obgleich Protestant, trug Artikel bei. Siehe Jahrgänge 1946–1953. 80  Überschrift eines Artikels in der Trierer Landeszeitung vom 5. 1.1951, LHA Koblenz 700/177, Nr. 549, Bl. 105.

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struieren lassen. In wesentlichen Punkten entsprechen diese eben jenen, die für die Renaissance neuscholastischen Denkens nach 1945 oben vorgestellt wurden. Es wird sich jedoch zeigen, dass es Abweichungen im Detail gibt, die auf den Kontext, in dem sich Süsterhenn bewegte, zurückzuführen sind.

1. Adolf Süsterhenn (1905–1974) Süsterhenn wurde 1905 in Köln geboren, wo er auch studierte und schließlich 1928 bei dem katholischen Naturrechtler und Völkerrechtler Godehard Josef Ebers mit einer staatskirchenrechtlichen Arbeit promovierte. Nach Abschluss der Promotion verließ er die Universität und war ab 1932 als Rechtsanwalt tätig. Süsterhenn, der bereits zu Studienzeiten als Gegengewicht gegen den völkisch-antisemitischen Deutschen Hochschulring81 den katholischen „Görresring“ gegründet hatte, stand der Zentrumspartei nahe, für die er 1933 bei den letzten freien Kommunalwahlen in die Stadtverordnetenversammlung von Köln einzog – ein Mandat, das er nur sechs Wochen später aufgrund der Gleichschaltung niederlegen musste.82 Während des Nationalsozialismus verteidigte er neben seiner Tätigkeit im Bereich des Wirtschaftsrechts Mitglieder des Zentrums sowie Geistliche in politischen Strafverfahren83 und stand in Kontakt mit Widerstandskreisen, insbesondere mit christlichen Gewerkschaftlern, aber auch mit oppositionellen Offizieren, die an der Vorbereitung des Attentates vom 20. Juli 1944 beteiligt waren. 84 Nach Ende des Krieges und mehrmonatiger Gefangenschaft in den Niederlanden85 war Süsterhenn Mitgründer der CDU in Rheinland-Pfalz. Er wurde im September 1946 zum Vorsitzenden des vorbereitenden Verfassungsausschusses von Rheinland-Pfalz berufen. Im Dezember desselben Jahres wurde er zum Justizminister der provisorischen Regierung des Landes ernannt, eine Position, die er bis 1951 inne hatte, zwischendurch ergänzt um die Position des Kultusministers. Als Vertreter von Rheinland-Pfalz nahm er am Konvent von Herrenchiemsee teil und war stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Parlamentarischen Rat. Kurz vor der Schlussabstimmung erlitt er einen Verkehrsunfall, von dessen Folgen er sich nie wieder vollständig erholte. Er zog

81 So Süsterhenn in einem ausformulierten Lebenslauf (nicht datiert, vermutlich um 1960 niedergeschrieben), LHA Koblenz, 700/177, Nr. 817, Bl. 1. 82  Winfried Baumgart, in: Jürgen Aretz u.a. (Hg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 6, 1984, S.189 (190 f.). 83 Vgl. Süsterhenns Angaben in seinem ausformulierten Lebenslauf, LHA Koblenz, 700/177, Nr. 817, Bl. 2. 84  Süsterhenn sollte nach einem geglückten Attentat unter einer Regierung Goerdeler als Verbindungsmann zur niederländischen Regierung fungieren. Vgl. dazu Winfried Baumgart, in: Jürgen Aretz u.a. (Hg.), Zeitgeschichte in Lebensbildern, Bd. 6, 1984, S. 189 (191). 85  Vgl. Bericht Süsterhenns über die Gefangenschaft, LHA Koblenz, 700/177, Nr. 613.

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sich aus der aktiven Politik zurück86 und war seit 1951 Präsident des OVG Koblenz sowie des Rheinland-Pfälzischen Verfassungsgerichtshofs.

2. Verankerung des Katholizismus in der Gesellschaft als Gebot der Stunde Süsterhenns politisches Engagement in der unmittelbaren Nachkriegszeit war getragen von der Idee, die Gesellschaft auf ein christliches Fundament zu stellen, genauer: auf ein katholisches Fundament. Überlegungen dazu stellte er schon vor Ende des Krieges an. Ihm ging es dabei nicht um die Rechtsordnung allein. Die Positivierung des Naturrechts, die Süsterhenn für dringend geboten hielt, 87 war nur ein Pfeiler breiter angelegter Überlegungen zur Erneuerung der Gesellschaft. Da es darauf ankomme, wie das Recht in der Praxis ausgefüllt wird, reiche es nicht aus, eine am Naturrecht orientierte Rechtsordnung zu erschaffen. In seinem Nachlass finden sich zahlreiche Skizzen zu Vortragsreihen und Bildungsveranstaltungen, die einer Verbreitung der katholischen Staatsund Soziallehre dienen sollten,88 sowie Überlegungen zu deren Verankerung in den Universitäten. Katholisches Denken sollte in der Gesellschaft verstärkt Fuß fassen. Nur so könne der vom Liberalismus und Materialismus ausgehenden Gefahr erneuter Diktatur Einhalt geboten werden: „Lehrstühle, die ihrem Wesen nach politischen Charakter haben, müssen daher auch politisch besetzt werden. […] Zum Beispiel können in der Jur. Fakultät die erwähnten politischen Ordinariate nur mit Männern besetzt werden, die auf dem Boden des Naturrechts, des föderalistischen Subsidiaritätsprinzips und des christlichen Gedankens der gleichfalls auf dem Naturrecht gegründeten Völkergemeinschaft stehen. […] Jedenfalls können wir auf den ‚politischen Ordinariaten‘ die an allen Universitäten auch heute noch überwiegenden Liberalen nicht gebrauchen. Der Liberalismus ist nicht in der Lage, die Demokratie geistig zu unterbauen und zu stabilisieren. Der nicht auf dem Boden des christlichen Naturrechts stehende Jurist, also der Rechtspositivist, wird immer ein Wegbereiter der Diktatur sein, mag er sich noch so demokratisch gebärden, und wenn es auch nicht die Diktatur eines Einzelnen ist, dann ist es die Diktatur einer Parlamentsmehrheit.“89

Süsterhenn war tief verankert in den katholischen Kreisen des Rheinlands, in welchen nach Ende des Krieges Einigkeit darüber herrschte, dass die Christianisierung der Gesellschaft das Gebot der Stunde war. Dies zeigt sich in Briefen Süsterhenns und seiner Weggefährten aus der Zeit des Görresringes und seiner „Cartellbrüder“ aus der katholischen Verbindung „Albertus“, der er angehörte, 86  Ab 1961 noch einmal MdB; seit 1954 bis zu seinem Tod Mitglied des Menschenrechtsausschusses der Europäischen Kommission. 87  Adolf Süsterhenn, Verfassung oder Brot? (1947), in: Schriften, 1991, S. 145–148. 88  LHA Koblenz 700/177, Nr. 365, Bl. 1 ff. 89  LHA Koblenz 700/177, Nr. 634, Brief Süsterhenns an Albers, ohne Datum, Bl. 80 (81 f.).

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sowie in Aufrufen und Flugblättern aus Gründungszeit der CDU im Rheinland, die sich in Süsterhenns Nachlass finden.

3. Eine „christliche Idealverfassung“ Mit seiner Berufung zum Vorsitzenden des vorläufigen Verfassungsausschusses am 3. September 1946 konzentrierten sich Süsterhenns Überlegungen zur Rechristianisierung auf die zu erarbeitende Verfassung. In ihr sah er die Chance, ein Fundament für eine christliche Gesellschaft zu schaffen. Von der Verfassung sollte eine erzieherische Wirkung auf das Volk ausgehen, sie stellte somit aus seiner Sicht einen Grundbaustein zu einer umfassenden geistigen Erneuerung der Gesellschaft dar. Unter Bezug auf Thomas von Aquin äußerte er die Vorstellung, dass von der Verfassung „eine vis directiva, eine sozialpädagogische, den Geist und die Haltung der Rechtsgemeinschaft wie der einzelnen Rechtsgenossen formende und veredelnde Kraft“ ausgehen sollte, sie sollte dem Volk „neuen Halt geben“.90 Wie sehr dies Leitgedanke seiner verfassungspolitischen Aktivitäten war, zeigen Briefe, die er nur wenige Tage nach der Berufung an die Bistümer des Landes schrieb. In diesen, inhaltlich und zum Teil auch im Wortlaut identischen Briefen heißt es: „Bei der weltanschaulich-politischen Zusammensetzung dieses Gebietes besteht die begründete Hoffnung, dass es uns möglich sein wird, für dieses Gebiet eine Art christliche Idealverfassung zu schaffen, in der alle unsere christlichen Anliegen soweit sie das öffentliche Leben betreffen, ihre Verankerung finden sollen.“91

Eine solche „christliche Idealverfassung“ sollte den Grundsätzen des Naturrechts verpflichtet sein. Obgleich Süsterhenn betonte, dass dieses nur wenige höchste Sätze umfasse,92 ging das ‚Christliche‘ an dieser ‚Idealverfassung‘ weit über diese wenigen höchsten Sätze hinaus: Seiner Verfassungspolitik lagen normative Vorstellungen zugrunde, die sich aus der umfassenden Gesellschaftskonzeption der katholischen Staatslehre ableiteten. Um die Bedeutung des Naturrechts im Verfassungsgebungsprozess zu würdigen, darf nicht übersehen werden, von wem Impulse hierfür oder Kritik hieran ausgingen. Süsterhenn war mitnichten der alleinige „Verfassungsvater“ Rheinland-Pfalz’, wie lange angenommen wurde. Die Untersuchungen des Historikers Peter Brommer belegen, dass er auf eine Vielzahl von Zuarbeiten zurückgreifen konnte.93 Er stützte sich hierbei auf ein katholisches Netzwerk, 90 

Adolf Süsterhenn, Zur Verfassungsfrage (1946), in: Schriften, 1991, S. 48 (51). Koblenz, 700/177, Nr. 713, Brief Süsterhenns an Erzbischof Bornewasser vom 10.9.1946; ebenso die Briefe an Bischof Stohr und an den Kölner Domkapitular Wilhelm Böhler vom 10.9.1946 in derselben Akte. 92  Adolf Süsterhenn, Das Naturrecht (1947), S. 11 (19). 93  Peter Brommer, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, Jg. 16 (1990), S. 429– 91  LHA

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insbesondere das Interesse der Kirche an Absicherung ihres gesellschaftlichen Einflusses spielte eine nicht unbedeutende Rolle.

a. Keine Grundrechte ohne Grundpflichten Auf den ersten Blick erkennbar ist die naturrechtliche Fundierung der Verfassung in den Verweisungen auf eine überpositive Ordnung. Ihren stärksten Ausdruck fand dies im Gottesbezug der Präambel.94 Hierdurch sollte Süsterhenn zufolge ein metaphysisches Fundament für die Verfassung geschaffen und eine deutliche Abgrenzung gegen den Nationalsozialismus vorgenommen werden.95 Daneben finden sich Hinweise auf eine überpositive Ordnung im Grundrechtsteil: Bestimmte Grundrechte wurden als „natürlich“ oder „unverletzlich“ bezeichnet.96 Dies betraf die allgemeine Freiheitsgarantie (Art. 1 Abs. 1) und ihre Konkretisierung auf die persönliche körperliche Freiheit (Art. 5 Abs. 1), das Recht auf Leben (Art. 3 Abs. 1), das Eigentum (Art. 60 Abs. 1) und besonders ausgeprägt den Bereich Ehe und Familie. Die Ehe wurde als „Gemeinschaft eigenen natürlichen Rechts“ bezeichnet (Art. 23 Abs. 1 S. 2) und das Recht der Eltern, über die Erziehung ihres Kindes insbesondere auch in Fragen der religiösen Erziehung in der Schule zu bestimmen (Art. 25 Abs. 1, Art. 27 Abs. 1), wurde als „natürliches Recht“ erkannt. Gleichheitsrechte wurden nicht explizit mit einem Rückbezug auf das Naturrecht versehen. Die naturrechtliche Fundierung des Grundrechtsteils erschöpfte sich jedoch nicht hierin. Seine Konzeption selbst war von Grundgedanken der neuscholastischen Staatslehre geprägt. Zwar gewährte die Verfassung individuelle Freiheitsrechte und sicherte diese durch effektiven Rechtsschutz ab, sie sah jedoch in verschiedener Form Abweichungen von dem liberalen Konzept individueller Freiheitsrechte vor. Das Naturrecht begründete nicht nur die Grundrechte, es stellte zugleich eine Schranke dar. So regelte Art. 1 Abs. 3, dass die Rechte der öffentlichen Gewalt durch „die naturrechtlich bestimmten Erfordernisse des Gemeinwohls“ nicht nur begrenzt, sondern auch begründet würden. Auch sah 519. Der mit Hilfe dieser Zuarbeit entwickelte Entwurf Süsterhenns wurde in fünf Sitzungen des vorläufigen Ausschusses diskutiert und mit geringen Änderungen am 31.10.1946 von ­Süsterhenn der Gemischten Kommission zugeleitet. Diese leitete den sog. „Vorentwurf“ an die verfassungsgebende Versammlung, die Beratende Landesversammlung, weiter. 94  Sie lautet bis heute „Im Bewußtsein der Verantwortung vor Gott, dem Urgrund des Rechts und Schöpfer aller menschlichen Gemeinschaft, von dem Willen beseelt, die Freiheit und Würde des Menschen zu sichern, das Gemeinschaftsleben nach dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit zu ordnen, den wirtschaftlichen Fortschritt aller zu fördern und ein neues demokratisches Deutschland als lebendiges Glied der Völkergemeinschaft zu formen, hat sich das Volk von Rheinland-Pfalz diese Verfassung gegeben.“ 95  Adolf Süsterhenn, Vom Geist der Verfassung (1947), in: Schriften, 1991, S. 90 (92). 96  Dass auch die „Unverletzlichkeit“ auf den naturrechtlichen Charakter des Grundrechts hinweisen soll, ergibt sich aus Adolf Süsterhenn/Hans Schäfer, Kommentar der Verfassung für Rheinland-Pfalz, 1950, Art. 60, Ziff. 2, S. 252.

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die Verfassung neben den Grundrechten einen Abschnitt über „Öffentliche Pflichten“ vor. Bürger/innen waren hiernach von Verfassungs wegen insbesondere zur Treue gegenüber dem Staat verpflichtet und dazu, die Gesetze zu befolgen (Art. 20). Dies entsprach der neuscholastischen Gesellschaftskonzeption, der zufolge alle Glieder der Gesellschaft an der Verwirklichung des Gemeinwohls beteiligt sind, den Einzelnen daher nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten zukommen sollten. Für Süsterhenn waren diese „Grundpflichten“ dementsprechend elementar für eine „christliche Verfassung“: „Durch die Hinzufügung der Grundpflichten des Staatsbürgers nach dem Beispiel der Weimarer Verfassung wird zugleich die organische Einordnung des Menschen in die Gemeinschaft hervorgehoben und so der Mensch in seiner personenhaften Eigenständigkeit und gliedhaften Verbundenheit richtig gewürdigt. Damit wird das christlich-humanistische Menschenbild zur Grundlage des gesamten Gemeinschaftslebens erhoben und das Volk auf einen metapolitischen Wert verpflichtet, von dem in der Vergangenheit stärkste individual- und sozialpädagogische Wirkungen ausgegangen sind und auch für die Zukunft eine persönlichkeitsformende, gemeinschaftsbildende und kulturschöpferische Kraft ausstrahlen wird, welche unserem Volke und vor allem unserer Jugend eine geistige Neuorientierung und die Überwindung des heute weithin herrschenden weltanschaulich-politischen Nihilismus ermöglicht.“97

Ausgeprägt war der Einfluss der katholischen Staatslehre zudem auf die Ausbalancierung von individuellen Rechten und den Rechten kleiner sozialer Einheiten, insbesondere der Familie, der Berufsstände und der Kirche. Widersacherinnen der CDU in Sachen Naturrecht waren die SPD und die KPD. Die Vertreter der SPD versuchten im Verfassungsausschuss der Beratenden Landesversammlung eine Streichung der Bezeichnung gewisser Grundrechte als „natürlich“ zu erreichen.98 Die Konzeption der Grundrechte als solche war jedoch zwischen den Parteien offenbar nicht umstritten. Im Verfassungsausschuss wurde sie so weit ersichtlich nicht diskutiert und nicht nur die Regelungen der Grundrechte, sondern auch die über die „öffentlichen Pflichten“ fanden in allen Parteien Zustimmung.99 Mit der Konzeption als solcher war die SPD offenbar einverstanden. Sie brachte ihren Antrag auf Streichung der Bezeichnung bestimmter Grundrechte als „natürlich“ spät ein, dem Katalog von Grundrechten und Grundpflichten hatte sie zu diesem Zeitpunkt bereits zugestimmt. Das lässt erkennen, dass sie sich nicht inhaltlich an den Modifikationen liberaler Grundrechtskonzeption entsprechend der katholischen Staatslehre störte, sondern sich dagegen wenden wollte, dass die Verbindung von Religion und Recht symbolisch mittels des Zusatzes „natürlich“ in der Verfassung verankert würde. 97 

Adolf Süsterhenn, Die Grundrechte (1946), in: Schriften, 1991, S. 52 (53 f.). Protokoll der Sitzung vom 15.–17.4.1947, Abdruck in: Helmut Klaas (Hg.), Die Entstehung der Verfassung für Rheinland-Pfalz, 1978, S. 169 f. 99  Protokoll vom 12.3.1947, Abdruck in: Helmut Klaas (Hg.), Die Entstehung der Verfassung für Rheinland-Pfalz, 1978, S. 161. 98 

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Die Konflikte im vorläufigen Verfassungsausschuss und in der Beratenden Landesversammlung zwischen der CDU auf der einen, der SPD und der KPD auf der anderen Seite um den Einfluss des Naturrechts auf die Verfassung entzündeten sich an anderen Fragen. Heftig gestritten wurde nicht um die mehr symbolische Frage, ob die Verfassung auf eine überpositive Ordnung Bezug nehmen sollte, indem sie einzelne Rechte als „natürlich“ bezeichnete, sondern um die inhaltliche Ausrichtung, welche die Verfassung unter dem Einfluss der katholischen Soziallehre bekam. Dies betraf vor allem drei Komplexe: die Wirtschafts- und Sozialverfassung (b.), das Verhältnis von Kirche und Staat, einschließlich der Frage der Ausgestaltung des Schulwesens (c.), sowie die Frage, ob dem Landtag eine zweite Kammer zur Seite gestellt werden sollte (d.).

b. „Solidarismus“ als Leitmotiv: Soziale Ausrichtung der Verfassung Die Wirtschafts- und Sozialverfassung der Rheinland-Pfälzischen Verfassung von 1947 zeichnet sich durch ihre Detailliertheit und durch ihre starke soziale Ausrichtung aus. So enthielt sie ein Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer/ innen (Art. 67 Abs. 4), Regelungen über Sozialisierung (Art. 61) und Bodenreform (Art. 63 Abs. 2), die Förderung des Genossenschaftswesens (Art. 65 Abs. 3), die Staatsaufsicht über Banken (Art. 62), das Recht auf eine Entlohnung, die den Lebensbedarf der Arbeitnehmer/innen deckt (Art. 56 Abs. 1), die Lohngleichheit der Geschlechter (Art. 56 Abs. 2), das Streikrecht der Gewerkschaften (Art. 66 Abs. 2) sowie den Anspruch auf entlohnten Urlaub (Art. 57 Abs. 4) und auf einen Achtstundentag (Art. 57 Abs. 1). Dieser soziale Einschlag war von Süsterhenn selbst forciert worden und war für ihn ein zentrales Moment bei der Verwirklichung einer „christlichen Idealverfassung“. Am 10. September 1946, also nur eine Woche nach seiner Berufung zum Vorsitzenden des vorläufigen Verfassungsausschusses, schrieb er an die katholischen Sozialethiker Eberhard Welty und Oswald von Nell-Breuning, an den katholischen Sozialwissenschaftler Paul Jostock sowie an Johann Junglas als Vertreter der katholischen Arbeitervereine mit der Bitte um Zuarbeit für eine Wirtschafts- und Sozialverfassung, welche den Grundsätzen der katholischen Soziallehre entsprach: „Diese Gelegenheit müssen wir m.E. wahrnehmen, um insbesondere für den wirtschaftlichen Teil der Verfassung die Grundsätze der Enzyklika Quadragesimo anno soweit wie möglich zu verwirklichen.“100

Süsterhenn wandte sich damit gezielt an für die katholische Sozialethik maßgebliche Persönlichkeiten, mit Nell-Breuning sogar an jemanden, der als päpstlicher Berater an der Entstehung der Enzyklika mitgewirkt hatte, deren Grundsätze Süsterhenn nun in der Verfassung realisieren wollte. 100 

LHA Koblenz, 700/177, Nr. 716.

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Bei der Enzyklika „Quadragesimo anno“ (1931) handelt es sich neben der Enzyklika „Rerum novarum“ (1891), an der sich Süsterhenn in der Verfassungsarbeit ebenfalls orientierte,101 um eine Grundlegung der katholischen Soziallehre. Beide Enzykliken reagierten, obgleich in einem zeitlichen Abstand von 40 Jahren verfasst, auf ähnliche Probleme: So ging es Leo XIII. in „Rerum novarum“ darum, der Ausbeutung von Arbeiter/innen eine klare Absage zu erteilen und vom Staat die Gewährung sozialer Mindeststandards einzufordern. Zugleich forderte er Vereinigungs- und Betätigungsfreiheit für katholische Arbeitervereine. Ziel war es, sich in der sozialen Frage zu positionieren und auf diese Weise den Zulauf der Arbeiter/innen zum Sozialismus zu stoppen. „Quadragesimo anno“ wurde von Pius XI. im Angesicht von Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit verfasst und enthält ebenfalls die Aufforderung an den Staat, die Wirtschaft derart zu lenken, dass die Menschenwürde von Arbeiter/ innen gewährleistet und eine möglichst hohe Beschäftigungsquote realisiert werden könne. Noch stärker als in „Rerum novarum“ war diese Enzyklika allerdings als Absage an Kommunismus und Sozialismus konzipiert. So wandte sie sich explizit auch an Katholiken, die sich zum Sozialismus hingezogen fühlten und formulierte klar und deutlich: „[E]s ist unmöglich, gleichzeitig guter Katholik und wirklicher Sozialist zu sein.“102 Die soziale Frage nicht dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen und sich dennoch vom Sozialismus abzugrenzen war auch für Süsterhenns wirtschaftsund sozialpolitische Programmatik ein Leitmotiv. Er wandte sich entschieden dagegen, von „christlichem Sozialismus“ oder „Sozialismus aus christlicher Verantwortung“ zu sprechen,103 wie es in ersten Nachkriegsjahren etwa der CDU-Politiker Jakob Kaiser oder der Herausgeber der linkskatholischen Frankfurter Hefte, Walter Dirks, taten.104 Sie ließen außer Acht, dass „allem Sozialismus in der Buntheit seiner Erscheinungsformen letzten Endes ein rein diesseitiges Wertebewußtsein zu Grunde liegt.“105 Zudem habe der Katholizismus eine eigene sozialpolitische Tradition: „Wir Christen haben keine Veranlassung, diese große Sozialtradition zu verleugnen, indem wir – sei es auch nur in der Formulierung unseres Wollens – eine Anleihe beim Sozialismus aufnehmen.“106 „Vielleicht kann man sogar sagen, daß die Kapitalismuskritik und das Bekenntnis zur Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft in der Enzyklika ‚Quadragessimo anno‘ einen radikaleren und prinzipielleren Ausdruck gefunden hat als in dem Programm der ‚christlichen Sozialisten‘.“107 101 

Adolf Süsterhenn, Wirtschafts- und Sozialverfassung (1946), in: Schriften, 1991, S. 68–71. Pius XI., Enzyklika Quadragesimo anno, 1931, Abs. 120. 103  Adolf Süsterhenn, Christlicher Sozialismus? (1946), in: Schriften, 1991, S. 40–45. 104 Hierzu Franz Focke, Sozialismus aus christlicher Verantwortung, 1978. 105  Adolf Süsterhenn, Christlicher Sozialismus? (1946), in: Schriften, 1991, S. 40 (43). 106  Adolf Süsterhenn, ebd., S. 44. 107  Adolf Süsterhenn, ebd., S. 43. 102 

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Die Abgrenzung gegenüber den „christlichen Sozialisten“ war mehr terminologischer Natur. Er gestand zu, dass „unter allen Einsichtigen und Gutwilligen“ Einigkeit herrsche über „[d]ie Notwendigkeit einer umfassenden Reform unserer wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im Sinne einer Abkehr vom kapitalistischen Individualismus und der Begründung einer neuen Ordnung, die an Stelle der Kapitalherrschaft die Freiheit der menschlichen Person und die Existenzsicherung für alle in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Geschehens rückt“.108 Von christlicher Seite solle jedoch statt von „Sozialismus“ von „Solidarismus“ gesprochen werden.109 Er schlug in einem Brief an den Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer in Koblenz, Friedrich von Poll, sogar vor „das Wort Solidarismus zu einer werbe-wirksamen Formel für unser Wollen zu machen.“110 Sozialismus stand für ihn für den Gegensatz zwischen den Klassen und der Forderung nach Klassenkampf, wohingegen mit dem Begriff des „Solidarismus“ ein Miteinander von Arbeitnehmer/innen und Unternehmer/innen bezeichnet werden sollte. Mit dem „Solidarismus“ sollte ein dritter Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus beschritten werden: Soziale Konflikte zwischen Arbeitnehmer/innen und Unternehmer/innen sollten dadurch gelöst werden, dass die „Reichen Entgegenkommen gegen die Armen“ zeigten und „die Armen selbst […] Bescheidenheit“ übten, wie es Leo XIII. bereits in „Rerum novarum“ formuliert hatte.111 Arbeitnehmer/innen wie Unternehmer/innen sollten nicht allein ihre Interessen im Blick haben, sondern gemeinsam auf Lösungen hinarbeiten, die dem sozialen Ausgleich und damit dem sozialen Frieden dienten. Die Idee des „Solidarismus“ stützte sich damit abermals auf den Grundgedanken katholischer Soziallehre: Die Individuen sollten nicht primär ihre eigenen Interessen verfolgen. Sie seien vielmehr verpflichtet, gemeinschaftlich auf die Verwirklichung des Gemeinwohls hinzuwirken: „Der Solidarismus, der den Menschen als Einzelperson und Gemeinschaftsglied zugleich wertet und ebenso weit entfernt ist von der Verabsolutierung des Individuums wie von der Hypostasierung des Kollektivs, der im Gemeinwohl das Ziel des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen und im Subsidiaritätsgedanken das Ordnungsprinzip für die Gestaltung des Verhältnisses zwischen dem Einzelnen und den verschiedenen menschlichen Gemeinschaften erblickt, erscheint daher gerade heute allen, die um eine Synthese zwischen Individuum und Gemeinschaft und um soziale Gerechtigkeit ringen, als das erlösende Zukunftsprogramm.“112

108 

Adolf Süsterhenn, Solidarismus statt Sozialismus (1946), in: Schriften, 1991, S. 45 (45 f.). Adolf Süsterhenn, ebd., S. 45–48. 110  LHA Koblenz, 700/177, Nr. 751, Brief Adolf Süsterhenns an Friedrich von Poll vom 31.8.1946. 111  Leo XIII., Enzyklika Rerum novarum, 1891, Abs. 20. 112  Adolf Süsterhenn, Solidarismus statt Sozialismus (1946), in: Schriften, 1991, S. 45 (48). 109 

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Nicht nur die Idee, auch der Begriff des „Solidarismus“ war keiner, der nach 1945 neu entwickelt worden wäre. Er war von dem Jesuiten und Nationalökonomen Heinrich Pesch um die Jahrhundertwende in Abgrenzung vom Liberalismus und vom Sozialismus geprägt worden.113 In der Weimarer Zeit wurde er zum Schlagwort für diejenigen, die das Gesellschaftsmodell der liberalen Demokratie für unvereinbar mit dem Katholizismus hielten.114 Als Alternative formulierten sie die Idee einer berufsständisch gegliederten Gesellschaft: Alle Angehörigen eines Berufszweiges sollten gemeinsam ein Glied der Gesellschaft bilden und als solches auf das Gemeinwohl hinwirken.115 Kirchenoffiziell wurden diese Ideen mit der Enzyklika „Quadragesimo anno“, in welcher Pius XI. die Idee einer berufsständisch gegliederten Gesellschaft mit dem Subsidiaritätsprinzip verband. Die von Süsterhenn angeschriebenen Sozialethiker lieferten nicht wie erhofft Zuarbeiten. Stattdessen entwickelte Süsterhenn den Entwurf der Wirtschaftsund Sozialverfassung in Zusammenarbeit mit Vertretern christlicher Gewerkschaften, der Kammern und unter Hinzuziehung von Unternehmern.116 Der Rekonstruktion des Historikers Peter Brommer zufolge nahm auch der katholische Sozialethiker Joseph Höffner an den Beratungen teil.117 Verfassungspolitisch zielte Süsterhenn auf weit mehr als auf die Sicherung sozialer Rechte für Arbeitnehmer/innen. Organe der Wirtschaftsselbstverwaltung sollten entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet werden und ein Mitspracherecht im Gesetzgebungsverfahren erhalten. Arbeitnehmer/innen und Arbeitgeber/innen sollten in all diesen Gremien paritätisch zusammenwirken. Die Durchsetzung erwies sich als schwierig, Süsterhenn schlug schon bei der Erarbeitung des Entwurfs mit seinen Beratern Gegenwind entgegen. Einerseits kritisierten diese die Detailliertheit der Regelung, die Süsterhenn anstrebte, andererseits wandten sich die Vertreter der Kammern entschieden

113  Entwickelt vor allem in: Lehrbuch der Nationalökonomie, 5 Bände, 1905–23. Zur Entwicklung der Idee des Solidarismus in Deutschland Karl Heinz Grenner, Wirtschaftsliberalismus und katholisches Denken, 1967, S. 266 ff.; Franz Josef Stegmann, in: Helga Grebing (Hg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland, 1969, S. 325 (453 ff.). Der Begriff war Ende des 19. Jahrhunderts von französischen Sozialtheoretikern entwickelt worden, hierzu Anton Rauscher, Solidarität, in: Görresgesellschaft (Hg.), Staatslexikon, Bd. 4, 7.A.1988, Sp. 1191 (ebd.). 114  Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, 2005, S. 292 ff. 115  So vor allem der Königswinterer Kreis, dem u.a. Oswald von Nell-Breuning, Johannes Messner, Paul Jostock und Gustav Gundlach angehörten, hierzu Franz Josef Stegmann, in: Helga Grebing (Hg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland, 1969, S. 325 (465 ff.). 116  Von den Besprechungen liegen keine Protokolle vor, Rekonstruktion des Teilnehmerkreises bei Peter Brommer, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, Bd. 16 (1990), S. 429 (448 f.). 117  Peter Brommer, ebd., S. 449 f.

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Kapitel 3: Zwischen organischer Staatslehre und vorsichtiger Öffnung

gegen die Parität.118 Trotz Kompromissen und Modifizierungen im Laufe der Verhandlungen119 ist die Orientierung an der Idee des Solidarismus dennoch in der Verfassung deutlich erkennbar. Im Ergebnis sah sie eine paritätische Besetzung der Industrie- und Handelskammer vor, nicht jedoch der Handwerks- und der Landwirtschaftskammer (Art. 69).120 Parität war auch für die Hauptwirtschaftskammer vorgeschrieben, welche die Aufgabe hatte, zu wirtschafts- und sozialpolitischen Gesetzesentwürfen Stellung zu nehmen (Art. 71 ff.). Daneben sollten „[d]ie anerkannten Vereinigungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern der gewerblichen Wirtschaft […] auf der Grundlage der Gleichberechtigung zu Wirtschaftsgemeinschaften zusammengeschlossen werden“ (Art. 68), wobei die detaillierte Regelung der Aufgaben dieser Wirtschaftsgemeinschaften, die im Vorentwurf noch vorgesehen war, in den Verhandlungen gestrichen wurde.121 Nicht nur die strukturelle Ausgestaltung der Wirtschafts- und Sozialverfassung orientierte sich an der Lehre des Solidarismus, auch dessen grundlegende Ideen finden sich in den Formulierungen der Verfassung wieder. Als Grenze der wirtschaftlichen Freiheit benannte Art. 52 das „Gemeinwohl“ und die „Rechte des Nächsten“, dem Staat wurde die Aufgabe der Wirtschaftsaufsicht und -lenkung zugewiesen (Art. 51). Von der „Überwindung der Klassengegensätze“ durch das Zusammenwirken aller „in der Wirtschaft tätigen Menschen, Unternehmer, Angestellter und Arbeiter“ war noch in dem Entwurf die Rede, der in die Beratende Landesversammlung eingebracht wurde,122 im Ergebnis einigte man sich auf die Formulierung, dass die „wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegensätze“ durch „gemeinschaftliche Verantwortung“ überbrückt werden sollten (Art. 67).

118 Ausführlich

Peter Brommer, ebd., S. 449 ff. Auch die CDU-Fraktion näherte sich im Laufe der Verhandlungen zunehmend einer liberalen Haltung an, so Arno Mohr, Die Entstehung der Verfassung für Rheinland-Pfalz, 1987, S. 127 ff. 120  Noch im Vorentwurf war dies für alle Kammern vorgesehen, die entsprechenden Passagen wurden jedoch im Verfassungsausschuss gestrichen, vgl. Vorentwurf Art. 78, Abdruck in: Helmut Klaas, Die Verfassung für Rheinland-Pfalz, 1978. 121  Als Selbstverwaltungsaufgaben waren die Regelung der Löhne, der Arbeitsbedingungen, der Mitwirkung an Aufgaben der Sozialversicherung, Arbeitslenkung, Ausbildung etc. vorgesehen, vgl. Vorentwurf Art. 77, Abdruck in: Helmut Klaas, Die Verfassung für Rheinland-Pfalz, 1978, S. 418. 122 Art. 70 I des Entwurfs I, Abdruck in: Helmut Klaas, Die Verfassung für RheinlandPfalz, 1978, S. 416. 119 

IV. Naturrecht und katholische Interessenpolitik

127

c. Sicherung kirchlicher Interessen: „Elternrecht“ auf konfessionelle Schulbildung Auch für die Regelungen, die Kirche und Religion betrafen, griff Süsterhenn auf Berater zurück. Sein Entwurf entstand maßgeblich unter Beteilung von katholischen Geistlichen.123 Wenige Tage, nachdem er zum Vorsitzenden des vorläufigen Verfassungsausschusses ernannt worden war, schrieb Süsterhenn an die Bischöfe von Trier, Mainz und Speyer, sowie den Domkapitular Wilhelm Böhler aus Köln und bat um Zuarbeiten für die neue Verfassung. Er schrieb: „Ich lege […] entscheidenden Wert darauf, von Ihnen bzw. Ihrem Generalvikariat oder dem Professorium Ihres Priesterseminares Vorschläge für die Gestaltung des Verhältnisses von Kirche und Staat sowie für die Regelung der Schul-, Bildungsund sonstigen Kulturfragen in der Verfassung zu erhalten.“124 Obgleich es konkurrierende Entwürfe und zwei Beratungssitzungen gab, bestand zwischen den Geistlichen weitgehend Konsens, auch die CDU machte sich ihre Positionen zueigen. Kurz skizziert sahen diese folgendermaßen aus: Das Verhältnis von Kirche und Staat wurde durch Vertrag geregelt und sah weitgehende Autonomie der Kirche vor. Ob die Verfassung klarstellen solle, dass es keine Staatskirche gebe oder nicht, war umstritten.125 In der Schulfrage bestand Einigkeit, dass die Bekenntnisschule die Regelschule sein solle und eine Errichtung von überkonfessionellen „christlichen Simultanschulen“ nur auf Elternwunsch erfolgen solle. Für beide Schultypen müsse die Landesverfassung garantieren, dass konfessioneller Religionsunterricht ein ordentliches Schulfach darstelle. Diskutiert wurde diese Schulfrage unter dem Stichwort „Elternrecht“. Die Eltern sollten das Recht haben, zu bestimmen, dass ihr Kind eine konfessionell gebundene Schulbildung erhalte und durch Lehrer/innen unterrichtet würde, die ihrerseits an konfessionellen Einrichtungen ausgebildet seien. Dieses Elternrecht wurde als „natürlich“ bezeichnet – ein kleiner Zusatz, der sich in den Verfassungsverhandlungen als Kampfbegriff entpuppen sollte. Tatsächlich war das Elternrecht das Thema, um das im Verfassungsgebungsprozess am intensivsten gerungen wurde. Die CDU-Fraktion war einstimmig für die Bekenntnisschule als Regelschule und für das Elternrecht, KPD und 123  Zu den Entwürfen von geistlicher Seite im Einzelnen Peter Brommer, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, Bd. 16 (1990), S. 429 (438 ff.). 124  LHA Koblenz 700/177, Nr. 713, Briefe von Süsterhenn an Erzbischof Bornewasser, Bischof Stohr und Domkapitular Böhler vom 10.9.1946; ein Schreiben an den Bischof von Speyer ist nicht im Nachlass Süsterhenns erhalten, es findet sich dort allerdings ein umfangreicher Entwurf des Bistums Speyer. 125  Im Entwurf des Bistums Trier, vermutlich erstellt von Joseph Höffner und Adolf Knauber, heißt es in Abschnitt IV (Kirche und Staat): „Es besteht keine Staatskirche“. Im Speyerer Entwurf von Josef Schneeberger hingegen war eine entsprechende Regelung nicht vorgesehen. Im Laufe der Diskussionen einigte man sich darauf, dass eine entsprechende Regelung nicht getroffen werden sollte. Hierzu Peter Brommer, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, Bd. 16 (1990), S. 429 (441), dort auch die Entwürfe, S. 457 ff.

128

Kapitel 3: Zwischen organischer Staatslehre und vorsichtiger Öffnung

SPD forderten die nicht konfessionell gebundene „Simultanschule“ als Regelschule.126 Im Laufe der Verhandlungen verhärteten sich die Fronten zwischen den Parteien; immer öfter verwiesen Angehörige der CDU-Fraktion auf den naturrechtlichen Charakter des Elternrechts.127 Dass es dabei in erster Linie um die Sicherung der Einflusssphäre der Kirche und um die Abstützung der Rechristiansierung der Gesellschaft durch konfessionelle Schulbildung ging, wird deutlich an den Worten des CDU-Abgeordneten Hermanns gegenüber dem Generalgouverneur der französischen Militärregierung, wonach „Religion nach Auffassung der CDU. nicht einfach ein Lehrfach neben anderen Lehrfächern sei. Religion umfasse den ganzen Menschen, was sich zum Beispiel insbesondere auch in den naturwissenschaftlichen Fächern auswirken müsse, die vom religiösen Standpunkt zu behandeln seien. Es dürften keine Bildungseinflüsse Platz greifen, die der materialistischen Weltanschauung entstammten, und denen wir letztlich ja die unheilvolle Entwicklung zum Nationalsozialismus zu verdanken hätten. Deshalb stehe weniger die unmittelbare religiöse Unterweisung im Vordergrund als die allgemeine religiöse Haltung und Weltanschauung, die auf allen Gebieten materialistische Weltanschauungseinflüsse ausgeschaltet wissen wolle.“128

Die SPD bestritt nicht den naturrechtlichen Charakter des Elternrechts, sondern argumentierte auf völlig anderer Ebene: Sie verwies auf eine hundertjährige Tradition, welche die konfessionsübergreifende „christliche Gemeinschaftsschule“ in den Regierungsbezirken Montabaur, Pfalz und Rheinhessen habe.129 Letztlich kam es zu keiner Einigung zwischen den Parteien, die Verfassung konnte von der Beratenden Landesversammlung nur verabschiedet werden, weil ein gesonderter Volksentscheid in der Schulfrage vereinbart wurde.130

126  Anträge beider Fraktionen, Abdruck in: Helmut Klaas (Hg.), Die Entstehung der Verfassung von Rheinland-Pfalz, 1978, S. 344, 346. 127  Vgl. vor allem die Stellungnahme der CDU-Fraktion die dem Protokoll vom 13.3.1947 beilag, Abdruck in: Helmut Klaas (Hg.), Die Entstehung der Verfassung von Rheinland-­ Pfalz, 1978, S. 161. 128  Gesprächsprotokoll vom 11.3.1947, Abdruck in: Helmut Klaas (Hg.), Die Entstehung der Verfassung von Rheinland-Pfalz, 1978, S. 205. 129  Stellungnahme vom 13.3.1947, Abdruck in: Helmut Klaas (Hg.), Die Entstehung der Verfassung von Rheinland-Pfalz, 1978, S. 162 sowie im selben Band: Gesprächsprotokoll vom 11.3.1947, S. 206. 130  Das Ergebnis beider Volksentscheide lag dicht beieinander und war in beiden Fällen knapp: Für die Verfassung ohne die Regelungen zur Schulfrage votierten 52,9 %, für den Abschnitt zur Schulfrage 52,3 %. Die Abstimmungsergebnisse vom 18.5.1947 sind im Detail veröffentlicht in: Helmut Klaas (Hg.), Die Entstehung der Verfassung für Rheinland-Pfalz, 1978, S. 47–52. Es lässt sich erkennen, dass in den überwiegend evangelischen Gebieten, den Regierungsbezirken Pfalz und Rheinhessen, die Zustimmungsquote zur Verfassung insgesamt, insbesondere aber zum Abschnitt über Schule, deutlich geringer war als in den überwiegend katholischen Landesteilen.

IV. Naturrecht und katholische Interessenpolitik

129

d. „Organische Demokratie“ und „echter Föderalismus“: Das Zweikammersystem Dass es sich bei der neuen Verfassung um eine demokratische handeln m ­ usste, war selbstverständlich. Die Vorstellungen wie sie auszugestalten sei, gingen jedoch in einem fundamentalen Punkt auseinander: Während Süsterhenn und mit ihm die CDU der Ansicht waren, dass dem Parlament eine zweite Kammer beigeordnet werden müsse, da andernfalls das Risiko eines „Parlamentsabsolutismus“ bestünde, sprachen sich KPD und SPD bereits im vorbereitenden Verfassungsausschuss, noch deutlicher aber im Verfassungsschuss der Beratenden Landesversammlung, gegen einen solchen Staatsrat aus. Warum ein Zweikammernsystem? Für Süsterhenn stellte dies eine konsequente Verbindung der katholischen Staatslehre mit den Anforderungen der liberalen Demokratie dar: „Die vom Geist der Französischen Revolution weitgehend geformte moderne Demokratie erblickt im Menschen vielfach nur das Individuum und im Staate die additive Summe der Individuen. Diese Grundeinstellung kommt für jedermann am deutlichsten erkennbar beim Wahlakt zur Geltung, wo der Einzelne in der Wahlzelle seinen Willen kundtut und die Addition der abgegebenen Einzelstimmen den ‚Gesamtwillen‘ des Volkes ergibt. Der Mensch ist aber nach der christlichen Soziallehre nicht nur Einzelner, sondern ebenso wesentlich und ursprünglich Glied verschiedener natürlicher Gemeinschaften, denen er nicht nach Belieben beitreten oder fernbleiben kann, sondern in die er von Natur hineingeboren wird. […] Will man den Volkswillen wirklich seinsgerecht, d.h. dem Wesen des Menschen und des Staates entsprechend bilden, so muß dies doppelgleisig, d.h. unter Berücksichtigung des Individual- und Sozialcharakters des Menschen erfolgen.“131

Dieser „Doppelgleisigkeit“ zwischen dem „Individual- und Sozialcharakter des Menschen“ sollte nach Süsterhenns Auffassung mit der Errichtung einer zweiten Kammer neben dem Parlament Rechnung getragen werden. In der zweiten Kammer sollten die „natürlichen Sozialeinheiten“ repräsentiert werden. Zur Beschreibung dieses Demokratiemodells griff Süsterhenn auf die Entgegensetzung von „formaler Demokratie“ und „organischer Demokratie“ aus der Weimarer Zeit zurück.132 Es gehe um die „Realisierung des christlichen Menschenbildes in der Gestaltung der politischen Ordnung, um die Entscheidung zwischen bloß formaler oder auch organischer Demokratie“, schrieb er in ei131  Adolf Süsterhenn, Ein- oder Zweikammernsystem? (1946), in: Schriften, 1991, S. 58 (60 f.). 132  Siehe oben, S. 106. Peter Tischleder, der sich in der Weimarer Zeit für das Konzept der „organischen Demokratie“ stark gemacht hatte, war in dieser Zeit Lehrbeauftragter an der theologischen Fakultät der Universität Trier und beteiligt an den Treffen Süsterhenns mit katholischen Geistlichen zur Vorbereitung des Abschnitts über Kirche, Ehe und Familie und Bildung, vgl. Peter Brommer, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, Jg. 16 (1990), S. 429 (437 ff.). Ob es Gespräche zwischen Süsterhenn und Tischleder zur Gestaltung des politischen Systems gegeben hat, ist nicht bekannt.

130

Kapitel 3: Zwischen organischer Staatslehre und vorsichtiger Öffnung

nem Aufsatz im Rheinischen Merkur zur Frage des Zweikammernsystems.133 Gleichbedeutend mit dem Begriff der „organischen Demokratie“ war für ihn der Begriff des „echten Föderalismus“, der im Gegensatz zu dem von den Alliierten geforderten Modell des Föderalismus „nicht nur im Verhältnis zwischen den Einzelstaaten und einer diese zusammenfassenden Föderation, sondern auch innerhalb der Einzelstaaten den natürlich gewachsenen Sozialeinheiten Raum zur selbstverantwortlichen freien Entfaltung gibt und sie zugleich an der Bildung des politischen Gesamtwillens beteiligt.“134 Diese Sichtweise Süsterhenns schlug sich in seinem Vorschlag nieder, einen Staatsrat zu schaffen. Dieser sollte sich aus Vertretern der Gemeinden, der Kirchen, der berufsständischen Kammern und einem Vertreter der Universität Mainz zusammensetzen. Er sollte im Gesetzgebungsverfahren angehört werden und das Recht zur Stellungnahme haben. Außerdem sollte er Einspruch gegen Gesetze erheben dürfen, über den sich der Landtag nur mit einer Zweidrittelmehrheit hinwegsetzen konnte.135 Dieses Modell setzte sich in den Verfassungsverhandlungen nicht durch, der Staatsrat wurde noch im vorbereitenden Verfassungsausschuss aus dem Entwurf gestrichen.136 Die Diskussion ist nicht im Wortlaut übermittelt, die Protokolle ergeben dennoch, dass die Vertreter von SPD und KPD nicht nur aus pragmatischen Erwägungen Bedenken anmeldeten, sondern auch dem zugrunde liegenden Demokratiemodell kritisch gegenüber standen: Die Souveränität müsse beim Landtag konzentriert sein, so der KPD-Vertreter André Hofer.137

4. Zusammenfassung: Gemeinwohl, natürliche Sozialeinheiten und Subsidiarität als Schlüsselbegriffe der Verfassung Der Überblick über die verfassungspolitischen Vorstellungen und Vorschläge Süsterhenns zeigt, dass es nicht nur ein ‚Naturrecht‘ im Sinne weniger höchster Normen war, das er verfassungsrechtlich absichern wollte. Er orientierte sich im Verfassungsgebungsprozess vielmehr eng an der neuscholastischen Staatskonzeption und an der katholischen Soziallehre. Seine Programmatik war da133 

Adolf Süsterhenn, Ein- oder Zweikammernsystem? (1946), in: Schriften, 1991, S. 58 (61). Adolf Süsterhenn, ebd., S. 61. 135 Art. 105 f. des Vorentwurfs, Abdruck in: Helmut Klaas (Hg.), Die Entstehung der Verfassung für Rheinland-Pfalz, 1978. Arno Mohr, Die Entstehung der Verfassung für Rheinland-Pfalz, 1987, S. 78 vermutet, dass die CDU in die Streichung des Staatsrats einwilligte, um im Gegenzug Regelungen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialverfassung durchsetzen zu können. 136  Sitzung vom 18.4.1947, Protokoll, Abdruck in: Helmut Klaas (Hg.), Die Entstehung der Verfassung für Rheinland-Pfalz, 1978, S. 178. 137 Ähnlich Karl Kuhn (SPD) in der 3. Sitzung der Beratenden Landesversammlung, 25.4.1947, Protokollabdruck in: Helmut Klaas (Hg.), Die Entstehung der Verfassung für Rheinland-Pfalz, 1978, S. 305. 134 

IV. Naturrecht und katholische Interessenpolitik

131

mit ‚aus einem Guss‘. Dies lässt sich auch für die im Mai 1947 verabschiedete Verfassung sagen. In der CDU hatte Süsterhenn breiten Rückhalt, viele seiner Vorstellungen hatten sich damit in den Verhandlungen durchgesetzt.138 Die für das katholische Staatsdenken charakteristische Orientierung der gesamten Gesellschaft auf das Gemeinwohl schlug sich in der Bindung der Grundrechte an das Gemeinwohl nieder. Sie war außerdem die Grundlage für die Begründung von Grundpflichten für Bürger/innen sowie der Verpflichtung der Wirtschaft, auf die Verwirklichung des Gemeinwohls hinzuwirken. Die Idee, dass jeder Mensch „natürlichen Sozialeinheiten“ angehört, aus denen sich ihrerseits wiederum der Staat zusammensetzt, kam in der starken Einbeziehung der Berufsstände in die Wirtschafts- und Sozialverfassung zum Ausdruck. Sie lag auch der Forderung Süsterhenns zugrunde, ein Zweikammernsystem zu schaffen, welches den Sozialeinheiten eine eigenständige politische Repräsentation gewähren sollte. Damit wollte er zugleich das Subsidaritätsprinzip umsetzen. Auch wenn sich die Forderung nach einem Zweikammersystems in den Verhandlungen nicht einlösen ließ, trug die Verfassung dem Subsidiaritätsprinzip etwa dadurch Rechnung, dass sie den berufsständischen Organisationen Mitspracherechte in wirtschaftspolitischen Fragen einräumte. Schon in dieser Hinsicht kann davon gesprochen werden, dass Süsterhenn mit seiner verfassungspolitischen Tätigkeit versuchte, in der Umbruchsituation nach 1945 eine Gesellschaftsordnung auf christlicher Grundlage zu errichten. Erst recht wird die gesellschaftspolitische Bedeutung deutlich, die er der Religion beimaß, wenn man betrachtet, wie stark er die Kirchen in die Entstehung der Verfassung einbezog und wie weitgehend er sich nicht nur für kirchliche Autonomie, sondern auch für die Sicherung kirchlichen Einflusses etwa im Bildungsbereich einsetzte. Wenn hier insofern nicht allgemein von Bestrebungen die Gesellschaft zu „rechristianisieren“ gesprochen wird, sondern von „katholischer Interessenspolitik“, so deshalb, weil er sich für die Entwicklung der verfassungspolitischen Programmatik und seines Entwurfs ausschließlich auf ein katholisches Beraternetzwerk stützte. Die evangelische Kirche erhielt den Entwurf zur Stellungnahme erst, als dieser bereits fertig war.139 Noch deutlicher trat der interessenspolitische Zug später in seiner Tätigkeit als Mitglied des Parlamentarischen Rats hervor, wo er als Verbindungsmann für die katholische Kirche fungierte.140 Er konzentrierte sich inhaltlich auf Fragen des Verhältnisses von Staat und Kirche und setzte sich vor allem für das Elternrecht ein. 138  Es herrscht Einigkeit in der Literatur, dass es sich um die Landesverfassung handelt, in der die katholische Staats- und Soziallehre am konsequentesten umgesetzt ist. Vgl. z.B. Arno Mohr, Die Entstehung der Verfassung für Rheinland-Pfalz, 1987, passim. 139  Peter Brommer, Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, Jg. 16 (1990), S. 429 (444). 140  Burkhard van Schewick, Die katholische Kirche und die Entstehung der Verfassungen in Westdeutschland 1945–1950, 1980, S. 72 ff.

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Kapitel 3: Zwischen organischer Staatslehre und vorsichtiger Öffnung

V. Süsterhenns verhaltenes Bekenntnis zur Demokratie Süsterhenns verfassungspolitische Arbeit ließe sich also als Teil jener Bestrebungen beschreiben, die darauf zielten, in der Umbruchsituation nach 1945 die Position der Kirche zu stärken und der katholischen Sozialethik mit ihrer traditionell dem liberaldemokratischen Modell skeptisch gegenüberstehenden Staatslehre zum Durchbruch zu verhelfen. Seine Schriften zeigen jedoch, dass dies zu kurz gegriffen wäre. Im Gegensatz zu denen anderer katholischer Juristen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit Naturrechtsschriften verfassten, ist in ihnen eine grundsätzliche Anerkennung des Pluralismus und ein verhaltenes Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie erkennbar. Deutlich wird dies in seinen Ausführungen zu den Aufgaben „christlicher Politik“. Die Existenz des Naturrechts war für Süsterhenn zwar nicht politisch verhandelbar, sondern eine objektive Wahrheit. Anders als in den übrigen von katholischen Juristen verfassten Naturrechtsschriften referierte Süsterhenn in seinen Aufsätzen diese Wahrheit allerdings nicht bloß. Er stellte vielmehr Überlegungen dazu an, was sich daraus für die politische Tätigkeit in der gesellschaftlichen Situation der Nachkriegszeit ergeben könnte. „Das Naturrecht gilt in sich, als präexistente Norm, und bedarf nicht erst zu seiner Geltung des staatlichen Gesetzesbefehls“, hielt er in seiner Schrift „Wir Christen und die Erneuerung des staatlichen Lebens“ (1948) fest. Angesichts dessen, dass dies „auch heute noch bei zahlreichen liberalen und sozialistischen Anhängern des Rechtspositivismus umstritten ist“, erschiene es jedoch „richtig und notwendig, das Naturrecht und die sich daraus ergebenden Ableitungen zu positivieren, d.h. in die Form positiver Rechtssätze zu kleiden.“ Nur dann sei für alle die Rechtssicherheit gewahrt, denn „[z]ur Rechtssicherheit gehört […] die Rechtserkenntnis-Sicherheit.“ Wichtigste Aufgabe christlicher Politik sei es daher, „dem Naturrecht als solchem zur ausdrücklichen positiven Anerkennung in der staatlichen Rechtsordnung zu verhelfen.“ 141 Für Süsterhenn war die Naturrechtsfrage somit nicht nur eine Frage der Wahrheit, sondern zugleich nach 1945 eine, über die im politischen Raum entschieden werden müsse. Auch wenn er keinen Zweifel daran ließ, dass er die Haltung der Gegner des Naturrechts für grundfalsch hielt, erkannte er an, dass die Nachkriegsgesellschaft insofern heterogen war. Christliche Politik sollte sich diesem Pluralismus stellen und in Auseinandersetzung mit Vertretern anderer politischer Strömungen versuchen, die Grundsätze des Naturrechts positivrechtlich zu verankern. Für die konkrete Situation nach 1945 appellierte er an die „Anhänger und Verteidiger des christlichen Naturrechts“, sich zu-

141  Adolf Süsterhenn, Wir Christen und die Erneuerung des staatlichen Lebens (1948), in: Schriften, 1991, S. 227 (239).

V. Süsterhenns verhaltenes Bekenntnis zur Demokratie

133

sammenzuschließen, „um gemeinsam für die Verwirklichung naturrechtlicher Ideen im öffentlichen Leben zu kämpfen.“142 Auch den Grundideen der parlamentarischen Demokratie stand er offener gegenüber als etwa Ernst von Hippel oder Heinrich Kipp, deren Skepsis oben dargestellt wurde.143 Auch wenn er sich im Verfassungsgebungsprozess in Rheinland-Pfalz dafür einsetzte, dass dem Parlament eine zweite Kammer zur Seite gestellt und so dem katholisch-organischen Staatsdenken Rechnung getragen werde, verteidigte er in einer Auseinandersetzung mit Ernst von Hippel das Parlament als zentralen Ort des Politischen. Hippel hatte in seiner Schrift „Gewaltenteilung im modernen Staate“ (1948) eine dreigliedrige Legislative gefordert, wobei dem Parlament die Zuständigkeit für kulturelle und wirtschaftliche Fragen entzogen werden sollte. Stattdessen solle über diese Fragen in Gremien entschieden werden, die nicht aus allgemeinen Wahlen hervorgegangen sind, sondern sich aus Vertretern der „natürlichen Sozialeinheiten“ zusammensetzen, also aus etwa der Wissenschaft, der Kirchen und der Berufsstände.144 Süsterhenn wandte sich in einer Rezension entschieden gegen diese Beschneidung der Zuständigkeiten des Parlaments: „Politik bedeutet mehr als Selbstverwaltung in einem Sonderbereich des gesellschaftlichen Lebens. Politische Arbeit bedeutet bewußte und planmäßige Gestaltung und Ordnung des menschlichen Gemeinschaftslebens schlechthin. Bei den Betrachtungen von Hippel’s handelt es sich um den Staat. Er ist in seiner Ebene, d.h. abgesehen von der Zuständigkeit der überstaatlichen Verbände der oberste Hüter des Gemeinwohls und der Wahrer der sozialen Gerechtigkeit für alle. Als solcher hat er für die Durchsetzung des suum cuique zu sorgen, also auch dahin zu wirken, daß den Kirchen, den Hochschulen, den wissenschaftlichen Körperschaften, der Wirtschaft, den Gemeinden, den Familien und auch den Einzelnen das Ihrige, d.h. das ihnen auf Grund ihrer Natur und ihres Wesens Gebührende gegeben wird und daß ihre Rechte, wozu auch das Recht auf Selbstverwaltung und Ordnung ihrer eigenen Angelegenheiten gehört, nicht beeinträchtigt werden. Diese ihrem Wesen nach universal gerichtete politische Tätigkeit, die der Staat und die ihn tragenden politischen Kräfte – das sind in der Demokratie alle Bürger – auszuüben haben, läßt sich nicht als eine bloße Selbstverwaltungssparte neben anderen Selbstverwaltungssparten begreifen, sondern sie ist eine ihrem Wesen nach übergeordnete und leitende Tätigkeit, Ausfluß einer zwar nicht absolut verstandenen, sondern an Gottes Gebot und das natürliche Recht gebundenen und dadurch relativierten suprema potestas.“145

142 

Adolf Süsterhenn, ebd., S. 244. Siehe oben, S. 110 ff. 144  Siehe oben, S. 113 f. 145  LHA Koblenz, 700/177, Nr. 364, Rezension zu Ernst von Hippels „Gewaltenteilung im modernen Staate, 1948, Bl. 84 (88) [Hervorhebung im Original]. Erscheinungsort und -datum der Rezension sowie der Verfasser sind auf dem maschinenschriftlichen Manuskript nicht angegeben, aufgrund des Inhalts und der vielfältigen Bezugnahmen auf die Rheinland-Pfälzische Verfassung ist jedoch die Urheberschaft Süsterhenns sehr wahrscheinlich. 143 

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Kapitel 3: Zwischen organischer Staatslehre und vorsichtiger Öffnung

Süsterhenn bediente sich zur Verteidigung des Zuständigkeitsbereichs des Parlaments in erster Linie einer Argumentation, die in Einklang mit der katholischen Staatslehre stand: Er zog nicht die Volkssouveränität als Wert an sich heran, sondern begründete seine Kritik damit, dass nur eine über den einzelnen Selbstverwaltungsorganen stehende Instanz in der Lage sei, optimal für das Gemeinwohl zu sorgen. Interessant ist hierbei die Konzeption des Gemeinwohls: Im Gegensatz zu Hippel zweifelte Süsterhenn an der Möglichkeit, durch reine Expertengremien dem Gemeinwohl gerecht zu werden. Dass ein Parlament, in dem unterschiedliche Interessen und Perspektiven repräsentiert sind, über die zentralen gesellschaftlichen Fragen entscheidet, war für ihn eine Bedingung für die Verwirklichung des Gemeinwohls. Anders als in der neuscholastischen Konzeption waren gemeinwohlorientierte Entscheidungen damit nicht mehr nur über ihre Inhalte definiert, sondern auch darüber, welche Interessen und Perspektiven eingeflossen waren. Er erkannte an, dass auch Volkssouveränität und Partizipation wesentliche Momente politischer Legitimation waren und war bereit, dem parlamentarischen Prinzip den Vorrang vor dem Subsidiaritätsprinzip zu geben. Die „Gleichstellung des politischen mit dem kulturellen und wirtschaftlichen Bereich in der Selbstverwaltung“, die Hippels Konzeption zugrunde lag, war für ihn eine „Abwertung des Politischen“. Dies könne „nicht gebilligt werden.“146 Süsterhenns Position zu Naturrecht, Politik und Demokratie blieb schillernd. Einerseits erkannte er die Heterogenität der Nachkriegsgesellschaft als Faktum an. Er öffnete den Gemeinwohlbegriff für die liberaldemokratische Idee der Legitimationsstiftung durch Partizipation. Zugleich war das Naturrecht für ihn jedoch unzweifelhaft wahr. Trotz der vorsichtigen Öffnung des Gemeinwohlbegriffs blieb die Legitimität von Politik für ihn in erster Linie an eben dieser Wahrheit ausgerichtet. Er wandte sich entschieden gegen Versuche, das katholische Politikverständnis durch Aufnahme von Einflüssen des französischen Existenzialismus im Individuum zu verankern. „Dabei wird vielfach die Lehre der katholischen Ethik übersehen […]. Politik aus wahrhaft christlicher Verantwortung muß wesensgemäß die Anerkennung und Befolgung der allgemeingültigen Normen des Naturrechts mit einschließen.“147 Wie für andere katholische Juristen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit Naturrechtsschriften verfassten, war für ihn Politik ein Akt der Wahrheitsfindung und nicht der konkret-situativen Aushandlung. Anders als diese konzedierte er jedoch in seinen Schriften, dass er in einer pluralistischen Gesellschaft lebte, in der diese Wahrheit nicht von allen geteilt wurde. Er hebt sich von anderen dadurch ab, 146 

LHA Koblenz 700/177, Nr. 364, Bl. 84 (89). Adolf Süsterhenn, Gibt es eine „christliche“ Politik? (1951), in: Schriften, 1991, S. 377 (380). Er wandte sich besonders hierbei besonders gegen den Herausgeber der Frankfurter Hefte, Walter Dirks. 147 

VI. Fazit

135

dass er seine theoretischen Überlegungen zu Naturrecht und Staatskonzeption für den Gedanken öffnete, dass auch für die Wahrheit im parlamentarischen Prozess gekämpft werden musste.148

VI. Fazit In diesem Kapitel wurde gezeigt, wie sich katholische Juristen in der Umbruchsituation nach 1945 auf das tradierte Naturrechtsdenken der katholischen Kirche zurückzogen. Sie sahen in der Säkularisierung seit der Aufklärung, in Liberalismus und Materialismus die Ursachen für den Nationalsozialismus und forderten eine Rückbesinnung darauf, dass das Recht sich nicht in staatlichen Gesetzen erschöpfte, sondern durch religiöse Vorgaben begründet und begrenzt sei. Die Naturrechtsschriften stehen damit im Kontext der kirchlichen Bemühungen, eine Position in der Nachkriegsgesellschaft zu finden und gesellschaftlich Einfluss zu nehmen. Das Naturrecht war für die Kirche seit seiner Renaissance im 19. Jahrhundert das Mittel schlechthin, sich politisch zu artikulieren und ihren Vorstellungen hinsichtlich der Gestaltung der Gesellschaft Ausdruck zu verleihen. Es war verbunden mit einer umfassenden religiös begründeten Staatslehre, die nun nach 1945 von Juristen aktualisiert wurde. Ihre Naturrechtsschriften waren Darstellungen der neuscholastischen Staats- und Rechtslehre, nicht von Gedanken, die in Auseinandersetzung mit der konkreten Umbruchsituation nach 1945 neu entwickelt worden wären. Sie legten Entwürfe einer Staatsordnung vor, in der nach katholischer Lehre christliche Werte am weitestgehendsten verwirklicht werden konnten. Juristen beteiligten sich mit ihren Naturrechtsschriften also an den Bestrebungen, die Grundsätze christlicher Gesellschaftslehre in den Wiederaufbauprozess einfließen zu lassen. Um Identität und Ansehen des eigenen juristischen Berufsstandes ging es dabei nur mittelbar. Die katholische Kirche galt nach 1945 als Institution, die im Nationalsozialismus ihre Integrität gewahrt und sich der Anpassung an die Ideologie widersetzt hatte. Nach 1945 an das katholische Rechtsdenken anzuknüpfen, bedeutete, das Recht mit einer Geisteswelt in Verbindung zu bringen, die an Legitimität nicht eingebüßt hatte. Die Verfasser der Naturrechtsschriften erinnerten daran, dass Recht insgesamt etwas Gutes sein könne, indem sie dem potentiell despotischen ‚Gesetz‘ ein katholisches ‚Recht‘ entgegenstellten. Der Rückgriff auf katholisches Rechts- und Staatsdenken war nach 1945 allerdings nicht ohne Tücken. Die neuscholastische organische Staatslehre vertrug sich kaum mit den Anforderungen, ein westlich-liberales demokratisches System zu errichten. Wie schwer sich die Verfasser damit taten, beide Gedan148  Ähnliche Einschätzung, wenn auch insgesamt zu Süsterhenn nur knapp bei Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, 2005, S. 365, 441.

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Kapitel 3: Zwischen organischer Staatslehre und vorsichtiger Öffnung

kenwelten miteinander zu verbinden, lässt sich an einigen Texten gut erkennen. Der Verfassungspolitiker Adolf Süsterhenn sticht insofern heraus, als er die liberale Demokratie nicht einfach in ihre Schranken wies. Er versuchte tradiertes Denken und die alltägliche demokratische Praxis, welche er als Politiker erlebte, in Einklang zu bringen. Seine Haltung blieb ambivalent, was für eine Umbruchsituation sicherlich charakteristisch ist. Zu einer grundlegenden Öffnung katholischen Staatsdenkens kam es erst im Vorfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils.149 Katholische Naturrechtsschriften wurden zu diesem Zeitpunkt von Juristen schon lange nicht mehr verfasst.150

149 Z.B. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche (1957), in: Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933, 1988, S. 21–38; später Franz Böckle/Ernst-Wolfgang Böckenförde, Naturrecht in der Kritik, 1973; Umfassend zu den Veränderungen Andreas Laun, Die naturrechtliche Begründung der Ethik in der neueren katholischen Moraltheologie, 1973, S. 106 ff. sowie Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, 2005, S. 444 ff. 150  Zum Abklingen der Naturrechtsdebatten siehe Kapitel 7.

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Kapitel 4

Die schwierige Suche nach einer evangelischen Rechtslehre: vom Naturrecht zum „bekennenden Kirchenrecht“ „Absolute Gerechtigkeit ist nur bei Gott zu finden. Gott aber finden wir dort, wo er sich offenbart: in seinem Wort.“1 Es waren Juristinnen und Juristen, an die diese Worte am Nachmittag des 3. Oktober 1946 gerichtet wurden. Erik Wolf, von dem sie stammten, fasste mit ihnen die Grundgedanken zusammen, die er am Vormittag in seinem Vortrag „Vom Wesen der Gerechtigkeit“ formuliert hatte: dass es eine „Urordnung“ gäbe, die allerdings weder durch philosophische noch durch historische Betrachtungen, sondern nur im Wege des Glaubens erkannt werden könne. Nun, am Nachmittag, sollte die An­schluss­frage Gegenstand eines Vortrages werden: Welche Hinweise auf eine solche Urordnung ließen sich im Wege des Studiums der Bibel finden? Der Titel lautete dementsprechend: „Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts“. Die 80 Zuhörer/innen waren am Vortag aus verschiedenen Orten Württembergs, vereinzelt auch aus anderen Teilen Deutschlands angereist, um an einer „Juristentagung“ der Evangelischen Akademie Bad Boll teilzunehmen. Es waren vor allem Richter, Rechtsanwälte und Ministerialbeamte, die dem Aufruf des Landesbischofs Theophil Wurm gefolgt waren, aber auch einige Referendare, drei Studenten und eine Studentin stehen auf der Teilnahmeliste. 2 Evangelische Perspektiven auf das Recht war das Thema, mit dem sie sich eine Woche lang beschäftigen wollten. Die beiden Vorträge von Erik Wolf am ersten Tagungstag legten nicht nur eine Grundlage für die folgende Tagungswoche. Sie standen auch am Anfang der Diskussionen um Naturrecht, die sich im Umfeld der evangelischen ­Kirche nach 1945 entwickelten. Protestanten konnten nicht auf eine eigene Naturrechtstradition zurückgreifen. Anders als in der katholischen Naturrechtsrenaissance wurde daher in diesen Diskussionen heftig um Grundsatzfragen gerungen: Existierte ein christliches Naturrecht und, wenn ja, wie ließ sich dieses mit dem protestantischen Denken in Einklang bringen? Theologische 1  Erik Wolf, Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts (Vortrag 1946), in: Rechtsgedanke und biblische Weisung, 1948, S. 33 (ebd.). 2  Ev. Ak. Bad Boll, Juristentagung 1946: Teilnahmeliste maschinenschriftl.

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Kapitel 4: Die schwierige Suche nach einer evangelischen Rechtslehre

Fragen standen dementsprechend im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen. Juristen und Theologen waren an ihnen gleichermaßen beteiligt und suchten gemeinsam nach Begründungsmöglichkeiten für eine evangelische Rechtslehre. Welche Bedeutung die Naturrechtsfrage für das protestantische Selbstverständnis nach 1945 hatte und welche Wege gefunden wurden, Recht und Religion in Einklang zu bringen, ist Gegenstand dieses Kapitels. Am Beispiel des Freiburger Rechtsphilosophen, Straf- und Kirchenrechtlers Erik Wolf soll zugleich der Frage nachgegangen werden, was speziell Juristen motivierte, sich so intensiv in theologische Diskussionen hineinzubegeben. Erik Wolf trug am Anfang und am Ende maßgeblich zu der Diskussion bei. Um zu verstehen, warum er die religiöse Verankerung des Rechts nach 1945 zu seinem Lebensthema machte, soll im Folgenden zunächst ein Blick auf Erik Wolfs Weg vor 1945 geworfen werden, auch wenn dies zunächst von der evangelischen Naturrechtsdiskussion nach 1945 wegzuführen scheint.

I. Bekenntnis zum Nationalsozialismus und Abkehr: Erik Wolfs Weg vor 1945 Erik Wolf (1902–1977) stammte aus einer gemischt-konfessionellen Familie, wurde aber evangelisch-reformiert getauft und erzogen. Er wuchs in Deutschland und in der Schweiz auf und studierte zunächst in Frankfurt am Main, später in Jena. Dort promovierte er 1924 mit einer Arbeit zur „Entwicklung des Rechtsbegriffs im reinen Naturrecht“.3 Er habilitierte sich in Heidelberg bei Alexander Graf zu Dohna und nach dessen Wechsel nach Bonn bei Gustav Radbruch im Strafrecht. 1930 wurde er an die Universität Freiburg berufen.4 Die rechtsphilosophische Position Wolfs vor 1933 lässt sich nicht präzise beschreiben.5 In den wenigen Aufsätzen, die er in dieser Zeit veröffentlichte, legte 3  Veröffentlicht 1927 unter dem Titel „Grotius, Pufendorf, Thomasius. Drei Kapitel zur Gestaltgeschichte der Rechtswissenschaft“. 4  Erik Wolf hat weder Memoiren hinterlassen, noch wurde bislang eine geschlossene Biographie verfasst. Allerdings hat sein Schüler Alexander Hollerbach Leben und Werk detailreich aufgearbeitet: Zu Leben und Werk Erik Wolfs, in: Ausgewählte Schriften, 2006, S. 487–516; Im Schatten des Jahres 1933: Erik Wolf und Martin Heidegger, in: Ausgewählte Schriften, 2006, S. 517–534; Erinnerungen an Erik Wolf, in: Ausgewählte Schriften, 2006, S. 535–546; Erik Wolf (1902–1977), in: Jurisprudenz in Freiburg, 2007, S. 331–344; Pringsheim – Wolf – Maunz, in: Jurisprudenz in Freiburg, 2007, S. 345–372; Erik Wolfs Wirken für Kirche und Recht, in: Jahrbuch für die badische Kirchengeschichte, Bd. 2 (2008), S. 47–67. 5  Es scheint sich auch in seiner Selbstwahrnehmung um eine Zeit des Suchens gehandelt zu haben. Er benannte in einer autobiographischen Skizze höchst unterschiedliche Richtungen, die für ihn von Bedeutung gewesen seien: die liberale und demokratische Tradition seines Basler Großelternhauses, das soziologische Seminar Franz W. Jerusalems, bei welchem er studiert hatte, der südwestdeutsche Neukantianismus, ferner die Begegnung mit dem GeorgeKreis und die Beschäftigung mit diversen religiösen Strömungen. Siehe den nicht abgeschick-

I. Bekenntnis zum Nationalsozialismus und Abkehr

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er keine eigenständige Konzeption vor. Seine ersten Positionierungsversuche zeigen ein nicht religiös begründetes, gemeinschaftsorientiertes Rechtsdenken. Er grenzte sich sowohl gegenüber rechtspositivistischen als auch gegenüber naturrechtlichen Rechtsbegründungen ab.6 Das Recht war für ihn eine Ordnung, die von der „Willenspermanenz des Einzelnen“7 getragen sei, der einen „rechtsgenossenschaftlichen Einsatz“8 leistete. Wolf forderte von den Bürger/innen die Anerkennung des Rechts, Sokrates’ Selbstvollzug des gegen ihn verhängten Todesurteils galt ihm als vorbildliches Beispiel für den „Mitvollzug des Gemeinwillens“.9 Er fokussierte seine Überlegungen zum Verhältnis zwischen Staat und Bürger/innen damit nicht auf die Frage der subjektiven Rechte der Bürger/ innen, sondern auf die Hingabe der Einzelnen gegenüber dem Staat. Was dies konkret für die Rechtsstellung von Bürger/innen bedeuten konnte, zeigte sich in einem Aufsatz von 1929: Er schlug vor, die zivilrechtliche Rechtsfähigkeit nicht mehr am Rechtsubjekt festzumachen, sondern an der „Rechtsperson“. Diese definierte er als eine Person, die „den rechtsgenossenschaftlichen Einsatz vollzogen hat und nun kraft dieser von ihm selbst gewollten Ordnung darf und kann.“10 Dies bedeutete, dass nicht mehr jeder Mensch Träger ziviler Rechte sein würde, sondern nur noch diejenigen, die die Rechtsordnung unterstützten. Deutlicher schlug sich dieses gemeinschaftsorientierte Rechtsdenken in seinen strafrechtlichen Schriften nieder. Zunächst orientierte er sich noch an sozialliberalen Straflehren, welchen zufolge die psychologischen Ursachen der Tat und damit die Person des Täters in den Blick genommen werden müsse, damit erzieherisch auf diesen eingewirkt werden könne. In seiner Freiburger Antrittsvorlesung 1931 wandte er sich aber bereits der „sozial-autoritären“ kriminalpolitischen Strömung zu: Das „Wesen des Täters“ liege in einer „verfallenden Rechtsgesinnung“, die Bestrafung müsse sich an den Folgen orientieren, die dieser „Verfall“ für die Gemeinschaft habe.11 Im Nationalsozialismus forderte er ein Täterstrafrecht,12 „das nicht nur das äußere Symptom, sondern die innere Gesinnung erfaßt“,13 und sprach sich für harte Strafen, insbesondere auch für ten Brief an Karl Barth aus dem Jahr 1945, Abdruck in: Alexander Hollerbach, Zum Verhältnis von Erik Wolf und Martin Heidegger, in: Heidegger-Jahrbuch 4 (2009), S. 284 (297 ff.).  6  Erik Wolf, Recht und Welt (1931), in: Rechtsphilosophische Studien, 1972, S. 30 (48 f.).  7  Erik Wolf, ebd., S. 44.  8  Erik Wolf, ebd., S. 52.  9  Erik Wolf, Über die geschichtliche Größe der Juristen (1926), in: Rechtsphilosophische Studien, 1972, S. 110 (130). 10  Erik Wolf, Recht und Welt (1931), S. 30 (52). 11  Erik Wolf, Vom Wesen des Täters, 1932, S. 27; ders., Krisis und Neubau der Strafrechtsreform, 1933, S. 30 ff. 12  Erik Wolf, Fehlende Strafbestimmungen, JW 1933, 2096–2098; ders., Krisis und Neubau der Strafrechtsreform, 1933, S. 36 f.; ders., Das künftige Strafensystem und die Zumessungsgrundsätze, ZStW 54 (1935), 544–574; ders., Tattypus und Tätertypus, ZAkdR 3 (1936), 358 (361 f.). 13  Erik Wolf, Fehlende Strafbestimmungen, JW 1933, 2096 (2098).

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Kapitel 4: Die schwierige Suche nach einer evangelischen Rechtslehre

die Todesstrafe aus.14 Er befürwortete die Aufhebung des Analogieverbots im Strafrecht15 und postulierte einen materiellen Unrechtsbegriff,16 der auch ungeschriebenes Recht,17 einschließlich Führerbefehlen umfasse.18 Strafgrund sei das Werturteil der Volksgemeinschaft, es gebe „kein Verbrechen an sich, sondern vor ihr“.19 Seine Überlegungen zum „rechtsgenossenschaftlichen Einsatz“, den das Recht von den Individuen verlange, entwickelte er weiter: „Rechtsgenossenschaft bedeutet Rechtsstandschaft. Deren Ziel aber ist das volle Einstehen für das Recht, notfalls auch gegen die gehabten eigenen Rechte. […] Jeder muß das Recht lieben und dabei sein Recht auch zu opfern bereit sein.“20 „Andersartigen“ sprach er die „Rechtsstandschaft“ ab und rechtfertigte damit den Entzug staatsbürgerlicher Rechte, insbesondere die Entlassung jüdischer Beamter.21 Im Herbst 1933 folgte er dem Ruf Martin Heideggers, von dem er seit einer ersten Begegnung 1927 fasziniert war, und wirkte für einige Monate als Dekan der juristischen Fakultät an dessen Rektorat mit. 22 Die folgende Ernüchterung und schließliche Abkehr vom Nationalsozialismus23 lassen sich am besten an seinen kirchenrechtlichen Schriften beobachten. In diesen ist sie ab 1936 unverkennbar. 24 1934 vertrat er noch die prinzipielle Vereinbarkeit nationalsozialistischer Herrschaft mit evangelischem Glauben.25 14  Erik Wolf, Das künftige Strafensystem und die Zumessungsgrundsätze, ZStW 54 (1935), 544 (546 ff.). 15  Erik Wolf, Tattypus und Tätertypus, ZAkdR 3 (1936), 358 (360). 16  Erik Wolf, ebd., S. 361. 17  Erik Wolf, ebd., S. 360 f. 18  Erik Wolf, ebd., S. 361. 19  Erik Wolf, Das künftige Strafensystem und die Zumessungsgrundsätze, ZStW 54 (1935), 544 (545); ders., Tattypus und Tätertypus, ZAkdR 3 (1936), 358 (360). 20  Erik Wolf, Richtiges Recht im nationalsozialistischen Staate, 1934, S. 17 f. [Hervorhebungen im Original]. 21  Erik Wolf, Das Rechtsideal des nationalsozialistischen Staates, ARSP 28 (1934/35), 348 (357 f.). Der komplette Ausschluss aus dem Rechtsverkehr oder gar die Aufhebung der Rechtsfähigkeit schwebte ihm jedoch nicht vor, anders als Karl Larenz. Zur strukturellen Nähe zwischen beiden Ansätzen Reinhard Mehring, in: Manfred Gangl (Hg.), Linke Juristen in der Weimarer Republik, 2003, S. 169 (185). 22  Zum Verhältnis Wolf-Heidegger Alexander Hollerbach, in: Ausgewählte Schriften, 2006, S. 517–534. 23  Die Abwendung vom NS im Laufe der 1930er Jahre ist nicht ungewöhnlich für einen Juristen, der zunächst begeistert dem Regime folgte. Ungewöhnlich ist allerdings, dass Wolf sich eingehend mit seinem Weg im NS auseinandersetzte und versuchte, über seine Schuld Rechenschaft abzulegen. In seinem Nachlass findet sich ein nie abgeschickter Brief an Karl Barth, datiert auf den 15.10.1945 und auf den 11.11.1968, veröffentlicht jüngst durch Alexander Hollerbach, in: Heidegger-Jahrbuch 4 (2009), S. 284 (288–325). 24  Erik Wolf selbst beschreibt in seinem nie abgeschickten Brief an Karl Barth (Fn. 23) zunehmende Skepsis bereits seit 1933, erst das Jahr 1937 habe allerdings die „eigentliche Wende“ gebracht, S. 321. 25  Erik Wolf ‚ Richtiges Recht und evangelischer Glaube, in: Walter Künneth u.a. (Hg.), Die Nation vor Gott, 3.A. 1934, S. 241–266.

I. Bekenntnis zum Nationalsozialismus und Abkehr

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Er warnte zwar vor einer „Selbstvergottung“ des nationalsozialistischen Staates, die Kirche war für ihn jedoch nicht Kritikerin des Regimes, sondern potentielle Legitimationsstifterin: Der totale Staat solle die Chance nutzen, seine Autorität aus der Unterwerfung unter die Religion zu ziehen.26 Zugleich sollten die religiös vorgegebenen Normen im Lichte nationalsozialistischer Werte ausgelegt werden. Christentum und Nationalsozialismus sollten sich für einander öffnen. 27 Möglicherweise lag der Weg Wolfs in die Opposition gerade in diesen Vorstellungen vom nationalsozialistischen Staat begründet. 28 Er hatte 1934 die Maßstäbe formuliert, an denen er die neue Herrschaftsordnung messen wollte. Dass die Grenze der „Selbstvergottung des Staates“ für ihn früh überschritten war, zeigt sich in einem Aufsatz von 1936. Statt Religion und Staat wie noch 1934 zu verschmelzen, forderte er nun eine strikte Trennung: „Die christliche Gemeinde kann als solche von ihrer Volksgemeinschaft nicht das innere Ordnungsprinzip des Gemeindelebens empfangen, so wenig die Volksgemeinschaft (auch der Nichtchristen) ihr inneres Ordnungsgesetz von der Gemeinde Christi empfangen kann. Das ist zwar schmerzlich und eine dauernde Spannung, aber gerade dadurch gemeinschaftserhaltend und -fördernd. Denn nur dort, wo Spannungen ausgehalten werden, nicht wo seichte Harmonie alles zu einen vorgibt, ist echte und lebendige Gemeinschaft.“29

Wolf, der in seinen Texten spürbar um Ausgleich widerstreitender Positionen und um die Suche nach harmonisierenden Mittelwegen bemüht war, müssen diese klaren Worte nicht leicht gefallen sein. In ihnen klingt bereits an, was sich nach 1945 zu einem Leitmotiv entwickeln sollte: die Kirche als kritische Instanz oder sogar als Korrektiv gegenüber dem Staat. Um dieser Rolle gerecht zu werden, müsse sie unabhängig sein. 26 

Erik Wolf, ebd. S. 250 ff. Alexander Hollerbach, in: Jahrbuch für die badische Kirchengeschichte, Bd. 2 (2008), S. 47 (53) weist darauf hin, dass sich Erik Wolf in diesem Text wie auch in seinen übrigen Texten aus dem Jahr 1934 nicht vollständig an nationalsozialistische Ideologie anpasste. Auch Hans-Peter Schneider, in: Joachim Bohnert u.a. (Hg.), Verfassung–Philosophie–Kirche, 2001, S. 455 (456 ff.) hebt Wolfs Schwierigkeiten mit dem NS-Regime während seiner Zeit als Dekan der juristischen Fakultät unter dem Rektorat Martin Heideggers hervor. Diesen Einschätzungen muss jedoch entgegen gehalten werden, dass die nationalsozialistische Ideologie in dieser Zeit noch nicht fest umrissen war, sondern noch in Bewegung. Differenzen zeugen weniger von einer oppositionellen Haltung, als davon, dass Wolf versuchte, auf den Prozess der Herausbildung nationalsozialistischer Normen einzuwirken. Hiervon zeugt es, wenn er 1934 in einem Text, in dem sich zum Nationalsozialismus bekannt hatte und „Andersartigen“ die staatsbürgerliche Rechte abgesprochen hatte, zugleich schreibt: „Die formale ‚Gleichheit vor dem Gesetz‘ im Sinne des Gesetzschutzes ist ihnen im Dritten Reich genau so gut gewährt wie in der Vor- und Nachkriegszeit“, Erik Wolf, Das Rechtsideal des nationalsozialistischen Staates, ARSP 28 (1934/35), 348 (357 f.). So auch Reinhard Mehring, ZRGG 44 (1992), S. 140–156. 28  Hierzu eingehend Reinhard Mehring, ZRGG 44 (1992), S. 140–156. 29  Erik Wolf, Zur rechtlichen Neugestaltung der Kirche (1936), in: Rechtstheologische Studien, 1972, S. 280 (287). 27 

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Kapitel 4: Die schwierige Suche nach einer evangelischen Rechtslehre

Zu diesem Zeitpunkt war die Bekennende Kirche zu seinem Handlungsfeld geworden. Sie bot ihm einen Rahmen für die Distanzierung vom Regime. Er hielt Bekenntnisgottesdienste in Freiburg und Umgebung30 und wurde in die Verfassungskammer der Vorläufigen Leitung der Deutschen Evangelischen ­K irche berufen.31 Innerhalb der Bekennenden Kirche war es jedoch nicht der Weg der Totalopposition, den Wolf wählte, sondern der der Reform. Auch der nationalsozialistische Staat war aus seiner Sicht ein anzuerkennendes Gegenüber für die Kirche.32 Er versuchte zu vermitteln, nicht zu polarisieren: Er sah seine Aufgabe in der Bekennenden Kirche nicht im Schaffen radikal oppositioneller Strukturen, sondern darin, den Weg zur Entstehung einer „Deutschen Evangelischen Gesamtkirche“33 zu bereiten. Er appellierte, den Blick nach vorn zu richten „nach den Jahren des Kampfes“ und drückte seine Hoffnung auf eine „ruhige Entwicklung“ einer bekennenden Kirchenverfassung aus. Sie sollte ihre Legitimität aus der kirchenpolitischen Tradition einschließlich der Reichskirchenverfassung von 193334 und aus einer gelebten „Verfassung“ in den einzelnen Gemeinden beziehen. Doch trotz dieser vermittelnden Haltung innerhalb der zutiefst gespaltenen Kirche und gegenüber dem nationalsozialistischen Regime ist der Bruch mit seiner Position von 1934 unverkennbar: Ziel war es nun, eine Ordnung zu errichten, die den Idealen der jungreformatorischen Bewegung und der Barmer Theologischen Erklärung entsprach. „Es muß immer wieder gesagt und verwirklicht werden, daß die neue Ordnung im Sinn und Geist der synodalen Erklärungen der Bekennenden Kirche errichtet werden muß.“35 Die Idee eines religiös fundierten „bekennenden Kirchenrechts“, welche in der Nachkriegszeit für sein kirchenpolitisches und kirchenrechtliches Engagement leitend werden sollte,36 ist bereits zu diesem Zeitpunkt erkennbar.37 30  Alexander Hollerbach, in: Jahrbuch für die badische Kirchengeschichte, Bd. 2 (2008), S. 47 (54) mit Hinweis auf Tagebucheinträge. 31  Alexander Hollerbach, ebd., S. 54. 32  Obgleich er die Reichskirchenverfassung von 1933 überwunden sehen wollte, sollte eine Reform an diese anknüpfen und von ihr ausgehend Veränderungen vornehmen, Erik Wolf, Zur rechtlichen Neugestaltung der Kirche (1936), S. 280 (288 f.). Die Bekennende Kirche war insofern ihrerseits gespalten zwischen solchen Kräften, welche die Zusammenarbeit mit dem NS-Staat gänzlich ablehnten und solchen, die auf Vermittlung setzten, hierzu Christoph Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, 2009, S. 209. 33  Erik Wolf, Zur rechtlichen Neugestaltung der Kirche (1936), S. 280 (288). 34  Erik Wolf, ebd., S. 288. 35  Erik Wolf, ebd., S. 289. 36  Siehe unten, S. 169 ff. 37  Besonders deutlich wird dies in seinem Beitrag für die 5. Aufl. des Bandes „Die Nation vor Gott“, hrsg. v. Walter Künneth u.a. aus dem Jahr 1937. Es handelt sich gegenüber der 3. Aufl. von 1934 um einen vollständig umgeschriebenen Beitrag, in welchem er die Autonomie der Kirche gegenüber staatlichen Eingriffen verteidigte und für die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Kirchenverfassung argumentierte, die sich normativ an der gelebten Praxis in den Gemeinden und am Bekenntnis orientiere.

II. In der „Stunde der Kirche“: Annäherung an das Naturrecht

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Wann genau Erik Wolf zum Freiburger Widerstandskreis stieß, lässt sich nicht rekonstruieren. 1938 hatte sich unter den Eindrücken des Novemberpogroms um den Historiker Gerhard Ritter eine Gruppe von Professoren zusammengefunden, die der Bekennenden Kirche angehörten und die in monatlichen Treffen aus einer christlichen Perspektive kritische Diskussionen über die nationalsozialistische Politik führten.38 Als dieser Kreis 1942 die Arbeit an einer Denkschrift über die Neuordnung Deutschlands nach dem Nationalsozialismus aufnahm, deren Veröffentlichung zu einer für die Zeit nach dem Krieg geplanten Weltkirchenkonferenz Dietrich Bonhoeffer angeregt hatte, schrieb Wolf gemeinsam mit dem Juristen und Ökonomen Franz Böhm den Abschnitt über die Rechtsordnung. In diesem klingen erste Überlegungen zum Verhältnis von Recht und Religion an: Einerseits distanzierten sich die Verfasser von einem „evangelischen Naturrecht“. Zugleich weiteten sie den Gedanken, dass das Kirchenrecht am religiösen Bekenntnis orientiert sein müsse, auf das weltliche Recht aus: Bereits hier ist die Rede von „biblischen Richtschnuren“ für das Recht, die sich aus dem Dekalog und Prophetenworten ergäben.39 Dies war das Stichwort, mit dem sich Erik Wolf nach 1945 in die evangelische Naturrechtsdiskussion einbrachte.

II. In der „Stunde der Kirche“: Annäherung an das Naturrecht Die Distanzierung vom Naturrecht, wie Wolf und Böhm sie in der Denkschrift des Freiburger Widerstandskreises vornahmen, war charakteristisch für den Protestantismus. Dieser stand dem Naturrechtsdenken traditionell fern, was seinem Bekenntnis ebenso geschuldet war wie seinem Verhältnis zum Staat. Religiöses Naturrecht bedeutete, dass sich die Kirche auf Grundlage ihres Bekenntnisses zu Fragen des weltlichen Rechts äußern konnte. Eben dies wurde jedoch von lutherischer wie von reformierter Seite traditionell abgelehnt: Von lutherischer Seite stützte sich die Ablehnung maßgeblich auf eine Interpretation der Zwei-Reiche-Lehre, der zufolge sich die Kirche nicht zu Fragen der weltlichen Ordnung äußern sollte. Aus den Römerbriefen (Röm. 13,1–7) wurde abgeleitet, dass die Religion gebiete, sich in weltlichen Fragen der Obrigkeit zu unterwerfen und diese auch dann anzuerkennen, wenn sie ungerecht handele. Die Zwei-Reiche-Lehre sowie die mit dieser Theologie einhergehende unkritische Nähe zum Staat wurden von reformierter Seite abgelehnt. Die Kirche wurde hier als Gewissen des Staates angesehen.40 Dieses Amt solle sie allerdings vor al38  Ein frühzeitiger Kontakt Erik Wolfs mit diesem Kreis ist angedeutet bei Alexander Hollerbach, Zum Verhältnis von Erik Wolf und Martin Heidegger, in: Heidegger-Jahrbuch 4 (2009), S. 284 (322). 39  In der Stunde Null, 1979, S. 102, 105. 40  Christoph Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, 2009, S. 65.

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lem durch Besinnung auf die Gemeinde als zentralem Ort kirchlichen Handelns ausüben. Die direkte Einmischung in weltliche Politik wurde also auch hier abgelehnt, verstärkt durch die dialektische Theologie der 1920er Jahre, die sich entschieden gegen die Idee eines ‚evangelischen Naturrechts‘ gewandt hatte.41 Die Naturrechtsfrage wurde für die evangelische Kirche virulent, als nach 1945 eine grundlegende Neuorientierung anstand. Die Zerrüttung der Kirche im Kirchenkampf sowie die Erfahrung, dass Teile der Kirche aktiv am Nationalsozialismus mitgewirkt hatten und andere dem Regime nichts hatten entgegensetzen können, machten es nötig, nicht nur die kirchlichen Strukturen neu aufzubauen, sondern auch das eigene Selbstverständnis zu hinterfragen. Auf der Kirchenkonferenz von Treysa im August 1945 wurde die Auflösung der bisherigen Deutschen Evangelischen Kirche und die Gründung einer neuen Organisation, der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), beschlossen. Führende Persönlichkeiten der Kirche gestanden im Oktober 1945 mit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis der Öffentlichkeit gegenüber die Schuld der Kirche ein. Vor allem wurde das Verhältnis zum Staat und zur weltlichen Politik grundlegend überdacht: „[E]s ist notwendig, daß die Kirche nicht wieder zum stummen Hund wird und daß man uns nicht nach weiteren […] Jahren einmal vorwerfen kann, wir hätten in einer Sache, wo wir hätten reden müssen, geschwiegen.“42 Einen Ort für erste evangelische Diskussionen über Naturrecht bot die 1945 gegründete evangelische Akademie in Bad Boll. Es war ein gegenseitiges In­ teresse, das Juristen und Theologen hier zusammenführte. Die erste Einladung zu juristisch-theologischem Austausch erging bereits im August 1945 durch den württembergischen Landesbischof Theophil Wurm. „An die Männer des Rechts und der Wirtschaft in Württemberg“ war der Aufruf überschrieben. Es sollten Tage der „Stille und Besinnung“ werden, deren Ziel es sei, „vom christlichen Glauben her die Orientierung zu finden, die wir für den Neubau unseres rechtlichen und wirtschaftlichen Lebens brauchen, wenn es wirklich ein Leben mit Gott sein soll.“43 Die Tagung im Oktober 1945 fand mit 150 Teilnehmern und einigen wenigen Teilnehmerinnen deutlich mehr Zuspruch als die Veranstalter erwartet hatten.44 Es wurde kontrovers diskutiert, welche Rolle der Religion im Recht zukommen sollte. Angesprochen wurden hier bereits wichtige 41 

Gerhard Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, 2000, S. 14 ff. So auf der Berlin-Brandenburger Synode 1946 geäußert, Nachweis bei Martin Greschat, in: Victor Conzemius u.a. (Hg.), Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte, 1988, S. 99–126 (Fn. 44). Auf lutherischer Seite ging damit eine kritische Auseinandersetzung mit der Zwei-Reiche-Lehre einher. Besonders Johannes Heckel arbeite Diskrepanzen zwischen der Bedeutung der Lehre zur Zeit der Reformation und ihrer späteren Interpretation heraus, siehe v. a. seine Aufsätze in: Das blinde, undeutliche Wort „Kirche“, 1964. Ebenso Otto Dibelius, Protestantismus und Politik, in: Wandlung 1947, Heft 1, S. 30–45. 43 Ev.Ak. Bad Boll, Juristentagung 1945, Einladungsschreiben von Theophil Wurm, 1. Bl. r. 44  Dies geht aus einem Schreiben an die Teilnehmer/innen hervor, Ev.Ak. Bad Boll, Ju42 

II. In der „Stunde der Kirche“: Annäherung an das Naturrecht

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Topoi der sich in der Folgezeit entfaltenden Naturrechtsdebatte: So diskutierten die Teilnehmer/innen, ob ein Zusammenhang zwischen der Säkularisierung und dem Nationalsozialismus bestanden habe und ob in Anlehnung an die katholische Naturrechtsrenaissance eine Orientierung in den Lehren des Mittelalters gesucht werden ­solle.45 Es kamen aber auch spezifisch protestantische Themen zur Sprache, wie die Bindung des Kirchenrechts an das religiöse Bekenntnis und die Frage, welche Rolle die evangelische K ­ irche sich beim Neuaufbau des geistigen Lebens gerade auch in Bezug auf Recht und Staat herausnehmen könne, nachdem sie selbst in das Unrecht verstrickt gewesen war.46 Aufgrund des großen Interesses, auf das diese Tagung gestoßen war, wurde bereits ein Jahr später zu einer Nachfolgetagung eingeladen. Diese zweite Tagung in Bad Boll, die sich an Jurist/innen wandte, war es, auf welcher Erik Wolf seine Gedanken zur Rolle der Religion für die Gesellschaftsordnung der Nachkriegszeit darlegte.

1. „Naturrecht“ oder „natürliche Gerechtigkeit“? Die Vorträge Erik Wolfs in Bad Boll waren getragen von der Überzeugung, dass es notwendig sei, sich auf die Suche nach einer absoluten, materiellen Gerechtigkeitslehre zu begeben. Er kritisierte die „Relativität der philosophischen Systeme“ von den klassischen Naturrechtslehren der Antike über das Vernunftrecht der Neuzeit bis hin zu historischen Rechtsbegründungen des 19. Jahrhunderts.47 Auch von katholischen Begründungen des Naturrechts distanzierte er sich und stellte damit die Frage nach einer spezifisch evangelischen Position.48 In seiner Antwort verwendete er den Begriff des „Naturrechts“ nur zögerlich49 und sprach sich gegen die Annahme eines „aus der Natur oder Bibel ableitbare[n]“ absoluten Rechts aus.50 Er zog es vor, von einer „natürlichen Gerechtigkeit“ und von „Richtschnuren“ zu sprechen. Die Ableitung verbindlicher Normen aus der „Natur“ oder dem „Wesen des Menschen“ lehnte er aus theologischen Überlegungen heraus ab: Aufgrund der Erbsünde sei der Mensch kein Ebenbild Gottes mehr. Aus der Natur des Menschen lasse sich daher kein Maßstab für eine ristentagung 1945, Eberhard Müller, Schreiben vom 27.9.1945 an die Teilnehmer der Tage der Stille und Besinnung aus Stuttgart und Tübingen, 1. Bl. r. 45  Hierzu Kapitel 6 B, S. 260 ff., 266 ff. 46 Diskussionsbeiträge von Hermann Walz, Eberhard Müller, Hans Erich Feine und [Hans] Asmussen, Ev. Ak. Bad Boll, Juristentagung 1945, Aussprache am 3.10.45 zum Vortrag von Pfarrer Asmussen DD, 1. Bl. r. und v. 47  Erik Wolf, Vom Wesen der Gerechtigkeit (Vortrag 1946), in: Rechtsgedanke und biblische Weisung, 1948, S. 9 (16 ff.). 48  Erik Wolf, ebd., S. 28 f. 49  Er verwendete ihn dennoch punktuell und erkannte ihn unter Bezugnahme auf Emil Brunner prinzipiell an, vgl. Erik Wolf, Vom Wesen der Gerechtigkeit (1946), S. 9 (29). Zu Emil Brunner siehe sogleich. 50  Erik Wolf, Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts (1946), S. 33 (38).

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Kapitel 4: Die schwierige Suche nach einer evangelischen Rechtslehre

ideale Gesellschaftsordnung gewinnen. Wahre Gerechtigkeit sei göttlich. „Diese Einsicht zieht eine scharfe, unübersteigbare Grenze für jede menschliche Hybris oder Einbildung, die wähnt, selber ein ewig gültiges, unumstößlich feststehendes Recht zu setzen, sprechen oder für sich behaupten zu können.“51 Gerechtigkeit werde dem Menschen im Wege von Gnade und Offenbarung durch Gott erteilt: „Was wirklich Recht ist, wird uns erst im Endgericht kund, wenn Gott jedem das wesenhaft Seine zuteilt.“52 Dennoch nahm er in seinen Vorträgen eine deutliche Annäherung an das Naturrechtsdenken vor. Er räumte ein, dass Menschen in der Lage seien, in einem gewissen Rahmen Gerechtigkeit zu erkennen. Erkenntnis sei möglich im Wege einer „radikalen Ausrichtung […] nach dem Wort“.53 Grundlegende Werte wie die Menschenwürde und die Sittlichkeit der Person seien zudem jedem, also auch nicht-christlichen Menschen, „ins Herz geschrieben“.54 „Diese ‚natürliche Gerechtigkeit‘, von der wir alle wissen, ist […] begründet in der Ordnung der von Gott geschaffenen, auf die Zukunft der Erlösten hin geschaffenen Welt.“55

2. „Biblische Weisung“ als Richtschnur für politisches Handeln der Kirche Erik Wolf lehnte das traditionelle Naturrechtsdenken also einerseits auf Grund des protestantischen Bekenntnisses ab. Andererseits näherte er sich ihm in seinen Vorträgen deutlich an. Er bewegte sich damit im Spannungsfeld zwischen zwei grundverschiedenen Versuchen in der reformierten Theologie, die politische Verantwortung der Kirche angesichts der Erfahrung des Nationalsozialismus zu begründen. Bereits während des Krieges waren zwei Bücher von Schweizer Theologen erschienen, die nach dem Krieg von deutschen evangelischen Theologen und Juristen breit zur Kenntnis genommen wurden: Karl Barths „Rechtfertigung und Recht“ (1938) und Emil Brunners „Gerechtigkeit“ (1943). Beide hatten in den 1920er Jahren die „dialektische Theologie“ begründet, die von der Unerkennbarkeit göttlicher Gerechtigkeit durch den in Sünde gefallenen Menschen ausging und eine radikale Konzentration auf das biblische Wort forderte.56 Diese Theologie spiegelt sich noch in der Barmer Erklärung der Bekennenden Kirche von 1934 wider. Brunners und Barths nunmehriges Bekenntnis zu einer politisch verantwortungsvollen Kirche stellte eine Abkehr von dieser Theologie im Angesicht des Nationalsozialismus dar.57 51 

Erik Wolf, Vom Wesen der Gerechtigkeit (1946), S. 9 (28 f.). Erik Wolf, ebd., S. 28. 53  Erik Wolf, ebd., S. 28. 54  Erik Wolf, ebd., S. 29; ders., Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts (1946), S. 33 (56, 60). 55  Erik Wolf, Vom Wesen der Gerechtigkeit (1946), S. 9 (29). 56  Gerhard Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, 2000, S. 14 ff. 57  Dies wird in beiden Büchern ausdrücklich angesprochen, siehe Emil Brunner, Gerech52 

II. In der „Stunde der Kirche“: Annäherung an das Naturrecht

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Trotz dieses gemeinsamen Ausgangspunktes und des gemeinsamen Anliegens gingen Barth und Brunner theologisch unterschiedliche Wege: Brunner bekannte sich zu einem Naturrecht oder – wie er sagte – zur Existenz einer „Urordnung“, die er in seinem Buch detailreich darstellte. Er bot auf diese Weise der Kirche klare Maßstäbe an, um das weltliche Recht zu beurteilen. Er begründete, dass es ein Recht zum Widerstand gegen eine Obrigkeit gebe, die das „Recht“ willkürlich zerstöre und jegliches „Rechtsempfinden“ verletze.58 Er verfolgte damit ein praktisches Anliegen, weniger ein wissenschaftliches, und er scheute nicht die Orientierung an der katholischen Kirche: „Während die katholische Kirche, aus jahrhundertelanger Tradition schöpfend, ein imposantes System der Lehre von der Gerechtigkeit besitzt, hat der Protestantismus seit mehr als dreihundert Jahren keine solche Lehre mehr. […] Das ist zweifellos der Hauptgrund, warum die protestantische Kirchen ihrer Stellungnahme zu den Fragen der Sozialgestaltung, zu Wirtschaft, Recht, Staat und Völkerrecht so unsicher ist, und warum ihre Aeusserungen über diese Dinge so oft den Charakter des zufällig improvisierten tragen und der Ueberzeugungskraft entbehren.“59

Barth hingegen hielt ein Naturrecht auf der Grundlage evangelischer Theologie nicht für begründbar. Auch er sah jedoch die Aufgabe der Kirche darin, den Staat an seine Schranken zu erinnern.60 Sie müsse stets einen kritischen Abstand zum Staat halten und diese Pflicht werde „dadurch, daß dieser vielleicht der brutalste Unrechtsstaat ist, nicht vermindert, sondern nur vermehrt.“61 Barth rief damit ebenfalls zum Widerstand auf. Anders als Brunner, der aus der Religion Maßstäbe für das weltliche Recht abgeleitet hatte, appellierte er dabei jedoch an die Kirche, ihre klassischen Handlungsformen beizubehalten. Im Mittelpunkt sollten weiterhin die Predigt und damit das Wort Gottes stehen. Die Figur des Naturrechts lehnte er ab.62 Entscheidend sei lediglich, dass der Staat der Kirche ausreichend Freiheit gewähre, damit diese sich auf ihre Aufgaben konzentrieren könne: „Keine direkte Aktion, die sie, in wohlmeinendem Eifer selber halb oder ganz politisch handelnd, unternehmen und durchführen könnte, könnte auch nur von ferne mit der positiven Relevanz derjenigen Aktion verglichen werden, in der sie, ganz apolitisch, ganz ohne Eingriff in die stattlichen Belange, das kommende Königreich Christi und also die Rechtfertigung allein durch den Glauben verkündigt: die rechte schriftgemäße Predigt und Unterweisung und die rechte schriftgemäße Verwaltung der Sakramente.“63

tigkeit, 1943, S. VI, 112; Karl Barth, Rechtfertigung und Recht, 2.A. 1944, S. 7, 35. Hierzu auch Gerhard Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, 2000, S. 31. 58  Emil Brunner, Gerechtigkeit, 1943, S. 112. 59  Emil Brunner, ebd., S. V f. 60  Karl Barth, Rechtfertigung und Recht, 2. A. 1944, S. 35. 61  Karl Barth, ebd., S. 35. 62  Karl Barth, ebd., S. 46. 63  Karl Barth, ebd., S. 45.

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Erik Wolf schlug in seinen Vorträgen in Bad Boll einen Mittelweg zwischen beiden Positionen ein. Ein Brief Brunners vom Juni 1946 deutet darauf hin, dass sich Wolf Brunner gegenüber positiv zu dessen Buch geäußert haben muss.64 Er nahm in seinen Vorträgen wiederholt Bezug auf Brunners Begriff der „Urordnung“65 und ging mit diesem davon aus, dass sie in einem gewissen Rahmen erkennbar sei. In der theologischen Grundorientierung war er jedoch Barth näher. Mit diesem bestand seit dessen Besuch in Freiburg 1945 eine freundschaftliche Verbindung, die fachliche Diskussionen ebenso umschloss wie persönliche Besuche.66 In seinen Vorträgen bezeichnete er Barths Schrift als „grundlegend“ und „richtunggebend“.67 Wie Barth rückte er das biblische Wort in den Mittelpunkt, denn „[a]bsolute Gerechtigkeit ist nur bei Gott zu finden. Gott aber finden wir dort, wo er sich offenbart: in seinem Wort.“68 Während Barth jedoch den politischen Auftrag der Kirche gerade in der Konzentration auf die Predigt erfüllt sehen wollte, forderte Wolf in seinen Vorträgen direkte politische Einmischung der Kirche. In der Konsequenz war sein Ansatz also dem Brunners näher: „Es ist […] erste Pflicht aller Christen, sich durch gründliches Studium der Heiligen Schrift der Weisungen zu versichern, die dem eigenen, persönlichen Leben zur maßgebenden Richtschnur dienen […]. Darüber hinaus besteht für die Kirche die Aufgabe […] diese Arbeit des Aufbaus einer ‚Christiana Politia‘ (Calvin) im ganzen zu tun. Das Ziel darf dabei freilich kein Muster einer überall und allezeit gültigen christlichen Staatsverfassung sein; kein Dauerprogramm einer evangelisch-sozialen Partei; kein Entwurf eines Gesetzbuchs christlicher Lebensregeln. Wir müssen uns damit bescheiden, die grundlegenden Richtschnuren herauszuarbeiten, ohne deren Kenntnis und Befolgung der Mensch nicht seiner würdig, nämlich nicht als Gottes Geschöpf leben kann.“69

Er beteiligte sich auch außerhalb seiner Vorträge im Herbst 1946 in Bad Boll an den Diskussionen um die politische Verantwortung der Kirche. In der Umbruchsituation 1945 war die Kirche für ihn zum zentralen Handlungsfeld geworden, soweit, dass er 1947 in einem Brief schrieb: „Wäre mein Gesundheitszustand nicht so lamentabel, hätte ich am liebsten mit dem Universitätsamt Schluss gemacht und wäre reformierter Pfarrer geworden.“70 Die Hinwendung 64 

UAF, C 130/391, Brunner, Emil: Brief von Emil Brunner an Erik Wolf vom 21.6.1946. Erik Wolf, Vom Wesen der Gerechtigkeit (1946) S. 9 (16, 29, 31). 66  Davon zeugen die Briefe Karl Barths an Erik Wolf: UAF, C 130/389 Barth, Karl. Zum Verhältnis beider siehe auch Alexander Hollerbach, in: Ausgewählte Schriften, 2006, S. 535 (543). 67  Erik Wolf, Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts (1946), S. 33 (37, Fn. 12). 68  Erik Wolf, ebd., S. 33. 69  Erik Wolf, ebd., S. 62 f. 70  UAF C 130/172 Schönfeld, Walther: Brief von Erik Wolf an Walther Schönfeld vom 28.6.1947, Bl. 2. Gegenüber Gustav Radbruch äußerte er 1945, dass er, falls er aufgrund des Entnazifizierung seinen Lehrstuhl verliere, in die Kirchenverwaltung gehe, UAF C 130/933, Radbruch, Gustav: Brief von Erik Wolf an Gustav Radbruch vom 20.5.1945. 65 

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zur Kirche stand nach eigenem Bekunden in einem direkten Zusammenhang zu der Schuld die er im Nationalsozialismus auf sich geladen hatte. Nur im „rein kirchlichen Raum“ fühle er sich weiterhin legitimiert, öffentlich aufzutreten und zu sprechen.71 Im Bereich des geltenden Rechts sei dies jedoch anders: „Wenn das [Engagement für den Nationalsozialismus, LF] durch meine Tätigkeit in der Bek[ennenden] Kirche, mein Rechtsgutachten für Niemöller 1937, meine Mitarbeit an der Verfassungskammer der BK, meine Teilnahme an dem genannten Freiburger Kreis und anderes im Entnazifizierungsverfahren soweit kompensiert worden ist, dass ich mit Gehaltskürzungen im Amt geblieben bin, so hat das doch nicht gehindert, dass ich mir schwere Vorwürfe machen muss und daraus ja auch die Konsequenz gezogen habe, meinen Lehrauftrag für Straf- und Prozessrecht freiwillig niederzulegen.“72

Er beteiligte sich aktiv an der Neugründung der EKD und engagierte sich in ihrem Verfassungsgebungsprozess.73 Als Mitglied der Studienkommission des Ökumenischen Rats der Kirchen versuchte er die Frage der politischen Verantwortung der Kirchen in die internationale Ökumene zu tragen. Die Studienkommission schlug auf seine Initiative hin vor, das Thema „Die Bibel und die Botschaft der Kirche an die Welt“ zu einem zentralen internationalen Studienthema zu machen.74 Sowohl auf der Weltkirchenkonferenz in Amsterdam 1948, an der Wolf als Delegierter teilnahm, als auch auf anderen internationalen Zusammenkünften wurde jedoch deutlich, dass die damit verbundene Naturrechtsfrage nur in Deutschland als ein so wichtiges Thema empfunden wurde.75

71  UAF C 130/172 Schönfeld, Walther: Brief von Erik Wolf an Walther Schönfeld vom 28.6.1947, Bl. 2. 72  UAF C 130/172 Schönfeld, Walther: Brief von Erik Wolf an Walther Schönfeld vom 28.6.1947, Bl. 2. 73  Der Entwurf der vorläufigen Ordnung der Kirche, die auf der Konferenz von Treysa im August 1945 verabschiedet wurde, war von ihm gemeinsam mit Rudolf Smend, Hermann ­Ehlers, Otto Fricke und Carl Mensing ausgearbeitet worden, hierzu UAF C 130, 933, Radbruch, Gustav: Brief von Erik Wolf an Gustav Radbruch vom 26.9.1945. Auf der Folgekonferenz von Treysa im Juni 1947 wurde er in den Verfassungsausschuss berufen und verfasste gemeinsam mit Heinz Brunotte und Hermann Ehlers den Entwurf für die 1948 in Eisenach beschlossene Grundordnung der EKD. Hierzu und zum Einfluss Erik Wolfs Annemarie Smith-von Osten, Von Treysa 1945 bis Eisenach 1948, 1980. Rückblickend auch Erik Wolf, Ordnung der Kirche, 1961, S. 449. 74  UAF C 130/989 „Weltkirchenkonferenz in Amsterdam“, Sämtliche Korrespondenzen: Brief von Schweitzer an Erik Wolf vom 11.2.1948, 2. Bl. r. 75  UAF C 130/30 F. Darmstaedter, Brief von Friedrich Darmsteadter an Erik Wolf vom 28.9.1948. Nicht bestätigt wird dies durch den Überblick über die internationalen Tagungen, auf denen das Thema diskutiert wurde, in: Studienabteilung des ökumenischen Rats der Kirchen (Hg.), Die Treysa-Konferenz, 1950, S. 7 ff. Auch dort wird allerdings eingeräumt, dass aufgrund der NS-Erfahrung das „Rechtsproblem vor allem in Deutschland als dringend empfunden wurde“, S. 11. Im Tagungsbericht Ernst Wolfs wird deutlich, dass die Naturrechtsfrage zwar durchaus diskutiert wurde, aber keinen Schwerpunkt darstellte, in: Wandlung 1948, S. 646 (658).

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3. Die Bedeutung der „biblischen Weisung“ für das positive Recht Erik Wolf rief die Zuhörer seiner Vorträge in Bad Boll also auf, sich auf Grundlage der „biblischen Weisung“ politisch in die Nachkriegsgesellschaft einzubringen. Welche Art der Verbindlichkeit sprach er dieser „biblischen Weisung“ nun zu? Sollte ihr eine ‚rechtliche‘ Qualität zukommen? Wolf beschrieb die „Weisungen“ nicht als äußere, erzwingbare Normen, es handele sich vielmehr um Gebote „der Liebe und inneren Zucht“.76 Dies bedeute jedoch nicht, dass sie nicht die äußere Gesellschaftsordnung betreffen konnten: „[…] dieses Wissen um die allein helfende Gnade, die uns der Glaube an Christus schenkt, gibt kein Recht zur Gleichgültigkeit gegenüber unserm irdischen Sein im Unrecht. Vor allem aber entbindet diese Erkenntnis uns nicht von der Pflicht der Verantwortung für rechtliche Ordnung und staatliche Gerechtigkeit.“77 Verbindlichkeit entsprechend der des positiven Rechts sollte den „biblischen Weisungen“ dennoch nicht zukommen. Sie waren ihm zufolge in erster Linie ein Maßstab für individuelle Gewissensentscheidungen78 und hatten damit einen ethischen Charakter:79 „Alle Weisungen der Bibel für die Rechts- und Sozialordnung – das muß immer wiederholt werden – sind niemals Rechtssätze, sondern immer Rechtsgrundsätze; niemals Verordnungen, sondern immer Weisungen; keine Entscheidungsnormen, sondern Bestimmungsnormen (Richtschnuren) für den Gesetzgeber, den Richter, den Verwaltungsbeamten, den Anwalt und den einfachen Rechtsgenossen im Verkehr mit anderen Gliedern der Rechtsgemeinschaft.“80

Für Christen ergab sich damit aus ihnen ein religiöser Auftrag.81 Dieser bestand zum einen in einer an der Weisung orientierten Lebensweise82 und zum anderen in politischer Einflussnahme, die zwar nicht auf die Errichtung einer christlichen Gesellschaftsordnung zielen sollte, aber von den Grundsätzen der Weisung getragen sein müsse. 83 Für Jurist/innen bedeute dies: „Mit Gottes Gesetz im Herzen können wir […] über alle Menschengesetze urteilen.“ Eine solche „christliche Existenz“ sei „die beste Voraussetzung für gerechte Rechtssetzung und Rechtsfindung.“84 Die „biblische Weisung“ sollte also in den Bereichen eine 76 

Erik Wolf, Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts (1946), S. 33 (36). Erik Wolf, ebd., S. 37. 78  Erik Wolf, ebd., S. 40. 79  Dies ergibt sich aus dem Textzusammenhang. Die christlichen Richtschnuren sollen an die Stelle der aus seiner Sicht verloren gegangenen ethischen Maßstäbe treten, Erik Wolf, Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts (1946), S. 33 (59 f.). 80  Erik Wolf, ebd., S. 43 f. 81  Erik Wolf, Vom Wesen der Gerechtigkeit (1946), S. 9 (32). 82  Erik Wolf, Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts (1946), S. 33 (62). 83  Dies betont er mehrfach, so in: Vom Wesen der Gerechtigkeit (1946), S. 9 (32); Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts (1946), S. 33 (63). 84  Erik Wolf, Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts (1946), S. 33 (62). 77 

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Rolle spielen, in denen Jurist/innen in ihrer Praxis ein Ermessenspielraum gegeben war bzw. in denen sie eine Wertung vornehmen mussten. Die „Weisung“ sollte auch hier das Gewissen leiten, in diesem Falle das richterliche.85 Festgehalten werden kann, dass er in Abgrenzung zum traditionellen katholischen Naturrechtsdenken dem positiven Recht Eigenständigkeit gegenüber religiösen Normen zusprach.86 Es überrascht daher nicht, dass sich in seinen Vorträgen keine Ausführungen über das Verhältnis der „biblischen Weisung“ zum positiven Recht finden. Widersprach dieses der „Weisung“, so tangierte dies seine weltliche Geltung als ‚Recht‘ nicht. Die Klarheit dieser Konzeption verwischte Wolf jedoch dadurch, dass er einen doppelten Rechtsbegriff verwendete: Als „Recht“ bezeichnete er nicht nur das weltliche, positive Recht, sondern auch das göttliche Gebot und die „biblische Weisung“.87 Das göttliche Recht legitimierte ihm zufolge das weltliche Recht und mache es erst verbindlich.88 Angesichts der Eigenständigkeit, die er dem weltlichen Recht zuvor im selben Vortrag zugesprochen hatte, liegt es nahe, dass er hiermit ebenfalls nicht eine juristische, sondern eine ethische Verbindlichkeit meinte. Wolf stellte dies jedoch nicht ausdrücklich klar. Er wollte jedenfalls ein ethisches Minimum im staatlichen Handeln gesichert sehen. Ob die „Verbote“ für staatliches Handeln, von denen er in diesem Zusammenhang sprach, Rechtsqualität haben sollten, blieb jedoch ebenfalls unklar.

4. Überzeitlich-absolute oder wandelbare Normen? In Wolfs Konzeption spielten also fünf, begrifflich nicht klar geschiedene Bereiche eine Rolle: göttliches Recht, weltliches Recht, juristische Entscheidungen, politische Gestaltung und individuelle Gewissensentscheidungen. Während das göttliche Recht ausdrücklich in der Hierarchie über den anderen Bereichen stand, war das Verhältnis dieser untereinander nicht näher bestimmt. Ihm ging es nicht darum, abstrakte Regeln für diese Bereiche zu finden und ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen. Vielmehr appellierte er an seine Zuhörer/innen, jeweils den Bereich, in welchem sie gerade tätig waren, mit einer Praxis auszufüllen, die den biblischen Weisungen entsprach. Obgleich er auf der Grundlage protestantischer Theologie argumentierte, dass Gerechtigkeit zu verwirklichen den Menschen nur mit Hilfe von Gottes Gnade möglich sei, zielten seine Vorträge deutlich auf die Aktivierung des Individuums. 85  Auch in den übrigen Debattenteilen wurde, statt die Geltungsfrage präzise zu beantworten, häufig auf das Gewissen verwiesen, sogar in der katholischen Naturrechtsrenaissance, hierzu Kapitel 6, S. 292 ff. 86 Ausdrücklich Erik Wolf, Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts (1946), S. 33 (62). 87  Erik Wolf, ebd., S. 35–37. 88  Erik Wolf, ebd., S. 37.

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Wolfs Aussagen darüber, ob es sich bei den Normen, die sich aus den „biblischen Weisungen“ ergaben, um überzeitlich gültige, absolute Normen handelte, waren widersprüchlich. Einerseits ließ er keinen Zweifel daran, dass es eine überzeitlich-absolute, göttliche Gerechtigkeit gebe. Aus dieser ließen sich seiner Auffassung nach ebenfalls überzeitlich gültige, abstrakte Normen ableiten, wobei er insbesondere den Dekalog als Quelle heranzog:89 Schutz der Familie, der Einehe und des Eigentums, Garantie der Freiheit, besonders der Religionsfreiheit, sowie das Recht auf Gleichbehandlung nach dem Grundsätzen des suum cuique.90 „Die Beispiele ließen sich bis zur Entwicklung eines Systems der biblischen Weisung […] vermehren.“91 Andererseits waren ihm weniger diese abstrakten Normen ein Anliegen als die konkret gelebte Praxis der „Christen im Staate“.92 Hierin deutet sich eine Kontinuität mit seinem Rechtsdenken vor und nach 1933 an, welche in den 1950er Jahren noch viel deutlicher sichtbar werden sollte.93 Er hatte sich um 1933 gegen den Positivismus gewandt, weil dieser das Recht als bloß abstrakte Norm ansehe. Zugleich hatte er jedoch auch das traditionelle Naturrechtsdenken dafür kritisiert, dass es ohne Anschauung der jeweiligen konkret-historischen Praxis Normen aus absoluten Werten deduziere.94 Sein damaliges Denken folgte einem wohl vor allem existenzphilosophisch beeinflussten dialektischen Rechtsverständnis: Recht legitimierte sich danach aus dem Wechselspiel dieser Normen mit ‚dem Leben‘, auf das sie trafen. Nach 1945 trat mit der göttlichen Gerechtigkeit eine Komponente hinzu, die nicht durch menschliches Handeln beeinfluss­bar sein sollte. Sie galt absolut und war damit nicht abhängig von der Lebenssituation, auf die sie traf. Obgleich er in seinen Vorträgen aus dieser göttlichen Gerechtigkeit abstrakte, überzeitliche Normen ableitete, spielte in ihnen auch das Wechselspiel dieser Normen und dem ‚Leben‘ eine Rolle. Die Begründung war nun eine Theologische: „Recht ist aber nicht immer lex oder Satzung und in der Bibel schon gar nicht; es ist durchaus nicht immer der Gegensatz, von dem die Rechtfertigung sich abhebt und wogegen sie streiten muß – so oft kommt das biblische Recht gerade von der Rechtfertigung her und kann überhaupt erst in ihrem Licht erkannt werden als das, was es ist. Diese Erkenntnis war Luther noch nicht zugänglich. Er sah im Recht eigentlich und immer nur eine obrigkeitliche Setzung, nie die autonome Gemeindeordnung, die für Calvin das Wesen des Rechts enthüllt.“95 89 

Erik Wolf, ebd., S. 44 ff. Erik Wolf, Vom Wesen der Gerechtigkeit (1946), S. 9 (30). Über diese Werte bestand in allen Naturrechtsdebatten Einigkeit. Zu den Gesellschaftsentwürfen, die sich hinter diesen Werten verbargen, Kapitel 6. 91  Erik Wolf, Vom Wesen der Gerechtigkeit (1946), S. 9 (30). 92  Erik Wolf, ebd., S. 32. 93  Siehe unten, S. 168 f. 94  Erik Wolf, Recht und Welt (1931), S. 30 (48 f.). 95  Erik Wolf, Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts (1946), S. 33 (35) [Hervorhebungen im Original in Anführungszeichen]. 90 

III. Juristisch-Theologische Gespräche

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5. Zusammenfassung: Distanzierung und Offenheit Erik Wolfs Vorträge von 1946 zeigen Distanziertheit und Offenheit gegenüber dem Naturrecht zugleich. Zweifelsfrei wollte er religiöse Normen für das weltliche Recht fruchtbar machen. Er versuchte sich hierbei jedoch von der katholischen Naturrechtskonzeption abzugrenzen: Religiösen Normen sollte kein direkter Rechtscharakter zukommen. Sie sollten damit nicht in gleicher Weise wie positives Recht verbindlich sein. Eine Ableitung aus der „Natur“ oder aus dem „Wesen des Menschen“ hielt er theologisch aufgrund der Erbsünde nicht für vertretbar. Religiöse Normen für die Gestaltung der weltlichen Ordnung leiteten sich ihm zufolge vielmehr aus dem biblischen Wort selbst her. Aus ihnen ergaben sich ethische Anforderungen an politisches und rechtliches Handeln. Zugleich verwendete er jedoch einen doppelten Rechtsbegriff und bezeichnete auch die „biblischen Weisungen“ als „Recht“, zeigte sich aufgeschlossen gegenüber Emil Brunners Herleitung eines Naturrechts aus der Schöpfungsordnung und ließ im Unklaren, ob religiöse Normen nicht wenigstens im Falle extremen Unrechts eine Geltungsgrenze für das positive Recht darstellen sollten. Auch in der Frage der Zeitbedingtheit von Recht und Gerechtigkeitsvorstellungen blieb er vage: Einerseits sollten religiösen Normen ein absolut-überzeitlicher Charakter zukommen, andererseits sah er die gelebte Praxis in der „Gemeinde“ als Quelle des Rechts an. Hinsichtlich der Frage, ob es ein „evangelisches Naturrecht“ gebe, blieb Wolf damit in seinen Vorträgen des Jahres 1946 unklar. Klar war er hingegen darin, dass es ihm bei der Suche nach einer evangelischen Begründung von „Richtschnuren des Rechts“ darum ging, eine Grundlage für das politische Handeln der Kirche und der „Christen im Staat“ zu schaffen. Er griff die Ansätze, die hierzu von theologischer Seite bereits während des Krieges formuliert worden waren, auf und versuchte die Diskussion zu forcieren.96

III. Juristisch-Theologische Gespräche: Von Göttingen 1949 bis Hemer 1955 Die Diskussion um das politische Engagement der Kirche wurde auch in den offiziellen Gremien der EKD geführt, allerdings erst seit 1949. Sie begann damit dort in einer Zeit, in der sich Erik Wolf aus der Kirchenpolitik zurückzog. Er legte im Juli 1949 all seine Kirchenämter nieder, nachdem deutlich geworden war, dass die weitgehende Neugestaltung der Kirche, die er nach der Zersplit96  Die Diskussion hierum in der Kirche lag ihm am Herzen, hierzu UAF C 130, 933, Radbruch, Gustav: Brief von Erik Wolf an Gustav Radbruch vom 26.9.1945.

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terung der Kirche im Nationalsozialismus für geboten hielt, in der EKD auf massiven Widerstand stieß.97 Die Naturrechtsfrage kam auf der EKD-Synode in Bethel im Januar 1949 in einer Kontroverse zwischen Friedrich Delekat und H[einrich] Vogel zur Sprache.98 In dieser Kontroverse ging es zunächst um konkrete tagespolitische Probleme, insbesondere um die Frage, wie sich die Kirche zu Entnazifizierung und Besatzungsherrschaft zu stellen habe. Das Naturrecht spielte dabei eher am Rande eine Rolle. Delekat forderte, dass die Kirche als Sprachrohr der Deutschen gegenüber den Besatzungsmächten auftreten müsse. Diese begingen aus seiner Sicht mit der Entnazifizierung ein Unrecht, das er in eine Reihe mit dem des Nationalsozialismus stellte.99 Er begründete dies zwar nicht eigens mit einem religiös abgeleiteten Begriff von Recht und Unrecht, knüpfte aber an die Forderung nach politischer Verantwortungsübernahme der Kirche an.100 Vogel mahnte unter Hinweis auf die Schuld der Deutschen eine demütige Haltung an und argumentierte, dass die Kirche nicht nach dem Recht des  97  Erik Wolf begründete seinen Rückzug rückblickend in einem Brief: „Die Entwicklung meiner Stellung in der Ev[angelischen] Kirche ist zu meinem tiefen Kummer immer isolierter geworden. Ich bin, wie Sie wissen, reformierten Bekenntnisses, aber ein Freund wahrer Union. Dieser unionsfreudige Geist, wie die BK ihn betätigt hatte, ist in den jetzigen Zeiten satter Kirchlichkeit immer mehr geschwunden, die landeskirchlich-traditionalistischen Kräfte und ein intolerantes Luthertum haben sich immer mehr durchgesetzt“, UAF C 130/827 Wolf an: Bülow: Brief vom 15.11.1953, 1. Bl.; ähnlich UAF C 130/917 Wolf an: Wolf, Ernst: Brief von Erik Wolf an Ernst Wolf vom 23.6.1961, r. Seine Frustration bezog sich insbesondere auf die Diskussionen um die Grundordnung der EKD. Er hatte in der Verfassungsfrage der reformierten Position Karl Barths nahe gestanden, der die kirchlichen Hierarchien auflösen und die Gemeinde ins Zentrum gestellt sehen wollte, hierzu Erik Wolf, Bekennendes Kirchenrecht (Vortrag 1947), in: Rechtsgedanke und biblische Weisung, 1948, S. 65–94, sowie Günther Bauer-Tornack, Sozialgestalt und Recht der Kirche, 1996. Diese Ansicht konnte sich in der EKD, die lutherische, reformierte und unierte Kirchen vereinigte, nicht durchsetzen. Rückblickend beschrieb Wolf dass die Arbeit des Verfassungsausschusses durch Behinderung von lutherisch-konservativer Seite stockend und konflikthaft verlaufen sei, in: Ordnung der Kirche, 1961, S. 451 ff. Der Kompromiss, der am Ende stand, bot wenig Neues: Man behielt die hierarchische und in Landeskirchen zersplitterte Ordnung bei und orientierte sich an der Verfassung von 1922, Clemens Vollnhals, in: Martin Broszat u.a. (Hg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, 1990, S. 113 (128 f.). Dass die anfängliche Offenheit gegenüber den Vorstellungen der Reformierten zur Neuordnung der Kirche sehr schnell abebbte, zeigt auch die Selbstwahrnehmung der Evangelischen Kirche in Hessen-Nassau als ‚letzte Bastion‘, in welcher die Umsetzung der Ideen der Bekennenden Kirche noch möglich sei, hierzu Stefan Ruppert, in: Georg Altrock u.a. (Hg.), Migration und Modernisierung, 2006, S. 193–214.   98  Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Bethel 1949, 1953, S. 82–103 und 143–153.   99  Friedrich Delekat, in: Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Bethel 1949, 1953, S. 82 ff. 100  Dies war alles andere als eine Einzelposition, siehe Überblick bei Werner Jochmann, in: Victor Conzemius u.a. (Hg.), Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte, 1988, S. 194 (205 ff.).

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Menschen fragen solle, sondern nach dem Recht, das die Menschen von Gott empfingen.101 Eine Aussprache fand auf der Synode von Bethel nicht statt, der Rat der EKD wurde allerdings beauftragt, die Diskussion fortzuführen. Er lud für den 14. und 15. Mai 1949 zu einer Arbeitstagung nach Göttingen ein. Auf dieser ging es nun nicht mehr um konkrete politische Fragen und die Haltung der Kirche zu diesen. Ziel war es vielmehr, eine für alle Seiten tragbare evangelische Position zur Naturrechtsfrage zu entwickeln und damit zugleich eine Einigung in der Frage zu erzielen, inwieweit sich die Kirche überhaupt in die politische Diskussion einbringen solle. Die Göttinger Tagung war ein Arbeitstreffen in kleinem Rahmen. Es waren 16 Fachleute, die hier zusammenkamen: Helmut Coing, Rudolf Smend, Ludwig Raiser und Ulrich Scheuner als Vertreter der Rechtswissenschaft,102 die Rechtspraktiker [Konrad] Bleibtreu, Konrad Müller, der Kirchenjurist [HansJörg] Ranke und der zu dieser Zeit noch als Staatsanwalt tätige Hans Dombois sowie die Theologen [Heinz] Brunotte, [Friedrich] Delekat, [Reinhard] Mumm, [Heinrich] Vogel, Otto Weber, [Werner] Wiesner und Ernst Wolf.103 Als Ergebnis wurden sieben Thesen beschlossen und veröffentlicht.104 Diese Thesen spiegeln das wider, auf das sich die Teilnehmer einigen konnten. Ein ausgefeiltes, aus dem göttlichen Recht oder dem Evangelium abzuleitendes Naturrechtssystem lehnten sie ab (These 3 und 4). Sie erkannten jedoch an, dass es „Grundelemente rechtlicher Ordnung“ gebe, darunter die Achtung vor dem Menschen (These 5). Der Einzelne, wie auch die Kirche wurde aufgerufen, „für das Recht einzutreten, wo es not tut.“ (Thesen 6 und 7).

1. Göttingen: Zwischen den Positionen Karl Barths und Emil Brunners Nicht nur Tagungsberichte, sondern auch die Thesen selbst spiegeln die Uneinigkeit wider, die zwischen den Teilnehmern der Tagung herrschte. Gestritten wurde darum, ob und wie sich auf Grundlage der evangelischen Theologie reli101 

H[einrich] Vogel, in: Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Bethel 1949, 1953, S. 143 (144). 102  Über die Teilnahme Helmut Coings bestand im Vorfeld Uneinigkeit. Smend teilte Ranke mit, dass die Göttinger Kirchenrechtler nicht wünschten, dass Coing eingeladen werde, er solle durch Scheuner ersetzt werden. Ranke hielt es jedoch für zweckdienlich, Coing als „Vertreter der jüngeren Naturrechts-Schule“ zu den Beratungen hinzuzuziehen, siehe: Die Protokolle des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bd. 3: 1949, 2006, hrsg. v. Karl-Heinz Fix, S. 52. 103 Auch Erik Wolf war eingeladen, nahm jedoch nicht teil. Warum er absagte lässt sich seinem Nachlass nicht entnehmen, möglicherweise schlicht aus gesundheitlichen Gründen, er war in dieser Zeit viel krank. Es findet sich im Nachlass allerdings auch keine Korrespondenz mit Teilnehmern über die Inhalte des Treffens. Siehe auch unten Fn. 148. 104  Kirche und Recht, 1950, S. 51 f.

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giöse Maßstäbe für das weltliche Recht begründen ließen. In der Wahrnehmung der Teilnehmer der Tagung bewegte sich die Diskussion in einem Feld zwischen zwei grundverschiedenen Positionen: den Ansätzen Karl Barths und Emil Brunners. Barth hatte die Nichterkennbarkeit absoluter Gerechtigkeit durch den in Sünde gefallenen Menschen betont und stand in der Diskussion für die sogenannte „christologische Begründung“ des Rechts. Brunners Konzeption wurde hingegen als naturrechtsfreundlich wahrgenommen. Ulrich Scheuner und Ernst Wolf, die die beiden Impulsreferate auf der Tagung hielten, erklärten übereinstimmend, dass Brunner überpositives Recht aus der „Schöpfungsordnung“ herleite.105 Beide standen der Position Barths näher und strichen die Nähe von Brunners Ansatz zur katholischen Naturrechtslehre heraus. Tatsächlich hatte Brunner in seinem Buch „Gerechtigkeit“ nicht nur eine detaillierte Gesellschaftsordnung entworfen, sondern sich in ihrer Begründung auch auf die „Ordnung des Schöpfers“ berufen.106 Gerechtes Recht verschaffe den „schöpfungsmässigen Menschenrechten und den schöpfungsmässigen Ansprüchen der Gemeinschaft“ Geltung.107 Genau in dieser Begründung setzte die Kritik an: Ernst Wolf bezeichnete den Versuch, überpositives Recht aus der Schöpfungsordnung abzuleiten, als „biblizistisch“, „naiv“ und ideologieanfällig.108 Er stellte Brunner in eine Reihe mit der scholastischen Naturrechtslehre, die die religiösen Normen um solche der aristotelischen Philosophie ergänzt hätten, um ein geschlossenes System konstruieren zu können.109 In dieser Einschätzung der Lehre Emil Brunners waren sich die beiden Referenten, Ernst Wolf und Ulrich Scheuner, einig. Anders verhielt es sich hinsichtlich der Position Erik Wolfs zur Naturrechtsfrage, mit der sich die beiden Referenten ebenfalls auseinandersetzten. Ernst Wolf ordnete die Texte, die Erik Wolf bis dahin veröffentlicht hatte, in die von Brunner vorgegebene Richtung ein.110 Ulrich Scheuner hingegen bezeichnete Erik Wolfs Position als „christologisch“ und betonte damit ihre Nähe zu dem Ansatz Karl Barths. Erik Wolf leite die Gerechtigkeit nicht aus der Natur des Menschen ab, sondern sehe sie als „allein in Gottes Ordnung begründet“ an. Er habe sich damit gegen die Naturrechtslehre gewandt und versucht eine Gerechtigkeitslehre zu entwickeln, die „den Gegensatz von Naturrecht und Positivismus“ überwinde.111 Den Schwerpunkt der Vorträge Ernst Wolfs und Ulrich Scheuners bildeten aber weder die Ansätze Barths, Brunners oder auch Erik Wolfs, sondern der 105  Ernst Wolf, Rechtfertigung und Recht, S. 5 (6 f.); Ulrich Scheuner, Zum Problem des Naturrechts nach evangelischer Auffassung, S. 27 (41), beide abgedruckt in: Kirche und Recht, 1950. 106  Emil Brunner, Gerechtigkeit, 1943, S. 104. 107  Emil Brunner, ebd., S. 249. 108  Ernst Wolf, in: Kirche und Recht, S. 5 (7). 109  Ernst Wolf, ebd., S. 8. 110  Ernst Wolf, ebd., S. 7. 111  Ulrich Scheuner, in: Kirche und Recht, 1950, S. 27 (41).

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des französischen, reformierten Juristen Jacques Ellul.112 Sie sahen in ihm eine vielversprechende Fortentwicklung der Barthschen Lehre113 und stellten ihn ausführlich vor. Ellul hatte 1946 eine Konzeption vorgelegt, die als Mittelweg zwischen den Positionen Barths und Brunners bezeichnet werden kann. Sie leistete ein Doppeltes: Er wandte sich mit ihr entschieden gegen die scholastische wie gegen philosophische Naturrechtslehren. Dennoch verharrte er nicht in einer religiös fundierten Ethik: Ellul hielt es für möglich, einen Maßstab für das weltliche Recht theologisch zu begründen. Er nahm damit die spezifisch protestantische Naturrechtsskepsis ebenso ernst wie das Bedürfnis nach einem „evangelischen Naturrecht“. Ellul teilte die Kritik an Brunners Ableitung eines Naturrechts aus der Schöpfungsordnung: Aufgrund der Erbsünde müsse eine christliche Rechtslehre die Trennung von Sein und Sollen strikt einhalten. Der Mensch sei nicht gerecht, eine gerechte Ordnung könne daher niemals aus seiner Natur abgeleitet werden. Stattdessen begründete er die Möglichkeit, religiöse Normen für die weltliche Ordnung zu formulieren mit der Inkarnation. Mit ihr sei die Kluft zwischen menschlichem Recht und göttlicher Gerechtigkeit überbrückt worden.114 Gott habe mit den Menschen einen Bund geschlossen und den Menschen dabei Rechte gegeben, vor allem das Recht, selbst Recht zu setzen und zu sprechen.115 Eben hieraus ergab sich Ellul zufolge eine Verpflichtung bei der Schaffung weltlichen Rechts: Es müsse so gestaltet werden, dass es den Menschen die Freiheit gewähre, den Bund mit Gott einzugehen. Außerdem müsse es der Erhaltung der Schöpfung auf den jüngsten Tag hin dienen. Ellul leitete hieraus ab, dass der Schutz des Lebens und der Menschenrechte ein theologisch vorgegebener Kern des Rechts sei. Daneben argumentierte er, dass das Naturrecht, so sehr es als philosophisches Konstrukt abzulehnen sei, als tatsächliches Phänomen ernst genommen werden müsse.116 Es gebe im Recht Elemente, die über Zeit und Raum hinweg immer wiederkehrten. Dieses Phänomen sei nur durch eine „Relation mit dem göttlichen Recht“ zu erklären.117 Er entwickelte hieraus eine Institutionenlehre: Besonders Ehe und Staat seien Schöpfungen Gottes und notwendige Ordnungselemente, um die Gesellschaft zusammenzuhalten. In einer solchen Institutionenlehre sah er die Möglichkeit, die religiöse Bindung des weltlichen Rechts mit seiner historischen Wandelbarkeit zu verbinden: Die Institutionen seien vom 112  Jacques Ellul (1912–1994) hatte Rechtswissenschaft studiert und seit 1937 verschiedene rechtshistorische Lehrstühle inne bis er 1947 an das Institut d’études politiques auf einen Lehrstuhl für Sozialgeschichte berufen wurde. Zugleich war er Mitglied des Conseil national der evangelisch-reformierten Kirche Frankreichs, siehe Who’s who in France, 1963/64. 113  Ernst Wolf und Ulrich Scheuner in: Kirche und Recht, 1950, S. 23, 41. 114  Jacques Ellul, Die theologische Begründung des Rechts (frz. 1946), 1948, S. 37. 115  Jacques Ellul, ebd., S. 40 f. 116  Jacques Ellul, ebd., S. 52 ff. 117  Jacques Ellul, ebd., S. 55.

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Menschen auszufüllen und daher trotz ihrer Ableitung von Gott in ihrer konkreten Gestalt zeitlich gebunden und relativ.118 Ellul entwickelte damit eine Lehre, welche den theologischen Bedenken gegenüber einem Naturrecht Rechnung trug und dem protestantischen Bedürfnis nach Ankernennung der historischen Wandelbarkeit des Rechts entgegenkam. Sein Ansatz wurde daher auf der Göttinger Tagung theologisch in der Nähe der Barthschen Argumentation verortet und als „christozentrisch“ bezeichnet.119 Zugleich begründete er jedoch mit den Menschenrechten und der Institutionenlehre einen sehr konkreten Normenkanon als religiös vorgegebenen Kern des weltlichen Rechts. Bei Ernst Wolf klang das Bedürfnis nach einem solchen eher verhalten durch die Bedenken durch. Aus theologischer Sicht merkte er an, dass die Lehre Elluls Begründungsschwächen aufweise und einer Korrektur von der Lehre Barths ausgehend bedürfe.120 Für die Jurisprudenz bezeichnete Ulrich Scheuner die Lehre Elluls unumwunden als hilfreich: „Sie befriedigt das Bedürfnis der Rechtswissenschaft, zu höheren über dem positiven Recht stehenden Sätzen zu gelangen, die auch die Lenker der Staaten verbinden. Denn man wird diese Prinzipien, stellen sie auch nur eine zeitgebundene und unvollkommene Verwirklichung der Rechtsidee dar, und mag man sie als Naturrecht bezeichnen oder bescheidenere Namen bevorzugen, doch als Richtmaß des positiven Rechts ansehen dürfen.“121

Trotz der Bedenken, die Ernst Wolf anmeldete, standen sich die beiden Referenten in ihrer Einschätzung der Lehre Elluls ebenso nahe wie in ihrer grundsätzlichen Orientierung an der Lehre Karl Barths. Die Dokumentation der Tagung zeugt jedoch davon, dass unter den übrigen Teilnehmern keine solche Einigkeit bestand.122 Zwar war unter den Teilnehmern unbestritten, dass die ­Kirche politisch Verantwortung übernehmen solle. Hinsichtlich der Begründung kam man jedoch nicht zusammen. In der Diskussion wurde der Ansatz Elluls, den die Referenten als Mittelweg präsentiert hatten, kaum aufgegriffen, zwischen der Position Elluls und der Barths wurde vielmehr kaum differenziert. Für die Schlussthesen der Tagung einigten sich die Tagungsteilnehmer auf eine Distanzierung von beiden Extrempositionen, also sowohl von der christologischen Rechtsbegründung als auch von der Ableitung des Rechts aus der Schöpfungsordnung. Es habe verschiedene Lager gegeben, die sich nur schwer einigen 118 

Jacques Ellul, ebd., S. 59. So die übereinstimmend die Einschätzung von Ernst Wolf und Ulrich Scheuner in ihren Referaten auf der Göttinger Tagung, in: Kirche und Recht, 1950, S. 15, 41. Jacques Ellul selbst bezeichnete seine Lehre als „theozentrisch“, siehe: Die theologische Begründung des Rechts (frz. 1946), 1948, S. 10. 120  Ernst Wolf, „Trinitarische“ oder „christologische“ Begründung des Rechts?, in: Hans Dombois (Hg.), Recht und Institution, 1956, S. 9 (25). 121  Ulrich Scheuner, in: Kirche und Recht, 1950, S. 27 (43). 122  Die 1950 erschienene Dokumentation „Kirche und Recht“ enthält kein Wortlautprotokoll der Diskussion, sondern nur eine summarische Zusammenfassung und die Schlussthesen, S. 45 ff. Die Positionen der einzelnen Teilnehmer lassen sich hieraus nicht rekonstruieren. 119 

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konnten, schrieb der Kirchenrechtler Hans Liermann in einer Rezension der Tagungsdokumentation. Die ohnehin bestehenden Gegensätze seien nicht zu überbrücken gewesen. Dies sei allerdings „jedem Kenner der geistigen Kräfte, die miteinander ringen“ von vornherein klar gewesen.123 Schon die Wahrnehmungen des Diskussionsstandes gingen auseinander: Während Liermann in seiner Rezension betonte, dass die Position Brunners durchaus eine beachtliche Anhängerschaft in Deutschland finde,124 sprach Ulrich Scheuner in einem Rückblick 1955 davon, dass die Rechtsbegründung aus der Schöpfungsordnung „im allgemeinen aufgegeben“ worden sei. 125

2. Treysa und Hemer: Christologische vs. trinitarische Rechtsbegründung Die Fortführung der Diskussion nach der Göttinger Arbeitstagung bewegte sich tatsächlich nicht mehr im Spannungsfeld zwischen dem christologischen Ansatz Barths und der Naturrechtslehre Emil Brunners. Der christologischen Begründung wurde stattdessen ein „trinitarisch-heilsgeschichtlicher“ Ansatz entgegengehalten, so auf den beiden Naturrechtstagungen, welche die Studienabteilung des ökumenischen Rats im Juli und August 1950 in Treysa veranstaltete.126 Der Theologe Ernst Wolf sprach rückblickend davon, dass mit der „Formel der trinitarischen Rechtsbegründung“ nach der Göttinger Arbeitstagung eine neue „Parole“ ausgegeben worden sei. Sie sei „rasch aufgegriffen“ worden, „so etwa in Treysa“.127 An den Naturrechtskonferenzen in Treysa nahmen kaum Juristen teil.128 Die Tagungsdokumentation zeugt davon, dass es eine theologische Fachdiskussion war, die dort geführt wurde. Von juristischer Seite wurde dies bemängelt. Jacques Ellul äußerte gegenüber den Schlussthesen der Tagung Bedenken, er 123 

Hans Liermann, Rez. Kirche und Recht, JR 1950, 672. Hans Liermann, ebd. 125  Ulrich Scheuner, Recht und Gerechtigkeit in der deutschen Rechtslehre der Gegenwart, in: Hans Dombois (Hg.), Recht und Institution, 1956, S. 34 (47). So auch Hans Dombois, Naturrecht und christliche Existenz, 1952, S. 3. 126 Dokumentation: Studienabteilung des ökumenischen Rats (Hg.), Die Treysa-Konferenz, 1950. 127  Ernst Wolf, in: Hans Dombois (Hg.), Recht und Institution, 1956, S. 9 (12); gleiche Einschätzung bei Ulrich Scheuner im selben Band sowie bei Hans Dombois, Naturrecht und christliche Existenz, 1952, S. 3. 128  Laut Tagungsdokumentation waren Hans Dombois und E[lisabeth] Schwarzhaupt die einzigen deutschen Jurist/innen, die an der zweiten Tagung in Treysa vom 2.–7.8.1950 teilnahmen. Zu Dombois s. u. in diesem Kapitel. Schwarzhaupt (1901–1986), promovierte Juristin, war von 1936 bis 1945 in der Berliner Evangelischen Kirchenkanzlei tätig und nach 1945 am Verfassungsgebungsprozess der EKD beteiligt. Ab 1948 war sie Oberkirchenrätin in Frankfurt am Main, ab 1953 Mitglied des Bundestags für die CDU-Fraktion, 1961 wurde sie zur ersten Bundesministerin ernannt, Tobias Picard, in: Wolfgang Klötzer (Hg.), Frankfurter Biographie, Bd. 2, 1996, S. 359 ff. 124 

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zweifelte daran, dass „die Juristen aus diesen Sätzen konkrete Folgerungen im Blick auf das heute geltende Recht werden ziehen können.“129 Erik Wolf kritisierte, dass „anscheinend angenommen wird, für die Beantwortung dieser Frage sei die Theologie zuständig.“ Es sei jedoch „durchaus möglich, dass eine im Glauben gegründete und durch den Glauben begrenzte […] Arbeit eines chistl[ichen] Rechtsphilosophen oder Rechtshistorikers […] mehr bib­ lische Sicht zu öffnen vermag, als die entsprechende Arbeit eines Theologen der sich nicht durch das Wort, sondern durch ein System oder eine Schule ‚weisen‘ lässt.“130 Zu einer systematischen Fortsetzung des juristisch-theologischen Gesprächs kam es erst fünf Jahre nach der Göttinger Arbeitstagung. Hans Dombois (1907– 1997), einer der Teilnehmer der Göttinger Tagung, lud nach Hemer zu einer Nachfolgetagung ein.131 Dombois war Jurist, gab seine Tätigkeit als Staatsanwalt jedoch auf und beschäftigte sich ab Anfang der 1950er Jahre ausschließlich mit theologischen und kirchenrechtlichen Fragen.132 Er ging davon aus, dass es „keine autonome Rechtswissenschaft gibt, gegeben hat und geben kann“, denn „da es den Menschen nicht ohne Gott gibt, gibt es auch keine andere Lehre vom Menschen als eine theologisch begründete.“133 Dombois hatte an der zweiten Naturrechtskonferenz in Treysa teilgenommen und brachte den „trinitarischen“ Ansatz in der Folgezeit maßgeblich in die juristisch-theologische Diskussion ein. An der christologischen Rechtsbegründung kritisierte er, dass diese bei der Unaufhebbarkeit des Gegensatzes zwischen weltlichem Recht und göttlicher Gerechtigkeit stehen bleibe. Sie verkenne damit, dass durch die Inkarnation eine „neue Schöpfung“ erfolgt sei. Der Mensch habe durch die Inkarnation einen „echten rechtlichen Standort“ erhalten.134 Er meinte damit, dass der Menschen aufgrund dieser „neuen Schöpfung“ in der Lage sei, göttliche Gerechtigkeit zu empfangen und in das weltliche Recht einfließen zu lassen. Man müsse sich dabei allerdings von abstrakten Gerechtigkeitskonzepten lösen.135 Er forderte, dass die evangelische Rechtslehre stattdessen konkrete gesellschaftliche Ordnungen als göttlich gegeben anerkennen solle.136 Dombois unternahm damit eine Gradwanderung: Er ging davon aus, dass es religiöse Vorgaben für

129  Brief vom 1.10.1950, Abdruck in: Studienabteilung des ökumenischen Rats (Hg.), Die Treysa-Konferenz, 1950, S. 59. 130  Brief vom 9.9.1950, Abdruck in: Studienabteilung des ökumenischen Rats (Hg.), Die Treysa-Konferenz, 1950, S. 60. 131 Tagungsdokumentation: Hans Dombois (Hg.), Recht und Institution, 1956. 132  Zum Werk Dombois’, leider nur mit wenigen Hinweisen zu seinem Leben, Manfred Müller-Simon, Von der Rechtstheologie zur Theorie des Kirchenrechts, 1994. 133  Hans Dombois, Naturrecht und christliche Existenz, 1952, S. 5. 134  Hans Dombois, ebd., S. 34. 135  Hans Dombois, ebd., S. 41 f. 136  Hans Dombois, ebd., S. 43 ff.

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das weltliche Recht gebe. Zugleich sollte berücksichtigt werden, dass sich ihre Ausgestaltung je nach Zeit und Kontext wandelte. „[V]on der Sache her“ sei eine solche Rechtslehre lutherisch, im Gegensatz zu dem reformiert geprägten christologischen Denken.137 Im Ergebnis lief seine Argumentation auf eine Institutionenlehre hinaus, in welcher der Bestand von Ehe, Familie, Staat und Kirche zum religiösen Kern des Rechts zählten.138 Dombois stand damit im Ergebnis Elluls nahe, den er allerdings dafür kritisierte, dass in dessen Schrift „Recht und Gerechtigkeit […] in begrifflicher Allgemeinheit erfaßt und vom konkreten Leben her nicht gefüllt“ würden.139

3. Theologische oder juristische Fachdiskussion? Hinsichtlich der theologischen Begründungen einer evangelischen Rechtslehre ließ sich in den juristisch-theologischen Gesprächen keine Einigkeit herstellen. Handelte es sich dabei nur um eine rein theologische Kontroverse oder schlug sich diese auch in der Frage nieder, welche Bedeutung die Religion für das positive Recht haben sollte? In der Diskussion standen Brunner auf der einen, Barth und Ellul auf der anderen Seite nicht nur für unterschiedliche Theologien, sondern auch für unterschiedliche Rechtsbegriffe. Betrachtet man ihre Entwürfe, fällt jedoch auf, dass die Folgerungen, die sie aus der Theologie für das weltliche Recht zogen, nicht so weit auseinander lagen, wie es in der Diskussion den Anschein hatte. So verstand Brunner die Normen, die er in seinem Buch entwickelte, nicht als verbindliche Ordnung, welche die Geltung des positiven Rechts tangiert,140 vielmehr sollte es sich um ethisch-religiöse Normen handeln. Er fühlte sich nach eigenen Angaben dem positivistischen Rechtsverständnis der Reformation verpflichtet, die das Naturrecht nur für eine „kritisch-normative Idee“ gehalten habe.141 Nur in einem Punkt wollte er dieses Prinzip durchbrechen: Beim Widerstandsrecht gegen eine „tyrannisch entartete Staatsgewalt“ komme der Gerechtigkeit eine „direkt politische Bedeutung“ zu.142 Sieht man sich jedoch seine Argumentation genauer an, so fällt auch hier auf, dass es sich nicht um ein rechtliches Widerstandsrecht, sondern um ein ethisch-religiös begründetes handelte. Widerstand werde zur „sittlichen Notwendigkeit“143 und die „göttliche Rechtmässigkeit“ des Widerstandes ergebe sich aus den „ewigen, ungeschriebenen Rechten des 137 

Hans Dombois, ebd., S. 3. Hans Dombois, ebd., S. 55 ff. 139  Hans Dombois, ebd., S. 4. 140  Hierzu eindeutig Emil Brunner, Gerechtigkeit, 1943, S. 26; 249. 141  Emil Brunner, ebd., S. 110. 142  Emil Brunner, ebd., S. 110 f. 143  Emil Brunner, ebd., S. 111. 138 

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Schöpfers“, schrieb Brunner.144 Barth wiederum hatte sich zwar gegen ein Naturrecht ausgesprochen, allerdings das Bedürfnis nach ethischen Leitlinien, an denen weltliche Politik und weltliches Recht sich ausrichten können, dennoch anerkannt.145 Ellul wiederum erklärte Institutionen und Menschenrechte zwar für verbindlich, bei den konkreten Folgerungen für das positive Recht blieb er aber zurückhaltend: Er appellierte an die Verantwortung der Menschen, besonders der Juristen, im Geiste dieser religiösen Normen zu handeln. In der Bedeutung, welche den religiösen Normen für das Recht zukommen sollte, waren sie – Barth, Brunner und Ellul – sich also nahe: Alle drei gingen davon aus, dass sich aus der Religion Normen ableiten ließen, die im weltlichen Recht verwirklicht werden sollten. Diesen Normen sollte jedoch keine rechtliche Qualität zukommen, sie waren vielmehr bloß ethisch verbindlich. Der Unterschied zwischen den Positionen lag darin, wie starr das Normensystem war, das sie entwarfen. Während Brunner entsprechend der traditionellen Naturrechtslehren einen Normenkanon aufstellte, verweigerte Barth dies. Er betonte die Abhängigkeit der Normen von der konkreten historischen Situation und die Prozesshaftigkeit ihrer Verwirklichung: Menschen sollten sich in ihrer jeweiligen Zeit um die Verwirklichung größtmöglicher Gerechtigkeit bemühen. Ellul schlug hier mit der Institutionenlehre einen Mittelweg ein. In der Diskussion zwischen Juristen und Theologen blieb das, was man sich von der Religion für das weltliche Recht erhoffte, oft vage. Die für die Jurisprudenz so wichtige Frage, ob dem positiven Recht trotz religiöser Fundierung eine eigenständige Geltung zukommen sollte, wurde ebenso wenig gezielt isoliert diskutiert und geklärt wie die Frage, inwiefern ein religiös fundiertes Recht historisch wandelbar sei. Stattdessen wurden stets ganze theologische Entwürfe zur Grundlage der Diskussion gemacht, so dass immer wieder die Unterschiede in der theologischen Rechtsbegründung in den Vordergrund traten. Die Nähe der Ansätze Barths, Brunners und Elluls in der Frage, welche Art von Verbindlichkeit religiösen Normen im Recht zukommen solle, spiegelt sich in diesen Diskussionen nicht wider. Besonders Barth und Brunner standen vielmehr für Positionen, die sich radikal ausschlossen: Brunner musste als Vertreter eines quasi katholischen Naturrechts herhalten, der die Existenz eines absolut und ewig gültigen, aus der Natur abgeleiteten Rechtssystems bejahte, das religiös rechtliche Geltung beanspruche. Barth hingegen wurde als Repräsentant einer radikalen Ablehnung jeglicher überzeitlicher Regeln gesehen. Er stand für ein Verständnis, in dem die Religion keine rechtlichen Regeln formulieren könne, sondern nur Normen des ethischen Handelns des Einzelnen in jedem Einzelfall. Dies wurde als unbefriedigend empfunden. Da Emil Brunners Lehre, die zunächst das Gegengewicht zu der Barths dargestellt hatte, theologisch bald 144  145 

Emil Brunner, ebd., S. 112. Karl Barth, Rechtfertigung und Recht, 2.A. 1944, S. 40 ff.

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von allen Seiten als unvertretbar angesehen wurde, musste eine neue Rechtsbegründung gefunden werden. Diese Aufgabe übernahm die „trinitarische“ Lehre. Diskutiert wurde auch sie jedoch weniger hinsichtlich ihrer konkreten Auswirkungen für das positive Recht als hinsichtlich der ihr zugrunde liegenden theologischen Begründung des Rechts. Insofern urteilte der Theologe Ernst Wolf in seinem Impulsreferat auf der Tagung in Hemer: „Letztlich kehrt man bei dem Versuch, die ‚trinitarische‘ Position zu formulieren, zu einem Naturrecht zurück […]. In der Diskussion der Rechtsbegründung bedeutet dies gewiß keinen Fortschritt.“146

4. Zusammenfassung: Vom Naturrecht zur Institutionenlehre In den juristisch-theologischen Gesprächen in Göttingen und Hemer zeigte sich, wie schwierig sich die Naturrechtsfrage aus evangelischer Sicht darstellte. Man wurde sich schnell einig darin, dass es kein aus der ‚Natur‘ abgeleitetes Recht gebe, suchte aber dennoch nach Wegen, religiöse Vorgaben für das Recht zu formulieren. Gesucht wurde nach Normen, die dem Recht ein stabiles Fundament gaben, die zugleich aber nicht zu starr waren. Das weltliche Recht sollte in seiner konkreten Zeit und in seinem konkreten Kontext gestaltbar bleiben. Es sollte ein Gestaltungsraum für den Menschen bleiben, in welchem dieser trotz seiner Unvollkommenheit seiner religiösen Verantwortung nachkommen und so viel Gerechtigkeit verwirklichen konnte, wie es im möglich war. Den Grad zu bestimmen, in welchem hierfür religiöse Vorgaben an das Recht formuliert werden sollten, erwies sich als problematisch. Die Frage, inwiefern das positive Recht durch religiöse Normen in seiner Geltung berührt wurde, wurde ebenso aufgeworfen wie die Frage, inwiefern ein religiös gebundenes Recht wandelbar war. Die Antworten hierauf blieben jedoch vage, den Schwerpunkt bildete eine Fachdiskussion um die den einzelnen Rechtskonzepten zugrunde liegenden theologischen Lehren. Auf der Tagung in Hemer schließlich setzte sich eine evangelisch begründete Institutionenlehre durch, die religiöser Bindung wie auch historischer Wandelbarkeit des Rechts Rechnung tragen sollte.147

146 

Ernst Wolf, in: Hans Dombois (Hg.), Recht und Institution, 1956, S. 9 (15). Verhandlungsbericht und Schlussthesen der Tagung in: Hans Dombois (Hg.), Recht und Institution, 1956, S. 60 ff. Hierzu und auch zu den damit verbundenen konservativen Ordnungsvorstellungen ausführlich Kapitel 6, S. 241 ff. 147  Siehe

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IV. Rechtstheologie: Aufgabe der Anschlussfähigkeit an die Rechtswissenschaft Erik Wolf hielt sich aus den juristisch-theologischen Gesprächen in Göttigen und Hemer, so weit ersichtlich, heraus.148 Dies bedeutete allerdings nicht, dass er sich nicht weiterhin mit der religiösen Begründung des Rechts beschäftigte. Im Gegenteil: Seine theologische Positionierung wurde klarer. Er wandte sich konsequent der Lehre Karl Barths zu149 und versuchte, auf ihrer Grundlage eine „Rechtstheologie“ zu entwickeln. Den Anschluss an die Rechtswissenschaft gab er in diesem Zuge jedoch auf.

1. Abschied von der Rechtsphilosophie In seinen Schriften lässt sich die Annäherung an die Lehre Barths zunächst an der Klarheit ablesen, die seine Haltung zum Naturrecht gewann. Hatte er unmittelbar nach 1945 trotz aller Bedenken noch eine gewisse Offenheit gegenüber einem ‚evangelischen Naturrecht‘ signalisiert, distanzierte er sich von einem solchen in der Folgezeit immer deutlicher. In einem 1950 veröffentlichten Aufsatz erfolgte die Klarstellung: Die „biblische Weisung“ sei kein Naturrecht und habe auch keine unmittelbare Wirkung auf die juristische Geltung des positiven Rechts.150 In den folgenden Jahren arbeitete er an der Schrift „Das Problem der Naturrechtslehre“ (1955), in welcher er die Zeitbedingtheit jeglichen Naturrechts aufzeigte. Solange man sich dieser bewusst sei, habe das Naturrecht aber durchaus seinen Wert: „Unerachtet der Wandelbarkeit seines Begriffs ist seine Funktion dauernd und unzerstörbar. Sie muß von jeder Generation neu durchdacht und verwirklicht werden, wenn der Mensch in seinem rechtlichen Dasein wahrhaft zu sich selbst kommen und damit seiner Wesensbestimmung genügen will.“151 148  Abgesehen von Rudolf Smend, mit dem er regen Briefwechsel führte, sind keine Hinweise auf Kontakte mit Teilnehmern in dieser Zeit in seinem Nachlass zu finden. Persönliche Treffen sind eher unwahrscheinlich. Aus Briefen ergibt sich, dass er sich aus gesundheitlichen Gründen seit der Weltkirchenkonferenz in Amsterdam kaum noch aus Freiburg entfernte. Schon während der Tätigkeit im Verfassungsausschuss der EKD sei ihm die Reisetätigkeit schwer gefallen, vgl. UAF C 130/933, Radbruch, Gustav: Brief von Erik Wolf an Gustav Radbruch vom 17.12.1945, r; UAF C 130/827 Wolf an: Bülow: Brief vom 15. 11.1953, 1. Bl.; UAF C 130/820, Wolf an: Bader: Brief vom 7.5.1955. Wenn er seine Lehr- und Veröffentlichungsverpflichtungen zufriedenstellend erfüllen wolle, dürfe er sich nicht aus Freiburg wegbewegen. Gegenüber Radbruch hatte er bereits 1942 geäußert, dass er sich auf das konzentrieren müsse, was er wirklich sagen wolle, da er befürchte, dass ihm sein Gesundheitszustand nicht mehr als ein weiteres produktives Lebensjahrzehnt bescheren werde, UAF C 130/933, Radbruch, Gustav: Brief von Erik Wolf an Gustav Radbruch vom 13.3.1942, v. 149  Jendris Alwast, Dialektik und Rechtstheologie, 1984, S. 157. 150  Erik Wolf, Die menschliche Rechtsordnung (1950), in: Rechtstheologische Schriften, 1972, S. 96 (102). 151  Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 1955, S. 113.

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Im Mittelpunkt seines Interesses stand die Naturrechtsfrage in dieser Zeit jedoch nicht mehr. In einem Vortrag forderte er 1952 eine weitergehende theologische Fundierung des Rechts. Er beschrieb das Recht als etwas, das seinen „bleibenden Sinn“ aus der Verbindung zur „göttlichen Gerechtigkeit“ erhalte: „Erst mit dieser Erkenntnis versteht die Rechtswissenschaft ihre letzte, metaphysische Aufgabe, geht Rechtsphilosophie über in Rechtstheologie, in der sie gründen muß.“152 Was war nun diese Rechtstheologie, die Erik Wolf als neue juristische Disziplin nicht neben die übrigen Grundlagenfächer, sondern über diese stellte? Eine Konkretisierung erfolgte erst nach und nach; bis über die Emeritierung hinaus beschäftigte sich Wolf mit der Rechtstheologie.153 Die Rechtsphilosophie trat dabei immer stärker in den Hintergrund. Weit deutlicher als seine Veröffentlichungen zeigen die Manuskripte seiner Vorlesungen zur Rechtsphilosophie und zur Rechtstheologie, welche Bedeutung der Rechtstheologie gerade auch im Verhältnis zur Rechtsphilosophie zukommen sollte.154 Wolf orientierte sich in seiner Vorlesung zur Rechtsphilosophie stark an Heideggerscher Begrifflichkeit, erweiterte diese aber um eine religiöse Dimension: Er arbeitete nicht nur mit den Kategorien des Selbstseins, in welchem vom Individuum her gedacht werde, des Alsseins, das den Menschen als soziales Wesen in den Blick nehme, sowie des Sachseins, in welchem der Mensch vom „Kulturwert der Leitung aus entworfen“ werde. Er fügte diesen eine weitere hinzu: die Kategorie des Geschöpfseins.155 Eine solche Erweiterung war dem Heideggerschen Denken fremd.156 Wolf wandte sich damit gegen die Rechtsontologie, an der er kritisierte, dass sie nicht über eine weltlich-immanente Begründung des Rechts hinausweise.157 In seiner Vorlesung zur Rechtstheologie setzte er sich mit der Habilitationsschrift seines Schülers Werner Maihofer auseinander, der sich mit der Bedeutung der Heideggerschen Philosophie für das Recht beschäftigt hatte, und dabei von der „vom Menschen geschaffenen Ordnung“ sprach.158 Eine 152  Erik Wolf, Fragwürdigkeit und Notwendigkeit der Rechtswissenschaft, 1953, S. 25 [Hervorhebung im Original]. 153  So findet sich in seinem Nachlass ein unveröffentlichtes Werk mit dem Titel „Gewiesene Ordnung“, in dem er die Bibel sprachlich auf die in ihr vorkommenden Rechtsbegriffe, -konzeptionen und -inhalte hin untersuchte. Das Manuskript umfasst 472 Seiten und ist datiert auf 1973, UAF C 130/954 und 955. Hierzu Alexander Hollerbach, in: Jahrbuch für die badische Kirchengeschichte, Bd. 2 (2008), S. 47 (65). 154  UAF C 130/967, Vorlesung „Rechtsphilosophie“, 1968. Wolf merkte im Vorwort des Manuskripts an, dass er die Vorlesung im Wesentlichen seit 1930 unverändert geblieben sei. Wann welche Änderungen hinzugekommen sind, lässt sich aus dem Manuskript nicht rekonstruieren. 155  UAF C 130/967, Vorlesung „Rechtsphilosophie“ 1968, S. 46 ff. 156  So auch Alexander Hollerbach, in: Eckhard Wirbelauer u.a. (Hg.), Die Freiburger Philosophische Fakultät 1920–1960, 2006, S. 748 (761). 157  So auch seine Kritik in: Recht des Nächsten, 1957, S. 14. 158  Erik Wolf nahm hier wohl Bezug auf Werner Maihofer, Vom Sinn menschlicher Ordnung, 1956, die dieser damit einleitete, dass er nicht die „natürliche“ oder „göttliche“, sondern

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Randnotiz im Vorlesungsmanuskript zeigt, dass sich Wolf die Frage stellte, ob der Mensch überhaupt Ordnung schaffen könne:159 „‚Der Mensch‘ wird hier gleichsam als Grenzbegriff gesetzt, hinter den nicht zurückgegangen, auf dessen Grund nicht geblickt, nach dessen Rechtfertigung nicht gefragt werden darf. Ordnung ist dann, was vom Menschen ausgeht, aber nicht, was ihn bindet.“160

Es war also eine Perspektive, die einzig in der Religion die Möglichkeit der Legitimierung des Rechts sah. Rechtstheologie war für ihn kein völlig anderes Fach als Rechtsphilosophie, beide waren vielmehr untrennbar miteinander verbunden. Man könnte davon sprechen, dass er Rechtstheologie als Rechtsphilosophie betrieb.

2. Radikalisierung konkret-situativen Denkens: Das Recht des Nächsten Den Entwurf einer Rechtstheologie legte Erik Wolf mit seiner Schrift „Recht des Nächsten“ 1957 vor. In der von theologischer Fachsprache wie von der Ter­ minologie Heideggers durchdrungenen Schrift hielt er der herkömmlichen Rechtsphilosophie ein christlich-existenzialistisches Verständnis des Rechts entgegen. Rechtsdenken dürfe nicht von einem „abstrakte[n] Bild vom Menschen“ ausgehen. „[S]oziales Dasein“ komme nur „von Grund aus in Ordnung“, wenn ­ erde.161 „in konkreter Nähe der lebendig Nächste im Menschen gefunden“ w Dazu sei es nötig anzuerkennen, dass göttliche Liebe die Grundlage des welt­ lichen Rechts darstelle, sie also „Grund einer Daseins-Neuordnung“ sei.162 Ausgangspunkt war die existenzphilosophische Grundannahme, dass der Mensch in seinen Handlungs- und Wahrnehmungsmöglichkeiten durch historische, kulturelle und gesellschaflichte Faktoren eingeschränkt, ihm durch diese der Zugang zu sich selbst verstellt sei. Die Frage, die Heidegger beschäftigt hatte, war die, wie der Mensch er selbst werden könne, wie er zu einer „eigentlichen Existenz“ finden könne. Aus Wolfs Sicht wies die Religion den Weg eben zu dieser Existenz, da Gott die Menschen aufrufe, Verantwortung zu übernehmen und sich somit nicht gesellschaftlichen Zwängen zu beugen.163 In Anlehnung an die Lehre Barths ging Wolf davon aus, dass das Recht zwei Dimensionen habe: eine vertikale für das Verhältnis von Gott und den Menschen und eine horizontale, die das menschliche Miteinander regelte. Er definierte das Recht als „Herrschaftsrecht Gottes (Ordnung der Christokratie) und die „menschliche Ordnung“ in den Blick nehmen wolle, siehe ebd. S. 11 f. Zuvor bereits ders., Recht und Sein, 1954. 159  UAF C 130/969, Vorlesung Rechtstheologie, S. 27. 160  UAF C 130/969, Vorlesung Rechtstheologie, S. 26 [Hervorhebung im Original]. 161  Erik Wolf, Recht des Nächsten, 1957, S. 15. 162  Erik Wolf, ebd., S. 16. 163  Erik Wolf, ebd., S. 16.

IV. Rechtstheologie: Aufgabe der Anschlussfähigkeit an die Rechtswissenschaft

167

Dienstrecht des Nächsten (Ordnung der Bruderschaft)“.164 Beide sollten absolut und unmittelbar gelten und dürften nicht unbeachtet gelassen werden.165 Verstöße gegen dieses „Recht“ hatten allerdings keinerlei Einfluss auf die Geltung des positiven, weltlichen Rechts. „Vom Recht Gottes auf ihn“ könne der Mensch sich jedoch nicht „freimachen“.166 Das „Nächstenrecht“ war also kein Recht im juristischen Sinne. Seine Verbindlichkeit bewegte sich allein auf religiöser Ebene. Von einem nur ethisch oder religiös verbindlichem Naturrecht unterschied es sich dennoch grundlegend: Das „Nächstenrecht“ war nicht bloß eine Summe oberster Rechtsgrundsätze, die nach Möglichkeit positiviert werden sollten. Es stellte vielmehr Maßstäbe für das konkrete Rechtshandeln auf und zwar nicht nur für das von Jurist/innen. Jeder einzelne Mensch, der am Rechtsleben teilnahm, sollte das „Nächstenrecht“ verinnerlichen und versuchen, es in seinem Alltag zu verwirklichen: „Ihre rechtsgrundsätzliche Weisung darf zwar nicht zu einer Summe von Rechtssätzen ‚positiviert‘ werden. Die göttliche Rechtsweisung ist aber auch kein bloß aktueller Anruf des Gewissens oder brüderlicher Mahnung; sie spricht nicht nur ‚situationsethisch‘ aus einer Lage zu ihr. Vielmehr wirkt sie in jeder konkreten Gegebenheit als Auftrag zum rechten Handeln mit dem Nächsten und für ihn.“167

Das „Nächstenrecht“ sollte damit auch in Situationen praktiziert werden, die vom Recht (im Sinne des staatlichen, juristisch verbindlichen Rechts) überhaupt nicht erfasst waren. „Der Nächste muß zu seinem Recht kommen und das nicht erst durch Geltendmachen klagbarer Ansprüche.“168 Das „Nächstenrecht“ umfasste nicht nur ein ethisches Minimum wie das Recht in der liberalen Konzeption, es forderte von den Menschen vielmehr eine gewisse innere Einstellung. Wolf beschrieb diese mit dem Stichwort „Solidarität“.169 Erik Wolf begründete mit seiner Rechtstheologie somit keine Rechtslehre, die Begriff und Geltung des positiven Rechts tangierte. Dennoch sprach er konsequent vom „Nächstenrecht“ als „Recht“. Auch wenn der Zusammenhang zwischen diesem ethischen ‚Recht‘ und dem ‚Recht‘ im juristischen Sinne vage blieb, sollte es doch eine Verbindung zwischen beiden geben: Füllten die Menschen in ihrem alltäglichen Rechtshandeln das Recht im Sinne des „Nächstenrechts“ aus, so legitimierte dies auch das juristisch geltende Recht: „Ihr [der Lehre vom Nächstenrecht, LF] gehorchend, wird Jeder dem Anderen Recht zu geben und zu lassen bereitwilliger sein und ihm dafür Gewährsmann (auctor) werden. Das gibt den Nächsten untereinander die wahrhaft unantastbare Ehre und Würde (auctoritas). 164 

Erik Wolf, ebd., S. 17. Erik Wolf, ebd., S. 18. 166  Erik Wolf, ebd., S. 18. 167  Erik Wolf, ebd., S. 19. 168  Erik Wolf, ebd., S. 25. 169  Zur Solidarität als Grundaxiom des „Nächstenrechts“ auch Jendris Alwast, Dialektik und Rechtstheologie, 1984, S. 76 ff. 165 

168

Kapitel 4: Die schwierige Suche nach einer evangelischen Rechtslehre

So findet er umstrittene Satz des Hobbes ‚auctoritas facit legem‘ seine tiefste Deutung im Nächstenrecht: es autorisiert die gesetzgebende und rechtsprechende Macht.“170

Auf diese Weise wollte Wolf mit seiner Konzeption den Gegensatz zwischen Sein und Sollen aufheben. Das „Nächstenrecht“ sollte die bestehende Spannung dialektisch auflösen.171 Wolf verweigerte es in seiner Schrift, abstrakte Normen zu formulieren, welche das Recht erfüllen müsse. Seine Wirkung sollte das Nächstenrecht im konkreten Rechtshandeln entfalten: Dort seien die Menschen zwar mit einem Sollen konfrontiert, allerdings keinem, das von der konkreten Situation losgelöst sei. Normative Anforderungen an das Handeln entstünden vielmehr erst angesichts der konkreten Situation. Wolf verlangte von den Menschen Verantwortungsübernahme.172 Deutlich stärker als in seinen Beiträgen zur Naturrechtsfrage unmittelbar nach 1945 knüpfte er damit in der Schrift „Recht des Nächsten“ an sein Rechtsverständnis aus der Zeit vor 1945 an. Obgleich nicht erkennbar theologisch fundiert, war er schon in den späten 1920er Jahren von einem Gemeinschaftsdenken ausgegangen, in dem der Einzelne verpflichtet sei, sich für die Gemeinschaft zu engagieren. Im „Recht des Nächsten“ zeigt sich, dass Wolf sich von diesem Denken nicht durch eine radikale Abkehr löste, sondern durch eine Weiterentwicklung. Man könnte sagen, dass er die Vorzeichen wechselte: Er betonte nun, dass gerade dadurch, dass die Mitglieder der Gesellschaft aktiv Verantwortung übernähmen, „Personalität“, Menschenwürde und individuelle Freiheit, aber auch die soziale Wohlfahrt gesichert würden. Das Gesellschaftsideal, das dem „Recht des Nächsten“ zugrunde lag, baute auf der evangelisch-reformierten Idee der aktiven Gemeinde auf, die ihre eigene Ordnung in der stetigen Praxis hervorbringt. Es war die Vorstellung einer aktiven Bürgergemeinde, die für ihn nun leitend wurde.173 Den ausschließenden Charakter, den sein gemeinschaftsorientiertes Denken im Umkreis von 1933 hatte, versuchte er nun mit dem Gebot der Solidarität aufzulösen. Das Dilemma, dass Nichtchristen die biblische Weisung nicht vollständig erkennen können, befriedete er aber eher, als es zu lösen, indem er nur Christen und ihre besondere Verantwortung für die Gesellschaft ansprach, nicht aber auf zur Rolle der Nichtchristen in der Gesellschaft einging. Auch mit seiner Idee, mittels des „Nächstenrechts“ die Spannung zwischen Sein und Sollen dialektisch aufzulösen, griff er auf ein Denken zurück, wie er es vor und nach 1933 vertreten hatte. Hatte er unmittelbar nach 1945 mit der Begründbarkeit absoluter Gerechtigkeit gerungen, war sein Rechtsbegriff nun 170 

Erik Wolf, Recht des Nächsten, 1957, S. 28. Erik Wolf, ebd., S. 19. 172  Erik Wolf, ebd., passim. 173  Dies darf jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass es im „Recht des Nächsten“ um die Frage der Demokratie gegangen wäre. Politische Teilhaberechte und demokratische Willensbildung waren nicht Gegenstand von Wolfs Ausführungen. Insgesamt zur Frage der Demokratie in den Naturrechtsdebatten siehe Kapitel 6, S. 247 ff., 252 ff. 171 

V. Abwanderung der Naturrechtsdiskussion ins Kirchenrecht

169

wieder konkret-situativ und dabei normativ. Nun gab die Religion die Normen vor, die Wolf vor 1933 aus der Gemeinschaft und dann aus dem nationalsozialistischen Denken abgeleitet hatte. Erik Wolf radikalisierte im „Recht des Nächsten“ diesen konkret-situativen und dennoch normativen Ansatz allerdings soweit, dass er sich von einer Auseinandersetzung mit dem Recht im juristischen Sinne gänzlich verabschiedete.

3. Zusammenfassung: Rückzug in die Rechtstheologie Mit seiner Rechtstheologie unternahm Wolf den wohl konsequentesten Versuch, die Theologie Karl Barths für eine Rechtslehre fruchtbar zu machen. Er erkannte die Zeitbedingtheit nicht nur des weltlichen Rechts, sondern auch von Gerechtigkeitsvorstellungen an. Das „Recht des Nächsten“ sollte die Spannung aus Zeitbedingtheit und Ewigkeit dialektisch auflösen: Es sollte leitend sein für einzelfallgerechtes Handeln und formierte sich daher in Abhängigkeit von Zeit und Ort. Es sollte sich allerdings auch nicht in „Situationsethik“ erschöpfen.174 Er wandte sich damit strikt gegen eine Naturrechtslehre, die abstrakte Maßstäbe an das weltliche Recht anlegte. Zugleich wandte er sich von der Beschäftigung mit dem geltenden weltlichen Recht ab. Hatte er in seiner Programmschrift „Fragwürdigkeit und Notwendigkeit der Rechtswissenschaft“ noch über die Rechtswissenschaft als Ganze und somit auch über die dogmatischen Fächer gesprochen, sucht man in seiner Schrift „Recht des Nächsten“ vergeblich nach Hinweisen auf die Bedeutung für das positive Recht. Wolf gab mit der Rechtstheologie den Anspruch vollends auf, anschlussfähig gegenüber den übrigen rechtswissenschaftlichen Disziplinen zu sein. Im „Recht des Nächsten“ manifestiert sich sein Rückzug aus der Rechtswissenschaft hin zu Religion und Theologie, der bereits 1945 begonnen hatte.175

V. Abwanderung der Naturrechtsdiskussion ins Kirchenrecht In der rechtsphilosophischen und rechtswissenschaftlichen Diskussion verhallte der Versuch, eine Rechtstheologie zu begründen, weitgehend.176 Anders verhielt sich dies nur im Bereich des Kirchenrechts. Dieses Rechtsgebiet war 174 

Erik Wolf, Recht des Nächsten, 1957, S. 19. So erklärt es sich, dass Auseinandersetzungen mit der Rechtstheologie Erik Wolfs vor allem in der Theologie und im Kirchenrecht stattgefunden haben, nicht jedoch in der Rechtstheorie oder Rechtsphilosophie. Von kirchenrechtlicher Seite Wilhelm Steinmüller, Evangelische Rechtstheologie, 1968, S. 259 ff.; in der Theologie Jendris Alwast, Dialektik und Rechtstheologie, 1984; Günther Bauer-Tornack, Sozialgestalt und Recht der Kirche, 1996. 176  Hierzu, vor allem mit Blick auf Walther Schönfeld (1888–1959), der mit seinem Buch „Grundlegung der Rechtswissenschaft“ (1951) und seinen Schriften „Über die Gerechtigkeit“ (1952) und „Über die Heiligkeit des Rechts“ (1957) ebenfalls versuchte, das Recht theologisch 175 

170

Kapitel 4: Die schwierige Suche nach einer evangelischen Rechtslehre

das einzige Feld des geltenden Rechts, mit welchem Erik Wolf sich weiterhin beschäftigte und für das er die Bedeutung der Rechtstheologie herausarbeitete. Er bewegte sich dabei im Zentrum der Fachdiskussion: Im Kirchenrecht setzten sich die Auseinandersetzungen, die mit der Frage nach einem „evangelischen Naturrecht“ noch vor 1945 begonnen hatten, bis in die 1960er Jahre hinein fort. Es war das einzige Feld, in welchem sich ihre Erträge konkret niederschlugen. Die kirchenrechtliche Diskussion drehte sich seit 1945 verstärkt177 um die Überwindung des sogenannten „kirchenrechtlichen Rechtspositivismus“,178 der beschrieben wurde als eine Lehre, der zufolge die rechtliche Organisation der Kirche von ihren Bekenntnisinhalten gänzlich getrennt zu betrachten sei.179 Eben um die Abkehr von einer solchen Konzeption ging es in der rechtstheologischen Fundierung des Kirchenrechts: Das religiöse Bekenntnis sollte zur Grundlage der rechtlichen Organisation gemacht werden. Johannes Heckel hatte sich hierum bereits Anfang der 1950er Jahre aus lutherischer Perspektive bemüht,180 1961 legten nun Erik Wolf181 und Hans Dombois182 zwei weitere Entwürfe eines theologisch fundierten Kirchenrechts vor. Die Bedeutung der Rechtstheologie wurde in Wolfs Werk bereits im Aufbau sichtbar: Die theologischen und methodischen Grundlagen des Kirchenrechts waren dem Werk nicht nur vorangestellt, sondern flossen auch jeweils dort ein, wo sie Probleme zu begründen, Lena Foljanty, in: Szabolcs Hornyák u.a. (Hg.), Turning Points and Break­ lines, 2009, S. 214 (224 ff.). 177  Tatsächlich schon deutlich früher, siehe für die Weimarer Zeit Günther Holstein, Die Grundlagen des evangelischen Kirchenrechts, 1928. Vor allem der Bekennenden Kirche war dies angesichts der Gleichschaltung von Teilen der Kirche im NS ein zentrales Anliegen, siehe Barmer Theologische Erklärung, 3. These, Abdruck in: Evangelische Bekenntnisse, hg. v. Rudolf Mau, Bd. 2, 1997, S. 259 ff. 178  Zugeschrieben wurde diese Position dem Kirchenrechtler Rudolph Sohm (1841–1917), der auf Grundlage eines positivistischen Rechtsbegriffs die Möglichkeit eines evangelischen Kirchenrechts bezweifelt hatte. Das „Wesen des Kirchenrechts“ stünde mit dem „Wesen der Kirche“ im Widerspruch, denn „[d]as Wesen der Kirche ist geistlich; das Wesen des Rechts ist weltlich“, Kirchenrecht, Bd. 1, 1892, S. 700. Christoph Link, kirchliche Rechtsgeschichte, 2009, S. 215 spricht wohl zu Recht davon, dass diese Zuschreibung eine „Trivialisierung der These Rudolph Sohms“ darstellt. 179  Nach 1945 schlug sich dies zunächst in den Verfassungsgebungsprozessen der EKD und der Landeskirchen nieder, hierzu knapp Christoph Link, Kirchliche Rechtsgeschichte, 2009, S. 213 f. sowie ausführlich, allerdings nicht historisierend Markus B. Büning, Bekenntnis und Kirchenverfassung, 2002, S. 35 ff. 180  Johannes Heckel, Lex charitatis, 1953. 181  Erik Wolf, Ordnung der Kirche, 1961. Wolf hatte nach seinen Aufsätzen von 1936 (s.o. Fn. 29) bereits 1947 in einem Vortrag Grundgedanken hierzu formuliert: Bekennendes Kirchenrecht (1947), S. 65–94. Ausführlich zu Wolfs Kirchenrechtslehre Wilhelm Steinmüller, Evangelische Rechtstheologie, 1968, S. 327 ff.; Günther Bauer-Tornack, Sozialgestalt und Recht der Kirche, 1996. 182  Hans Dombois, Das Recht der Gnade, 1961. Zur rechtstheologischen und kirchenrechtlichen Konzeption von Dombois Manfred Müller-Simon, Von der Rechtstheologie zur Theorie des Kirchenrechts, 1994, S. 45 ff. sowie Reinhold Sebott, Gnadenrecht, 2009.

VI. Fazit

171

aufwarfen. Wolf verband die Darstellung des geltenden Rechts unmittelbar mit theologischen Fragen: So stellte er den Kapiteln zum geltenden protestantischen Kirchenrecht Abschnitte voran, in denen er die Regelungen darstellte, die sich aus der „biblischen Weisung“ ergaben, und in denen er auf die Lehren der verschiedenen Reformatoren zu den jeweiligen Fragen verwies. Wolf bezeichnete seinen Entwurf als den eines „Bekennenden Kirchenrechts“. Es sollte seine Wurzeln im Glauben finden und dadurch das Kirchenrecht systematisch als eine „Gottesdienstordnung“ verstehen.183 Zugleich sah Wolf das Kirchenrecht als eine „Beispielsordnung“ an, als ein Vorbild für die weltliche Ordnung.184 Die beiden Grundlagenwerke von Erik Wolf und Hans Dombois zur rechtstheologischen Fundierung des Kirchenrechts wurden auf der Kirchenrechtstagung in Heidelberg im April 1963 eingehend diskutiert. Der von Rudolf Smend verfasste Tagungsbericht zeugt davon, dass mit diesen beiden Werken die Diskussion um die evangelische Begründung des Rechts abermals aufbrach, nun im Bereich des Kirchenrechts. Ruhe war offenbar nicht in die seit mehr als 15 Jahren währende Diskussion dieser umstrittenen Fragen gekehrt: „Die höchst anregende Wirkung des Buchs äußerte sich auch darin, daß seine rechtstheologische Grundlegung zu einer lebhaften Diskussion führte. Eine Warnung vor der Annahme ganz spezifischer Rechtsgeltung des jus divinum (‚was divinum ist, ist nicht jus‘) von gewichtiger lutherischer Seite stieß auf Widerspruch und führte zu dem Beschluß, diese Fragen an erster Stelle in der nächsten Tagung zu behandeln.“185

VI. Fazit Die Frage, ob es ein ‚evangelisches Naturrecht‘ gebe und, wenn ja, wie ein solches begründet werden könne, tauchte nicht erst 1945 auf. Sie wurde schon während des Krieges aufgeworfen. Erst mit Ende der nationalsozialistischen Herrschaft setzte jedoch eine breite Diskussion ein, die sich bis in die 1960er Jahre hinein fortsetzte. Die Naturrechtsfrage war dabei eng mit zwei Problemen verbunden, die sich nach 1945 für die evangelische Kirche in der Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte im Nationalsozialismus als drängend erwiesen. Zum einen erhob sie den Anspruch, politisch in der Nachkriegsgesellschaft Verantwortung zu übernehmen und dem Staat ein kritisches Gegenüber zu sein. Ein religiös begründetes Naturrecht vermochte sie hierzu zu legitimieren und ihr hierbei Autorität zu verschaffen. Zugleich stand die Neuordnung der Kirche nach ihrer Zersplitterung im Kirchenkampf an. Diese sollte entsprechend der

183 

Erik Wolf, Ordnung der Kirche, 1961, S. 510. Erik Wolf, ebd., S. 512. 185  Rudolf Smend, Kirchenrechtstagung in Heidelberg, ZevKR 9 (1962/63), 406 (408). 184 

172

Kapitel 4: Die schwierige Suche nach einer evangelischen Rechtslehre

Forderung der Barmer Theologischen Erklärung auf dem religiösen Bekenntniss gründen, das Kirchenrecht also religiösen Vorgaben folgen. In der ersten Phase der Diskussion unmittelbar nach 1945 gab es eine relative Offenheit gegenüber einem ‚evangelischen Naturrecht‘. Der Freiburger Rechtswissenschaftler Erik Wolf legte einen breit zur Kenntnis genommenen Entwurf vor, in welchem er versuchte, eine Rechtslehre auf evangelischer Grundlage zu begründen. Er zeigte sich hierbei offen gegenüber abstrakten überpositiven Normen. Zugleich war er bemüht, sich von der traditionellen katholischen Naturrechtslehre abzugrenzen: Er wollte die religiösen Normen nicht aus der ‚Natur‘, sondern aus dem biblischen Wort ableiten und sprach von bloß religiös-ethisch verbindlichen „Richtschnuren“. In seine Argumentation mischten sich jedoch in beiden Punkten Elemente traditionellen Naturrechtsdenkens. Ab 1949 wurde die Diskussion in enger Zusammenarbeit zwischen Juristen und Theologien fortgeführt. In der Ablehnung eines aus der ‚Natur‘ oder dem ‚Wesen‘ des Menschen abgeleiteten Naturrechts war man sich nun einig. Die Suche nach einer evangelischen Rechtslehre jedoch war nicht aufgegeben, es herrschte allerdings große Uneinigkeit, wie sich eine solche theologisch begründen ließe. Es handelte sich in weiten Teilen um eine theologische Fachdiskussion. Die Frage, welche Auswirkungen eine evangelische Rechtslehre für das Recht konkret haben solle, stand nicht im Mittelpunkt. Mit der Zeit kristallisierten sich zwei Rechtskonzeptionen heraus. Sie waren auf sehr unterschiedliche Weise bemüht, der Religion im Recht eine Funktion einzuräumen und dennoch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass das Recht zeitbedingt war und die Erkenntnis und Verwirklichung von Gerechtigkeit ein nicht endender Prozess. Die eine Linie war vor allem von dem Kirchenrechtler Hans Dombois entwickelt worden. Sie ging davon aus, dass sich die Religion im Recht vor allem in einer Institutionenlehre auswirkte. Die andere Linie vertrat Erik Wolf. In Abkehr von der Offenheit gegenüber dem Naturrechtsdenken, die er nach 1945 zunächst gezeigt hatte, sah er Mitte der 1950er Jahre ein religiös begründetes Recht als ein solches an, das nicht abstrakte Normen formulierte, sondern konkret-situativ von den Menschen Verantwortungsübernahme und Solidarität einforderte. Die evangelische Naturrechtsdiskussion war wenig verzahnt mit übrigen rechtswissenschaftlichen Diskussionen und schlug sich einzig im Kirchenrecht nieder. Den Juristen, die an ihr beteiligt waren, ging es weniger um eine Neuverortung der Jurisprudenz, als um das Selbstverständnis der Kirche und um theologische Grundsatzfragen. Dies muss nicht verwundern, die meisten beteiligten Juristen waren Kirchenrechtler, die Kirche für sie ein zentrales Handlungsfeld. Für Erik Wolf hat sich jedoch gezeigt, dass es kein Zufall war, dass er Kirchenpolitik, Kirchenrecht und Rechtstheologie nach 1945 zu seinen zentralen Themen machte: Die Kirche war für ihn der Ort, der ihm die Möglichkeit bot, sich nach anfänglicher Begeisterung vom Nationalsozialismus zu dis-

VI. Fazit

173

tanzieren. Nach 1945 fühlte er sich angesichts der Schuld, die er in den ersten Jahren nach 1933 auf sich geladen hatte, außerhalb des religiösen Feldes nicht mehr befugt öffentlich zu sprechen. Die evangelische Naturrechtsdiskussion war für ihn eine Möglichkeit, sich dennoch weiterhin zum Recht zu äußern. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass er trotz der Kontinuität seines antipositivistischen Denkens nach 1945 in keiner seiner Schriften die These vertreten hat, der Positivismus habe die Juristen 1933 wehrlos gemacht.

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Kapitel 5

Von säkularer Naturrechtslehre zur Theorie des Richterrechts: Die Dynamisierung des Naturrechtsdenkens in den 1950er Jahren Die erste Monographie, die sich an einer säkularen Begründung des Naturrechts versuchte, erschien vergleichsweise spät: Erst im August 1947 veröffentlichte der Frankfurter Rechtshistoriker, Zivilrechtler und Rechtsphilosoph Helmut Coing seine Schrift „Die obersten Grundsätze des Rechts“.1 Bereits 1945/46 waren Naturrechtsentwürfe aus katholischer und aus protestantischer Sicht vorgelegt worden. Die Diskussion um die Möglichkeit, übergesetzliches Recht in der Rechtspraxis fruchtbar zu machen, hatte im Sommer 1947 bereits ihren Höhepunkt erreicht. „Daß die Rechtswissenschaft sich vom Positivismus befreien und wieder einer an die Rechtsidee gebundenen Auffassung vom Recht zuwenden müsse, ist heute eine Selbstverständlichkeit geworden, die man beinahe scheut auszusprechen“, 2 schrieb Coing, auf diese Situation Bezug nehmend, in der Einleitung zu seiner Schrift. In Abgrenzung zu den religiösen Naturrechtsentwürfen und den rechtspraktischen Rückgriffen auf übergesetzliches Recht wollte er eine „wissenschaftliche“ Begründung vorlegen. Denn „[a]llein die moralische Notwendigkeit“ angesichts „der Erschütterungen unserer Zeit“ beweise „noch nichts für ihre wissenschaftliche Möglichkeit.“3 Die Schrift Coings stellt den Ausgangspunkt für eine Diskussion in der akademischen Rechtsphilosophie dar, die sich erst in den 1950er Jahren voll entfaltete. Sie war von Anfang an geprägt von einem regen Bewusstsein der Zeit- und Kontextabhängigkeit des Rechts. Dennoch bestand unter den Beteiligten das Bedürfnis, Werte oder Strukturen des Rechts aufzuzeigen, die diesem einen stabilen normativen Maßstab boten. Gesucht wurde nach einer Rechtslehre, die beidem gerecht wurde: der Wandelbarkeit des Rechts und seiner Maßstäbe sowie dem Bedürfnis nach einem objektiven Kern des Rechts. Zurückgegriffen 1  Nach eigenem Bekunden hatte Coing mit Arbeiten an diesem Buch in der Kriegsgefangenschaft begonnen, siehe Heinz Mohnhaupt, in: Horst Schröder/Dieter Simon (Hg.), Rechtswissenschaft in Deutschland 1945–1952, 2001, S. 97 (100). 2  Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 7. 3  Helmut Coing, ebd.

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Kapitel 5: Von säkularer Naturrechtslehre zur Theorie des Richterrechts

wurde auf geisteswissenschaftlich orientierte Wertphilosophie, Erkenntnisse der Existenzphilosophie und ontologische Rechtsbegründungen. Das Naturrecht als starres System überzeitlicher, abstrakter Normen geriet dabei schnell in die Kritik. Die Diskussion stand somit im Zeichen der Lösung vom Naturrechtsdenken. In diesem Kapitel wird gezeigt, wie dieser Lösungsprozess verlief und wie er schließlich in den Versuch mündete, die zentrale Bedeutung des Richterrechts für die Rechtsordnung zu begründen.

I. Ausgangspunkt: Helmut Coings „Neubegründung des Naturrechts“ Als Helmut Coing 1947 seinen „Versuch zur Neu[be]gründung des Naturrechts“4 veröffentlichte, gehörte er zur jungen Generation von Lehrstuhlinhabern. Geboren 1912 in Hannover als Sohn eines Offiziers,5 hatte er 1935 in Göttingen promoviert und 1938 in Frankfurt am Main habilitiert. In beiden Qualifikationsarbeiten beschäftigte er sich mit der Rezeption des römischen Rechts im 15. und 16. Jahrhundert in Frankfurt am Main. 6 Trotz Kriegsdienstes von 1939 bis 1945 erhielt er 1941 einen Ruf als Extraordinarius für römisches Recht und bürgerliches Recht an die Universität Frankfurt am Main. Nach 1945 galt er als unbelastet.7 Coing hatte sich zwar noch in seiner Dissertation, wenn auch zurückhaltend, der für rechtshistorische Arbeiten im Nationalsozialismus charakteristischen Rede vom „Eindringen“ des „abstrakten“ römischen Rechts in das „lebensnahe“ deutsche 4  Der Untertitel seines Buches lautet „Ein Versuch zur Neugründung des Naturrechts“. Das Wort „Neugründung“ hat Spekulationen über den Bedeutungsgehalt hervorgerufen und zu zahlreichen Falschzitaten geführt, vgl. Heinz Mohnhaupt, in: Horst Schröder/Dieter Simon (Hg.), Rechtswissenschaft in Deutschland 1945–1952, 2001, S. 97 (101). Tatsächlich handelt es sich jedoch lediglich um einen Druckfehler, es sollte eigentlich „Neubegründung“ heißen. Dies zeigt ein Hinweis auf einem einigen Ausgaben noch beiliegender Zettel des Verlegers, so Ilka Kauhausen, Nach der ‚Stunde Null‘, 2007, S. 37. 5 Biographische Daten aus: Hyung-Bae Kim u.a. (Hg.), Zivilrechtslehrer deutscher ­Sprache, 1988, S. 62. 6  Helmut Coing, Die Frankfurter Reformation von 1578 und das Gemeine Recht ihrer Zeit, 1935; ders., Die Rezeption des römischen Rechts in Frankfurt am Main, 1939 (zweite, unveränderte Auflage 1962). Betreuer waren Wolfgang Kunkel (Dissertation) und Erich ­Genzmer (Habilitation). 7  Dass das römische Recht im NS negativ attribuiert und durch das Parteiprogramm abgelehnt wurde, bedeutet nicht, dass bereits die Beschäftigung mit dem römischen Recht als regimekritischer Akt zu werten wäre, siehe Dieter Simon, in: Michael Stolleis/Dieter Simon (Hg.), Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus, 1989, S. 161–176. Coing trug Ergebnisse seiner Habilitation im Rahmen der juristischen Schulung des nationalsozialistischen Referendarlagers in Jüterbog 1938 vor, siehe Folker Schmerbach, Das „Gemeinschaftslager Hanns Kerrl“ für Referendare in Jüterbog 1933–1939, 2008, S. 127. Der Inhalt des Vortrages lässt sich nicht rekonstruieren.

I. Ausgangspunkt: Helmut Coings „Neubegründung des Naturrechts“

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Recht bedient.8 In seiner Habilitationsschrift sticht jedoch die differenzierte Beschreibung und Bewertung des Rezeptionsvorgangs ins Auge.9 Das Buch „Die obersten Grundsätze des Rechts“, veröffentlichte er ein Jahr vor seiner Ernennung zum ordentlichen Professor an der Universität Frankfurt am Main. Es war die erste größere Publikation Coings auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie. Abgesehen von einem kurzen Aufsatz zur Frage der Strafbarkeit nationalsozialistischer Richter, der ein halbes Jahr zuvor erschienen war, hatte er bis dahin nur rechtshistorische Arbeiten publiziert.10 Coing war in der Nachkriegszeit als reformierter Protestant auch in kirchliche Diskussionen involviert11 und nahm an der für die protestantische Naturrechtsdiskussion so wichtigen Göttinger Arbeitstagung evangelischer Juristen und Theologen teil.12 In seiner Naturrechtsbegründung griff er jedoch nicht auf religiöse Annahmen zurück. Zwar schrieb er in der Einleitung zu „Die obersten Grundsätze des Rechts“, dass die Rechtswissenschaft auch von der Theologie „wesentliche Anregungen empfangen“ müsse.13 Seine Naturrechtsbegründung stützte sich jedoch vor allem auf philosophische Überlegungen.

 8  Siehe vor allem das Schlusskapitel, S. 98 ff. Zum Topos des „formalistischen“ römischen Recht im NS Dietmar Willoweit, in: Michael Stolleis/Dieter Simon (Hg.), Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus, 1989, S. 25 (30 f.). Umgekehrt zum Topos des „lebensnahen“ germanischen Rechts Joachim Rückert, in: ders./Dietmar Willoweit (Hg.), Die Deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit, 1995, S. 177–240.  9  Heinz Mohnhaupt hebt daher zu Recht hervor, dass die Habilitationsschrift ohne Retouchen 1962 in unveränderter Neuauflage erscheinen konnte, in: Horst Schröder/Dieter ­Simon (Hg.), Rechtswissenschaft in Deutschland 1945–1952, 2001, S. 97 (98). Die Rezeption erfolgte, so das Fazit Coings in dieser Schrift, vor allem aufgrund eines verstärkten Bedürfnisses nach juristischer Kompetenz, was dazu führte, dass die Prozesse zunehmend von den Juristen dominiert wurden, die seit dem aufkommenden Humanismus in Italien studiert hatten. Es ist also weniger die Idee der Fremdeinwirkung, die in dieser Analyse dominiert, als die des Kulturaustausches, vgl. Helmut Coing, Die Rezeption des römischen Rechts in Frankfurt am Main, 2.A. 1962, S. 187 ff. In der rechtshistorischen Literatur wurde die Rezeption im Übrigen häufig als Ursache für einen tiefgreifenden kulturellen ‚Verfall‘ gesehen, hierzu m.w.N. Andrea Nunweiler, Das Bild der deutschen Rechtsvergangenheit und seine Aktualisierung im „Dritten Reich“, 1996, S. 197 ff. 10  Helmut Coing, Die Frage der strafrechtlichen Haftung der Richter für die Anwendung naturrechtswidriger Gesetze, SJZ 1947, Sp. 61–65, dazu Kapitel 2, S. 67, 72, 77 f. 11  Davon zeugt Helmut Coing, Die Naturrechtsdebatte im Raume des Protestantismus, in: Barbara Dahlmann (Red.), Der Juristenrundbrief der Evangelischen Akademie, Juli 1950, S. 4–7 sowie der Vortragshinweis dort, S. 16. 1951 hielt er einen Vortrag auf der Tagung „Das Naturrecht in evangelischer Sicht“ in der Evangelischen Akademie Baden, siehe Tagungsbericht in: JZ 1951, 572 (ebd.). In einem Jubiläumsvortrag für die Evangelische Akademie in Hessen und Nassau bezeichnete er sich als „Mitarbeiter der Akademie“, Abdruck: Aufgabe und Entwicklung der evangelischen Akademie im modernen Protestantismus, in: Hans Puttfarcken (Hg.), Die Kirche in der modernen Gesellschaft, 1956, S. 1 (ebd.). 12  Siehe Kapitel 4, S. 155 ff. 13  Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 9.

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Kapitel 5: Von säkularer Naturrechtslehre zur Theorie des Richterrechts

1. Wertphilosophische Begründung der „obersten Grundsätze des Rechts“ Coing ging davon aus, dass es objektive Werte gebe, die in einem Hierarchie­ verhältnis zueinander stünden.14 Es handele sich dabei um Werte, die der „Verwirklichung des Menschen selbst“ dienten.15 Daraus folgte für Coing, dass auch das Recht in einem Zusammenhang zu diesen Werten stehe: Es sollte so gestaltet sein, dass es den Menschen ermögliche, diese Werte zu verwirklichen. Mit dem Begriff des „Wertes“ knüpfte Coing an die Wertphilosophie Max Schelers (1874–1928) und Nicolai Hartmanns (1882–1950) an. Beide hatten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts eine materiale Wertethik in Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants und des Neukantianismus entwickelt.16 An beiden übten sie umfassende Kritik: Sie verwarfen den erkenntnistheoretischen Subjektivismus und gingen davon aus, dass sich Erkenntnis nicht nur im erkennenden Subjekt abspiele, sondern dass es ein zu erkennendes Objekt außerhalb des Menschen gebe. Sie stützten sich dabei insbesondere auf die Phänomenologie. Zugleich wandten sie sich entschieden gegen den kantischen Formalismus, also gegen die Ansicht, dass materielle Werte nicht unabhängig von menschlicher Erfahrung begründet werden könnten und damit historisch kontingent seien. Beide behaupteten stattdessen ein „Wertapriori“. Ihre Grundannahme war, dass es objektive, überzeitliche Werte gebe, die unabhängig von menschlicher Erfahrung a priori existierten, also weder nachweisbar noch widerlegbar seien.17 Diese Werte stünden in einer Rangordnung zueinander, wobei Scheler die religiösen Werte als die höchsten ansah, während Hartmann die sittlichen Werte an erste Stelle setzte.18 Menschen könnten diese Werte durch ein „Wertfühlen“ erkennen, was die kantische Philosophie ihrer Ansicht nach aufgrund der Konzentration auf den Menschen als rationales Wesen nicht habe erkennen können. Scheler forderte gegen Kant einen „Apriorismus des Emotionalen“.19 Beide setzten sich dabei kritisch mit der Frage auseinander, warum sich im Laufe der Geschichte oder auch in unterschiedlichen Gesellschaften die ethischen Werte unterscheiden. Scheler betonte, dass dies kein Widerspruch zur überzeitlichen Existenz der objektiven Werte sei. Er ging davon aus, dass Wer14 

Helmut Coing, ebd., S. 116. Helmut Coing, ebd., S. 54. 16 Insbesondere Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 1.A. 1913, 2. unveränderte Aufl. 1921; Nicolai Hartmann, Grundzüge einer Metaphysikder Erkenntnis, 1921; ders. Ethik, 1926, S. 88 ff. 17  Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 2.A. 1921, S. 43; Nicolai Hartmann, Ethik, 1926, S. 111. 18  Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 2.A. 1921, S. 109; Nicolai Hartmann, Ethik, 1926, S. 496 ff. 19  Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 2.A. 1921, S. 61. 15 

I. Ausgangspunkt: Helmut Coings „Neubegründung des Naturrechts“

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terkenntnis ein Lernprozess sei und die Menschen in Richtung Wertverwirklichung strebten. 20 Coing stützte seine Naturrechtslehre auf eben diese philosophischen Annahmen. Auch er ging axiomatisch davon aus, dass es objektive, überzeitliche Werte gebe, welche der Mensch fühlend erkennen könne. „Daß er sittlich handeln kann, daß ihm das Reich sittlicher, geistiger, religiöser Werte aufgeschlossen ist, auf ihn und durch ihn wirkt, daß er es in einer ganz besonderen, persönlichen Weise und an ganz bestimmter Stelle hic et nunc verwirklichen und aus freiem Willen soll, darin liegt seine Würde als Mensch beschlossen.“21 Der Mensch müsse daher der Wertverwirklichung entgegenstreben. Das Recht sollte Coing zufolge einen Rahmen schaffen, in welchem dem Menschen die Verwirklichung der Werte und damit seiner Würde möglich sei. Die Werte, die einem solchen Recht zugrunde liegen müssten, seien für die Menschen aufgrund ihres „Rechtsgefühls“ und ihres „Rechtsbewusstseins“ erkennbar: „Der Grundwert, der uns im Rechtsgefühl gegeben ist, auf den das Rechtsgefühl hinzielt, ist der der Gerechtigkeit.“22

2. Ein detailliertes System „oberster Grundsätze des Rechts“ Für die Begründung der konkreten Werte, die vom Recht verwirklicht werden sollten, spielte das Rechtsgefühl in Coings Schrift allerdings keine systematische Rolle. Er verwendete eine Mischung verschiedener Begründungstopoi, die in keinem Zusammenhang zu seinen wertphilosophischen Grundannahmen standen. Er stützte seine Überlegungen zum Teil auf die Philosophiegeschichte, insbesondere auf die Gerechtigkeitslehren der Antike. Zum Teil argumentierte er mit der Eigenschaft des Rechts, soziale Ordnung zu sein und der Friedenssicherung zu dienen, zum Teil mit zeitgenössischen Grundsätzen des positiven Rechts. Vielfach begründete er außerdem Rechtsgrundsätze, indem er sie deduktiv aus anderweit begründeten Grundsätzen ableitete. Die zentrale Figur, mit welcher Coing in „Die obersten Grundsätze des Rechts“ argumentierte, war jedoch ganz im Sinne tradierten Naturrechtsdenkens das „Wesen des Menschen“. Die „Einsicht in das Wesen des Menschen“ ermögliche es, „einen allgemeingültigen Maßstab für die Rechte des Menschen in der socialen Ordnung zu gewinnen.“23 Der Mensch sei „vor allem ein geistigsittliches Wesen. […] [E]r ist Person. Er besitzt als Einzelner einen unvertauschbaren Eigenwert; in ihm verkörpert sich eine besondere und einmalige Zusammenfassung geistig-seelischer und vitaler Werte: er ist bestimmt, Persönlichkeit zu werden.“24 Coing begründete auf diese Weise, dass die Menschenwürde ein 20 

Max Scheler, ebd., S. 277 ff.; im gleichen Sinne Nicolai Hartmann, Ethik, 1926, S. 44. Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 40. 22  Helmut Coing, ebd., S. 29. 23  Helmut Coing, ebd., S. 39. 24  Helmut Coing, ebd. S. 39 f. 21 

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zentraler „Maßstabswert“ für das Recht sei und leitete hieraus Freiheits- und Gleichheitsrechte sowie einige soziale Rechte ab. Die Rechtsgrundsätze, die Coing auf diese Weise begründete, waren eng aufeinander bezogen und bildeten ein geschlossenes System. 25 Dieses sticht aus den übrigen Naturrechtsentwürfen der Zeit heraus: Es war stärker als alle anderen Entwürfe von liberal-rechtsstaatlichen Überlegungen getragen.26 Coing zählte elementare Grundrechte auf, wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, der Schutz vor Sklaverei, geistige Freiheitsrechte wie Meinungs-, Kunst- und Religionsfreiheit, der Schutz der Privatsphäre sowie der Unverletzlichkeit der Wohnung. Staatliche Eingriffe in diese Rechte seien nur dann gerechtfertigt, wenn sie verhältnismäßig seien. 27 Der Rechtsweg müsse offen stehen und Justizgrundrechte gesichert sein. 28 Noch aus einem anderen Grund sticht der Entwurf Coings heraus. Er war detailliert wie kein anderer seiner Zeit. Mehr als ein Drittel seiner 155 Seiten umfassenden Schrift befasste sich mit der Aufzählung der Inhalte des „echten Rechts“, wie Coing ein die Rechtsgrundsätze verwirklichendes Recht nannte. Neben dem Grundrechtsschutz befasste er sich mit Grundsätzen des Strafrechts, des Arbeitsrechts, des Familienrechts und des Völkerrechts sowie des allgemeinen Zivilrechts. Besonders die Grundsätze, die er für den Privatrechtsverkehr formulierte, fallen durch ihre Kleinteiligkeit auf. Er zählte zahlreiche Figuren aus dem BGB bzw. der zivilrechtlichen Dogmatik zu den Grundsätzen „echten Rechts“: etwa den Grundsatz pacta sunt servanda, eingeschränkt durch Erfordernissse des Minderjährigenschutzes, die Haftung für culpa in contrahendo, die Pflicht, Mängel zu offenbaren, das Verbot des venire contra factum proprium, das Verbot von Betrug und Arglist sowie die Haftung für Eingriffe in fremde Rechtssphären.29 Für das Prozessrecht nannte er das Recht auf unbefangene Richter/innen, auf rechtliches Gehör und auf ein kontrollierbares Beweisverfahren.30 Auch das Erwachsen richterlicher Entscheidungen in Rechtskraft gehöre zu den Grundsätzen „echten Rechts“.31

25 

So auch Ilka Kauhausen, Nach der ‚Stunde Null‘, 2007, S. 34 f. auch Heinz Mohnhaupt, in: Horst Schröder/Dieter Simon (Hg.), Rechtswissenschaft in Deutschland 1945–1952, 2001, S. 97 (118 f.); Ilka Kauhausen, Nach der ‚Stunde Null‘, 2007, S. 31 ff. Für den Vergleich mit anderen Positionen siehe Kapitel 6, S. 233 ff., 237 f., 244 ff. 27  Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 86. 28  Helmut Coing, ebd., S. 89, 80 ff. 29  Helmut Coing, ebd., S. 76 ff. 30  Helmut Coing, ebd., S. 80 ff. 31  Helmut Coing, ebd., S. 82 f. 26  So

I. Ausgangspunkt: Helmut Coings „Neubegründung des Naturrechts“

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3. Überzeitliche Werte und die Zeitbedingtheit des Rechts Die Detailliertheit dieses Entwurfs rief Kritik hervor. Coing habe, so Karl Larenz in einer Rezension, seinen „obersten Grundsätzen des Rechts“ „ein geschichtlich bestimmtes, nämlich das gegenwärtige deutsche Rechtsbewußtsein“ zugrunde gelegt, „wie es u.a. in den heutigen Länderverfassungen und dem […] Grundgesetz und in der Rechtsprechung, vornehmlich zum BGB, seinen Ausdruck gefunden hat.“ In der Herausarbeitung der diesem positiven Recht zugrunde liegenden Rechtsgrundsätze sah er Coings Hauptverdienst, bezweifelte aber, ob „die so gefundenen Sätze wirklich alle als zeitlos gültiges Naturrecht betrachtet werden dürfen.“32 Auch Eduard Spranger, Hans Welzel und Karl Engisch waren skeptisch hinsichtlich des überzeitlichen Gehalts der Rechtsgrundsätze. Spranger fragte, ob es nicht eine „Landkarte des modernen, abendländischen, stark christlich beeinflussten Wertbewusstseins“ sei, die Coing entworfen habe.33 Welzel warf Coing vor, der Idee des Naturrechts „keinen förderlichen Dienst“ erwiesen zu haben. Er habe mit seinem Buch vielmehr „den alten Verdacht wieder bestärkt, daß die Naturrechtler nur die rechtspolitischen Wünsche ihrer Zeit oder gar ihrer Person zu ewigen Naturrechtssätzen hypostasieren.“34 Noch härter ging Engisch mit dem Buch Coings ins Gericht: Auch er teile die von Coing mit überzeitlichem Gehalt belegten Werte, „[a]ber doch wohl nur deshalb, weil ich ungefähr derselben Menschengruppe angehöre wie er. Aber ich schmeichle mir damit nicht, im Besitz einer absolut eindeutigen und einsichtigen Wert- und Naturrechtslehre zu sein.“35 Die Kritiken zeigen, dass unter Rechtswissenschaftlern, die über säkulare Naturrechtsbegründungen diskutierten, bereits in den späten 1940er Jahren ein reges Bewusstsein herrschte, dass Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen zeit- und kontextabhängig seien. Unter dem Stichwort der „Geschichtlichkeit des Rechts“ meldeten sie Zweifel an der Möglichkeit an, überzeitliche Werte zu begründen. Coing war sich durchaus bewusst, dass die Zeitbedingtheit von Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen für seinen Versuch einer „Neubegründung des Na-

32 

Karl Larenz, Rez. Coing „Die obersten Grundsätze des Rechts“, NJW 1950, 500; so auch Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1951, S. 181; ders., Naturrecht und Rechtspositivismus (1953), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 322 (324 f.); anders Franz Wieacker, Zur Erweckung des Naturrechts, SJZ 1949, Sp. 295 (299), demzufolge Coings Naturrechtssätze zwar den Anschein hätten, sich eng am liberalen Rechtsstaat in seiner historisch gewordenen Form zu orientieren, tatsächlich aber „ein unbedingtes Werturteil über den Gerechtigkeitsgehalt jeder Ordnung“ enthielten [Hervorhebung im Original]. 33  Eduard Spranger, Zur Frage der Erneuerung des Naturrechts (1948), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 87 (90). 34  Hans Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus (1953), S. 322 (324 f.) 35  Karl Engisch, Rez. zu Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, ARSP 38 (1949/50), 271 (276).

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turrechts“ ein Problem darstellte. Er war Rechtshistoriker und auch seine Orientierung an der Philosophie Schelers und Hartmanns sowie an der Geisteswissenschaftstheorie Diltheys und Sprangers legten es nahe, sich mit der Frage der Geschichtlichkeit des Rechts auseinanderzusetzen.36 „[S]owohl die allgemeinen religiösen und sittlichen Auffassungen wie das Rechtsbewusstsein selbst, das in ihnen gründet“, wandelten sich, schrieb er. „Es entsteht die Frage, wie damit die absolute Geltung und die Eindeutigkeit sittlicher Werte vereinbar ist.“ 37

a. Geschichte als fortschreitende Werterkenntnis In „Die Obersten Grundsätze des Rechts“ löste Coing das Problem vor allem geschichtsphilosophisch. Zentral waren dabei die Figuren des „Rechtsgefühls“ und des „Rechtsbewußtseins“. Mit ihrer Hilfe versuchte er zu begründen, dass die Existenz objektiver überzeitlicher Werte und der Wandel menschlicher Gerechtigkeitsvorstellungen nicht in Widerspruch zueinander stehen. In seinen Ausführungen zu Rechtsgefühl und Rechtsbewusstsein stützte sich Coing maßgeblich auf ein 1932 unter dem Titel „Rechtsgefühl in Justiz und Politik“ erschienenes Buch von Alfred E. Hoche. Hoche war Psychiater und hatte bereits in den 1920er Jahren eine Begründung für die Vernichtung Geisteskranker geliefert, auf die sich die nationalsozialistische Praxis stützen konnte. In seinem Buch zum „Rechtsgefühl“ hatte er das Ideal einer Gesellschaft entworfen, in der keine Konflikte herrschten und Recht folglich überhaupt nicht notwendig war. Das Rechtsgefühl der Menschen bilde sich im Laufe der Geschichte heraus. Es entwickele sich mit der Zeit so weit, dass eine konfliktfreie Gesellschaft möglich werde. Coing übernahm zwar dieses Gesellschaftsideal nicht, nannte das Buch Hoches jedoch „ausgezeichnet“38 und stützte seine Ausführungen zum Rechtsgefühl vollständig darauf.39 Die Ressentiments gegenüber der Weimarer Republik, die sich durch Hoches Buch zogen, ließ Coing unkommentiert, von einer offen rassistischen Ausführung distanzierte er sich nur andeutungsweise in einer Fußnote.40

36  Die historische Bedingtheit des Geistigen war bereits in der „geisteswissenschaftlichen Richtung“ der Weimarer Staatsrechtslehre, die sich weitgehend auf die gleichen philosophischen Grundlagen stützte, anerkannt, vgl. Klaus Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, 1987, S. 62. 37  Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 115. 38  Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 22, Fn. 1. 39  Erwin Riezlers Buch „Rechtsgefühl“ (1.A. 1921, 2.A. 1946) habe er erst nach Drucklegung zur Kenntnis genommen, so Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 22, Fn. 1. 40  Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 23, Fn. 1.

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Coing übernahm von Hoche vor allem den Gedanken, dass sich das Rechtsgefühl im Laufe der Geschichte immer stärker herausbilde. Dies sollte erklären, dass die Tatsache, dass sich Recht und Gerechtigkeitsvorstellungen wandelten, nicht gegen die Existenz einer objektiven Wertordnung spreche. Mit der Differenzierung zwischen „Rechtsgefühl“ und „Rechtsbewusstsein“ wollte er diesem Umstand ebenfalls Rechnung tragen: Das Rechtsgefühl, das ein „Urgefühl der Menschen“ sei, war in Coings Konzeption relativ stabil. Das Rechtsbewusstsein hingegen sei dem historischen Wandel unterworfen. Es setze sich zusammen aus zeitbedingten Persönlichkeitsidealen und Ordnungsideen, „die aus den einzelnen Lebensbereiche selbst hervorwachsen“, „weiteren, den sozialen Umgang beherrschende[n] Werte[n]“ sowie dem Rechtsgefühl.41 Die Werte, denen sich Menschen in konkreten historischen Situationen verpflichtet fühlten, veränderten sich somit im Laufe der Geschichte, nicht aber der Fundus, aus dem sie schöpften. Coing ging davon aus, dass ein „Reich objektiver Werte“ existiere und sah sich im Stande überzeitliche Grundwerte zu benennen. Mit dem „Rechtsgefühl“ begründete er, dass Menschen ein Empfinden für Recht und Unrecht hätten, das unabhängig sei von der jeweiligen Rechtsordnung, in welcher sie lebten.42 Dieses Empfinden sei nicht zufällig und beliebig, sondern wertgeleitet. Auch das Rechtsbewusstsein, das dem historischen Wandel unterlag, sei nicht losgelöst hiervon. Im Rechtsbewusstsein zeige sich nämlich die fortschreitende Werterkenntnis der Menschen: Die „Entwicklung des Rechtsbewußtseins und die ihr folgende Gestaltung des positiven Rechts“ vollziehe sich wie die Erkenntnis der Natur in den Naturwissenschaften durch „moralische Entdeckungen.“43 Rechtsgefühl und Rechtsbewusstsein verbanden damit das „Reich der Werte“ und die „Welt des Seins“.44

b. Wiederkehrende Phänomene als Bindeglieder zwischen geschichtlichem Recht und objektiven Werten Coing setzte seine Auseinandersetzung mit der Frage der Geschichtlichkeit des Rechts in seinem 1950 erschienenen Buch „Grundzüge der Rechtsphilosophie“ fort. Seine Lösung für das Problem war nun deutlich anders als noch drei Jahre zuvor in seiner Schrift „Die obersten Grundsätze des Rechts“. Er nahm weit weniger Bezug auf die Wertphilosophie Schelers und Hartmanns und räumte der Geschichtsmetaphysik keine so große Bedeutung mehr ein. Stattdessen stellte er nun seinen Ausführungen zum Naturrecht eine etwa 75 Seiten umfassende „Rechtsphänomenologie“ vorweg.45 Sein Ziel in diesem Teil war es, 41 

Helmut Coing, ebd., S. 27 f. Helmut Coing, ebd., S. 22 ff. 43  Helmut Coing, ebd., S. 116. 44  Helmut Coing, ebd., S. 28. 45  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 6 ff. 42 

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wiederkehrende Erscheinungsformen des Rechts zu beschreiben. Von dort aus wollte er eine Brücke zwischen Metaphysik und Geschichte schlagen. Die Überlegung, die dem zugrunde lag, war die folgende: Coing ging davon aus, dass es eine „Rechtsidee“ gibt. Diese Rechtsidee war eine überzeitliche Norm, der jedes Recht verpflichtet war. Sie selbst war höchst abstrakt, konkretisierte sich aber in der jeweiligen Lebenssituation, auf die sie stieß. Konfrontierte man nun Phänomene, die im Verlauf der Geschichte immer wiederkehrten, mit der Rechtsidee, konnte man Normen gewinnen, die nicht nur für die konkrete Zeit und den konkreten Kontext galten, sondern darüber hinaus. Diese waren das, was Coing als „Naturrecht“ bezeichnete.46 „In ihren ethischen Grundlagen a priorisch, enthalten sie empirische Momente, insoweit sie auf bestimmte Situationen bezogen sind und von bestimmten Gegebenheiten der menschlichen Natur oder der Natur der Sache ausgehen.“ 47

Coing nahm in den „Grundzügen der Rechtsphilosophie“ also empirische – und damit bei aller Konstanz doch auch zeitlich wandelbare – Elemente in seine Rechtslehre auf. Er versuchte auf diese Weise Metaphysik und Geschichtlichkeit des Rechts miteinander zu verbinden. Die so begründeten Normen gehörten „der Welt des Menschen“ an. „[A]uf sie beschränkt sich ihre Geltung. Sie bilden für uns kein geschlossenes System und keine geschlossene Ordnung, da uns die Rechtsidee nicht voll erkennbar ist.“48 Tatsächlich spielten metaphysische Annahmen in den „Grundzügen der Rechtsphilosophie“ eine nicht unerhebliche Rolle.49 Wie auch in den „obersten Grundsätzen des Rechts“ hielt sich Coing nicht an die eigenen Vorgaben, wie übergesetzliches Recht im einzelnen abzuleiten sei. Neben der Rechtsidee und den wiederkehrenden Phänomenen argumentierte er mit dem „Wesen des Menschen“, dem „Wesen des Rechts“ und Evidenzen. Auch seine geschichtsphilosophische Argumentation, in der er von einer fortschreitenden Werterkenntnis der Menschen ausgegangen war, findet sich in den „Grundzügen der Rechtsphilosophie“ wieder. Vor allem jedoch lag der Phänomenologie selbst eine Normativität inne: Sie war alles andere als wertfreie Soziologie. Bereits der Konstruktion der Phänomene lagen bestimmte normative Vorstellungen zugrunde. Dies lag schon im Grundansatz begründet: Das Ziel von Coings Rechtsphänomenologie war es nicht, die soziale Wirklichkeit getreu zu beschreiben, sondern aus Phänomenen, die in allen Epochen auftraten, das „Typische“ herauszufiltern. Dafür war es notwendig zu unterscheiden zwischen dem, was an einer Erscheinung genera46 

Helmut Coing, ebd., S. 160, 165. Helmut Coing, ebd., S. 165. 48  Helmut Coing, ebd., S. 165. 49  Ilka Kauhausen, Nach der ‚Stunde Null‘, 2007, S. 40, spricht daher zutreffend von einer „doppelten Begründung“ (empirisch und metaphysisch) der Rechtsprinzipien bei Coing. 47 

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lisiert und was als zufällige historische Abweichung angesehen werden sollte. Was war „typisch“ für zwar wiederkehrende, aber doch im Detail stets unterschiedlich ausgestattete Lebenssituationen? Was war der ‚Normalfall‘, was die Abweichung? Diese, seiner Phänomenologie innewohnende Normativität reflektierte Coing nicht. An verschiedenen Stellen lässt sich beobachten, wie er Phänomene konstruierte, indem er auf eigene Wertungen zurückgriff und sich damit bei der Normbegründung im Kreis drehte. Besonders augenscheinlich wird in seinen Ausführungen zur Familie: Er beschrieb sie als Idealtypus einer Gemeinschaft, welche nicht auf rechtlicher Regelung, sondern auf Liebe, Zuneigung und gegenseitigem Vertrauen aufbaue.50 Hieraus leitete er ab, dass das Recht bei der Regelung der Beziehungen innerhalb der Familie zurückhaltend sein müsse.51 Coing entnahm die Norm damit nicht der historischen Wirklichkeit, sondern betrachtete die historische Wirklichkeit bereits im Lichte der gesuchten Norm. Zuweilen durchbrach er seinen phänomenologischen Ansatz auch mit wertphilosophischen Überlegungen. „Christentum und Humanismus haben geschichtlich das Wertbild vom Menschen geformt, das in die Rechtsordnungen der abendländischen Kulturwelt eingegangen ist. Beide verleihen dem Einzelmenschen als solchem einen spezifischen, unübersehbaren Wert als Person. Diese Auffassung ist notwendig, sofern man überhaupt die Existenz des Sittlichen anerkennt“ 52, schrieb er beispielsweise, um die Menschenwürde als Wert zu begründen. Es waren auch in den „Grundzügen der Rechtsphilosophie“ insgesamt eher die ethischen Grundannahmen, die seine Rechtslehre stützten, als der empirische Befund.

4. Naturrecht oder Kulturrecht? In „Die obersten Grundsätzen des Rechts“ ging Coing von der Existenz eines „Reichs der Werte“ aus. Auch wenn er in seine Überlegungen einbezog, dass sich das Bewusstsein der Menschen von diesen Werten wandelte, waren die Werte selbst nicht menschlich geschaffen, sondern den Menschen objektiv vorgegeben. Er leitete hieraus einen detaillierten Kanon von Prinzipien ab, die im positiven Recht verwirklicht werden sollten, damit dieses als „echtes Recht“ anerkannt werden könne. Bei aller Kritik, die er insbesondere dem katholischen Naturrecht entgegenbrachte, bekannte sich Coing zum Naturrecht. Zwar verwendete er das Wort „Naturrecht“ nicht, um die Normen zu beschreiben, um die es ihm ging. Stattdessen bevorzugte er es, von „echtem Recht“ oder von „obersten Grundsätzen des Rechts“ zu sprechen. Er schrieb jedoch, dass es sich 50 

Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 70 f., 79 ff. Ausführlicher hierzu in Kapitel 6, S. 243. 52  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 133. 51 

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bei diesen „obersten Grundsätzen“ um das „gleiche Gebiet von Normen handelt, welches das Naturrechtsdenken zum Gegenstand gehabt hat.“53 In den „Grundzügen der Rechtsphilosophie“ schwächte er seinen wertphilosophischen Zugriff zugunsten historisch-soziologischer Überlegungen ab. Es handelte sich auch hier jedoch nicht um ein von den Menschen selbst geschaffenes Kulturrecht, wie die stark empirische Ableitung der Werte nahelegen könnte. Die Berücksichtigung wiederkehrender Phänomene des menschlichen Lebens bei der Begründung der Werte machte diese nicht zu etwas, was sich allein durch menschliches Tun herausgebildet hätte. Dort, wo Coing ohne ethische Axiome auskam und sich in der Begründung von Normen allein auf Phänomene stützte, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte herausgebildet hatten, deduzierte er die Normen aus derart abstrakten Phänomenen wie dem „Wesen des Rechts“, so dass nicht erkennbar war, welche Kulturleistung der Menschen den Normen zugrunde liegen sollte. Er selbst war nicht eindeutig darin, ob er seinen Ansatz nun als einen naturoder kulturrechtlichen verstanden wissen wollte: „Es ist die Frage aufgeworfen worden, ob man für die Grundsätze, die hier gemeint sind, den Namen ‚Naturrecht‘ behalten könne und solle. Die Frage ist berechtigt; denn es handelt sich zweifellos um Prinzipien der Gestaltung des Kulturrechts. Ihre Erkenntnis und Anwendung ist ein Teil der Rechtskultur. Insofern ist die Bezeichnung ‚Naturrecht‘ sachlich unangemessen. Aber dem Gegenstand nach handelt es sich um das, was Rechtswissenschaft und Sozialphilosophie unter Naturrecht seit jeher behandelt haben. Das Wort bezeichnet den geisteswissenschaftlichen ‚Topos‘ und den Seinsbereich, auf den diese obersten Rechtsgrundsätze bezogen werden müssen. Daher scheint es richtiger, die überkommene Bezeichnung beizubehalten.“54

Coing sah seinen Entwurf in der Nähe zum Kulturrecht, entschied sich jedoch dafür, den Begriff des Naturrechts für die von ihm herausgearbeiteten Normen zu verwenden. Die Grenzen waren für ihn nicht starr, er sah keine Notwendigkeit, sich begrifflich abzugrenzen. Verfolgt man seine Wortwahl genau, so fällt auf, dass er die „obersten Grundsätze des Rechts“ nun als „Prinzipien der Gestaltung des Kulturrechts“ bezeichnete. Er sprach nicht davon, dass sie selbst Kulturrecht darstellten. Naturrechtserkenntnis und -verwirklichung waren menschlich, die Normen selbst enthielten aber eine Komponente, die er nicht als von Menschen geschaffen ansah.55

53 

Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 62 [Hervorhebung im Original]. 54  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 169 f. 55 Anders Ilka Kauhausen, Nach der ‚Stunde Null‘, 2007, S. 39.

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5. Zusammenfassung: Öffnung des Naturrechts für die Geschichtlichkeit des Rechts Coing wollte eine „wissenschaftliche“ Begründung des Naturrechts vorlegen. Er wollte zeigen, dass ohne Rückgriff auf die Religion begründet werden könne, dass es objektive Werte gebe, die im Recht verwirklicht werden sollten. Er griff hierfür zunächst auf wertphilosophische Annahmen, später auf die Phänomenologie zurück. Mit ihrer Hilfe wollte er nachweisen, dass überzeitliche Werte existierten, auch wenn sich die Wertvorstellungen der Menschen im Laufe der Geschichte wandelten. In seiner ersten Schrift zur Naturrechtsfrage, „Die obersten Grundsätzen des Rechts“, ging er von der Existenz eines objektiven „Reichs der Werte“ aus. In seiner zweiten Schrift, „Grundzüge der Rechtsphilosophie“, entfernte er sich von einem solchen metaphysischen Zugriff und argumentierte verstärkt historisch. Er versuchte, Werte mit Hilfe historischer Konstanten zu begründen und auf diese Weise bereits bei der Begründung der Werte die Frage des historischen Wandels von Wertvorstellungen zu berücksichtigen. Tatsächlich mischte er jedoch ethische Annahmen, geschichtsphilosophische Argumentationen und historische Beobachtungen in einer Weise, dass sich zum Teil nur schwer auseinander halten lässt, wo er empirisch und wo er auf der Grundlage ethischer Axiome argumentierte. Es blieb auch in seiner zweiten Schrift mehr bei einem Naturrecht, auch wenn die Öffnung hin zu einem kulturrechtlichen Ansatz deutlich erkennbar ist. Mit seinen Überlegungen zur Geschichtlichkeit des Rechts hob sich Coings Entwurf von überzeitlichen Naturrechtssystemen wie dem der katholischen Naturrechtslehre deutlich ab. Er wollte ein komplexeres Naturrecht entwerfen, das offen für historischen Wandel war und die Erkenntnisprozesse der Menschen berücksichtigte. Dies schlug sich vor allem darin nieder, dass er wiederholt betonte, dass er mit seinem Entwurf keinen Vollständigkeitsanspruch erheben wolle. Während er in seiner ersten Schrift dennoch einen in sich sehr geschlossenen Naturrechtskatalog vorlegte, waren seine Ausführungen zum Naturrecht in seiner zweiten Schrift deutlich eklektischer und hatten, auf das ganze Buch bezogen betrachtet, einen geringeren Stellenwert. Auch wenn Coing nicht religiös argumentierte und sich seine Entwürfe auch nicht in die protestantische Naturrechtsdiskussion einfügten, scheint in seinem Umgang mit der Frage der Geschichtlichkeit und der Erkennbarkeit des Naturrechts eine gewisse Nähe zum protestantischen Rechtsdenken seiner Zeit auf.56 56  Die Geschichtlichkeit des Rechts war auch in der evangelischen Naturrechtsdiskussion frühzeitig Stein des Anstoßes, siehe Kapitel 4. Coing zog in „Die obersten Grundsätzen des Rechts“ wiederholt Parallelen zwischen seiner Argumentation und protestantischen Positionen zur Naturrechtsfrage. Auf die zeitgleich verlaufende Debatte im Umkreis der evangelischen Kirche verwies er jedoch nicht, er zitierte einzig Emil Brunners Buch „Gerechtigkeit“ (1943).

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II. Naturrechtsskepsis – und dennoch Suche nach etwas Objektivem im Recht Die Diskussion um die Naturrechtsfrage in der akademischen Rechtsphilosophie entfaltete sich erst nach Erscheinen der beiden Bücher Coings. Sie war angetrieben von der Frage, ob überhaupt ein Naturrecht begründet werden könne, wenn man die Geschichtlichkeit des Rechts einmal anerkannt habe. Wegweisend war dabei das Erscheinen des Buches „Naturrecht und materiale Gerechtigkeit“ von Hans Welzel 1951. Darin ging Welzel der Geschichte des Naturrechts nach und zeigte, dass auch das, was sich die Menschen unter ‚ewigen Normen‘ vorgestellt hatten, dem zeitlichen Wandel unterlegen habe. Die Rechtsphilosophen, die sich an der nun folgenden Diskussion beteiligten, waren sich einig in der Ablehnung eines überzeitlichen Systems aus abstrakten Normen, wie es die katholische Naturrechtslehre entworfen hatte. Hinter den Historismus wollten sie nicht zurück. Charakteristisch für ihre Schriften war es, dass sie Erkenntnisse der Soziologie und Psychologie des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts in ihre rechtsphilosophischen Argumentationen einbanden. Sie suchten nach Alternativen zum klassischen Naturrecht. Naturrechtskataloge wurden nicht mehr entwickelt, Coing blieb mit seinem Entwurf von 1947 der einzige, der ein säkulares Naturrecht detailliert ausbuchstabierte. In einem waren sich diese säkular argumentierenden Juristen jedoch einig mit jenen, die das Naturrecht religiös begründeten: Sie empfanden eine relativistische Haltung als unerträglich. Auch wenn sie Recht und Gerechtigkeitsvorstellungen als etwas zeit- und kontextabhängiges begriffen, wollten sie auf einen objektiven Kern des Rechts nicht verzichten. Der Umgang mit diesem Dilemma war unterschiedlich. Einer dieser Ansätze, ein historisch-soziologischer Zugriff, war dem Coings ähnlich. Daneben wurden vor allem die Möglichkeiten erörtert, welche die Existenzphilosophie sowie die Figur der „Natur der Sache“ boten.

1. Historisch-soziologische Werteinsichten: Franz Wieacker und Erich Fechner Der dem Ansatz Coings ähnliche Zugriff findet sich bei dem Rechtshistoriker Franz Wieacker und bei dem Juristen und Soziologen Erich Fechner. Zwar formulierte keiner der beiden die Idee, die für Coing so zentral war, dass es eine fortschreitende Werterkenntnis im Laufe der Geschichte gebe. Doch auch für sie stellte die Geschichte einen Spiegel der Regeln dar, die durch das Recht verwirklicht werden sollten. Während Fechner zurückhaltend hinsichtlich der Überzeitlichkeit der Werte war, orientierte sich Wieacker wie Coing in der

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ersten Auflage der „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ (1952)57 an der Wertphilosophie Max Schelers und Nicolai Hartmanns. Wieacker, der in einer Rezension Sympathie für Coings „Die obersten Grundsätze des Rechts“ hatte erkennen lassen,58 wählte in der ersten Auflage der „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ noch einen deutlich metaphysischen Zugriff. Es war eine säkularisiert formulierte Variante des christlichen PersonGedankens, die er im Schlusskapitel seines Buches entfaltete: Die Menschen hatten demnach Zugang zu „absoluten Werten“ durch das „Rechtsgewissen“, das im Menschen aufgrund seines „Person“-Seins angelegt sei. Gerade dadurch dass der Mensch diese Werte erkenne, verwirkliche er wiederum sich selbst und begründe seine Würde. Stärker als Coing sah er Gerechtigkeit als etwas, das individuell und situationsbezogen erkannt werden müsse und in jeder konkreten Situation eine andere Gestalt annehme. Er kritisierte die klassischen Naturrechtslehren, insbesondere die Neuscholastik, für das Aufstellen starrer überzeitlicher Normenkataloge. „Nach dem Zerfall der objektiven Ordnungen der Wirklichkeit und des Gedankens kann Gerechtigkeit als Wirklichkeit nur mehr im persönlichen Rechtsgewissen der Menschen erscheinen.“59 Die Existenz einer überzeitlich-überpositiven Gerechtigkeit stellte er damit jedoch nicht in Frage. Die Gerechtigkeit sei „der Geschichte entzogen“, schrieb er in der ersten Auflage der „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“.60 Sie legitimiere das positive Recht, auch wenn dieses nicht mehr darstellen könne, als einen schwachen Abglanz ihrer Idee: „[D]er Farbenglanz der geschichtlichen Rechte wäre nicht mehr, wenn das Licht der Gerechtigkeit erloschen wäre, das sich in den Wirklichkeiten der Rechtsordnung gebrochen hatte.“61 Wie bei Coing deutete sich bei Wieacker dabei allerdings eine Hinwendung zu einem kulturrechtlichen Denken an. In der ersten Auflage der „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ war es noch nicht dominant, er schrieb jedoch bereits dort: „Als Historiker nennen wir ungerechte Gesetze vorerst diejenigen, die gegen die Rechtsgrundlagen der historisch gewordenen europäischen Völkergemeinschaft schlechthin verstoßen […].“62 In den fünfzehn Jahren bis zum Erscheinen der zweiten Auflage baute Wieacker diesen Gedanken aus. Seine 57  Zum Charakter dieses Buches als Wendeliteratur trotz seiner lange unangefochtenen Anerkennung als Standardwerk der Rechtsgeschichte eingehend Joachim Rückert, in: Quaderni Fiorentini 24 (1995), S. 531–562. 58  Franz Wieacker, Zur Erweckung des Naturrechts, SJZ 1949, Sp. 295 (298 ff.) 59  Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952, S. 355. 60  Franz Wieacker, ebd., S. 356. Zu Recht beschreibt Joachim Rückert, in: Quaderni Fiorentini 24 (1995), S. 531 (549 ff., 556, 561) daher Wieackers Rechtsverständnis als zugleich geschichtlich-konkret-persönlich und objektiv-idealistisch-überpersönlich. Widersprüchlich ist dies im Kontext des damaligen Diskurses nicht, dazu Kapitel 6, S. 298. 61  Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952, S. 356. 62  Franz Wieacker, ebd., S. 327 f.

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Kritik an der klassischen Naturrechtslehre verschärfte sich. Er sprach in seinen Vorträgen „Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242“ (1956) und „Gesetz und Richterkunst“ (1957) nicht mehr von „Naturrecht“, sondern von einem „ius commune“. Die Maßstäbe für das positive Recht entnahm er nun Tradition und Geschichte. Erich Fechner stützte sich in seinem Aufsatz „Die Bedeutung der Gesellschaftswissenschaft für die Grundfrage des Rechts“ (1952) auf die Soziologie als Bindeglied zwischen Geschichtlichkeit und Naturrecht. Soziologisch sei nachzuweisen, dass es „reale Voraussetzungen“ für das Recht gebe, die entweder nicht dem Wandel unterworfen seien, oder „nur einer sehr allmählichen, praktisch nicht ausschlaggebenden Veränderung unterliegen“. Zwar könne die Soziologie keine Aussagen über deren metaphysischen Gehalt machen, sie könne aber Regeln aufstellen, die, „wenn auch nicht überzeitlich, so doch dauerhaft begründet sind.“63 Fechner hatte somit bereits Anfang der 1950er Jahre den Schritt von einem Natur- zu einem Kulturrecht vollzogen.

2. Auseinandersetzungen mit der Existenzphilosophie: Hans Welzel, Werner Maihofer und Erich Fechner In der allgemeinen Philosophie war die Zeit- und Situationsabhängigkeit aller menschlichen Entscheidung bereits in den Jahrzehnten zuvor Thema: Die Existenzphilosophie Kierkegaards, Jaspers und Heideggers hatte sich ihrer seit den späten 1920er Jahren angenommen. Die Rechtsphilosophie dagegen setzte sich mit der Existenzphilosophie nur äußerst zögerlich auseinander, in den 1940er Jahren finden sich nur spärliche Spuren.64 Dies hing möglicherweise damit zusammen, dass die Existenzphilosophie selbst sich kaum zum Recht geäußert hatte und das wenige, was sie gesagt hatte, nicht mit der für Juristen nach 1945 so wichtigen Idee in Einklang zu bringen war, dass das Recht etwas Wertvolles sein könnte. Karl Jaspers hatte das Recht als „mechanisch“ und „tot“ bezeichnet.65

63  Erich Fechner, Die Bedeutung der Gesellschaftswissenschaft für die Grundfrage des Rechts (1952), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 257 (278) [Hervorhebung im Original]. 64  Friedrich August Freiherr von der Heydte, Existentialphilosophie und Naturrecht (1948/49), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 141–158; Anleihen und Bezugnahmen finden sie auch bei Adolf Arndt, Die Krise des Rechts (1948), im selben Band, S. 117–140 sowie bei Hans Welzel, Über die ethischen Grundlagen der sozialen Ordnung, SJZ 1947, Sp. 409–415. 65  Karl Jaspers, Philosophie, 2.A. 1948, S. 603. Für das Werk Heideggers stellte Werner Maihofer fest, dass das Recht, wie auch der Bereich der „öffentlichen Welt“, kaum thematisiert werde, und wenn, dann als Verfallsform der „eigentlichen Existenz“, in: Recht und Sein, 1954, S. 17 f.; 27 ff.

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Die Existenzphilosophie war mit dem Recht im Allgemeinen und dem Naturrechtsdenken im Besonderen tatsächlich schwer zu verbinden. Sie stellte nicht die Frage nach ethisch oder gar rechtlich allgemein verbindlichen Normen und damit nach den Beziehungen der Menschen zueinander in der Gesellschaft, sondern konzentrierte sich ganz auf das Individuum. Dessen Einbettung in die Gesellschaft, das Zusammensein mit anderen Menschen, die Bindung an äußere Nomen stellten aus existenzphilosophischer Sicht Entfremdungen dar, die in der Welt des Daseins zwar unvermeidlich waren, dem Menschen aber den Zugang zu seiner eigentlichen Existenz versperrten. Was diese „Existenz“ ausmachte, konnte nicht abstrakt erkannt, sondern nur erfahren werden. Es handelte sich um Transzendenzerfahrungen, die tief in der individuellen Seele verankert waren. Der Mensch machte sie vor allem in Ausnahmesituationen, zum Beispiel, wenn er von Angst, Trauer oder Leid ergriffen war. Was die Existenz ausmachte, war weder überindividuell bestimmbar noch war es möglich, sich eigentlicher Existenz schrittweise anzunähern. Existenzielle Erfahrungen waren ein punktuelles Ausbrechen aus der Alltagswelt des Daseins, sie waren immer nur für Augenblicke möglich. Die Existenzphilosophie fragte danach, was diese Augenblicke ermöglichte und kennzeichnete. Das Recht konnte für sie nicht von zentralem Interesse sein: Es war Teil des Daseins, bei Heidegger der Inbegriff der „Uneigentlichkeit“. Hans Welzel war es, der die Existenzphilosophie in der Rechtswissenschaft ins Gespräch brachte. Er forderte die Rechtswissenschaft auf, sich mit der Existenzphilosophie auseinanderzusetzen, obwohl er selbst diese äußerst kritisch beurteilte.66 Sie belasse das Recht in der Welt des Daseins, wo es nicht mehr als ein „technisches Mittel für den möglichst reibungslosen Ablauf der Massenwelt“ sei.67 Die Existenzphilosophie münde in eine dezisionistische Rechtslehre, wie Carl Schmitt sie vertreten habe, da nicht die Inhalte der Entscheidung, sondern nur die Tatsache der Entscheidung in der konkreten Ausnahmesituation zählten.68 Eine solche Rechtslehre lehnte er als „positivistisch“ ab. Dennoch war Welzel überzeugt, dass es kein Zurück hinter die Einsichten der Existenzphilosophie gebe. Die Rechtsphilosophie müsse daher „durch den Existentialismus hindurch.“69 Wie sah dies aus? Das Naturrecht als objektive überzeitliche Ordnung hatte Welzel verworfen,70 er sah alles Recht als geschichtlich bedingt an und betonte 66 

Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1951, S. 185 ff. Hans Welzel, ebd., S. 189. 68  Hans Welzel, ebd., S. 189 ff. (insb. 190 und 193). 69  Hans Welzel, ebd., S. 195. 70  So formulierte er seine Kritik am Beispiel der von Emil Brunner formulierten Naturrechtslehre folgendermaßen: „Alle die meist höchst beachtenswerten oder mindestens diskutablen Wertüberzeugungen, die der Verfasser zuvor in den Begriff des Naturgemäßen hineingelegt hat, holt er hinterher aus ihm wieder heraus.“, Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1951, S. 182. Zur Naturrechtslehre Brunners siehe Kapitel 4, S. 146 f. 67 

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dementsprechend den Eigenwert des positiven Rechts.71 Einen vollständigen Relativismus wollte auch Welzel allerdings nicht anerkennen. Neben den „sachlogischen Strukturen“, mittels derer er verbindliche Anforderungen an das Recht für formulierbar erklärte,72 suchte er einen Ausweg, indem er die Existenzphilosophie mit ihren eigenen Argumenten konfrontierte. Tatsächlich nahm er dabei jedoch eine gewichtige Änderung einer ihrer Prämissen vor: Er ging davon aus, dass es „objektive Handlungsziele“ gebe, welche den einzelnen Handlungen erst ihren subjektiven Sinn verliehen. 73 Er räumte im Sinne der Existenzphilosophie zwar zunächst ein, dass die Inhalte dieser „objektiven Handlungsziele“ nicht überzeitlich konstant seien. Dies erschien ihm jedoch als unbefriedigend: „Fallen damit nun alle Handlungsziele der geschichtlichen Kontingenz anheim? Ist nicht doch etwas Allgemeingültiges über sie aussagbar? […] Gibt es nun wenigstens ein konkretes Gut, das sich als unantastbar in allen denkbaren Handlungen erweist?“74 Welzel benannte als solches die Autonomie des Menschen. Er legte Wert darauf, dass es sich hierbei nicht um einen „abstrakten Wert“ im Sinne des klassischen Naturrechtsdenkens handele, sondern um ein „konkretes Gut“.75 Der Unterschied war im Ergebnis jedoch mehr quantitativer, denn qualitativer Art: Welzel begründete nicht eine Vielzahl von Grundsätzen, die das Recht verwirklichen sollte, sondern beschränkte den metaphysischen Kern des Rechts allein auf das Moment der Autonomie des Menschen.76 Mit ihr füllte er den Begriff der „Existenz“ materiell auf: Durch die Autonomie könnten die Menschen „einen letzten, von allen Mittel-Zweckbeziehungen unabhängigen Sinn für sich erringen.“77 Er deutete jedoch auch die Möglichkeit weiterer Konkretisierung an: Die Autonomie sei nur ein „Grundprinzip“, die „nähere Bestimmung muß der Zukunft vorbehalten bleiben. Gelänge es so, ein unantastbares Gut des Handelns näher zu bestimmen, so wäre die Sehnsucht des Naturrechts nicht vergeblich gewesen.“78 Nach diesem Vorstoß Welzels erschienen etwa zeitgleich in den Jahren 1954/1955 einige Schriften, die die Grundannahmen der Existenzphilosophie 71 

Hans Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus (1953), S. 322 (331 f.). Hierzu unten, S. 199 ff. 73  Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1951, S. 196. 74  Hans Welzel, ebd. 75  Hans Welzel, ebd. 76  In seinen strafrechtlichen Schriften blieb der Freiheitsbegriff allerdings laut ­Oliver Sticht inhaltsarm und mündete insbesondere nicht in der Forderung nach individueller Selbstbestimmung. Für die Begründung der Menschenwürde als Kern des Rechts habe sich Welzel mehr auf den verpflichtenden Charakter eines objektiven Gewissens gestützt als auf den Gedanken der Autonomie, Oliver Sticht, Sachlogik als Naturrecht?, 2000, S. 333 f. Zur Bedeutung des Gewissens für die Rechtsbegründung in den Naturrechtsdebatten nicht nur bei Welzel ausführlich Kapitel 6, S. 292 ff. 77  Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1951, S. 196. 78  Hans Welzel, ebd. 72 

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nicht ablehnten, sondern auf ihrer Basis eine Rechtsphilosophie zu entwickeln versuchten. Zu nennen ist hier insbesondere die Habilitationsschrift Werner Maihofers „Recht und Sein“ (1954), ein Buch von Georg Cohn mit dem Titel „Existenzialismus und Rechtswissenschaft“ (1955) sowie die Aufsätze im ­Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (ARSP) von Erich Fechner und – in eher skeptischer Haltung – von dem Philosophen Johannes Thyssen.79 Allen darin vertretenen Auffassungen war die Anerkennung der Geschichtlichkeit gemeinsam, ebenso eine starke Betonung, dass dem sich daraus ergebenden Relativismus auch ein Gutes innewohne: „Das Wagnis der wertorientierten Entscheidung wird dem Menschen nicht genommen“,80 lautet ein Satz Fechners, mit dem er diese Haltung zum Ausdruck brachte. Und dennoch: Sich vollständig zu einer relativistischen Rechtslehre zu bekennen, war für keinen der Verfasser denkbar. Dies lässt sich besonders deutlich am Werk Maihofers beobachten. Maihofer (1919–2009) war ein Schüler Erik Wolfs und ließ sich mit seiner Habilitationsschrift tief auf die Philosophie Martin Heideggers ein. Er versuchte, auf ihrer Grundlage eine Rechtslehre zu entwickeln, wobei er Heidegger für seine Ignoranz gegenüber dem Recht und der Sphäre des Öffentlichen scharf kritisierte. Ihm ging es darum nachzuweisen, dass der Mensch in der sozialen Sphäre nicht stets ein uneigentliches Dasein führe, wie Heidegger es angenommen hatte. Maihofer ging davon aus, dass der Mensch Individuum und soziales Wesen zugleich sei und dass damit auch die soziale Welt zum eigentlichen Dasein des Menschen gehöre. Das Sein des Menschen verwirkliche sich gerade auch im sozialen Leben und damit im Recht. Maihofer sah das Recht als „Bedingung der Möglichkeit des Selbstseins im Alssein“.81 Das Recht sollte es ermöglichen, dass die Menschen sowohl ihre individuelle Einzigartigkeit als auch ihr soziales Wesen entfalten konnten. Es folgte damit zwei Leitlinien: Es sollte die Menschen gerade in ihrer Unterschiedlichkeit ansprechen, also in ihrer einzigartigen Individualität und in ihren verschiedenen gesellschaftlichen Rollen. Es sollte sie aber auch in ihrer Gleichheit wahrnehmen, die durch die wiederkehrenden Muster in der sozialen Welt erzeugt werde. Wie die Gewichte hierbei verteilt werden sollten, war Maihofer zufolge etwas, was zeit- und kontextabhängig entschieden werden musste. Das Recht war damit ein Produkt historisch kontingenter Entscheidungen. Maihofer ließ keinen Zweifel daran, dass das Recht etwas historisch Wandelbares und von Menschen Geschaffenes war. Die Frage des „richtigen Rechts“ beschäftigte ihn dennoch.82 Wie ein solches bestimmt werden könne und welche Bedeutung ihm zukam, deutete Maihofer 79  Johannes Thyssen, Staat und Recht in der Existenzphilosophie, ARSP 41 (1954/55), 1–18; Erich Fechner, Naturrecht und Existenzphilosophie, ARSP 41 (1954/55), 305–325. 80  Erich Fechner, Die Bedeutung der Gesellschaftswissenschaft (1952), S. 257 (279). 81  Werner Maihofer, Recht und Sein, 1954, S. 121. 82  Werner Maihofer, ebd., S. 120.

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in seinem Buch nur an. Das Recht sollte „ontologisch“ fundiert sein, das heißt, es sollte an der „vorgezeichneten“ sozialen Ordnung orientiert sein. Er ließ den Begriff der „sachlogischen Strukturen“ und der „Natur der Sache“ fallen und sprach von einem „institutionellen Naturrecht“.83 Dies war konsequent. Maihofer betonte die Eingebundenheit der Menschen in eine soziale Umwelt, deren Strukturen und Normen zwar wandelbar waren, vom Einzelnen jedoch nur bedingt änderbar. Es gebe eine „vorgezeichnete Ordnung“, die dem Gestaltungsspielraum des Einzelnen entzogen sei. Maihofer argumentierte, dass die Menschen gerade auch in dieser quasi-objektiven sozialen Sphäre ihre Existenz verwirklichen und zu einer „Eigentlichkeit des Alsseins“ gelangen sollten. Dies sei „Grund und Ziel des Rechts“ und erfordere die „Erfüllung der aus dem umgreifenden Seinszusammenhang der Sozialwelt vorgezeichneten Sozialgestalten“.84„Richtiges Recht“ sollte Phänomene bestätigen und schützen, die sich in dem jeweiligen historischen Moment als objektive Wirklichkeit darstellen – als eine „Natur“. Maihofer verwendete den Begriff der „Natur“ fast durchgängig in Anführungszeichen. Dass es sich bei den zu einer objektiven Wirklichkeit verdichteten gesellschaftlichen Strukturen nicht um „natürliche“ Phänomene im eigentlichen Sinne handelte, sondern um kulturelle, war ihm bewusst. Die Begriffe „Natur“ und „Kultur“ waren für ihn allerdings austauschbar: „In dieses menschliche Universum der Kultur tritt der Mensch mit seiner Weltwerdung ein, als die Ordnung seiner ‚zweiten Natur‘.“85 Ob „Natur“ oder „Kultur“: Die Ordnung enthielt quasi-objektive Momente, die durch „richtiges Recht“ geschützt und erhalten werden sollten. Auch bei Erich Fechner gingen Naturrecht und Kulturrecht in der Auseinandersetzung mit der Existenzphilosophie ineinander über. In einem Aufsatz im Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie entwickelte er die Figur des „werdenden und gewagten Naturrechts“.86 Mit der Existenzphilosophie ging er von der prinzipiellen Geschichtlichkeit des Rechts aus. Recht komme stets durch menschliche Entscheidungen zustande. Allerdings seien die Menschen bei diesen Rechtsentscheidungen nicht vollständig frei. Er ging davon aus, dass es soziologisch feststellbare Konstanten in der Geschichte gebe, die dem Menschen nicht beliebig zur Disposition stünden und ihn rein faktischen bänden. Daneben gebe es aber auch normative Anforderungen. Fechner dachte hierbei nicht an metaphysische Normen, sondern an solche, die sich aus der Geschichte ergäben: Die Menschen seien in ihren Entscheidungen stets gebunden an Errungenschaften vorangegangener Rechtskämpfe. In diesen hätten die Menschen ein Stück Wahrheit geschaffen, die nun für die folgenden Generationen bindend sei. So 83 

Werner Maihofer, ebd., S. 121. Werner Maihofer, ebd., S. 117. 85  Werner Maihofer, ebd., S. 110. 86  Erich Fechner, Naturrecht und Existenzphilosophie, ARSP 41 (1954/55), 305–325. 84 

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entstehe im Laufe der Geschichte ein Naturrecht, das sich auch in der Zukunft weiterentwickele. Welche Rechtsschöpfungen als so wertvoll angesehen werden müssten, dass sie Bindungswirkung entfalteten, ergebe sich aus der „Existenz“ selbst: „Die unbekannte, aber eigentlichste [Möglichkeit der Entscheidung] zu wählen, wird damit zur eigentlichen Aufgabe des Menschen.“87 Die Entscheidung selbst erfolge ins Ungewisse. Erst im Nachhinein lasse sich erkennen, ob die Entscheidung bewahrenswertes Recht geschaffen habe beziehungsweise, in existenzphilosophischer Sprechweise, „wahrhaft etwas entbirgt“.88 Ähnlich wie Welzel beschrieb Fechner das Recht damit als „in seinem Ursprung subjektiv, in seinem Ziel aber objektiv.“89 Mit dem „werdenden Naturrecht“ wollte Fechner ohne Rückgriff auf metaphysische Annahmen begründen, warum Werte, die sich im Laufe der Geschichte herausgebildet hatten, als bindend angesehen werden müssten. Es handelte sich um einen eindeutig kulturrechtlichen Ansatz. Dennoch finden sich auch in der Theorie Fechners Hinweise auf normative Vorstellungen mit objektiv-überzeitlichem Charakter. Er deutete zum einen ein teleologisches Geschichtsverständnis an, das dem Coings ähnlich war: Durch die existentiellen Entscheidungen, die die Menschen in den Rechtskämpfen der Geschichte getroffen hätten, werde „[d]er Mensch […] zum Erfüller eines Objektiven, das auf ihn zukommt, weil es ihm zukommt, das sich durch ihn vollzieht und zugleich von ihm mitentschieden wird.“90 Verräterisch war zum anderen seine Wortwahl: Fechner sprach davon, dass sich in der Entscheidung „wahrhaft etwas entbirgt“. „Entbergen“ konnte sich aber nur etwas, das zuvor verborgen war. Es wurde nicht erst durch die Entscheidung von den Menschen in die Welt gesetzt, sondern war bereits da. Zudem fällt an seinen Worten auf, dass das „etwas“ das handelnde Subjekt in seiner Satzkonstruktion war, nicht der in der „Ungewiss­ heit“ eine Entscheidung „wagende“ Mensch. Genau auf diesen Punkt wies Hans Kelsen in seiner ersten Intervention in die deutsche rechtsphilosophische Diskussion nach 1945 hin. Er veröffentlichte 1957 im Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie einen umfassenden Verriss des Buches „Existenzialismus und Rechtswissenschaft“ von Georg Cohn und äußerte sich darin zu den Versuchen, die Existenzphilosophie für die Rechtsphilosophie fruchtbar zu machen. Während die Existenzphilosophie in Deutschland für ihren konkret-situativen Relativismus kritisiert und damit in die Nähe des Positivismus gestellt wurde,91 wies Kelsen von Kalifornien aus da87 

Erich Fechner, ebd., S. 323. Erich Fechner, ebd., S. 323. 89  Erich Fechner, ebd., S. 325. 90  Erich Fechner, ebd., S. 323. 91  So zum Beispiel Adolf Süsterhenn, Die Wiederherstellung von Freiheit und Recht als politische Aufgabe der Gegenwart (1946), in: Schriften, 1991, S. 1 (6 ff.); Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1951, S. 190. 88 

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rauf hin, dass auch die existenzphilosophische Rechtsphilosophie letztlich von objektiven Werten ausgehe. Sie sei damit schlicht eine Spielart des Naturrechts, „ein echtes Kind der wieder auferstandenen Naturrechtslehre, die eine Rechtsmetaphysik, keine Rechtswissenschaft ist.“92 Tatsächlich versuchten Welzel, Maihofer und Fechner in Auseinandersetzung mit der Existenzphilosophie das metaphysische Naturrechtsdenken zurückzudrängen. Sie lehnten Naturrechtslehren ab, wie sie nach 1945 von katholischer Seite oder auch von Coing formuliert worden waren. Wenn Kelsen davon sprach, dass ihr Versuch, die Existenzphilosophie für das Recht fruchtbar zu machen, ein „echtes Kind“ eben dieser Naturrechtslehren sei, ist dies dennoch zutreffend: Sie drängten die Metaphysik zurück, lösten sich aber nicht von der Idee, dass es einen objektiven Kern des Rechts geben müsse. Welzel reduzierte den metaphysischen Kern des Rechts auf ein Minimum. Er sah das Recht nicht mehr einer Vielzahl von Werten verpflichtet, sondern allein der Autonomie des Menschen. Maihofer und Fechner verzichteten auf solche ethischen Prämissen. Sie zogen die Existenzphilosophie heran, um einen kulturrechtlichen bzw. im Falle Maihofers auch einen ontologischen Kern des Rechts zu begründen.

3. Ein schmaler Konsens: Die Lehre von der Natur der Sache Ein solcher ontologischer Kern des Rechts war unter Rechtswissenschaftlern, die sich in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren mit der Naturrechtsfrage auseinandersetzten, breit anerkannt. In den Diskussionen, die Coings säkulare Naturrechtsentwürfe nach sich zogen, herrschte trotz aller Skepsis gegenüber dem Naturrecht Einigkeit, dass sich zumindest aus der „Natur der Sache“ Leitlinien für das positive Recht ergäben. „Die Gerechtigkeit verweist uns auf die Natur der Sache. Dadurch geht die Seinsordnung, soweit sie dem Menschen erkennbar ist, in gewissem Sinn in die Rechtsidee ein. Die Natur der Sache wird zur Norm“, schrieb Coing in den „Grundzügen der Rechtsphilosophie“.93 Es gebe „Grundordnungen menschlichen Seins, die in allem geschichtlichen Wandel doch gewisse Strukturformen und Prinzipien […] erkennen lassen, die wir als dauernd gültig bejahen müssen“, so Karl Larenz.94 Erich Fechner beschrieb das Recht als ein „Sollen, das im Sein der sozialen Verhältnisse potentiell angelegt ist, im Sinne einer aus den Verhältnissen wirkenden Gestaltungskraft.“95 Maihofer sprach von einem „institutionellen Naturrecht“.96 „Sachlogische Gesetzlichkeiten“ gäben dem Recht „einen festen, 92 

Hans Kelsen, Existentialismus in der Rechtswissenschaft?, ARSP 43 (1957), 161 (182). Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 147. 94  Karl Larenz, Zur Beurteilung des Naturrechts (1947), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 27 (32). 95  Erich Fechner, Die Bedeutung der Gesellschaftswissenschaft (1952), S. 257 (273). 96  Werner Maihofer, Recht und Sein, 1954, S. 121. 93 

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jeder Willkür entzogenen Halt“, heißt es bei Welzel97 und auch Wieacker forderte eine „sachlogische Orientierung an den Dingen und Menschen“ bei der Bestimmung dessen, was Recht sei.98 Die Figur der „Natur der Sache“ war für die Rechtsphilosophie nicht neu, sie konnte auf eine seit dem frühen 19. Jahrhundert andauernde Geschichte zurückblicken.99 Dass sie nach 1945 in der säkularen rechtsphilosophischen Diskussion wieder aufgegriffen wurde, war parallelen Bewegungen geschuldet. Hans Welzel hatte mit ihrer Hilfe bereits in den 1930er Jahren die finale Handlungslehre begründet und führte seine Überlegungen sowohl auf dem Gebiet des Strafrechts als auch allgemein rechtsphilosophisch fort.100 Radbruch veröffentlichte 1948 einen Aufsatz zur „Natur der Sache als juristische Denkform“, in welchem er forderte, dass der Gesetzgeber die Wirklichkeit idealtypisch bei der Gesetzgebung berücksichtigen müsse, wolle er gerechte Regelungen schaffen.101 Er knüpfte an Diskussionen um ein soziales Arbeitsrecht und ein sozial-liberales Strafrecht der 1920er Jahre an. Coing wiederum griff auf die „Natur der Sache“ als integralen Bestandteil phänomenologischer Wertphilosophie zurück.102 Die „Natur der Sache“ war für ihn synonym mit dem Phänomen und stellte damit ein Bindeglied zwischen Wirklichkeit und Naturrecht dar. Karl Larenz verblieb mit seinem normativen Verständnis von „Grundordnungen menschlichen Seins“ in der Struktur nationalsozialistischen konkreten Ordnungsdenkens. Schon dieser kurze Aufriss zeigt, dass die fachlichen Ausgangspunkte und das, wofür die „Natur der Sache“ fruchtbar gemacht werden sollte, sehr unterschiedlich waren. Es verwundert daher nicht, dass auch das, was unter der „Natur der Sache“ verstanden wurde, alles andere als einheitlich war. Die Figur der „Natur der Sache“ konnte mit sehr unterschiedlichen Konzepten im Umgang mit dem Recht verbunden sein. Sie konnte deskriptiv oder normativ verstanden werden, sie konnte Bestandteil eines positivistischen wie auch eines metaphysischen Rechtsdenken sein. Nach 1945 war Radbruch der einzige unter den Autoren, die zur „Natur der Sache“ publizierten, der der deskriptiv-positivistischen Variante zugeneigt war. Ihr Gehalt sei ermittelbar, indem man in Anschauung der sozialen Wirklichkeit Idealtypen konstruiere, schrieb er in seinem Aufsatz von 1948. Sie sei damit „Ergebnis einer streng rationalen  97 

Hans Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus (1953), S. 322 (337). Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952, S. 357.  99  Siehe zur Geschichte Gustav Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform (1948), GRGA Bd. 3, 1990, S. 229–254; Günter Stratenwerth, Das rechtstheoretische Problem der Natur der Sache, 1957, S. 5–7; v. a. aber ausführlich Ralf Dreier, Zum Begriff der „Natur der Sache“, 1965, S. 35–66. 100 Dazu Monika Frommel, in: Udo Reifner u.a. (Hg.), Strafjustiz und Polizei im Dritten Reich, 1984, S. 86–96. 101  Gustav Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform (1948), GRGA Bd. 3, 1990, S. 229–254. 102  Hierzu oben, S. 183 ff.  98 

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Methode“.103 Eine eigenständige Geltung sollte ihr nicht zukommen: „[S]ie gilt […] nur, soweit eine Rechtsquelle ihr ausdrücklich oder stillschweigend Raum gewährt.“104 Sie sei zudem Mittel der Gesetzesauslegung, allerdings nur „soweit der von ihr ermittelte Sinn des Lebensverhältnisses und die Idee, auf die sie gründet, mit dem Geiste des Gesetzes nicht im Widerspruch steht.“105 Rekurriert werden solle dabei, wann immer möglich, auf die Regelungsidee des konkreten historischen Gesetzgebers. Radbruchs deskriptiv-positivistischer Ansatz hatte mit dem der übrigen Autoren wenig gemein.106 Sie griffen seine Gedanken kaum auf,107 was nicht verwundern muss: Anders als Radbruch galt ihr Interesse der Frage, ob mit Hilfe der „Natur der Sache“ ein stabiler Kern des Rechts begründet werden könne, welcher den Gesetzgeber band. Was die „Natur der Sache“ genau ausmachte und wie weitreichend sich aus ihr Normen ableiten ließen, wurde unter ihnen allerdings sehr unterschiedlich gesehen. Am weitesten ging Coing. Er machte keinen Unterschied zwischen der „Natur der Sache“ und dem „Wesen des Menschen“ oder dem „Wesen des Rechts“, aus denen im traditionellen Naturrechtsdenken überpositive Normen abgeleitet wurden. Die „Natur der Sache“ war für ihn schlicht ein Begründungsmodus des Naturrechts: „Hinsichtlich der Materie des Rechts hat man nach einer natürlichen, im sozialen Leben selbst erkennbaren Ordnung des Zusammenlebens der Menschen gefragt. Am tiefsinnigsten ist diese Frage von der christlichen Sozialphilosophie gestellt worden; sie erblickte im 103  Gustav Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform (1948), GRGA Bd. 3, 1990, S. 229 (235). Hierin liegt der Hauptunterschied zu seiner Konzeption von 1932, wo er die Figur der „Natur der Sache“ auf Grundlage der Annahme, dass Sein und Sollen erkenntnistheoretisch strikter Trennung bedurften, ablehnte: „[E]ine solche Schau der Idee in dem Stoffe, den sie zu formen bestimmt ist, ist ein Glücksfall der Intuition, nicht eine Methode der Erkenntnis. Für das methodische Erkennen bleibt es also dabei, daß Sollenssätze nur aus anderen Sollenssätzen deduktiv abgeleitet, nicht auf Seinstatsachen induktiv gegründet werden können.“, Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie (1932), 2003, S. 14. Dass die „Natur der Sache“ nur durch Intuition erkennbar sei, widerrief er in seinem Aufsatz 1948 ausdrücklich. Einen Bruch mit der Erkenntnistheorie des südwestdeutschen Neukantianismus stellte dies jedoch nicht dar, er stützte sich maßgeblich auf Max Weber und Heinrich Rickert. 104  Gustav Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform (1948), GRGA Bd. 3, S. 229 (236). 105  Gustav Radbruch, ebd., S. 236. Hier ist eine vorsichtige Öffnung hin zu einem objektiv-teleologischen Rechtsdenken zu beobachten, dem er schon vor 1933 nicht abgeneigt war. 106  So schon Ulfrid Neumann, in: Karl Graf Ballestrem (Hg.), Naturrecht und Politik, 1993, S. 69 (83 ff.). 107  Knappe Erwähnung bei Günter Stratenwerth, Das rechtstheoretische Problem der „Natur der Sache“, 1957, S. 20; keine Erwähnung bei Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1951; ders., Naturrecht und Rechtspositivismus (1953). In der einzigen eingehenden Auseinandersetzung mit Radbruchs Konzeption in der Literatur der späten 1950er Jahre steht die Kritik an ihrem positivistischen Charakter im Mittelpunkt: Werner Maihofer, Die Natur der Sache, ARSP 44 (1958), 145 (148 ff.).

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sozialen Leben und seinen Institutionen eine Verwirklichung der Gedanken Gottes, der Schöpfungsordnung, die Gott in die Welt gesetzt hat. […] In der praktischen Jurisprudenz ist der gleiche Gesichtspunkt unter der bescheideneren Bezeichnung ‚Natur der Sache‘ hervorgetreten.“108

Eine solche Gleichsetzung von Naturrecht und der Lehre von der „Natur der Sache“, blieb in einer Debatte, die von Naturrechtsskepsis beherrscht war, nicht unkritisiert. „Durch keine Ideenschau, keine Entelechie und keine apriorischen Geschichtskonstruktionen kommen wir mehr über die Kontingenz der geschichtlichen Gehalte hinweg“, schrieb Hans Welzel.109 Allerdings bestünden „unabhängig vom Streit und den Zweifeln über die materialen Wertfragen […] bestimmte ontologische Grundgegebenheiten, an die jede denkbare Wertung gebunden ist und die darum jeder Wertung Grenzen setzt.“110 Diese „Grundgegebenheiten“ sah Welzel zum einen in den „Gesetzen der physischen Natur“, zum anderen in dem, was er als „sachlogische Stukturen“ bezeichnete. Er bezeichnete sie im Gegensatz zum Naturrecht als „immanente Grenzen des positiven Rechts“.111 Es handelte sich um Vorgaben, die in den Regelungsentscheidungen des Gesetzgebers und im Regelungsobjekt selbst begründet waren. Was damit gemeint war, erklärte Welzel anhand strafrechtlicher Beispiele: Der Gesetzgeber etwa sei frei, sich zu entscheiden, Strafe an Schuld zu koppeln. Tue er dies, sei er aber in der Ausgestaltung des Strafrechts weitreichend gebunden, denn der Begriff der Schuld sei „jeder Gesetzgebung vorgegeben“. „Er zeichnet ihr eine bestimmte Regelung vor, die der Gesetzgeber treffen oder verfehlen, die er aber nicht beliebig abändern kann und die er noch viel weniger willkürlich schafft.“112 Welzel hob in Abgrenzung zum klassischen Naturrechtsdenken den antimetaphysischen Charakter seiner Lehre hervor. Die „sachlogischen Strukturen“ entsprängen den Vorgaben des positiven Rechts selbst, in der Entscheidung, was er zum Regelungsobjekt mache und welchen „sachlogischen Strukturen“ er sich ausliefere, sei der Gesetzgeber somit frei. „Naturrecht ist nicht außerhalb des positiven Rechts oder über ihm zu finden, sondern steckt als immanente Grenze in ihm selbst darin, wir müssen nur den Blick dafür öffnen.“113 Er betonte den Eigenwert des positiven Rechts und vollzog mit seiner Lehre eine Öffnung gegenüber dem Relativismus. Uneingeschränkt war diese Öffnung jedoch nicht. Welzel hielt mit der Idee der Autonomie des Menschen an einem metaphysischen Kern des Rechts fest. Sein Schüler Günter Stratenwerth, der Welzels Lehre fortentwickelte, hielt ebenfalls an einem materiellen 108 

Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 92 f. Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1951, S. 194. 110  Hans Welzel, ebd., S. 197. 111  Hans Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus (1953), S. 322 (334). 112  Hans Welzel, ebd., S. 335. 113  Hans Welzel, ebd., S. 337 [Hervorhebungen im Original]. 109 

200

Kapitel 5: Von säkularer Naturrechtslehre zur Theorie des Richterrechts

Kern des Rechts fest, begründete diesen jedoch nicht metaphysisch, sondern kulturrechtlich.114 Wie Welzel sah auch Larenz in der „Natur der Sache“ eine Alternative zum Naturrechtsdenken. Das, was er sich unter dieser Figur vorstellte, war jedoch etwas anderes als die „sachlogischen Strukturen“, mit denen Welzel einen bedingten Relativismus begründet hatte. Auch Larenz ging davon aus, dass den Regelungsobjekten selbst Normen innewohnten, an welche der Gesetzgeber gebunden sei. Er dachte hierbei jedoch nicht von den Rechtsbegriffen aus, mit denen der Gesetzgeber sein Regelungsobjekt erst geschaffen hatte, sondern von in der Gesellschaft vorgefundenen „Ordnungen“. „Familie, Berufsordnung und staatliches Gemeinwesen“ nannte er als Beispiele für „Grundordnungen menschlichen Seins, die in allem geschichtlichen Wandel doch gewisse Strukturformen und Prinzipien eines ihnen gemäßen Verhaltens erkennen lassen, die wir als dauernd gültig bejahen müssen.“115 In seiner „Methodenlehre der Rechtswissenschaft“ (1960) führte er aus, dass es sich bei der „Natur der Sache“ nicht um bloße „Faktizität“ handele, die den Gesetzgeber deswegen binde, weil sie für diesen ohnehin unveränderbar sei. Sie bezeichne vielmehr den Sinn, der sich in den Lebensverhältnissen verwirkliche und der eine bestimmte Ordnung fordere.116 Diesen „Grundordnungen“ wollte er unmittelbar Normen entnehmen. Gegen eine solche Institutionenlehre sprach sich Welzel energisch aus. Es handele sich um eine „Rezeption des aristotelisch-thomistischen entelechialen Naturbegriffs […], nach welchem Regel und Ordnung keimhaft im Sein enthalten sind. […] Das Spiel des Naturrechts begänne von neuem!“117 Der Unterschied zwischen beiden Ansätzen lag im Umgang mit der Geschichtlichkeit des Rechts und damit einhergehend in der Art und Weise, wie ein normativer Kern des Rechts begründet wurde. Welzel wollte der Zeit- und Kontextabhängigkeit des Rechts dadurch Rechnung tragen, dass er dem zeitlich wandelbaren positiven Recht selbst die Vorgaben für dessen weitere Ausgestaltung entnahm. Er kritisierte das Naturrechtsdenken deshalb, weil es objektive Normen nicht dem positiven Recht selbst, sondern der Ethik oder der Religion entnehme. Ihm ging es darum, die Metaphysik im Recht zu begrenzen. Die Institutionenlehre, wie Larenz oder auch Fechner sie vertraten, zielte hingegen darauf, der Geschichtlichkeit des Rechts durch dessen Bindung an die sich wandelnden Lebensverhältnisse Rechnung zu tragen. Diese Abhängigkeit von den Lebensverhältnissen begründe 114 

S. 18.

115 

Günter Stratenwerth, Das rechtstheoretische Problem der „Natur der Sache“, 1957,

Karl Larenz, Zur Beurteilung des Naturrechts (1947), S. 27 (31 f.). Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, S. 309 f. 117  Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1951, S. 195. Institutionenlehren wurden quer durch alle Naturrechtsdebatten vertreten, siehe dazu und zu den mit ihnen verbundenen Wertvorstellungen Kapitel 6, S. 238 ff. 116 

II. Naturrechtsskepsis – und dennoch Suche nach etwas Objektivem im Recht

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zugleich „eine Bindung des Rechts an objektive (sachgegebene) Zusammenhänge, die es der menschlichen Willkür und Eigenmacht weitgehend entzieht.“118 Gegen das Naturrechtsdenken wandten sie sich nicht deshalb, weil es das Recht metaphysisch begründete, sondern weil es die Normen aus „abstrakten“ Ideen, wie dem „Wesen des Menschen“ oder dem „Wesen des Rechts“ ableite. Sie setzten ihm ein Denken in „konkreten Ordnungen“ entgegen, nun freilich nicht mehr unter nationalsozialistischen Vorzeichen.119 Während Welzel den materiellen Kern des Rechts getrennt von seiner Rechtsontologie axiomatisch einführte, begründeten Larenz und Fechner einen solchen direkt aus den Lebensverhältnissen: „Sollen ist am Sein, rechtliches Sollen am sozialen Sein ausgerichtet.“120 Trotz dieser Unterschiede sollte in beiden Konzeptionen mit der Lehre von der „Natur der Sache“ eine Dynamisierung des Naturrechtsdenkens herbeigeführt werden. Welzel, Larenz und Fechner ging es darum, den zeitlichen Wandel und einen stabilen Kern des Rechts zusammenzudenken. Die Konzepte unterschieden sich und auch die Reichweite und Art ihrer Metaphysikkritik. In einem waren sie sich jedoch sehr nah: Sie wandten sich nicht nur gegen die Art und Weise, wie objektive Normen im traditionellen Naturrechtsdenken begründet wurden. Sie wandten sich auch gegen die strikte Entgegensetzung von Naturrecht und positivem Recht. Die objektiven Normen, die durch die Lehre der „Natur der Sache“ gewonnen worden waren, sollten nicht bloß eine Summe oberster Rechtsgrundsätze darstellen, welche der Geltung ungerechter Gesetze eine Schranke setzte. Im Gegenteil: Der Verstoß gegen „sachlogische Strukturen“ sollte lediglich zur Folge haben, dass die Gesetzgebung weniger effektiv war, bzw. ihr Ziel nicht erreichen konnte.121 „[I]hre Nichtbeachtung macht die gesetzliche Regelung zwar sachwidrig, widerspruchsvoll, lückenhaft, aber nicht ungültig.“122 Dies bedeutete jedoch nicht, dass sich aus der „Natur der Sache“ lediglich Leitlinien ergaben, die von keinerlei Bedeutung waren, falls sich der Gesetzgeber entschied, sie nicht zu beachten. Die aus der „Natur der Sache“ abgeleiteten Normen sollten vielmehr für die Auslegung und Anwendung der Gesetze herangezogen werden. Sie sollten also nicht das positive Recht bloß im Ausnahmefall extremer Ungerechtigkeit in seine Schranken weisen, sondern auch im Regelfall innerhalb des positiven Rechts ihre Wirkung entfalten. Die Entgegensetzung von Naturrecht und positivem Recht sei ein „Mißverständnis“, schrieb Larenz. 118  Erich Fechner, Die Bedeutung der Gesellschaftswissenschaft (1952), S. 257 (268) [Hervorhebung im Original]. 119  Auch die dazugehörige Kritik an der „Abstraktheit“ des Naturrechts hatte im Nationalsozialismus eine beträchtliche Rolle gespielt, siehe Fabian Wittreck, Nationalsozialistische Rechtslehre und Naturrecht, 2008. 120  Erich Fechner, Die Bedeutung der Gesellschaftswissenschaft (1952), S. 257 (273). 121  Hans Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus (1953), S. 322 (334). 122  Hans Welzel, ebd., S. 337.

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„Von diesem Mißverständnis aber hat die Kritik des Naturrechts bis heute gelebt. Sie bleibt berechtigt, soweit das Naturrecht sich selbst als fertiges Normensystem mißversteht. Aber sie trifft es nicht, wenn und soweit es die immanente Grundlage jedes geschichtlich verwirklichten Rechts darstellt.“123 Die Wirkung, die Larenz, Welzel und auch sein Schüler Stratenwerth der „Natur der Sache“ zuschrieben, war dezenter als die des Naturrechts, zugleich aber weitreichender. Es ging ihnen nicht darum, Normen zu begründen, die das positive Recht ausnahmsweise brachen, sondern solche, die im positiven Rechts selbst ihre Wirkung entfalteten. Dem ‚Recht‘ auf diese Weise Geltung zu verschaffen, war Aufgabe der Jurisprudenz. Die Lehre von der „Natur der Sache“ sollte der Jurisprudenz damit eine erhebliche Autorität gegenüber dem Gesetzgeber verleihen: „Die Orientierung an der Natur der Sache befreit die Rechtswissenschaft nicht von der Bindung an das positive Recht, wohl aber aus ihrer Abhängigkeit von den Lücken, Zweideutigkeiten und Widersprüchen des Gesetzes“,124 schrieb Stratenwerth. Es sei ihre Aufgabe, den Gesetzgeber „besser zu verstehen, als er sich selber verstanden hat.“125 Die Aufgabe, die sachlogischen Strukturen im Rechtsstoff herauszuarbeiten, gebe der Wissenschaft erst „ihre volle Verantwortung gegenüber dem Recht, den Ernst ihrer Tätigkeit und den Glanz ihrer Würde“, heißt es auch bei Welzel. Sie sei „zu ihrem Teile Hüterin des Rechts gegenüber dem Gesetzgeber“.126

4. Zusammenfassung: Verengung des Naturrechts Die Diskussion der Naturrechtsfrage in der akademischen Rechtsphilosophie stand im Zeichen der Naturrechtsskepsis. Das Naturrecht mit seinen überzeitlich gültigen Werten galt nicht als zeitgemäß, da es die Geschichtlichkeit des Rechts und der Gerechtigkeitsvorstellungen nicht angemessen berücksichtige. Auf der Suche nach Möglichkeiten einer Begründung dafür, dass es dennoch einen Kern des Rechts gebe, über den der Gesetzgeber nicht verfügen dürfe, wurden verschiedene Wege eingeschlagen. Trotz einiger Differenzen gab es hierbei drei Tendenzen. Erstens veränderte sich die Begründung übergesetzlicher Normen. Kulturrecht, Ontologie und Institutionenlehre waren die Alternativen, die geschichtsphilosophisch, existenzphilosophisch oder mit Hilfe normativer Soziologie begründet wurden. Bei allen Unterschieden im Detail fällt doch auf, dass nun historische Errungenschaften als schützenswert in den Mittelpunkt rückten und die Ableitung von Normen aus der „Natur der Sache“ breit anerkannt wurde. 123 

124 

S. 31.

125  126 

Karl Larenz, Zur Beurteilung des Naturrechts (1947), S. 27 (31). Günter Stratenwerth, Das rechtstheoretische Problem der „Natur der Sache“, 1957, Günter Stratenwerth, ebd. Hans Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus (1953), S. 322 (335).

II. Naturrechtsskepsis – und dennoch Suche nach etwas Objektivem im Recht

203

Auch wenn dies eine Öffnung zu nicht-metaphysischen Rechtsbegründungen bedeutete, kann nicht davon gesprochen werden, dass sich die Autoren von der Metaphysik verabschiedeten. Kulturrechtliche und ontologische Ansätze kamen selbst nicht ohne metaphysische Annahmen aus, wollten sie dem Relativismus entgehen, oder sie wurden, wie bei Welzel, durch metaphysisch begründete Normen ergänzt. Die Diskussion, die sich um die Geschichtlichkeit des Rechts rankte, führte damit nicht zu einer vollständigen Lösung vom Naturrechtsdenken. Sie brachte allerdings eine bedeutende Veränderung mit sich: Statt detaillierter Normenkataloge wurde es nunmehr nur noch als opportun angesehen, einen eng gefassten normativen Kern des Rechts zu benennen. In dieser ‚Verengung des Naturrechts‘ liegt die zweite Gemeinsamkeit zwischen den verschiedenen Ansätzen. Damit ging einher, dass auch der Anspruch, was übergesetzliches Recht leisten solle, minimiert wurde. Über die Begrenztheit der menschlichen Fähigkeiten, Gerechtigkeit zu erkennen und zu realisieren, bestand weitgehend Einigkeit. Abverlangt werden könne den Menschen nur, sich zu bemühen, Gerechtigkeit soweit zu verwirklichen, wie ihnen dies möglich war. Daran, dass es für das positive Recht eine Geltungsgrenze geben müsse, hielten die Autoren jedoch unter Verweis auf die Erfahrung des Nationalsozialismus fest. Nur eine soziale Ordnung, die das Ziel, Gerechtigkeit zu verwirklichen, nicht aus den Augen verliere, solle als Recht anerkannt werden, schrieb etwa Welzel. „Recht kann seinem Wesen nach nur Recht sein, auch das positive Recht!“127 Die dritte Tendenz, die sich in der Diskussion ausmachen lässt, führt weg von der Idee, dass es eines übergesetzlichen Rechts vor allem deswegen bedürfe, weil nur ein solches vor gesetzlichem Unrecht schützen könne. Die Diskussion um die „Natur der Sache“ als Alternative zum Naturrecht führte vielmehr eine neue Zielsetzung in die Rechtsphilosophie ein. Ein Recht, dass die „Natur der Sache“ beachtete, wurde als effektiver, aber auch als lebensnäher und damit gerechter beschrieben. Es ging in dieser Diskussion somit nicht mehr nur darum, dem Gesetzgeber eine Grenze zu setzen und auf diese Weise extremes Unrecht zu verhindern. Ziel war vielmehr die Optimierung des positiven Rechts durch eine Wissenschaft, welche die „sachlogischen Strukturen“ herausarbeitete und die Grundlage dafür schuf, dass die Gesetze in deren Licht ausgelegt und angewendet werden konnten. Während der Kanon der Normen, die das positive Recht binden sollten, verengt wurde, verbreiterte sich hiermit das Wirkungsfeld, das diesen Normen zuerkannt wurde.

127 

Hans Welzel, ebd., S. 338.

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Kapitel 5: Von säkularer Naturrechtslehre zur Theorie des Richterrechts

III. Vom Naturrecht zur Einzelfallgerechtigkeit: Übergang der Naturrechtsdiskussion in eine Diskussion um richterliche Rechtsschöpfung Mit der Anerkennung der Geschichtlichkeit des Rechts und der daraus folgenden Verengung des Naturrechts ging also auch ein Funktionswandel der Normen einher, die als materieller Kern des Rechts ausgemacht worden waren. Während anfangs ebenso wie in der katholischen und protestantischen Debatte das Naturrecht vor allem als Maßstab für Rechtskritik und Rechtspolitik gesehen wurde und eine Geltungsgrenze für das positive Recht markieren sollte, änderte sich der Zugriff im Laufe der 1950er Jahre. Es ging nun um die Bedeutung übergesetzlicher Normen für Auslegung und Rechtsanwendung und damit um die Kompetenzen und Aufgaben von Gerichten und Rechtswissenschaft. Das Verhältnis von übergesetzlichem Recht und positivem Gesetz wurde in diesem Zuge neu und anders bestimmt, als dies in den Naturrechtsentwürfen der ersten Nachkriegsjahre geschehen war. Die Diskussion veränderte ihren Charakter grundlegend: Sie bewegte sich nicht mehr im Feld der Rechtsphilosophie, sondern in dem der juristischen Methodenlehre. Aus dem Naturrecht wurde in diesem Zuge die Einzelfallgerechtigkeit.

1. Erste Verschiebungen: Hinwendung zu Methodenfragen bei Helmut Coing Die Bewegung vom Naturrecht zur Methodenlehre setzte früh ein. Sie deutet sich bereits in den Schriften an, die Helmut Coing zwischen 1947 und 1950 zur Naturrechtsfrage veröffentlichte. In dem 1947 erschienenen Werk „Die obersten Grundsätze des Rechts“ heißt es noch, das Naturrecht wende sich primär an den Gesetzgeber und weise ihm „den Weg zu einer gerechten, innerlich gerechtfertigten socialen Ordnung.“128 Naturrecht solle Maßstab für Rechtspolitik und Rechtskritik sein.129 1950 hingegen schrieb er, wichtiger als die Kritikfunktion des Naturrechts sei, „daß die Kenntnis solcher Grundsätze es uns erlaubt, die geltende Rechtsordnung in ihrem sittlichen Gehalt besser zu verstehen und sicherer zu handhaben, die Rechtsprechung in ihren Billigkeitserwägungen schärfer zu verfolgen und zu analysieren, damit subjektive Gerechtigkeit auf objektive Prinzipien zurückzuführen und an sie zu binden.“ Dies sei „die letzte Aufgabe allen Nachdenkens über das Recht.“130

128 

Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 61. Helmut Coing, ebd., S. 150 ff. 130  Helmut Coing, Vom Sinngehalt des Rechts, in: Ernst Sauer (Hg.), Forum der Rechtsphilosophie, 1950, S. 61 (83). 129 

III. Vom Naturrecht zur Einzelfallgerechtigkeit

205

Vergleicht man die beiden Hauptschriften Coings aus der Nachkriegszeit, „Die obersten Grundsätze des Rechts“ und „Grundzüge der Rechtsphilosophie“, so stechen Gemeinsamkeiten und Unterschiede gleichermaßen ins Auge. In beiden Schriften entwarf er naturrechtliche Normen und befasste sich mit ihrer rechtsphilosophischen Begründung. Zugleich beschäftigte er sich in beiden Schriften mit Fragen der juristischen Methodenlehre. Die Art und Weise, wie Coing die Funktion des Naturrechts beschrieb und das Verhältnis von überpositivem Recht und positivem Gesetz bestimmte, war dabei weitgehend identisch. Die Schwerpunktsetzung in den beiden Schriften war jedoch eine völlig andere.

a. Wertphilosophische Interessenjurisprudenz: Verhältnis überpositiver Normen und positiven Rechts bei Coing Coing betonte in beiden Schriften die grundsätzliche Eigenständigkeit des positiven Rechts gegenüber überpositiven Normen. Überpositives Recht sollte das Gesetz nur dann brechen können, wenn evident sei, „daß das betreffende Gesetz nicht aus Verpflichtung gegen die obersten Rechtswerte, aus Gerechtigkeitswillen, sondern aus Machtstreben oder Haß geschaffen ist“.131 Er folgte damit der Radbruchschen Formel und begründete mit Hilfe überpositiver Normen eine Geltungsgrenze für extrem ungerechte Gesetze. Jenseits des Ausnahmefalls extremen gesetzlichen Unrechts sollte dem positiven Gesetz Vorrang zukommen. Coing war hierin konsequent. Aus der Gesetzesbindung folge, dass sich Jurist/innen bei der Bestimmung dessen, was Recht ist, in erster Linie am Willen des historischen Gesetzgebers orientieren müssten: „Der Richter steht zum Gesetz ja nicht in der subjektiven Beziehung des Kunstbetrachters, sondern in der objektiv bestimmten des Dieners; er ist Organ der Gemeinschaft; deren Willen, wie er im Recht geschichtlich niedergelegt ist, soll er ausführen. Wie ein guter Musiker, der ein geschichtliches Stück aufführt eine werkgetreue Aufführung im Sinne des Autors erstreben muß, so muß auch der Richter das Recht im Sinne des geschichtlichen Urhebers auslegen.“132

Methodisch folgte er in beiden Schriften der Interessenjurisprudenz.133 Rechtsanwendung sei „nicht das Ergebnis eines rein logischen Processes, nämlich der Subsumtion des Lebenstatbestandes unter den Tatbestand des Gesetzes, son131  Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 152; ebenso ders., Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 258. 132  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 275; weniger deutlich in: Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 135, 142, 146. Der Vorrang der subjektiv-historischen Methode bedeutete nicht, dass objektiv-teleologische Methoden nicht (subsidiär) zum Zuge kommen sollten, vgl. Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 254. 133  Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 141 ff.; ders., Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 267 ff.

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dern eine – freilich gebundene – Willensentscheidung.“134 Auch hierbei hob er die Bindung an das positive Recht hervor: „Der Richter muß also gewissermaßen die gesetzgeberische Entscheidung als Gerechtigkeitsentscheidung ‚nacherleben‘ und daraus seine Entscheidung im Einzelfall finden.“135 Wie ernst ihm dies war, wird insbesondere darin deutlich, dass er eigens die Bedeutung der Verfassung für die Anwendung des einfachen Rechts hervorhob: „Die Erfordernisse dieser Methode lassen die große Bedeutung des Verfassungsrecht im Rahmen der Einzeldisciplinen der Rechtswissenschaft hervortreten. Denn die Verfassung wird in der Regel, wenn ihr ein Grundrechtsteil eingegliedert ist, nicht nur die politische Grundentscheidung enthalten, die politische Legitimität bestimmen, sondern auch wesentliche Erkenntnisquelle für die Auffassung der Rechtsgrundwerte sein, die der positiven Rechtsordnung zu Grunde liegt.“136

Mit diesem Hinweis auf die Bedeutung des Verfassungsrechts hebt sich Coing von den übrigen Naturrechtsdebattanten seiner Zeit ab.137 Diese operierten zumeist mit der Dichotomie von einem der Gerechtigkeit verpflichteten übergesetzlichem Recht und einem potentiell ungerechten gesetzlichem Recht. Verfassungsrecht spielte bei ihnen keine Rolle.138 Es zeigt sich bei Coing eine grundsätzliche Wertschätzung des positiven Rechts, wie sie in den nach 1945 verfassten Naturrechtsschriften kaum zu finden ist. Dies darf allerdings nicht dahingehend missverstanden werden, dass Coing einer positivistischen juristischen Methode folgte. Coing kombinierte die Methode der Interessenjurisprudenz139 mit Annahmen aus der materialen Wertphilosophie und aus der Geisteswissenschaftstheorie, welche in der ersten Jahrhunderthälfte im Gefolge Diltheys entwickelt worden war.140 Mit letzterer ging er davon aus, dass das positive Recht in seinem Gehalt nur verstanden werden könne, wenn man es als bezogen auf gewisse Werte begreift: „Eine geistige 134 

Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 142. Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 142; ebenso ders., Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 269. 136  Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 146 f. 137  Auch außerhalb der Naturrechtsdebatten wurde in der Privatrechtswissenschaft das GG zunächst wenig beachtetet, dies änderte sich erst nach dem Lüth-Urteil des BVerfG, Urteil v. 15.1.1958, BVerfGE 7, 198 ff. Eine Ausnahme war Hans Carl Nipperdey, der bereits 1949 die unmittelbare Drittwirkung bestimmter Grundrechte im Privatrecht forderte, dazu Thorsten Hollstein, Die Verfassung als „Allgemeiner Teil“, 2007, S. 196 ff. 138  Einzige Ausnahme war im Übrigen Gustav Radbruch, der die Anwendung übergesetzlichen Rechts durch die Gerichte nur deswegen für opportun erklärte, weil es noch keine verfassungsrechtlichen Regelungen zum materiellen Prüfungsrecht und zu dessen Maßstab gab, in: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105 (107). 139  Dass die Interessenjurisprudenz nach 1945 als belastet galt, wie Joachim Rückert, ZRG 125 (2008), S. 199 (232) feststellt, lässt sich an Coings Texten nicht nachweisen. Er problematisierte ihr Verhältnis zum NS nicht. 140  Zu ihrer Bedeutung in der Jurisprudenz Klaus Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, 1987. 135 

III. Vom Naturrecht zur Einzelfallgerechtigkeit

207

Schöpfung verstehen, bedeutet […], sie aus den Grundwerten heraus begreifen, die mit ihr verwirklicht werden sollten.“141 Zwar wollte Coing hierbei im Sinne der Interessenjurisprudenz Philipp Hecks zunächst die Werte heranziehen, die positivrechtlich vorgegeben waren. Auch überpositiven Werten maß er aber Bedeutung für die Erkenntnis des Gehalts von Gesetzen zu. Denn hinter den historischen Wertvorstellungen, welche die Gesetze einer bestimmten Zeit erst verständlich machten, stehe „der systematische Zusammenhang der ethischen Werte selbst, mit denen alles Recht wesensgemäß verbunden ist.“142 Die „obersten Grundsätze des Rechts“ bildeten eine Art Koordinatensystem, in dem das konkrete, historische positive Recht verortet und aus dem heraus es interpretiert werden könne.

b. Schwerpunktverlagerung von der Rechtskritik auf die richterliche Rechtsschöpfung Trotz dieser Gemeinsamkeiten unterschieden sich die beiden Schriften Coings in ihrer Stoßrichtung signifikant. Ablesen lässt sich dies gut am Aufbau der Schriften: Seine Argumentation in „Die obersten Grundsätze des Rechts“ lief auf die Forderung hinaus, dass auf Grundlage des Naturrechts Rechtskritik und Rechtspolitik betrieben werde müsse. Positives Recht müsse unter Rückgriff auf Naturrecht korrigiert werden. Dies solle in erster Linie in der politischen Arena geschehen, in welche sich die Rechtswissenschaft einbringen dürfe und solle. Die „Grundzüge der Rechtsphilosophie“ hingegen endeten mit Kapiteln mit den Überschriften „Recht und Richter“ und „Aufgabe und Methode“. Der Schwerpunkt lag nunmehr auf der Frage, wie Gerechtigkeit in richterlichen Entscheidungen verwirklicht werden könne. Aus seiner Naturrechtslehre heraus entwickelte er Ansätze zu einer Theorie des Richterrechts. Die Aufgabe der Gerichte sah Coing darin, „Justice under Law“ zu verwirklichen.143 Damit wollte er zum Ausdruck bringen, dass sie sich in einer ständigen Spannung zwischen Gesetzesbindung und Einzelfallgerechtigkeit befänden. Coing ging davon aus, dass grundsätzlich beides miteinander gut vereinbar sei, denn die „Gerechtigkeit“, der Richter/innen verpflichtet seien, „soll nicht frei und persönlich, sondern an das positive Recht gebunden sein.“144 „Der Richter soll gerecht entscheiden, aber im Gehorsam gegen das Gesetz. […] [E]r muß unter allen Umständen versuchen, dem Gesetz eine gerechte Entscheidung abzugewinnen.“145 Es sei die Aufgabe der Gerichte, „solange irgend möglich“ aus einer „Synthese von Gerechtigkeit und positivem Recht“ heraus zu entschei141 

Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 136. Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 277. 143  Helmut Coing, ebd., S. 150. 144  Helmut Coing, ebd., S. 252. 145  Helmut Coing, ebd., S. 253. 142 

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Kapitel 5: Von säkularer Naturrechtslehre zur Theorie des Richterrechts

den.146 Für den Fall, dass seine solche Synthese nicht möglich war, gab er jedoch der Gerechtigkeit den Vorzug. Die Gerichte hätten dann die Befugnis, „eine (kleinere oder größere) Korrektur“ am „ausdrücklich festgestellten Recht“ vorzunehmen.147 Um der Einzelfallgerechtigkeit willen hätten die Gerichte „die Aufgabe korrigierender Rechtsbildung.“148 Coing knüpfte mit diesen Vorstellungen an die Freirechtslehre an. „Nur ein Satz“ sei der Forderung der „Freirechtsschule“149 nach schöpferischen Gerichten hinzuzufügen: „Der Richter muß gerecht entscheiden. Er ist dabei an die erkennbaren Grundsätze der Gerechtigkeit, an das Naturrecht, gebunden.“150 Dies bedeute keine Abänderung der Forderungen der Freirechtsschule. Auch die Freirechtsschule habe eine gerechte Entscheidung gewollt. „Aber es betont noch einmal, an diesem äußersten Punkt der Richtertätigkeit, daß die Gerechtigkeit nicht persönliche, sondern grundsatzgebundene Gerechtigkeit ist. Wo das positive Recht keine Grundsätze mehr bietet, hat das Naturrecht einzutreten.“ Anders als für die Freirechtslehre, war für Coing in letzter Instanz das Naturrecht die Grundlage für richterliche Rechtsschöpfung.151 Auch um zu begründen, warum Richter/innen eine besondere Fähigkeit zukommen sollte, Gerechtigkeit auch gegen den Gesetzgeber zu erkennen und zu verwirklichen, griff er auf Annahmen zurück, die seiner Naturrechtslehre zugrunde lagen. Richterliche Urteile seien stets Wertentscheidungen, und mit der Wertphilosophie argumentierte er, dass Werte mit dem Gefühl erkannt würden. Richterliche Tätigkeit basiere also maßgeblich auf dem „Rechtsgefühl“. Dies führe jedoch nicht zu willkürlichen Entscheidungen, denn das Rechtsgefühl von Richter/innen sei durch eine Tradition vorgeformt, die sich in Jahrhunderten herausgebildet habe. Jurist/innen hätten sich auf diese Weise über die Jahrhunderte der Fähigkeit angenähert, objektive Werte zu erkennen – erinnert sei hier an Coings Geschichtsphilosophie:152 „Die Wirkung der überkommenen Rechtsordnung auf den Richter entspricht nun dem Einfluß der ethischen Tradition auf das Fühlen des einzelnen. Das Recht enthält in seinen Regeln die sittliche Erfahrung vieler Generationen; in ihm sind die Entscheidungen niedergelegt, die gerecht und freiheitlich, zuverlässig und wahrhaftig gesonnene Männer in Jahrhunderten für bestimmte Situationen des sozialen Lebens als richtig empfunden ha146  Helmut Coing, ebd., S. 258. Ilka Kauhausen, Nach der ‚Stunde Null‘, 2007, S. 48 spricht daher für Coing von einer „gesetzesimmanenten Wertungsjurisprudenz“. 147  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 254. 148  Helmut Coing, ebd., S. 255. 149  Kritisch zu der Bezeichnung als „Schule“, die Coing hier wählte, Joachim Rückert, ZRG 125 (2008), S. 199 (205 ff.). 150  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 256, dort auch das Folgende. 151  Zum dezidiert antimetaphysischen Zugriff der Freirechtslehre Joachim Rückert, ZRG 125 (2008), S. 199 (216). 152  Hierzu oben, S. 182 f.

III. Vom Naturrecht zur Einzelfallgerechtigkeit

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ben. Die Rechtsregeln sind nicht logische Obersätze für juristische Deduktionen, sondern sie geben sittliche Erfahrungen, Rechtsgedanken, wieder. Der Umgang mit dem Recht übt daher auf das sittliche Gefühl des Juristen eine verfeinernde, kultivierende Wirkung aus; das Gefühl für die Werte, auf denen das Recht beruht, Gerechtigkeit, Freiheit, Treu und Glauben, wird in ihm besonders lebendig. […] Daher wird schon die intuitive Entscheidung eines wahren Juristen, die aus der Reaktion seines Rechtsgefühls entspringt, von den Wertungen seiner Rechtsordnung vorgeprägt sein.“153

Coing ging auf Grundlage seiner Wert- und Geschichtsphilosophie davon aus, dass Jurist/innen einen privilegierten Zugang zu der Erkenntnis von Gerechtigkeit hatten. Dies erklärt, warum sich sein Interesse von der Rechtskritik und Rechtspolitik auf das Richterrecht verlagerte: Es waren die Gerichte, die dazu berufen waren, Gerechtigkeit zu garantieren. Er hielt hierbei am Primat der Gesetzesbindung fest und vollzog damit nicht den Schritt zur Wertungsjurisprudenz, welche die Möglichkeit einer solchen grundsätzlich in Frage stellte. Die Anerkennung des Richterrechts als Rechtsquelle forderte er dennoch: „Unter dem Gesichtspunkt der Rechtsentstehung wird der Richter damit zum Rechtsschöpfer; er wird zur Rechtsquelle, zum Organ der Bildung ausdrücklichen Rechts.“154 Coing räumte ein, dass hiermit eine starke Machstellung von Jurist/ innen einhergehe. Er bezeichnete dies aber als „unvermeidbar“.155

c. Verschwinden des Topos des gesetzlichen Unrechts In Coings Werk lässt sich zwischen 1947 und 1950 also eine Verschiebung der Funktion des Naturrechts von einem äußeren Maßstab der Rechtskritik hin zu einem innerhalb der Rechtsordnung wirkenden Rechtsbildungsfaktor feststellen. Diese Verschiebung war begleitet von einer weiteren Veränderung: Der Topos des gesetzlichen Unrechts verschwand. Gemeint ist eine Naturrechtsbegründung, die sich maßgeblich auf die These stützte, wonach das nationalsozialistische Unrecht weniger richterliches, als gesetzgeberischen Unrecht gewesen sei und Juristen erst durch den Rechtspositivismus zu (Mit-)Tätern geworden seien. Die Bezüge zum Nationalsozialismus waren insgesamt bereits in „Die obersten Grundsätzen des Rechts“ wenig explizit. In seiner Naturrechtsbegründung rekurrierte Coing verglichen zu anderen Autoren dieser Zeit kaum auf die Erfahrung des Nationalsozialismus. Coing wollte eine „wissenschaftliche“ Begründung vorlegen. Sie sollte sich gerade nicht auf die „moralische Notwendigkeit“ angesichts der jüngsten Vergangenheit stützen. Gerade dies deutet jedoch darauf hin, dass die Erfahrung des Nationalsozialismus durchaus eine zentrale Rolle spielte: nicht für die Begründung des Naturrechts, sondern als Motiv, eine Naturrechtslehre zu verfassen. Mit seinem Buch wollte er nachweisen, dass 153 

Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 249. Helmut Coing, ebd., S. 254. 155  Helmut Coing, ebd., S. 234. 154 

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nicht nur religiös, sondern auch wissenschaftlich begründet werden könne, dass das Recht an höchste Werte gebunden und damit grundsätzlich etwas Gutes sei. Es ging ihm darum zu zeigen, dass Recht bei der Wissenschaft in guten Händen sei: Wenn sie die Kenntnis sittlicher Werte bewahre, könne sie „werden und bleiben, was sie berufen ist zu sein: die Vertreterin der Gerechtigkeit im socialen Leben.“156 Daneben weisen auch die Inhalte des Buchs darauf hin, dass es in reger Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus entstanden ist. Die „obersten Grundsätze“, deren Darstellung den Kern des Buches ausmacht, lesen sich als konsequentes Gegenbild zur nationalsozialistischen Herrschaft. Abgesehen von tradierten Grundsätzen des Zivilrechtsverkehrs dominierten liberale Grund- und Menschenrechte, wie sie sich später im Grundgesetz finden sollten. Auch der Umstand, dass der Schwerpunkt des Buches auf der Darstellung der „obersten Grundsätze“ lag und nicht auf weitergehenden methodischen und theoretischen Fragen, ist ein Indiz dafür, dass Coing mit diesem Buch auf den Nationalsozialismus reagierte: Es galt zunächst einmal zu erarbeiten, was gutes Recht eigentlich ausmache, ehe man sich mit den daraus resultierenden Fragen zu Geltung und Wirkungsweise dieser Normen eingehend auseinandersetzen konnte. Soweit er solche Fragen in seinem Buch diskutierte, war der Bezug zur Erfahrung des Nationalsozialismus nicht zu übersehen: in der Frage des Widerstandsrechts gegen „tyrannische Regierungen“157 etwa oder in der Frage der Nichtigkeit gesetzlichen Unrechts.158 In den „Grundzügen der Rechtsphilosophie“ verschwand der Topos des gesetzlichen Unrechts nahezu vollständig. Im Vorwort betonte Coing, dass die Gestaltung des Rechts nicht „im Belieben“ der Menschen stehe. Auf die Erfahrung des Nationalsozialismus verwies er nicht mehr, um dies zu begründen. Einziges Argument war nun die wissenschaftliche Einsicht, dass es „sittliche und sachliche Wesenszusammenhänge“ gebe.159 Um diese zu erkennen müsse die Rechtswissenschaft sich öffnen für moderne Geisteswissenschaften, namentlich für Nationalökonomie, Psychologie, Soziologie und Philosophie. Es ging ihm darum, eine Rechtsphilosophie zu konzipieren, die auf der Höhe der Erkenntnisse der Nachbarwissenschaften war. Ziel einer solchen Rechtsphilosophie sei es, „ein Gesamtbild des Rechts“ zu entwerfen160 und die „Grenzen sachgemäßer Rechtsbildung“ aufzuzeigen.161 Die Verhinderung gesetzlichen Unrechts tauchte als Motiv in den „Grundzügen der Rechtsphilosophie“ nicht mehr auf. 156 

Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 155. Helmut Coing, ebd., S. 59. 158  Helmut Coing, ebd., S. 152. 159  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. VII. 160  Helmut Coing, ebd., S. VIII. 161  Helmut Coing, ebd., S. VII. 157 

III. Vom Naturrecht zur Einzelfallgerechtigkeit

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d. Zusammenfassung: Verbindung von Naturrecht und Richterrecht An den beiden Schriften Helmut Coings von 1947 und 1950 lässt sich beobachten, wie sich der Normalisierungsprozess nach den Erschütterungen des Jahres 1945 vollzog. Zunächst war es ihm wichtig festzuhalten, dass es objektive überzeitliche Normen gebe, denen das Recht verpflichtet sei. Dies war die Grundlage dafür, dass er sich in seinem zweiten Buch, den „Grundzügen der Rechtsphilosophie“, verstärkt methodischen Fragen zuwenden konnte. Die Erfahrung des Nationalsozialismus verlor als Argument zur Begründung seiner rechtsphilosophischen und methodischen Position an Bedeutung. Einen Gegenentwurf zum Nationalsozialismus, dem Ausnahmefall extremen Unrechts, hatte er geliefert, nun konnte er sich mit der Frage befassen, wie Gerechtigkeit im Regelfall verwirklicht werden könne. Coing löste sich auf diese Weise aus dem Genre der Wendeliteratur.162 Sein Blick war nun nicht mehr in erster Linie auf eine sich rechtskritisch und rechtspolitisch äußernde Rechtswissenschaft gerichtet, sondern auf die Gerichte. Mit seinen rechtsphilosophischen Annahmen brach er in diesem Zuge nicht. Coing griff die Methode der Interessenjurisprudenz auf, modifizierte diese jedoch. Zwar sollte sich Rechtserkenntnis in erster Linie an den Wertungen orientieren, die der Gesetzgeber vorgab, auch objektive, überpositive Werte sollten jedoch einfließen. Er äußerte Sympathie gegenüber der Freirechtslehre und sah in den Gerichten den Hort der Gerechtigkeit. Dies begründete er unter Rückgriff auf Wert- und Geschichtsphilosophie. Coing stützte seine Forderung nach Anerkennung des Richterrechts als eigenständiger Rechtsquelle damit maßgeblich auf Annahmen, die auch seiner Naturrechtslehre zugrunde lagen.

2. Naturrechtskritik: Wertungsjurisprudenz und die Forderung nach richterlicher Autorität Mit der Hinwendung zu der Frage, wie richterliche Entscheidungen vollzogen werden sollen, trug Coing als einer der ersten zu der zivilrechtlichen Methodendiskussion bei, die sich im Laufe der 1950er Jahre entfaltete. Es ging in dieser Diskussion darum, wie Einzelfallgerechtigkeit vor Gericht hergestellt werden könne: Nicht mehr abstrakte „oberste Grundsätze“ waren von Interesse, sondern der konkrete Fall. Das Subsumtionsmodell wurde als nicht zeitgemäße Fiktion verworfen, stattdessen wurde betont, dass richterliche Entscheidungen stets auf Grund von Wertungen erfolgten. Während Coing positiven Gesetzen einschließlich der Verfassung eine privilegierte Position bei dieser Wertentscheidung zuwies, waren Theodor Viehweg, Josef Esser, Franz Wieacker und

162  Zum Begriff der „Wendeliteratur“ Bernd Rüthers, Geschönte Geschichten – geschonte Biographien, 2001, S. 10 ff. Siehe auch oben, S. 4 ff.

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Kapitel 5: Von säkularer Naturrechtslehre zur Theorie des Richterrechts

Karl Larenz in dieser Hinsicht zurückhaltend: Sie zielten auf eine Lockerung der Gesetzesbindung zugunsten der schöpferischen Tätigkeit der Gerichte. Ausgangspunkt für sie war nicht nur die Kritik am Subsumtionsmodell und an einer strikt verstandenen Gesetzesbindung. Ihre Kritik richtete sich ebenso gegen das Naturrechtsdenken der ersten Nachkriegsjahre. Auch beim Naturrecht handele es sich um eine abstrakte Normenordnung, mittels derer nicht hinreichend beantwortet werden könne, wie eine gerechte Entscheidung im konkreten Einzelfall auszusehen habe. Wieacker sprach von „naturrechtlicher Dogmatik“163 und stellte scharfzüngig fest: „[…] solche Richtungen nähern sich dann dem wissenschaftlichen oder dem Gesetzespositivismus bis zur vollen Deckung.“164 Er wandte sich gegen eine „bloße Normgläubigkeit, trete sie nun in der Gestalt der doktrinären Ethik eines absoluten Naturrechts auf oder in der Gestalt angeblich weiterweisender ethischer oder technischer Generalklauseln oder Grundrechte oder vor allem in einem staatlichen Gesetzespositivismus mit seiner Zuspitzung im berüchtigten Lückenlosigkeitsdogma.“165 Esser kritisierte den „deduktiven Auslegungskult“ und meinte damit Gesetzespositivismus und Naturrecht gleichermaßen.166 Larenz hatte sich bereits 1947 gegen Naturrecht im Sinne eines „fertigen Normensystems“ ausgesprochen.167 Viehweg, Wieacker, Esser und Larenz verstanden ihre Entwürfe als Beiträge zu einer Suche nach einem „dritten Weg“ zwischen Naturrecht und Positivismus. Tatsächlich entwickelten sie ihre methodischen Ansätze aus der Naturrechtsdiskussion heraus. Ihre Konzepte nährten sich vom Antipositivismus der Naturrechtsdebatten. Trotz aller Kritik am Naturrechtsdenken, entwickelten sie dieses mehr fort als dass sie mit ihm brachen.

a. Gegen Deduktion: „Topik und Jurisprudenz“ von Theodor Viehweg Obwohl weder der Begriff des „Rechtspositivismus“ noch der des „Naturrechts“ Erwähnung findet, kann „Topik und Jurisprudenz“ von Theodor Viehweg (1953) als das erste rechtstheoretische Werk angesehen werden, das sich nach 1945 nicht mehr nur gegen den Rechtspositivismus, sondern auch gegen ein klassisches Naturrechtsdenken wendete. Viehweg zeigte, dass das Rechtsdenken in der Geschichte nie deduktiv, sondern stets an den zu lösenden Problemen orientiert gewesen sei. Eine logisch einwandfreie Deduktion setze ein geschlossenes System voraus. Dass das Recht ein solches System bilden könne, hielt Viehweg für eine Illusion. Schon bei der Anwendung von Normen auf neue 163 

Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952, S. 354. Franz Wieacker, ebd., S. 348. 165  Franz Wieacker, Gesetzesrecht und richterliche Kunstregel, JZ 1957, 701 (704). 166  Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, S. 24, im gleichen Sinne S. 11, 59 f. 167  Karl Larenz, Zur Beurteilung des Naturrechts (1947), S. 27 (31). 164 

III. Vom Naturrecht zur Einzelfallgerechtigkeit

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Problemlagen sei Interpretation nötig. Eine Norm zu interpretieren bedeute aber, diese an eine spezifische situationsbedingte Problemlage anzupassen. Dies verlange notwendigerweise, sich nicht nur an den Vorgaben des bestehenden Normengefüges zu orientieren, sondern eben auch das Problem in den Blick zu nehmen und nach einer angemessenen Lösung zu fragen. Zivilrechtliche Praxis könne daher nie bloß deduktiv arbeiten. Der deduktiven Methode setzte Viehweg eine „topische“ entgegen. Er führte diese in seiner kurzen Schrift nicht detailliert aus.168 Die von ihm gegebenen Beispiele zeigen jedoch, dass er eine Mischung von Gesetzes- und Gerechtigkeitsorientierung in der richterlichen Entscheidungsfindung anstrebte: Im ersten Schritt sollten Entscheidungskriterien aus den vorgegebenen Normen und Rechtsbegriffen deduziert werden. Die so gewonnenen Entscheidungskriterien seien aber in einem zweiten Schritt korrekturbedürftig, da andernfalls meist keine gerechte und dem Problem angemessene Lösung gefunden werden könne. Viehweg sprach hier von „Inventionen“, die eine Deduktion unterbrächen, wenn diese Resultate erzeuge, „welche als Antworten auf die Kernfrage nicht befriedigen.“169 Maßstäbe für diesen zweiten Schritt stellte Viehweg nicht auf. Die Jurisprudenz sei auf der Suche nach diesen Maßstäben. Das positive Recht stelle dabei einen möglichen „Antwortversuch“ dar.170 Gerechtigkeitslehren wie das Naturrecht oder Prinzipienlehren waren für Viehweg ebenso Antwortversuche, wobei er ihnen keinen metaphysischen Charakter zugestand. „Die Axiome selbst als Kernsätze des Rechts bleiben freilich logisch willkürlich“, stellte er für jegliche Art höchster Rechtssätze fest.171 Er sah sie als menschlich geschaffene Kulturprodukte, die einen Fundus bildeten, aus dem eine topisch arbeitende Jurisprudenz Argumentationsmaterial und Lösungsansätze schöpfen könne. Der „dritte Weg“, den er einschlug, war damit notwendig der eines flexiblen Richterrechts, das zwar nicht einem metaphysischen Naturrecht verpflichtet war, aber auch nicht einer strengen Gesetzesbindung unterlag. Einzelfallgerechtigkeit sei das Ziel und über das, was in der konkreten Situation Gerechtigkeit bedeute, müssten vor dem Hintergrund der verschiedenen „Antwortversuche“ immer wieder neue Auseinandersetzungen stattfinden.172 168  Zur Theorie Viehwegs auch unter Berücksichtigung der späteren Auflagen und weiterer Schriften Agnes Launhardt, Topik und Rhetorische Rechtstheorie, 2010, allerdings ohne Rückbindung an die Naturrechtsbesinnung als Kontext der Entstehung seiner Theorie und der folgenden Diskussion über sie. 169  Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1953, S. 71. 170  Theodor Viehweg, ebd., S. 68, 75. 171  Theodor Viehweg, ebd., S. 62. 172  „Versteht eine Jurisprudenz ihre Aufgabe dahin, in der unüberblickbaren Fülle der Situationen stets das jeweilig Gerechte zu suchen, muß ihr weitgehend die Möglichkeit bleiben, erneut, das heißt ‚beweglich‘, zur Grundaporie Stellung zu nehmen“, Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1953, S. 75.

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b. Begründungsveränderungen in der Ablehnung des Positivismus: Nationalsozialismus, Naturrecht und Naivität Für Viehwegs Argumentation, dass die Jurisprudenz der Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit verpflichtet sei, spielte die Erfahrung des Nationalsozialismus keine erkennbare Rolle mehr. Stattdessen findet sich bei ihm ein anderer Argumentationstopos: Viehweg leitete historisch her, dass die Jurisprudenz in allen Epochen topisch verfahren sei. Allein das Deduzieren aus geschlossenen Systemen habe niemals zu Ergebnissen geführt, sondern stets problemorientierter Korrektur bedurft.173 Hinter seinen historischen Ausführungen verbarg sich also das Argument, dass das Subsumtionsmodell die juristische Entscheidungspraxis unzulässig vereinfache. Subsumtion aus abstrakten Normen sei nicht möglich, sei es noch nie gewesen. Deutlicher als bei Viehweg ist dieses Argumentationsmuster bei Josef Esser zu erkennen. Esser hatte sich bereits in seinem Buch „Einführung in die Grundbegriffe des Rechts und Staates“ (1949) skeptisch gegenüber der Deduzierbarkeit konkreter aus abstrakten Normen geäußert.174 In „Grundsatz und Norm der richterlichen Fortbildung des Privatrechts“ (1956) entwickelte er nun die Gedanken aus Viehwegs „Topik und Jurisprudenz“ weiter zu einer Theorie der richterlichen Rechtsbildung. Er warf dem Subsumtionsdenken vor, dass es verschleiere, dass die Gerichte in ihren Entscheidungen tatsächlich nicht deduktiv vorgingen, sondern stets Wertungen vornähmen.175 Das Subsumtionsdenken nehme eben diese Realität nicht wahr und schneide sich damit zentrale Folgefragen ab. Denn wenn eine richterliche Entscheidung immer eine wertende sei, dann sei es eine Frage des „Realismus“,176 sich darüber zu verständigen, nach welchen Maßstäben diese Wertungen erfolgten. Esser sprach vom Subsum­ tionsdenken als „Kodifikationsideologie“177 und hielt ihm „positivistische Unbekümmertheit“ vor.178 Seine Kritik arbeitete damit, diejenigen, die dem Sub­ sumtionsmodell folgten, als ‚naiv‘ darzustellen. Auch bei anderen Autoren findet sich dieser Topos der ‚Naivität‘. Er war ein Schlüsselargument dafür, dass Positivismus wie Naturrecht nicht mehr zeitgemäß seien. „In Wahrheit“ vollziehe sich Rechtsbildung „sehr viel komplexer“, schrieb Larenz179 und Wieacker stellte fest, dass es sich dabei um eine „längst 173 

Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1953, S. 1. Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechts und Staates, 1949, S. 17. 175  Josef Esser, Grundsatz und Norm, 1956, S. 266. 176  Josef Esser, Grundsatz und Norm, 1956, S. 27. 177  Josef Esser, ebd., S. 255. Diesen antiideologischen Impetus hatte auch Viehweg, der von „Sichtbehinderungen“ sprach, die durch das Deduktionsdenken entstünden, Topik und Jurisprudenz, 1953, S. 61. 178  Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechts und Staates, 1949, S. 90. 179  Karl Larenz, Methodenlehre, 1960, S. 229, im gleichen Sinne S. 122 f.; ebenso Franz Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1957, S. 7. 174 

III. Vom Naturrecht zur Einzelfallgerechtigkeit

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gewonnene Einsicht“ handele.180 Das Subsumtionsmodell zu kritisieren bedeute mithin „heute offene Türen einzurennen.“181 Die Selbstsicherheit, mit der das Subsumtionsdenken als ‚naiv‘ abgetan wurde, stützte sich auf die Erzählung eines Erkenntnisfortschritts seit der Zeit des Freirechts. Der Nationalsozialismus blieb aus dieser Erzählung einer Abkehr vom Positivismus ausgespart.182 Die Naturrechtsbesinnung nach 1945 wurde dagegen als Meilenstein herausgestellt: Ihr sei der nun herrschende breite Konsens zu verdanken, dass das Subsumtionsdenken überwunden werden müsse. Die Naturrechtsdiskussion habe „die Frage nach Freiheit und Bindung des Richters durch das Gesetz mit erneutem Nachdruck gestellt“, schrieb Wieacker. „Ihr praktisches Gewicht verliert sie nicht dadurch, daß dies meist auf der höchsten Ebene der Fragen geschah, die dem deutschen Juristen durch die extreme Grenzsituation des öffentlichen Unrechts aufgedrängt wurde.“183 Die Erfahrung des Nationalsozialismus selbst spielte aus Wieackers Sicht für die Methodendiskussion keine Rolle mehr. Mittelbar wirkte sie jedoch fort: Die Naturrechtsbesinnung hatte aus seiner Sicht den Boden dafür bereitet, dass nunmehr die „Alltagsaufgabe der Zivilrechtssprechung“ diskutiert werden konnte.184 Deutlicher wird bei Esser, wie die Erfahrung des Nationalsozialismus und die Naturrechtsbesinnung in der Begründung dafür, dass das Subsumtionsdenken nicht mehr zeitgemäß sei, zusammenspielten. „Bedurfte es wirklich erst der Erschütterungen der letzten Kriegs- und Nachkriegszeit, um die Jurisprudenz zu belehren, daß man aus den ‚bloßen Rechtsbegriffen‘ und dem positiven ‚System‘ keine Wertungsmaßstäbe für bisher unbekannte oder unerkannte Aufgaben gewinnen könne?“,185 fragte er rhetorisch. Er verneinte dies, denn die Gerichte waren seiner Auffassung nach nie dem Subsumtionsdenken gefolgt. Er suggerierte mit seiner Frage jedoch, dass die Wissenschaft nicht erkannt habe, wonach die Praxis lange schon handelte. Sie habe die Naturrechtsbesinnung gebraucht, um dem Positivismus abzuschwören. Er bekräftigte auf diese Weise die These von der Naivität einer positivistischen Rechtswissenschaft, welche erst durch die Erfahrung des Nationalsozialismus ‚bekehrt‘ worden sei. Es zeigt sich 180  Franz Wiecker, Gesetzesrecht und richterliche Kunstregel, JZ 1957, 701 (704); ebenso ders., Gesetz und Richterkunst, 1957, S. 5; Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 162. 181  Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 141 f. 182  Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952, S. 348 ff.; Karl Larenz, Methodenlehre, 1960, S. 83 ff.; insofern unverändert noch die 6. Aufl. 1991. Er würdigt dort Nationalsozialisten wie Julius Binder und Walther Schönfeld als Wegbereiter für antipositivistische Methodenlehren der Nachkriegszeit, ebd. S. 110. Anders Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechts und Staates, 1949, S. 10 ff. Zu den Erzählungen von Wieacker und Larenz auch Joachim Rückert, in: Tiziana J. Chiusi u.a. (Hg.), Das Recht und seine historischen Grundlagen, 2008, S. 963 (971 ff.). 183  Franz Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1957, S. 5. 184  Franz Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1957, S. 5. 185  Josef Esser, Grundsatz und Norm, 1956, S. 4.

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hier, dass eine Verschiebung vom Topos des gesetzlichen Unrechts zum Topos der Naivität vollzogen worden war: In der Naturrechtsbesinnung war das Unrecht des Nationalsozialismus noch selbst Hauptargument gegen den Positivismus. Nun war der Nationalsozialismus nur noch deswegen ein Argument, weil dank seiner auch die letzten ‚Naiven‘ von dem Glauben an den Positivismus geheilt worden waren.

c. Tradition, Richterkunst und sittliche Werte als Destillat der Naturrechtsbesinnung: Josef Esser, Franz Wieacker und Karl Larenz Viehwegs Schrift von 1953 wurde dafür gewürdigt, dass sie eine Alternative zum Naturrecht wies, ohne die Ablehnung des Rechtspositivismus aufzugeben.186 Die Begründung, warum der Positivismus abzulehnen sei, veränderte sich im Zuge des Nachdenkens über einen solchen „dritten Weg“. Wie aber sollte dieser „dritte Weg“ nun konkret aussehen? Viehweg hatte dies in seiner Schrift nur angedeutet. Josef Esser, Franz Wieacker und Karl Larenz arbeiteten im Laufe der 1950er Jahre Konzepte hierzu aus. Sie wandten sich gegen eine strikte Gesetzesbindung. Eine solche entstamme „einer Zeit gemächlicher sozialer Entwicklung und bleibender Typizität der Fälle“. Im Gegensatz dazu fordere das „moderne Rechtsleben“ eine „Fortbildung des unbrauchbar Gewordenen […] und Nachbesserung des Fehlenden durch den Richter“. Man sah sich nun, in den 1950er Jahren in einer sich dynamisch wandelnden, technisierten Gesellschaft, die immer neue Probleme mit sich brachte, welche der Gesetzgeber im vorhinein gar nicht erkennen konnte.187 Mit Gesetzen könne der „Komplizierung der Rechtsaufgaben“ nicht angemessen begegnet werden.188 Vor allem Esser gab sich nicht die Mühe, seine Skepsis gegenüber dem Gesetzgeber zu verbergen. Er sprach 186  So auch die Würdigung, siehe Rezensionen: „Es handelt sich u.a. um höchst wertvolle Wege zur Überwindung des ‚Rechtspositivismus‘ und der Begriffsjurisprudenz“, Thomas Würtenberger, Rez. Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz, AcP 153 (1954), 560 (562); ebenso Franz Wieacker, Gesetzesrecht und richterliche Kunstregel, JZ 1957, 701 (704) sowie Helmut Coing, Über einen Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, ARSP 41, 436 (443 f.), der außerdem auf die Kompatibilität von Viehwegs Ansatz mit dem Naturrechtsdenken hinweist. 187  Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechts und Staates, 1949, S. 183; ders., Grundsatz und Norm, 1956, S. 8. Auch Franz Wieacker sah im modernen Sozialstaat die Ursache dafür, dass das Gesetz an seine Grenzen stoße, Gesetz und Richterkunst, 1957, S. 4 f. Gegenüber der Modernisierung war er stärker pessimistisch eingestellt, er sah in ihr den Grund für die „Gerechtigkeitskrisis“, der nur begegnet werden könne, wenn dem Gewissen wieder mehr Raum eingeräumt würde. Eine richterzentrierte Rechtstheorie sollte eben dies leisten. Deutlich wird dieser Zusammenhang in Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2.A. 1967, S. 618. 188  Franz Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1957, S. 5; ähnlich Josef Esser, Grundsatz und Norm, 1956, S. 25, demzufolge die „Fehlvorstellungen“ des Gesetzgebers „oft eine un-

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von einer „politisch oft sachentfremdeten Legislative“189 und konstatierte das „immer häufigere Versagen“190 eben dieser. Das Recht sollte stärker den Gerichten anvertraut werden. Dies sollte aber nicht bedeuten, es richterlicher Willkür zu überlassen. Im Gegenteil: Sie sahen die Gerichte als verlässlicher in der Verwirklichung von Gerechtigkeit an, als den Gesetzgeber.191 Es ging ihnen darum aufzuzeigen, dass es durchaus Maßstäbe gebe, an denen die ‚Richtigkeit‘ richterlicher Entscheidungen gemessen werden konnte, auch wenn eine strikte Gesetzesbindung weder als möglich noch wünschenswert erachtet wurde. In den Naturrechtsschriften der unmittelbaren Nachkriegszeit war den Gerichten hierfür ein Kanon von Normen an die Hand gegeben worden, die über dem Gesetz standen und dieses im Zweifel brachen. Esser, Wieacker und Larenz wählten einen anderen Weg: Sie weiteten den Begriff des positiven Rechts aus, indem sie Tradition, Richterkunst und sittliche Werte neben das Gesetz stellten. Esser legte den Schwerpunkt auf die Tradition. In seinem Werk „Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts“ (1956) wollte er eine Theorie der Rechtsprechung entwickeln, die aufzeigte, wie die Gerichte sittlichen Prinzipien folgen konnten, ohne auf außerrechtliche Elemente zurückgreifen zu müssen. Seinem Buch lag ein dezidiert antimetaphysischer Impetus zugrunde. Er ging der Frage nach, wie ethische Grundsätze zu positivem Recht transformiert und dadurch für die Gerichte verbindlich gemacht wurden. Dies geschah seiner Auffassung nach primär im Wege der Interpretation.192 Die Gerichte griffen Esser zufolge hierbei auf Prinzipien zurück, wodurch diese Prinzipien in das „corpus iuris“ integriert würden. In Essers Theorie war damit auch eine prinzipienorientierte, schöpferische Rechtsprechung allein auf das positive Recht gestützt. Der Begriff des positiven Rechts, den Esser zugrunde legte, war allerdings ein sehr weiter: Positives Recht war nicht nur Gesetzesrecht, sondern die Summe aller Normen und Grundsätze, die von den juristischen Institutionen anerkannt wurden. Im Laufe der Geschichte sei ein „fundus“ zunächst außerrechtlicher Prinzipien entstanden, die durch juristische Praxis in das positive Recht eingegangen seien und derer sich die Rechtsprechung folglich bedienen konnte, auch wenn sie nicht kodifiziert gewesen seien.193 Die Inkorporation solle vor allem über Denkfiguren wie nütze Scheinproblematik hervorgerufen und dringende Lösungen verhindert oder erschwert haben“. 189  Josef Esser, Grundsatz und Norm, 1956, S. 26. 190  Josef Esser, Grundsatz und Norm, 1956, S. 25. 191  So vorsichtig für Esser auch Birgit Schäfer, in: Joachim Rückert (Hg.), Fälle und Fallen, 1997, S. 201 (217). Für Larenz Ralf Frassek im selben Band, S. 135 (141 f., 147); für Wieacker, die Bedeutung, welche er der Gesetzesbindung zuerkannte, zumindest mit Blick auf seine Methodenlehre der 1950er Jahre überbetonend, Marion Träger im selben Band, S. 167 (171 ff.). 192  Josef Esser, Grundsatz und Norm, 1956, S. 59. 193  Josef Esser, ebd., S. 53 f.

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die „Natur der Sache“, die „aequitas“ oder die „Rechtslogik“ erfolgen.194 Als Rechtsquelle sah Esser konsequenterweise weder Gesetze noch Prinzipien an, sondern die Gerichte.195 Die Rolle der Prinzipien hänge „weder von einer etwaigen Anschauung in positiven Gesetzen ab noch von ihrem naturrechtlichen impetus“, sondern schlicht von ihrer Anwendung durch die Rechtsprechung.196 Bei den Prinzipien handelte es sich um ungeschriebene Grundsätze. Über das, was in den Naturrechtsschriften als „oberste Grundsätze“ diskutiert worden war, gingen sie hinaus, so zählte Esser etwa auch die Auslegungsregeln zum „corpus iuris“. Er hatte jedoch auch materielle Grundsätze im Blick: Es gebe einen in das positive Recht inkorporierten „fundus von ethischen und common sense-Prinzipien“, der geformt sei „von den religions- und philosophiegeschichtlichen Einflüssen, die jeweils das Rechtsdenken bestimmten.“197 Auch die materiellen Prinzipien waren damit nicht metaphysischen Charakters. Sie stellten ein historisch bedingtes, menschlich geschaffenes Angebot dar, das in den juristischen Diskurs aufgenommen und damit zum Teil des „corpus iuris“ geworden war. Ihre Quelle war die Tradition. Wieacker würdigte Essers Entwurf ein Jahr nach Erscheinen von „Grundsatz und Norm“ in einem ausführlichen Rezensionsaufsatz trotz dieses antimetaphysischen Zugriffs als einen „verläßlichen Restbestand von Naturrecht, d.h. zeitloser materialer Gerechtigkeit“.198 Gerechtigkeit werde bei Esser durch Konvention, sachlogische Strukturen und „fachmännische Erfahrung des Richters“ verwirklicht.199 Wieacker sah hierin ein „bescheiden gewordenes, aber praktisch leistungsfähiges ‚konkretes‘ und ‚relatives Naturrecht‘“.200 Fast zeitgleich mit dem Erscheinen der Rezension hielt er vor der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe einen Vortrag mit dem Titel „Gesetz und Richterkunst. Zum Problem der außergesetzlichen Rechtsordnung“. 201 Er stützte sich darin maßgeblich auf den Entwurf Essers. Den Gedanken, dass Gerechtigkeit nicht durch eine „abstrakte normative Ethik“202 gewährleistet werden könne, sondern nur durch die konkrete Entscheidung der Gerichte, spitzte er dabei zu: An die Stelle des Naturrechts traten bei Wieacker zwar durchaus auch Prinzipien, vor allem aber die „Richterkunst“. Auch Wieacker ging es darum hervorzuheben, dass die Gerichte jenseits abstrakter Normen dem konkreten Einzelfall gerecht werden müssten. Dies ver194 

Josef Esser, ebd., S. 56. Josef Esser, ebd., S. 139. 196  Josef Esser, ebd., S. 139. 197  Josef Esser, ebd., S. 81. 198  Franz Wieacker, Gesetzesrecht und richterliche Kunstregel, JZ 1957, 701 (706). 199  Franz Wieacker, ebd., S. 705. 200  Franz Wieacker, ebd., S. 705. 201  Der Vortrag wurde am 15.11.1957 gehalten, am 25.11.1957 erschien die Rezension in der JZ. 202  Franz Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1957, S. 10 f. 195 

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lange auch, sich von „der Vorstellung, der Richter habe grundsätzlich Gesetze ‚anzuwenden‘“ zu verabschieden. 203 Juristische Entscheidungen sollten dabei jedoch nicht richterlicher Willkür überlassen werden. Wieacker wandte sich nun deutlicher als noch fünf Jahre zuvor204 gegen eine metaphysische Rechtsbegründung. 205 Er zog neben Verfassungsgrundsätzen ungeschriebene „außerrechtliche Gebote“ heran, die durch „bewährte durchschnittliche rechtskulturelle Anschauungen, anerkannte Billigkeitsregeln, Sachnatur oder bewährte Lehre und Judikatur legitimiert werden können“. 206 Gerade letzterer maß er eine besondere Bedeutung bei: „Erst in der richterlichen Kasuistik, in der sich der Schatz dieser Erfahrungen bildet, werden die verwendbaren Problemlösungen aus den unbrauchbaren ausgefiltert und schleifen sich die allgemeinen außergesetzlichen Maßstäbe zur Feineinstellung auf den Einzelfall ab. […] Der anerkannte, d.h. der im Kreis der Fachgenossen und von den Gerichten gebilligte und typisch befolgte Gerichtsgebrauch ist die wichtigste außergesetzliche Richtlinie der Urteilsfindung.“207

Wie Esser sprach Wieacker damit der Tradition und dem Konsens der Experten eine entscheidende Bedeutung zu. Das „Rechtserzeugungsmonopol des Gesetzesstaates“ solle zugunsten eines „ius commune“ gebrochen werden.208 Er sah Recht als etwas an, das über die Jahrhunderte im Gespräch zwischen Gerichten und Wissenschaft entstanden war. Richterliche Rechtsfortbildung war für ihn der Motor der Rechtsentwicklung. Grundlage hierfür sollte nicht das Naturrecht sein. Gerichte sollten sich nicht an „immer exponierteren und kühneren Moralpostulaten“ orientieren, sondern Rechtsfortbildung im Einklang halten „[…] mit den Traditionen der Judikatur und dem Konsens der Rechtsund Fachgenossen einschließlich der Wissenschaft – ein Konsens, der, wie sehr auch bloße vox populi gegenüber den höchsten Gerichten unseres Landes, doch immer auch vox Dei im bescheidentlichen Sinne der Stimme des überpersönlich Herkömmlichen und des durchschnittlich Rechten bleibt.“209 Ähnliche Überlegungen finden sich in Larenz’ „Methodenlehre der Rechtswissenschaft“ (1960). Auch er ging davon aus, dass sittliche Werte über die Tradition in das Recht einflössen und zur Grundlage einer schöpferischen Rechtsprechung gemacht werden müssten. Anders als Esser und Wieacker sah Larenz diese Werte allerdings nicht bloß als menschlich geschaffene Gerechtigkeitsangebote an. Er ging von der Existenz „objektiver Werte“ aus, die in das „allgemeine Rechtsbewusstsein“ einflössen. Die Gerechtigkeit der Entschei203 

Franz Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1957, S. 16 [Hervorhebung im Original]. Siehe oben, S. 188 ff. 205  Franz Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1957, S. 15. 206  Franz Wieacker, ebd. 207  Franz Wieacker, ebd. 208  Franz Wieacker, ebd. 209  Franz Wieacker, ebd. 204 

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Kapitel 5: Von säkularer Naturrechtslehre zur Theorie des Richterrechts

dung werde dadurch gewährleistet, dass Richter/innen an diesem „allgemeinen Rechtsbewußtsein“ teil hätten: „Denn das Rechtsbewußtsein jedes Richters bildet sich seinerseits auf der Grundlage ‚objektiver‘ Maßstäbe, die er sich zu eigen gemacht und in ständiger richterlicher Erfahrung erprobt hat und immer aufs neue überprüft.“210

Was für Esser die „Prinzipien“ waren, die sich im Laufe der Geschichte durch den Konsens der Rechtsgemeinschaft herausgebildet hatten, war für Wieacker das „ius commune“ und für Larenz ein „objektiver Geist“, der einem jeden Rechtssatz innewohne. Zwar unterschieden sich die Konzepte in der Antwort auf die Frage, ob diese Grundsätze als etwas Metaphysisches oder menschlich Geschaffenes anzusehen seien. 211 Allen drei Konzepten aber war gemeinsam, dass die Grundsätze Teil des positiven Rechts waren. ‚Recht‘ bestand für Esser, Wieacker und Larenz nicht dualistisch aus positivem Gesetz und Naturrecht. Ethische Grundsätze und tradierte Prinzipien waren vielmehr Teil des „Geistes“ des positiven Rechts selbst. Das Gesetz sollte in diesem Lichte begriffen und fortentwickelt werden. Die klassische Vorstellung der Gesetzesbindung wurde in ihren Schriften weder als möglich gedacht, noch war sie, wie noch bei Coing, grundsätzlich gewollt: „Der Richter ist an das Gesetz als an eine Erscheinungsform des Rechts ‚gebunden‘“, 212 stellte Larenz fest und sagte damit, dass er eben auch anderen Grundsätze verpflichtet sei. Man solle gar nicht erst so tun, als würden die Prinzipien dem Gesetz entnommen, schrieb Esser im gleichen Sinne.213 Konsequent war unter diesem Vorzeichen die Forderung nach einem Umbau der Rechtsquellenlehre, so dass die Justiz als eigentliche Rechtsquelle anerkannt würde – wobei Wieacker zugestand, dass dies dem Grundgesetz zuwider laufen dürfte. 214

d. Zusammenfassung: Flexibilisierung und Dynamisierung des Naturrechtsdenkens Das Naturrecht, wie es von Coing 1947 postuliert worden war, hatte sich damit vielfach verändert. Es war insofern relativiert, als kein Konsens mehr über seine metaphysische Wahrheit bestand. An der Existenz verbindlicher außerrechtlicher Normen wurde jedoch festgehalten. Ihre Funktion hatte sich allerdings 210 

Karl Larenz, Methodenlehre, 1960, S. 191 f. Hierzu für Larenz und Esser detailliert Monika Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, 1981. 212  Karl Larenz, Methodenlehre, 1960, S. 319 [Hervorhebung durch mich]. 213  Josef Esser, Grundsatz und Norm, 1956, S. 295. 214  Franz Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1957, S. 15. Anders als Josef Esser, der die Ermächtigung zur schöpferischen Rechtsfindung im Wesen des Richteramts selbst gegeben sah und daher davon ausging, dass es auf die verfassungsrechtliche Regelung nicht ankomme, dazu sehr treffend Birgit Schäfer, in: Joachim Rückert (Hg.), Fälle und Fallen, 1997, S. 201 (218). 211 

III. Vom Naturrecht zur Einzelfallgerechtigkeit

221

geändert: Sie sollten nicht mehr eine äußere Geltungsgrenze des positiven Rechts darstellen, sondern wurden als ein immanenter Teil seiner selbst angesehen. Trotz der Kritik am klassischen Naturrechtsdenken und trotz dieser Veränderungen, kann von einem vollständigen Verschwinden des Naturrechtsdenkens aber ebenso wenig die Rede sein, wie von einem konsequenten Bruch mit der Naturrechtsbesinnung. 215 Der zentrale Grundgedanke des Naturrechts blieb vielmehr erhalten: Dass alles Recht – auch gegen das Gesetz – der Gerechtigkeit zu dienen habe und dass sich dafür stabile und nicht nur prozessorientierte Maßstäbe finden lassen müssten. Das Naturrecht als überzeitliche, abstrakte Ordnung hatte sich nicht durchsetzen können. Das Misstrauen gegenüber dem Gesetzgeber blieb aber über die Naturrechtsbesinnung hinaus bis in die zivilrechtliche Methodendiskussion erhalten. Die Begründungen für dieses Misstrauen hatten sich freilich gewandelt. Dass beide Diskussionen gleichwohl in Verbindung miteinander geführt wurden, zeigt sich darin, dass der antipositivistische Konsens der Naturrechtsbesinnung nunmehr als Legitimation für eine weitere Auflösung der Gesetzesbindung herhalten konnte. Noch deutlicher als in der Naturrechtsbesinnung wurde nun gefordert, dass die Deutungshoheit über das Recht bei der Jurisprudenz liegen solle. 216 In der zivilrechtlichen Methodendiskussion waren an die Stelle der Wahrheit als Maßstab allen Rechts Tradition und Konsens der Interpretengemeinschaft getreten. Völlig neu war auch dies nicht. Die Grenzen von Wahrheit, Tradition und Konsens waren sowohl in den Naturrechtschriften der Nachkriegszeit als auch in den Schriften der zivilrechtlichen Methodendiskussion häufig nicht ganz klar. In den Naturrechtsschriften wurde das Recht nicht dem Volk, dem demokratischen Souverän also, anvertraut, sondern unter Heranziehung von Autoritäten der Philosophiegeschichte oder der Theologie begründet. Was Recht sei, galt als Frage überzeitlicher Wahrheit. Dennoch spielten historische Argumente für seine Begründung eine tragende Rolle. In der Methodendiskussion wurde das Recht samt seiner außerrechtlichen Prinzipien grundsätzlich als etwas menschlich Geschaffenes gedacht. Die Tradition, Hauptträgerin des Rechts, wurde dabei jedoch zu einer Art objektiver Wahrheit verdichtet, war sie auch nicht metaphysischen Charakters: Deutungskämpfe um das, was die Tradition eigentlich ausmache, waren nicht vorgesehen, ausgegangen wurde von der Fiktion eines Konsenses der Experten. Dieser galt deswegen als unverzichtbarer Bestandteil des positiven Rechts, weil in ihm, wenn schon nicht Wahrheit, so doch Weisheit transportiert werde. Der eigentliche Unterschied zum Naturrechtsdenken bestand darin, dass der objektive Kern des Rechts nun als etwas zeitlich Wandelbares angesehen wurde. Sein Wahrheitsgehalt lag nicht mehr in 215 

So für Esser und Larenz auch Monika Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, 1981, S. 68 ff., 79. 216  Dass es um die Absicherung der gesellschaftlichen Autorität von Juristen gehe, stellte für die Theorie Essers bereits Hans Kelsen fest, Allgemeine Theorie der Normen, 1979, S. 94.

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Kapitel 5: Von säkularer Naturrechtslehre zur Theorie des Richterrechts

abstrakten überzeitlichen Rechtssätzen, sondern darin, dass er in der Lage war, sich den jeweils neuen Umständen anzupassen und einen immer neuen Konsens der Jurisprudenz zu erzeugen. Coing hatte sich aus einem naturrechtlichen Systemdenken heraus Methodenfragen zugewandt. Auch wenn die sich anschließende Diskussion im Zeichen der Kritik am Naturrechtsdenken stand, stellte sie weniger eine Abkehr als eine Flexibilisierung und Dynamisierung dieses Denkens dar.

IV. Fazit Der Verlauf der säkularen Naturrechtsdiskussion war geprägt durch die frühzeitige Anerkennung der Geschichtlichkeit des Rechts. Geschlossene Naturrechtssysteme wurden von Anfang an skeptisch betrachtet. Selbst Coing, dessen erster Entwurf von 1947 einem solchen recht nahe kam, betonte, dass ein Naturrecht nur anerkannt werden könne, wenn es offen für den historischen Wandel ethischer Erkenntnis sei. Dies wurde zeitgenössisch als nicht weitgehend genug kritisiert. In der folgenden, in der ersten Hälfte der 1950er Jahre geführten Diskussion wurde der objektiv-materielle Gehalt des Rechts auf einen Kern verengt. Nur noch zum Teil wurde er als ethisches Axiom gesetzt, zumeist jedoch kulturrechtlich oder ontologisch begründet. Während das klassische Naturrecht in seiner überzeitlich-objektiven Existenz, seinem Umfang und seiner Erkennbarkeit relativiert wurde, wurden auf diese Weise neue außerpositive Normen hinzugezogen, denen man die Zusammenführung von Konstanz und Wandel eher zutraute. Die Diskussion um die Geschichtlichkeit des Rechts verlief zeitlich parallel zu der in der evangelischen Naturrechtsdebatte. Die Einsicht, dass alle Werterkenntnis geschichtlich und Normativität situativ bedingt sei, brachte in der säkularen Naturrechtsdebatte dabei allerdings einen Wandel der Naturrechtsfunktion mit sich, wie er in der evangelischen Naturrechtsdebatte der Nachkriegszeit nicht zu finden ist: Naturrecht als starre Norm, an der man das positive Gesetz messen konnte, wurde verworfen. Ethische wie sachlogische, außerpositive Normen wurden als Telos in das positive Recht integriert. So hoffte man, könnten sie Gerechtigkeit im konkreten Fall garantieren. Auch diesem Funktionswandel lag der Wunsch nach der Gleichzeitigkeit von Konstanz und Wandel bzw. von Objektivität und Situativität zugrunde. Naturrecht wurde „subtiler“, wie Larenz es formulierte. 217 Schwächer allerdings wurde es nicht: Die Autorität der Jurisprudenz gegenüber dem Gesetzgeber wurde durch die Lockerung der Gesetzesbindung deutlich gestärkt. Dies war freilich keine Erfindung der 1950er Jahre: Die Autorität der Jurisprudenz gegenüber dem Gesetzgeber war bereits in verschiedenen methodischen Ansätzen der ersten 217 

Karl Larenz, Methodenlehre, 1960, S. 122.

IV. Fazit

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Hälfte des 20. Jahrhunderts ein wichtiges Thema. Hieran wurde in der säkularen Naturrechtsdebatte und der Methodendiskussion der 1950er Jahre durchaus erinnert, so etwa an die Position der Freirechtslehre. Ausgespart wurde jedoch, dass auch die Überlegungen zur juristischen Methode im Nationalsozialismus in diese Reihe gehörten. Mit Welzel, Wieacker, Esser und Larenz waren einige derer, die eben diese Überlegungen angestellt hatten, prominent an der Nachkriegsdiskussion beteiligt. 218 Die Frage der Identität der Jurisprudenz rückte dabei mit zunehmendem Abstand vom Nationalsozialismus in den Hintergrund. In dem ausgefeilten Katalog „oberster Grundsätze des Rechts“, den Coing 1947 entworfen hatte, war es noch darum gegangen, das Recht im Kontrast zum Nationalsozialismus zu denken und nun, nach Kriegsende an Jurist/innen zu appellieren, sich an der Schaffung eines gerechten Rechts zu beteiligen. In den 1950er Jahren stand nicht mehr die Rehabilitierung des Rechts und der Jurisprudenz angesichts der Verstrickungen in den Nationalsozialismus im Vordergrund. Mit den Ausführungen zu den besonderen Fähigkeiten von Richter/innen, Gerechtigkeit zu erkennen, wurde nun vielmehr wieder recht selbstbewusst begründet, warum der Jurisprudenz eine besondere Autorität zukomme: War das Naturrecht aufgrund der Einsicht in die Geschichtlichkeit des Rechts verworfen, boten nun Tradition des Rechtsdenkens, ein weiter Rechtsbegriff und richterliche „Kunst“ den notwendigen Anker, um richterliche Freiheit gegenüber dem Gesetzgeber zu begründen. Von einer ‚Naturrechtsdebatte‘ kann in der nicht religiös argumentierenden, akademischen Rechtsphilosophie nur für die späten 1940er Jahre die Rede sein. Man könnte sagen, dass es sich um ein kurzes Intermezzo in einer seit der Jahrhundertwende andauernden Methodendiskussion handelte, in der sowohl die Subsumtionsidee als auch die Autorität des Gesetzgebers in Frage gestellt wurden. Die Naturrechtsbesinnung stellte dabei einen Katalysator für die Fortführung dieser Diskussionen nach 1945 dar: Dank ihrer konnte festgestellt werden, man sei sich nun einig darin, dass der Positivismus überwunden werden müsse. Die Naturrechtsbesinnung erschien als Meilenstein auf einem richtigen Weg. Nun galt es die methodischen Konsequenzen zu diskutieren. Dass Gerechtigkeit höher zu veranschlagen sei als der Wille des Gesetzgebers, und dass Recht eine Frage der Wahrheit und nicht des Willens sei, musste in der Methodendiskussion der 1950er Jahre nicht mehr eigens begründet werden. Dies hatte die Naturrechtsbesinnung geleistet. 218  Für Larenz Ralf Frassek, in: Joachim Rückert (Hg.), Fälle und Fallen, 1997, S. 137 (141 f.). Für Wieacker Joachim Rückert im selben Band, S. 9 (11 ff.). Für Esser Hans-Peter Haferkamp, in: Verein zur Förderung der Rechtswissenschaft (Hg.), Fakultätenspiegel Sommersemester 2005, S. 83 (95 ff.). Die Kontinuität verkennt Stefan Vogel, Josef Esser – Brückenbauer zwischen Theorie und Praxis, 2009 in seiner Würdigung des Werkes Essers, siehe S. 176. Unkritisch auch Roland Dubischar, AcP 171 (1971), 440 (461 f.), der die Kontinuitätsfrage im Falle Essers als Problem fortwirkender Sprach- und nicht Denktradition abtut.

224

225

Kapitel 6

Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung: Gemeinsamkeiten der Naturrechtsdebatten In den vorangegangenen Kapiteln hat sich gezeigt, dass die verschiedenen Naturrechtsdebatten auf unterschiedliche Probleme reagierten und recht unterschiedlich verliefen. Rechtspraktiker griffen auf übergesetzliches Recht zurück, um Lösungen für rechtliche Probleme zu finden, die durch die Umbruchsituation nach 1945 entstanden waren. Katholische Juristen sahen in der neuscholastischen Lehre die Grundlage für einen geistig-moralischen Neuanfang nach 1945. Ihre Schriften standen im Kontext der Rechristianisierungsbemühungen der Kirche, für die das Naturrecht eine Möglichkeit bedeutete, sich politisch in der Nachkriegsgesellschaft zu positionieren. Auch die Versuche, eine evangelische Rechtslehre zu begründen, drehten sich um die Kirche: Die Naturrechtsfrage war für evangelische Juristen und Theologen ein Forum, in welchem eine Verständigung über das Selbstverständnis der Kirche angesichts der Erfahrung des Nationalsozialismus und des Kirchenkampfes stattfinden konnte. Die Diskussion in der akademischen Rechtsphilosophie schließlich entzündete sich an der dort herrschenden Skepsis gegenüber den rechtspraktischen Rückgriffen auf übergesetzliches Recht und den religiösen Naturrechtslehren. Es galt eine „wissenschaftliche“ Begründung dafür zu erarbeiten, dass es einen objektiven materiellen Kern des Rechts gebe, auch wenn alles Recht historisch wandelbar sei. Es gab also nicht die eine Naturrechtsdiskussion, wohl aber verschiedene Gesprächskreise und Debattenstränge, die an verschiedene Traditionen anknüpften und in ihren Zugriffen auf das Naturrechtsproblem voneinander abwichen. Alexander Hollerbach spricht so gesehen treffend von einer „Pluralität der Ansätze“1 und auch zeitgenössisch ist die Rede von der „bunte[n], fast verwirrende[n] Fülle“ naturrechtlicher Aussagen. 2 Nimmt man die gesamte Naturrechtsliteratur der Nachkriegszeit in den Blick, so entsteht allerdings nicht 1 

Alexander Hollerbach, in: Katholizismus und Jurisprudenz, 2004, S. 278 (280). Thomas Würtenberger, Wege zum Naturrecht in Deutschland (1946–1948), ARSP 38 (1949/50), 98 (138). Ähnlich auch Adolf Julius Merkl, Neue Naturrechtssysteme im heutigen Deutschland als Ausdruck der Krise des gesatzten Rechts (1951), in: Walter Barfuß (Hg.), 125 Jahre Wiener Juristische Gesellschaft, 1992, S. 118 (122), der konstatiert, dass kein „einheitlicher Standpunkt“ festzustellen sei: „Weder im Bezug auf die Inhalte des Naturrechts, noch im Bezug auf die Auseinandersetzung zwischen Geltungsansprüchen des gesatzten und des inhaltlich konkurrierenden natürlichen Rechtes.“ 2 

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

nur der Eindruck der Vielstimmigkeit, sondern auch der Einheit. Zwar unterschieden sich Naturrechtskonzeptionen und Diskussionsverläufe. Kontroverse Diskussionen zwischen den verschiedenen Strömungen waren aber auf wenige Kernfragen begrenzt. Obgleich es also nicht die eine, sondern verschiedene, von einander getrennte Naturrechtsdiskussionen gab, waren diese nicht einander entgegengesetzt, sondern lassen sich mit einem Fluss vergleichen, dessen Arme in die gleiche Richtung fließen. In den für die Positionierung in der Umbruchsituation nach 1945 wesentlichen Fragen der Vergangenheitsdeutung wie auch der Visionen für die Nachkriegsgesellschaft lagen die Entwürfe dicht beieinander. ‚Naturrecht‘ wurde in verschiedenen Kreisen und auf verschiedene Art und Weise diskutiert, es war dennoch ein Stichwort, unter dem sich einander sehr ähnliche Gesellschaftsvorstellungen vereinigten.3 Diese Vorstellungen, wie die Nachkriegsgesellschaft idealerweise zu gestalten sei, zeigen sich vor allem in den Werten, die für übergesetzlich verbindlich erklärt wurden sowie in den Schlüssen, welche die Autoren aus der Existenz übergesetzlicher Normen für die Macht- und Kompetenzverteilung in der Gesellschaft zogen. Welche Stellung sollte der Einzelne in der Gesellschaft innehaben, wie sollte das Verhältnis zwischen Bürger/innen und Staat ausgestaltet werden und welche Rolle sollten Gerichte und Rechtswissenschaft im Verhältnis zum Gesetzgeber einnehmen? Diese Fragen sind Gegenstand des folgenden Kapitels. Hierfür wird im ersten Teil der Blick auf die Inhalte des übergesetzlichen Rechts selbst gerichtet (A). Im zweiten Teil werden die historischen Ausführungen, mit denen die Naturrechtskonzeptionen begründet und abgestützt wurden, auf ihre Wertgehalte hin untersucht (B). In einem dritten Teil schließlich wird es um die Konsequenzen gehen, welche die Autoren für die Stellung der eigenen Profession in der Nachkriegsgesellschaft zogen (C). Es wird sich zeigen, dass sich die Naturrechtsliteratur gerade deshalb in ihren Gesellschaftskonzeptionen ähnelte, weil der Neuanfang nach 1945 überschattet war vom Fortwirken eines Denkstils aus der Weimarer Zeit, der damals nicht nur die Rechtsphilosophie, sondern breite gesellschaftliche Kreise des konservativen Spektrum erfasst hatte. Die Zukunftsvorstellungen der Autoren der Naturrechtsschriften verharrten hierdurch in einer eigentümlichen Mischung aus Kontinuität und Bruch mit der Vergangenheit. 3  Wie in den Kapiteln 2 bis 5 gezeigt, handelte es sich dabei nicht nur um „Naturrecht“ im Sinne eines nicht menschlich geschaffenen, überpositiven Rechts, sondern durchaus auch um kulturrechtliche Ansätze oder zwar überpositive, aber nicht unmittelbar verbindliche Grundsätze. Zeitgenössisch wurde die Diskussion um diese Konzepte übergesetzlichen Rechts jedoch weitgehend unter dem Stichwort des „Naturrechts“ geführt, siehe etwa Franz Wieacker, Gesetzesrecht und richterliche Kunstregel, JZ 1957, 701 (705), der trotz aller Skepsis an dem Begriff festhält. In diesem Kapitel wird daher der Einfachheit halber „Naturrecht“ in einem weiten Sinne verwendet. Gemeint sind die Konzepte übergesetzlichen Rechts, die im Rahmen der Naturrechtsdebatten diskutiert wurden.

A. Naturrechtsinhalte: Ordnungsvorstellungen für die Nachkriegsgesellschaft

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A. Naturrechtsinhalte: Ordnungsvorstellungen für die Nachkriegsgesellschaft An unmittelbarsten zeigen sich die Gesellschaftsvorstellungen an den Werten, die in den Schriften als „naturrechtlich“ bezeichnet wurden. Da sich die Texte jedoch in der Detailliertheit der Aufzählung dieser Werte stark unterscheiden, ist es nicht ganz einfach, verlässlich zu rekonstruieren, von welchen gemeinsamen Vorstellungen die Naturrechtsliteratur getragen war. Während in der katholischen Naturrechtslehre ausführliche und als abschließend angesehene Kataloge aufgestellt wurden, beschränkte sich die rechtspraktisch ausgerichtete Literatur darauf, diejenigen Werte zu benennen, die für das konkret zu lösende Problem relevant schienen. Die protestantische und säkulare Diskussion konzentrierten sich auf die Frage, ob überhaupt ein erkennbares Naturrecht existiere und wie dieses theoretisch-strukturell zu konzipieren sei. Viele Schriften, die im Rahmen dieser Diskussionen entstanden, äußerten sich zu den konkreten Inhalten eines solchen Naturrechts überhaupt nicht. Bei einer Auswertung der Aussagen zu den Naturrechtsinhalten ergibt sich hierdurch ein verzerrtes Bild, die Vorstellungen katholischer Autoren rücken verglichen zu denen der übrigen Autoren überproportional in den Blick. Doch deswegen auf die Rekonstruktion gemeinsamer Wertvorstellungen gänzlich zu verzichten, würde das Bild ebenfalls verfälschen. Konkrete Inhalte des Naturrechts aufzuzählen hatte in den unterschiedlichen Gesprächskreisen einen unterschiedlichen Stellenwert. Dennoch gibt es zahlreiche Anhaltspunkte dafür, dass die Naturrechtsliteratur quer durch die verschiedenen Debattenteile von sehr ähnlichen Wertvorstellungen getragen war. Zwar waren Schriften, die detaillierte Naturrechtskataloge aufstellten, zum Teil starker Kritik ausgesetzt. Diese bezog sich aber stets auf die Frage, ob in dieser Detailliertheit zeitlos gültige Werte erkannt und benannt werden könnten. Die Werte selbst und ihre leitende Bedeutung für die konkrete Zeit standen außer Frage, sie waren nicht Gegenstand von Kontroversen. Im Gegenteil, auch die Schriften die mit der Benennung naturrechtlicher Normen zurückhaltend waren und nur punktuell einzelne Werte herausgriffen, bewegten sich stets in dem Rahmen, der durch die ausführlicheren Normenkataloge abgesteckt war. Dieser Rahmen, in dem ein breiter Konsens und kaum Kontroverse herrschte, enthält vieles, was heute als integraler Bestandteil von Grundrechtskatalogen in Verfassungen angesehen wird. Er umfasste neben so großen Schlagworten wie Gerechtigkeit und Gleichheit auch den Schutz der Menschenwürde, des Lebens, der körperlichen Integrität und Freiheit sowie geistige Freiheiten, wobei insbesondere die Religionsfreiheit stark hervorgehoben wurde. Doch obgleich diese ‚klassischen‘ Freiheitsrechte eine prominente Stellung in den Naturrechtskatalogen innehatten, fällt auf, dass in einem überwiegenden Teil der Naturrechts-

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

literatur soziale und gemeinschaftsorientierte Werte ebenfalls eine bedeutende Rolle spielten. Naturrechtsinhalte umfassten nicht nur Rechte des Individuums. Sie waren auch durch die Vorstellung geprägt, dass sich der Einzelne in bestehende Gemeinschaften einordnen solle und dass er diesen gegenüber nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten habe. Wie genau die Naturrechtslehren sich zwischen freiheitlicher und sozialer, individueller und gemeinschaftlicher Orientierung positionierten und wie das Verhältnis der Bürger/innen zum Staat konzipiert wurde, wird im Folgenden beleuchtet.

I. Frei – Sozial Eine soziale Ausrichtung, insbesondere eine Einschränkung des durchgängig als Naturrecht anerkannten Eigentumsrechts, findet sich in allen Debattenteilen und bei allen Autoren, die in ihrer Naturrechtsbeschreibung detailliert genug sind. In der Balance zwischen Freiheit und sozialer Sicherung gab es allerdings deutliche Unterschiede. Unter den vier Autoren, denen in dieser Arbeit besondere Aufmerksamkeit zukommt, markieren Süsterhenn und Coing die beiden Ränder des Spektrums. Süsterhenns soziale Orientierung zeigt sich nicht nur in seinen Schriften, sondern vor allem in seinem verfassungspolitischen Engagement in Rheinland-Pfalz. Er setzte auch gegen Bedenken seiner Berater eine stark soziale Ausrichtung der Verfassung von 1947 durch. Sie enthielt Existenzsicherungsrechte wie beispielsweise das Recht auf eine lebensbedarfdeckende Entlohnung und Anspruch auf Urlaub, eine Bodenreform nach sozialen Gesichtspunkten sowie Rechte von Arbeiternehmer/innen gegenüber Unternehmer/innen wie das Streikrecht und das Mitbestimmungsrecht.4 Diese soziale Ausrichtung knüpfte an die Tradition der katholischen Soziallehre an und war kapitalismuskritisch fundiert: Konzentrationen von wirtschaftlicher Macht seien zu vermeiden, soziale Rechte sollten Arbeiternehmer/innen vor Ausbeutung im Interesse der Kapitalakkumulation schützen. Stattdessen sollten Arbeitnehmer/innen und Unternehmer/innen zusammenwirken im Interesse des Gemeinwohls. Freiheitsrechte spielten zwar keine untergeordnete Rolle, in ökonomischer Hinsicht waren sie aber durch eben diese sozialen Rechte eingeschränkt. Eine ähnliche stark soziale Orientierung findet sich in der protestantischen Diskussion. Zwar konnten protestantische Autoren nicht auf eine der katholischen Soziallehre entsprechende eigene Tradition zurückgreifen.5 Es bestand aber Einigkeit, dass das Gebot der Nächstenliebe die Sicherung menschenwür4 

Siehe ausführlich Kapitel 3, S. 122 ff. Herbert Krimm, Soziale Frage, in: Hermann Kunst u.a. (Hg.), Evangelisches Staatslexikon, 1.A. 1966, Sp. 2036 (2037). 5 

A. Naturrechtsinhalte: Ordnungsvorstellungen für die Nachkriegsgesellschaft

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diger Arbeitsverhältnisse sowie die Fürsorge für sozial Schwache verlange. In den Schriften, die sich nicht nur mit der Frage beschäftigten, ob überhaupt ein Naturrecht existiere, sondern auch mit dessen Inhalten, wurde dementsprechend stets die Sozialbindung des Eigentums besonders herausgestellt. Insbesondere Emil Brunner legte einen detaillierten Entwurf einer „gerechten Ordnung der Wirtschaft“ vor. Wie Süsterhenn leitete auch er dabei das Recht auf einen existenzsichernden Lohn aus christlichen Geboten ab.6 Ähnliche Überlegungen finden sich bei Erik Wolf.7 Diese soziale Ausrichtung fügte sich in Diskussionen ein, die weit über die Naturrechtsdiskussion hinauswiesen. In den Kirchen wurde die soziale Frage in den Jahren nach 1945 eingehend diskutiert und auch im politischen Raum wurde das kapitalistische Wirtschaftssystem lagerübergreifend in Frage gestellt. Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges habe es eine „wirtschaftspolitische Publikationsflut“ gegeben, in der durchgängig eine „organisierte“ Wirtschaft gefordert worden sei, stellt Knut Wolfgang Nörr in seiner Studie zur Wirtschaftsverfassung nach 1945 fest.8 Zwar habe man sich von einem Zwangssystem wie der Sowjetunion abgegrenzt,9 antikapitalistisches Denken wurde aber weit über die im traditionellen Sinne linken Parteien hinaus vertreten, so beispielsweise gerade auch in religiösen Kreisen, links-sozialistischen wie sozialkonservativen gleichermaßen.10 Die Bedeutung, die der sozialen Frage nach 1945 beigemessen wurde, erklärt sich sicherlich auch durch die wirtschaftliche Notsituation dieser Jahre. Die Kirchen widmeten sich in den Nachkriegswirren besonders der sozialen Nothilfe, wodurch sie zugleich ihre über unmittelbar religiöse Angelegenheiten hinausgehende gesellschaftliche Relevanz demonstrierten und damit Terrain absteckten.11 Doch nicht allein aus dieser spezifischen Nachkriegssituation erklärt sich die Bedeutung der sozialen Frage über die verschiedenen politischen und weltanschaulichen Lager hinweg. Die Selbstverständlichkeit mit der hier eine „organisierte Wirtschaft“ gefordert wurde, erklärt sich auch daraus, dass es sich um keine neue Forderung handelte. Für die Kirchen hatte die soziale Frage seit  6 

Emil Brunner, Gerechtigkeit, 1943, S. 200 ff. Ebenso der Entwurf des norwegischen Theologen Eivind Berggrav, der ein auf lutherischer Seite beachtetes, 1946 ins deutsche übersetztes Naturrechtsbuch verfasste: Der Staat und der Mensch (norw. 1944), 1946, S. 219 f.  7  Erik Wolf, Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts (Vortrag 1946), in: Rechtsgedanke und biblische Weisung, 1948, S. 33 (51 f.).  8  Knut Wolfgang Nörr, Die Republik der Wirtschaft, Bd. 1, 1999, S. 19 ff.  9  Knut Wolfgang Nörr, ebd., S. 21 ff. 10  Franz Focke, Sozialismus aus christlicher Verantwortung, 1978; Rudolf Uertz, Christentum und Sozialismus in der frühen CDU, 1981. 11  Für die katholische Kirche Werner K. Blessing, in: Martin Broszat u.a. (Hg.), Von Stalingrad zur Währungsreform, 1990, S. 3 (75 ff.); für die evangelische Kirche Christoph Kleßmann, in: Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau, 1993, S. 403 (405 f.).

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

dem ausgehenden 19. Jahrhundert in dezidierter Abgrenzung zum Marxismus und zur Sozialdemokratie zunehmend an Bedeutung gewonnen.12 Die katholische Theologie entwickelte frühzeitig eine eigene Soziallehre13 und auch in der evangelischen Theologie wurde in den 1920er Jahren die Forderung nach einer Sozialethik laut.14 Zugleich gewann staatliche Sozialpolitik an Bedeutung15 und die soziale Frage rückte auch für die Jurisprudenz verstärkt in den Blick: Die sozialen Grundrechte in der Weimarer Reichsverfassung und die Herausbildung des kollektiven Arbeitsrechts etwa sind Ergebnisse dieser Entwicklung.16 In der Begründung sozialer Sicherung und der Bestimmung des Verhältnisses sozialer Rechte zu Freiheitsrechten rangen dabei sozialistische und sozialkonservative, liberale und kollektivistische Ansätze miteinander.17 So war die soziale Frage in der Weimarer Zeit oft, aber nicht immer, von antiliberalen, kollektivistischen Haltungen begleitet.18 Diese waren es, die in den Nationalsozialismus hinein sich verstärkten19 und über 1945 hinaus fortwirkten. 20 12  Für beide Kirchen Gerhard Besier, Kirche, Politik und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, 1998, S. 26 ff. Dies schlug sich in der katholischen Kirche in der Soziallehre, in den Aktivitäten der christlichen Arbeitervereine und der Bildung christlicher Gewerkschaften nieder. In der evangelischen Kirche bildeten sich Ende des 19. Jahrhunderts religiös-soziale Bewegungen heraus, ab 1918/19 auch religiös-sozialistische, dazu Daniela Dunkel, Religiöser Sozialismus, in: Gerhard Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 28, 1997, S. 504–513. 13  Ausführlich Kapitel 3. 14  So z.B. Otto Dibelius, Das Jahrhundert der Kirche, (1926), 3.A. 1927, S. 232 ff.; Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1922), 1977, S. 965 ff., 985. 15  Dies gilt schon für das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts. Die Entwicklung verstärkte sich in der Weimarer Republik angesichts der Notlage nach Kriegsende, hierzu Michael Stoll­ eis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 50 ff., 124 ff. 16  Zur Sozialpolitik der Weimarer Zeit insgesamt Werner Abelshauser (Hg.), Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat, 1987; zur sozialen Ausrichtung der Verfassung ebd. S. 10 ff. Zum Arbeitsrecht Michael Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 150 ff. 17  Jan Schröder, in: Knut Wolfgang Nörr u.a. (Hg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik, 1994, S. 335–359. 18  Antiliberalismus und Kollektivismus gingen nicht immer miteinander einher, so bei Hugo Sinzheimer und v. a. bei seinen Schülern Ernst Fraenkel, Franz L. Neumann und Otto Kahn-Freund, die sich mit ihrem Konzept der „kollektiven Demokratie“ entschieden gegen das faschistische Gemeinschaftsdenken wandten, hierzu Sandro Blanke, Soziale Rechte oder kollektive Privatautonomie?, 2005, S. 92 ff. 19  Zur Verbindung einer antiliberalen und einer sozialen Ausrichtung des Privatrechts im NS Thorsten Keiser, Eigentumsrecht in Nationalsozialismus und Fascismo, 2005, sowie Einzelstudien: André Depping, Das BGB als Durchgangspunkt, 2002, S. 244 ff. zu Heinrich Lehmann; Christine Wegerich, Die Flucht in die Grenzenlosigkeit, 2004, S. 116 ff., 129 f. zu Justus Wilhelm Hedemann; mehr antiliberal-kollektivistisch als sozial Heinrich Lange, siehe Wilhelm Wolf, Vom alten zum neuen Privatrecht, 1998, sowie Hans Carl Nipperdey, siehe Thorsten Hollstein, Die Verfassung als „Allgemeiner Teil“, 2007, S. 232 ff., 255 ff. Den Vorrang des Kollektivismus vor dem Schutz sozial Schwacher beobachtet auch Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974, besonders S. 127 ff. 20  Ilka Kauhausen, Nach der ‚Stunde null‘, 2007, sowie Einzelstudien: Für Heinrich Lange Wilhelm Wolf, Vom alten zum neuen Privatrecht, 1998, S. 318 f.; für Heinrich Leh-

A. Naturrechtsinhalte: Ordnungsvorstellungen für die Nachkriegsgesellschaft

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Tatsächlich war man in der christlichen Naturrechtsliteratur nach 1945 – wie im sozialkonservativen Spektrum insgesamt – bemüht, sich mit der sozialen Orientierung sowohl von einem als individualistisch geltenden Liberalismus als auch vom Sozialismus abzugrenzen. 21 Süsterhenn brachte diese Haltung zum Ausdruck, als er vorschlug, von „Solidarismus“ statt von „Sozialismus“ zu sprechen. 22 Brunner schrieb im gleichen Sinne: „Vom christlichen Gerechtigkeitsgedanken aus ergibt sich ein anderes Gesetz wirtschaftlicher Gerechtigkeit, das die Freiheit des Eigentums und die Initiative mit der Verantwortlichkeit gegenüber dem Ganzen verbindet. Und dieses allein ist imstande, die Wirtschaft zwischen beiden Extremen durchzusteuern.“23

Die Schlüsselworte „Solidarität“ und „Verantwortung“ waren nicht beliebig. Sie zeigten an, dass mit der sozialen Frage weit mehr verbunden war als die bloße Absicherung des Existenzminimums durch staatliche Fürsorge. Die soziale Ausrichtung war in den christlichen Naturrechtslehren Bestandteil einer Vorstellung, welcher zufolge die Gesellschaft von gegenseitiger Fürsorge getragen sei und Klassengegensätze oder Interessenkonflikte dadurch harmonisiert würden, dass beide Seiten miteinander kooperierten und sich um ihren Ausgleich bemühten. In den Diskussionen um die Rheinland-Pfälzische Verfassung war dies ein zentraler Topos und führte zur Schaffung von Strukturen, in denen Unternehmer/innen und Arbeitnehmer/innen zusammenwirken sollten. Im Umfeld der evangelischen Kirche mündete diese Gesellschaftsvorstellung in einer Kontroverse um die Frage, ob nicht der Paternalismus des Wohlfahrtsstaates gesellschaftliche Solidarität gefährde. Während Brunner staatliche Wirtschaftsplanung und -lenkung zur Verhinderung von Monopolen for­derte, 24 stellte der norwegische Bischof Eivind Berggrav, dessen Naturrechtsschrift „Der Staat und der Mensch“ 1946 ins Deutsche übersetzt wurde, den Wohl-

mann André Depping, Das BGB als Durchgangspunkt, 2002, S. 258 f.; für Justus Wilhelm Hedemann Christine Wegerich, Die Flucht in die Grenzenlosigkeit, 2004, S. 204. Dies gilt auch für die Staatsrechtslehre, siehe Frieder Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 204 f. Eine Ausnahme war Hans Carl Nipperdey, der mit seiner Position vor 1945 brach und nun als einer der ganz wenigen Rechtswissenschaftler eine sozial-liberale Position vertrat, siehe Thorsten Hollstein, Die Verfassung als „Allgemeiner Teil“, 2007, S. 260 ff. 21  Ein solcher Mittelweg zwischen Liberalismus und Sozialismus oder auch zwischen einer kapitalistischen und einer kommunistischen Wirtschaftsordnung war nach 1945 nicht neu, er wurde vielmehr von konservativen Kräften verschiedener Couleur bereits in der Weimarer Zeit gefordert und dabei z. T. als spezifisch „deutsch“ assoziiert, siehe z.B. Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, 1920. Dies setzte sich im NS fort, siehe Michael ­Stoll­eis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974, S. 16 ff. Bezüge zu dieser nationalistischen Tradition finden sich nach 1945 nicht mehr. 22  Zum Konzept des „Solidarismus“ siehe Kapitel 3, S. 124 f. m.w.N. 23  Emil Brunner, Gerechtigkeit, 1943, S. 218. 24  Emil Brunner, Gerechtigkeit, 1943, S. 216; Erik Wolf, Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts (1946), S. 33 (51).

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

fahrtsstaat grundlegend in Frage: „Nur selbstkontrollierte Gegenseitigkeit im Wirtschaftsleben gibt dem einzelnen seine Souveränität mit der dazu gehörigen Initiative, Pflicht und Verantwortung, sowie der Gemeinschaft ihr Recht und ihre Inspiration zum Unternehmergeist.“25 Sein Ideal war nicht eine Gesellschaft, in der jeder Einzelne für sich sorgte, sondern eine solche, in der die Menschen eingebettet in familiäre, aber auch religiöse Gemeinschaften für einander sorgten. In einer solidarischen Gesellschaft sollte Wohlfahrt durch gesellschaftliche Verbände und nicht durch den Staat organisiert werden – so zum Beispiel durch kirchliche Verbände. 26 Unter den Juristen, die an der evangelischen Naturrechtsdebatte beteiligt waren, war es Erik Wolf, der diese Vorstellung einer solidarisch-fürsorglichen harmonischen Gesellschaft am weitesten entwickelte. 27 Staatliches Recht konnte aus seiner Sicht nicht der Schlüssel zur Verwirklichung einer solchen Vorstellung sein und so setzte Wolf auf außerrechtliche Solidarität. „Der Nächste muß zu seinem Recht kommen und das nicht erst durch Geltendmachen klagbarer Ansprüche“28, schrieb er und forderte hierfür wenn nötig auch den Verzicht auf individuelle subjektive Rechte: „[A]uch die Wahrnehmung an sich berechtigter Privatinteressen darf dem Nächsten gegenüber nur behutsam gefordert werden und nur, wo sie unvermeidlich erscheint, zu erzwingen erlaubt sein. Bedenkenlose Ausnutzung subjektiver Rechte (etwa Betreibung notleidender Schuldner), sachwidrigen Gebrauch von Eigentum (besonders Vergeudung von Nahrungsmitteln), verbietet das Nächstenrecht. Auch das Ergreifen jeder Möglichkeit gerichtlichen Rechtsschutzes gestattet es nur ausnahmsweise. Auf gesetzlich zulässige Selbsthilfe, Eigenmacht und noch weiter reichende, übergesetzliche Notrechte zu verzichtet wird oft anzuraten sein – es sei denn, daß die Aktion im tiefsten Grunde solidarischen Charakter trägt.“29

Mit diesen Sätzen sprach Wolf wie kein anderer die rechtliche Dimension einer solchen auf Solidarität, Fürsorge und Harmonie angelegten Vorstellung einer Sozialordnung an. Sozialer Ausgleich war für ihn eine gemeinschaftliche Aufgabe. Die Menschen sollten ihn kooperativ herstellen. Gebot der soziale 25 

Eivind Berggrav, Der Staat und der Mensch (norw. 1944), 1946, S. 246 f. Seine sozialpolitischen Thesen wurden von der evangelischen Naturrechtsdiskussion zunächst nicht aufgenommen. Erst als er seine Thesen auf der zweiten Versammlung des Lutherischen Weltbundes in Hannover 1952 präsentierte, löste dies eine Kontroverse um die kirchliche Haltung zum Wohlfahrtsstaat aus. Freilich wurde diese nicht mehr im­ Rahmen der Naturrechtsdebatte geführt, sondern baute auf ihren Ergebnissen auf, namentlich auf der Überzeugung, dass die Kirche sich in weltliche Fragen einmischen dürfe und solle. 27  Alexander Hollerbach, in: Jahrbuch für die badische Kirchengeschichte, Bd. 2 (2008), S. 47 (61) konstatiert insofern einen „bemerkenswerten Gleichklang mit Grundpositionen der katholischen Soziallehre“. 28  Erik Wolf, Recht des Nächsten, 1957, S. 25 f. 29  Erik Wolf, ebd., S. 27. 26 

A. Naturrechtsinhalte: Ordnungsvorstellungen für die Nachkriegsgesellschaft

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Ausgleich eine andere Lösung als die des rechtlich vorgesehenen Interessenausgleichs, waren die Individuen angehalten, besonders gegenüber wirtschaftlich Schwächeren auf die Durchsetzung ihrer subjektiven Rechte zu verzichten. 30 Auch wenn Wolf mit dieser radikalen Zuspitzung allein blieb, deutet sich hier doch bereits an, was an anderer Stelle in diesem Kapitel noch ausgeführt wird: Die soziale Ausrichtung in der Naturrechtsliteratur verband sich mit einem Gesellschaftsentwurf, der nicht allein vom Individuum aus konzipiert war, sondern in dem die Einschränkung individueller Rechte im Interesse von Gemeinschaft eine bedeutende Rolle spielte. Dies ergibt sich nicht zwangsläufig aus der sozialen Ausrichtung selbst. Soziale Rechte zu gewähren erfordert zwar zunächst immer auch Einschränkungen individueller Freiheiten. Das bedeutet jedoch nicht, dass auch soziales Recht nicht einem auf das Individuum ausgerichteten Freiheitsbegriff verpflichtet sein könnte. Hugo Sinzheimer, Hermann Heller und Gustav Radbruch etwa sahen in der Weimarer Zeit soziale Rechte als ein Mittel an, um nicht nur rechtlich individuelle Freiheit zu verwirklichen, sondern Bedingungen zu schaffen, in dem die Menschen eben diese Freiheiten auch nutzen konnten.31 Die Konzeption Coings fällt aus dem sozialen Konsens der Naturrechtsliteratur heraus. Die von ihm zu „obersten Grundsätzen des Rechts“ erklärten Werte zeigen eine eindeutige Prioritätensetzung zugunsten der Freiheitsrechte. Der Bedeutung des Rechts auf Privateigentum für eine freiheitliche Gesellschaftsordnung räumte er eine detaillierte Darstellung ein. Er ging davon aus, dass es naturrechtlich geboten sei, sich statt für soziale Gerechtigkeit für Freiheit zu entscheiden. Die Freiheit ziehe der Gerechtigkeit „eine notwendige ­Schranke“32, schrieb er. „[D]ie Gerechtigkeit muß sich – will sie dem Menschen, seinem Wesen entsprechend, Freiheit gewähren – selbst begrenzen; sie muß darauf verzichten, in jedem Augenblick alles gerecht zu verteilen. Sonst läuft sie Gefahr, um der gerechten Verteilung willen dem Menschen gerade das zu verweigern, was ihm am

30  Diese Forderung spielte schon im Privatrecht des NS eine wichtige Rolle und schlug sich in Schuldenbereinigungsgesetzen nieder, dazu Joachim Rückert, ZRG 103 (1986), S. 199 (233). 31  Vgl. Jan Schröder, in: Knut Wolfgang Nörr u.a. (Hg.), Geisteswissenschaften zwischen Kaiserreich und Republik, 1994, S. 335 (339 ff.); zu Hermann Heller außerdem Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehre in der Weimarer Republik, 2010, S. 175 ff., 457 f.; zu Sinzheimer Sandro Blanke, Soziales Recht oder kollektive Privatautonomie?, 2005, S. 85 ff., 92 f. Ähnlich auch Franz L. Neumann, zu diesem Joachim Rückert, in: Marcus Lutter (Hg.), Der Einfluß deutscher Emigranten, 1993, S. 437 (464 ff.). Im gleichen Sinne heute Joachim Rückert, „Frei und sozial“ als Rechtsprinzip, 2006. Er argumentiert, dass „frei“ und „sozial“ nicht als Gegensätze angesehen werden müssten, wenn Freiheitseinschränkungen und soziale Rechte nicht zum Selbstzweck würden sondern die Freiheitsverwirklichung des Einzelnen zum Ziel hätten. 32  Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 42 [Hervorhebung im Original].

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

ersten zukommt: Anerkennung als Person und damit Freiheit.“33 In dubio pro libertate war der Grundton von Coings Ausführungen.34 Dennoch zeigt gerade das Beispiel Coings, wie weit der soziale Konsens reichte. Trotz seines klaren Bekenntnisses, dass Freiheit vorgehen müsse, hatten auch soziale Rechte ihren Platz unter den „obersten Grundsätzen“ – freilich einen weit eingeschränkteren als etwa bei Süsterhenn. Neben das Eigentumsrecht trete ein „Grundrecht“ auf „Sicherung des notwendigsten Lebensbedarfs, die sog. Freiheit von Not“.35 Existenzsicherung sah er als staatliche Aufgabe an, soweit es ausreichend Güter zur Verteilung gab, und auch den Schutz von Leben, Gesundheit und geistiger Freiheit von Arbeitnehmer/innen rechnete er zu den „obersten Grundsätzen des Rechts“. Ansprüche auf existenzsichernden Lohn hingegen finden sich nicht, und in der Darstellung der staatlichen Eingriffsrechte im sozialen Interesse dominiert der Schutz des Eigentums gegenüber den Gestaltungsrechten des Staates. Während die Begründung der liberalen Grundkonzeption rechtsphilosophisch in eine Gerechtigkeitslehre und in erkenntnistheoretische Annahmen eingebettet war, blieben die sozialen Rechte, die Coing formulierte, nicht nur hinter den in den christlichen Entwürfen geforderten Regelungen zurück, sondern fügten sich auch nicht stringent in seine Naturrechtsbegründung ein. 36 Appelle an Solidarität oder an soziale Verantwortung und Fürsorge fehlten bei Coing. Dass die Sicherung des Existenzminimums durch den Staat Teil der „austeilenden und schützenden Gerechtigkeit“ sei, stellte er vielmehr wie eine Selbstverständlichkeit fest, ohne dies in sein liberales Gesellschaftsbild einzupassen oder rhetorisch zu untermauern. Coing war bemüht um Kohärenz und Geschlossenheit seines Naturrechtsentwurfs, die Isoliertheit der sozialen Rechte von der übrigen Naturrechtsbegründung fällt daher stark ins Auge. In „Die obersten Grundsätze des Rechts“ wiederholte er mehrfach in verschiedenen Zusammenhängen die Notwendigkeit, das Existenzminimum für alle zu garantieren, betonte zugleich aber stets, dass soziale Rechte nur äußerst eingeschränkt gewährt werden dürften. Dies deutet darauf hin, dass Coing die Notwendigkeit empfunden hat, soziale Rechte nicht auszusparen, auch wenn sie sich in seine Konzeption nur teilweise einfügten und sie für ihn kein zentrales Anliegen darstellten. Seine Mahnungen, beim Einräumen sozialer Rechte Vorsicht walten zu lassen, weist darauf hin, dass hierbei auf einen Diskurs reagierte, im dem aus seiner Sicht sozialen Rechten gegenüber „geistigen“ Freiheitsrechten ein zu großer Raum gegeben wurde. 33 

Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 42. auch Heinz Mohnhaupt, in: Horst Schröder/Dieter Simon (Hg.), Rechtswissenschaft in Deutschland 1945–1952, 2001, S. 97 (118 f.); Ilka Kauhausen, Nach der ‚Stunde Null‘, 2007, S. 31 ff. 35  Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 66. 36  Siehe sogleich, S. 237 f. 34  So

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Die Naturrechtsentwürfe nach 1945 umfassten damit als oberste Werte durchgängig nicht nur Freiheitsrechte, sondern auch soziale Rechte. Es dominierte dabei eine Ordnungsvorstellung, in der sozialer Ausgleich durch Solidarität und gegenseitige Verantwortungsübernahme in der Gesellschaft hergestellt würde. Bürger/innen sollten nicht nur individuelle Interessen und Rechte haben, sondern auch die Pflicht, gemeinschaftlich auf sozialen Ausgleich hinzuwirken. Rechte und Pflichten wurden oft nicht klar in Verhältnis zueinander gesetzt, Erik Wolf gab der vorherrschenden Tendenz aber wohl Ausdruck, als er außerrechtliche Solidarität grundsätzlich über die Konfliktlösung durch Wahrnehmung subjektiver Rechte stellte. Coing war mit seiner dezidiert liberalen Haltung eine Ausnahme. Dass auch er wiederholt soziale Rechte erwähnte, kann als ein Zugeständnis an den vorherrschenden Diskurs gelesen werden: Dieser verlangte offenbar von einem rechtsphilosophischen Gesellschaftsentwurf, der den Anspruch erhob, umfassend zu sein, sozialen Rechten Bedeutung zuzumessen. Gerade das Beispiel Coings, der dieser Notwendigkeit offenbar mit aller ihm möglich erscheinenden Zurückhaltung nachgab, zeigt, wie mächtig der Diskurs war.

II. Individuum – Gemeinschaft Eine gemeinschaftliche Ausrichtung der Naturrechtslehren deutete sich in der Forderung nach sozialer Sicherung und Fürsorge bereits an. Sie wird deutlicher, wenn man die den Naturrechtsentwürfen zugrunde liegenden Freiheitsbegriffe sowie die Konzeptionen von Rechten und Pflichten in den Blick nimmt. Die Positionierung zwischen einer individualistisch und einer gemeinschaftlich orientierten Gesellschaftskonzeption ist in den Texten häufig schon am Menschenbild erkennbar – in der zeitgenössischen Sprache: am Begriff der „Person“. Die Haltung der Verfasser war ambivalent. Individuelle Freiheit war in allen Naturrechtsentwürfen integraler Bestandteil des Personbegriffs. Die Verfasser betonten durchgängig, dass erst durch sie die Würde des Menschen garantiert werde. Zugleich kam kaum ein Naturrechtsentwurf ohne den Hinweis auf „die soziale Natur des Menschen“ aus, mit deren Hilfe Pflichten gegenüber der Gemeinschaft begründet wurden. Das Verhältnis zwischen individuellen Rechten und diesen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft wurde dabei wenig konkretisiert und blieb häufig schillernd. Es wird sich zeigen, dass gerade hierdurch individuelle Freiheitsrechte in den Naturrechtskonzeptionen prekär blieben.

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

1. Gebundene Freiheit Das Spektrum der Positionen wird auch in dieser Frage – wie schon in der Orientierung zwischen frei und sozial – von Süsterhenn und den übrigen katholischen Autoren auf der einen und Coing auf der anderen Seite markiert. In der Tradition der katholischen Soziallehre verwirklichte sich für Süsterhenn menschliche Würde nicht allein in individueller Freiheit, sondern in einer gebundenen Freiheit. Freiheit sei „keine absolute“, sondern bestehe „innerhalb der Wesensgesetze der menschlichen Natur“.37 Der Mensch solle sich als soziales Wesen unter Berücksichtigung der Pflichten, die sich für ihn aus seiner Stellung in der Gemeinschaft anderen gegenüber ergäben, entfalten. Das dieser Vorstellung zugrunde liegende Menschenbild formulierte Süsterhenn pointiert in einem Artikel zu den Grundrechten, der 1946 im Rheinischen Merkur erschien: „Durch die Hinzufügung der Grundpflichten des Staatsbürgers nach dem Beispiel der Weimarer Verfassung wird zugleich die organische Einordnung des Menschen in die Gemeinschaft hervorgehoben und so der Mensch in seiner personalen Eigenständigkeit und gliedhaften Verbundheit richtig gewürdigt. Damit wird das christlich-humanistische Menschenbild zur Grundlage des gesamten Gemeinschaftslebens erhoben […].“38

Der Freiheitsbegriff, der sich in diesem Zitat zeigt, war ein positiver. Freiheit wurde nicht negativ definiert und nur entlang der Freiheit anderer beschränkt. Süsterhenn ging vielmehr davon aus, dass sich Freiheit gerade dadurch verwirkliche, dass sich der Einzelne in eine soziale Ordnung einfüge und hierdurch an der Bildung der Gesellschaft mitwirke. Es handelte sich nicht um eine „Freiheit von“, sondern um eine „Freiheit zu“. Eine dem Naturrecht entsprechende Rechtsordnung sollte garantieren, dass der Einzelne sich entschließen könne, die seiner Position entsprechenden Aufgaben für die Gemeinschaft zu erfüllen. Zugleich gebiete das Naturrecht dem Einzelnen, eben dies zu tun. Dem Freiheitsbegriff waren also Pflichten gegenüber der Gemeinschaft inhärent. Heinrich Kipp brachte diese Freiheitsvorstellung auf den Punkt, als er schrieb: „Wahre Freiheit ist nur in der gottgegebenen natürlichen Ordnung. Unfrei ist ein Wille, der sich über diese Gesetze seiner Natur hinweg setzen zu können glaubt.“39 Dass damit zugleich eine Abgrenzung von der Freiheitskonzeption der Aufklärung, insbesondere von der Philosophie Kants, vorgenommen werden sollte, machte Hermann Weinkauff deutlich: „Unter dieser menschlichen Personhaftigkeit wird nicht etwas Unbestimmtes, schwer zu Fassendes, Phrasenhaftes verstanden, und schon gar nicht die persönliche Individualität des einzelnen und ihre Besonderheiten, sondern einfach der Umstand, daß der Mensch als einziges Geschöpf innerhalb der Schöpfung ‚auf freie, selbstverantwortliche sittliche 37 

Adolf Süsterhenn, Die naturrechtlichen Grundlagen der internationalen Zusammenarbeit (1949), in: Schriften, 1991, S. 315 (320). 38  Adolf Süsterhenn, Die Grundrechte (1946), in: Schriften, 1991, S. 52 (53). 39  Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 69.

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Selbstbestimmung (sittliche Autonomie) angelegt ist‘, also auf etwas durchaus Typisches und jedem Menschen in gleicher Weise Eigenes. Unter dieser sittlichen Autonomie – der Terminus ist wegen der anderen Bedeutung, die er bei Kant hat, allerdings mißverständlich – wird gerade nicht verstanden, daß der Mensch das sittlich und rechtlich Seinsollende selbst (autonom) setzen könnte – das ist ihm vielmehr in Grundzügen vorgegeben –, wohl aber, daß er sich in freier Selbstverantwortung zu dem Gesollten entschließen oder nicht entschließen kann. Darin wird, mit seiner Verantwortung, auch seine Würde gefunden.“40

Der Personbegriff Coings ähnelte dem auf dem ersten Blick. Auch Coing sah die Würde des Menschen in dessen Möglichkeit begründet, sittliche Werte zu verwirklichen und sah Freiheit als die Freiheit des Menschen an, sich eben für diese Werte zu entscheiden und sie zu leben. Dennoch gab es zwischen Weinkauff und Süsterhenn auf der einen und Coing auf der anderen Seite gravierende Unterschiede. Bei Coing heißt es zum Verhältnis von Würde, Freiheit und Sittlichkeit: „[M]it dem Sittlichen ist auch die sittliche Eigenverantwortung gegeben. Die sittlichen Werte wirken im Gewissen des Menschen; […]. Sie wenden sich an jeden einzelnen, und jeder einzelne ist vor ihnen verantwortlich. Niemand kann ihm diese Verantwortlichkeit abnehmen. Vor dem Gewissen kann man sich nicht vertreten lassen, und das Gewissen kann keine äußere Macht besiegen. Mit dieser höchst persönlichen Aufgabe und Verantwortung gewinnt der Mensch eine ihm eigentümliche Würde. […] Das Wesen der Personwürde des Menschen liegt also in seiner sittlichen Autonomie, wenn wir darunter die unmittelbare Stellung des Menschen zu den sittlichen Geboten verstehen, die Aufgabe, in unmittelbarer Auseinandersetzung und Verantwortung mit und vor dem Sittlichen zu leben.“ 41

Wie Weinkauff verknüpfte Coing hier Personwürde, sittliche Autonomie, sittliche Gebote und Verantwortung miteinander. Die Schlüsselworte sind in beiden Zitaten in weiten Teilen identisch. Die Konzeption Coings war jedoch eine völlig andere. Anders als bei Weinkauff standen bei Coing das Individuum und seine negative Freiheit im Mittelpunkt der Naturrechtslehre. Coing stellt eine Ausnahme in der Naturrechtsliteratur dar, wenn er Freiheit in Anlehnung an Kant definierte: „Aber ebenso begrenzt die Gerechtigkeit die Freiheit. Denn die Gerechtigkeit kann nur soweit Freiheit zubilligen, als sie mit der Freiheit der übrigen bestehen kann. Sie will ja Jedem das Seine geben. Niemals kann Freiheit gerecht sein, die die Freiheit anderer zerstören will.“42

Um zu verstehen, warum Coing die negative Freiheit des Individuums in den Mittelpunkt rückte und nicht Freiheit als eine „Freiheit zu“ verstand, obgleich auch seine Weltsicht teleologisch auf die Verwirklichung bestimmter sittlicher 40  Hermann Weinkauff, Naturrecht und Justiz, in: Die politische Meinung, Heft 71, 1962, S. 21 (28). 41  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 132 f. 42  Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 43 [Hervorhebung im Original].

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

Werte gerichtet war, ist es nötig, sich noch einmal seine Naturrechtsbegründung zu vergegenwärtigen.43 Stärker als andere Autoren versuchte Coing zwischen Werten, Gewissen und Recht zu differenzieren und zugleich ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen. Er trennte deutlicher zwischen inneren, also moralischen oder religiösen Verbindlichkeiten44 und den Anforderungen an das Recht als äußerer Ordnung des sozialen Zusammenlebens. Zwar ging auch Coing davon aus, dass es ein objektives Reich der Werte gebe, anders als bei Weinkauff hielt er diese Werte aber nicht für dem Individuum vorgegeben. Vielmehr müssten diese Werte, um verbindlich zu werden, von den Menschen im Laufe ihrer Geschichte erkannt werden. Sie zu erkennen und dann zu verwirklichen sei eine Aufgabe, welcher der Einzelne mithilfe von Rechtsgefühl und Gewissen zu begegnen habe. Anders als Weinkauff sah Coing die Aufgabe also nicht in der Verwirklichung vorgegebener Werte, sondern in der Betätigung des Gewissens, um die Werte überhaupt zu erkennen und sich anzueignen. Das Gewissen aber war etwas Individuelles und Coing betonte, dass die Verwirklichung von Werten somit eine „höchstpersönliche Aufgabe“ sei. Für die Begründung seines Freiheitsbegriffs war diese Bedeutung des individuellen Gewissens für die Werterkenntnis zentral: Er ging davon aus, dass Gewissensbetätigung nur in geistiger Freiheit geschehen könne. Gerade die Annahme, dass es objektive Werte gebe, die zu erkennen und zu befolgen der Mensch sich bemühen müsse, führte ihn hinsichtlich der äußeren Ordnung also zu einem in erster Linie negativen und auf das Individuum ausgerichteten Freiheitsbegriff.45

2. Individuelle Rechte in der Gemeinschaft? Diese Unterschiede zwischen einer Konzeption von Freiheit und Würde, welche die negative Freiheit des Individuums in den Mittelpunkt stellte und einer solchen, welche die Gebundenheit individueller Freiheit gegenüber der 43 

Ausführlich dazu Kapitel 5, S. 178 ff. Tatsächlich begründete er die Verpflichtung des Menschen, sittliche Werte zu erkennen und zu verwirklichen religiös, Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 40, dort Fn. 1. 45  Ähnliche, auf das Gewissen des Einzelnen gestützte Rechtsbegründungen vertraten Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952, S. 354 ff. und Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1951 (deutlicher in den Folgeauflagen), sie machten jedoch keine klaren Aussagen, was dies für ihren Freiheitsbegriff bedeuten sollte. Ein offensives Bekenntnis zum Individualismus findet sich im Umkreis der Naturrechtsdebatten nur bei Gustav Radbruch, besonders deutlich in: Neue Probleme der Rechtswissenschaft, in: Eine Feuerbach-Gedenkrede und drei Aufsätze aus dem wissenschaftlichen Nachlaß, 1952, S. 31 (34); zuvor bereits in der Ableitung des Wertes der Menschenwürde und der Humanität in: Die Diskussion über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, SJZ 1947, Sp. 131 (132). In der jüngeren Literatur wird in dieser entschiedenen Hinwendung zum Individualismus der eigentliche Bruch Radbruchs mit seiner Vorkriegsphilosophie ausgemacht, so Gerhard Sprenger, NJ 1997, 3–7; Hidehiko Adachi, Die Radbruchsche Formel, 2006; Friederike Wapler, Werte und das Recht, 2008, S. 261 ff. 44 

A. Naturrechtsinhalte: Ordnungsvorstellungen für die Nachkriegsgesellschaft

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Gemeinschaft betonte, schlugen sich in den Naturrechtsinhalten nieder. Die Fronten waren jedoch weit weniger klar, als man annehmen könnte. In den Naturrechtsschriften war so gut wie nie von subjektiven Rechten die Rede, meist wurde von „Werten“ gesprochen. Betrachtet man, was damit gemeint war, so findet sich in fast allen Schriften eine Mischung aus einem Denken in individuellen Rechten und einem Ordnungsdenken, das dem Individuum einen Platz in einer Gemeinschaft zuwies. Die Unterschiede in den Freiheits- und Personbegriffen führten also nicht zu entgegengesetzten Rechtskonzeptionen, sondern schlugen sich lediglich in der Gewichtung beider Elemente nieder. In allen Schriften findet sich eine mehr oder weniger stark ausgeprägte gemeinschaftsorientierte Rechtskonzeption. Konkret zeigt sich dies darin, dass nicht nur der Schutz der freien Entfaltung des Einzelnen als naturrechtlich geboten angesehen wurde, sondern auch der von menschlichen Gemeinschaften wie der Familie, der Kirche und zum Teil auch berufsständischer Organisationen. Staatliche Gesetzgebung sollte die Autonomie dieser Gemeinschaften unbedingt achten. Besonders stark ausgeprägt war dieses Denken in der katholischen Naturrechtslehre. Es war dort integraler Bestandteil der katholischen Soziallehre, welche die Gesellschaft als eine Ordnung verstand, die aus verschiedenen Gliedern bestehe. Diese sollten jeweils ihre eigenen Belange soweit regeln, wie nicht im Interesse des Gemeinwohls eine Entscheidung übergeordneter Instanz nötig werde.46 Wenn die Autonomie dieser „Glieder“ gefordert wurde, ging es nicht darum, gesellschaftliche Teilbereiche für eine offene, partizipativ angelegte Eigengestaltung zu öffnen. Die Gemeinschaften sollten vielmehr vor Eingriffen des Staates geschützt werden, damit sie die ihrem „Wesen“ entsprechende Ordnung verwirklichen konnten. Auch die Freiheit der Gemeinschaften war also eine „gebundene Freiheit“. Indem sie den ihrem Wesen entsprechenden Regeln folgten, erfüllten diese „Glieder“ eine für die gesamte Gesellschaft unverzichtbare Funktion, so die Annahme. Im katholischen Bereich konnte diese Lehre an eine lange Tradition anknüpfen. Die Metaphorik von „Gliedern“, die sich zu einem „Organismus“ verbanden, war jedoch in der Weimarer Zeit weit über das katholische Milieu hinaus aufgenommen worden. Sie war gerichtet gegen die Gesellschaftskonzeption der liberalen Demokratie, die als „mechanisch“ und „atomistisch“ diffamiert wurde, und fand damit Anhänger in konservativen und republikfeindlichen Kreisen über alle Konfessionsgrenzen und Disziplinen hinweg. Sie nährte sich von der Kritik am Individualismus und Pluralismus, die aus Sicht ihrer Kritiker/innen zum Zerfall der „Gemeinschaft“ führten. Das Ideal einer ständisch gegliederten Gesellschaft, in der die verschiedenen Teilbereiche zwar autonom waren, diese Autonomie aber im Dienste der gesamten Gemeinschaft ausübten, fand insbesondere auch in der Rechtswissenschaft sowie in der protestantischen 46 

Ausführlich zur katholischen Soziallehre Kapitel 3.

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

Theologie Niederschlag.47 In der Staatsrechtslehre wurde diese Gesellschaftsvorstellung in verschiedenen Nuancen insbesondere von der „geisteswissenschaftlichen Richtung“ aufgegriffen, so von Erich Kaufmann, Günter Holstein und Gerhard Leibholz, letzterer unter starkem Einfluss von Carl Schmitt, der die Institutionenlehre des französischen Rechtswissenschaftlers Maurice Hauriou in die deutsche Diskussion eingeführt hatte.48 Gesucht wurde nach einer Gesellschaftskonzeption, in der Individuum und Gemeinschaft in einem harmonischen Verhältnis zu einander stünden. Die Freiheit des Einzelnen sollte nicht die gesellschaftliche Einheit gefährden. Sie sollte immer auch der Verwirklichung von Gemeinschaft dienen. Sie war somit gebunden. Tatsächlich erwies sich der Weg von einer solchen gebundenen Freiheit des Individuums zu einem Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum als nicht weit.49 Mit zunehmendem Erstarken nationalkonservativer Positionen waren in der Weimarer Diskussion der Eigenwert und die Eigendynamik von Staat und „Gemeinschaft“ immer stärker in den Vordergrund gerückt, bis schließlich das Individuum ganz hinter der Gemeinschaft verschwand. Hierauf baute die nationalsozialistische Staatslehre auf und das Rechtsdenken trug dem mit dem „konkreten Ordnungsdenken“ Rechnung. Auch dieses hatte sich aus der Institutionenlehre heraus entwickelt und stützte sich ebenfalls auf die Annahme, den Bereichen menschlichen Lebens seien Eigengesetzlichkeiten immanent.50 Auf diese Wurzeln und Entwicklungen wurde in der Naturrechtsliteratur nach 1945 nicht verwiesen. Abgesehen von den katholischen Texten wurde auch die Organismus-Metaphorik nicht mehr verwendet, ebenso wenig die damit verbundene Vorstellung einer ständischen Gesellschaft. Die Vorstellung, es gebe

47  Zu der gegenseitigen Beeinflussung und den frappierenden Parallelitäten der Staatskonzeptionen zwischen beiden Klaus Tanner, Die fromme Verstaatlichung des Gewissens, 1987. 48 Hierzu Klaus Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, 1987. Auch die Integrationslehre Rudolf Smends ist in diesem Zusammenhang zu sehen, hierzu Klaus Tanner, Die fromme Verstaatlichung des Gewissens, 1987, S. 123 ff.; Dominik Richers, in: Joachim Lege (Hg.), Greifswald – Spiegel der deutschen Rechtswissenschaft 1815–1945, 2009, S. 271–284. 49  Grundlegend zur Radikalisierung des Gemeinschaftsdenkens Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974; für das Privatrecht Matthias ­Zirker, Vertrag und Geschäftsgrundlage, 1996, S. 125 ff.; Thorsten Keiser, Das Eigentumsrecht in Nationalsozialismus und Fascismo, 2005, S. 62 ff.; Wilhelm Wolf, Vom alten zum neuen Privatrecht, 1998, S. 183 ff., 243 ff.; André Depping, Das BGB als Durchgangspunkt, 2002, S. 248 ff.; Christine Wegerich, Die Flucht in die Grenzenlosigkeit, 2004, S. 156 ff.; Thorsten Hollstein, Die Verfassung als „Allgemeiner Teil“, 2007, S. 255 ff. 50  Statt aller Klaus Anderbrügge, Völkisches Rechtsdenken, 1978, S. 106 ff. Vorstellungen einer „natürlichen Ordnung“ von Gemeinschaften und die Idee, dass Freiheit sich nur durch Einordnung in diese Ordnung verwirklichen ließe, waren allerdings nicht spezifisch nationalsozialistisch, sie finden sich auch im konservativen Widerstand gegen den NS, hierzu Joachim Rückert, in: Eva Schumann (Hg.), Kontinuitäten und Zäsuren, 2008, S. 11 (24 ff.).

A. Naturrechtsinhalte: Ordnungsvorstellungen für die Nachkriegsgesellschaft

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Eigengesetzlichkeiten gesellschaftlicher Teilbereiche, die für den Gesetzgeber verbindlich seien, war jedoch ein integraler Bestandteil der Naturrechtslehren nicht nur katholischer, sondern auch protestantischer und säkularer Autoren. Von einem Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum war nun keine Rede mehr. Die mit der Institutionenlehre verbundene Gemeinschaftsorientierung wirkte allerdings dennoch fort und trat nun in ein schillerndes Verhältnis zu den postulierten individuellen Freiheitsrechten. In der protestantischen Debatte war man sich schnell einig, dass zumindest Ehe, Kirche und Staat als Institutionen anzusehen seien. Gerungen wurde daher weniger um das Ergebnis als um die Begründung und damit auch um das Verhältnis, in welchem Individuum und Gemeinschaft in den Institutionen zu einander stehen sollten. Ausgangspunkt für die Diskussion war der Entwurf Jacques Elluls. Er führte die Existenz von Institutionen auf die Schöpfung zurück. Sie seien von Gott gegeben und entzögen sich in ihrem Kern der freien Verfügung des Menschen: „Sie sind genau so Geschöpfe wie Bäume oder Licht, Mensch oder Engel. Staat und Ehe sind von Gott gewollte Lebensformen, Daseinsweisen für den Menschen, der ihnen gegenüber nicht die Freiheit hat, Ja oder Nein zu sagen.“51

In der folgenden Diskussion wurde die theologische Begründung zwar kritisiert, der Ansatz Elluls im Übrigen aber aufgegriffen.52 In einer Institutionenlehre, wie Ellul sie entworfen hatte, erblickte man die Möglichkeit, einen stabilen normativen Kern für die Gestaltung der Gesellschaft zu formulieren und zugleich Offenheit für historischen Wandel zu wahren. Ein Mittelweg zwischen Freiheit und Determiniertheit müsse gefunden werden, so Hans Dombois, der Elluls Ansatz maßgeblich fortentwickelte.53 Auf der Konferenz in Hemer im Januar 1955 war die Institutionenlehre schließlich zentraler Diskussionsgegenstand. In Abgrenzung sowohl zum katholischen Denken als auch zur lutherischen Ordnungstheologie wurde gefordert, den Begriff der „Ordnung“ überhaupt zu vermeiden. Man einigte sich darauf, dass Institutionen durch „Stiftung Gottes“ begründet seien.54 Mit dieser semantischen Abgrenzung war auch eine inhaltliche verbunden: Einerseits galten Institutionen als vorgegeben und Dombois betonte wiederholt, dass sie der freien menschlichen Verfügung entzogen seien. Zugleich aber sollte sich der Mensch in Institutionen nicht passiv-gehorchend einordnen. Er sollte vielmehr an ihrer Gestaltung mitwirken, indem er sie mit Leben füllte. Der Theologe Ernst Wolf sprach davon, dass Institutionen eine „Gabe“ und

51 

Jacques Ellul, Die theologische Begründung des Rechts (frz. 1946), 1948, S. 58. Dazu näher Kapitel 4, S. 157 ff. 53  Hans Dombois, Naturrecht und christliche Existenz, 1952. 54  Siehe Tagungsdokumentation Hans Dombois (Hg.), Recht und Institution, 1956, S. 61. 52 

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

„durch konkrete Entscheidungen zu gestaltende Aufgabe“ seien.55 Ihr Gehalt sollte nicht aus einem seiner Ansicht nach letztlich menschlicher Interpretation anheim gegebenen „Wesen“ der Institution abgeleitet werden, sondern als Gebot Gottes direkt aus dessen Wort abgeleitet werden.56 In der evangelischen Rechtslehre setzte sich damit eine Institutionenlehre durch, in der die Individuen Verantwortung für die konkrete, historisch wandelbare Ausgestaltung der Gemeinschaften haben sollten. Zumindest im Frühstadium der Diskussion in den 1950er Jahren57 galt sie als Versuch, Vorgaben für das Leben in Gemeinschaft zu entwickeln ohne dem Individuum Freiheit zur Lebensgestaltung zu nehmen. Tatsächlich überwog jedoch der Aspekt der Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft: Institutionen waren soziale Gebilde, in denen jeder, der ihnen angehörte, Pflichten gegenüber den anderen hatte. Dombois betonte, dass selbstverständlich die Freiheit bestehe, sich diesen sozialen Gebilden zu entziehen – er nannte die Askese und den Zölibat als solche Auswege. Menschen waren also frei, sich für oder gegen die Institution zu entscheiden. Entschieden sie sich aber dafür, in die Institution einzutreten, gingen damit Verpflichtungen einher. Was Wandelbarkeit und damit Gestaltungsfreiheit innerhalb der Institution bedeuten sollte, wurde nicht präzisiert. Schon ob ein Austritt möglich war, blieb offen. In der Diskussion gab es eine ablehnende Tendenz, da dadurch die Institution geschädigt oder gar zerstört werde.58 Was dies für das Recht hieß, blieb in Hemer unterbelichtet,59 das Verbot der Ehescheidung und die Einschränkung des Widerstandsrechts gegen die Staatsgewalt wurden aber als Folgen angesprochen. Dieser gemeinschaftsorientierte und gerade nicht letztinstanzlich an individueller Freiheit orientierte Zugriff zeigt sich im Falle Dombois’ auch in seinen übrigen Schriften. Er äußerte sich dezidiert kritisch gegenüber Liberalismus, Individualismus und Pluralismus.60 Pluralistische Freiheit bedeute, dass das Individuum „auf sich selbst gestellt“ sei und „bis zur Schizophrenie zerspalten, überlastet und in eine geradezu tödliche Existenznot versetzt“ werde. Er warnte, dass „die Freigabe aller Lebensformen zur unbeschränkten Verfügbarkeit“ letztlich nur um den Preis der „Anarchie, sei es mechanistische oder schwärmerische“ möglich sei.61 Dass es bei der Institutionenlehre nicht darum ging, autonomen Individuen Freiräume zur Gestaltung ihrer sozialen Beziehungen zu geben, zeigt sich auch 55 

Ernst Wolf, in: Hans Dombois (Hg.), Recht und Institution, 1956, S. 27. So auch Ulrich Scheuner, in: Hans Dombois (Hg.), Recht und Institution, 1956, S. 54. 57  Für die Fortführung im freiheitlichen Sinn: Heinz Eduard Tödt, Institution, in: Gerhard Müller u.a. (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 16, 1987, S. 206–220. 58  Siehe Verhandlungsbericht in: Hans Dombois (Hg.), Recht und Institution, 1956, S. 65. 59  Hierzu Kapitel 4, S. 160 ff. 60  Hans Dombois, Politische und christliche Existenz, in: ders./Erwin Wilkens (Hg.), Macht und Recht, 1956, S. 98 (127). 61  Hans Dombois (Hg.), Recht und Institution, 1956, S. 58. 56 

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darin, wie die Eigengesetzlichkeiten der Institutionen ausbuchstabiert wurden, besonders deutlich im Falle von Ehe und Familie. Ehe und Familie waren neben der Kirche die Institutionen, die quer durch alle Teile der Debatte als in ihrer Autonomie gegenüber dem Staat schützenswert anerkannt wurden. Wenn von der „Eigengesetzlichkeit“ dieser Institutionen die Rede war, meinte dies nicht, dass die Beteiligten frei sein sollten, die Gestaltung ihres Zusammenlebens individuell auszuhandeln. Vielmehr finden sich in den Naturrechtsschriften Ausführungen, denen eine sehr klare Vorstellung zugrunde lag, was das „Wesen“ von Ehe und Familie ausmache. Es handelte sich um ein traditionelles Verständnis: Es wurde davon ausgegangen, dass es zwei einander entgegengesetzte Geschlechter gebe,62 deren Natur es entspreche, sich in einer Einehe 63 zusammenzufinden, die auf einer „Gesinnung der Zuneigung, Hilfsbereitschaft und Liebe“64 gründe. Im Zusammenhang mit der Ehe von einer von Liebe getragenen Gesinnung zu sprechen, war nicht romantischen Vorstellungen geschuldet. Es war vielmehr wesentlich für die Argumentation, dass die Ehe vor staatlicher Regulierung geschützt werden müsse. Die Ehe wurde als eine Lebensform angesehen, die nur bedingt rechtlich geregelt werden könne. Recht könne „Gemeinschaft zerstören“, schrieb Coing und mahnte den „Substanzverlust der Ehe“ durch die Durchsetzung der „Vertragsauffassung von der Ehe“ seit der Aufklärung an.65 Zugleich sollte die Ehe grundsätzlich nicht auflösbar sein66 und das Ziel der Fortpflanzung, also der Familiengründung, haben.67 Wo sich die Autoren zur geschlechtlichen Rollenverteilung äußerten, stellten sie die hierarchische Geschlechterord62  Schon diese Ansicht, die vielerorts immer noch als „natürlich“ wahrgenommen wird, muss als zeitbedingt angesehen werden. Die Kritik hieran geht insbesondere zurück auf ­Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991. 63  Hermann Weinkauff, Das Naturrecht in evangelischer Sicht (1952), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 210 (216); Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 88; Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 241; Erik Wolf, Vom Wesen der Gerechtigkeit (Vortrag 1946), in: Rechtsgedanke und biblische Weisung, 1948, S. 9 (30); Johannes Heckel, Lex charitatis, 1953, S. 101 ff. 64  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 70 f. Im Gleichen Sinne Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 88; Erik Wolf, Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts (1946), S. 47; Johannes Heckel, Lex charitatis, 1953, S. 102; Adolf Süsterhenn, Das Naturrecht (1947), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 11 (19). 65  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 81. 66  Hermann Weinkauff, Das Naturrecht in evangelischer Sicht (1952), S. 210 (216); Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 101, Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 89; Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 240 f.; Johannes Heckel, Lex charitatis, 1953, S. 103 ff.; Günther Küchenhoff, Naturrecht und Christentum, 1948, S. 59, 97. 67  Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 89; Johannes Heckel, Lex charitatis, 1953, S. 102; Günther Küchenhoff, Naturrecht und Christentum, 1948, S. 58, 94 ff.

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nung, in der der Mann das ‚Oberhaupt der Familie‘ und die Frau die ‚fürsorgende Mutter‘ war, als der Natur des Menschen entsprechend dar.68 So schrieb Brunner, der Mann sei „so geschaffen, dass er in der Ehe der führende Teil sein soll“, das „Patriarchat, nicht das Matriarchat, entspricht der Schöpfungsordnung“,69 und Küchenhoff schrieb, dass „insbesondere die Frau […] vielfach voll und ganz“ von der „Gemeinschaft der Familie“ erfasst sei.70 Auch das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern wurde von Natur aus als hierarchisch beschrieben. „Die Kinder schulden den Eltern Ehrfurcht und Gehorsam“, schrieb Heinrich Kipp, die Eltern hätten das Recht, eben dies von ihren Kindern zu verlangen und notfalls zu erzwingen.71 Im Gegenzug seien sie zu Erziehung und Fürsorge verpflichtet.72 Das so umrissene naturrechtlich geschützte Wesen von Ehe und Familie hatte eine deutliche Stoßrichtung gegen die Säkularisierung des Eherechts seit der Aufklärung, insbesondere aber auch gegen die Familiengesetzgebung in den sozialistischen Staaten. Wenn die unauflösliche Einehe nicht als naturrechtlich geschützt angesehen werde, „[…] warum sollte man sich sonst über das bolschewistische Eherecht erzürnen?“, schrieb Rommen.73 In den 1950er Jahren setzten sich diese Vorstellungen fort in der Diskussion um die Schaffung eines dem Gleichheitssatz verpflichteten Ehe- und Familienrechts.74 Die Gegner eines egalitären Familienrechts stützten sich teilweise auf naturrechtliche Argumente.75 Auch in der Rechtsprechung des BGH lebten diese Vorstellungen fort und wurden als „naturrechtlich“ legitimiert.76 Individuelle Rechte innerhalb der Ehe oder der Familie wurden einzig von Coing thematisiert. Trotz seiner grundsätzlichen Annahme, Recht sei gemeinschafts- und damit ehefeindlich, warf er die Frage auf, wie die Rechte Einzel68  Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 240; Emil Brunner, Gerechtigkeit, 1943, S. 169 f.; Ernst von Hippel, Einführung in die Rechtstheorie, 2.A. 1947, S. 10; Hans Dombois, Politischer Humanismus und wie weiter?, 1953, S. 10; Günther Küchenhoff, Naturrecht und Liebesrecht, 1962, S. 59 f. 69  Emil Brunner, Gerechtigkeit 1943, S. 169 f. 70  Günther Küchenhoff, Naturrecht und Liebesrecht, 1962, S. 59. 71  Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 90. 72  Besonders hervorgehoben werden diese Pflichten von Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 96 f. Bei ihm dominiert der Gedanke, dass Kinder einen Anspruch auf Fürsorge hätten. Demgegenüber betonen Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 90 und Adolf Süsterhenn, Das Naturrecht (1947), S. 11 (19) stärker die elterliche Autorität. Kipp spricht gar von der Notwendigkeit „äußerer Zwangsmaßnahmen […], um den Gehorsam der Kinder notfalls zu erzwingen.“ 73  Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 241. 74  Christine Franzius, Bonner Grundgesetz und Familienrecht, 2005. 75  Besonders scharf Friedrich Wilhelm Bosch, siehe z.B. Familienrechtsrechtsreform, 1952. 76  Siehe die Rechtsprechungsanalysen von Daniel Herbe, Hermann Weinkauff (1894– 1981), 2008, S. 205 ff.; 223 ff. sowie von Julia Bommer, Ein Gesetz – zwei Rechtsprechungen?, 2008. Brommer zeigt für die scheidungsrechtliche Rechtsprechung des BGH, dass sich naturrechtliches Denken zwar nicht methodisch auswirkte, in der Auslegung des „Wesens der Ehe“ aber eine bedeutende Rolle spielte, S. 128 ff.; 134 ff., 143 ff.

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ner innerhalb einer Gemeinschaft geschützt werden könnten: „Es gibt keine irdische Gemeinschaft, in welcher die Person ihrer Mitglieder völlig und ohne jede Ausnahme aufgeht; es bleiben regelmäßig gewisse persönliche Interessen bestehen, die nicht vergemeinschaftet werden, in denen sich vielmehr der einzelne in seiner Besonderheit, als Individuum fühlt.“ Hier liege die „Existenzberechtigung des Rechts auch innerhalb der Gemeinschaft.“77 Konkret auf die Ehe bezogen bedeute dies, dass das Recht beispielsweise in Vermögensfragen die Interessen der einzelnen Ehepartner schützen dürfe und zwar „in erster Linie des schwächeren Teils, also regelmäßig der Frau, der aus der Gemeinschaft Gefahren drohen.“78 Ebenso buchstabierte er weit genauer als andere aus, was elterliche Fürsorge gegenüber den Kindern bedeute und bejahte staatliche Intervention, wenn die Eltern diese vernachlässigten. Auch hierbei ging es um die Begrenzung der Gewalt in einem Subordinationsverhältnis im Interesse der Wahrung der Rechte des schwächeren Teils.79 Coing stellte mit dieser Konzeption, in der die Menschen ausdrücklich nicht nur ein ‚Recht zur Gemeinschaft‘ sondern auch ‚Rechte gegenüber der Gemeinschaft‘ hatten, eine Ausnahme dar. Gerade der Kontrast zwischen dem Entwurf Coings und den übrigen Darstellungen zeigt deutlich, dass für Letztere die Eingliederung des Individuums in eine vorgegebene Ordnung im Mittelpunkt stand. Vor staatlichen Eingriffen geschützt werden sollte die Gemeinschaft, was zugleich bedeutete, dass das Individuum den Normen der Gemeinschaft schutzlos gegenübergestellt war. Die Notwendigkeit seines Schutzes wurde in diesen Texten nicht angesprochen, geschweige denn genauer ausbuchstabiert. Die materiellen Vorgaben, wie die Gemeinschaft strukturiert sein sollte, bedeuteten für den Einzelnen, dass er auch in Fällen, in denen er keinen Angriffen auf seine Rechte innerhalb der Gemeinschaft ausgesetzt war, nicht frei in seiner Lebensgestaltung war. Es hatte nur die Möglichkeit, sich einzufügen oder ganz auf die Teilnahme an der Institution zu verzichten.80 Während abstrakt betont wurde, dass Institutionen gerade deswegen ein weiterführendes Konzept seien, weil sie einen Kern bewahrten und im Übrigen offen für eine sich zeitlich wandelnde Gestaltung seien, war gerade im Falle von Ehe und Familie von dieser Wandlungsfähigkeit keine Rede. Art. 3 Abs. 2 GG, der spätestens ab Mai 1949 einen Wandel normativ einforderte, fand keinen Eingang in die Naturrechtsschriften. Diese Konzeption von Ehe und Familie illustriert die generelle Konzeption des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft in der Naturrechtsliteratur. Ehe und Familie wurden als „Urformen“ der Gemeinschaft und als Vorbild 77 

Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 83. Helmut Coing, ebd. 79  Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 96 f. 80  So sehr deutlich Hans Dombois, Das Problem der Institution und die Ehe, in: ders. (Hg.), Recht und Institution, 1956, S. 55–59. 78 

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für Nation und Staat angesehen. So verwundert es nicht, wenn das Verhältnis individueller Rechte und Pflichten gegenüber der Gemeinschaft insgesamt dem für Ehe und Familie herausgearbeiteten Muster entsprach. Coing blieb auch hier eine Ausnahme. Er setzte sich von der allgemeinen Institutionenlehre durch zweierlei ab: Einerseits hielt er Vorsicht für geboten. Institutionen seien nur fragmentarisch erkennbar und dürften nicht darüber hinweg täuschen, dass nicht die Dinge das Recht vorgäben, sondern die Menschen dieses selbst setzten.81 Andererseits mahnte er nicht nur für Ehe und Familie, sondern für jede Form der Gemeinschaft den Schutz individueller Rechte in dieser an: „Aber eben weil das Verbandrecht in so einschneidender Weise die Stellung des Einzelnen berührt, muß es in seiner Differenzierung eine Grenze finden. Sie liegt da, wo die Würde der Einzelperson in ihren Grundrechten berührt wird, oder andere sittliche Grundwerte des Rechts in Frage stehen. Diese dürfen keinem Verbandszweck geopfert werden.“82

Trotz dieser Unterschiede muss festgehalten werden, dass auch Coing grundsätzlich die Institutionenlehre bejahte. Die „Verbände“ dienten „der Verwirklichung bestimmter Werte – vitaler und geistiger –, die dem Menschen aufgetan sind, und insofern zugleich der Verwirklichung des Menschen selbst.“83 Wie auch die übrigen Autoren ging er davon aus, dass sich der Mensch nur in Gemeinschaft voll entfalten könne, und dass daher Gemeinschaften und ihre Eigengesetzlichkeiten besonders geschützt werden müssten. Obgleich Coing vorsichtiger und zurückhaltender war als andere Autoren, ähnelten sich die Begründungen wie auch die Konsequenzen also zu einem gewissen Grad. Wiederum zeigt sich hier ein Konsens der Nachkriegszeit, der zwar von einzelnen modifiziert werden konnte, aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurde: Der Mensch wurde als soziales Wesen angesehen, der seine Freiheit nicht nur, aber auch in Gemeinschaft verwirkliche. Gemeinschaften und ihre Eigengesetzlichkeiten wurden als daher schutzwürdig angesehen. Freiheit wurde nicht nur als negative Freiheit, sondern auch als positive Freiheit verstanden: Der Einzelne sollte die Freiheit haben, sich in die Gemeinschaften und ihre Eigengesetzlichkeiten einzufügen. Die Notwendigkeit, individuelle Rechte innerhalb dieser Gemeinschaften zu schützen, betonte einzig Coing, der auch dadurch heraussticht, dass er Freiheit vor allem als negative Freiheit verstand.

81 

Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 127 ff. Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 47 [Hervorhebung im Original]. 83  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 45. 82 

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III. Bürger/innen – Staat Während die Eingliederung des Einzelnen in Gemeinschaften wie die Familie, Berufsstände oder die Kirche als Bestandteil freier Entfaltung angesehen wurde, die mit individueller Freiheit nicht kollidiere, wurde der Staat als potentielle Gefahr gesehen. So wurde vielfach betont, dass „der Staat nur für den Menschen da“ sein dürfe, und Aufgabe des Naturrechts sei es, die von ihm ausgehende Gefahr zu bändigen.84 Das Naturrecht erweise sich „gerade im Fall des Konflikts mit dem positiven Recht als der bedeutsamste geistige Faktor im Kampf gegen jede Art von Zwangsherrschaft“, heißt es beispielsweise bei Süsterhenn.85 Doch auch das Verhältnis zwischen Individuum und Staat war in den meisten Schriften weit weniger eindeutig, als diese Grundkonzeption nahe legen könnte. Weil der Staat die Aufgabe habe „für die Menschen da“ zu sein und eine „Friedensordnung zu garantieren“, wurde ihm vielfach zugleich ein Eigenwert zugesprochen. Er verfüge über eine eigene, zum Teil als naturrechtlich bezeichnete, Rechtssphäre. Bürger/innen allerdings hatten an dieser nicht teil, sondern waren deren Objekt. Die Rückbindung der Rechte des Staates an die „Menschen“, denen er dienen sollte, erfolgte meist nur in vager Form und ist in den Texten schwer zu greifen.

1. Das Widerstandsrecht als Abwehrrecht gegen extremes Unrecht Die Ambivalenz zwischen einem potentiell despotischen Staat, vor dem die Freiheit der Bürger/innen geschützt werden müsse, und einem Staat der für die Menschen eine wichtige Funktion erfülle und dem dafür ein eigener Wert und eigene Rechte zukomme, zeigt sich insbesondere dort, wo die praktischen Auswirkungen des Naturrechts diskutiert wurden: an der Frage des Widerstandsrechts gegen eine tyrannische Herrschaft. In den meisten Naturrechtsschriften, die einen Anspruch auf Geschlossenheit hatten, findet sich das Widerstandsrecht des Volkes als Konsequenz der naturrechtlichen Bindung des Staates. In der rechtspraktischen Diskussion wiederum wurde die Frage diskutiert, ob Richtern im Nationalsozialismus ein Widerstandsrecht oder gar eine Widerstandspflicht zugekommen sei. Ein Widerstandsrecht wurde dabei durchgängig bejaht, auch wenn Voraussetzungen und Ausgestaltung vage blieben. Die einzig denkbare Konsequenz zur Bändigung eines naturrechtswidrig handelnden Staates war das Widerstandsrecht nicht. Schon die Fokussierung auf das Widerstandsrecht in der Naturrechtsliteratur ist daher aufschlussreich. 84 Z.B. Adolf Süsterhenn, Wir Christen und die Erneuerung des staatlichen Lebens (1948), in: Schriften, 1991, S. 227 (237). 85  Adolf Süsterhenn, Das Naturrecht (1947), S. 11 (22).

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Das Widerstandsrecht war zugeschnitten auf Fälle massiven Unrechts, nicht auf alltägliche, niedrigschwellige Verletzung subjektiver Rechte durch staatliche Instanzen. Die Konzeption gerichtlichen Rechtsschutzes gegen staatliche Eingriffe in subjektive Rechte wurde allerdings im Rahmen der Naturrechtsbesinnung kaum diskutiert, dabei war die Frage des Wideraufbaus der Verwaltungs- und die Schaffung der Verfassungsgerichtsbarkeit durchaus ein virulentes Thema nach 1945.86 Lediglich punktuell überschnitt sich die Naturrechtsdiskussion mit der um den Wiederaufbau der Justiz. Wenn überhaupt, dann finden sich Ansätze, die auf den gerichtlichen Rechtsschutz fokussierten, in rechtspraktischen Naturrechtsschriften.87 In den übrigen Debattenteilen wurden hin und wieder beide Modelle kombiniert, so bei Coing und Süsterhenn. Zumeist wurde die Frage gerichtlichen Rechtsschutzes jedoch ganz ausgelassen. Das Widerstandsrecht galt als unverzichtbare Konsequenz des Naturrechts, es sollte eine Sicherung bieten für den Fall, dass verfassungsrechtliche Garantien ausfielen. Anders als der subjektive Rechtsschutz sollte es auch dann gelten, wenn es nicht positiviert war. Es stellte somit das eigentliche Pendant zum Naturrecht dar. Die Voraussetzungen des Widerstandsrechts wurden häufig nicht ausbuchstabiert und abstrakt definiert, sondern in Anlehnung an nationalsozialistisches Unrecht umschrieben. Widerstand war für die Autoren eine Ausnahmehandlung und das Gegenstück zum exzessiven, wiederum eine Ausnahme darstellenden Unrecht. So fragte Emil Brunner: „Wie anders als durch Widerstand können die vom totalen Staat nicht nur vergewaltigten, sondern auch verhöhnten Menschenrechte zur Geltung gebracht werden?“.88 Widerstand wurde als legitim angesehen bei „schroffer Verletzung“89 natürlicher Rechte, wenn der Widerspruch zur Gerechtigkeit ein „unerträgliches Maß“90 erreicht habe oder, in religiöser Formulierung, „wo Gottes Ordnung mit Füssen getreten und das Lebensrecht der Mitmenschen von Grund aus bedroht“91 werde. Der Rechtsschutz von Bürger/innen außerhalb der „Ausnahmesituation“, also im Normalfall, blieb auf diese Weise unthematisiert. Dennoch gibt die Diskussion um das Widerstandsrecht durchaus Aufschluss darüber, wie die Verteilung von Rechten zwischen Staat und Bürger/innen im Regelfall gedacht wurde. 86 Dazu Michael Stolleis, in: Norbert Horn (Hg.), Europäisches Rechtsdenken, Bd. 1, 1982, S. 383–408. 87  Hierzu ausführlich Kapitel 2. 88  Emil Brunner, Gerechtigkeit 1943, S. 111. 89  Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 59. Im gleichen Sinne auch Hermann Weinkauff, Die Militäropposition gegen Hitler und das Widerstandsrecht, 1954, S. 13; Walther Schönfeld, Zur Frage des Widerstandsrechts, 1955, S. 35 f. Widerstand sei legitim, „in der verkehrten Welt, worin der Staat in der Hand von Verbrechern ist.“ (ebd.). 90  Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105 (107). 91  Eivind Berggrav, Der Staat und der Mensch (norw. 1944), 1946, S. 285.

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Denn die Diskussion um das Widerstandsrecht war immer auch eine Diskussion um seine Grenzen.92 An zwei Grenzziehungen zeigt sich, dass der Konzeption des Widerstandsrechts auf der Annahme eines Eigenwerts des Staates und der grundsätzlichen Objektstellung der Bürger/innen aufbaute. Die erste Grenze wurde zwischen legitimen Widerstand und illegitimer Revolution gezogen. Revolution bezeichnete den Fall, in der der Staat nicht Naturrecht verletzte, das Volk aber aufbegehrte, da es seine politischen Vorstellungen nicht realisiert sah. Dies wurde als illegitim angesehen. Eine geschlossene Begründung findet sich in den katholischen Konzeptionen, die davon ausgingen, dass das Volk von Gott zum Inhaber allen Rechts gemacht worden sei und dieses Recht erst durch Delegation an den weltlichen Herrscher gelangt sei. Mit dem Akt der Delegation habe sich das Volk allerdings der Verfügungsgewalt begeben: Bewege sich die Herrschaft im naturrechtlichen Rahmen, so könne das Volk die „einmal übertragene Staatsgewalt nicht zurückverlangen“, so Kipp, der dieser Frage besondere Aufmerksamkeit widmete. Der Fall grob naturrechtswidriger Herrschaftsausübung stelle eine Ausnahme dar. In den übrigen Fällen könne sich „[d]er rechtmäßige Inhaber […] mit Gewalt einer Usurpation durch das Staatsvolk widersetzen. Denn er hat sie einmal in dem Umfang, in dem sie ihm übertragen wurde, erhalten. Das Staatsvolk besitzt sie insoweit nicht mehr.“93 Als Begründung hierfür führte er an: „Auch hier und gerade hier gilt, soll Ordnung herrschen, der alte Grundsatz des Naturrechts: Verträge sind zu halten.“94 Revolutionen seien „unsittlich“ und eine „schwere Verletzung des Gemeinwohls“.95 Das Widerstandsrecht war somit ein reines Abwehrrecht und kein Gestaltungsrecht des Volkes.96 Die zweite Grenze wurde zwischen solche Naturrechtsverstößen, die zum Widerstand berechtigten, und solchen, die dies nicht taten, gezogen. Nicht jeder 92  Genauere Bestimmungen der Voraussetzungen legitimen Widerstands finden sich in den katholischen Naturrechtskonzeptionen sowie in den Beiträgen von Hermann Weinkauff: Die Militäropposition gegen Hitler, 1954; Über das Widerstandsrecht, 1956. Weinkauff folgte einem elitären Widerstandskonzept. Widerstand sollte nur dann legitim sein, wenn aufgrund der gesellschaftlichen Position und der Fähigkeiten der Widerstandleistenden gewährleistet sei, dass eine Chance bestehe, dass die Widerstandshandlung in den Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung münde. Dies zielte auf eine Rehabilitierung des Widerstands des 20. Juli 1944. Desertieren hingegen schloss Weinkauff dezidiert aus dem Bereich legitimen Widerstands aus. 93  Heinrich Kipp, Mensch, Recht und Staat, 1947, S. 93. 94  Heinrich Kipp, ebd., S. 92 f. 95  Heinrich Kipp, ebd., S. 93; im gleichen Sinne Hermann Weinkauff, Die Militäropposition gegen Hitler, 1954, S. 16 f. 96  Dies gilt auch für nicht-katholische Autoren. Sie begründeten das Widerstandsrecht zumeist nicht vertragstheoretisch, kamen aber ebenfalls zu dem Ergebnis, dass es sich um ein reines Abwehrrecht handele, so wenn sie das Widerstandsrecht mit einem „Notwehrrecht“ verglichen: Walther Schönfeld, Zur Frage des Widerstandsrechts, 1955, S. 28, 32; Johannes Heckel, Widerstand gegen die Obrigkeit? (1954), in: Das blinde, undeutliche Wort „Kirche“, 1964, S. 288 (298); Hermann Weinkauff, Die Militäropposition gegen Hitler, 1954, S. 14.

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Naturrechtsverstoß sollte Widerstand legitimieren. In Fällen geringen Unrechts sollten die Betroffenen vielmehr zur Duldung verpflichtet sein. In der katholischen Lehre, wo dies einhellig vertreten wurde, war das eine Konsequenz daraus, dass Naturrecht eben nicht auf wenige höchste Normen beschränkt war, sondern eine Gesamtkonzeption gesellschaftlicher Ordnung umfasste. Die Beschränkung des Widerstandsrechts auf Fälle gravierenden Unrechts war nötig, um dem Staat trotz dieses weiten Naturrechtskonzepts Gestaltungsspielraum zu belassen.97 Begründet wurden die Duldungspflichten allerdings überwiegend anders: Wäre Widerstand gegen jede geringfügige Ungerechtigkeit erlaubt, so wäre die gesellschaftliche Stabilität gefährdet. In solchen Fällen bestehe eine Duldungspflicht, da es besser sei, „daß eine mangelhafte Ordnung sei als gar keine und das Chaos“.98 Auch außerhalb der katholischen Literatur findet sich diese Argumentation. Der Wert einer stabilen staatlichen Ordnung und die grundsätzliche Gehorsamspflicht wurden in den Texten stark betont. Die Legitimität des Staates in abstracto gründe in seiner Aufgabe, „Friede und Ordnung“ zu gewährleisten, so Coing.99 Der Staat sei potentieller Garant für eine „ruhige und sichere Existenz“ des Volkes.100 Schönfeld spitzte diesen Gedanken zu und schrieb, dass „der Staat die Vermutung des Rechts für sich“ habe.101 Dass mit der Begründung eines so starken Mittels wie dem des Widerstandsrechts zugleich einherging, dass über die Schranken seines Wirkungsbereichs diskutiert werden musste, liegt auf der Hand. Aus heutiger Perspektive überrascht dennoch der argumentative Aufwand, mit dem enge Grenzen gezogen und weite Duldungspflichten begründet wurden. Die Argumente, mit denen die Grenzziehungen vorgenommen wurden, waren in den Texten oft weit domi­ nanter als die Argumente, die der Begründung des Widerstandsrechts dienten. Zudem fällt auf, dass sich die Diskussion in einer eigentümlichen Dichotomie zwischen Widerstand und Gehorsam bewegte. Welche alternativen Handlungsoptionen Bürger/innen in den Fällen haben sollten, in denen ihnen Widerstand als Mittel gegen Ungerechtigkeit verwehrt war, wurde nicht angesprochen. Eine Ausnahme stellt hier Rommen dar, der diese Frage ausdrücklich zur Sprache brachte: In diesen Fällen seien „[n]icht der Ungehorsam, sondern die verfassungsmäßig erlaubten Mittel“ die „rechte Antwort“, heißt es bei ihm.102 Er ver 97  Dieser Zusammenhang wird einzig bei Heinrich Rommen offen angesprochen. Er differenzierte zwischen naturrechtlichen Verbotsnormen, deren Verletzung zum Widerstand ermächtigte und Gebotsnormen, die dem Gesetzgeber einen Spielraum beließen, in: Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 255.  98  Ernst von Hippel, Einführung in die Rechtstheorie, 2.A. 1947, S. 50.  99  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 203; ebenso Adolf Süsterhenn, Wir Christen und die Erneuerung des staatlichen Lebens (1948), in: Schriften, 1991, S. 227 (239). 100  Heinrich Kipp, Mensch, Recht und Staat, 1947, S. 94. 101  Walther Schönfeld, Zur Frage des Widerstandsrechts, 1955, S. 35. 102  Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 255 f.

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wies damit auf juristische und politische Handlungsmöglichkeiten von Bürger/ innen. Im Übrigen waren diese aus der Diskussion um das Widerstandsrecht ausgespart. Weder subjektiver Rechtsschutz noch demokratische Partizipation hatten einen nennenswerten Stellenwert in den Naturrechtsschriften.

2. Subjektiver Rechtsschutz im Normalfall staatlichen Unrechts? Das Naturrecht sollte staatlichem Unrecht entgegengehalten werden können. In seiner konkreten Ausgestaltung als Abwehrrecht blieb es jedoch blass. Rechtsschutz gegen staatliches Unrecht, das sich unterhalb der Schwelle des zum Widerstand berechtigenden Unrechts bewegte, wurde oft nur knapp angesprochen. Auch das Widerstandsrecht, das als reines Abwehrrecht konzipiert war, konnte die Funktion des subjektiven Rechtsschutzes nicht erfüllen. Dies lag nicht nur daran, dass es lediglich in Fällen exzessiven Unrechts greifen sollte und damit keine Lösung für Normalfälle bot. Es konnte seine Funktion als Abwehrrecht des Einzelnen gegenüber staatlichen Eingriffen auch deswegen nicht erfüllen, weil es nicht als individuelles Recht konzipiert war. Das Widerstandsrecht war in der Argumentation der Autoren ein Recht des „Volkes“,103 das zwar von Einzelnen ausgeführt werde, aber nur im Interesse der Gemeinschaft genutzt werden dürfe. Individuell erfahrenes Unrecht allein berechtige nicht zum Widerstand. Johannes Heckel etwa sah Widerstand überhaupt nur dann als legitim an, wenn er völlig ohne Eigeninteresse allein zugunsten des „Nächsten“ erfolge.104 Die Duldungspflicht individuell erfahrenen Unrechts wurde mit dem Wohl der gesamten Gesellschaft begründet. Dieses werde durch das den Widerstandsakt gefährdet. Widerstand sei dann legitim, wenn er „zum besten des Volkes“105 sei und wenn er das „Schicksal des Ganzen, nicht wenn er das Schicksal des Einzelnen wenden soll“.106 Der Einzelne habe die Pflicht, „eher einen Nachteil für seine Person auf sich zu nehmen als der Allgemeinheit einen wesentlich größeren Schaden zuzufügen oder gar die Gesamtlebensordnung des Staates zu sprengen.“107 Nicht nur durch die Ausblendung des „Normalfalls“ punktueller und alltäglicher Eingriffe des Staates in subjektive Rechte seiner Bürger/innen, son103 So Walther Schönfeld, Zur Frage des Widerstandsrechts, 1955, S. 33. Besonders deutlich wird dies auch bei Heinrich Kipp, Mensch, Recht und Staat, 1947, S. 89 f., der das Widerstandsrecht als Möglichkeit des „Gemeinschaftsganzen“ sieht, delegierte Herrschaftsgewalt zurückzuholen. Individualistischer ist der Ansatz Eivind Berggravs, der auf das Gewissen des Widerstand-Übenden abstellt, in: Der Staat und der Mensch (norw. 1944), 1946, S. 248 ff. 104  Johannes Heckel, Widerstand gegen die Obrigkeit? (1954), S. 288 (298). So auch Eivind Berggrav, Der Staat und der Mensch (norw. 1944), 1946, S. 285; Hans Dombois, Politischer Humanismus und was weiter?, 1953, S. 67 ff. 105  Walther Schönfeld, Zur Frage des Widerstandsrechts, 1955, S. 35. 106  Hermann Weinkauff, Die Militäropposition gegen Hitler, 1954, S. 23. 107  Adolf Süsterhenn, Naturrecht und Steuerstreik (1950), in: Schriften, 1991, S. 334 (336).

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dern auch durch die restriktive und gemeinschaftsbezogene Konzeption des Widerstandsrechts blieb die Frage des subjektiven Rechtsschutzes in der Naturrechtsliteratur also unterbelichtet. Dies mag der Fokussierung auf extremes Unrecht nach der Erfahrung des Nationalsozialismus geschuldet gewesen sein. Die Folge war, dass die Naturrechtsdiskussionen keinen Beitrag für die in der Nachkriegszeit wichtigen Fragen des Wiederaufbaus der Justiz und der Ausgestaltung der Rechtsweggarantie für Bürger/innen leisten konnten. Doch auch den Nationalsozialismus reflektierte die Naturrechtsliteratur mit ihrer Verengung des Blicks auf extremes Unrecht unzureichend. Die geringe Ausarbeitung subjektiven Rechtsschutzes und die Konzentration auf das Widerstandsrecht als Ausnahmerecht entsprach dem Verständnis des Nationalsozialismus als „verbrecherische“, „barbarische“ und „tyrannische“ Ausnahmeerscheinung. Hiervor sollte das Naturrecht Schutz bieten. Der Weg, den der Nationalsozialismus bis zum Holocaust und zum Weltkrieg genommen hatte, floss in die Überlegungen nicht ein. Ausgeblendet wurden der alltägliche Antisemitismus und die zunehmende Diskriminierung durch Einzelgesetze108 sowie der Entzug staatlichen Schutzes vor gewalttätigen Übergriffen, mit denen die Verfolgung von Jüdinnen und Juden ihren Anfang genommen hatte. Vom Ende her betrachtet war es schlüssig, auch diese ersten Schritte der Verfolgung unter den Tatbestand des „extremen Unrechts“ zu fassen und damit ein Widerstandsrecht als gegeben anzusehen. Ob dies bereits zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft so wahrgenommen wurde, ist aber mehr als fraglich. Die nach 1945 vorherrschende Sichtweise vom Ausnahmecharakter nationalsozialistischen Unrechts verstellte den Blick dafür, wie mit schleichenden Entwicklungen hin zu einem Unrechtsstaat umgegangen werden könne und wie das Verhältnis von Staat und Bürger/innen im Normalfall ausgestaltet werden müsse, um der Gefahr einer solchen Entwicklung von vornherein vorzubeugen.

3. Keine Frage des Naturrechts: Mitgestaltungsrechte An der Konzeption des Widerstandsrechts, das im Ausnahmefall extremen Unrechts Schutz bieten sollte, zeigt sich nicht nur, wie schwach der subjektive Rechtsschutz für den Normalfall ausgestaltet war. Sie gibt auch Aufschluss darüber, wie politische Gestaltungsrechte zwischen Bürger/innen und Staat verteilt werden sollten: Widerstand und Gehorsam waren die Optionen, die Bürger/innen zur Verfügung standen. Solange der Staat nicht eine gewisse Unrechtsgrenze überschritt und „verbrecherisch“ wurde, lag das Gestaltungsrecht bei ihm. Die Bürger/innen waren grundsätzlich zum Gehorsam verpflichtet, eine Regel, die durchbrochen wurde für den Fall, dass der Staat sein Gestal108  Siehe Quellensammlung: Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat, hrsg. v. Joseph Walk, 2.A. 1996.

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tungsrecht exzessiv auf ihre Kosten ausnutzte. Dann stand ihnen ein Abwehrrecht zu. Revolution wurde als illegitim angesehen. Bürger/innen sollten nicht auf diese Weise das Gestaltungsrecht an sich reißen dürfen. Als aktive Teilnehmer/innen an staatlicher Gestaltung tauchten Bürger/innen in der Diskussion um das Widerstandsrecht nicht auf. Dieser Verteilung der Gestaltungsmacht einseitig zugunsten des Staates entspricht es, dass politische Teilhaberechte von Bürger/innen in keinem Teil der Debatte als Naturrecht thematisiert wurden. Während körperliche und geistige individuelle Freiheitsrechte in den Naturrechtskatalogen eine wichtige Rolle spielen, tauchen Rechte, die Beteiligung an einer politischen Öffentlichkeit ermöglichen, in keiner Naturrechtsschrift der Nachkriegszeit auf. Selbst die Meinungsfreiheit, deren Unterdrückung als eines der Verbrechen des Nationalsozialismus verschiedentlich angesprochen wurde, ist in den Naturrechtskatalogen zwar hin und wieder vertreten, allerdings nicht an prominenter Stelle. Auch Coing, der in dieser Hinsicht eine Ausnahme darstellt und ihr einen hohen Wert zusprach, begründete sie einzig als geistige Freiheit. Er sah in ihr nicht ein politisches Recht, sondern erklärte sie deswegen für schutzwürdig, da sie für die persönliche Entfaltung unerlässlich sei: „[D]er Mensch steht unter dem Gesetz, sich äußern zu müssen, was er denkt und fühlt, und in dieser Äußerung wahr zu sein.“109 Auch die Versammlungsfreiheit, die er als einziger als naturrechtlich geschützt ansah, begründete er nicht als Möglichkeit politischer Teilhabe. Sie ergab sich für ihn vielmehr aus dem sozialen Wesen des Menschen, denn „[a]uf allen Stufen seines Seins sieht der Mensch sich zur Gemeinschaft mit anderen gedrängt und nur in ihr kann er sich voll entfalten.“110 Dass gar das aktive und passive Wahlrecht naturrechtlich geschützt sein könnte, wurde in keiner der Schriften auch nur erwägt. Im Gegenteil: Gerade die katholischen Autoren, deren Naturrechtsentwürfe den Anspruch einer umfassenden Staatslehre hatten, betonten, dass das Naturrecht gegenüber der Herrschaftsform indifferent sei.111 Auch außerhalb der katholischen Naturrechtsliteratur erfolgte die Legitimation nicht über die Herrschaftsform, sondern über die Werte, die der Staat verwirklichte. Solange der Staat das Gemeinwohl förderte – so in der katholischen Konzeption – oder sich im Rahmen naturrechtlicher Vorgabe bewegte – so außerhalb dieser – wurde staatliche Herrschaft als legitim angesehen: „Der Staat selbst insbesondere ist eine göttliche Stiftung; seine vornehmste Aufgabe ist die Wahrung des Rechtes und der Schutz des Rechtsfriedens. […] Der staatliche Gewalthaber hat daher sein Amt nur unter der Bedingung, daß er das Recht wahrt und zum Wohle des Ganzen handelt.“112 109 

Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 68. Helmut Coing, ebd., S. 69. 111  Zur Demokratieskepsis in der katholischen Naturrechtsrenaissance ausführlich Kapitel 3. 112  Hermann Weinkauff, Über das Widerstandsrecht, 1956, S. 15. Im gleichen Sinne 110 

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

Demokratie war in keiner der Schriften eine Bedingung für die Legitimität staatlicher Herrschaft. Es stellt eine Ausnahme dar, wenn in den „Grundzügen der Rechtsphilosophie“ Coings zu lesen ist: „Es ist kein Zweifel, daß ein derartiges Prinzip [die Demokratie, LF] ein Wagnis ist, daß sie sehr hohe Anforderungen an den Menschen stellt. Was man auch sagen mag, die Demokratie ist die Staatsdoktrin, die am höchsten vom Menschen denkt, die daher auch nur funktionieren kann, wenn Menschen freiwillig Pflichten und Einschränkungen auf sich nehmen. Aber gerade damit entspricht sie den Forderungen der Rechtsidee. Denn diese fordert, den Menschen als sittlich mündig und autonom zu behandeln. Sie duldet nicht, daß für ihn und über ihn entschieden wird.“113

Üblicher war die Bezugnahme auf Demokratie als für die Legitimation des Staates gerade nicht ausreichend. Von einem „Umschlag vom demokratischen Rechtsstaat in den totalitären Staat“, der jederzeit möglich sei,114 war die Rede und davon, dass die Geschichte lehre, dass die verfassungsrechtliche Sicherungen des demokratischen Rechtsstaates nicht Schutz genug böten, „wo das Rechtswollen eines Volkes entkräftet oder die Abbildung des Volkswillens in den gesetzgebenden Versammlungen verzerrt ist.“115 Wieacker fasste die Konsequenz hieraus in einer Weise zusammen, die dem Konsens nicht besser hätte Ausdruck verleihen können: „Auch darum wird Naturrecht als eine tiefere Sicherung politischer Ethik herbeigerufen.“116 Für das Verhältnis zwischen Bürger/innen und Staat lässt sich zusammenfassend festhalten, dass in der Naturrechtsliteratur demokratische Mitgestaltungsrechte keine Rolle spielten und auch die Ausgestaltung des subjektiven Rechtsschutzes schwach blieb. Sie war damit nicht nur den verfassungspolitischen Diskussionen um die Errichtung einer demokratischen Gesellschaftsordnung fern, sondern auch denen um den Wiederaufbau des Rechtsstaates.117 Diskutiert wurde in der Naturrechtsliteratur weniger der Normalfall staatlicher Eingriffe in subjektive Rechte, als der Ausnahmefall extremen Unrechts, in dem gerichtlicher Rechtsschutz nicht mehr zu erreichen war. Dann sollte Widerstand legitim sein. Für den Normalfall wurde dabei eine obrigkeitliche Entgegensetzung von Staat und Volk konserviert, in der eine emanzipierte, ihrer Rechte bewusste Öffentlichkeit keinen Platz hatte. Walther Schönfeld, Zur Frage des Widerstandsrechts, 1955, S. 28; Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechts und Staates, 1949, S. 6; Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 182. 113  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 210. 114  Hermann Weinkauff, Über das Widerstandsrecht, 1956, S. 10. 115  Franz Wieacker, Zur Erweckung des Naturrechts, SJZ 1949, Sp. 295 (ebd.). 116  Franz Wieacker, ebd. 117  Die Naturrechtsliteratur fällt damit aus dem Rahmen des vorherrschenden gesellschaftlichen Diskurses, in welchem zumindest der Aufbau des Rechtsstaates breit anerkannt und als wichtig empfunden wurde, zu diesem Michael Stolleis, in: Eugen Bucher u.a. (Hg.), Norm und Wirkung, 2005, S. 1145–1162. Siehe auch Kapitel 6 C.

A. Naturrechtsinhalte: Ordnungsvorstellungen für die Nachkriegsgesellschaft

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IV. Unverbundene Gegensätze: Ein hinkender Neuanfang in der Wertorientierung Der Überblick über die Wertvorstellungen, die den Naturrechtskatalogen zugrunde lagen, ergibt ein widersprüchliches Bild. Betrachtet man die Liste der teilweise unisono vertretenen Naturrechtsinhalte finden sich gleichermaßen individuelle Freiheitsrechte wie auch gemeinschaftsorientierte Wertvorstellungen. Hierzu gehörte etwa der Gedanke, soziale Konflikte könnten angemessen gelöst werden, wenn nur die Parteien ihre eigene Rechtsposition nicht über das Interesse gesellschaftlicher Harmonie stellten, und die Institutionenlehre, die zwar die Eigengesetzlichkeiten bestimmter gesellschaftlicher Lebensbereiche in den Blick nahm, die Gestaltungsfreiheit des Einzelnen innerhalb dieser aber unberücksichtigt ließ. Der Schutz des Individuums stand neben dem der Gemeinschaft, ohne dass beide in ein normatives Verhältnis zueinander gesetzt worden wären. Wie der Schutz des Individuums gegenüber der Gemeinschaft aussehen sollte, blieb offen. Selbst die Bewertung des Staates, der angesichts der Erfahrungen der jüngsten Vergangenheit als Gefahr wahrgenommen wurde, war ambivalent: Einerseits sollte er gebändigt werden. Andererseits wurden Gestaltungskompetenzen und Rechte zwischen Staat und Bürger/innen in einer Weise verteilt, die obrigkeitsstaatlichen Vorstellungen entsprach. In der Gewichtung zwischen individuellen und gemeinschaftsorientierten Rechten gab es durchaus Unterschiede. Es gab jedoch in der gesamten Naturrechtsliteratur keine dezidierten Gegenentwürfe zu dem „Mittelweg zwischen Individualismus und Kollektivismus“, wie diese Synthese in der katholischen Literatur programmatisch bezeichnet wurde. Coing stach zwar dadurch heraus, dass er in besonderem Maße individuelle Rechte stark machte und den Eigenwert des Staates sowie dessen einseitigen Gestaltungsanspruch kritisch betrachtete. Er griff den herrschenden Diskurs jedoch nicht offen an, machte vielmehr im Bereich der Institutionenlehre und bezüglich sozialer Rechte Zugeständnisse an diesen. Individuelle Rechte und gemeinschaftsorientierte Rechte widersprechen sich nicht per se. Sie sind aber Gegenspieler, deren Verhältnis zueinander präzise bestimmt werden muss, will man nicht Gefahr laufen, dass sich am Ende der Stärkere – in der Regel wohl das gemeinschaftsorientierte Recht – durchsetzt. Für die Naturrechtsliteratur nach 1945 war charakteristisch, dass die Verfasser dieses Verhältnis gerade nicht klärten, sondern vage ließen. Der Begriff der „Werte“, der weit mehr Präsenz als der des „Rechts“ hatte, überdeckte die Frage, wie eine präzise Abgrenzung zwischen einander widerstrebenden Elementen wie frei-sozial, individualistisch-kollektivistisch, emanzipatorisch-obrigkeitsstaatlich aussehen sollte. Die übliche Verbindung individueller und gemeinschaftlicher Freiheit lag in der schlichten Feststellung, dass der Mensch nicht nur Individuum, sondern auch ein soziales Wesen sei. Für das Verhältnis zwi-

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schen individuellen und gemeinschaftlichen Rechten konnte dieser Satz zweierlei bedeuten: Zum einen konnte aus der Feststellung, dass der Mensch ein soziales Wesen sei und in Gemeinschaft mit anderen lebe, resultieren, dass deswegen Vorkehrungen zum Schutz des Individuums in Gemeinschaft getroffen werden müssten. Zum anderen konnte die Aussage, der „Mensch ist ein soziales Wesen“ bedeuten, dass er sich in die Gemeinschaft einfügen solle und es daher keines spezifischen Schutzes des Individuums in Gemeinschaft bedürfe. In der Naturrechtsliteratur finden sich in der Regel weder der eine noch der andere Versuch, das Verhältnis individueller und gemeinschaftlicher Rechte zu präzisieren. Individuelle Rechte und Rechte der Gemeinschaften wurden nebeneinandergestellt, ohne dass ihr Rangverhältnis im Falle der Kollision geklärt worden wäre. Coing und Kipp stellen hier auf entgegengesetzte Weise Ausnahmen dar. In den übrigen Schriften zeigt sich nur implizit, wie die Gewichte verteilt waren. Der Blick auf die Konsequenzen, die an Naturrechtsverstöße gekoppelt wurden, verrät, wo die Gefahren für eine naturrechtsgemäße Ordnung gesehen wurden. Eine Gefahr für individuelle Rechte durch außerstaatliche Gemeinschaften wurde von den Verfassern der Schriften nicht gesehen, der Schutz des Individuums in diesen Gemeinschaften regelmäßig nicht thematisiert. Der Staat hingegen wurde als Bedrohung für Individuen wie auch für außerstaatliche Gemeinschaften wie Kirche und Familie angesehen. Dass der Schutz subjektiver Rechte einzelner Bürger/innen dennoch schwach ausgeprägt blieb, zeigt allerdings, dass ihm implizit ein erheblicher Eigenwert zugesprochen wurde. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass individuelle Freiheit in weiten Teilen der Naturrechtsliteratur eigentümlich folgenlos blieb. Dennoch war sie integraler Bestandteil aller Naturrechtskataloge. Die Aufzählung individueller Freiheitsrechte wurde den Gemeinschaftsrechten voran gestellt und nahm in der Regel deutlich mehr Raum ein als letztere. Ein tragfähiges Konzept für die Gestaltung einer wehrhaften Rechtsordnung für die Nachkriegsgesellschaft ergab sich aus ihr angesichts ihrer Folgenlosigkeit nicht. Sie deswegen als bedeutungslos anzusehen, wäre aber falsch. Betrachtet man die Beschreibungen des Nationalsozialismus, so fällt auf, dass Verletzung von Menschenwürde und Freiheitsrechten aus Sicht der Autoren ein zentrales Verbrechen darstellte. Individuelle Freiheitsrechte stellten eine Antwort eben hierauf dar. Über den Nationalsozialismus reden hieß, über Verletzung individueller Freiheitsrechte durch einen verbrecherischen Staat reden, und genau dieses spiegelte sich in den Wertekatalogen. Die Unverbundenheit dieser individuellen Rechte mit den gemeinschaftsbezogenen Rechten und dem Eigenwert, der dem Staat zu erkannt wurde, deuten darauf hin, dass es sich bei den Naturrechtsentwürfen insofern gerade nicht um kohärente Gesellschaftsentwürfe handelte. Die Reflexion nationalsozialistischen Unrechts war gepaart mit Vorstellungen über das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft sowie von Bürger/innen und Staat, die länger zurück reichten und

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als Denkstil eine Trägheit aufwiesen, die eine grundlegende Revision des Gesellschaftsbildes nach 1945 verhinderten. Die sozialen und gemeinschaftsorientierten Elemente der Naturrechtskonzeptionen standen in einer Tradition eines konservativen Ordnungsdenkens, das Ehe, Familie, Kirche und Staat als Pfeiler der Gesellschaft sah und in Solidarität und Fürsorge zentrale Werte im Umgang der Menschen miteinander. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts, besonders aber in der Weimarer Zeit spitzten sich diese Positionen zu. Die Suche nach gesellschaftlicher Einheit und Harmonie mündete mit ihrem Antipluralismus und Antiliberalismus schließlich darin, dass das Individuum nur noch als Glied der Gemeinschaft gesehen wurde, das sich der Gemeinschaft bedingungslos hingeben sollte. Freiheit sollte sich nur in Gemeinschaft verwirklichen können, dafür müsse sich der Einzelne in diese organisch einfügen. Der Eigenwert des Staates wurde hervorgehoben und in der Verbindung, die sozialkonservative, nationalkonservative und völkische Positionen mit einander im Übergang zum Nationalsozialismus eingingen, nationalistisch aufgeladen. An Sprache und Gedankenwelt der Naturrechtsliteratur lässt sich erkennen, dass sie nicht ungebrochen hier anknüpfte, noch weniger an der nationalsozialistischen „Eingliederung“ des Individuums in die „Volksgemeinschaft“. Die sozialen und gemeinschaftsorientierten Elemente der naturrechtlichen Gesellschaftskonzeptionen wiesen Ähnlichkeiten zu dem Gedankengut eben dieser Zeit auf, so mit der Vorstellung einer harmonischen Auflösung gesellschaftlicher Interessenkonflikte, der Idee „gebundener“ Freiheit, der Institutionenlehre und der Vorstellung, dem Staat komme ein Eigenwert zu. Der Grundton aber war ein anderer. Davon, dass das Individuum nur in der Gemeinschaft seine Erfüllung finde und ihr daher bedingungslos verpflichtet sei, ist in der Nachkriegsliteratur keine Rede mehr. Dem Staat wurde mit einer der Staatstheorie der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus fremden Skepsis begegnet. Die Dynamik und die Mobilisierung des Einzelnen im Dienste der Gemeinschaft oder des Staates, die die Literatur in der ausgehenden Weimarer Zeit sowie im Nationalsozialismus prägte, finden sich in der Naturrechtsliteratur nicht. Das Volk wurde oft eher als passives Objekt staatlicher Herrschaft gesehen. Und es war nicht „die Volksgemeinschaft“, sondern der „Nächste“, dem die Solidarität gelten sollte. Dass in der Naturrechtsliteratur nach 1945 individualistische und gemeinschaftsorientierte Werte so unverbunden nebeneinander standen, war dieser bloß partiellen Übernahme einzelner Elemente vergangener Gesellschaftstheorien geschuldet. An eine Unterordnung des Individuums unter Staat und Gemeinschaft war nach 1945 nicht mehr zu denken. Die Notwendigkeit, das Individuum mit Rechten auszustatten, lag auf der Hand. Zu dieser Einsicht hätten liberal-demokratische Rechts- und Gesellschaftslehren der Weimarer Zeit sicherlich besser gepasst. Es waren allerdings Elemente aus konservativ-gemeinschaftsorien-

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tierten Theorien, die in den Naturrechtsdebatten wieder aufgenommen und in modifizierter Form fortgeführt wurden. Der Eindruck der Widersprüchlichkeit entsteht, weil das Verhältnis der übernommenen und der neu hinzugekommenen Elemente nicht theoretisch hinreichend bestimmt wurde. Dass die katholischen Entwürfe die größte Kohärenz aufweisen, überrascht so gesehen nicht, da sie bruchlos an die konservative und organische, aber nicht totalitäre oder völkische Gesellschaftstheorie der katholischen Soziallehre anknüpfen konnten.

B. Erzählungen von der Vergangenheit, Vorstellungen von der Zukunft Obwohl sich nur wenige Texte der Naturrechtsbesinnung als Beiträge zur Rechtsgeschichte verstanden,118 waren Ausführungen zur europäischen Geistesgeschichte seit der Antike fester Bestandteil der Naturrechtsliteratur. Diese stützten die Werte ab, die für Naturrecht erklärt wurden, und flankierten auf diese Weise die Zukunftskonzeptionen der Naturrechtsschriften. Charakteristisch für die historischen Ausführungen in den Naturrechtstexten war es, dass sie sich auf die Hauptstationen der europäischen Ideengeschichte seit der griechischen Antike beschränkten, zum Teil sogar schlicht pauschal auf „die abendländische Geschichte“ verwiesen. Genauigkeit und Ausführlichkeit der historischen Ausführungen variierten je nach Diskussionszusammenhang und Textgattung, ebenso die Bewertung der einzelnen Epochen. In jedem Fall aber wurde die Naturrechtsbesinnung als eine Wiederbelebung wertvoller Traditionen der europäischen Geschichte angesehen. Hierzu wurde weit ausgeholt: Der Nationalsozialismus habe „unsere Geschichte einer tausendjährigen Kultur verraten“,119 heißt es etwa bei Adolf Arndt. Die Naturrechtslehre sei „mehrere Jahrtausende alt“,120 betonte Hermann Weinkauff und auch Gustav Radbruch verwies darauf, dass die Rechtswissenschaft sich wieder besinnen müsse „auf die jahrtausendalte gemeinsame Weisheit der Antike, des christlichen Mittelalters und des Zeitalters der Aufklärung […], daß es ein höheres Recht gebe als das Gesetz, ein Naturrecht, ein Gottesrecht, ein Vernunftrecht, kurz ein übergesetzliches Recht […].“121 118  Auch in der Rechtsgeschichte schlug sich die Naturrechtsbesinnung nieder, so in der Methodendiskussion, in welcher es darum ging, ob aus der Rechtsgeschichte überzeitlich gültige Prinzipien hergeleitet werden könnten. Beteiligt waren Heinrich Mitteis, Karl S. Bader, Franz Wieacker, Gerhard Duckeleit, Helmut Coing, Paul Koschaker u.a. Hierzu Sten Gagnér, Zur Methodik neuerer rechtsgeschichtlicher Untersuchungen, Bd. 1, 1993, S. 9 ff. 119  Adolf Arndt, Anm. zu OLG Kiel, Urt. v. 26.3.1947, SJZ 1947, Sp. 330 (334). 120  Hermann Weinkauff, Naturrecht in evangelischer Sicht (1952), S. 210 (211). 121  Gustav Radbruch, Die Erneuerung des Rechts (1947), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 1 (9 f.).

B. Erzählungen von der Vergangenheit, Vorstellungen von der Zukunft

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Die historischen Ausführungen waren dabei nicht nur rhetorische Mittel, um die Legitimität der Naturrechtslehren zu unterstreichen, sie transportierten vielmehr auch Inhalte. Naturrecht als zukunftsweisendes Konzept wurde in der Nachkriegszeit in vielen Fällen gerade als Anschluss an abendländische Philosophiegeschichte begründet. Bestimmte Traditionen, Epochen oder Denkfiguren der Vergangenheit wurden herausgegriffen und als wertvoll und damit zukunftsträchtig beschrieben. Von anderen grenzte man sich strikt ab. Heinrich Mitteis brachte diese Bedeutung der Geschichte für die Zukunft auf den Punkt, indem er schrieb: „Es ist die große Aufgabe unserer Zeit, alle als wertvoll erkannten Kräfte der Vergangenheit zu erwecken […].“122 So sind auch die Erzählungen über die Vergangenheit ein Schlüssel zu den Zukunftsvisionen ihrer Verfasser. Welche Antworten sollten der Vergangenheit entnommen werden für die Zukunft? Im Folgenden wird es zunächst um die Werte gehen, welche die Texte durch ihre Darstellung der Ideengeschichte transportierten. Sodann wird danach gefragt, wie die Autoren sich und ihre Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft verorteten.

I. Positive und negative Traditionen: Eckpunkte der Geschichtserzählungen Die historischen Ausführungen gewähren einen Blick unter die Oberfläche der Naturrechtskonzeptionen und Wertekataloge, in denen die Zukunft offen verhandelt wurde. Sie erzählen damit möglicherweise etwas, was diese verschweigen. Welches also waren die positiven Traditionen, an die man sich erinnerte, welches die negativen, von denen man sich abgrenzte? Welche Charakteristika wurden den einzelnen Epochen zugeschrieben? Statt einer vollständigen Analyse aller Epochen, die in den Naturrechtstexten zur Sprache kommen, greife ich drei Epochen heraus, die in den Erzählungen eine markante Rolle spielen. An ihnen lassen sich die Bewertungsmerkmale veranschaulichen, an denen auch die übrigen Epochen gemessen wurden. Es handelt sich um das Mittelalter, das in den katholischen Texten eine herausgehobene Rolle spielte. Die Reformation war das Äquivalent für die protestantische Literatur. An der Aufklärung schließlich rieben sich mit unterschiedlicher Stoßrichtung so gut wie alle Schriften.

122 

Heinrich Mitteis, Deutsche Rechtsgeschichte, 1949, S. 145.

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1. Christliches Mittelalter In der katholischen Naturrechtsliteratur wurde das Mittelalter als Glanzzeit der Geschichte beschrieben. Die Darstellung des Mittelalters war dabei nicht ausführlicher und differenzierter als die anderer Epochen. Konkrete historische Ereignisse und Gegebenheiten, Konflikte und Entwicklungen waren nicht Gegenstand der Erzählung. Der Eindruck von der Qualität dieser Epoche wurde vielmehr durch entsprechende Attribute erzeugt. So schrieb Ernst von Hippel im Zusammenhang mit dem Mittelalter von einer „heiligen Ordnung“123, Valentin Tomberg sprach von einer Epoche, die „gesund“ und „fruchtbar“ 124 und von Vernunft getragen gewesen sei.125 Heinrich Kipp brachte das Mittelalter mit Werten wie Liebe, Weisheit und Gerechtigkeit in Verbindung126 und Heinrich Rommen charakterisierte es als eine Zeit der „inneren Einheit“.127 Festgemacht wurden diese Qualitäten des Mittelalters zum einen am „realistisch“ genannten Denken der scholastischen Philosophie und an der von ihr entwickelten dreistufigen Naturrechtslehre. Diese zeichne sich dadurch aus, dass in ihr Religion, Moral und Recht eine Einheit bildeten. Der mittelalterliche „Realismus“ gehe „vom Menschen der Idee“ aus, „wie Gott ihn gedacht und gewollt hat“,128 so Ernst von Hippel. Das Rechtsdenken, das auf dieser Philosophie aufbaue, gründe daher „in Gott als dem allein Wahren und Verbindlichen“. Das mittelalterliche Recht mache mit der lex divina das „Ideal des Rechts“ zum Maßstab129 und gewährleiste, dass über der lex positiva „als verbindlich die Idee der Humanität, des Menschheitlichen an sich und, für den Glaubenden jedenfalls, das Ideal der Christenheit“ stehe.130 Das Heilige römische Reich deutscher Nation war Inbegriff dieser Qualitäten des Mittelalters. Es stand für die Verwirklichung der von der scholastischen Philosophie begründeten Einheit von Recht, Moral und Glaube. Das „mittelalterliche Reich“ wurde beschrieben als eine Gesellschaft, in der eine Ordnung herrschte, die zwar hierarchisch gewesen sei, aber Friede, Sicherheit und Harmonie gewährt habe. Kipp lobte die „wunderbare Geschlossenheit und Ganzheit“ des „umfassenden Weltbildes“ des Mittelalters,131 in dem der Mensch auf dem „gesicherte[n] Grund der Offenbarung“ gestanden habe.132 Süsterhenn sah 123 

Ernst von Hippel, Vom Wesen der Demokratie, 1947, S. 7 ff. Valentin Tomberg, Degeneration und Regeneration der Rechtswissenschaft, 1946, S. 32, 35. 125  Valentin Tomberg, ebd., S. 16; ebenso Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 18. 126  Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 23. 127  Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 82. 128  Ernst von Hippel, Einführung in die Rechtstheorie, 2.A. 1947, S. 72. 129  Ernst von Hippel, ebd., S. 74. 130  Ernst von Hippel, ebd., S. 78. 131  Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 18. 132  Heinrich Kipp, ebd., S. 16. 124 

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den Gedanken eines friedlich geeinigten Europas erstmals im mittelalterlichen Reich verwirklicht: „Das religiöse Bewußtsein des gleichen Ursprungs, der gleichen Natur, der gemeinsamen Erlösung durch Christus und der gleichen Berufung zum ewigen Heile ließ jenen christlichen Universalismus entstehen, dessen Frucht die religiöse, kulturelle und politische Gemeinschaft der europäischen Völkerfamilie unter der Leitung von Papst und Kaiser darstellte. Das Ordnungsprinzip dieser religiös-geistigen und zugleich politisch-imperialen Schöpfung war die Gerechtigkeit als die Quelle des Friedens: Opus justitiae pax!“133

Einheit, Harmonie und Friede, die dem mittelalterlichen Reich zugeschrieben wurden, gründeten in der Vorstellung einer Gesellschaft, die trotz ihrer räumlichen und damit auch kulturellen Ausdehnung im Glauben geeint war. Trotz der hierarchischen Ausrichtung auf „Papst und Kaiser“ sei in ihr die Gleichheit zwischen den Menschen verwirklicht gewesen, so Ernst von Hippel. Gleichheit sei dabei nicht als „gleiche Freiheit“ zu verstehen, sondern im Sinne einer „Gleichwertigkeit aller Menschen als Seelen und in der gleichmäßigen Geltung des Wortes für alle“.134 Dass es sich beim Mittelalter um eine ständische Gesellschaft gehandelt hat, in der Rechte gerade nicht gleich verteilt waren, war in den Texten präsent und in den zum Ideal erhobenen Ordnungsgedanken integriert: Jeder Mensch habe eine ihm von Gott zugewiesene Position in der Gesellschaft inne. Die mit dieser Position verbundene Aufgabe zu erfüllen bedeute, sein „Wesen“ oder seine „wahre Natur“ zu verwirklichen. Dies wiederum sei Inbegriff von Freiheit.135 Die Schriften bezogen sich auf die „Idee des Reiches“, nicht auf die historisch-politische Wirklichkeit. An die Mittelalterforschung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts knüpften die Autoren damit nicht an. Die politische Herrschaftsgeschichte des Mittelalters etwa, die über Jahrzehnte die historische Forschung beschäftigt hatte,136 spielte für sie keine Rolle. Einige Autoren begründeten diese Beschränkung auf die „Idee des Reiches“ offensiv: So schrieb Ernst von Hippel, der Umstand, dass es auch im Mittelalter „viel Böses“ gegeben habe, sei „zwar wahr, aber nicht entscheidend.“ Denn es bedeute nicht das Gleiche, 133 

Adolf Süsterhenn, Europäischer Föderalismus (1947), in: Schriften, 1991, S. 149 (ebd.). Ernst von Hippel, Vom Wesen der Demokratie, 1947, S. 16. 135  Zum Freiheitsbegriff der katholischen Naturrechtsrenaissance siehe Kapitel 3 sowie in diesem Kapitel oben, S. 236. 136  Zu dieser, seit dem 19. Jahrhundert vorherrschenden „etatistischen“ Forschungsrichtung Otto Gerhard Oexle, in: Natalie Fryde u.a. (Hg.), Die Deutung der mittelalterlichen Gesellschaft in der Moderne, 2006, S. 15 (32 ff.). Dieser Forschungsrichtung kritisch gegenüberstehende kulturhistorische Ansätze wurden erst recht nicht zur Kenntnis genommen. Letztere hatten versucht, die Heterogenität der mittelalterlichen Gesellschaft aufzuzeigen und hatten die „Einheit“, die dem Mittelalter zugeschrieben wurde, in Frage gestellt. Siehe dazu ebd. S. 42 ff. Die Verfasser der Naturrechtsliteratur griffen somit zwar nicht auf mediävistische Forschung, wohl aber auf das in dieser vorherrschende Deutungsmuster zurück, welchem zufolge im Mittelalter Einheit und Gemeinschaft bestanden hätten, welche durch die Moderne zerstört worden seien, dazu Otto Gerhard Oexle, in: Paradigmen deutscher Geschichtswissenschaft, 1994, S. 32 (39 ff.). 134 

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„ob sich jemand vornimmt, ein guter Mensch oder ein Dieb oder ein Räuber zu werden, und so gleichsam unter dieser oder jener Fahne lebt, auch wenn er seinem Ideal nicht immer voll entspricht.“137 Im gleichen Sinne beschränkte auch Kipp die Aussagen über die Qualitäten des Mittelalters auf die Ideengeschichte. Das Weltbild des „Realismus“ sei im Mittelalter „in seltener Reinheit gelehrt und – wenn auch nicht in der gleichen Kraft – gelebt worden.“138 Die „Idee des Reiches“ zu einem Ausgangspunkt für politische Zukunftsvisionen zu machen, bedeutete, an politische Diskurse der Zeit vor 1945 und vor 1933 anzuknüpfen. Ein vielstimmiges konservatives Spektrum hatte in der Weimarer Zeit die Republik mittels der „Vision vom Reich“ angegriffen.139 Sie war unverzichtbarer Topos im antidemokratischen Denken der Zeit.140 Das „Reich“ stand für Ordnung, Einheit und Friede und stellte damit ein Gegenbild zur politischen Ordnung und Gesellschaft der Weimarer Republik dar, die als innerlich zerrissen durch Pluralismus und konfligierende Parteien galt.141 In der katholischen Literatur der Weimarer Zeit gingen laut Sontheimer kaum expansionistische Vorstellungen mit der Reichsidee einher.142 In anderen Kreisen, etwa dem der sogenannten „konservativen Revolution“, wurde sie jedoch vielfach mit völkisch-nationalistischen Tönen gemischt.143 Das mittelalterliche „Reich“ mit seinem angeblichen „Sendungsbewusstsein“ stand für die Vormachtstellung Deutschlands in Europa. Dies verstärkte sich im Nationalsozialismus, wo auch in der rechtshistorischen Literatur von einer „Sehnsucht nach dem Reich“144 die Rede war.145 Es dominierten Beschreibungen des „Heiligen 137 

Ernst von Hippel, Einführung in die Rechtstheorie, 2.A. 1947, S. 75. Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 43. 139  Bereits im 19. Jahrhundert wurde das Reich von verschiedener Seite idealisiert und zur Abstützung politischer Vorstellungen herangezogen, hierzu Michael Stolleis, Heiliges Römisches Reich deutscher Nation, Deutsches Reich, „Drittes Reich“, 2007, S. 10 ff. 140  Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2.A. 1983, S. 222 ff.; Michael Stolleis, vgl. Fn. 139, S. 15 ff. 141  So etwa bei Carl Schmitt, Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 46 f., für den das „Reich“ Inbegriff des „deutschen Staatsbegriffs ist“ und im Gegensatz zur Staatskonzeption des „westlich-liberalen Vernunftrechts und des Positivismus“ steht. 142  Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, 2.A. 1983, S. 222 ff. 143 Hierzu Joachim Rückert, „Drittes Reich“ (1933–1945), in: HRG, Bd. 1, 2.A. 2008, Sp. 1152 (1154 f.). 144 Z.B. Hans Erich Feine, Tausend Jahre Deutsches Reich, 3.A. 1935, S. 5; weitere Nachweise bei Elmar Wadle, in: Joachim Rückert/Dietmar Willoweit (Hg.), Die Deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit, 1995, S. 241–299. 145  Elmar Wadle, ebd.; Andrea Nunweiler, Das Bild der deutschen Rechtsvergangenheit und seine Aktualisierung im „Dritten Reich“, 1996, S. 150 ff.; Anna Lübbe, in: Michael Stolleis/Dieter Simon (Hg.), Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus, 1989, S. 63–78. Zu den Übergängen von der Weimarer Reichsideologie in die des NS Michael Stolleis, Heiliges Römisches Reich deutscher Nation, Deutsches Reich, „Drittes Reich“, 2007, S. 15 ff. Er weist darauf hin, dass sich auch Kritiker des NS der Reichsmetaphorik bedienten, aaO. S. 18. 138 

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Reichs deutscher Nation“ (der Zusatz „römisch“ wurde gestrichen),146 die seine territoriale Ausdehnung und Macht in den Mittelpunkt rückten. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges nahmen die Stimmen zu, die Großmachtbestrebungen mittels historischen Rückgriffs legitimierten.147 Diese expansionistischen und nationalistischen Elemente der Reichsvision spielten in der Nachkriegsliteratur keine Rolle. Die Einheit im Glauben war nun das zentrale Motiv.148 Als Vorbild für ein gleichberechtigtes und friedliches Europa und als ein dezidierter Gegenentwurf zu den nationalsozialistischen Idealisierungen wurde das Reich aber, so weit ersichtlich, nur von Süsterhenn stark gemacht.149 Dieser war es auch, der das Mittelalter nicht allein deswegen heranzog, um auf realistische Philosophie und die Einheit und Ordnung des Reiches zu verweisen, sondern der auch an die politische Kultur mittelalterlicher Städte erinnerte: Nicht nur den Gedanken der „Gleichheit von allem, was Menschenantlitz trägt“ und die mit ihm einhergehende Überwindung der antiken „Trennung der Menschen in Staatsbürger und Staatsfremde, Freie und Sklaven“ sei das Verdienst des Mittelalters. Es habe auch „insbesondere im blühenden Städtewesen anerkannte Vorbilder demokratischer Verfassungen geschaffen.“150 Süsterhenn modifizierte damit die vorherrschende Erzählung in den katholischen Naturrechtsschriften, in der das christliche Mittelalter für eine durch Harmonie und Einheit geprägte Gesellschaftsordnung stand, in der demokratisch auszutragende Konflikte nicht auftraten.

2. Reformation In der protestantischen Literatur nahmen historische Ausführungen insgesamt keinen so breiten Raum ein, wie in der katholischen. Das Mittelalter wurde hier, wenn überhaupt, dann knapp, aber zum Teil durchaus wohlwollend abgehandelt, zentraler Blickpunkt war jedoch die Reformation. Zentral war sie allerdings nicht deshalb, weil sie als „Goldene Zeit“ stilisiert worden wäre, wie dies in der katholischen Literatur mit dem Mittelalter geschah. Vielmehr diente die 146  Elmar Wadle, in: Joachim Rückert/Dietmar Willoweit (Hg.), Die Deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit, 1995, S. 241 (264). 147  Vgl. Literaturüberblick von Elmar Wadle, ebd. 148  Im NS dagegen war die Macht der Kirche im Mittelalter negativ bewertet und als Ursache für den Verfall der Rechtseinheit gesehen worden, siehe Andrea Nunweiler, Das Bild der deutschen Rechtsvergangenheit, 1996, S. 157 ff. 149  Adolf Süsterhenn, Europäischer Föderalismus (1947), in: Schriften, 1991, S. 149 (ebd.). 150  Adolf Süsterhenn, Die Grundrechte (1946), in: Schriften, 1991, S. 52 (ebd.). Die Geschichte der mittelalterlichen Stadt bietet Stoff, mit dem gezeigt werden kann, dass auch im Mittelalter eine heterogene Gesellschaft mit vielfältigen Willensbildungsprozessen existierte. Sie lässt sich damit Versuchen entgegenhalten, die „Einheit“ und „Gemeinschaft“ des Mittelalters idealisieren und zur politischen Forderung für die Gegenwart erheben. Zur Geschichte der mittelalterlichen Stadt in diesem Sinne v. a. Gerhard Dilcher, in: Karl S. Bader/ Gerhard Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte, 1999, S. 249–827.

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Auseinandersetzung mit der Reformation dazu, sich zu vergewissern, welches Potential in der protestantischen Geschichte für die Begründung einer Naturrechtslehre lag. Diese Tradition wurde als verschüttet angesehen, der Zugang zu ihr sollte durch Korrektur vergangener Interpretationen freigelegt werden. Insbesondere der Kirchenrechtler Johannes Heckel machte es sich zur Aufgabe, Luthers Lehre zur Zwei-Reiche-Lehre neu zu interpretieren und aufzuzeigen, dass diese zwar grundlegend mit der scholastisch-katholischen Tradition gebrochen habe, mitnichten aber eine Ablehnung eines Naturrechts darstelle.151 Der heutige Blick sei verstellt durch eine Entfernung von der Theologie Luthers, die in der nachreformatorischen Zeit stattgefunden habe: „Um die Wende des 16. und 17. Jahrhunderts bricht sich in der Jurisprudenz und Theologie des Luthertums ein neues Rechtsgefühl Bahn und führt zu einem Rechtsbegriff, welcher von demjenigen des Reformators merklich abweicht. Er ist, um in der Sprache Luthers zu reden, nicht theologisch, sondern philosophisch. Damit schwindet hinfort der Sinn für die Eigentümlichkeit der lutherischen Rechtslehre.“152

Zugleich erinnerte Erik Wolf daran, dass in der Zeit unmittelbar nach der Reformation wie selbstverständlich eine evangelische Ethik existiert habe und man davon ausgegangen sei, dass die Kirche politische Verantwortung übernehmen dürfe und solle. Er verwies damit auf eine eigene Tradition der evangelischen Kirche, auf die für die Naturrechtsbegründung zurückgegriffen werden konnte: „Besonders müssen wir uns erinnern, daß eine reiche Literatur lutherischen wie calvinistischen Ursprungs vorhanden ist, die nicht philosophisch über evangelische Ethik redet, sondern eine evangelische Ethik schriftgemäß entwickelt; wobei sie sich ganz und gar nicht nur auf die Zucht des inneren Lebens beschränkt hat, vielmehr Grundlinien rechter Verfassung des öffentlichen Lebens entwarf, die für lange Zeit und von vielen Fürsten oder Staatsmännern verbindlich gehalten worden sind. Ihr Ziel war keine Aufrichtung äußeren Zwangs oder gar kirchlicher Bevormundung des Staates, sondern Erziehung des christlichen Gewissens zu einer es verpflichtenden, bewußten Rechtsgesinnung. Von Johann Oldendorps Büchlein ‚Was billig und recht ist‘ (1529) und seinem ‚Ratsmannenspiegel‘ (1530) über Johannes Althusius’ ,Politik‘ (1603) bis zu Reinkings ‚Biblischer Polizei‘ (1653) oder Seckendorfs ‚Christenstaat‘ (1685) aus der Zeit nach dem Dreißigjährigen Kriege finden wir eine evangelisch-christliche Gerechtigkeitslehre wissenschaftlich gepflegt; von den zahlreichen Haus- und Ehespiegeln, Oeconomien und ähnlicher, zumeist auf lutherischem Boden erwachsener ‚Haustafel‘-Literatur nicht zu reden.“153

Mit der Erinnerung an diese eigene Tradition begegneten Protestanten zum einen der Naturrechtsskepsis in der eigenen Kirche, indem sie daran erinnerten, dass es eine spezifisch evangelische Tradition in der Ethik gegeben habe. Zum 151 

Siehe Kapitel 4, Fn. 42. Johannes Heckel, Widerstand gegen die Obrigkeit? (1954), S. 288 (290 f.). 153  Erik Wolf, Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts (1946), S. 33 (57) [Hervorhebung im Original]. 152 

B. Erzählungen von der Vergangenheit, Vorstellungen von der Zukunft

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anderen begegneten sie dem Vorwurf, dass bereits in der Reformation und damit im evangelischen Glauben die Trennung von Religion und Recht angelegt sei. Dieser wurde von katholischer Seite erhoben, so etwa, wenn Süsterhenn die Reformation mit dem Nominalismus in Verbindung brachte und sie als eine treibende Kraft für den „Zerfall des Abendlandes“ bezeichnete.154 Die historiographischen Strategien im Umgang mit diesem Vorwurf waren unterschiedlich. Anders als in der katholischen Literatur gab es keine einheitliche, etablierte Erzählung. Den Divergenzen zwischen den Erzählungen ist anzumerken, dass man sich auf Neuland bewegte. So suchte Heckel zu belegen, dass die Reformation einen fundamentalen Bruch mit dem mittelalterlichen Rechtsdenken mit sich gebracht habe. Die Reformation der Kirche habe „die Reformation der Rechtsidee“ nach sich gezogen.155 Scheuner hingegen sah die mittelalterliche Tradition des Naturrechts durch die Reformation fortgeführt. Auch wenn diese „[d]as System der mittelalterlichen Rechtslehre […] im Kern zersprengt“156 habe, erinnerte er daran, dass im Spätwerk Luthers und bei Calvin durchaus eine gewisse rationale Erkennbarkeit des Naturrechts anerkannt worden sei. Schließlich habe ein „kämpferischer Calvinismus in Frankreich, in den Niederlanden und in Schottland den Glauben des natürlichen Rechts zu neuer Kraft“ gebracht. Für diesen habe das Naturrecht dezidiert als „Macht des Widerstandes, der Freiheit und Durchsetzung neuer religiöser und politischer Ideen“ fungiert.157 Scheuner zeigte damit, dass auch der protestantische Glaube, wie er während der Reformation und in der Zeit danach verstanden worden war, weltlich-politische Verantwortung begründen und widerständiges Handeln legitimieren könne. Er resümierte, dass die Reformation „in ihren Folgen trotz der grundlegenden Abweichung vom mittelalterlichen Denkbilde noch keine volle Auflösung der Grundlagen der traditionellen Naturrechtslehre“ bedeutet habe.158 Ihm war daran gelegen, die Reformation nicht zu einem entscheidenden Wendepunkt zu erklären, sondern einzugliedern in eine kontinuierliche Tradition des Naturrechtsdenkens. Erst deutlich später, mit der Aufklärung, sei diese Tradition grundlegend in Frage gestellt worden. In einem sehr ähnlichen Sinne, nur unter umgekehrten Vorzeichen, deutete Berggrav die Reformation: Auch er betonte die Kontinuität von Mittelalter und Reformation. Allerdings zeichnete er nicht eine Geschichte, in der das Wertvolle fortwirkte, sondern eine, in der die Entfernung von Recht und Religion bereits in der scholastischen Lehre selbst angelegt gewesen sei. „Diese Separation [von Recht und Religion, LF] war nicht etwas, was die Reformation zustande brachte“, 154 

Adolf Süsterhenn, Europäischer Föderalismus (1947), in: Schriften, 1991, S. 149 (ebd.). Johannes Heckel, Lex Charitatis, 1953, S. 18. 156  Ulrich Scheuner, Zum Problem des Naturrechts nach evangelischer Auffassung, in: Kirche und Recht, 1950, S. 27 (30). 157  Ulrich Scheuner, ebd., S. 32. 158  Ulrich Scheuner, ebd., S. 33. 155 

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

schrieb er. „Die Reformation fand sie vor und akzeptierte sie. Luther nahm die später übliche Bezeichnung ‚zwei Regimenter‘ auf, das des Geistes und das des Schwertes, das des Throns und das des Altars, ‚die streng getrennt gehalten werden und niemals miteinander vermengt werden dürfen‘. Die Reformation schuf nichts auf diesem Gebiet. Sie richtete sich nur in dem ein, was sie vorfand.“159 So verschieden diese drei Erzählungen waren, sie richteten sich alle gegen eine Deutung, in der die Reformation die Wurzel der Trennung von Religion und Recht oder auch nur ein entscheidender Schritt auf dem Weg dorthin war. Die Reformation sollte nicht die historische Wendemarke darstellen, an der sich die Ursachen für die „Krise der Gegenwart“ erstmals manifestierten.

3. Aufklärung Die Aufklärung war in der Naturrechtsliteratur über alle Gesprächskreise und Debattenteile hinweg ein Reibungspunkt. In den meisten Erzählungen war sie die Epoche, die all das verkörperte, wovon man sich abgrenzte. Sie stand dann für Rationalismus und Säkularisierung, für die Trennung von Religion, Moral und Recht, für gesellschaftliche Konflikte, Individualismus und Liberalismus sowie für das Aufkommen eines starken Staates. Es gab jedoch auch Stimmen, die in ihr eine positive Tradition sahen. Besonders scharf wurde die Kritik an der Aufklärung in der katholischen Literatur formuliert. Die Aufklärung wurde hier radikal als Gegenpol zur goldenen Zeit des Mittelalters stilisiert. Dass sie eine von der Religion losgelöste menschliche Vernunft zur Grundlage ihrer Philosophie machte, wurde als Anmaßung gesehen. So sprach etwa Tomberg von der „Selbstüberhebung der menschlichen Vernunft“,160 Rommen von ihrer „Selbstherrlichkeit“161 und bei Kipp ist die Rede von der „Selbstüberschätzung der Ratio“.162 Abgelehnt wurde die Aufklärung in der katholischen Literatur dabei nicht allein aufgrund der Säkularisierung, sondern auch, weil sie mit der bisherigen aristotelisch-christlichen Geistestradition gebrochen habe.163 Sie habe, so Rommen, „Verrat an der Überlieferung“ begangen.164 Der Aufklärung wurde vorgeworfen, sich von Denktraditionen der Vergangenheit losgesagt zu haben. 159 

Eivind Berggrav, Der Staat und der Mensch (norw. 1944), 1946, S. 58. Valentin Tomberg, Degeneration und Regeneration der Rechtswissenschaft, 1946, S. 15; Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 31. 161  Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 89. 162  Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 32; im gleichen Sinne auch Georg Stadtmüller, Naturrecht im Lichte der geschichtlichen Erfahrung, 1948, S. 20. Er sprach von einem „kühnen Versuch“, Naturrecht auf Vernunft gründen zu wollen und warf der Aufklärung vor, anders als das Mittelalter zu „Selbstkritik“ nicht in der Lage zu sein. 163  Georg Stadtmüller, Naturrecht im Lichte der geschichtlichen Erfahrung, 1948, S. 34 f.; Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 35 f., 83, 95. 164  Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 112. 160 

B. Erzählungen von der Vergangenheit, Vorstellungen von der Zukunft

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Dieses Motiv der „Trennung“ stellte in der katholischen Aufklärungskritik einen zentralen Topos dar. Nicht nur die Abtrennung von vergangenen Geistestraditionen, auch der Vorwurf der Trennung von Religion, Recht und Moral und der Reduktion der Philosophie auf Rationalität stützen sich darauf. Kipp gebrauchte das Bild der „Scheidewand“, die die Aufklärung „zwischen Gott und der Welt“ errichtet habe.165 Dieses Trennungsmotiv spielte auch für eine weitere zentrale Kritik an der Aufklärung eine Rolle, die sich ebenso wie die Kritik an der Säkularisierung auch außerhalb der katholischen Literatur findet: die Auflösung der tradierten gesellschaftlichen Ordnung und die Zerstörung von Einheit, Harmonie und Frieden, die zumindest in der katholischen Literatur dem Mittelalter zugeschrieben worden waren. Die Kritik richtete sich gegen den Individualismus und eine Philosophie, die die Autonomie des Einzelnen zu ihrem Ausgangspunkt machte. „[D]er […] Geist des individualistischen Liberalismus hat zu einer Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung geführt“166, schrieb Süsterhenn, und weiter: „Der Lehre von der religiösen und sittlichen Autonomie des Menschen folgte auch im gesellschaftlichen und politischen Bereich die Lehre von der völligen Freiheit und absoluten Bindungslosigkeit des Menschen.“ Süsterhenn stellte explizit die Verbindung zwischen Individualismus, Säkularisierung, Relativismus und der Herausbildung eines starken, potentiell freiheitsfeindlichen Staates her, die in vielen Texten mehr suggeriert als argumentativ vorgetragen wurde. Individualismus bedeute, dass eine fried­liche Gesellschaftsordnung nur mittels Gesellschaftsvertrag hergestellt werden könne. Das wiederum heiße, dass die Grundlagen des Staates und des Rechts als menschlich geschaffen und durch Menschen änderbar angesehen würden. Aus dem Individualismus folge somit notwendig die Trennung von Recht und Religion und die Relativität der Werte. „So wurden alle menschlichen Gemeinschaftsbindungen, angefangen von der Ehe bis zum Staate, auf den subjektiven Kürwillen des einzelnen zurückgeführt, was logischerweise zur Folge hatte, daß der einzelne auf Grund seines Willkürrechts alle diese Gemeinschaftsbindungen wieder auflösen und negieren konnte, wenn es ihm passte.“ Der Staat werde damit nicht mehr als „wesensnotwendige Form der Gemeinschaft“ anerkannt, sondern „lediglich als utilitaristische Zweckvereinigung“.167 Er zog Hobbes und Rousseau als Beispiele heran, um zu zeigen, dass Verbindlichkeit dann nur noch durch Macht hergestellt werden könne – bei Ersterem habe der Individualismus zur „Diktatur des fürstlichen Absolutismus“, bei Letzterem zur „Diktatur des

165 

Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 24. Adolf Süsterhenn, Wir Christen und die Erneuerung des staatlichen Lebens (1948), in: Schriften, 1991, S. 227 (232). 167  Adolf Süsterhenn, ebd.; ähnlich Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 91. 166 

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

durch die Mehrheitsentscheidung verkörperten Gemeinwillens“ geführt. Die „von der individualistischen Lehre verkündete absolute Freiheit des Menschen“ sei also „in die völlige Versklavung des Individuums durch den monarchischen oder parlamentarischen Absolutismus“ umgeschlagen.168 Individualismus, so Süsterhenns Fazit, verlange einen starken Staat, da anders keine Friedensordnung aufrechterhalten werden könne.169 Die Vorstellung, dass eine auf der Autonomie des Individuums aufbauende Philosophie zum Relativismus und damit letztlich zum Verlust einer moralischen Basis führe, findet sich auch außerhalb der katholischen Literatur. Scheuner, der als einer der Wenigen explizit auf Kant einging, schrieb etwa: „Die subjektive Wendung der Ethik in der kantischen Autonomie des Sittengesetzes beendet alle Möglichkeit, den sittlichen Geboten den Charakter einer dem Menschen transzendenten Ordnung zu geben, und entzieht damit einer mit der natürlichen Vernunft eingeborenen Moral den Boden. Allerdings verweist Kant die sittliche Vorstellung gerade auf das Allgemeine, was jeder als Richtschnur des Handeln annehmen solle, aber es liegt hier mehr ein Hinweis auf den transzendentalen Ort der Sittlichkeit, aber keine inhaltliche Bestimmung mehr vor. Auf dieser Grundlage ist ein mit Inhalt erfülltes Naturrecht nicht mehr möglich.“170

In der katholischen Literatur ging mit diesem Vorwurf des moralischen Relativismus einher, dass die Aufklärung als eine Zeit der Konflikte, des „Chaos“, der „Unordnung“, der „Verwirrung“ und der „fortdauernden Revolutionierung“171 beschrieben wurde, da mit dem Relativismus nunmehr eine einheitsstiftende Philosophie fehle. Als symptomatisch wurde angesehen, dass die Naturrechtslehren der Aufklärung so heterogen gewesen seien. Es habe eine „Vielzahl von widerspruchsvollen vernunftrechtlichen Systemen“ gegeben172, womit das Naturrecht letztlich wertlos geworden sei. Es sei zur „politischen Ideologie herabgewürdigt“173 worden und zu einer „politischen Ten­

168  Adolf Süsterhenn, Wir Christen und die Erneuerung staatlichen Lebens (1948), in: Schriften, 1991, S. 227 (233). 169  I. E. genauso Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 24 f. 170  Ulrich Scheuner, in: Kirche und Recht, 1950, S. 35. Er knüpfte damit an den Mythos vom „Formalismus“ und von der „Inhaltsleere“ der Philosophie Kants an, mit dem in den 1920er und 1930er Jahren gegen die skeptisch-kritische Kantrezeption des Neukantianismus und seinen Wertrelativismus polemisiert wurde. Die metaphysisch-liberale Seite Kants wurde hierbei ebenso verkannt wie die im Wertrelativismus liegende Option für Politik. Dazu eingehend Joachim Rückert, in: Martyn P. Thompson (Hg.), John Locke und Immanuel Kant, 1991, S. 144 (179 f., 182 ff.). 171  Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 11, 19, 23; von „Wirrwarr“ und „Pendelschlag“ spricht auch Georg Stadtmüller, Naturrecht im Lichte der geschichtlichen Erfahrung, 1948, S. 21, 23; ähnlich Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 109. 172  Georg Stadtmüller, Naturrecht im Lichte der geschichtlichen Erfahrung, 1948, S. 21. 173  Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 92.

B. Erzählungen von der Vergangenheit, Vorstellungen von der Zukunft

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denz­lehre“174 verkommen, so Rommen. Kipp und Stadtmüller verwendeten konsequent Anführungs­zeichen, wenn vom Naturrecht der Aufklärung die Rede war. Diese Abgrenzung von der Aufklärung war nichts Neues nach 1945, sie hatte vielmehr eine Tradition seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Mit zunehmender Industrialisierung und Durchsetzung antiliberalen Gedankenguts hatte sie sich bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts hinein verstärkt.175 Die Aufklärung, assoziiert mit der französischen Revolution, stand für Rationalismus, Säkularisierung und Liberalismus und für den Verlust von Einheit, Friede und Ordnung.176 Die Kritik an der Aufklärung war ein wesentlicher Pfeiler der seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert verbreiteten Kritik an der westlichen Moderne, die als mechanisch, äußerlich, formal galt und von der sich eine deutsche Kultur der „Innerlichkeit“ abheben sollte.177 Sie war wesentlicher Bestandteil nationalistischer Argumentationen und als solche auch Bestandteil nationalsozialistischer Ideologie.178 Während die spezifisch nationalistische Komponente der Aufklärungskritik in den Naturrechtsschriften keine offene Rolle mehr spielte, finden sich in den Texten weit über die katholische Literatur hinaus viele Topoi aus der ersten Jahrhunderthälfte. Säkularisierung war auch in der protestantischen Literatur ein zentraler Ankerpunkt für die Abgrenzung von der Aufklärung179 und auch 174 

Heinrich Rommen, ebd., S. 17, 26. Michael Stolleis, Der lange Abschied vom 19. Jahrhundert, 1997. 176  Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre, 2007; Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr (1961), dt. 1986. Zum Deutungsmuster der Säkularisierung Hermann Lübbe, Säkularisierung, 1965, S. 86 ff. 177  Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur, 1996, S. 268 ff. 178 Etwa bei Karl Larenz, Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie, 1934, S. 4 ff., der die Aufklärungsphilosophie mit Positivismus, Utilitarismus, Materialismus und Individualismus in Verbindung bringt und sie als Philosophie „englisch-französischer Herkunft“ ablehnt: „Wenn wir diese Überfremdungserscheinung heute überwinden wollen, dann müssen wir uns auf die Eigenart der deutschen Rechtsphilosophie gegenüber der Aufklärung besinnen […].“ Diese „deutsche Rechtsphilosophie“ orientiere sich an der Romantik und sei „mit der Meinung des Naturrechts der Aufklärungszeit unverträglich, daß das Recht um der Interessen des einzelnen Menschen willen da sei […].“ Das Recht hänge stattdessen „in seiner Wurzel aufs engste mit der Sittlichkeit [zusammen], und zwar mit einer Sittlichkeit, die nicht Sache des einzelnen Individuums ist, sondern Lebensform der Gemeinschaft […].“ Er war der Auffassung, dass „die deutsche Rechtsidee für die nächste geschichtliche Epoche dazu bestimmt ist, die der Französischen Revolution abzulösen.“, ebd. S. 38. Ähnlich Carl Schmitt, Über die drei Arten rechtswissenschaftlichen Denkens, 1934, S. 44 f., der die Entwicklung des Ordnungsdenkens als Akt des „geistigen Widerstands“ gegen die „liberalen Ideen von 1789“ zelebrierte. Ebenso in der rechtshistorischen Literatur, hierzu m.w.N. Andrea Nunweiler, Das Bild der deutschen Rechtsvergangenheit, 1996, S. 202 ff.; Anna Lübbe, in: Michael Stolleis/Dieter Simon (Hg.), Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus, 1989, S. 63–78. 179  Emil Brunner, Gerechtigkeit, 1943, S. 6; Eivind Berggrav, Der Staat und der Mensch (norw. 1944), 1946, passim; Erik Wolf, Vom Wesen der Gerechtigkeit (1946), S. 9 (17 f.). Die Säkularisierungsthese war im Umfeld der evangelischen Kirche ein weitverbreitetes Erklä175 

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

die Kritik am Relativismus wurde regelmäßig mit ihr verbunden. Kritik an Liberalismus, Individualismus oder auch der Demokratie180 wurde außerhalb der katholischen Literatur zwar nicht in vergleichbarer Weise flächendeckend und offen formuliert, wo sie auftauche, war sie jedoch zumindest assoziativ mit der Aufklärung verbunden. So schrieb Esser beispielsweise, durchaus mit Zwischentönen gegenüber dem Liberalismus, dass im Gefolge der Aufklärung mit Rousseau, Marx und Engels das Recht „unbedenklich einem einzigen politischen Ziel“ geopfert worden sei. Der Liberalismus habe sich dem „entgegengestemmt“ – „aber vergeblich“. „Denn er hat kein gleich zugkräftiges Aussichtsbild vorzuweisen, bei ihm ist nur Skepsis und Relativismus. Aus dem ‚freien Spiel‘ der Kräfte entsteht automatisch das Recht als relativ beste Lösung, als Kompromiß und Konvention im Daseinskampf. Mehr zu verlangen, Gerechtigkeit zu erhoffen, ist Aberglaube.“181 Es gab jedoch auch ganz andere Stimmen. Sie finden sich insbesondere in der Debatte um das Rückwirkungsverbot. Die Aufklärung war hier für die Gegner des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 wie auch für die Befürworter ein positiver Bezugspunkt. Für die einen stand die Aufklärung für die Herausbildung und Stabilisierung rechtsstaatlicher Prinzipien, insbesondere des strafrechtlichen Grundsatzes nulla poena sine lege. Für die anderen war die Aufklärung die Zeit, in der die Menschenrechte als subjektive, unveräußerliche Rechte begründet worden waren und ihre überpositive, überzeitliche Geltung begründet worden war. Diese Menschenrechte hätten auch im Nationalsozialismus gegolten. Wenn das Kontrollratsgesetz Nr. 10 nun die Verletzung dieser Rechte bestrafe, so sei dies keine echte Rückwirkung, lautete das Argument Radbruchs,182 das hier nur kurz in Erinnerung gerufen werden soll. Das Stichwort der Menschenrechte im Zusammenhang mit der Aufklärung spielte außerhalb dieser rechtspraktischen Diskussion eine untergeordnete Rolle. Als Zwischenton würdigten Süsterhenn und Erik Wolf die Begründung der Menschenrechte durch das Naturrecht der Aufklärung und die französische Revolution, obgleich sie der Philosophie und der Rechtslehre dieser Zeit im Grunde kritisch gegenüberstanden. Ungebrochen positiv erschien die Aufklärung, abgesehen von den Schriften Radbruchs, nur bei Coing. Er bezeichrungsmuster für den Nationalsozialismus, vgl. Martin Greschat, in: Victor Conzemius u.a. (Hg.), Die Zeit nach 1945 als Thema kirchlicher Zeitgeschichte, 1988, S. 99 (111 ff.). Sie diente maßgeblich der Verständigung über Rolle und Aufgabe der Kirche in der Nachkriegsgesellschaft und stützte die Rechristianisierungsbestrebungen, dazu Wolfgang Lück, Das Ende der Nachkriegszeit, 1976, besonders S. 153 ff. Siehe auch oben, Kapitel 3 und 4. 180  Außerhalb des katholischen Spektrums vor allem Hermann Weinkauff, Über das Widerstandsrecht, 1956, S. 7; Eivind Berggrav, Der Staat und der Mensch (norw. 1944), 1946, S. 33. Zur katholischen Demokratieskepsis ausführlich Kapitel 3. 181  Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechts und Staates, 1949, S. 95. 182  Gustav Radbruch, Zur Diskussion über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, SJZ 1947, Sp. 131 ff. Dazu ausführlich Kapitel 2, S. 66 ff., besonders S. 70 f.

B. Erzählungen von der Vergangenheit, Vorstellungen von der Zukunft

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nete die Menschenrechte als „Kernstück der modernen Naturrechtslehre“183 und betonte, dass der Gedanke des Rechtsstaates „[s]eine konsequenteste Verwirklichung […] unter der Einwirkung der Aufklärung“ erfahren habe.184 Auch Coing lehnte den Relativismus ab, er schrieb diesen aber nicht der Aufklärung zu. Er legte zwar dar, dass sich durch die Konzentration auf die menschliche Vernunft utilitaristische Gedanken in die Naturrechtslehre eingeschlichen hätten. Kant sei dem jedoch entschieden entgegengetreten, indem er eine neue, auf den „Anforderungen der Sittlichkeit“ aufbauende Naturrechtslehre entwickelt habe.185 Auch bezogen auf die Lehre Lockes würdigte er, dass diese die „Freiheit des Menschen“ zum Ausgangspunkt nehme.186 Für Coing war die Aufklärung kein Abgrenzungsgegenstand, sie erschien bei ihm ungebrochen in positivem Licht. Doch einen Gegenentwurf zu der in der Debatte zum Teil massiven Aufklärungskritik stellten auch Coings Schriften nicht dar. Er machte seine Position nicht stark und gab der Aufklärung wenig darstellerischen Raum. Im Gegenteil: Die Menschenwürde als Kern der Menschenrechte, aus der er die Notwendigkeit subjektiver Freiheiten ableitete, brachte er beispielsweise nicht konkret mit der Aufklärung in Verbindung. Er sprach vielmehr allgemein davon, dass dies ein „Ideal des Humanismus“ sei, rekurrierte auf die griechische Antike mit Heraklit, Platon und Aristoteles und betonte den spezifischen Beitrag des Christentums, das den „Wert des Menschen“ von einer „tiefere[n] metaphysische[n] Grundlage“187 aus hergeleitet habe. Auch Radbruch, der nur knapp auf die Aufklärung rekurrierte, reihte sie ein in eine „jahrtausendalte“ Tradition, indem er an die „gemeinsame Weisheit der Antike, des christlichen Mittelalters und des Zeitalters der Aufklärung“ erinnerte, „daß es ein höheres Recht gebe als das Gesetz, ein Naturrecht, ein Gottesrecht, ein Vernunftrecht, kurz ein übergesetzliches Recht“.188 Es war die „abendländische Kulturwelt“,189 auf die sich Coing wie auch Radbruch stützten. Von all jenen, für die die Aufklärung Abgrenzungsgegenstand war, unterscheiden sie sich dadurch, dass sie die Aufklärung nicht aus dieser Kulturwelt, die das Naturrecht hervorgebracht hatte und auf die man sich nun stützen konnte, ausschlossen. Im Gegensatz zu vielen anderen, die an den Naturrechtsdebatten beteiligt waren, wandten sie sich nicht gegen Liberalismus und Individualismus190 und sahen in der Aufklärung nicht die Ursache für den „Zerfall der Ordnung“.

183 

Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 170. Helmut Coing, ebd., S. 211 185  Helmut Coing, ebd., S. 154. 186  Helmut Coing, ebd., S. 154. 187  Helmut Coing, ebd., S. 132. 188  Gustav Radbruch, Die Erneuerung des Rechts (1947), S. 1 (9 f.). 189  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 133. 190  Hierzu oben, S. 233 ff., 237 f., 244 ff. 184 

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

4. Bewertung der Vergangenheit – Werte für die Zukunft Dieser Überblick über die Eckpunkte der Geschichtserzählungen macht deutlich, welch starke Bewertungen in die Darstellungen eingeflochten waren. Ideen­geschichtliche Ausführungen sollten weder nüchtern einen Überblick über bisherige rechtsphilosophische Konzeptionen geben noch einen einfach ahistorischen Argumentationsfundus bieten, wie es in der Fachphilosophie nicht unüblich ist. Nicht einzelne philosophische Lehren wurden bewertet und auf ihre Brauchbarkeit für die Naturrechtsrenaissance der Gegenwart hin überprüft. Es wurden vielmehr ganze Weltbilder und Gesellschaftskonzeptionen gegeneinander gestellt. In die Geschichtserzählungen waren philosophisch-welt­anschauliche Bewertungen eingelassen. Dadurch transportierten sie Botschaften für die Zukunft. Tatsächlich decken sich die Wertvorstellungen, die den Bewertungen in den historischen Ausführungen zugrunde liegen, weitgehend mit denen, die in den Naturrechtskatalogen formuliert wurden. Zum Teil verdeutlichen sie diese sogar. Bei allen Differenzen im Detail wurde den Epochen, die positiv erinnert wurden, die Einheit von Religion, Moral und Recht zugeschrieben, womit die Achtung des Werts und der Würde des Menschen sowie eine harmonische, friedliche Sozialordnung assoziiert wurden. Dagegen standen Rationalismus, Säkularisierung und Relativismus, die keine letztgültige Verbindlichkeit gewährleisten konnten und damit die Gefahr aufeinanderprallender Interessenkonflikte in sich bargen. Individualismus, Liberalismus und damit einhergehender gesellschaftlicher Pluralismus wurden zwar nur von einigen, vorwiegend katholischen Autoren explizit als negative Tradition hervorgehoben. Weit verbreitet war aber die Einschätzung, dass diese – und mit ihnen Rechtsstaat und Demokratie – zumindest keinen wirkungsvollen Schutz bieten konnten gegenüber dem, was noch kommen sollte. Symptomatisch für diese skeptischen Haltung ist es, wenn Weinkauff beispielsweise zur Demokratietheorie Rousseaus bemerkt: „Man sieht: mit Hilfe dieser Doktrin ist der Umschlag vom demokratischen Rechtsstaat in den totalitären Staat jederzeit möglich.“191 Radbruch und Coing stellten hier Ausnahmen dar. Die abweichenden Akzente, die sich in ihren Wertvorstellungen und Geschichtserzählungen finden, waren aber zu schwach, um wahrgenommen zu werden. Es handelte sich bei ihren Schriften nicht um Streitschriften gegenüber dem Wertehorizont der Naturrechtsbesinnung.

191  Hermann Weinkauff, Über das Widerstandsrecht, 1956, S. 10; im gleichen Sinne Franz Wieacker, Zur Erweckung des Naturrechts, SJZ 1949, Sp. 295 (ebd.).

B. Erzählungen von der Vergangenheit, Vorstellungen von der Zukunft

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II. Erzählstrukturen Die Erinnerung an positive und negative Traditionen in der Ideengeschichte stützte damit nicht nur die Forderung nach einer materiellen Fundierung des Rechts ab,192 sondern lieferte zugleich oft auch einen argumentativen Boden für die inhaltliche Ausrichtung des Naturrechts. Die Geschichtserzählungen trugen die Zukunftsvisionen der Autoren in sich. Was diese Zukunftsvisionen für die Positionierung in der Gegenwart genau bedeuteten, wird allerdings erst deutlich, wenn man den Blick auf die Struktur der Erzählungen lenkt, in welche die positiven und negativen Traditionen eingebettet waren. Die Struktur einer Geschichtserzählung verbindet die erinnerten Ereignisse und setzt sie in Bezug zu einander. Sie zeigt, welche Vorstellungen vom Verlauf der Geschichte einer Erzählung zugrunde liegen, welche Faktoren als Antrieb für historische Entwicklungen gesehen und welche Kausalitäten konstruiert werden. Sie zeigt damit auch, in welches Verhältnis zur Geschichte und zur anvisierten Zukunft sich der/die Erzähler/in selbst setzt, wo sich also der/ die Erzähler/in zwischen Vergangenheit und Zukunft selbst verortet. Die ‚Moral‘ der Geschichte und die sich aus ihr ergebenden politischen oder ethischen Handlungspostulate für Gegenwart und Zukunft werden maßgeblich durch die Struktur transportiert. Das, was als Motor für Veränderung in der Vergangenheit angesehen wird, verrät, welche Handlungs- und Gestaltungsoptionen der/ die Erzähler/in für die Zukunft überhaupt für denkbar und wirkungsvoll hält. Die Nähe oder Ferne, in die historische Epochen erzählerisch gerückt werden, gibt einen Hinweis darauf, ob Ideen und Gestaltungsmodelle dieser Zeit als realistische und handhabbare Rezepte zur Veränderung der Gegenwart angesehen werden, oder eher den Charakter einer fernen Utopie haben. In der Struktur der Erzählung verbirgt sich also, was die positiv oder negativ bewerteten Traditionen für die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft konkret bedeuten – sie bietet den Schlüssel zum ethischen und politischen Gehalt einer Erzählung. Hayden White, der in seinem Werk „Metahistory“ (1973) eben dies theoretisch herausgearbeitet hat, spricht sogar davon, dass der Inhalt einer Erzählung bereits in der Form, also der Erzählstruktur, enthalten sei.193 In der Naturrechtsliteratur dominieren drei verschiedene Erzähltypen. Am weitesten verbreitet ist der Typ der Verfallsgeschichte. In diesem beschrieben die Autoren eine bestimmte Epoche als historische „Glanzzeit“, die in einen linearen Verfall überging, der letztlich in den Nationalsozialismus als Tiefpunkt der historischen Entwicklung mündete. Neben diesem Typ findet sich in einigen Schriften eine Erzählstruktur, in der die Geschichte Material bietet, um wiederkehrende Phänomene und somit anthropologische Konstanten 192 

193 

Dazu Kapitel 1. Hayden White, Metahistory (1973), dt. 1991, S. 19 ff.

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

herauszuarbeiten, denen auch die Zukunft verpflichtet sei. Der dritte Modus, der in der Naturrechtsliteratur nur selten vorkommt, ist der einer Fortschrittsgeschichte, die davon ausgeht, dass die Menschheit grundsätzlich – von punktuellen Rückschlägen abgesehen – moralisch dazulerne, sich also mit der Zeit vervollkommne. Alle drei Erzählmodi stellen eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft her. In allen dreien ist der Ausgang der Geschichte optimistisch, die Autoren blicken mit Hoffnung in die Zukunft. Der Ort der Gegenwart hingegen bleibt blass.

1. Glanzzeit, Verfall und Erlösung Verfallsgeschichten zeichnen sich dadurch aus, dass es einen historischen Höhepunkt – eine ‚Goldene Zeit‘ – gibt, dem ein kontinuierlicher, im Großen und Ganzen linearer Abstieg bis in die Gegenwart folgt. Diejenige Epoche, die den geschichtlichen Höhepunkt darstellt, und die ihr zugeschriebenen Qualitäten sind in Verfallsgeschichten der Maßstab zur Beurteilung aller anderen Epochen.194 Der Erzähltypus der Verfallsgeschichte findet sich in weiten Teilen der Naturrechtsliteratur. Die Verfallsstruktur war nicht subtil in die Erzählung eingelagert, sondern oft metaphernreich kommentiert. Es wurde davon gesprochen, dass die Geschichte „stolze Höhen und dunkle Tiefen“195 gehabt habe, von „Glanz“ und „Schatten“196 war die Rede und vom „Abfall von der heiligen Ordnung“, der im „Kältepol der Dunkelheit“197 münde. In typischer Gestalt findet sich diese Erzählstruktur in der katholischen Literatur. Die Geschichte, die dort erzählt wurde, beginnt in der griechischen Antike und findet ihren Höhepunkt in der Scholastik. Mit dem Ende des Mittelalters begann der Abstieg, dessen erste markante Zwischenstation die Aufklärung war. Es folgte das 19. Jahrhundert mit seinem „Abfall vom Naturrecht“ und der „Herrschaft des Positivismus“. „Wenn man von der scholastischen Naturrechtslehre absieht […], so verläßt man das Gebiet der großen Tempelbauten und gelangt auf ein Gebiet von Häusern, Hütten, Schuppen und zuletzt auch Kasernen und Kerkern“,198 so Valentin Tomberg. Die Entwicklung wurde dabei als alternativlos dargestellt, was sich in vielfacher Verwendung von Phrasen wie „so mußte notwendigerweise“199 oder „folgte daraus mit logischer Notwendigkeit“200 zeigt. Eine Ausnahme bildet hier die historische Rechtsschule, die als Chance zur Rückkehr zu einem Naturrecht gesehen wurde. Der Erfolg musste 194  Zur Funktionsweise dieses Erzähltyps allgemein Joachim Rückert, „Drittes Reich“ (1933–1945), in: HRG, Bd. 1, 2.A. 2008, Sp. 1152 (1156 ff.). 195  Heinrich Mitteis, Deutsche Rechtsgeschichte, 1949, S. 145. 196  Heinrich Mitteis, ebd. 197  Ernst von Hippel, Vom Wesen der Demokratie, 1947, S. 32. 198  Valentin Tomberg, Degeneration und Regeneration der Rechtswissenschaft, 1946, S. 13. 199  Valentin Tomberg, ebd., S. 16. 200  Valentin Tomberg, ebd., S. 19.

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ihr aber versagt bleiben, da in ihr schon der weitere Verfall – Relativismus durch Historismus und Materialismus – angelegt gewesen sei. Ein tragischer Fall also. Die hier in wenigen Sätzen skizzierte Erzählung orientierte sich an einem strikt dichotomen Bewertungsschema. Die Bewertung der auf das Mittelalter folgenden Epochen wurde konsequent in binärer Opposition zu den Attributen vorgenommen, mit denen das Mittelalter belegt worden war. Wenn das Mittelalter, wie beschrieben, als „gesund“ und „fruchtbar“ bezeichnet wurde, so galt die Zeit seit der Aufklärung als „krank“ und „verkümmert“ und wenn das Mittelalter als getragen von „Liebe“, „Vernunft“ und „Ordnung“ angesehen wurde, war die Folgezeit eine Zeit, die zunehmend von „Aberglaube“, „Hass“ und „Unvernunft“ getragen wurde. Das Mittelalter stand für „Einheit“, „Harmonie“ und „Friede“, die Neuzeit für „Konflikt“, „Revolution“ und „Chaos“.201 In diese Dichotomisierung fügte sich nahtlos ein, dass einer Zeit des „Rechts“ und des „Denkens“ diachron eine solche der „Macht“ und des „Willens“ gegen­ übergestellt wurde. 202 Das historische Entwicklungsgesetz und damit die Erklärung für den ‚Verfall‘ war die Säkularisierung. Dieses Deutungsmuster war in der Nachkriegszeit weit über das katholische Milieu hinaus verbreitet. 203 So überrascht es nicht, wenn sich die Grundstruktur eines mit der Säkularisierung erklärten Verfalls auch in anderen Bereichen der Naturrechtsliteratur findet, insbesondere in der protestantischen Literatur. Die Stoßrichtungen waren jedoch nicht identisch. „Säkularisierung“ in der katholischen Literatur meinte nicht schlicht die Abwendung von der Religion im Allgemeinen. Katholische Autoren wandten sich vielmehr spezifisch gegen die Abwendung von einer realistischen Philosophie, die in einen strikten Gegensatz zum nominalistischen Denken gestellt wurde. Die Säkularisierungskritik richtete sich hier auch gegen die Reformation und damit gegen die protestantische Theologie. Auch außerhalb der im engeren Sinne konfessionell argumentierenden Texte war die Säkularisierung ein Baustein in den Erzählungen, häufig ergänzt oder 201  Siehe z.B. Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 11, 19, 23, 27, 28; Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 82; Valentin ­Tomberg, Degeneration und Regeneration der Rechtswissenschaft, 1946, S. 16–18, 35. 202  Valentin Tomberg, ebd., S. 20, 23; Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 18. 203  Einen Eindruck davon, wie breit und selbstverständlich dieses Deutungsmuster angenommen wurde, vermittelt die einzige kritische Stimme. Adolf Arndt mahnte die Pauschalität der Erzählung eines durch die Säkularisierung angetriebenen Verfalls an und wies auf den politischen Gehalt hin, der in solchen Erzählungen verborgen sei: „Es ist fast schon zum Schlagwort geworden, im ‚Abfall von Gott‘ die Ursache unserer Verlorenheit zu finden und sich auf den Weg zu machen, um geschichtliche ‚Fehlentwicklungen‘ aufzudecken, die man je nach der politischen Färbung des Forschers auf Deutschland beschränkt oder auf die Welt erstreckt, auf die Hitlerzeit begrenzt oder in die Jahrhunderte hinein ausdehnt“, Adolf Arndt, Die Krise des Rechts (1948), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 117 (119).

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assoziiert mit weiteren. Es finden sich in diesen Texten aber auch andere Erklärungsmuster, die mit dem der Säkularisierung eines gemeinsam hatten: Die Autoren zeichneten mit ihnen eine Entwicklung, in der eine Ordnung zerbricht, in welcher es stabile ethische Grundlagen gegeben hatte. Für Mitteis begann der ‚Verfall‘ mit der Rezeption des römischen Rechts. Das Recht habe damit seine Verankerung in den Gebräuchen des Volkes verloren. 204 Esser beklagte eine Welt, in der der Mensch „nicht besinnlich leben und der Naturordnung nachspüren“ dürfe, sondern „wollen, handeln, aktiv sein“ müsse. 205 Wieacker ging davon aus, dass Industrialisierung und Technisierung der Welt zur Krise geführt hätten, da der Mensch nicht mit diesen Entwicklungen mithalten könne. 206 Die Erzählungen kreisten alle um den Verlust einer stabilen, ethisch fundierten, im Leben der Menschen verankerten harmonischen Ordnung. Die Schlussfolgerungen waren unterschiedlich, den verschiedenen Verfallsgeschichten lag aber durchweg eine Kritik an der Moderne zugrunde, in der der Mensch die Orientierung verloren habe. In sehr konzentrierter Form findet sich diese Weltwahrnehmung bei Erik Wolf formuliert: „Ist die Weisung der Heiligen Schrift für die Rechtsordnung auch heute noch und für alle Menschen verpflichtend? Gewiß – solange die allgemeinen sittlichen Grundlagen des öffentlichen Lebens der zivilisierten Völker noch im wesentlichen unerschüttert christliche waren und man vom Erbe der humanistisch-christlichen Überlieferung des Abendlandes geruhsam zehren konnte, erhob sich diese Frage nicht. Aber das ist anders geworden. Der Mensch der Gegenwart lebt weithin fern der Kirche, ja im Widerspruch zu ihr und befangen in einem falschen, nämlich historisierenden und naturalisierenden Begriff von ‚Christentum‘. Die meisten sind ethisch völlig steuerlos und bereit, sich jeder beliebigen kulturellen, politischen oder religiösen Leitung anzuvertrauen, sofern diese mit geschickter Propaganda zu sagen weiß, was die Psyche dieses modernen Menschen gern hören möchte und worin sie sich in ihrer ganzen Verlorenheit, Zerrissenheit und Führungsbedürftigkeit verlieren, zerstreuen oder von der allzu schwer gewordenen Eigenverantwortung entlasten zu können meint.“207

Doch trotz dieser pessimistischen Töne war die Zukunftsvision, die in den Texten gezeichnet wurde, nicht düster. Keine der Erzählungen endete in Hoffnungslosigkeit. Umgekehrt – ihr Ausgang war stets im Grundton optimistisch. Dem ‚Verfall‘ folgte die ‚Erlösung‘. Dies war bereits in der Erzählstruktur des Verfalls angelegt. Die einzelnen Stationen der Geschichte wurden nicht streng kausal mit einander verknüpft, sondern mit dem ‚Abfall‘ von einer Idee erklärt. Den roten Faden bildete also die Idee, bemessen wurde der Grad der Entfer204  Heinrich Mitteis, Deutsche Rechtsgeschichte, 1949, S. 102 f., 145; ebenso ders., Die Rechtsgeschichte und das Problem der historischen Kontinuität, 1947, S. 13 f.; die germanische Tradition stark machen auch Walther Schönfeld, Zur Frage des Widerstandsrechts, 1955, S. 20 f. und Hermann Weinkauff, Über das Widerstandsrecht, 1956, S. 12. 205  Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechts und Staates, 1949, S. 95. 206  Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952, S. 359 f. 207  Erik Wolf, Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts (1946), S. 33 (59).

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nung von ihr. Mit Hayden White gesprochen folgte die Erklärung des Verlaufs der Geschichte somit einem „organizistischen“ Argumentationsmuster.208 Dieses ist White zufolge charakteristisch für ein teleologisches Geschichtsbild, in dem bestimmte Ideen integrierend oder, wie hier, desintegrierend wirken. Von organizistisch argumentierenden Historiker/innen werde ein solches Geschichtsbild nicht als deterministisch, sondern als Auftrag an die Menschen gesehen, der Erlösung verspreche. Die Verwendung einer religiösen Terminologie liegt dabei nicht fern. Sie findet sich zum Teil auch in den Texten selbst. So lautet eine Überschrift in der bezeichnenderweise den Titel „Degeneration und Regeneration der Rechtswissenschaft“ tragenden Schrift Tombergs von 1946: „Der geschichtliche ‚Sündenfall‘ der Rechtswissenschaft von den Höhen des religiös-fundierten Naturrechts in die Tiefen des macht-fundierten Positivismus.“209 „Rettung“, „Überwindung“ und „Wiederaufstieg“ waren zentrale Begriffe, in denen sich die Hoffnung auf ein Ende der Abwärtsbewegung ausdrückte.210 Die ‚Erlösung‘ wurde appellativ formuliert, es war die Rede von einer „Aufgabe“, 211 die sich nun stelle und von „Anstrengungen“, die unternommen werden müssten. 212 Der Inhalt dieser „Aufgabe“ ergab sich aus der Diagnose der Verfallsursachen. Man müsse nun „alle als wertvoll erkannten Kräfte der Vergangenheit erwecken“, 213 schrieb Mitteis in seinem Lehrbuch zur Rechtsgeschichte von 1949. Ob konkret eine Rückkehr zu dem, was die historische „Glanzzeit“ ausgemacht hatte, als möglich und wünschenswert angesehen wurde, oder ob die Lehren, die man aus der Vergangenheit zog, abstrakter waren, war in den einzelnen Debattenteilen unterschiedlich. Die katholische Literatur entnahm das Rezept für die Zukunft unmittelbar der Vergangenheit, etwa wenn Freiherr von der Heydte schrieb: „Wir müssen uns endlich im Bereich der Rechtsphilo208  Hayden White, Metahistory (1973), dt. 2008, S. 30 f. Zum strukturell-metaphysischen Charakter dieses Erzähltyps auch Joachim Rückert, „Drittes Reich“ (1933–1945), in: HRG, Bd. 1, 2.A. 2008, Sp. 1152 (1156 ff.). Dementsprechend eignete sich dieser Erzähltyp auch zur Legitimierung der NS-Herrschaft und wurde von Rechtshistorikern vielfach gebraucht, siehe Michael Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974, S. 27 ff.; Elmar Wadle, in: Joachim Rückert/Dietmar Willoweit (Hg.), Die Deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit, 1995, S. 241–299 m.w.N.; Andrea Nunweiler, Das Bild der deutschen Rechtsvergangenheit, 1996, S. 238 ff. m.w.N. sowie Joachim Rückert, aaO., Sp. 1152 (1156). 209  Valentin Tomberg, Degeneration und Regeneration der Rechtswissenschaft, 1946, S. 13. 210  Valentin Tomberg, ebd., S. 25, 72; Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 7. 211 Z.B. Fritz von Hippel, Zum Verhältnis von Jurisprudenz und Christentum, in: Erdmuthe Falkenberg (Hg.), Beiträge zur Kultur- und Rechtsphilosophie, 1948, S. 21 (36). Zentrale Botschaft war dies auch bei Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952, explizit S. 361 f. Dazu eingehend Joachim Rückert, in: Quaderni Fiorentini 24 (1995), S. 531 (545 ff.). 212  Erik Wolf, Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts (1946), S. 33 (64). 213  Heinrich Mitteis, Deutsche Rechtsgeschichte, 1949, S. 145.

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sophie von den Vorstellungen der Aufklärung, ihren Gedanken und Methoden freimachen.“214 In der protestantischen Literatur und noch ausgeprägter in den säkularen Schriften war man in dieser Hinsicht vorsichtiger. Ein ‚Zurück‘ in vergangene Zeiten erschien weder möglich noch sinnvoll. Die Abkehr von dem, was den ‚Verfall‘ angetrieben hatte, wurde jedoch auch hier als möglich und lohnend wahrgenommen. Die damit verbundenen Hoffnungen waren bescheidener als in der katholischen Literatur, was der Skepsis gegenüber der Existenz bzw. der Erkennbarkeit von überzeitlich-absoluten Werten geschuldet war. Die Grundstruktur findet sich jedoch auch hier. Die „christliche Existenz“ sei die „rechte und beste Voraussetzung für gerechte Rechtssetzung und Rechtsfindung“215, folgerte beispielsweise Erik Wolf, nachdem er die Säkularisierung als ein zentrales Problem der Geschichte benannt hatte. Charakteristisch für den verhaltenen Optimismus in der protestantischen Literatur waren die darauf folgenden Worte: „Gewiß werden auch die aktivsten Christen die Welt nicht von Grund auf verändern und niemals zu einem Paradies des Rechts und der Wohlfahrt emporgestalten können. Aber wir dürfen und sollen das Unsrige dafür tun, daß sie nicht vollends zur Freude des Teufels gedeiht.“216

Der Grad des Optimismus und die Vorstellungen über die Realisierbarkeit des in der Vergangenheit gefundenen Ideals variierten also zwischen den Autoren und zwischen den verschiedenen Strömungen. Das Modell von ‚Verfall‘ und ‚Erlösung‘ findet sich jedoch breit; es lebte davon, dass von einer dichotom angelegten Erzählung der Vergangenheit auf die Zukunft geschlossen wurde. Hoffnungsvoll stimmte das Wissen, dass eine bessere Welt schon einmal existiert hatte. Auch wenn nicht die Vergangenheit eins zu eins wieder zum Leben erweckt werden sollte, so stützte sich die Zukunftsvision doch auf Ideen und Weltbilder einer Zeit vor dem ‚Verfall‘. Der erneute Zugang zu diesen Weltbildern war durch die Geschichte verstellt. ‚Erlösung‘ war jedoch möglich, auch wenn die dafür notwendigen Anstrengungen erheblich waren.

2. Positive Konstanten als Pfeiler für die Zukunft Während die Verfallsgeschichte den Blick auf Veränderungen im Laufe der Geschichte lenkte, war in einem anderen Erzähltyp die Konstanz historischer Phänomene zentral. Und noch unter einem weiteren Gesichtspunkt scheint dieser zweite Erzähltyp der Verfallgeschichte gerade entgegengesetzt: Nicht die negativen Entwicklungen der Geschichte wurden in ihm ins Bewusstsein gerufen, 214 

Friedrich August Freiherr von der Heydte, Vom Wesen des Naturrechts, ARSP 43 (1957), 211 (223). 215  Erik Wolf, Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts (1946), S. 33 (62). 216  Erik Wolf, ebd., S. 64.

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sondern die positiven, immer wiederkehrenden Traditionen in den Mittelpunkt gerückt. Eine zentrale Rolle spielte dieses Muster in den rechtsphilosophischen Schriften Coings. Charakteristisch für diesen Erzähltyp ist es, wenn er schreibt: „Wenn in den antiken Freistaaten eine strafgerichtliche Verurteilung nur auf Grund eines Rechtsverfahrens zulässig schien, wenn im Mittelalter bestimmte Regeln den Lehnsmann, bestimmte Privilegien den Bürger der Städte schützten, wenn Aufklärung und Liberalismus den Rechtsstaatsgedanken durchsetzten: immer war es der Gedanke der Freiheit und Menschenwürde, der sich mit dem Recht verband.“217

‚Historische Konstanz‘ diente in diesem Erzähltyp als Indiz für Wahrheit. Weil das Recht immer mit dem Gedanken der Freiheit und der Menschenwürde verbunden gewesen sei, müssten Freiheit und Menschenwürde als Wesensbestandteile des Rechts angesehen werden und folglich auch für Gegenwart und Zukunft gelten, so der Gedanke Coings. Auch Rommen war darum bemüht zu zeigen, dass das Naturrecht eine Konstante darstelle, die das Rechtsdenken einer jeden Epoche begleitet habe. Dies kam schon im Titel seines Buches „Die ewige Wiederkehr des Naturrechts“ zum Ausdruck. „Niemals“, schrieb er, sei das Naturrecht „ganz untergegangen“, es habe selbst „durch die Jahrzehnte auch der mächtigsten Herrschaft des Positivismus“ Kräfte gegeben, die es „bewahrt“ und „weitergetragen“ hätten. 218 Diese Konstanz stützte die Annahme, dass das Naturrecht die einzig wahre Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von „Sittlichkeit und Recht“ darstellte. „[D]arum muß es auch um des Seins des Menschen und seiner im Recht geordneten konkreten Gemeinschaft willen immer wiederkehren und kehrt auch in der Tat immer dann wieder, wenn der Genius des Rechts nach der Begründung seiner selbst fragt.“219 Auf die Kon­ struiertheit der so strukturierten Geschichte wurde einzig von Wilhelm R. Beyer hingewiesen: „Es erscheint bezeichnend, daß selbst Rommen im römischen Recht nicht allzuviel Naturrecht finden kann. Da er aber den naturrechtlichen Faden nicht ganz abreißen lassen darf, wird bei Cicero und in den späteren Kaiserverordnungen solches gesucht und gefunden.“220 In den meisten Texten der Naturrechtsliteratur wurde das Erzählmuster der ‚historischen Konstanten‘ weniger programmatisch verwandt. Häufig taucht es punktuell als ein Element unter anderen auf. Rommen kombinierte diesen Erzähltyp mit dem der Verfallsgeschichte, bei der die „Wiederkehr des Naturrechts“ im Laufe des ‚Verfalls‘ immer prekärer wurde. Auch Coing mischte seine Erzählung mit Elementen eines anderen Erzähltyps. Allerdings überlagerten diese Elemente bei ihm nicht die Grundstruktur der Erzählung. Er ist wohl 217  Helmut Coing, Vom Sinngehalt des Rechts, in: Ernst Sauer (Hg.), Forum der Rechtsphilosophie, 1950, S. 61 (72). 218  Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 43. 219  Heinrich Rommen, ebd., S. 262. 220  Wilhelm R. Beyer, Rechtsphilosophische Besinnung, 1947, S. 21.

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der einzige, der diesen Erzähltyp zur tragenden Grundlage seiner Erzählung machte. Die Geschichte hatte bei ihm keinen strikt linearen Verlauf, eine Entwicklung zum Guten konnte vielmehr jederzeit in ihr Gegenteil umschlagen: „Aber das darf keinen Augenblick darüber hinwegtäuschen, daß neben den ordnenden Kräften auch chaotische Kräfte des Bösen, Zerstörenden in der menschlichen Seele wohnen und daß auch diese sich des positiven Rechts bemächtigen können. Dann wird die sociale Ordnung, wird das Recht selbst zum Werkzeug der Vernichtung, und wer ihm dient, dient nicht dem Maße und dem Licht, sondern der Hybris und der dämonischen Zerstörung.“ 221

In diesen Worten zeigt sich nicht nur, dass Coing davon ausging, dass geschichtliche Entwicklung in ihrer Ausrichtung wechselnd sein konnte. Es wird auch deutlich, dass sich die Geschichte, die Coing erzählte, in einem klar vorgegebenen Koordinatensystem von „gut“ und „böse“ bewegte. Damit war auch in seiner Erzählung die Zukunft nicht einem von Menschen nicht zu lenkenden, richtungslosen Wechselspiel überlassen. Aus der Geschichte leitete sich vielmehr auch bei ihm ein klarer Auftrag ab: „Nicht immer erreicht es [das positive Recht, LF] sein Ziel, sittlich begründete Ordnung zu sein; und niemals erreicht es das ohne sittlichen Kampf. […] Darum bedarf es zu seiner Schöpfung wie zu seinem Bestand lebendiger sittlicher Kräfte und ist ohne sie verloren.“222

‚Historische Konstanten‘, wie die Coing oder Rommen sie sahen, wiesen auf Fragen hin, die immer wieder an das Recht und die Gesellschaftsordnung gestellt worden waren, und damit auch die grundlegenden, für die Zukunft zu klärenden Fragen darstellten. Die Geschichte bewies zwar, dass ihre Beantwortung wechselhaft war, jedoch auch, dass die Menschen immer schon die Fähigkeit gehabt hatten, eine „gute“ Antwort zu finden. Hierauf stützten sich Hoffnungen für die Zukunft. Den optimistischen Ausgang der Geschichte und die dichotome Grundstruktur teilte dieser Erzähltyp also mit dem der Verfallsgeschichte. Es gab allerdings einen bedeutsamen strukturellen Unterschied zwischen beiden Erzähltypen: In der Verfallserzählung kamen die Menschen als Akteure der Geschichte oftmals wenig zur Geltung, weil es Ideen waren, die die historische Entwicklung trugen. ‚Historische Konstanten‘ hingegen kehrten wieder, weil sich die Menschen aktiv für eine gerechte Ordnung eingesetzt hatten. Die Erzählungen gingen davon aus, dass Gerechtigkeit in der Geschichte immer wieder erkämpft oder zumindest postuliert worden war. Sie zeigten, dass es möglich sei, auf eine gerechte Gesellschaftsordnung hinzuwirken. Der Appellcharakter war in dieser Erzählstruktur noch ausgeprägter und die Zukunftsvision optimistischer, als in der Struktur von ‚Verfall‘ und ‚Erlösung‘.

221  222 

Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 53. Helmut Coing, ebd., S. 53.

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3. Geschichte als Fortschritt Fortschrittsgeschichten waren in der Naturrechtsliteratur selten. Der einzige, in dessen Erzählung die Idee einer fortschreitenden Entwicklung hin zur Verwirklichung von Gerechtigkeit eine Rolle spielte, war Coing. Er stützte seine Naturrechtslehre auf die Annahme, es gebe ein „objektives Reich der Werte“, das sich den Menschen im Laufe der Geschichte immer weiter erschließe. Auf diese Weise begründete er, warum es trotz historischen Wandels der Wertanschauungen absolute überzeitliche Werte gebe. 223 Während die Vorstellung einer fortschreitenden Werterkenntnis für Coings Naturrechtsbegründung zentral war, war sie in seinen historischen Ausführungen nicht dominant. Zwar schrieb er, die „geschichtliche Erfahrung“ zeige, „daß man von einer einmal erreichten Stufe geistig-sittlicher Erkenntnis sozusagen nicht mit gutem Gewissen zurück kann.“ Der „Prozeß der Gewinnung höherer geistig-sittlicher Einsichten“ sei unumkehrbar. „Sind sie einmal entdeckt, kann man höhere Werte nicht mehr ignorieren.“224 Tatsächlich blieb in seinen Ausführungen jedoch eben dieser Prozess fortschreitender Erkenntnis blass. Deutlich stärker springen die ‚historischen Konstanten‘ in seiner Erzählung ins Auge. Eine Fortschrittsgeschichte in den Jahren nach 1945 stieß auf Schwierigkeiten, schon so ließe sich erklären, dass sie in der Naturrechtsliteratur so wenig repräsentiert ist. Die Frage, wie der Nationalsozialismus sich in eine solche Erzählung einfügte, stellt sich unweigerlich. Rückschritte auf dem Weg zu einer gerechten Ordnung waren in einer Fortschrittsgeschichte problematisch, wurde die Werterkenntnis der Menschen doch als irreversibel angesehen. Coing löste dieses Problem, indem er einschränkend anmerkte, dass es ein Zurück nur um den Preis eines schlechten Gewissens gebe. Ob dies bedeuten sollte, dass die Unterstützung des Nationalsozialismus ein solches schlechtes Gewissen auslösen müsse, explizierte er nicht. Erst recht stellte er nicht die Frage, ob der Nationalsozialismus eine umso größere Schuld bedeute, da er einen moralischen ‚Rückschritt‘ vollzogen hatte. Stattdessen hielt er fest, dass auch der Nationalsozialismus das ethische Bewusstsein nicht nachhaltig erschüttern konnte: „Der Versuch gewisser Schichten innerhalb des Nationalsozialismus, eine Art primitiver Stammesethik wiederherzustellen, war deshalb auch eine innere Unmöglichkeit; er konnte niemals zu einer echten Rückbildung des ethischen Bewusstseins im Sinne einer stammesgebundenen Ethik führen.“225

Coing deutete hier den Nationalsozialismus zwar durchaus als Rückschritt, allerdings nicht als eine „echte Rückbildung“. Er sah das ethische Fundament in 223 

Hierzu ausführlich Kapitel 5. Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 109. 225  Helmut Coing, ebd. 224 

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der Gesellschaft vielmehr als stabil genug an, als dass es durch die Politik eines Unrechtsregimes nicht nachhaltig erschüttert werden konnte. Dies bedeute zugleich eine Vergewisserung, dass auch in der Nachkriegsgesellschaft ausreichend Potential vorhanden war, um eine ethisch fundierte Gesellschaftsordnung zu errichten. Insgesamt lässt sich feststellen, dass Coing auch solche Konzepte der Vergangenheit, die er als unzureichend wertete, nicht einfach ablehnte, sondern oftmals als wertvolle Erkenntnisschritte in die Auseinandersetzung um eine Rechtsphilosophie für die Gegenwart integrierte. Anders als der Erzähltyp der Verfallsgeschichte basierte die Fortschrittsgeschichte nicht auf einer strikten Abgrenzung von bestimmten Epochen und ihren Ideen. Die Ideengeschichte lieferte vielmehr das Material, das es angesichts des fortgeschrittenen Erkenntnistandes weiter zu entwickeln galt. Welzel, der diese Sicht auf die Ideengeschichte mit Coing teilte, formulierte dies folgendermaßen: Man könne nicht über vergangene Ideen „hinweg“, sondern nur „durch sie hindurch“. 226 Sich in der Zukunft auf vergangene Konzepte zu stützen, ohne diese nennenswert zu modifizieren, war damit ausgeschlossen. Den Erzählungen von Coing und Welzel lag die Annahme zugrunde, dass jede Zeit ihre Ideen habe. Diese speisten sich aus Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit, mussten aber stets eigene Lösungen für die konkreten Probleme ihrer Zeit entwickeln. Auch hier ergab sich auf diese Weise eine Aufgabe: Fortschritt war kein Automatismus, die Menschen mussten aktiv darauf hinwirken. In allen drei Erzähltypen lag in der Vergangenheit damit eine Aufgabe für die Zukunft beschlossen. Die Werte, denen in der Zukunft zur Geltung verholfen werden sollte, fanden sich in der Beschwörung der Glanzzeit, die dem ‚Verfall‘ vorangegangen war, in positiven Traditionen vergangener Epochen oder wurden von den Menschen in der Geschichte nach und nach als leitend erkannt. Besonders in der Geschichte von den ‚historischen Konstanten‘ und der Fortschrittsgeschichte war dabei der Appellcharakter an die Menschen stark, sich der Aufgabe für die Zukunft zu stellen und an der Wertverwirklichung mitzuwirken.

III. Die Zukunft der Vergangenheit und der Ort der Gegenwart Historische Ausführungen dienten in der Naturrechtliteratur der Erklärung dessen, was geschehen war. Sie dienten der Abstützung der Naturrechtskonzeptionen und damit der Zukunftsvisionen und sie sollten Mut machen, Veränderung als möglich zu denken. Selbst die in ihrem ganzen Duktus stark pes226 

Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 1951, S. 195.

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simistische Verfallserzählung mündete letztlich in Erlösung und wies damit hoffnungsvoll in die Zukunft. Von Grund auf optimistisch angelegt waren die anderen beiden Erzähltypen. Sowohl das Wissen, dass es in der Geschichte immer wiederkehrende Versuche der Verwirklichung von Gerechtigkeit gegeben hatte, als auch die Vorstellung eines moralischen Fortschritts der Menschheit in der Geschichte sprechen für sich. Auch wenn oftmals nicht davon ausgegangen wurde, dass die formulierten Visionen tatsächlich erreichbar seien, so erschien zumindest eine Annährung möglich und lohnend. Wie stellten sich die Autoren nun den Weg dorthin vor? Auch hierüber geben die Erzählungen gerade aufgrund ihrer Struktur Auskunft. Sie geben Hinweise darauf, wo die Autoren sich selbst auf diesem Weg sahen und wie sie sich zwischen Vergangenheit und Zukunft verorteten. Nicht nur Vergangenheit und Zukunft, auch die Gegenwart spielte in den Erzählungen also eine Rolle. Um diese zu beschreiben, muss allerdings ein Umweg gewählt und zunächst noch einmal das Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft betrachtet werden.

1. Unpolitische Zukunftsvisionen Auch wenn es graduelle Unterschiede gab, so waren die Möglichkeiten, die sich für die Zukunft boten, doch durch die erzählte Vergangenheit vorgegeben. Die Gefahr, dass sich eine Unrechtsherrschaft wie die des Nationalsozialismus wiederholen könne, lastete drohend über den Naturrechtsentwürfen. Für die Zukunft sah man sich vor der Alternative, aus der Vergangenheit zu lernen oder erneutes Unrecht in Kauf zu nehmen: „Wir stehen in der Entscheidung, ob wir mit dem erneuerten Bekenntnis zum Naturrecht den Weg des Aufstiegs zum Leben, oder ob wir mit dem Beharren auf dem bloß positivistischen ‚Rechtsbegriff‘ den Nützlichkeits- und Machtstandpunkt wählen; […].“227 Es waren keine suchenden oder tastenden Töne zwischen den Beschwörungen, sich der Aufgabe für die Zukunft zu stellen. Die Zukunft in den Naturrechtstexten war keine offene. Für die Verfallsgeschichte und die Geschichte positiver Konstanten war dies bereits in der Struktur angelegt. In beiden Fällen lieferte die Vergangenheit unmittelbar den Stoff für die Zukunftsvision. Im Falle der Verfallsgeschichte waren es die Ursachen für den ‚Verfall‘, von denen sich abzuwenden Aufgabe für die Zukunft war. Im Falle der ‚positiven Konstanten‘ galt es, auf eben diese die Zukunft zu stützen. Die Zukunft war in beiden Erzählungen ebenso dichotom strukturiert, wie es die Vergangenheit war. Allein der Erzähltypus der Fortschrittsgeschichte bot die Chance auf eine offene, nicht durch die Erzählungen von der Vergangenheit determinierte Entwicklung in der Zukunft. Coing jedoch nutzte diese nicht, sondern schloss die Vision für die Zukunft auf andere 227 

Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 170.

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Weise: Fortschritt war bei ihm kein Voranschreiten in eine offene Zukunft, sondern eine schrittweise Verwirklichung objektiver Werte. Ein „richtiger“ Weg war somit auch hier vorgegeben. Offene Zukunftsvisionen lassen Raum für einen diskursiven Gestaltungsprozess – kurz: für Politik. 228 In der Naturrechtsliteratur wurde der Raum verschlossen, in dem eine Diskussion über die Gestaltung der Zukunft hätte geführt werden können. Vergangenheit und Zukunft waren hier in den meisten Fällen so eng aneinander geknüpft, dass sich nur ein Weg als der „Richtige“ darbot. Es handelte sich nicht um Diskussionsangebote und nicht um ein gemeinsames, ergebnisoffenes Nachdenken. Im intellektuellen Klima der unmittelbaren Nachkriegsjahre war dies nicht zwingend. Etwa bis zur Währungsreform herrschte kulturell und intellek­tuell eine Aufbruchstimmung, in der Neues aufgenommen und ausprobiert ­w urde. 229 Auch unter Juristen gab es solche, die weit offener über die Zukunft diskutierten, als dies im Rahmen der Naturrechtsdebatten geschah. Ins Auge stechen dabei vor allem diejenigen, die an den Verfassungsgebungsprozessen der Länder und des Bundes beteiligt waren und die sich den Aufbau von Demokratie und rechtsstaatlicher Verfahren zur Aufgabe machten. Die Haltung der Autoren der Naturrechtsschriften hinsichtlich der Gestaltung der Zukunft war dagegen eine dezidiert unpolitische. Dies zeigt sich nicht nur in der Geschlossenheit der Zukunftsvisionen, sondern auch in der zeitlichen Distanz, aus welcher der Stoff stammte, den sie für die Zukunft fruchtbar machten. Aus der Erinnerung an eine fern zurückliegende Vergangenheit lassen sich unmittelbar keine konkreten und machbaren Reformschritte ableiten. Sie bietet Stoff nicht für Reformen sondern für Utopien. Insbesondere aus der Idealisierung des Mittelalters in den katholischen Schriften, aber auch aus den Kritiken an dem Verlust von Orientierung in der modernen Welt sprachen Gesellschaftsideale, deren Einlösung zeitlich nicht klar zu lokalisieren war. Mal erschienen sie als erreichbares Ziel, ohne dass der Weg dorthin beschrieben wurde, mal als ein unerreichbares, dem dennoch alle Anstrengungen gelten mussten. Mal betonten die Autoren, wie viel die Naturrechtsbesinnung schon

228  Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft, 1989, passim, wo er dies in zahlreichen Einzelstudien anschaulich für die Zeit um die französische Revolution zeigt. In dieser Zeit des Aufbruchs vollzog sich ein einschneidender Wandel der „geschichtlichen Zeit“, der Vorstellung also, wie sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zueinander verhalten. Während vorher die Zukunft als etwas Vorgegebenes angesehen wurde, öffnete sich diese nun im gleichen Zuge, wie die Überzeugung Fuß fasste, dass die Menschen die Gesellschaft in der sie leben, aktiv durch politisches Handeln gestalten könnten. 229  Waltraud Wende, in: Georg Bollenbeck u.a. (Hg.), Die Janusköpfigen 50er Jahre, 2000, S. 17 (ebd.) spricht daher für die Zeit von 1945 bis 1949 gar von einer eigenen „Epoche“, in der ein „geistig-kulturelles Vakuum“, ein „intellektuelles Niemandsland“ geherrscht habe, siehe auch Kapitel 3, S. 97 f.

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verändert habe. 230 Die nahe Vergangenheit hingegen, die den persönlichen Erfahrungsraum der Autoren darstellte, blieb weitgehend ausgespart. Historische Rechtsschule und Positivismus waren, abgesehen vom Nationalsozialismus, die letzten Stationen der Geschichte. Das Kaiserreich mit seinem zumindest formalen Rechtsstaat oder gar die Weimarer Republik mit ihrer demokratischen Verfassung wurden so gut wie nicht angesprochen – weder würdigend noch ablehnend. Diese nahe Vergangenheit aber war es, die konkret Material geboten hätte, um darüber nachzudenken, was nun nach 1945 konkret geändert oder verbessert werden müsse. 231 Es gab hierbei graduelle Unterschiede und auch Ausnahmen. In der protestantischen Literatur war die Zukunft in ihrer Grundrichtung durch die Erzählung von der Säkularisierung vorgegeben. Da aber davon ausgegangen wurde, dass es kein einfaches ‚Zurück‘ geben konnte, wurde eine kirchenpolitische Diskussion darüber eingefordert, welche Schritte in die Zukunft weisen könnten. Im Bereich der Verfassungspolitik merkte Radbruch bereits in seinem Aufsatz von 1946 an, es bedürfe nicht nur einer Besinnung auf überpositives Recht, sondern auch einer Klärung, welche Organe hierüber entscheiden sollten. Auch im Übrigen war die rechtspraktische Debatte eng verwoben mit justiz- und verfassungspolitischen Diskussionen, die außerhalb der Naturrechtsliteratur geführt wurden. Historische Erzählungen spielten hier allerdings insgesamt keine große Rolle. Anders war dies bei Süsterhenn: Auch für ihn war die Verfassungspolitik zentral, sie war sein eigentliches Handlungsfeld. Die Naturrechtsschriften, die er verfasste, ersetzten diese nicht, sondern flankierten und stützten sie. Tatsächlich spiegelt sich dies auch in den historischen Ausführungen seiner Texte wider. Obgleich er im Großen und Ganzen der für die katholische Literatur charakteristischen Erzählung folgte, gab es doch signifikante Abweichungen, so etwa die, dass er für das Mittelalter nicht allein das Reich als Ideal hervorhob, sondern auch an die Städte und ihre demokratische Verfasstheit erinnerte. Vor allem aber nahm er als einer der ganz wenigen wiederholt Bezug auf die Weimarer Reichsverfassung. Sie stellte für ihn einen sicherlich verbesserungswürdigen, aber doch positiven Bezugspunkt dar. Rechtspolitik der nahen Vergangenheit spielte im Übrigen so weit ersichtlich nur bei Coing eine Rolle. Auch er zog die Weimarer Verfassung heran, um die Bedeutung der von ihm für verbindlich erklärten Werte zu unter230 Z.B. Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, S. 122; Hermann Weinkauff, Naturrecht und Justiz, in: Die politische Meinung, Heft 71 (1962), S. 21 (ebd.); Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 7; Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 170; anders Adolf Süsterhenn, der bereits 1946 Skepsis zeigt, ob die „Selbstbesinnung“ ausreichend Breiten- und Tiefenwirkung gehabt habe, in: Berserkergeist (1946), in: Schriften, 1991, S. 85 (87). 231  Dies war im politischen Feld nach 1945 völlig anders, die „Lehren aus Weimar“ spielten in den dortigen Diskussionen eine bedeutende Rolle, siehe Christoph Gusy (Hg.), Weimars langer Schatten, 2003, besonders S. 199 ff.

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

streichen. Dass er gerade hierfür kritisiert wurde, 232 zeigt jedoch die überwiegende Tendenz: Es dominierte der Blick in die ferne Vergangenheit. Für eine Historiographie, in der eine ferne Vergangenheit zum Ideal erhoben wird, ist es Hayden White zufolge charakteristisch, dass Zukunft utopisch ausgerichtet ist. Die Utopie werde in diesen Erzählungen in einen Bereich projiziert, den er als „nicht-zeitlich“ beschreibt. Nicht konkret operationalisierbare Reformschritte würden in solchen Erzählungen als Handlungsoptionen angeboten. Der Weg in die Zukunft sei vielmehr ein Weg der ‚Besinnung‘. Die Erzähler/innen erblickten in der Utopie „eine Möglichkeit, die dem Menschen zu jeder Zeit offensteht, gewänne er nur die Herrschaft über seine ‚Menschlichkeit‘, sei es durch einen Willensakt oder eine Bewußtseinsänderung, […].“233 In der Naturrechtsliteratur bedeuteten „Bewusstseinsänderung“ und Wiedererlangung von „Menschlichkeit“ Abkehr vom Positivismus und Hinwendung zu einer materiellen Rechtslehre, freilich mit Unterschieden in den einzelnen Strömungen. Dies konnte jederzeit geschehen und spielte sich jenseits institutioneller Gestaltung ab. Es handelte sich nicht um einen politischen Prozess, der geplant, diskutiert und in Etappenzielen evaluiert werden konnte. Naturrecht wurde in weiten Teilen gerade nicht als Verfassungsfrage diskutiert. 234 Nicht um die schrittweise politische Implementierung naturrechtlicher Werte ging es in den Schriften, sondern um Besinnung.

2. Abtrennung der Gegenwart von der Vergangenheit Während sich die Zukunft aus der Vergangenheit ergab, war die Gegenwart wenig präsent in den Texten. Auf aktuelle Probleme des Wiederaufbaus des Rechtslebens wurde außerhalb der rechtspraktischen Diskussion nicht Bezug genommen. Abgesehen von den gerade erwähnten Ausnahmen tauchen weder die Verfassungspolitik der späten 1940er Jahre noch das nach 1949 das in Kraft getretene Grundgesetz in den Texten in signifikantem Umfang auf. Selbst mit Verweisen auf die übrige Naturrechtsliteratur und damit auf den Diskussionskontext, indem sich die Autoren selbst bewegten, waren die Texte insgesamt sparsam. Die Gegenwart tauchte nur am Rande in den Erzählungen auf. Gegenwart bedeutete Erschütterung über den Nationalsozialismus, „Trümmer“, 235 „Krise“236 und all232 

Kapitel 5, S. 181. Hayden White, Metahistory (1973), dt. 2008, S. 42. 234  So für die Erzählungen von Hans Welzel, Karl Larenz, Erik Wolf und Franz Wieacker auch Joachim Rückert, in: Tiziana J. Chiusi u.a. (Hg.), Das Recht und seine historischen Grundlagen, 2008, S. 963 (975). Er zeigt, dass andere, liberal-rechtsstaatliche Erzählungen etwa von Franz L. Neumann, Paul Koschaker und Carl J. Friedrich zwar formuliert, aber nicht gehört wurden, ebd. S. 976 ff. 235 Z.B. Adolf Süsterhenn, Wir Christen und die Erneuerung des staatlichen Lebens (1948), in: Schriften, 1991, S. 227 (235). 236 Z.B. Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 7. 233 

B. Erzählungen von der Vergangenheit, Vorstellungen von der Zukunft

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gemein die „Lasten, die auf vielen von uns liegen“.237 Die Texte erzeugten mehr ein Gefühl von der Gegenwart, als dass sie diese beschrieben. Kipp drückte dieses Gefühl aus, indem er schrieb: „Wir befinden uns in einer durch den verlorenen Krieg und seine demoralisierende Wirkung noch stärker entschleierten, tödlichen Krise des Rechts.“238 Nicht der Positivismus allein, nicht der Nationalsozialismus allein, nicht der verlorene Krieg und seine Folgen allein, sondern ein Konglomerat aus all diesen Faktoren machte ‚die Gegenwart‘ aus. Die Gegenwart wurde in den Texten nicht deskriptiv festgehalten, sie wurde nicht analysiert und auf ihr bauten keine Argumentationen auf. Sie war nicht Gegenstand der Texte, sie bildete insofern eine Leerstelle. Dennoch handelten die Texte von der Gegenwart. Die Gegenwart wurde zwar nicht beschrieben und analysiert, sie hatte aber durchaus einen eigenen Ort neben Vergangenheit und Zukunft. Sie war definiert über die Aufgabe, die sich aus der Vergangenheit für die Zukunft ergab. „Auch sind die Aufgaben, vor die gerade die kommende Juristengeneration gestellt sein wird, besonders schwer und eben deshalb für jeden wirklich aktiven Juristen besonders anziehend. Denn auch das Recht hat der Nationalsozialismus uns als ein Trümmerfeld hinterlassen. Den Juristen ist die schwere Aufgabe gestellt, die Stätte der Zerstörung aufzuräumen und auf ihr den Neubau des Rechts zu errichten“, heißt es eindrücklich bei Radbruch. 239 In den Erzählungen folgte die Gegenwart nicht unmittelbar aus der Vergangenheit. Das, was sie ausmachte, ergab sich vielmehr aus den Zielen für die Zukunft. Die Gegenwart war damit von der Vergangenheit abgetrennt. Sie blieb aus den Erzählungen ausgespart. In der Verfallsgeschichte, in der die Vergangenheit linear absteigend in die Gegenwart mündete, war die Gegenwart selbst nicht der Tiefpunkt. Die Gegenwart war ein Zeitpunkt nach dem Verfall und vor der Erlösung. Auch in der Erzählung von den positiven Konstanten war der Ort der Gegenwart undefiniert, denn ihr war kein historischer Verlauf inhärent, der Vergangenheit und Gegenwart verbunden hätte. Dies ermöglichte es, die Gegenwart der Zukunft zuzuordnen und das Jahr 1945 in die Erzählstruktur als Bruch einzulagern. Die Gegenwart war dann nicht das Ende einer Entwicklung, sondern der Anfang einer neuen. 240 Während die Akteure der

237 

S. 3.

238 

Fritz von Hippel, Die nationalsozialistische Herrschaft als Warnung und Lehre, 1946,

Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 170. Gustav Radbruch, Die Erneuerung des Rechts (1947), S. 1 (ebd.). 240  Anders war dies einzig in Erzähltyp der Fortschrittsgeschichte. In seiner Erzählstruktur war kein strikter Bruch mit der Vergangenheit vorgesehen wie bei der Verfallsgeschichte; auch konnte in ihm auch nicht das Material für die Zukunft direkt der Vergangenheit entnommen werden wie bei der Geschichte von den ‚historischen Konstanten‘. Dieser Erzähltyp dominierte jedoch in keiner Naturrechtsschrift. 239 

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

Vergangenheit oft hinter den Ideen der Geistesgeschichte verschwanden, waren die Akteure dieses Neuanfangs klar und appellativ benannt: „wir“, „die Rechtswissenschaft“ oder die „Jurisprudenz“. 241 Zunächst wurde der Neuanfang noch als prekär wahrgenommen. Die Verortung der Gegenwart war nicht gefestigt, was sich darin zeigt, dass die Grenzziehung zur Vergangenheit noch vage und verschwommen war. Ob der Positivismus der Vergangenheit angehörte oder auch der Gegenwart, ob die Orien­ tierungslosigkeit des modernen Menschen und der Abfall von Glauben und Gerechtigkeit noch andauerten oder schon überwunden waren, war nicht klar. Die Gegenwart war noch nicht eindeutig der Zukunft zugeordnet, es war noch nicht gesichert, dass es sich um einen Neuanfang handelte. Dies schlägt sich nieder in den seinerzeit gebrauchten Wendungen von der „Krise“, dem „Vakuum“ und der „Stunde Null“ als Metaphern für die Gegenwart. Während „Vakuum“ und „Stunde Null“ die Gegenwart als Leerstelle auswiesen und aus dem Verlauf der Zeit herausnahmen, transportierte die Rede von der „Krise“ im Gegenteil eine Melange aus zu vielen verschiedenen Elementen, die sich einer Ordnung entzogen. 242 Waren in einem Fall Vergangenheit und Zukunft abwesend, waren sie im anderen Fall gleichzeitig anwesend und überlasteten die Gegenwart. Indem sie Gegenwart als Neuanfang markierten, trugen die Naturrechtsschriften dazu bei, Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart wieder in eine Ordnung zu bringen. Dies geschah nicht nur durch das, was in den Schriften erzählt wurde und auch nicht nur dadurch, wie es strukturiert war. Die Zuordnung der Gegenwart zur Zukunft und die damit einhergehende Konstruktion des Neuanfangs erfolgte vielmehr schon durch den Akt des Schreibens selbst. Die Texte zeugen davon, dass die Autoren selbst die Naturrechtsdiskussion als einen ersten Schritt zur Verwirklichung der sich für die Zukunft stellenden Aufgabe wahrnahmen. Die deutsche Rechtswissenschaft habe „die Epoche der politischen Einwirkungen und Anfälligkeiten überwunden“, schrieb Weinkauff 1952. „[S]ie hat in den letzten Jahren eine innere Aufgeschlossenheit und eine einfallsreiche Bereitschaft gezeigt, die tieferen Fragen des Rechts neu zu durchdenken, die durchaus hoffnungsvoll stimmt.“243 Im gleichen Sinne heißt es bei Coing bereits 1947, dass es „heute eine Selbstverständlichkeit geworden“ sei, „[d]aß die Rechtswissenschaft sich vom Positivismus befreien und wieder einer an eine Rechtsidee gebundene Auffassung vom Recht zuwenden müsse.“244 Systemum241  Sehr deutlich z.B. bei Fritz von Hippel, Zum Verhältnis von Jurisprudenz und Christentum (1948), S. 21 (36). Klar herausgearbeitet für Franz Wieacker von Joachim Rückert, in: Quaderni Fiorentini 24 (1995), S. 531–562, 242  Diesen Hinweis verdanke ich Christina Kleiser und Martin Reisigl. 243  Hermann Weinkauff, Richtertum und Rechtsfindung in Deutschland, in: Berliner Kundgebung 1952 des Deutschen Juristentages, 1952, S. 15 (20). 244  Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 7.

B. Erzählungen von der Vergangenheit, Vorstellungen von der Zukunft

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bruch, Demokratisierung, Verfassungsdiskussionen, also die rechtspolitischen Veränderungen waren nicht das, was als Befreiung in der Naturrechtsliteratur hervorgehoben wurde. Befreiend war vielmehr die Naturrechtsliteratur selbst, die Rechtswissenschaft war auf dem Wege, sich selbst zu befreien.

3. Fazit: Bruch und Kontinuität zugleich Den historischen Ausführungen in der Naturrechtsliteratur kam eine zentrale Funktion zu: Die Verfasser stützten mit ihnen nicht nur die in den Texten enthaltenen Zukunftsvisionen inhaltlich ab. Sie konstruierten mit ihnen auch den für einen Neuanfang nach 1945 so wichtigen Bruch mit der Vergangenheit, indem sie zwar aus der Vergangenheit auf die Zukunft schlossen, die Gegenwart jedoch erst über die Aufgabe für die Zukunft definierten. Zugleich stellten sie einen Zusammenhang mit dem großen Bogen der Geschichte her. Ihr Ziel war es, Kontinuität mit der abendländischen Geschichte zu schaffen. Indem sie vergangene Epochen idealisierten, wiederkehrend positive Traditionen erinnerten oder die Geschichte als eine Folge sich fortentwickelnder Errungenschaften erzählten, holten sie vergangene, zum Teil sehr ferne Epochen nah heran. Zugleich rückten sie andere, oft zeitlich näher liegende Epochen in die Ferne, besonders das späte Kaiserreich und die Zeit der Weimarer Republik. Der Nationalsozialismus selbst war nah und fern zugleich: Die Metaphorik des Schreckens machte es unmöglich, ihn in Verbindung zu einer wie krisenhaft auch immer wahrgenommenen Gegenwart zu setzen. Zugleich sahen sich die Autoren noch auf den „Trümmern“. Dies wiederum diente als Bestärkung des Aufrufs, die Aufgaben für die Zukunft in Angriff zu nehmen. Die „Trümmer“ beschrieben nicht Ruinen, die es galt instand zu setzen, sondern solche, die beiseite zu räumen waren. Die Gegenwart auf Trümmern stand im Zeichen des Neuanfangs. In verschiedener Hinsicht waren es jedoch keine Neubauten, welche die Verfasser der Naturrechtsschriften planten. Die Vergangenheit lieferte Material, der Anschluss an die „abendländische Geschichte“ war gewollt. Sie stellte Ankerpunkte für eine erschütterte nationale Identität bereit. Der Rückgriff auf positive Traditionen verlieh die Gewissheit, dass der Nationalsozialismus nicht die einzige „deutsche Geschichte“ darstellte. Dass Schiller und Goethe in der Naturrechtsliteratur übermäßig zu Wort kamen, ist sicherlich so zu erklären. Auch der Versuch Weinkauffs, das Widerstandsrecht in der Geschichte der Germanen zu verankern, steht in diesem Zusammenhang. Unter dieser Oberfläche gewollt und bewusst hergestellter Kontinuitätslinien verbargen sich jedoch weitere. Nicht die ferne idealisierte Vergangenheit wurde durch sie aktualisiert, sondern die nahe, in die Ferne geschobene Vergangenheit. Insbesondere die Verfallserzählungen schlossen unausgesprochen an Wahrnehmungsmuster und Ideologien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an. Der Moderne waren diese mit einer kulturpessimistischen Haltung

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

begegnet, in ihrem Beschwören von Einheit und Harmonie waren sie antidemokratisch und antipluralistisch ausgerichtet. Auch der Neuanfang in der Form, wie er inszeniert wurde, war kein entschiedener. Die Zukunft hatte einen so utopischen Charakter, dass außerhalb der von den meisten Autoren nicht beachteten Verfassungspolitik die Frage einer messbaren Umsetzung offen bleiben musste. Was blieb, waren die Aufgabe und die Anstrengung, sich der Zukunftsvision zu nähern. Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, welche Handlungsanweisungen sich konkret hierhinter verbargen: Besinnung auf die Religion bei den einen, auf das Gewissen bei den anderen. Glaube und Gewissen waren statische Begriffe, sie ließen keinen Raum für Zwischenziele und operationalisierbare Entwicklungsschritte bei der Erfüllung der Aufgabe. Es handelte sich nicht um „Bewegungsbegriffe“ im Sinne der Begriffsgeschichte.245 Ihnen war keine Zeitstruktur und damit kein Tempo inhärent. Dies jedoch bedeutet, darauf zu verzichten, den Weg, der zum anvisierten Ziel führt, zu markieren und damit Veränderungen konkret zu initiieren, anzuleiten und abzustützen. Diese Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Bruch, die wie ein unglückliches Verharren zwischen beiden erscheinen mag, ist ein Merkmal der Naturrechtsliteratur, das sie als Wendeliteratur ausweist. Die Autoren strebten bewusst eine Kombination aus Kontinuität und Bruch durch die beschriebene erzählerische Verbindung von Vergangenheit und Zukunft an. Hierin zeigt sich ihr Bedürfnis, sich von der nationalsozialistischen Vergangenheit abzutrennen und zugleich die so entstandene Leerstelle der eigenen Geschichte neu zu füllen. Material aus der eigenen Geschichte hatte dabei weit eher integrierendes und identitätsstiftendes Potential. Sich auf etwas, das sich schon einmal bewährt hatte, zu stützen, schuf Sicherheit und Legitimation für Zukunftskonzepte. Zudem bot die Abtrennung des Nationalsozialismus Raum für verdeckte Kontinuitäten, wie sich im Fortwirken historiographischer Topoi zeigt. Wie bewusst oder unbewusst diese Fortführung war, lässt sich nur im Einzelfall feststellen. Ebenso lässt sich nicht rekonstruieren, wie bewusst den Autoren war, dass der von ihnen inszenierte Neuanfang, gerade weil er das Ziel in eine ferne, utopische Zukunft verlegte, nicht auf konkrete, entschiedene Veränderungen hinwirkte. Für diese Arbeit kann dies offen bleiben. Es sei aber festgehalten, dass sich in den verdeckten Kontinuitäten und dem rückwärtsgewandten Neubeginn wie schon bei den als Naturrecht postulierten Werten das Beharrungsvermögen eines vergangenen Denkstils zeigt.

245 

Reinhart Koselleck, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, 1972, S. XIII (XVI f.).

C. Der ‚gute Jurist‘ als Garant gegen erneutes Unrecht

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C. Der ‚gute Jurist‘ als Garant gegen erneutes Unrecht: Berufsethik als Legitimation für eine starke Jurisprudenz Wollte man Schlussfolgerungen aus den Naturrechtslehren ziehen, so waren nach 1945 verschiedene Optionen denkbar. Sah man Naturrecht als Auftrag an den Gesetzgeber an, lag es nahe, rechtspolitisches Engagement anzumahnen. War Naturrecht Geltungsgrenze des positiven Rechts, stellte sich die Frage, wer dafür zuständig sei, gesetzliches Unrecht für nichtig zu erklären. Begründete Naturrecht ein Widerstandsrecht, musste geklärt werden, unter welchen Bedingungen Widerstand rechtlich anerkannt werden konnte und was eine solche „rechtliche Anerkennung“ bedeutete. War das Naturrecht leitend für die gerechte Entscheidung von Einzelfällen durch die Gerichte, stellte sich die Frage nach den Voraussetzungen richterlicher Rechtsschöpfung und dem Verhältnis zum Gesetzgeber. Schließlich konnte das Naturrecht als etwas angesehen werden, das ausschließlich auf religiöser oder moralischer Ebene verpflichtete und auf die Rechtsordnung daher institutionell keinen Einfluss hatte. Sucht man nach ihnen, kann man alle diese Folgerungen aus der Anerkennung des Naturrechts in der Naturrechtsliteratur nach 1945 finden. Sie wurden allerdings nur in einigen wenigen Texten vertieft diskutiert, insbesondere im Rahmen der rechtspraktischen Debatte. Erinnert sei hier insbesondere an die Diskussion um das materielle Prüfungsrecht. 246 Im Übrigen fällt gerade in der Frühphase der Naturrechtsbesinnung auf, dass die Konsequenzen der Naturrechtslehren oft erstaunlich wenig ausgearbeitet wurden. „Rechtspolitik“ und „Rechtskritik“ seien die Aufgaben, die sich aus dem Naturrecht ergäben, verkündete Coing beispielsweise 1947 – ohne weitere Präzisierung. Wie eine Rechtsordnung gestaltet werden müsse, in der naturrechtlich fundierte Rechtspolitik und Rechtskritik eine feste Größe darstellen, blieb offen. Statt zu diskutieren, welche Folgen sich aus dem Naturrecht für eine Umgestaltung der Rechtsordnung ergaben, tauchte von Beginn der Naturrechtsdebatte an immer wieder eine andere Frage auf. Es handelt sich um die Frage, was eigentlich einen ‚guten Juristen‘ ausmache. Die Juristen selbst waren der zentrale Bezugspunkt der Naturrechtsliteratur. Ihnen wurde die Verantwortung für den Schutz der Rechtsordnung vor erneutem Unrecht anvertraut. Weniger den Verfahren und Institutionen galt das Interesse, als der „sittlichen Tat des Einzelnen“. 247 Jeder einzelne Jurist sollte für die Verwirklichung einer gerechten Ordnung einstehen. Dass dies allerdings nur einen Umweg darstellte, um letztlich doch über die Verteilung von Kompetenzen in der neu aufzubauenden Rechtsordnung zu sprechen, wird sich im Folgenden zeigen.

246 

247 

Siehe Kapitel 2, S. 81 ff. Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 150 f.

292

Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

I. Verankerung des Naturrechts im individuellen Gewissen Dass ausgerechnet Juristen als „Hüter des Rechts“248 die Rechtsordnung vor erneutem Unrecht bewahren sollten, überrascht. Schließlich war die Einsicht, dass Juristen die Rechtsordnung im Nationalsozialismus gerade nicht hatten schützen können, Ausgangspunkt der Naturrechtsdiskussionen. Dass dennoch Juristen die letzte Instanz für den Schutz der Rechtsordnung darstellen sollten, zeigt sich, wenn man die Konsequenzen, die aus den Naturrechtslehren gezogen wurden, genauer betrachtet. Die Konsequenzen aus den Naturrechtslehren wie auch der Stellenwert, den diese in den Texten hatten, unterscheiden sich zwischen den verschiedenen Debattenteilen erheblich. Während die rechtspraktische Diskussion zielstrebig auf die Frage des materiellen Prüfungsrechts zusteuerte, war die Frage der Folgen von Naturrechtsverstößen in den übrigen Debattenteilen zunächst völlig untergeordnet. Die katholische Literatur konzentrierte sich auf die Herleitung der Naturrechtsinhalte, die protestantische diskutierte die Frage, ob überhaupt ein Naturrecht existiere und wie sich dieses theologisch begründen ließe. Erst Mitte der 1950er Jahre lässt sich erkennen, dass sich die Positionen hinsichtlich des Verhältnisses des Naturrechts zur positiven Rechtsordnung zuspitzten und an Kontur gewannen – sofern die Autoren sich nicht bereits anderen Themen zugewandt hatten. Zunächst wurde die Frage der Folgen außerhalb der rechtspraktischen Debatte jedenfalls eher beiläufig behandelt und in der Regel eine Kombination verschiedener der skizzierten Optionen angedeutet. Der Wert des positiven Rechts wurde in allen Schriften betont, zugleich aber selbstverständlich davon ausgegangen, dass gesetzliches Unrecht nichtig sei. Die Verteilung der Gewichte zwischen Naturrecht und positivem Recht variierte im Einzelnen zwar je nachdem, ob Naturrecht als „echtes Recht“ angesehen wurde oder ob es nur eine Richtschnur darstellen sollte, die moralisch oder religiös verpflichtete. Unabhängig davon hatten die Schriften jedoch eine Tendenz gemeinsam: Sie lösten die Spannung zwischen Naturrecht und positivem Recht nicht institutionell auf. Das Naturrecht war vielmehr in erster Linie etwas, was in der Person des Juristen, nicht in Verfahren und Institutionen verankert wurde. Für Ansätze, die übergesetzliches Recht ohnehin nicht als rechtlich, sondern nur als moralisch verbindlich ansahen, liegt dies nahe. Insbesondere die Schriften der säkularen Debatte, die einem überzeitlich geltenden Naturrechtsystem nach katholischem Vorbild kritisch gegenüber standen, betonten die Eigenständigkeit des positiven Rechts. 249 Welzel vertrat dies am eindringlichsten 248  249 

Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 245. Ausführlich Kapitel 5.

C. Der ‚gute Jurist‘ als Garant gegen erneutes Unrecht

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und in einer herausstechenden Klarheit. Die „sachlogischen Strukturen“, die er an die Stelle eines Naturrechts setzte, „binden den Gesetzgeber nur relativ, d.h. ihre Nichtbeachtung macht die gesetzliche Regelung zwar sachwidrig, widerspruchsvoll, lückenhaft, aber nicht ungültig“, 250 heißt es bei ihm. Dies bedeute jedoch nicht, dass sie folgenlos blieben: Sie begründeten Welzel zufolge die Aufgabe der Rechtswissenschaft, die sachlogischen Strukturen nicht nur herauszuarbeiten, sondern auch ihre gesetzgeberische Umsetzung anzumahnen. 251 Auch in der evangelischen Naturrechtsdebatte herrschte Skepsis hinsichtlich der unmittelbar juristischen Verbindlichkeit des Naturrechts. Zwar sei es möglich, „auch zu inhaltlichen Aussagen sozialethischer Art zu gelangen“, fasste Scheuner die dort vorherrschende Auffassung zusammen. Ihnen werde allerdings „kein absoluter Geltungsanspruch zugeschrieben; aber sie können doch dem Christen ein Halt sein, um seine Aufgaben im öffentlichen Leben in allem Vorbehalt der Zeitgebundenheit und Schwäche seiner ethischen Erkenntnis zu genügen.“252 Dieses Naturrecht gab eine Anleitung zur Gestaltung der Gesellschaft und war moralisch oder auch religiös verpflichtend. Ob dem Naturrecht tatsächlich auch im Falle krassen gesetzlichen Unrechts keinerlei juristische Bedeutung zukommen sollte, ob es also die Geltung des positiven Rechts in keinem Fall unmittelbar tangiere, blieb in den Texten jedoch häufig unklar. 253 Erik Wolfs Schriften etwa zielten nicht darauf, eine Geltungslehre des positiven Rechts zu entwickeln, sondern befassten sich mit der Frage der gesellschaftlichen Verantwortung als Christen. Im Laufe der Zeit kristallisierte sich dies immer klarer heraus und schlug sich besonders in der Schrift „Das Problem der Naturrechtslehre“ von 1955 nieder. 254 Doch bereits in seinem Vortrag in Bad Boll 1946 hatte er formuliert: „Die biblischen Weisungen haben erzieherische, nicht programmatische Funktion; sie leiten das Gewissen, aber sie übermachten es nicht; sie werden von Christen im Staat befolgt und verkündet, aber sie dürfen nicht durch ein Verfassungsmodell des christlichen Idealstaats juridifiziert und vergesetzlicht werden.“255 Ob das positive Recht seine juristische Geltung verlor, wenn es gegen die „biblischen Weisungen“ verstieß, spielte keine Rolle. Gefordert war eine religiös begründete Verantwortungsübernahme. Dies bedeutete, dass im Ernstfall eine moralische Pflicht zum Widerstand gegen das positive Recht bestand. Die Diskussion der Folgen von Naturrechtsverstößen wurde hier also nicht auf rechtlichem, sondern auf religiös-moralischem Feld geführt. 250  Hans Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus (1953), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 322 (337). 251  Hans Welzel, ebd., S. 335. 252  Ulrich Scheuner, Zum Problem des Naturrechts nach evangelischer Auffassung, in: Kirche und Recht, 1950, S. 27 (44). 253  Ausführlich Kapitel 4. 254 S. 110, 113. 255  Erik Wolf, Vom Wesen der Gerechtigkeit (1946), S. 9 (32).

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

Die damit verbundene Aktivierung des Einzelnen war etwa bei Welzel und Wolf erklärtes Ziel.256 An die Stelle eines Gehorsams gegenüber dem Gesetzgeber sollte nicht ein Gehorsam gegenüber vorgegebenen Werten treten. Der Einzelne sollte vielmehr aus sich selbst heraus Verantwortung für die Verwirklichung einer gerechten Ordnung entwickeln. Die Frage der objektiven Geltung des übergesetzlichen Rechts und der sich daraus ergebenden Folgen für die Rechtsordnung stellten sie bewusst zurück. In vielen anderen Beiträgen zur evangelischen oder säkularen Naturrechtsdebatte wird weniger deutlich, ob die Verfasser die Verankerung des Naturrechts im individuellen Gewissen als Gewinn sahen, oder ob der Rückgriff auf das Gewissen für sie nicht schlicht eine Verlegenheitslösung darstellte. So oder so stellte der Verweis auf das individuelle Gewissen und damit auf das Feld der Moral zur Absicherung der Naturrechtslehren einen Minimalkonsens dar. „Man ist sich vielleicht noch insoweit einig, als man irgendwie an ein sittliches Gesetz glaubt, das die Gewissen bindet. Daß dieses ethische Gesetz aber Rechtsnormen enthalten könnte, an die der Richter – nicht nur im Gewissen – gebunden wäre, die er anzuwenden hätte, wird vielfach nicht anerkannt“, 257 bestätigte der Katholik Heinrich Kipp diesen Konsens und kritisierte ihn zugleich als unzureichend. Kipp selbst forderte, dass Naturrecht nicht nur als moralisch, sondern auch als rechtlich verbindlich anerkannt werden müsse. Doch auch bei ihm und bei anderen Autoren, die offensiv postulierten, dass das Naturrecht eine „echte, direkt anwendbare Rechtsordnung“ sei, 258 mündeten die Naturrechtslehren letztlich in Appellen an das individuelle Gewissen. Die Forderungen, Naturrecht als „echtes Recht“ anzuerkennen, korrelierten häufig nicht mit den Beschreibungen des Verhältnisses von positiven Recht und Naturrecht. 259 Mitteis beispielsweise schrieb die griffigen Sätze „Das Naturrecht ist das eigentlich geltende Recht“ und „Naturrecht bricht positives Recht“. 260 Das positive Recht sei „nur Transformator, das Umspannwerk, in dem das Naturrecht für die Wirklichkeit praktikabel gemacht wird. Es muß weichen, wenn es den Anforderungen der Gerechtigkeit, also des Naturrechts nicht mehr entspricht.“261 256 

Auch bei Erich Fechner, Die Bedeutung der Gesellschaftswissenschaft für die Grundfrage des Rechts (1952), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 257 (277) und Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952, S. 355. Zu Letzterem bereits in diesem Sinne Joachim Rückert, in: Quaderni Fiorentini 24 (1995), S. 531 (545 ff.). 257  Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 75 f. 258  Adolf Süsterhenn, Die naturrechtlichen Grundlagen der internationalen Zusammenarbeit (1949), in: Schriften, 1991, S. 315 (322). 259  Eine Ausnahme stellt hier die rechtspraktische Diskussion dar, die von Anfang an um die Frage kreiste, ob der Verstoß gegen übergesetzliches Recht zur Nichtigkeit von Gesetzen führen sollte, siehe Kapitel 2. 260 Beide Heinrich Mitteis, Über das Naturrecht, 1948, S. 38. 261  Heinrich Mitteis, Über das Naturrecht, 1948, S. 38.

C. Der ‚gute Jurist‘ als Garant gegen erneutes Unrecht

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Was praktisch im Konfliktfalle zu geschehen habe, führte er aber nicht aus. Konkret verwies er lediglich auf das Widerstandsrecht zur Verteidigung einer naturrechtlich gestützten Rechtsordnung. Dass er damit letztlich die individuelle Verantwortung zur einzigen Garantin einer naturrechtlichen Ordnung erklärte, verschwieg er nicht. Wer Widerstand leiste, „der handelt auf eigene Gefahr“, schrieb er. 262 „Der Weg der Rechtsgeschichte ist besät mit den Opfern der Rechtsidee.“ Wenn es demjenigen, der Widerstand leiste, gelinge, den „Besitzstand des positiven Rechts zu brechen, die Anmaßung des Scheinrechts zu überwinden“, so „verehrt ihn die Rechtsgeschichte als einen Helden; denn er hat dem innersten Gesetz seines Weges Folge geleistet und so das Recht selbst zugleich zu seiner wahren Natur zurückgeführt.“ Der „tiefste Sinn des Naturrechts“ sei es letztlich, „dass er aller menschlichen Satzung mit der Fackel der Idee vorausleuchtet und ihr den rechten Weg weist.“263 Auch Kipp hielt sich bedeckt hinsichtlich der Folgen von Naturrechtsverstößen. Zwar heißt es bei ihm zunächst: „Es ist nicht einzusehen, warum klare, aus der Natur des Menschen erkennbare, gottgegebene, allem positiven Recht als Richtschnur dienende Normen nicht anwendbar sein sollen.“ Im Folgenden stellte er jedoch fest, dass er in seiner Schrift nicht darauf eingehen werde, „[a]uf welche technische, das heißt prozeßrechtliche Weise dieses Richterrecht und diese Richterpflicht am geeignetsten durchgesetzt werden können“. 264 Auch Ernst von Hippel hielt fest: „Verbindlichkeit […] und Positivität sind so verschieden wie Seele und Leib. Aus der Verbindlichkeit folgen Pflichten und Rechte, die Positivität bezeugt dagegen nur die Möglichkeit zu irgendwelchem Zwang.“265 Über die Verbindlichkeit aber entscheide letztlich „jeder einzelne in seinem Gewissen.“266 Außerhalb der katholischen Literatur finden sich ähnliche Argumentationen beispielsweise bei Esser, Schönfeld und Weinkauff. 267 Die Frage der Verbindlichkeit wurde dem individuellen Gewissen überlassen, die Klärung institutioneller Zuständigkeiten war nicht im Fokus. Süsterhenn bildete hier eine Ausnahme, indem er aus der Feststellung, dass es sich beim Naturrecht um „echtes Recht“ handele, konkrete rechtspolitisch-praktische Folgerungen zog: Einerseits verfolgte er die verfassungsrechtliche Positivierung des Naturrechts, andererseits forderte er 262 

Heinrich Mitteis, ebd., S. 41 f. Dort auch das Folgende. Heinrich Mitteis, ebd., S. 42. 264  Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 115 f. 265  Ernst von Hippel, Einführung in die Rechtstheorie, 2.A. 1947, S. 43. 266  Ernst von Hippel, ebd., S. 50 f. 267  Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechts und Staates, 1949, S. 27, 113; Walther Schönfeld, Zur Frage des Widerstandsrechts, 1955, S. 32; Hermann Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (1960), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 554 (557 f.). Zu parallelen Mustern bei Karl Larenz, Franz Wieacker und Hans Welzel Joachim Rückert, in: Tiziana J. Chiusi u.a. (Hg.), Das Recht und seine historischen Grundlagen, 2008, S. 963 (971 ff.), der treffend davon spricht, dass es ein „Generationschor“ gewesen sei, der so argumentiert habe. 263 

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

vehement die Institutionalisierung des materiellen Prüfungsrechts durch Verfassungsgerichtshöfe.268 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass zwar Einigkeit darin herrschte, dass das Naturrecht für den Gesetzgeber verbindlich sei, die Frage der Folgen, falls dieser sich hieran nicht hielt, aber oft nicht ausbuchstabiert wurde. Während in der rechtspraktischen Debatte mit dem materiellen Prüfungsrecht konkret über die Institutionalisierung von Verwerfungsrechten diskutiert wurde, blieb die Nichtigkeit des dem Naturrecht widersprechenden Gesetzesrechts in anderen Debattenteilen ein bloßes Postulat. Konkret zogen sich zahlreiche Stimmen auf das Widerstandsrecht als praktische Konsequenz zurück, dessen rechtlicher Charakter in der Regel aber mehr behauptet wurde, als dass erklärt worden wäre, was dies juristisch bedeute. 269 Im Übrigen sollte das Naturrecht eine moralische oder religiöse Verantwortung begründen, das Recht so mitzugestalten und im Rechtsleben so zu agieren, dass Gerechtigkeit so weit wie möglich realisiert werde. „Das meint“, schrieb Erik Wolf und brachte damit diesen Gedanken auf den Punkt, „Naturrechtslehre hat die Aufgabe, immer und jederzeit über dem Recht zu wachen, daß es in seinem Wesen bleibe. Der Naturrechtsgedanke intendiert im Grunde nur eine einzige Forderung, diese aber mit unbedingtem Ernst: es ist die Pflicht aller, die am Recht teilhaben, in dauernder Bereitschaft für das Recht ‚da‘ zu sein.“270 Von der Heydte stellte gar fest: „Das Naturrecht beruht nicht auf der Erkenntnis des Wissens, sondern auf der Erfahrung des Gewissens. Es ist Gewissensrecht.“271 Die Konsequenz waren Appelle an das Gewissen des Einzelnen. Kaum eine Naturrechtsschrift kam ohne sie aus.

II. Das ‚objektive‘ Gewissen Eine Verankerung des Naturrechts im individuellen Gewissen musste den Autoren jedoch Schwierigkeiten bereiten. „Kommt man so aber nicht auf den Subjektivismus heraus, wenn du letzten Endes auf das Gewissen abstellst?“ ließ 268 So z.B. Adolf Süsterhenn, Der Verfassungsgerichtshof als Hüter des Naturrechts (1950), in: Schriften, 1991, S. 368–370; ders., Der Hüter des Rechtsstaates (1946), in: Schriften, 1991, S. 65–68; ders., Der Geist der Verfassung (1947), in: Schriften, 1991, S. 90 (93 f.); ders., Zur Verfassung von Rheinland-Pfalz (1947), in: Schriften, 1991, S. 117 (141 f.), wo er als Beispiel für ein Gesetz, das der Verfassungsgerichtshof kassieren könnte ausgerechnet die „neuerdings erwachende anti-semitische Bewegung“ in Polen und die daraus folgenden Gesetze anführt. 269  Siehe oben, S. 247 ff. 270  Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 1955, S. 110. 271  Friedrich August Freiherr von der Heydte, Existentialphilosophie und Naturrecht (1948/49), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 141 (157).

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Ernst von Hippel den Sohn seinen rechtsgelehrten Vater fragen in seiner in Form eines Dialogs zwischen beiden verfassten „Einführung in die Rechtstheorie“. 272 Der Vorwurf des Subjektivismus wog schwer, denn mit ihm ging der des Relativismus einher. Gegen diesen aber wandten sich die Naturrechtslehren schließlich alle in irgendeiner Form. Tatsächlich rangen viele Schriften um eine Begründung dafür, dass das ‚Gewissen‘ nicht etwas bloß Subjektives und damit Relatives sei, sondern einem objektiven Maßstab folge. Für religiös argumentierende Autoren beider Konfessionen war dies unproblematisch: „Jeder gefühlte Ruf des Gewissens ist eine Begegnung mit Gott: Gewissensrecht aber ist Recht, in dem ich Gott in Seinem Sittengesetz erlebe, Recht, das die menschliche Satzung vor Gott stellt“, schrieb von der Heydte. 273 Und Erik Wolf hielt fest, dass „christliche Existenz“ die beste Voraussetzung für „gerechte Rechtssetzung und Rechtsfindung“ sei. 274 Im Gewissen waren für sie religiöse, und damit objektive Werte verankert. Das Gewissen verpflichtete die Menschen zu versuchen, diese objektiven Werte zu verwirklichen. Für nicht religiös argumentierende Autoren war die Begründung der Objektivität des Gewissens problematischer. Coings Lösung bestand darin, dass er in Anschluss an Scheler und Hartmann seiner Naturrechtslehre die Prämisse zugrunde legte, dass das Rechtsgefühl der Menschen stets auf die objektive Gerechtigkeit ausgerichtet sei. Das Gewissen sei „auf Verwirklichung des höchsten sittlichen Wertes schlechthin, von dem das Individuum ergriffen ist, in seinem Leben gerichtet“275, heißt es bei ihm, oder prägnanter: „Die sittlichen Werte wirken im Gewissen des Menschen.“276 Damit wandte er sich gegen den Vorwurf, der von religiöser Seite erhoben wurde, dass eine Verankerung des Naturrechts im Rechtsgefühl bloß subjektiv sei, und begründete einen Gedanken, auf den sich auch andere säkulare Stimmen in der Naturrechtsdebatte stützten. So deutete Welzel den „Gewissensruf“ als ein Phänomen, das die Existenz eines „daseinstranszendierenden Sollens“ wahrscheinlich mache277 und auch Esser schrieb: „[D]as Recht ist nicht weniger ‚kategorisch‘ und ‚autonom‘ verbindlich als die Sittlichkeit. Denn fremder Wille kann nicht verpflichten. Noch ist Sittlichkeit ein Gesetz, das jeder sich selbst gibt – wie könnte dieses objektiv gelten? Beide gehören der überpersönlichen 272 

Ernst von Hippel, Einführung in die Rechtstheorie, 2.A. 1947, S. 51. Friedrich August Freiherr von der Heydte, Existentialphilosophie und Naturrecht (1948/49), S. 141 (158). Auch Günther Küchenhoff, Naturrecht und Liebesrecht, 1962, S. 47 f.; Valentin Tomberg, Degeneration und Regeneration der Rechtswissenschaft, 1946, S. 27; Ernst von Hippel, Einführung in die Rechtstheorie, 2.A. 1947, S. 68. 274  Erik Wolf, Biblische Weisung als Richtschnur des Rechts (1946), S. 33 (62). 275  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 62. 276  Helmut Coing, ebd., S. 132. 277  So im Rückblick auf die Naturrechtsbesinnung Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4.A. 1962, S. 238, 243; ähnlich bereits in der Einleitung zur 1. Aufl. 1951, S. 7 f. 273 

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objektiven Wertordnung an, die wir im Gewissen erleben. Aber nicht dieses ‚Erlebnis‘ erst begründet die Pflicht, sondern die Existenz jener Ordnung, die an unsere Einsicht und Entscheidungsfreiheit appelliert, auch wenn wir andere Werte ‚erleben‘.“278

Ähnlich jenen, die auf Grundlage des Christentums argumentierten, suchten also auch diese Autoren eine objektiv existierende Quelle für das Gewissen. Das Gewissen dem Bereich des Subjektiven zu entheben erschien möglich, da es zwar im Individuum verankert sei, aber seine Weisungen aus der objektiven Wertordnung empfange. Mit der Hinwendung zum Kulturrecht, die in der säkularen Debatte früh einsetzte, rückte die Tradition als Quelle für das Gewissen in den Blick und verdrängte immer mehr die objektive Wertordnung. Wenn Coing etwa in den „Grundlagen der Rechtsphilosophie“ von der „kultivierenden Wirkung“ sprach, welche der Umgang mit dem bestehenden und tradierten Recht auf den Richter ausübe, zeigt sich darin dieser Wandel. Das gleiche gilt, wenn Wieacker, Larenz und Esser in den 1950er Jahren die Traditionsbindung zur Garantie dafür erklärten, dass Gerechtigkeit und Rechtssicherheit gleichermaßen gewährleistet seien. Die Quelle für das Gewissen wandelte sich, das Gewissen blieb dennoch zentraler Bezugspunkt. An dem Bemühen um dessen Objektivierung änderte sich nichts. Das Kulturrecht war zwar menschlich geschaffen, durch die Bewährung und Verfestigung als Tradition hatte es aber gleichsam einen objektiven Charakter. 279

III. Erziehung und Apologie: Berufsethik für Juristen Diese Objektivierung des Gewissens änderte allerdings nichts daran, dass es die Individuen waren, welche die Hauptrollen in den Naturrechtslehren spielten. Auch wenn gewissensgeleitetes Handeln an objektiven Werten orientiert war, lag die Verantwortung, diese zu verwirklichen bei den Individuen und ihrem Gewissen. Das mag widersprüchlich klingen. Gemeint war damit, dass sie nicht aus Gehorsam, sondern aus innerer Überzeugung wertgeleitet handeln sollten. Ganz überwiegend waren es Juristen, an die sich die Appelle richteten, sich dieser Aufgabe zu stellen. Fritz von Hippel sah es als spezifische Verantwortung christlicher Juristen, „mit äußersten Kräften um die jeweilige nur mögliche wahrhafte Rechtsordnung sich zu bemühen.“280 „Unsere Wahrheit ist die Gerechtigkeit, um die müssen wir unaufhörlich ringen als echte milites legum, als Ritter gegen Tod und Teufel“, heißt es bei Mitteis. 281 Coing betonte, dass erst die „Kraft der Rechtsidee im Bewußtsein der Menschen“ dem Naturrecht 278 

Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechts und Staates, 1949, S. 27. Siehe Kapitel 5. 280  Fritz von Hippel, Zum Verhältnis von Jurisprudenz und Christentum (1948), S. 21 (36). 281  Heinrich Mitteis, Über das Naturrecht, 1948, S. 43. 279 

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Geltung verschaffe. 282 Juristen war es aufgegeben, für Gerechtigkeit zu kämpfen. Die Verantwortung der Politik wurde zwar regelmäßig angemahnt, was dies bedeutete, wurde aber nur von Süsterhenn, für den Naturrecht die Grundlage politischen Handelns darstellte, vertieft ausgeführt. 283 Nur die Beiträge zur evangelischen Naturrechtsdebatte fallen in großem Stile aus diesem Bild heraus. Sie wandten sich allgemein an „die Christen im Staate“, 284 schließlich ging es ihnen weniger um die Rolle der Jurisprudenz als um die der Kirche in der Nachkriegsgesellschaft. Die Naturrechtsschriften riefen also in weiten Teilen Juristen in Rechtsprechung und Rechtwissenschaft dazu auf, im Geiste des Naturrechts zu handeln und sich auf diese Weise an der Schaffung eines gerechten Rechts zu beteiligen. Juristen waren es, denen als „Künder der Wahrheit“, 285 „Hüter des Rechts“286 oder gar „Haushalter über Gottes Geheimnisse“287 die Aufgabe zukommen sollte, eine der Gerechtigkeit verpflichtete Rechtsordnung zu garantieren. „[D]em deutschen Volke wieder Vertrauen in sein Recht und seine Rechtspflege zu geben, das ist die schönste und schwerste Zukunftsaufgabe der Rechtswissenschaft und Rechtslehre“, schrieb Mitteis.288 Es war vor allem ein umfassendes Engagement für die Gerechtigkeit, das als richterliche Tugend hervorgehoben wurde. Um der Gerechtigkeit zu dienen, brauche es „Glauben an das Recht“289 und „Treue gegenüber der Heiligkeit des Rechts“.290 Der „gerechte Richter“ trage die Rechtsidee „in seinem Herzen“291 und sei „das lebendige Recht, die belebte Gerechtigkeit“. 292 Man müsse sich nach der Gerechtigkeit „ausstrecken, und zwar mit der ganzen Person, mit Verstand, Vernunft, Gewissen und Gefühl.“293 Weinkauff, von dem diese letzten Worte stammten, wurde selbst, als er 1960 als Präsident des Bundesgerichtshofs ausschied, mit den Worten gewürdigt: „Ja, Sie haben es uns vorgelebt, daß man an das Recht leidenschaftlich glauben kann und glauben muß, wenn man mehr sein will als nur Jurist, und daß man dem Recht leiden282  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 242 f.; im gleichen Sinne Erik Wolf, Das Problem der Naturrechtslehre, 1955, S. 110, 113. 283  Hierzu Kapitel 3, S. 132 f. 284  Erik Wolf, Vom Wesen der Gerechtigkeit (1946), S. 9 (32). 285  Heinrich Mitteis, Über das Naturrecht, 1948, S. 43; fast wortgleich Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 115. 286  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 245; ebenso, bezogen auf die Rechtswissenschaft, Hans Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus (1953), S. 322 (335). 287  Walther Schönfeld, Über die Heiligkeit des Rechts, 1957, S. 46. 288  Heinrich Mitteis, Über das Naturrecht, 1948, S. 43. 289  Heinrich Mitteis, ebd. 290  Walther Schönfeld, Über die Heiligkeit des Rechts, 1957, S. 46. 291  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 150. 292  Helmut Coing, ebd., S. 245. 293  Hermann Weinkauff, Naturrecht und Justiz, in: Die politische Meinung, Heft 71 (1962), S. 21 (33).

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schaftlich dienen, leidenschaftlich für es kämpfen und das Unrecht leidenschaftlich hassen muß, wenn man der Berufung zum Recht folgt.“294

So pathetische Begriffe wie „Leidenschaft“, „Glaube“, „Treue“ und „Hingabe“ transportierten nicht bloß die Forderung nach Engagement für die Gerechtigkeit. Es handelte sich um Begriffe, mit denen sich die Autoren bewusst gegen einen Rationalismus wandten, den sie dem Positivismus zuschrieben. 295 Sie waren das Gegenstück zu Begriffen wie „Technik“ und „Handwerk“, mit denen juristische Tätigkeit im Positivismus beschrieben worden war. Diese Rationalitätskritik ging bei Weinkauff so weit, dass er die „Intuition“ für den Schlüssel zur Erkenntnis des Rechts erklärte:296 „[W]enn die Wissenschaft erklärt, das sei nicht ihre Sache, so mag sie vielleicht […] damit recht haben; dann handelt es sich eben um eine Aufgabe jenseits der Wissenschaft. Derjenige, der das Recht anzuwenden hat, derjenige, der das Recht setzt und derjenige, den es trifft, muß sich jedenfalls dieser Aufgabe stellen, übrigens auch derjenige, der das Recht lehrt.“297

Mit dieser Skepsis gegenüber wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Recht stand Weinkauff alleine. Besonders den Autoren der säkularen Debatte war es ein großes Anliegen, die Wissenschaftlichkeit nichtpositivistischer Rechtslehren aufzuzeigen und damit der Rechtswissenschaft eine Rolle darin zuzuweisen. Doch gerade auch aus ihren Texten geht hervor, dass Gerechtigkeit etwas sei, das im „Rechtsgefühl“ erfahrener Juristen verankert war. Die verbreitete Gegenüberstellung von „Technik“ und „Handwerk“ auf der einen Seite und „Gefühl“ und „Leidenschaft“ auf der anderen war mehr als nur antipositivistische Polemik. Unausgesprochen lag ihr ein Subtext zugrunde, der für die Frage der Konsequenzen, die sich aus den Naturrechtslehren für die neu aufzubauende Rechtsordnung ergaben, von großer Bedeutung war. Die Rede von „Gefühl“, „Leidenschaft“ und „Hingabe“ zeigt, dass Gerechtigkeit als etwas Innerliches angesehen wurde und dass es für ihre Verwirklichung nicht auf Methoden und Verfahren ankommen konnte und sollte. „Technik“ und „Handwerk“ zielten hier nicht bloß gegen ein streng deduktives Rechtsanwendungsschema, wie es dem Positivismus des 19. Jahrhunderts vorgeworfen wurde, sondern beinhalteten eine wesentlich weitergehende Kritik an intersubjektiv einsichtigen Verfahren: Nicht nur der Jurist als „Subsumtionsautomat“ wurde hier abgelehnt, sondern jegliches Nachdenken über transparente und kontrollierbare Methoden der Rechtsanwendung und Entscheidung. Der Juristenstand 294  Max Güde, in: Ansprachen zur Verabschiedung des Präsidenten des Bundesgerichtshofs Dr. h.c. Hermann Weinkauff, 1960, S. 25 (26). 295  Siehe Kapitel 1, S. 31 ff. 296  Hermann Weinkauff, Naturrecht in evangelischer Sicht (1952), S. 210 (212); ders., Über das Widerstandsrecht, 1956, S. 13; ders., Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (1960), S. 554 (557 f.). 297  Hermann Weinkauff, Naturrecht und Justiz (1962), S. 21 (33).

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sollte sich gerade dadurch auszeichnen, dass er auch ohne ein solches Korsett eine gerechte Ordnung garantierte. So erklärt es sich, dass sich die Texte kaum mit der Frage befassten, wie eine der Gerechtigkeit verpflichtete Ordnung institutionell abgesichert werden könne. Stattdessen diskutierten einige Texte, wie gewährleistet werden könne, dass Juristen eine Persönlichkeit herausbildeten, die sie dazu befähigte, gerechte Entscheidungen zu treffen. Zwei Gesichtspunkte spielten dabei eine Rolle: Die Notwendigkeit einer Revision der juristischen Ausbildung wurde in den Naturrechtsschriften immer wieder angesprochen. Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass das Rechtsgefühl durch den Umgang mit dem Recht geschult werde. Die juristische Ausbildung wurde in den Naturrechtsschriften in der Regel nur knapp angesprochen, war aber dennoch quer durch alle Debattenteile präsent. Juristen sollten „hervorragend in der Kenntnis des positiven Rechts ausgebildet und bewandert sein“ und zusätzlich „in gleich vollkommener Weise die Grundlagen der Rechtsphilosophie beherrsch[en]“, so Heinrich Kipp. 298 Auch Weinkauff forderte eine „gründliche rechtsphilosophische Bildung […] und zwar nicht nur durch den Vortrag geschichtlich zurückliegender Lehrmeinungen, sondern durch offenes Angehen der heute brennenden Fragen.“ Juristen dürften nicht „frühzeitig auf irgendein Spezialistentum hin gedrillt werden“, ihnen müsse vielmehr „[d]as allen einzelnen Rechtsgebieten gemeinsame Zentrum des Rechts“ nahegebracht werden.299 Ernst von Hippel schlug vor, eine juristische Propädeutik einzuführen, durch die Studierende „in den beiden ersten Semestern verbunden werden mit eben jener Welt der Werte, welche die höheren Rechtsstufen nährt.“300 Dies bedeute, dass sich Studierende insbesondere mit Fragen der Philosophie und der Theologie vertraut machen sollten. „Da nun die lex divina zunächst von der Theologie bewahrt wird, muß der Jurist insoweit die theologischen Grundwerte kennen, um den Rechtsbereich richtig einordnen zu können.“ Konkret erwog er neben der juristischen Propädeutik, dass Juristen „wenigstens ein philosophisches Proseminar durchgemacht haben sollten, um wahre Jurisprudenz von bloßer Sophistik unterscheiden zu können.“ Sein Schüler Valentin Tomberg formulierte dieses Programm noch detaillierter und forderte zudem, dass bereits im Studium eine Beschäftigung mit Rechtspolitik erfolgen müsse „zum Zwecke einer aus dem Gesamtstudium sich ergebenden Stellungnahme.“301 Hierfür sollten Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sowie „Staatswissenschaft und Politik“ in die Ausbildung einbezogen

298 

Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 116. Hermann Weinkauff, Richtertum und Rechtsfindung (1952), S. 15 (33). 300  Ernst von Hippel, Einführung in die Rechtstheorie, 2.A. 1947, S. 79 f., dort auch das Folgende. 301  Valentin Tomberg, Degeneration und Regeneration der Rechtswissenschaft, 1946, S. 72. 299 

302

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werden.302 Woran er hierbei dachte, konkretisierte er nicht. Er meinte jedenfalls nicht die Politikwissenschaft – diese wurde erst in der Folgezeit an westdeutschen Universitäten als Fach eingeführt.303 Geschichte, Theologie und Philosophie waren die Fächer, welche die Autoren von Naturrechtsschriften zumeist im Blick hatten, wenn sie davon sprachen, dass die juristische Ausbildung um Elemente aus anderen Fächern ergänzt werden müsse. Hierin unterschieden sich die Vorschläge zur Ausbildungsreform, die in den Naturrechtsschriften gemacht wurden, von den Diskussionen, die zwischen Fakultäten und Besatzungsmächten um die gleiche Frage geführt wurden.304 In ihnen stand die Frage im Mittelpunkt, wie Studierende dazu bewegt werden könnten, sich für den Aufbau einer demokratischen Nachkriegsgesellschaft zu engagieren. Ein Bericht über eine Konferenz zwischen Vertretern der juristischen Fakultäten der amerikanischen Zone und der amerikanischen Militärregierung, die 1948 in Wiesbaden stattfand, macht den Kontrast zu den Vorschlägen in den Naturrechtsschriften deutlich. Bücher „über die jüngste deutsche Geschichte“ zu beschaffen, sei für die Arbeit der Fakultäten ebenso wichtig, wie die „Zurverfügungstellung des Nürnberger Prozeßmaterials für Unterrichtszwecke“, heißt es dort. Vorlesungen „über aktuelle politische und sozialwissenschaftliche Themen“ seien nötig, um der bisherigen Tendenz des deutschen Erziehungssystems entgegenzuwirken, „eher ein hohes kulturelles Niveau als die Erziehung zu sozialer Verantwortung“ zu verbürgen. Nicht nur die „Intensivierung des rechtsphilosophischen“, sondern auch des „sozialwissenschaftlichen Unterrichts“ sei hilfreich, um der „politische[n] Enthaltsamkeit“ der Studierenden entgegenzuwirken, die „regelmäßig den Zugang zum politischen Urteil“ verschlösse. 305 In dieser Ausbildungsreformdebatte ging es darum, auf ein „Berufsethos im guten Sinne“306 hinzuwirken – ein Anliegen, dass auch die Autoren der Naturrechtsschriften verfolgten. Die Vorschläge, die zwischen Fakultäten und Besatzungsmächten entwickelt worden waren, nahmen sie dennoch nicht auf. 307 Die Vorstellungen darüber, wie die juristische Ausbildung geändert werden 302 

Valentin Tomberg, ebd., S. 71. eingeführt als „Demokratiewissenschaft“, die Gründungsväter waren Remigranten und Gegner des NS und standen mit wenigen Ausnahmen dem Konservativismus der Naturrechtsbesinnung fern, dazu Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, 2001, S. 265 ff. 304  Zur Reform der Juristenausbildung nach 1945 Überblick bei Joachim Rückert, NJW 1995, 1251–1259. 305  Walter Hallstein, Juristische Fakultäten und amerikanische Militärregierung, SJZ 1948, 215 (216). 306 So Walter Hallstein, SJZ 1948, 215 (216). 307 Anders Josef Esser, 100 Jahre Anklagezustand über die Jurisprudenz, DRZ 1947, 315 (318 f.), der eine Entschlackung des Studienplans von Pflichtvorlesungen und der Prüfungen forderte, da diese den Raum für wissenschaftliche Auseinandersetzungen beschnitten. 303  Dezidiert

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­ üsste, blieben in den Naturrechtsschriften vage. Genauere Entwürfe finm den sich nicht. Es blieb in der Regel dabei, dass die Einbeziehung philosophischer oder theologischer Elemente gefordert wurde. Sofern dies konkretisiert wurde, war an ein studium generale oder eine Propädeutik gedacht. Welche Inhalte genau vermittelt, welche Bücher gelesen und welche Fragen diskutiert werden sollten, explizierten die Verfasser der Texte nicht. Auch die Frage, wie sich diese Fächer in Prüfungen oder gar im Examen niederschlagen sollten, erörterten sie nicht. Nichtsdestoweniger zeigt die Forderung nach einer Revision der juristischen Ausbildung, dass das Berufsethos als etwas angesehen wurde, das angesichts der jüngsten Vergangenheit grundlegend erneuert werden müsse. Juristen in der Nachkriegsgesellschaft sollten sich die Verwirklichung von Gerechtigkeit zur höchsten Aufgabe machen und dem Gesetzgeber im Ernstfall den Gehorsam aufkündigen. So vage die Reformvorstellungen auch blieben, so zeigt ihre Thematisierung in der Naturrechtsliteratur doch, dass ein Defizit gesehen wurde, das erforderte, aktiv auf die Persönlichkeitsbildung einzuwirken. Die Grenzen zwischen nach innen gerichteter Berufsethik und nach ­außen gerichteter Apologie des eigenen Berufsstandes verschwammen allerdings vielfach. In vielen Schriften blieb unklar, ob das, was einen ‚guten Juristen‘ aus­ machen sollte, tatsächlich ausschließlich als Ziel zukünftiger Bemühungen um die Persönlichkeitsbildung von Juristen formuliert wurde, oder ob nicht im gleichen Atemzuge auch gegenwärtige oder zumindest zeitlose Eigenschaften von Juristen behauptet werden sollten. So wurde für die He­rausbildung von Gewissen und Verantwortungsgefühl nicht nur auf die Notwendigkeit einer Revision der juristischen Ausbildung verwiesen, sondern auch darauf, dass schon durch die Beschäftigung mit dem Recht die Persönlichkeit von Juristen und ihr Rechtsgefühl geschult werde. Nicht nur Coing sprach von der „verfeinernde[n], kultivierende[n] Wirkung“ die der Umgang mit dem Recht auf das „sittliche Gefühl des Juristen“ ausübe.308 Auch Esser betonte, dass das Rechtsbewusstsein der „Schulung und Pflege“ bedürfe, „[d]aher das Ideal des abgeklärten Richters, die Gerusie, die alters- und geburtsmäßigen Voraussetzungen des Richter- und Schöffenamtes in allen Zeiten.“309 Dass bereits der Umgang mit dem Recht eine „kultivierende Wirkung“ habe, bedeutete nichts anderes, als dass das Gespür für Gerechtigkeit im Wesen der juristischen Profession liege. Nimmt man die Rede ernst, so hieß dies, dass das Gefühl für Gerechtigkeit etwas war, das nicht völlig neu nach 1945 erlernt wer308  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 249 f. So auch Karl Larenz, Methodenlehre, 1960, S. 191 f. 309  Josef Esser, Einführung in die Grundbegriffe des Rechts und Staates, 1949, S. 34; im gleichen Sinne Hermann Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (1960), S. 554 (557 f.); ders., in: Ansprachen zur Verabschiedung des Präsidenten des Bundesgerichtshofs Dr. h.c. Hermann Weinkauff, 1960, S. 41 (45 f.).

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den musste. Es war vielmehr eine Eigenschaft, die Juristen schon immer ausgezeichnet hatte. Positivismus und politische Einflüsse auf die Jurisprudenz im Nationalsozialismus waren dann ein Intermezzo, das Juristen zwischenzeitlich den Zugang zur Gerechtigkeit verstellt hatte.310 Dies bedeutete, dass mit der Überwindung von Positivismus und nationalsozialistischem Rechtsdenken die Verantwortung für eine gerechte Ordnung wieder unbesorgt dem juristischen Berufsstand anvertraut werden konnte. Die Appelle an Juristen, der Gerechtigkeit zu dienen, waren damit der Ausgangspunkt um zu begründen, dass dem juristischen Berufsstand trotz seiner Verstrickungen in den Nationalsozialismus eine starke Stellung in der zukünftigen Gesellschaftsordnung zukommen solle.

IV. Autorität der Jurisprudenz Tatsächlich begleitete die Forderung nach umfangreichen Kompetenzen für die Jurisprudenz die Naturrechtsdiskussionen von Anfang an. Die Sorge um die gesellschaftliche Anerkennung der eigenen Profession war in der Naturrechtsliteratur omnipräsent, zugleich wurde Anspruch auf gesellschaftliche Einflussnahme erhoben. Vor allem in zwei Topoi kamen sowohl diese Sorge als auch der mit ihr verbundene Anspruch immer wieder zum Ausdruck: in der Klage über die „Vertrauenskrise“, in welcher die Justiz sich befinde, sowie in der Würdigung der angloamerikanischen Rechtsordnung.

1. Eine volksnahe Justiz, eine starke Justiz Quer durch alle Debattenteile wurde beklagt, dass das Volk das Vertrauen in die Justiz verloren habe und die Jurisprudenz alles daran setzen müsse, dieses wiederzuerlangen. Das Recht werde „als etwas Fremdes und Unbekanntes, mit Mißtrauen oder Gleichgültigkeit Aufgenommenes empfunden […], jedenfalls nicht als die wohltätige und allgemein anerkannte Ordnungsmacht, der man sich fraglos und aus innerer Überzeugung beugt und über deren Sinn und grundlegende Normen man sich einig ist“, klagte Weinkauff etwa in einer Rede auf der Berliner Kundgebung des Deutschen Juristentages 1952.311 Erik Wolf, der die Rechtswissenschaft stärker als die Justiz im Auge hatte, stellte etwa zur gleichen Zeit in einem Vortrag fest, dass „im öffentlichen wie im privaten Leben

310  So

sehr deutlich Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 143; Hermann Weinkauff, Richtertum und Rechtsfindung (1952), S. 15 (21); ders., Naturrecht in evangelischer Sicht (1952), S. 210 (212). 311  Hermann Weinkauff, Richtertum und Rechtsfindung (1952), S. 15 (28).

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eine wachsende Gleichgültigkeit und Fremdheit gegenüber der wissenschaftlichen Rechtsbegründung, oft sogar ihre Ablehnung zu merken“ sei.312 Die Sorge, dass es der Jurisprudenz an Vertrauen im Volk fehle, war eng verbunden mit der Frage der Kompetenzverteilung zwischen Gerichten und Gesetzgeber. Als ‚volksnah‘ wurde eine Justiz angesehen, die orientiert am Naturrecht lebensnah und gerecht entschied. Eine solche Justiz brauchte Spielräume gegenüber dem Gesetzgeber. Diese Idee einer volksnahen Justiz war bereits in freirechtlichen Schriften der Jahrhundertwende313 und justizpolitischen Diskussionen der Weimarer Zeit 314 herangezogen worden, um zu begründen, warum es einer starken Justiz bedürfe. Im Nationalsozialismus wurde mit ihr die Forderung abgestützt, dass Recht „lebensnah“ sein müsse.315 Unmittelbar nach 1945 tauchte sie in zahlreichen Texten weit über die Naturrechtsliteratur hinaus wieder auf. Sie spielte eine Rolle in der Diskussion um das Kontrollratsgesetz Nr. 10, wo sie sowohl als Argument für die rückwirkende Strafverfolgung als auch als Argument dagegen verwendet wurde. Darüberhinaus begleitete sie justizpolitischen Diskussionen bis weit in die 1950er Jahre.316

312 

Erik Wolf, Fragwürdigkeit und Notwendigkeit der Rechtswissenschaft, 1953, S. 18. der Nachkriegszeit wurde v. a. zurückgegriffen auf Franz Adickes, Grundlinien durchgreifender Justizreform, 1906. Adickes hatte weitgehende Vorschläge zur Reform der Justiz gemacht, die orientiert am englischen Rechtssystem darauf hinaus liefen, Richter aus dem allgemeinen Beamtentum herauszunehmen, ihre Zahl drastisch zu verringern und im Gegenzug Verfahren zu vereinfachen und Entscheidungsmacht in den Händen „hervorragender und erfahrener Richter“ (S. 114) zu konzentrieren. Die Volksnähe der Justiz war ein tragendes Argument für seine Reformvorstellungen (z.B. S. 124). 314  Ausführlich beschrieben und begründet wurde die „Vertrauenskrise“ bei Eugen Schiffer, Die deutsche Justiz, 1928, insbesondere in den Kapiteln „Die Augenblickskrise der deutschen Justiz“, S. 1 ff. sowie „Die Dauerkrise der deutschen Justiz“, S. 60 ff. Dort wird deutlich, dass das Argument der „Vertrauenskrise“ in der Weimarer Zeit beidseitig angewandt werden konnte: Einerseits kritisierten demokratisch gesinnte Politiker mit ihm die Republikfeindlichkeit der Richterschaft. Andererseits wurde eben diesem Vorwurf entgegen gehalten, die Politik schüre eine „Vertrauenskrise“, indem sie die Justiz öffentlich kritisierte und ihre Kontrolle bspw. durch die Absetzbarkeit von Richtern forderte, so auch Schiffer selbst (S. 9 ff., insbesondere S. 15, nach 1945 im gleichen Sinn Karl S. Bader, Die deutschen Juristen, 1947, S. 13). Wie Adickes sah auch Schiffer in einer starken Justiz die Lösung der Vertrauenskrise, wobei er sich anders als Adickes nicht nur mit der Gerichts- und Prozessorganisation beschäftigte, sondern auch mit der Frage der Gesetzesbindung. Er forderte den „Abbau der Gesetzgebung“ (S. 390) auf Grundlage einer Mischung aus liberalen Argumenten (S. 390 ff.) und einer nationalkonservativen Vorstellung und war der Auffassung, dass Recht der Tradition stärker verpflichtet sei als dem Willen des Gesetzgebers (S. 399 ff.). 315  So für die rechtshistorische Literatur des NS Andrea Nunweiler, Das Bild der deutschen Rechtsvergangenheit und seine Aktualisierung im „Dritten Reich“, 1996, S. 213 ff. 316  Siehe für die das Grundgesetz begleitenden Diskussionen v. a. Verhandlungen des 37. Deutschen Juristentages in Köln am 17. September 1949, 1950. Das Buch von Eugen Schiffer „Die deutsche Justiz“ (Fn. 314) wurde 1949 neu aufgelegt. Die Ausführungen zur Vertrauenskrise ergänzte er um die Erfahrung des Nationalsozialismus und schrieb weite Teile völlig neu. Er setzte sich insbesondere auch mit den Anforderungen an eine demokratische Justiz aus313  In

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Die Beschreibungen dessen, was die „Vertrauenskrise“ ausgelöst hatte, waren in den Naturrechtsschriften unterschiedlich, ebenso die Rezepte zu ihrer Behebung. Teilweise wurde sie als Dauerproblem der Rechtsgeschichte angesehen, das dadurch verschärft worden sei, dass die Justiz dem nationalsozialistischen Gesetzgeber nichts entgegen zu setzen gehabt habe. Teilweise sahen die Autoren auch in den Wirren der Nachkriegszeit und dem Besatzungsrecht eine Ursache dafür, dass sich die „Vertrauenskrise“ zugespitzt habe. Eine Minderheit sah die „Vertrauenskrise“ ausgelöst durch die politische Justiz des Kaiserreichs und der Weimarer Republik sowie die aktive Verstrickung der Juristen im Nationalsozialismus.317 In allen Fällen stellte der Topos der Volksnähe ein Verbindungsglied zwischen Naturrechtsbegründung und der Frage nach den Aufgaben und der Stellung von Justiz und Jurisprudenz in der zukünftigen Gesellschaft dar. Die Vertrauenskrise, deren Existenz zwar nie belegt, die aber auch nur selten angezweifelt wurde,318 könne nur überwunden werden durch die „Wiederverankerung des Rechts in der Sittlichkeit“319, heißt es bei Süsterhenn. Auch Erik Wolf betonte, dass die Jurisprudenz nur dann anerkannt werde und Anerkennung verdiene, wenn sie „die bloße Positivität historisch vorkommenden Rechts auf seine echte Verbindlichkeit hin“ prüfe, „um dahin zu wirken, daß nichts faktisch gilt, was nicht auch ethisch verpflichtet.“320 Das Misstrauen des Volkes gegenüber Justiz und Rechtswissenschaft war also synonym mit der Entfernung der Jurisprudenz vom Naturrecht. Die „Überzeugungen des Volkes“ stellten dementsprechend einen immer wiederkehrenden Topos zur Abstützung naturrechtlicher Normen dar. Das Volk war in dieser Vorstellung unbefleckt und rein, es hatte einen unverstellten Zugang zu Fragen der Gerechtigkeit. 321 Die Nähe zum Volk adelte die Jurisprudenz. einander sowie teils kritisch, teils affirmativ mit der Justizpolitik der sowjetischen Zone, in der er bis 1950 lebte und von 1945 bis 1948 als Präsident der Zentralverwaltung für Justiz tätig war. 317  So etwa Georg August Zinn, Die Rechtspflege im Bonner Grundgesetz, in: Verhandlungen des 37. Deutschen Juristentages in Köln am 17. September 1949, 1950, S. 46 (48); Kurt Oppler, Justiz und Politik, DRZ 1947, 323–326; Adolf Süsterhenn, Volk und Justiz (1948), in: Schriften, 1991, S. 182 (183); ders., Volksnahe Justiz (1949), in: Schriften, 1991, S. 282 (283). 318  In der Naturrechtsliteratur so weit ersichtlich überhaupt nicht, anders in der Diskussion um die Reform der Justiz: Fritz Baur und Herbert Ruscheweyh meldeten Zweifel an der Prämisse, es gebe eine Vertrauenskrise, in der internen Diskussion der Kommission zur Großen Justizreform an, Nachweise bei André Book, Die Justizreform in der Frühzeit der Bundesrepublik, 2005, S. 85 f. 319  Adolf Süsterhenn, Volk und Justiz (1948), in: Schriften, 1991, S. 182 (184). 320  Erik Wolf, Fragwürdigkeit und Notwendigkeit der Rechtswissenschaft, 1953, S. 19. 321  Besonders deutlich wird diese Vorstellung bei Hermann Weinkauff, Naturrecht in evangelischer Sicht (1952), S. 211 (212): „In der Geschichte der Menschheit hat ganz überwiegend nicht der besondere staatliche Gesetzgeber das Recht erzeugt. Vielmehr hat es überwiegend das Volk unwillkürlich als Gewohnheitsrecht geübt oder hat es der Richter, etwa der römische Prätor oder der germanische Schöffe oder der Richter des angelsächsischen Common Law, im Einzelfall gefunden.“

C. Der ‚gute Jurist‘ als Garant gegen erneutes Unrecht

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Doch nicht nur die Juristen hatten sich vom Volk entfernt. Auch dem Volk selbst wurde zuweilen „Rechtsfremdheit“, ja „Rechtsfeindschaft“ vorgeworfen.322 Die Aufgabe der Jurisprudenz war es dann, diesem Volk ein Vorbild zu sein und erneut Orientierung zu geben. So wurde in der Tat verschiedentlich die erzieherische Wirkung des Naturrechts betont. Nicht nur die Persönlichkeitsbildung der Juristen sollte sich also am Naturrecht vollziehen, dieses sollte auch den Stoff liefern, um das Rechtsbewusstsein des Volkes zu schärfen. Die Aufgabe der Jurisprudenz sei es, „die Achtung vor der Majestät des Rechts“ wieder zu wecken, so Mitteis.323 Zugleich diente die Idee, dass sich das Volk vom Recht entfernt habe, der Entlastung der Justiz angesichts ihrer Verstrickungen in die nationalsozialistische Herrschaft. Die Rechtsprechung habe sich nicht auf „einen Kern von grundlegenden Rechtsvorstellungen“ stützen können, „die jedermann im Volk als für alle verbindlich angesehen hätte, weil es solche im tiefsten Grunde gemeinsame letzte Rechtsüberzeugungen im deutschen Volk nicht gab“324, schrieb Weinkauff. Und auch Süsterhenn merkte an, dass „das Richtertum als Ganzes […] letztlich ein Spiegelbild der Stärken und Schwächen des Volkes“ sei. „Nichts wäre unrichtiger als die Vorstellung, Volk und Justiz seien zwei verschiedener Gesetzlichkeit unterworfene Bereiche, von denen der eine denen des anderen völlig gegenläufige Werte entwickeln könnte.“325 Juristen wurden für ihre Volksferne kritisiert, das Volk für seine Rechtsferne. So widersprüchlich beide Elemente auf den ersten Blick erscheinen, so kohärent war doch die Rolle von Juristen, die als erstrebenswert beschrieben wurde. Richter sollten in ihrer Orientierung auf eine objektive Gerechtigkeit Vorbilder für das Volk sein und diesem Vertrauen in das Recht geben. Das aber konnten sie am besten, wenn sie in den herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen verwurzelt waren. Eine Jurisprudenz, für die eine solche Verpflichtung auf objektive Werte und Gerechtigkeitsvorstellungen des Volkes keinen Spagat darstellte, war eine, die auf ‚lebensnahe‘ Einzelfallgerechtigkeit ausgerichtet war. Die Rede, dass Juristen nicht bloß „Handwerker“ und „Techniker“ sein sollten, sondern ihren Beruf getragen von „Glauben“ und „Leidenschaft“ ausüben sollten, stand in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Aufgabenbeschreibung: Die Bindung an gesetzgeberische Wertungen sollte zurücktreten, denn Gerechtigkeit im Einzelfall zu verwirklichen verlangte Spielräume und Gestaltungsmacht für die Jurisprudenz. Tatsächlich finden sich quer durch alle Debattenteile Hinweise, dass die Justiz stärker rechtschöpferisch tätig sein dürfen solle, um Gerechtigkeit „lebensnah“ und am Einzelfall zu verwirklichen. 322 

Heinrich Mitteis, Über das Naturrecht, 1948, S. 43. Heinrich Mitteis, ebd. 324  Hermann Weinkauff, Richtertum und Rechtsfindung (1952), S. 15 (21). 325  Adolf Süsterhenn, Volksnahe Justiz (1949), in: Schriften, 1991, S. 282 (284). 323 

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

2. Gerechtigkeit durch Richterrecht: Angloamerikanisches Recht als Vorbild Die Frage der Kompetenzverteilung zwischen Gesetzgeber und Gerichten wurde in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre nur in der rechtspraktischen Debatte in den Mittelpunkt gerückt. Dabei ging es nicht um richterliche Rechtsschöpfung, sondern um die Interventionsmöglichkeiten der Gerichte im Ausnahmefall des gesetzlichen Unrechts. Erst Mitte der 1950er Jahre, auf dem Höhepunkt der Literaturproduktion der säkularen Debatte, rückte die Frage der Rechtsschöpfung durch die Gerichte in das Zentrum der Diskussion. Tatsächlich war sie jedoch von Anfang an präsent. Sie wurde begleitet von einer auch über die Naturrechtsdebatten hinaus in der juristischen Literatur verbreiteten Bezugnahme auf das angloamerikanische Recht.326 Wenn in der Naturrechtsliteratur das angloamerikanische Recht angesprochen wurde, wurde die starke Stellung des Richters als Korrelat zu einer grundsätzlichen Offenheit gegenüber überpositivem Recht angesehen. „Die Machtstellung des ‚erkennenden‘ Richtertums (im Gegensatz zur willensmäßigen Setzung des Rechts durch den Gesetzgeber) in angelsächsischen Staaten beruht letztlich auf der philosophischen Ansicht, daß Gesetz Vernunft, nicht Wille sei“, heißt es etwa bei Rommen.327 Das Prinzip der „Equity“ sichere „dem Naturrecht neben und über dem streng positiven Common Law den notwendigen Einfluß“, schrieb in ähnlichem Sinne Kipp.328 Weinkauff, der selbst 326  So z.B. Eduard Wahl, Rechtsgeschichtliche und rechtsvergleichende Betrachtungen zur Stellung der Gerichte, SJZ 1947, Sp. 289–295, der die richterlichen Privilegien des englischen Richters hervorhob. Sie sicherten dessen Unabhängigkeit und seien notwendiges Korrelat zu der Verantwortung, die englische Richter „als verfassungsmäßige Gegenspieler“ des Parlaments trügen; Gerhard Erdsiek, Betrachtungen zum englischen und deutschen Rechtsdenken, MDR 1947, 192 f. stellte fest, dass durch die Gesetzesorientierung in Deutschland anders als in England der „Verantwortungssinn für das eigene Gemeinwesen“ verkümmert sei. Es sei „nicht zur Bildung einer echten öffentlichen Meinung als Volkskörper des allgemeinen Rechtsgewissens und nicht zu einer kritischen Haltung gegenüber dem staatlichen Gesetz“ gekommen; Karl S. Bader, Die deutschen Juristen, 1947, S. 17 merkte an, in England würde „die Nachlässigkeit, wie man in deutschen Blättern vielfach vom Richter spricht, nicht viel anders empfunden denn als Majestätsbeleidigung.“ Völlig anders Ernst Wolff, Freiheit und Gebundenheit des englischen Richters, in: Tagung deutscher Juristen Bad Godesberg, 1947, S. 103–126, der die Gebundenheit der englischen Richter betonte und forderte, dem englischen Vorbild folgend die Ermessensfreiheit deutscher Gerichte einzuschränken, da diese ein Einfallstor für Ideologien darstelle. Wie der Topos der Volksnähe, so war auch dieser Rückgriff auf das anglo-amerikanische Vorbild im Zusammenhang mit justizpolitischen Fragen nach 1945 nicht neu. In der freirechtlichen Literatur findet sich dies ebenfalls, so bei Franz Adickes, Grundlinien durchgreifender Justizreform, 1906, S. 44 f., 50 ff. 327  Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A.1947, S. 46; ähnlich Heinrich Mitteis, Über das Naturrecht, 1948, S. 40; Georg Stadtmüller, Naturrecht im Lichte der geschichtlichen Erfahrung, 1948, S. 24. 328  Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 116.

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1949/50 in die USA gereist war,329 zögerte von einem naturrechtlichen Charakter des angloamerikanischen Rechts zu sprechen. Auch er betonte aber die Nähe: „Gleichwohl handelt es sich bei jenem Block gemeinsamer rechtlicher Grundüberzeugungen um etwas, das demjenigen verwandt ist, was die heutige deutsche Rechtsphilosophie mit einem gewissen gewollten Widerspruch in sich selbst als Naturrecht mit wechselndem Inhalt oder als geschichtlich gebundenes Naturrecht bezeichnet, als Summe der tragenden Rechtsüberzeugungen einer großen Kulturepoche.“330 Die Faszination des angloamerikanischen Rechts entsprang gerade nicht der Suche nach einem Vorbild für die Nichtigerklärung gesetzlichen Unrechts durch die Gerichte. Sie speiste sich vielmehr aus dem Bedürfnis, das Verhältnis zwischen Gesetzgeber und Gerichten auch jenseits dieses Extremfalls anders zu denken. Die angloamerikanische Jurisprudenz wurde dann herangezogen, wenn die Bedeutung des Naturrechts für ‚alltägliche‘ Rechtsanwendung thematisiert wurde. Im Wege der Billigkeitsrechtsprechung vollzögen sich dort „Evolutionen, die das Naturrecht innerhalb des positiven zur Geltung bringen“, wobei die Billigkeit „durchaus nicht etwas vom Recht Verschiedenes“ sei, sondern „Recht in Hochform, sie ist die vollste Konsequenz in der Verfolgung der Gerechtigkeitsidee.“331 Das angloamerikanische Recht diente als Vorbild für eine Rechtsordnung, die sich auf die Realisierung von lebensnaher Gerechtigkeit im Einzelfall konzentrierte. „Der Richter soll Einzelfälle auf Grund allgemeiner positiver Normen gerecht entscheiden“332, so Coing mit Verweis darauf, dass dies nirgends treffender zum Ausdruck gebracht worden sei als mit der Devise „Equal Justice under Law“ am Gebäude des US-amerikanischen Supreme Court. Man habe sich dort das Gefühl dafür bewahrt, schrieb Weinkauff, „daß man das Recht weitgehend nicht macht, sondern findet, und daß es am sinnvollsten, und zwar nicht allgemein, sondern im Einzelfall, von dem mit der Handhabung des Rechts am besten vertrauten Richter gefunden wird.“333

329 

Daniel Herbe, Hermann Weinkauff (1894–1981), 2008, S. 83 f. Hermann Weinkauff, Richtertum und Rechtsfindung (1952), S. 15 (19); auch Walter G. Becker, der auf der gleichen Tagung einen Vortrag über „Das Common Law als Methode der Rechtsfindung“ hielt, betonte dass das Common Law in methodischer Hinsicht „konservatives Naturrecht“ sei. Es handele sich nicht um ein „revolutionäres Naturrecht“, das Entscheidungen contra legem legitimiere, es sei vielmehr auf „Rechtssetzung praeter legem“ gerichtet. Damit ähnele es den Figuren der „Natur der Sache“ und des „natürlichen Rechtsempfinden“, in: Berliner Kundgebung 1952 des Deutschen Juristentages, 1952, S. 37 (51). Becker sah eben dieses Rechtsverständnis als fruchtbar an und brachte es mit der freirechtlichen Tradition in Verbindung, S. 57. 331  Heinrich Mitteis, Über das Naturrecht, 1948, S. 39 f. 332  Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 245. 333  Hermann Weinkauff, Richtertum und Rechtsfindung (1952), S. 15 (19); mit gleichem Ergebnis argumentierte er auch mit dem römischen und dem germanischen Recht, in: Naturrecht in evangelischer Sicht (1952), S. 210 (212). 330 

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

Bereits in der Frühphase der Naturrechtsdebatte deutete sich also an, dass die „Überwindung des Positivismus“ nicht nur eine Verständigung über die Geltungsgrenze positiven Rechts bedeutete. Auch wenn zunächst oft eher beiläufig als eine Konsequenz aus dem Naturrecht angesprochen,334 zeigen sich doch von Anfang an Tendenzen, die Diskussion um Naturrecht mit der um gesellschaftliche Autorität und Einfluss der Jurisprudenz zu verbinden und stärker rechtsschöpferische Gerichte zu fordern. Das Verhältnis zwischen Justiz und Gesetzgeber wurde in der Naturrechtsliteratur damit von Anfang an zwei­gleisig gedacht: Zum einen sollte die Justiz Gesetzesrecht am Maßstab des Naturrechts überprüfen dürfen. Zum anderen sollten die Gerichte naturrechtliche Wertungen in der Einzelfallentscheidung berücksichtigen. Beide Zugriffe stützten sich auf die Idee einer volksnahen Justiz: Eine volksnahe Justiz müsse sich sowohl gesetzlichem Unrecht entgegenstellen als auch lebensnahe und gerechte Entscheidungen im Einzelfall treffen, die zwar am positiven Recht orientiert seien, naturrechtliche Wertungen aber nicht aussparen sollten. Süsterhenn brachte diesen Zusammenhang zwischen Vertrauenskrise, Naturrecht und starker Justiz in konzentrierter Form auf den Punkt: „Die Wiederverankerung des Rechts in der Sittlichkeit ist somit die erste Voraussetzung für die Festigung des Vertrauens in die Justiz. Dabei muß allerdings der Richter verfassungsmäßig so gestellt werden, daß er nicht wie bisher eine reine Gesetzesanwendungsmaschine darstellt, die den festgestellten Tatbestand bloß unter die gesetzte Norm zu subsumieren hat, sondern es muß auch seinem Gewissen der nötige Spielraum gewährt werden, damit er in Freiheit und Unabhängigkeit prüfen kann, ob die vom Staate gesetzte Rechtsnorm der Rechtsidee, d.h. den Forderungen des natürlichen Sittengesetzes entspricht. Über das Prüfungsrecht hinaus muß der Richter auch in der Handhabung des Rechts eine gewisse Bewegungsfreiheit erhalten, die ihm gestattet, den Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung zu tragen und gegenüber der formalen Strenge des Gesetzes den Gesichtspunkt der Billigkeit zu berücksichtigen. Damit soll keineswegs auf das hohe Gut der Rechtssicherheit verzichtet, sondern lediglich dem Richter die Möglichkeit gegeben werden, von den Buchstaben der Jurisprudenz zu dem im ethischen Sinne ‚richtigen‘ Recht vorzustoßen.“335

3. Überlappungen: Die Naturrechtsdebatten und die Diskussion um die „Große Justizreform“ Diese Forderung nach einer starken, schöpferischen Justiz verband Autoren, die sich in ihrer Haltung zur Naturrechtsfrage durchaus unterschieden. Sie findet sich bei Süsterhenn und Weinkauff, für die das Naturrecht religiös begründetes echtes Recht war, das im Konfliktfalle dem positiven Recht vorging. Sie wurde 334  So

z.B. bei Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2.A. 1947, S. 259 f.; Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 115 f.; Heinrich Mitteis, Über das Naturrecht, 1948, S. 39 f. 335  Adolf Süsterhenn, Volk und Justiz (1948), in: Schriften, 1991, S. 182 (184 f.).

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aber auch von Juristen formuliert, die dem Naturrecht skeptisch gegenüber standen und sich an den Naturrechtsdebatten nicht beteiligten. Die Forderung nach einer starken Justiz findet sich damit auch außerhalb der Naturrechtsliteratur: Sie begleitete die Diskussionen um das materielle Prüfungsrecht, um die Laienbeteiligung, die Richteranklage und schließlich die Diskussionen um das neu zu schaffende Richtergesetz in den 1950er Jahren. Diese justizpolitischen Diskussionen berührten sich mit den Naturrechtsdebatten, ohne dass die eine Teil der anderen geworden wäre. Rechtsphilosophische Fragen wurden in den justizpolitischen Diskussionen nicht vertieft. Anders als in der Naturrechtsliteratur argumentierten die Beteiligten hier von Anfang an stark mit dem Rechtsstaat und den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung der Justiz. Mit den Naturrechtsdebatten überlappten sich die justizpolitischen Diskussionen allerdings dennoch in verschiedener Hinsicht: Auch in ihnen spielte die Berufsethik eine zentrale Rolle um zu begründen, welche Position Juristen in der Gesellschaft einnehmen sollten. Volksnahe Gerichte erschienen auch hier als Ideal. Der starke Richter des angloamerikanischen Rechts spielte auch hier für die Argumentation eine Rolle, ebenso eine oft diffus religiös, naturrechtlich oder kulturrechtlich fundierte Vorstellung einer über das positive Recht hinaus gehenden Gerechtigkeitsbindung der Gerichte. Nur vereinzelt wurde die Erneuerung richterlicher Ethik und eine damit einhergehende Veränderung der gesellschaftlichen Stellung der Gerichte offensiv in Kontrast und als Alternative zur Naturrechtsbesinnung diskutiert: Radbruch sah eben hierin eine Möglichkeit zur Überwindung des Positivismus, ohne sich den Gefahren auszuliefern, welche die Naturrechtslehre für die Rechtssicherheit darstellte, wie er in der zweiten Auflage des Buches „Der Geist des englischen Rechts“ in Reaktion auf erste Kritiken deutlich machte.336 Auch hinsichtlich der justizpolitischen Vorschläge berührten sich beide Diskussionen: Sie liefen Mitte der 1950er Jahre zusammen, als sich im Zuge der Schaffung des Deutschen Richtergesetzes Stimmen mehrten, die eine umfassende „große Justizreform“ forderten. Der Wiederaufbau der Justiz nach 1945 hatte sich etappenweise vollzogen. Zunächst galt es, die Strukturen der Justiz

336  Gustav Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, 2.A. 1947, S. 64–68. Er schloss sich hier der Kritik an der 1. Aufl. an, die der Rezensent Gerhard Erdsiek in DRZ 1946, 195 f. formuliert hatte. Erdsiek hatte angemerkt, dass sich im englischen Rechtsdenken der Gegensatz zwischen Gerechtigkeit und Rechtssicherheit nicht stelle, da das Recht in der Tradition verankert sei. „Englischer Rechtspositivismus“ bedeute, „Bejahung des Rechts (des geltenden Common Law), nicht Bejahung des Gesetzes. Hier ist noch etwas von der außerhalb des angelsächsischen Rechtskreises fast verloren gegangenen Vorstellung lebendig, daß das Recht, wie Sprache und Sitte jenseits unseres Willens langsam entstehend, unlösbar an den Tatumständen des Einzelfalles hängt, und daß das verallgemeinerte Gesetz es ebenso verfehlen muß wie der gewaltsame Eingriff des Revolutionärs.“

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überhaupt wieder aufzubauen. 337 Sodann musste der verfassungsrechtliche Rahmen für die Justiz geklärt werden und die damit zusammenhängenden Einzelfragen wie das materielle Prüfungsrecht, die Etablierung des Bundesverfassungsgerichts und die Richteranklage. Zugleich wurden mit dem Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit von 1950 in der Bundesrepublik die Gerichtsverfassung und das Prozessrecht der Weimarer Zeit weitgehend wieder in Kraft gesetzt.338 Obgleich im Zuge der Verhandlungen zum Grundgesetz davon die Rede war, dass ein grundlegend „neuer Richtertyp“339 geschaffen werden müsse, ließ eine umfassende Reform der Justiz auf sich warten. Schon ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der Deutschen Richterzeitung oder in die Tagungsprogramme Deutscher Juristentage zeigt, dass sich bereits Anfang der 1950er Jahre Unmut hierüber breit zu machen begann. Die engagiertesten Vertreter der „Großen Justizreform“ waren solche, die auch als Verfasser von Naturrechtsschriften in Erscheinung getreten waren. Als das Bundesjustizministerium 1955 eine Kommission einsetzte, die konkrete Vorschläge erarbeiten sollte, gehörten ihr unter anderem Hermann Weinkauff und Helmut Coing an.340 Bald stellte sich heraus, dass sie neben den Ministerialbeamten Otto Bleibtreu und Erich Hornig eine Minderheit in der Kommission darstellten, die eine grundlegende Neuordnung der Justiz anstrebte. Die Mehrheit setzte sich am Ende mit einer Summe kleinerer Reformen durch.341 Weinkauff schied zwei Jahre vor Abschluss der Arbeiten aus, da er keine Chance sah, seine Forderungen durchzusetzen,342 Coing folgte seinem Beispiel ein Jahr später.343 337 Hierzu

Michael Stolleis, in: Norbert Horn (Hg.), Europäisches Rechtsdenken, Bd. 1, 1982, S. 383–408. 338  André Book, Die Justizreform in der Frühzeit der Bundesrepublik, 2005, S. 74. 339  Georg August Zinn, Die Rechtsprechung, DÖV 1949, 278 (280). 340  Daneben zunächst Ernst Wolff und nach dessen Tod 1959 Herbert Ruscheweyh als Vorsitzende, sowie Fritz Baur, Prof. für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht an der Univ. Tübingen; Eduard Boetticher, Prof. für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und Arbeitsrecht an der Univ. Hamburg; Otto Bleibtreu, Staatssekretär im nordrheinwestfälischen Justizministerium bis 1956, anschließend Staatssekretär in der dortigen Staatskanzlei; Georg Feyock, Notar; Erich Gerner, Prof. für römisches, antikes und bürgerliches Recht an der Univ. München; Bruno Heusinger, Präsident des OLG Celle; Erich Hornig, Niedersächsiches Justizministerium; Theodor Keidel, Richter am Bayrischen ObLG; Hans Merkel, Vorstandsmitglied im Deutschen Anwaltsverein; Heinz Mohnen, Präsident des Landesarbeitsgerichts Hamms, ab 1957 des Amtsgerichts Köln; Georg Petersen, Ministerialdirektor im Bundesjustizministerium; Oskar Weber, Notar; Bernhard Wieczorek, Rechtsanwalt beim BGH. Ausführlichere biographische Hinweise bei André Book, Die Justizreform in der Frühzeit der Bundesrepublik, 2005, Anhang 2, S. 309 ff. 341  Zum ganzen ausführlich unter Auswertung der Protokolle der Sitzungen und interner Schreiben André Book, Die Justizreform in der Frühzeit der Bundesrepublik, 2005. Zur Position Weinkauffs und dessen Rolle in der Kommission auch Daniel Herbe, Hermann Weinkauff, 2008, S. 244 ff. 342  Zu Aktivitäten Weinkauffs in der Kommission und seinem Rückzug Daniel Herbe, ebd., S. 246 ff. 343  André Book, Die Justizreform in der Frühzeit der Bundesrepublik, 2005, S. 276 ff.

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Die „Große Justizreform“ wie Weinkauff sie sich vorstellte, orientierte sich an Vorschlägen, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Gefolge der Freirechtsbewegung von Franz Adickes gemacht worden waren.344 Dieser hatte gefordert, dass die Justiz aus dem staatlichen Beamtenapparat herausgelöst werden müsse, um ihr „Autorität, Kraft und Würde zu verleihen“.345 Weinkauff hielt sich daran und erklärte das angelsächsische Gerichtssystem zum Vorbild.346 Seine Vision war es „binnen einer bemessenen Zeit […] eine genügende Anzahl starker, selbstbewußter, lebenserfahrener und nur dem Recht verpflichteter Richterpersönlichkeiten, die der persönlichen Ausstrahlung auf die Rechtsgenossen fähig und zum aktiven Widerstand aus eigener Kraft gegen die totalitäre Bedrohung des Rechts imstande wären“347 zu berufen. Hierzu müsse die in die verschiedenen Zweige der Gerichtsbarkeit geteilte Justiz vereinigt und ein gemeinsames oberstes Gericht geschaffen werden. Zugleich forderte er weniger, dafür aber umso höher qualifizierte und höher gestellte Richter/innen. „Richter des neuen Typs“ könne nur werden, wer über ausreichend Lebenserfahrung verfüge und sich bereits „anderwärts im Rechtsleben bewährt“ habe. Dafür solle er gleich eine „Lebensstellung“ erhalten, also „keine beamtenmäßige Laufbahn vor sich“ haben und deutlich besser bezahlt werden. Der „Kampf gegen beginnendes totalitäres Unrecht“ könne nicht „einem Richterstand anvertraut werden […], der so organisiert ist wie in der Weimarer Zeit und in der Gegenwart, also massenhaft, beamtenmäßig und schlecht bezahlt.“348

344 

Franz Adickes, Grundlinien durchgreifender Justizreform, 1906. Franz Adickes, ebd., S. 6. 346  Dazu mit Nachweisen Daniel Herbe, Hermann Weinkauff, 2008, S. 244 ff., 259 f. 347  Hermann Weinkauff, Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, 1968, S. 187 f. Weitgehend inhaltsgleich bereits früher: Warum und wie Große Justizreform?, in: JuristenJahrbuch 1 (1960), S. 3–27. 348  Hermann Weinkauff, Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, 1968, S. 184 f. Weinkauff verknüpfte seine justizpolitischen Forderungen mit der Erfahrung des NS und stützte sie maßgeblich mit der Positivismusthese ab, die der Entlastung der Justiz nach 1945 gedient hatte. Hierzu Joachim Rückert, in: Horst Möller/Udo Wengst (Hg.), 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte, 1999, S. 181 (185 ff.) sowie Daniel Herbe, Hermann Weinkauff, 2008, S. 260 ff. Tatsächlich diente die Forderung nach Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz in der Diskussion um die Justizreform allerdings auch dazu, NS-Richter, die nach 1945 im Amt geblieben waren, zu schützen. Angesichts der „Blutrichterkampagne“ der SED und der Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) wurde Ende der 1950er Jahre erneut nach einer Lösung im Umgang mit belasteten Richtern gesucht. Diese Frage spielte eine erhebliche Rolle in den Beratungen über die Justizreform 1959–1961. Neben der Unabhängigkeit der Gerichte war auch die richterliche Berufsethik ein zentrales Argument, um abzuwenden, dass eine Regelung getroffen würde, durch die belastete Richter aus dem Dienst entlassen würden. Das 1961 verabschiedete Richtergesetz sah schließlich eine freiwillige Lösung vor: Belastete Richter wurden aufgefordert, in Pension zu gehen, zum Ganzen Dieter Gosewinkel, in: Norbert Frei u.a. (Hg.), Geschichte vor Gericht, 2000, S. 60–71. 345 

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Insgesamt spielten naturrechtliche Argumente in der Diskussion um die „große Justizreform“ eine geringe Rolle. Weinkauffs Argumentation blieb allerdings eng mit der naturrechtlichen verbunden. Durch die Einheit der Justiz erhoffte er sich „ein einheitliches richterliches Bewußtsein, ein einheitliches Berufsethos und eine einheitliche rechtliche Grundanschauung im gesamten Richtertum“.349 Dass es sich bei dieser einheitlichen Grundanschauung um eine naturrechtlich fundierte handeln sollte, stand außer Frage. „Gerade in unserer Zeit, die sich durch eine Anarchie der Werte kennzeichnet, wie sie noch selten da war, in unserer Zeit, in der die sittlichen und rechtlichen Grundanschauungen, ich meine die gemeinsamen sittlichen und rechtlichen Grundanschauungen praktisch nicht mehr vorhanden sind, gerade in einer solchen Zeit muß wenigstens in den Gerichten ein einheitlicher richterlicher Geist erstrebt werden […].“350 Coing hingegen, der in seinen Forderungen Weinkauff sehr nahe war und ebenfalls einen „eindrucksvollen obersten Gerichtshof“351 forderte, hatte sich in der Zwischenzeit von der naturrechtlichen Argumentation gelöst. In den Aufsätzen, die er in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zu der „Großen Justizreform“ veröffentlichte argumentierte er – wie auch die übrigen Beteiligten – mit dem Grundgesetz und dem Rechtsstaatsgedanken.352 Die Justiz müsse „unabhängig und politisch stark“ sein. Nur so könne sie ihre Aufgabe erfüllen, zu garantieren, dass die „gesellschaftlichen und politischen Kräfte sich frei, jedoch unter Einhaltung einer ein für allemal festliegenden verfassungsmäßigen Ordnung, entfalten können“. Auch er hielt hierfür eine „Befreiung und Stärkung der Einzelpersönlichkeit im Richtertum“ für nötig. Von „sittlichen Werten“ ist jedoch keine Rede mehr. Stattdessen betonte er die Bedeutung der Gesetzesbindung in modernen Demokratien und die Notwendigkeit, subjektive Rechte der Bürger/innen gerichtlich zu schützen. Die Diskrepanz zu der Suche nach der wissenschaftlichen Begründung des Naturrechts, wie er sie in „Die obersten Grundsätzen des Rechts“ zehn Jahre zuvor vorgenommen hatte, könnte deutlicher nicht sein: „Die Tendenz, eine umfassende richterliche Kontrolle zu entwickeln […] entspricht einer allgemeinen Entwicklung des Verfassungslebens in der Welt der freien Staaten. Diese Tendenz ist tief in allgemeinen Entwicklungen des modernen öffentlichen Lebens verwurzelt. Im modernen Staat stellt die Majorität die Regierung. Parlamentsmehrheit und Regierung sind daher identisch, und die Kontrolle, die das Parlament gegenüber dieser Regierung ausübt, ist daher nicht mehr so wirksam wie einst, als die Regierung von den Fürsten 349 

Hermann Weinkauff, Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, 1968, S. 185. Weinkauff in der Diskussion um die Zusammenfassung der Zweige der Rechtsprechung auf dem 42. Deutschen Juristentag am 13.9.1957 in Düsseldorf, S. E 78. 351  Helmut Coing, Der Aufbau der rechtsprechenden Gewalt zum Nutzen des Volkes, DRiZ 1956, 241 (246). 352  Helmut Coing, DRiZ 1956, 241–246; ders., Die Dritte Gewalt, DRiZ 1958, 280–282. 350 So

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ernannt wurde, so daß Parlamentmehrheit und Regierung oft in einem echten Gegensatz standen. Aber es kommt noch ein anderes, viel allgemeineres Moment hinzu. Je mehr wir lernen, Naturvorgänge und vor allem auch wirtschaftliche Abläufe zu beherrschen, desto größere Bedeutung kommt menschlichen Entscheidungen zu. Desto wichtiger ist es aber auch, daß diese Entscheidungen nicht willkürlich ergehen, sondern in der Bindung an das Gesetz, das sich das Gemeinwesen gegeben hat, und unter Kontrolle von unabhängigen Richtern, die darüber wachen, daß derjenige, der entscheidet, sich mit seiner Entscheidung im Rahmen der Gesetze bewegt und die Rechte des einzelnen Bürgers respektiert.“353

V. Fazit Die Diskussion um die „Große Justizreform“ wurde nur partiell mit naturrechtlichen Argumenten geführt. Ende der 1950er Jahre, als sie sich auf ihrem Höhepunkt befand, wurden bereits weithin andere Argumente als überzeugender angesehen. Die Naturrechtsbesinnung hatte der Forderung nach einer „Großen Jusitzreform“ jedoch den Boden bereitet. In Wechselwirkung mit den justizpolitischen Diskussionen seit 1945 hatte sie ein Klima geschaffen, in dem eine starke Justiz als Pfeiler für die Ordnung der Nachkriegsgesellschaft unverzichtbar erschien. Das Argumentationsarsenal bestand aus einer Mischung nach innen gerichteter Vergewisserungen über die Berufsethik und Erinnerungen daran, dass die Jurisprudenz immer schon eine verlässliche Hüterin der Gerechtigkeit gewesen sei, sowie aus nach außen gerichteten Beteuerungen, dass sie auch in der Gegenwart diejenige Instanz sei, die das Potential habe, die Verantwortung für die Schaffung einer gerechten Ordnung zu übernehmen. Hinzu kamen Verweise auf Erfahrungen im nationalsozialistischen Deutschland auf der einen, auf England oder die USA auf der anderen Seite. Sie sollten zeigen, dass die Jurisprudenz den an sie gestellten Anforderungen nur dann gerecht werden könne, wenn sie keiner engen Gesetzesbindung unterliege, sondern über hinreichende Spielräume verfüge. Diese Argumente hatten sich im Verlauf der Zeit immer stärker von der Naturrechtsfrage abgelöst. Doch auch wenn Ende der 1950er Jahre oft nicht mehr mit einem naturrechtlichen Auftrag der Jurisprudenz, sondern mit ihrer besonderen Rolle im Rechtsstaat argumentiert wurde, änderte dies nichts daran, dass eine Frage ausgespart blieb: die Frage, welche Folgen es für die Kompetenzverteilung zwischen Gerichten und Gesetzgeber haben sollte, wenn man das Demokratieprinzip ernst nahm. Wie sollte Gesetzesbindung ausgestaltet werden, welche methodischen Konsequenzen ergaben sich daraus? Welche Form sollten die Rechtskritik und das rechtspolitisches Engagement der Jurisprudenz annehmen, die als Konsequenz aus dem Naturrecht gefordert worden waren? Bedurfte es beispielsweise einer Gesetzgebungslehre oder besonderer Verfahren, 353 

Helmut Coing, DRiZ 1958, 280 (282).

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die sicherstellten, dass juristischer Sachverstand in Gesetzgebungsverfahren einfloss, ohne dass er der Willensbildung im demokratisch gewählten Parlament vorgriff? All diese Fragen blieben in den Naturrechtsdebatten wie auch in den Diskussionen um die Justizreform ungestellt. Die Herausforderungen, welche die Demokratie für die Rechtsordnung mit sich brachte, wurden nicht zur Kenntnis genommen. Obgleich sich der Kreis derer, die Naturrechtsschriften verfassten, und der derjenigen, die sich Mitte der 1950er Jahre für eine umfassende Reform der Justiz stark machten, nur marginal überschnitten, kann die Forderung nach einer „Großen Justizreform“ als ein Kristallisationspunkt der Naturrechtsdebatten bezeichnet werden. Durch die Fokussierung auf das individuelle Gewissen von Richterinnen und Richtern hatten die Naturrechtsschriften die Grundlage für die Forderung nach einer größtmöglichen Entscheidungsfreiheit geschaffen. Die Forderung nach einer „Großen Justizreform“ war radikal, und die Bemühungen sie zu verwirklichen scheiterten schließlich.354 Die Idee einer starken Justiz hatte unterdessen allerdings in anderen Bereichen der Jurisprudenz Fuß gefasst: Wenn Wieacker 1957 vor der Juristischen Gesellschaft in Karlsruhe forderte, Richterrecht müsse als Rechtsquelle anerkannt werden,355 oder wenn Esser 1956 in seinem Buch „Grundsatz und Norm“ Gesetzesnormen als „Modelle […] für einen richterlich zu bildenden Gebotsinhalt“ bezeichnete, 356 so führten sie die Forderung nach einer starken Justiz in einem anderen Feld fort – dem der juristischen Methodenlehre. Der Gesetzgeber, der von Anfang an in der Naturrechtsliteratur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, wurde nun offensiv in die Schranken gewiesen. Nicht er sollte das letzte Wort über das Recht haben, sondern die Jurisprudenz. Dass dies in einer demokratischen Ordnung, wie sie mit dem Grundgesetz etabliert worden war, problematisch sein könnte, wurde weder in der Naturrechtsliteratur oder in den Methodenschriften der 1950er Jahre noch in der Diskussion um die Große Justizreform vernehmbar thematisiert.

D. Verortung in der politischen Landschaft der Nachkriegszeit Die vorangegangenen Abschnitte dieses Kapitels haben gezeigt, dass sich die Zukunftsentwürfe trotz aller Unterschiede zwischen den Diskussionsfeldern in wesentlichen Punkten ähnelten. Konsens herrschte nicht nur darin, dass das 354  Zu den Ergebnissen der Kommissionsarbeit André Book, Die Justizreform in der Frühzeit der Bundesrepublik, 2005, S. 275 ff., zu den Gründen für das Scheitern der Großen Justizreform ebd., S. 283 ff. 355  Franz Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1957, S. 17. 356  Josef Esser, Grundsatz und Norm, 1956, S. 256.

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Recht bestimmten religiösen oder moralischen Werten verpflichtet sei. Auch in den Werten selbst und den damit verbundenen Gesellschaftsentwürfen war man sich weitgehend einig. Individuelle Freiheitsrechte standen zwar im Mittelpunkt aller Naturrechtskataloge, die nach 1945 formuliert wurden, sie wurden jedoch stets durch sozial-gemeinschaftliche Wertvorstellungen ergänzt und oft von diesen überlagert. Obgleich betont wurde, dass der Einzelne und die Gemeinschaft gleichermaßen schützenswert seien, blieb der Schutz des Einzelnen in der Gemeinschaft in der Regel ungeklärt. Den Gemeinschaften hingegen wurde eine inhärente Ordnung zugeschrieben, auf die ihre Mitglieder nur beschränkt verändernd einwirken konnten. Es war gerade diese ihnen innewohnende Ordnung, die als schützenswert angesehen wurde. Die Ausgestaltung individueller Rechte war damit in den meisten Naturrechtsentwürfen schwach. Dies war der Vision einer Gesellschaft geschuldet, in der das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft nicht von Interessengegensätzen und Konflikten, sondern von Harmonie geprägt war. Pluralismus wurde nicht als eine Chance begriffen, sondern als potentielle Gefahr, die es durch Wertorientierung zu bändigen galt. Die Distanz, welche die juristische Naturrechtsliteratur gegenüber den verfassungspolitischen Diskussionen der Nachkriegsjahre wahrte, leitete sich aus diesem Umstand her. Nicht die Ausgestaltung von Demokratie und Rechtsstaat boten aus Sicht der Autoren hinreichend Schutz vor der Gefahr erneuten Unrechts, sie setzten vielmehr darauf, dass sich jeder einzelne auf seine gesellschaftliche Verantwortung besann und gewissensgeleitet im Einklang mit den objektiven Werten handelte. Allen voran sollte dies für die Jurisprudenz als gesellschaftliche Elite gelten. Nicht ein transparenter und kontrollierter Umgang mit Pluralismus, sondern Einheitsbildung durch gleichgerichtete Besinnung war der Grundtenor. Dieser Gesellschaftsentwurf stützte sich auf zentrale Elemente konservativen Denkens, wie es sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelt hatte. „Konservativ“ ist dabei nicht im Sinne des heute üblichen alltagssprachlichen Gebrauchs zu verstehen. Der ideengeschichtliche Begriff „Konservativismus“ ist enger und schärfer konturiert.357 Der Konservativismus hatte als Gegenbewegung zur Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts politische Bedeutung bekommen und mit der Romantik eine eigenständige, gegen Revolution und Aufklärung gerichtete Ideologie entwickelt. Trotz aller Wandlungen, die konservatives Denken im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts durchlief,358 blieben 357  Die tragenden Elemente konservativen Denkens wurden herausgearbeitet von Martin Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservativismus in Deutschland (1971), 1986. Einen knappen, guten Überblick über die wesentlichen Merkmale konservativen Denkens gibt jüngst Sven-Uwe Schmitz, Konservativismus, 2009, S. 11 ff. Diese traditionelle Form des Konservativismus löste sich in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik auf. Konservativismus näherte sich liberalem Denken an und verstand sich selbst fortan als Förderer des Fortschritts und Verteidiger des demokratischen Rechtsstaats unter dem Grundgesetz. 358 Überblick bei Axel Schildt, Konservativismus in Deutschland, 1998; Sven-Uwe ­Schmitz, Konservativismus, 2009.

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bestimmte Elemente unverändert: Die scharfe Kritik an Säkularisierung, Individualismus, Liberalismus und Rationalismus, welche den Geschichtserzählungen der Naturrechtsliteratur nach 1945 zugrunde lag, gehörte ebenso hierzu wie die Betonung sozialer und gemeinschaftsorientierter Werte. Dass der Mensch seiner Natur nach ein soziales Wesen sei und sich nur in Gemeinschaft vervollkommne, dass Freiheit stets gebunden sei und dass dem Staat grundsätzlich ein Eigenwert zukomme, waren zentrale Grundannahmen konservativer Gesellschaftsentwürfe seit der Aufklärung. Dies gilt ebenfalls für die Reserviertheit gegenüber der Demokratie, welche sich in den Naturrechtsschriften zeigt. Auch die Option, Recht und Politik einer qualifizierten Elite – hier der Juris­ prudenz – anzuvertrauen, gehört zum Kanon des Konservativismus.359 Die Naturrechtsliteratur besann sich auf diese tradierten Elemente des Konservativismus ohne jedoch an konkrete konservative Gesellschaftsentwürfe einer bestimmten Zeit anzuschließen. Gegenüber der Entwicklung, die der Konservativismus der Weimarer Zeit genommen hatte, grenzte sie sich sogar deutlich ab, wenn auch nicht explizit. Seit dem ersten Weltkrieg hatte der Konservativismus einen Wandel durchlaufen, der in den 1930er Jahren eine Allianz mit dem Nationalsozialismus begünstigt hatte. Während die ältere Generation an der Monarchie festhielt, forderten besonders jüngere konservative Denker in den 1920er Jahren eine radikale Umorientierung: Konservative sollte nicht bloß Vergangenes bewahren, sondern selbst eine Vision formulieren und für diese kämpfen. Es gelte „Dinge zu schaffen, die zu erhalten sich lohnt“, lautete die Devise, die Arthur Moeller van den Bruck ausgab, einer der Vordenker der sogenannten „konservativen Revolution“, welche die Speerspitze dieser radikalkonservativen Strömungen bildete.360 Bis dato hatte sich der Konservativismus als Gegenentwurf zu politisch-kämpferischen und auf grundlegenden Wandel zielende Ideologien verstanden. Nun erhielt er selbst eine aggressiv-politische und utopistische Stoßrichtung.361 Zugleich weichte die „konservative Revolution“ die traditionell enge Beziehung zum Christentum auf und integrierte neuheidnische Elemente.362 Inhaltlich forderte die „konservative Revolution“ 359  Zur strukturellen Demokratiefeindlichkeit konservativen Denkens zwischen 1900 und 1960 siehe insbesondere Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken (1962), 1983; Helga Grebing, Konservative gegen die Demokratie, 1971; Kurt Lenk, Deutscher Konservativismus, 1989. 360  Arthur Moeller van den Bruck, Das dritte Reich (1923), 3.A. 1931, S. 264. 361  Einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Strömungen innerhalb der konservativen Revolution bieten Armin Mohler, Die konservative Revolution, 3.A. 1989 sowie Rolf Peter Sieferle, Die konservative Revolution, 1995. Der paradox anmutende Begriff der „konservativen Revolution“ war eine Eigenbezeichnung, siehe z.B. Hugo von Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1931), 1933, S. 27. Er hat sich in der zeithistorischen Forschung durchgesetzt, wenn auch nicht kritiklos. Raimund von dem Bussche schlägt vor, stattdessen von „konservativem Utopismus“ zu sprechen, da dies deutlich präziser das Phänomen beschreibe, ders., Konservativismus in der Weimarer Republik, 1998, S. 383. 362  Dies gilt nicht ausnahmslos. Es gab durchaus auch Bemühungen, das Christentum in

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eine hierarchisch gegliederte Gesellschaft, in welcher der Staat eine uneingeschränkte Autorität genoss, und forcierte die Öffnung konservativen Denkens gegenüber völkisch-nationalistischer Ideologie.363 Diese Gedanken fassten weit über das Umfeld der „konservativen Revolution“ hinaus im heterogenen konservativen Spektrum der Weimarer Republik Fuß, so im deutschkonservativen, häufig protestantisch geprägten Milieu364 sowie in katholisch-konservativen Kreisen.365 Auch in der Rechtwissenschaft der Weimarer Zeit schlug sich dies nieder.366 Konservatives Denken in der Schlussphase der Weimarer Republik war damit zwar nicht deckungsgleich mit nationalsozialistischem Denken, wies aber Überschneidungen auf, welche erklären, warum 1933 eine breite Aufgeschlossenheit gegenüber dem Nationalsozialismus in konservativen Kreisen herrschte. Die Naturrechtsliteratur nach 1945 nahm auf diese Entwicklung konservativen Denkens der jüngeren Vergangenheit in keiner Weise Bezug. Auch nach einer Selbstbezeichnung als „konservativ“ sucht man in den Texten vergeblich. Gerade dies ist jedoch charakteristisch für konservative Positionen nach 1945.367 Der Konservativismus sah sich selbst in einer tiefen Krise,368 die zeithistorikonservativ-revolutionäre Ideologie zu integrieren wie auch von der konservativen Revolution beeinflusste Theologen in beiden Konfessionen, dazu Armin Mohler, Die konservative Revolution, 3.A. 1989, S. 117 ff. m.w.N. 363  Der Nationalismus der konservativen Revolution hob sich gegenüber dem hergebrachten ab, Stefan Breuer spricht daher von einem „Neuen Nationalismus“. Dieser zielte nicht mehr nur auf die Legitimierung eines starken, souveränen Staates, sondern war offen imperialistisch und expansionistisch. Mit der Forderung nach „totaler Mobilmachung“ wandte er sich nicht mehr nur an Adel und Bürgertum, sondern gerade auch an die Arbeiterschaft. Siehe Stefan Breuer, Grundpositionen der deutschen Rechten (1871–1945), 1999, S. 103 ff. 364  Zur Begründung einer autoritären Staatslehre durch protestantische Staatsrechtslehrer und Theologen in der Weimarer Zeit Klaus Tanner, Die fromme Verstaatlichung des Gewissens, 1987. 365  Hierzu grundlegend Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933 (1961), 1988; Klaus Breuning, Die Vision des Reiches, 1969 sowie jüngst Rudolf Uertz, Vom Gottesrecht zum Menschenrecht, 2005, S. 311 ff. 366  Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 3, 1999, S. 177 f. weist darauf hin, dass Rechtswissenschaftler der jüngeren Generation wie Ernst Forsthoff, Ernst Rudolf Huber, Arnold Köttgen oder Paul Ritterbusch der konservativen Revolution zugeneigt waren und in ihren Publikationsorganen, allerdings unter Pseudonym, veröffentlichten. Zu Forsthoff nun ausführlich Florian Meinel, Der Jurist in der industriellen Gesellschaft, 2011, S. 28 ff. 367  Martin Greiffenhagen, Dilemma des Konservativismus (1971), 1986, S. 336 ff. Offensiv diskutiert wurde konservatives Selbstverständnis erst in den 1950er Jahren, vorher aber bereits in der Zeitschrift „Neues Abendland“, dazu Felix Dirsch, in: Frank-Lothar Kroll (Hg.), Die kupierte Alternative, 2005, S. 101 (122 ff.). 368  Ein Zeugnis hiervon bietet etwa Hans Mühlenfeld, Politik ohne Wunschbilder, 1952 mit seinem Versuch einer Neubestimmung dessen, was „konservativ“ im positiven Sinne für die Nachkriegszeit bedeuten kann. Auch der Versuch der Rehabilitierung der „konservativen Revolution“ zeugt von der Krise: Armin Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland, 1950.

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sche Forschung attestiert ihm politische Orientierungslosigkeit.369 Aufgrund der Verbindung zwischen den Ideen der konservativen Revolution und des Nationalsozialismus galt er als diskreditiert,370 insbesondere in parteipolitischer Hinsicht war an eine Anknüpfung an die Weimarer Zeit nicht zu denken und wurde von alliierter Seite auch nicht zugelassen. 371 Ein Teil des konservativen Spektrums reagierte auf diese Situation, indem es nach 1945 zunächst verstummte und auf eine Beteiligung an der öffentlichen Diskussion verzichtete.372 Ein anderer Teil begegnete der Orientierungslosigkeit offensiv publizistisch und forderte die Rückbesinnung auf die christliche Religion und abendländische ­Werte.373 Die traditionelle Verbindung von konservativen Ordnungsvorstellungen und Christentum sollte wieder hergestellt werden. Es handelte sich damit um den Versuch, an konservatives Denken vor der Radikalisierung in den 1920er Jahren anzuknüpfen. Von Nationalismus und völkischem Denken distanzierte man sich und auch der politischen Aggressivität der konservativen Revolution schwor man ab.374 Die Naturrechtsdebatten waren mit ihrer Besinnung auf Religion und Moral, Menschenwürde und Gemeinschaftsbindung ureigenster Ausdruck dieses publizistisch offensiven Umgangs mit der Orientierungslosigkeit im konservativen Spektrum.375

369  Frank-Lothar Kroll, in: ders. (Hg.), Die kupierte Alternative, 2005, S. 3–24. Martin Greiffenhagen hat in diesem Zusammenhang von einem spezifischen Dilemma deutschen Konservativismus der Nachkriegszeit gesprochen, ders. Das Dilemma des Konservativismus (1971), 1986, S. 19. 370  Dieser Umstand war den Deutschen nach 1945 noch deutlich bewusst, so Kurt Lenk, Deutscher Konservativismus, 1989, S. 175. 371  Zur Entwicklung des konservativen Parteienspektrums nach 1945 Axel Schildt, Konservativismus in Deutschland, 1998, S. 218 ff. sowie Sven-Uwe Schmitz, Konservativismus, 2009, S. 126 ff. 372  Axel Schildt, Konservativismus in Deutschland, 1998, S. 213. Geschwiegen haben etwa Größen wie Carl Schmitt, Martin Heidegger und zunächst Ernst Jünger, zu den sich dahinter verbergenden Haltungen zu Schuld und Nachkriegszeit Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens, 1993. 373  Zum Begriff des „Abendlandes“ siehe Kapitel 3, S. 115. 374  Armin Mohler, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hg.), Die Herausforderung der Konservativen, 1974, S. 34 (37). So erklärt sich auch die Ähnlichkeit der Ordnungsvorstellungen, die in der Naturrechtsliteratur nach 1945 vertreten wurden, mit denen des konservativen Widerstands im NS, siehe zu Letzteren Joachim Rückert, in: Eva Schumann (Hg.), Kontinuitäten und Zäsuren, 2008, S. 11 (24 ff.). 375  Tatsächlich taucht die Besinnung auf christliche Religion und Naturrecht in fast allen einschlägigen Darstellungen zum Nachkriegskonservativismus als eigenständige Strömung auf, so bei Helga Grebing, Konservative gegen die Demokratie, 1971; Armin Mohler, in: GerdKlaus Kaltenbrunner, Die Herausforderung der Konservativen, 1974, S. 34 (38); Frank-Lothar Kroll, in: ders. (Hg.), Die kupierte Alternative, 2005, S. 3 (ebd.); Axel Schildt, Deutscher Konservativismus, 1998, S. 214 ff. Kurt Lenk, Deutscher Konservativismus, 1989, ordnet nicht nach Strömungen, sondern nach Topoi. Zu den christlich-abendländischen Topoi ebd. S. 173 ff.

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Bereits Anfang der 1950er Jahre meldeten sich jedoch andere Stimmen des konservativen Spektrums wieder verstärkt zu Wort. So wurde etwa die in der Tradition des Denkens Carl Schmitt stehende Forderung nach der Wiederherstellung der Autorität des Staates nach 1949 erneut offensiv durch Staatsrechtslehrer wie Ernst Forsthoff, Werner Weber oder Theodor Maunz formuliert.376 Wenig später setzte in der konservativen Publizistik das Bemühen um eine Rehabilitierung der „konservativen Revolution“ ein, so vor allem durch Armin Mohler, der 1950 ein Handbuch mit umfassender Bibliographie veröffentlichte, in welchem er die Unterschiede zwischen nationalsozialistischem und konservativ-revolutionärem Denken besonders hervorhob.377 Der christlich-abendländischen Besinnung der ersten Nachkriegsjahre begegneten die einen wie die anderen skeptisch. Innerhalb der Rechtswissenschaft hielten sich die Schüler Carl Schmitts weitgehend fern von der Naturrechtsbesinnung, einzig Ernst Forsthoff äußerte sich in einem Aufsatz 1947, allerdings kritisch.378 Mohler monierte in einem Rückblick, es habe sich bei ihr um eine „zerknirrschte“ Flucht in die „Nostalgie“ gehandelt.379 Sie war für ihn Ausdruck mangelnden politischen Selbstbewusstseins konservativer Kreise. Der christlich-abendländischen Besinnung wurde unzeitgemäßer Idealismus vorgeworfen, der die Herausforderungen der technischen Moderne nicht annehme und damit Potential zur Gestaltung der Gesellschaft verschenke. Damit war der Richtungswechsel vorgezeichnet, den konservative Sozialphilosophie im Laufe der 1950er Jahre vollzog: Die Realität moderner Industriegesellschaft sollte nicht mehr kulturpessimistisch beklagt, sondern angenommen und zur Grundlage von Gesellschaftstheorie gemacht werden.380 Für Besinnung auf abendländische Werte und Beklagen ihres Verfalls, wie sie in der Naturrechtsliteratur zu finden waren, war kein Raum mehr vorgesehen.381 376 Hierzu

Frieder Günther, Denken vom Staat her, 2004. Armin Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland, 1950. Armin Mohler (1920–2003) war im Folgenden publizistisch im Dienste des im Laufe der 1950er Jahren zunehmend an Selbstbewusstsein gewinnenden Konservativismus hoch aktiv und galt als bester Kenner der Szene in der Bundesrepublik. Zu Mohler Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens, 1993, S. 256 ff. 378  Ernst Forsthoff, Zur Problematik der Rechtserneuerung (1947/48), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 73–86. Bereits vor 1945 formulierte er entschieden Skepsis am Rückgriff auf überpositive Normen, dazu Florian Meinel, Der Jurist im industriellen Zeitalter, 2011, S. 246 ff. 379 So Armin Mohler in einer Rückschau, in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Die Herausforderung der Konservativen, 1974, S. 34 (37 ff.). 380  Vertreter dieses „modernen“ oder „technokratischen“ Konservativismus waren Hans Freyer, Arnold Gehlen, Helmut Schelsky und Ernst Forsthoff. Dazu Martin Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservativismus, S. 316 ff.; nun auch Florian Meinel, Der Jurist im industriellen Zeitalter, 2011, S. 448 ff. 381  Axel Schildt, Deutscher Konservativismus, 1998, S. 238; Kurt Lenk, Deutscher Konservativismus, 1989, S. 237 ff. 377 

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Betrachtet man den Nachkriegskonservativismus nicht unter ideengeschichtlichen Gesichtspunkten, sondern hinsichtlich seiner politischen Positionen, so zeigen sich vielfältige Strömungen. Sie lassen sich unter verschiedenen Geschichtspunkten typisieren. Wirtschaftspolitisch kann grob differenziert werden zwischen einer vor allem im rheinländischen Katholizismus verankerten sozialkonservativen Richtung und einer, die sich in der Nachfolge preußischen Landadels und Großgrundbesitzes für den Erhalt tradierter Eigentumsverhältnisse einsetzte. Auch hinsichtlich der Rolle, die der Staat gegenüber der Gesellschaft einnehmen sollte, waren Konservative nach 1945 in eine im süddeutschen Katholizismus verankerte Richtung und eine in preußischer Tradition stehende gespalten: Forderten die einen eine Bändigung des Staates und eine Gliederung nach Regeln der Subsidiarität, stand für die anderen die Notwendigkeit staatlicher Autorität nicht in Frage. Zum Teil überlappten sich die Anschauungen Letzterer mit nationalkonservativen Positionen, welche vor allem in Norddeutschland Fuß fassten, insgesamt jedoch in der Minderheit blieben.382 Schließlich kann differenziert werden zwischen einem reformorientierten liberalen Konservativismus, der sich zunächst besonders in der britischen Zone entwickelte und der die rechtsstaatlich-demokratischen Vorgaben annahm, sowie Richtungen, die diesen mit Zurückhaltung oder Skepsis begegneten. Parteipolitisch können diese Strömungen nicht eindeutig zugeordnet werden. Dies liegt daran, dass die CDU, die sich schon mit den ersten Wahlen 1946 als stärkste Partei im bürgerlich-christlichen Milieu positionierte, ein Sammelbecken für christlich-soziale, liberale sowie katholisch-konservative und national-konservative Kräfte war.383 Sie entfernte sich mit der Politik der Westbindung bald von einem traditionellen Konservativismus,384 war jedoch um Integration der verschiedenen konservativen Strömungen bemüht und verhinderte, dass sich neben ihr andere starke Parteien etablieren konnten.385 382  Armin Mohler, in Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hg.), Die Herausforderung der Konservativen, 1974, S. 34 (42 f.) stellt fest, dass sich Konservative nach 1945 insgesamt vom Nationalismus verabschiedeten. Das „Nationale“ sei zu einem „hochtabuisierten Objekt“ geworden. In dieser Zuspitzung stimmt dies nicht, tatsächlich zeigt sich aber auch an der Naturrechtsliteratur, dass die Nation als Wert keine Rolle spielt. Nationalistische Elemente lassen sich nur ganz punktuell feststellen, etwa wenn die Schuld an Holocaust und Zweiten Weltkrieg unbestimmt „der Geschichte“ oder „den Völkern“ zugewiesen wird, anstatt deutsche Schuld zu benennen und anzuerkennen, z.B. Heinrich Kipp, Naturrecht und moderner Staat, 1950, S. 66 f. 383  Axel Schildt, Konservativismus in Deutschland, 1998, S. 218 f. 384  Bereits mit den Düsseldorfer Leitsätzen von 1949 entfernte sich die CDU von dem christlich-sozialen Profil hin zur sozialen Marktwirtschaft, also einer wirtschaftsliberaleren Ausrichtung. Zugleich machte Konrad Adenauer bereits in seiner Regierungserklärung vom 20. September 1949 seine Orientierung an westlichen Demokratien deutlich, hierzu Axel Schildt, Konservativismus in Deutschland, 1998, S. 225 ff. Zur Opposition konservativer Kräfte gegen die sog. Westernisierung Frank-Lothar Kroll, in: ders. (Hg.), Die kupierte Alternative, 2005, S. 3–24. 385  Das Zentrum, welches das katholisch-konservative Milieu ansprach und das Subsi-

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Will man die Naturrechtsliteratur politisch in dieser Landschaft verorten, fällt auf, dass in ihr auch über die katholische Literatur hinaus Positionen dominierten, die im politischen Spektrum der Nachkriegszeit besonders im süddeutschen Raum und im Rheinland vorzufinden waren und auf eine starke Tradition im politischen Katholizismus verweisen konnten. In wirtschaftspolitischer Hinsicht wies die Naturrechtsliteratur eine deutlich sozialkonservative Ausrichtung auf. Eine Ausnahme stellt hier Coing dar, der Zugeständnisse an den sozialen Konsens machte, dessen Konzeption aber insgesamt deutlich liberale Züge aufweist. Auch hinsichtlich der Rolle, die dem Staat zugewiesen wurde, optierten die Naturrechtsschriften gegen die in preußischer Tradition stehende Richtung des Konservativismus: Die Vorstellung eines starken Obrigkeitsstaats lag zwar den Konzeptionen von Widerstand und politischen Rechten von Bürger/innen in der Naturrechtsliteratur zugrunde und vielfach wurde auch ein gewisser Eigenwert des Staates anerkannt, insgesamt jedoch wurde die Notwendigkeit der Bändigung des Staates und die Subsidiarität betont. Vom Nationalkonservativismus hielt sie sich fern, offen nationalistische Töne sind in der Naturrechtsliteratur nicht zu finden. Die Juristen, die sich an den Naturrechtsdebatten beteiligten, distanzierten sich mit ihrer sozialen Ausrichtung und ihren Vorbehalten gegenüber einem zu starken Staat jedoch nicht nur von der preußischen Spielart des Konservativismus, auch der reformorientierte Liberalkonservativismus war ihnen fremd. Mit wenigen Ausnahmen ließen sich die Autoren der Naturrechtsschriften auf die verfassungspolitische Dimension der Naturrechtsfrage nicht ein. Sie leisteten keine Beiträge zur Diskussion um die konkrete Ausgestaltung des aufzu­ bauenden demokratischen Rechtsstaats. Statt diese verfassungspolitischen Anforderungen an die Nachkriegsordnung zum Ausgangspunkt der Überlegungen zu nehmen, wählten die meisten Autoren der Naturrechtsliteratur einen aus Religion oder Tradition geschöpften utopiehaltigen Zugriff. Das Inkrafttreten des Grundgesetzes spiegelt sich in den Texten nicht wider. Weder lassen sich die Texte vor 1949 als Versuche lesen, verfassungspolitisch Einfluss zu nehmen, noch wurde das Grundgesetz, nachdem es erlassen wurde, von den Texten positiv oder negativ aufgegriffen. Der Topos des „positivierten Naturrechts“, ein später viel gebrauchtes Schlagwort, findet sich punktuell, er war in der rechtsphilosophischen Literatur um 1950 aber keineswegs besonders präsent.386 Nicht diaritätsprinzip wie auch den Sozialkonservativismus stark machte, konnte sich gegenüber der CDU nicht durchsetzen und erreichte schon bei den Bundestagswahlen 1953 nicht mehr die 5 %-Hürde. Nationalkonservative sammelten sich vor allem in der Deutsche Partei (DP) und später auch in der FDP; auch für die Forderungen nach einem starken Staat und Erhalt tradierter Eigentumsordnung in preußischer Tradition stand vor allem die DP, die allerdings ebenfalls bereits 1953 unter 5 % blieb und sich 1961 auflöste. Zu diesen Entwicklungen Überblick bei Axel Schildt, Konservativismus in Deutschland, 1998, S. 218 ff. 386  Unter den in dieser Arbeit ausgewerteten Beiträgen zu den Naturrechtsdebatten nur gefunden bei Otto Bachof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen?, 1951, S. 27, 42 f.; ders.,

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Überlegungen zur institutionellen Absicherung der neuen Gesellschaftsordnung standen im Mittelpunkt der Naturrechtsliteratur, sondern das Gewissen der Einzelnen. In dem Gewissen verpflichteten Richterinnen und Richtern erblickten die Autoren den besten Schutz vor erneuter Unrechtsherrschaft. Sie begegneten damit nicht nur der Demokratie wenn nicht offen skeptisch, so doch zumindest zurückhaltend. Auch die Ausgestaltung rechtsstaatlicher Verfahren blieb unterbelichtet. Die Option für Naturrecht bedeutete zumindest für Juristen, sich gerade nicht in die politische Diskussion um die Ausgestaltung der neuen demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung einzubringen. Nicht ein politisches Reden über Recht war das Ziel derer, die nach 1945 im Naturrecht eine Lösung sahen. Es ging ihnen um die Verteidigung eines objektiven Kerns des Rechts, welcher der politischen Diskussion gerade entzogen werden sollte. Abgesehen von wenigen Ausnahmen beanspruchten Juristen in den Naturrechtsschriften eine juristische oder theologische, jedenfalls aber wissenschaftliche Deutungshoheit über diesen Kern des Rechts. Sie konnte mit justiz- oder kirchenpolitischen Visionen verbunden sein – für erstere steht Weinkauff, für letztere Erik Wolf. Die Entscheidung gegen ein politisches Reden über Recht, wie es sich in der Naturrechtsbesinnung zeigt, war damit selbst eine politische Entscheidung. In ihr wurde eine Reserviertheit gegenüber der neuen Gesellschaftsordnung sichtbar, insbesondere gegenüber Pluralismus, Demokratie und rechtsstaatlichen Verfahrensfragen. Deutlich wird dies besonders, wenn man die Zukunftsentwürfe der Naturrechtsliteratur mit Positionen vergleicht, die von Juristen vertreten wurden, die sich nach 1945 dafür entschieden, in die Politik zu gehen und sich insbesondere in den Verfassungsgebungsprozessen engagierten. So standen Adolf Arndt oder Georg August Zinn, beide Juristen und SPD-Politiker, der Naturrechtsbesinnung äußerst skeptisch gegenüber.387 Auch zwischen den Autoren der Naturrechtsliteratur zeigt sich dieser Unterschied: Dass sich Süsterhenn entgegen der katholischen Naturrechtslehre, an die er sich sonst eng anlehnte, als verhältnismäßig offen gegenüber dem Pluralismus erwies, bestätigt diesen Befund.

Zum richterlichen Prüfungsrecht gegenüber Verfassungsnormen, NJW 1952, 242 (ebd.); Walter Mallmann, …la bouche qui prononce les paroles de la loi?, JZ 1951, 245 (ebd.). Aus völlig anderer Richtung Hans Nawiasky, Der Kreislauf der Entwicklung der Grundrechte, in: Individuum und Gemeinschaft, 1949, S. 433 (439), der mit der Figur des „positivierten Naturrechts“ begründet, dass der Vorwurf gegen den Rechtspositivismus „wertblind“ zu sein, nicht zutreffe. Es komme im Rechtspositivismus vielmehr darauf an, die Möglichkeiten der Rechtssetzung so gekonnt auszuschöpfen, wie es mit dem Grundgesetz geschehen sei. 387  Eine systematische Erforschung der Gesellschaftsvorstellungen dieser Gruppe von Juristen steht bislang noch aus. Weiterführend aber die Einzelstudie von Dieter Gosewinkel, Adolf Arndt, 1991.

E. Fazit: Wiederherstellung einer juristischen Identität

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E. Fazit: Wiederherstellung einer juristischen Identität und Begründung juristischer Autorität Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Gesellschaftsentwürfe, die in der Naturrechtsliteratur formuliert wurden, sehr dicht beieinander lagen. Die Texte hatten mit der Positivismusthese nicht nur eine gemeinsame Vergangenheitsdeutung als Ausgangspunkt. Sie ähnelten sich auch in den Zukunftsvisionen, auch wenn die Probleme, auf welche sie reagierten, in den einzelnen Debattenteilen durchaus unterschiedlich waren. In den Vergangenheitsdeutungen und Zukunftsvisionen spiegelte sich eine politische Nähe zwischen den Verfassern der Naturrechtsschriften. Sie waren der Stoff, mit dem sich diese in der Umbruchsituation nach 1945 positionierten. Die Naturrechtsschriften berührten mit ihren Geschichten über die Vergangenheit und den in ihnen formulierten Visionen für die Zukunft unmittelbar das Selbstverständnis ihrer Verfasser in der Nachkriegsgesellschaft. Identitätsstiftung durch Naturrecht war gewollt. Sich dem Naturrecht zuzuwenden wurde auch von den Beteiligten selbst als ein Akt der Besinnung angesehen, welcher notwendig sei, um die „Krise des Rechts“ zu überwinden. Nur wenn sich die Jurisprudenz die Kenntnis der „bestimmenden sittlichen Werte“ bewahrt, „kann sie werden und bleiben, was sie berufen ist zu sein: die Vertreterin der Gerechtigkeit im socialen Leben“, lautete der Schlusssatz in Coings „Die obersten Grundsätze des Rechts“.388 Erik Wolf, der freilich weniger die Jurisprudenz insgesamt als ihren christlichen Teil ansprach, beendete seinen Vortrag zum „Wesen der Gerechtigkeit“ mit den Worten, es gehe darum, „einen Dienst zu tun – freilich einen notwendigen Dienst – auf den, wenn nicht viele Zeichen trügen, die Welt wartet.“389 Fritz von Hippel forderte von seinem Berufsstand „mit äußersten Kräften um die jeweils nur mögliche wahrhafte Rechtsordnung sich zu bemühen“390, denn vieles lasse sich „dann wirklich ordnen, vorherrschen, vermeiden oder zum Guten lenken.“391 Aufrufe, das ‚Gute‘ im Recht zu befördern, durchziehen die gesamte Naturrechtsliteratur. Wie in Kapitel 1 gezeigt, lautete die Aufgabe, das Recht von dem, was im Nationalsozialismus als solches ausgegeben worden war, abzugrenzen, es vor der korrumpierenden Wirkung der Politik zu schützen und es mit Moral oder einer als unbefleckt geltenden Religion in Verbindung zu bringen. Es wurde ein Bruch mit dem Nationalsozialismus angestrebt; zusammen mit dem Rückgriff auf die christlich-abendländischen Traditionen sollte er dem Recht und der Jurisprudenz erneut Legitimität verschaffen. Die Gleichzeitigkeit dieses Bruchs mit der 388 

Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 155. Erik Wolf, Vom Wesen der Gerechtigkeit (1946), S. 9 (32). 390  Fritz von Hippel, Zum Verhältnis von Jurisprudenz und Christentum (1948), S. 21 (36). 391  Fritz von Hippel, ebd., S. 39. 389 

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

Herstellung einer Verbindung zu einer langen, positiv konnotierten Geschichte war das Identitätsstiftungskonzept, dem die Schriften folgten. Auf die Frage, wie treffend oder nicht treffend die diesem zugrunde liegenden Analysen waren, kam es nicht an. Das in dieser Selbstwahrnehmung liegende Versprechen, einen Beitrag zum Schutz vor erneutem Unrecht zu leisten, erklärt die Anziehung, die vom Naturrecht ausging. Die Widersprüche, in welche die Naturrechtsliteratur durch eben diese Selbst­inszenierung verwickelt war, taten ihrer einheits- und identitätsstiftenden Wirkung keinen Abbruch. Im Gegenteil: Gerade die unter der Oberfläche verborgenen Kontinuitäten zu Denkmustern der jüngsten Vergangenheit, die den Zukunftsentwürfen den Charakter eines ‚hinkenden Neuanfangs‘ verliehen, boten Stoff, der erklärt, wie die „Krise des Rechts“ innerhalb weniger Jahre überwunden und durch ein stabiles juristisches Selbstverständnis ersetzt werden konnte. Die Verfasser knüpften an bekannte Denk- und Deutungsmuster an, die spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts in konservativen, christlichen und bürgerlichen Kreisen virulent gewesen waren und in der Weimarer Zeit stark auf die Rechtswissenschaft eingewirkt hatten. Gegenüber Vertrautem ist der Begründungsaufwand im Allgemeinen weniger hoch, es erscheint eher als ‚wahr‘ oder ‚natürlich‘. Die Überzeugungskraft des Naturrechts nach 1945 war mit Sicherheit auch diesem Umstand geschuldet. Obwohl diese Denk- und Deutungsmuster auch im Nationalsozialismus ihre Gültigkeit nicht eingebüßt hatten, wurde ihr Kern nicht hinterfragt. Als problematisch wurde nur ihre Radikalisierung im Laufe der Weimarer Zeit angesehen, speziell ihre Anreicherung durch völkische und rassistische Ideologie sowie die Totalität des Gemeinschaftsdenkens. Einzelne Anteile aus einer Gedankenwelt auszusortieren, erweckt den Eindruck, dass alle Anteile kritisch überprüft worden seien. Diejenigen, von denen man sich nicht distanziert, gelten damit als unproblematisch. Mit der Besinnung auf Naturrecht erfolgte somit zwar eine Distanzierung von der Wendung, die konservatives Denken in den 1920er Jahren genommen hatte. Der Denkstil, aus dem heraus die Radikalisierung erwachsen war, wurde hingegen gerade durch diese punktuelle Distanzierung wieder salonfähig gemacht. Für alle, die in diesem Denkstil sozialisiert und politisiert worden waren, bedeutete das, dass sie weiterhin öffentlich denken konnten, ohne die eigene Geschichte und das eigene Denken von Grund auf in Frage stellen zu müssen. Dies tun zu müssen, wäre schmerzlich gewesen, und hätte möglicherweise zunächst einen Orientierungsverlust mit sich gebracht. Die verdeckten Kontinuitäten trugen dazu bei, dass der „Krise des Rechts“ nicht eine Phase des tastenden Suchens folgte, sondern unmittelbar eine Zeit der Antworten, wie die Naturrechtsbesinnung sie darstellte. Auch der Umstand, dass die Naturrechtslehren in Appelle an Gewissen und ethisch geleitetes Handeln mündeten, wirkte integrierend und begünstigte die Hinwendung zum Naturrecht. Appelle an das Gewissen waren weit

E. Fazit: Wiederherstellung einer juristischen Identität

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weniger streitbar als Vorschläge, wie die Rechtsordnung konkret ausgestaltet werden müsse, damit es nicht zu erneutem Unrecht komme.392 Der Aufruf zu gewissensgeleitetem Handeln war voraussetzungslos und niedrigschwellig. Er ermöglichte einen Neustart, ohne nach der individuellen Vergangenheit und Schuld zu fragen und ohne sich für die Zukunft auf konkrete Handlungsleitlinien festzulegen. In einer Rechtswissenschaft, die sich hinsichtlich individueller Schuld zu einem „Kartell des Schweigens“ zusammengeschlossen hatte,393 waren die Appelle an das Gewissen eine ideale Lösung, einen Neustart zu markieren ohne jemanden von diesem auszuschließen. In der Naturrechtsliteratur finden sich also gerade auch unterhalb der Oberfläche Elemente, die erklären, warum das Naturrecht über die engen Kreise der akademischen Rechtsphilosophie hinaus eine solche Anziehungskraft entfaltete. Die Zukunftsvisionen wurden über die Grenzen der verschiedenen Gesprächskreise hinweg breit geteilt. Sie wirkten durch ihre Mischung aus Kontinuität im Denkstil, markierten Bruch und niedrigschwelliger Handlungsorientierung integrierend. Dadurch, dass sich so viele Juristen aufgeschlossen gegenüber übergesetzlichem Recht zeigten, konnte in den Naturrechtsdebatten wiederum ein Gefühl von Gemeinsamkeit erzeugt werden. Es stützte die Wahrnehmung, die Jurisprudenz habe den Neustart aus eigener Kraft vollzogen und übernehme nun erfolgreich Verantwortung für den Schutz der Gesellschaftsordnung vor erneutem Unrecht. Dass sich die Konzepte übergesetzlichen Rechts in den einzelnen Naturrechtsdebatten unterschieden, tat dem keinen Abbruch. Man befand sich gemeinsam auf „Rückwegen zur Gerechtigkeit“, wie es Wieacker formulierte, welcher einer der profiliertesten Kritiker insbesondere des katholischen Naturrechts war.394 Die Beteiligten der Naturrechtsdebatten waren einander verbunden in ihrem Denkstil und ihren Zukunftsvisionen, vor allem aber in der Art und Weise, wie sie sich des Selbstverständnisses der Jurisprudenz vergewisserten. Dies machte die Naturrechtsdebatten zu einem Raum, in dem juristische Identität nicht nur artikuliert, sondern auch nach und nach stabilisiert werden konnte. Doch nicht nur Identitätsstiftung fand in den Naturrechtsdebatten statt. Sie war auch ein Rahmen, in dem Kompetenzen für Gerichte und Rechtswissenschaft eingefordert wurden. Eine Jurisprudenz, die sich von ihrer Vergangenheit gelöst hatte, indem sie sich auf ihre Verantwortung für eine gerechte Ord392  Die kontroversen Diskussionen um das materielle Prüfungsrecht und die Richteranklage auf dem Juristentag 1949 zeigen dies deutlich: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hg.), Rechtspflege und Bonner Grundgesetz, Verhandlungen des 37. Deutsche Juristentages, 1950. 393  Birgit von Bülow, Die Staatsrechtslehre der Nachkriegszeit (1945–1952), 1996, S. 187 f. Für die an den Naturrechtsdiskussionen Beteiligten siehe Kapitel 1, S. 40 f. 394 So die Überschrift des letzten Kapitels in der Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (1952), S. 348 ff.

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Kapitel 6: Identitätsstiftung und Autoritätsbegründung

nung besonnen hatte, sollte auch den nötigen Handlungsspielraum erhalten, ihren Verpflichtungen nachzukommen. In der Frühphase der Naturrechtsbesinnung ging es dabei in erster Linie um das Recht der Justiz, gesetzliches Unrecht für nichtig zu erklären. Im Laufe der Zeit rückte allerdings die Bedeutung des Naturrechts für Auslegung und Fortbildung des positiven Rechts verstärkt in den Blick und mündete in den 1950er Jahren schließlich in die Diskussionen um richterliche Rechtsschöpfung im Zivilrecht sowie um die „Große Justizreform“. Die Frage, wie die Gesetzesbindung genau ausgestaltet und die Kompetenzen des demokratischen Gesetzgebers abgesichert werden sollten, blieb die gesamte Zeit hindurch unterbelichtet. Die Naturrechtsdebatten waren damit nicht einfach nur ein Raum der Vergewisserung und der Besinnung. In ihnen wurde nicht nur an eine spezifische gesellschaftliche Verantwortung der Jurisprudenz erinnert, sondern auch Deutungshoheit über das Recht beansprucht. Die Naturrechtsschriften trennten das Recht von der Politik ab, schrieben der Jurisprudenz eine besondere Verantwortung zu, Gerechtigkeit zu schützen, und forderten hierfür Spielräume gegenüber dem Gesetzgeber ein. Das juristische Selbstverständnis, dessen sich die Verfasser der Naturrechtstexte auf diese Weise vergewisserten, war kein völlig Neues. 395 Vor allem war es nicht Teil einer Auseinandersetzung darum, wie Rechtsstaat und Demokratie von der Jurisprudenz konstruktiv aufgenommen und ausgefüllt werden könnten. Obgleich viele, die an den Naturrechtsdebatten beteiligt waren, den Wert des positiven Rechts betonten und darauf hinwiesen, dass übergesetzliches Recht nur einen engen Kern an Normen umfassen solle, blieb die Jurisprudenz der Naturrechtsliteratur in letzter Instanz Gewissen und Werten verpflichtet, die dem Rechtsstaat und der Demokratie vorgelagert waren. Die Bedeutung beider für Verfahren und Methoden wurde nicht ausgeleuchtet. Rechtsstaat und Demokratie waren weder Ausgangs- noch Zielpunkte der Naturrechtsdebatten.

395  Zu Recht wird allerdings in der jüngeren historischen Forschung der Begriff der Restauration abgelehnt. Der Terminus wurde zeitgenössisch als Vorwurf von Walter Dirks erhoben und lange Zeit als Deutungsmuster für die Zeit nach der Währungsreform herangezogen. Mit ihm wurde die Wiederherstellung tradierter Denkmuster beschrieben, und insbesondere das Fortwirken nationalsozialistischer Elemente kritisiert. Siehe z.B. bezogen auf die Naturrechtsbesinnung Heinrich Lau, Naturrecht und Restauration, 1994. Bei aller Notwendigkeit auf Kontinuitäten im Denken hinzuweisen, ist jedoch darauf zu achten, dass auch tradierte Denkmuster in einer neuen historischen Konstellation eine veränderte Funktion und Wirkung haben. Georg Bollenbeck beschreibt dies treffend mit den Worten: „Die Rückkehr des Deutungsmusters ist keine Wiederkehr des Gleichen“, in: Bildung und Kultur, 1996, S. 305. Versucht man die Naturrechtsbesinnung mit dem Begriff der Restauration zu fassen, bleibt zudem der rhetorische Bruch, die sie vollzog, unterbelichtet. Gerade dieser ist jedoch für das Verständnis der Wirkungsweise der Wendeliteratur unerlässlich. Im gleichen Sinne auch Ulrich Herbert, in: ders. (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland, 2002, S. 7 (10) sowie Axel Schildt, in: ders./Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau, 1993, S. 627 (ebd.).

E. Fazit: Wiederherstellung einer juristischen Identität

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Juristen berührten beide in ihren Naturrechtsschriften, räumten ihnen jedoch keine Priorität ein. Den Ball, den die Verfassungspolitik ihnen zuspielte, nahmen sie nicht auf.

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Zusammenfassung und Ergebnisse Naturrecht war das erste rechtsphilosophische Thema, dessen sich die Rechtswissenschaft nach 1945 annahm. Nur wenige Monate nach Ende des Nationalsozialismus erschienen erste Schriften, es folgte eine Flut von Aufsätzen und kleineren Schriften. Nicht nur Rechtsphilosophen, sondern auch Rechtswissenschaftler der übrigen Disziplinen, Rechtspraktiker, Politiker, Theologen und Philosophen meldeten sich zu Wort und forderten eine naturrechtliche Fundierung der Rechtsordnung.

I. Reaktionen auf den Nationalsozialismus Die Besinnung auf Naturrecht war eine unmittelbare Reaktion auf den Nationalsozialismus. 1. Die Verbrechen, die, von der Rechtslehre legitimiert, von Gerichten begangen wurden, waren zu gewaltig, als dass es möglich gewesen wäre, schweigend über sie hinwegzugehen. Juristen zeigten sich in der Naturrechtsliteratur erschüttert und sprachen eindringlich von einer „Krise des Rechts“. Die Naturrechtsdebatten waren der Rahmen, in dem eine Verständigung darüber stattfand, wie das Geschehene zu deuten sei und welche Konsequenzen sich daraus für Rechtslehre, Rechtspraxis und Rechtspolitik ergeben sollten. Man war sich einig darin, dass es dem Positivismus zuzuschreiben sei, dass sich Juristen dem Nationalsozialismus überwiegend nicht widersetzt hatten. Das Naturrecht stellte einen Gegenentwurf dar, der als einzig richtige Antwort erschien. 2. Die Besinnung auf Naturrecht war kein rein juristisches Phänomen. Der erste publizistische Aufbruch nach Endes des Krieges stand im Zeichen der „geistigen Erneuerung“. In dem Bedürfnis der „geistigen Krise“ zu begegnen, in der man sich durch Nationalsozialismus, Krieg und Besatzung sah, suchte man nach Ursachen für das Geschehene und erinnerte an wertvolle Denktraditionen wie die des Christentums oder des Humanismus. Die Naturrechtsbesinnung der Jurisprudenz erfolgte im Kontext dieses intellektuellen Klimas der ersten Nachkriegsjahre. Sie lebte davon, dass sich verschiedene Bedürfnisse des kirchlichen, juristischen und politischen Feldes trafen und sich gegenseitig verstärkten.

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Zusammenfassung und Ergebnisse

3. Eine naturrechtliche Fundierung der Rechtsordnung zu fordern, war jedoch nicht der einzige Weg, den Juristen nach 1945 einschlugen, um Konsequenzen aus der Erfahrung des Nationalsozialismus zu ziehen. Ein anderer lag darin, sich aktiv am politischen Wiederaufbau, vor allem an den Verfassungsgebungsprozessen der Länder und des Bundes zu beteiligen. Unter Juristen, die sich für diesen Weg entschieden, finden sich skeptische und kritische Stimmen gegenüber der Naturrechtsbesinnung. Adolf Arndt und Georg August Zinn sind hier etwa zu nennen. In die Diskussionen um Naturrecht griffen sie jedoch nur am Rande ein.

II. Naturrechtsdebatten Naturrecht wurde nach 1945 an verschiedenen Orten auf verschiedene Weise diskutiert. Es gab nicht die eine Naturrechtsdiskussion, sondern verschiedene Gesprächskreise, die einander zwar zur Kenntnis nahmen und sich punktuell auch zueinander positionierten, nicht aber in ein direktes Gespräch miteinander eintraten. Sie unterschieden sich sowohl in der Art und Weise, in der die Diskussion geführt wurde, als auch in den Problemen, für die sie eine Lösung suchten. Juristen diskutierten über übergesetzliches Recht und Naturrecht in vier verschiedenen Gesprächskreisen: Im Umfeld der katholischen und der evangelischen Kirche formulierten und diskutierten Rechtswissenschaftler gemeinsam mit Theologen christlich fundierte Naturrechtskonzepte. Die Rechtspraxis griff im Umgang mit rechtlichen Problemen, die sich durch die Umbruchssituation ergeben hatten, auf übergesetzliches Recht zurück. Dies wurde begleitet von einer breiten Diskussion in juristischen Fachzeitschriften und auf Juristentagen. Schließlich entwickelte sich unter Rechtsphilosophen eine Debatte um die Möglichkeit einer säkularen Begründung des Naturrechts beziehungsweise eines objektiven Kerns des Rechts. 1. Der Impuls ging von den christlichen Naturrechtsdiskussionen aus. Bereits vor Ende des Krieges waren in Kreisen des kirchlichen und des konservativen Widerstands Gesellschaftsentwürfe auf christlich-naturrechtlicher Grundlage entwickelt worden. Nach Ende des Krieges boten die Kirchen im Rahmen ihrer Rechristiansierungskampagnen Räume an, in denen über die Erneuerung der Gesellschaft auf christlicher Grundlage nachgedacht werden konnte und luden hierzu u.a. Juristinnen und Juristen ein. Für die Kirchen war Naturrecht das Stichwort, unter dem diskutiert wurde, ob und wie sie sich politisch in die Nachkriegsgesellschaft einbringen sollten. Religiös begründetes Naturrecht legitimierte für sie, sich in weltliche Angelegenheiten einzumischen; es versprach ihnen zugleich eine gewisse Autorität in der politischen Landschaft der Nachkriegszeit.

II. Naturrechtsdebatten

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2. Zwischen 1946 und 1950 erschienen zahlreiche, meist schmale Monographien, in denen katholische Juristen eine auf Grundsätzen des scholastischen Naturrechts basierende Rechts- und Staatsordnung skizzierten. Die Existenz des Naturrechts wurde in diesen Schriften nicht bezweifelt und auch seine Konzeption nicht kontrovers diskutiert. Es gab zwischen den Autoren kaum Differenzen, sogar im Aufbau der Argumentation ähnelten sich ihre Schriften. Sie stützten sich auf die lange Naturrechtstradition der katholischen Kirche, die durch die Neuscholastik im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Renaissance erfahren hatte, und hielten sich damit eng an päpstliche Lehren. Charakteristisch für diese Naturrechtsschriften war es, dass sie sich nicht darauf beschränkten, einige wenige höchste Werte mit absolutem Geltungsanspruch zu versehen, sondern dass sie detaillierte Naturrechtskataloge entwarfen. Diesen lag eine umfassende Staatslehre zugrunde, die von einer tiefen Skepsis gegenüber Pluralismus und liberaler Demokratie geprägt war. Der Staat wurde als ein in Teilgemeinschaften gegliederter Organismus gedacht, der auf das Gemeinwohl hinzuwirken habe. Sie betonten den Eigenwert besonders von Ehe, Familie und Kirche, aber auch des Staates selbst. Die Nähe zum Nationalsozialismus, die Teile der katholischen Kirche gerade aufgrund dieser Staatslehre gehabt hatten, wurde im Rahmen der Naturrechtsbesinnung nicht kritisch hinterfragt. Die Kirche galt vielmehr als unbefleckte Garantin einer gerechten Ordnung. Juristen vermittelten der Kirche mit ihren Naturrechtsschriften damit Legitimation und Autorität, ihre Vorstellungen über die Gesellschaftsordnung der Nachkriegszeit in die Verfassungsgebungsprozesse der Länder und des Bundes einzubringen. In dieser Arbeit wurde das am Beispiel der Verfassung von Rheinland-Pfalz gezeigt, wo der katholische Jurist und Politiker Adolf Süsterhenn die Chance sah, in Zusammenarbeit mit Vertretern der katholischen Kirche eine „christliche Idealverfassung“ zu schaffen (Kapitel 3). 3. Die evangelische Naturrechtsdiskussion stand im Zeichen der Auseinandersetzung um die Spaltung der Kirche im Nationalsozialismus. Eine Kirche, die auf Grundlage des Evangeliums politisch Verantwortung übernimmt, erschien als angemessene Antwort auf die Schuld, welche die Deutschen Christen auf sich geladen hatten, indem sie das nationalsozialistische Regime unterstützt hatten. Anders als die katholische Kirche sah sich die evangelische Theologie jedoch vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt. Die Zwei-Reiche-Lehre stand der Einmischung der Kirche in weltliche Fragen entgegen. Auf eine eigene Naturrechtstradition konnte die evangelische Kirche nicht zurückgreifen. Erste Entwürfe eines evangelischen Naturrechts entstanden bereits vor Ende der nationalsozialistischen Herrschaft im Umfeld der Bekennenden Kirche. Mit Kriegsende setzte eine breite Diskussion auf kirchlichen Tagungen und in den neu gegründeten evangelischen Akademien ein. Ob sich überhaupt eine Na-

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Zusammenfassung und Ergebnisse

turrechtslehre auf der Grundlage evangelischer Theologie begründen ließ, war hoch umstritten, bis Mitte der 1950er Jahre diskutierten Juristen und Theologen intensiv darüber. Die Extrempositionen markierten die Schweizer Theologen Emil Brunner und Karl Barth. Während Brunner ähnlich der katholischen Konzeption vorgeschlagen hatte, aus der Schöpfungsordnung naturrechtliche Normen abzuleiten, lehnte Barth eine theologische Begründung des Naturrechts ab. Stattdessen solle die Kirche Verantwortung übernehmen, indem sie sich auf den Gottesdienst als politischen Ort besinne und das Wort Gottes ernst nehme. Unter Juristen wie unter Theologen setzte sich keine dieser Extrempositionen durch. Ein Naturrecht nach katholischem Vorbild wurde überwiegend abgelehnt, es herrschte jedoch zugleich Einigkeit, dass auf religiöse Vorgaben für das Recht nicht ganz verzichtet werden solle. Eine Rechtstheologie, wie Erik Wolf sie forderte, wurde allerdings nur im Kirchenrecht bedeutsam. Dort mündete die Diskussion um die religiöse Fundierung des Rechts in ein „bekennendes Kirchenrecht“ (Kapitel 4). 4. Die kirchlichen Gesprächskreise konnten für Juristen einen Rückzugsort darstellen, so für Erik Wolf (Kapitel 4). Vor allem aber waren sie attraktiv, weil sie Anschluss an eine widerständische Tradition boten, auf die Juristen im eigenen Fach nicht verweisen konnten. Christliches Naturrecht versprach, das Recht mit einer Gedankenwelt in Verbindung zu bringen, die dem Nationalsozialismus etwas entgegenzusetzen gehabt hatte. Dieses Versprechen lebte freilich davon, dass die Verstrickungen der Kirche in den Nationalsozialismus im Rahmen der christlichen Naturrechtsdiskussionen nur sehr partiell thematisiert wurden. In der katholischen Kirche erfolgte keinerlei Problematisierung. In der evangelischen Kirche war zwar die Spaltung der Kirche im Nationalsozialismus in Anhänger und Gegner ein beherrschendes Thema, Antisemitismus oder antiliberales Denken innerhalb der Bekennenden Kirche wurden allerdings nicht angesprochen (Kapitel 3 und 4). 5. Die Besinnung auf übergesetzliches Recht unter Juristen war damit nicht ausgelöst durch die rechtspraktischen Probleme, die sich mit dem Umbruch ergaben. Als das Amtsgericht Wiesbaden als erstes Gericht im November 1945 ein Urteil auf Grundlage übergesetzlichen Rechts verkündete, hatte die Diskussion um eine naturrechtliche Erneuerung in Akademien, Zeitungen und Denkschriften bereits begonnen (Kapitel 3 und 4). Dass die Gerichte in der Umbruchsituation auf Argumentationen mit übergesetzlichem Recht zurückgriffen, führte aber zu einer erheblichen Ausweitung der Beschäftigung mit der Naturrechtsfrage. Zwischen 1946 bis 1948 wurde sie nicht nur unter Rechtswissenschaftlern, sondern auch unter Rechtspraktikern breit diskutiert (Kapitel 2).

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6. Im Falle dieser rechtspraktischen Diskussion kann genau genommen nicht von einer Naturrechtsdebatte die Rede sein: Übergesetzliches Recht war in ihr ein Argument für oder gegen bestimmte Lösungen rechtspraktischer Probleme. Ob und wie übergesetzliches Recht rechtsphilosophisch begründet werden könne, war nicht Gegenstand dieser Diskussion. Zumeist führten die Autoren nicht aus, ob sie an christliches Naturrecht, an aufklärerisches Vernunftrecht oder an ein von Menschen geschaffenes Kulturrecht dachten. Den materiellen Gehalt der übergesetzlichen Normen spezifizierten sie nur so weit, wie dies für ihre juristische Argumentation notwendig war. Die größte Rolle spielten Argumentationen mit übergesetzlichem Recht in der Diskussion um die rückwirkende Bestrafung, die für nationalsozialistische Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch das Kontrollratsgesetz Nr. 10 angeordnet wurde. Unter deutschen Juristen war diese Regelung hochgradig umstritten. Die Befürworter einer rückwirkenden Bestrafung argumentierten, dass es einen Bruch übergesetzlichen Rechts darstelle, Verbrechen gegen die Menschlichkeit ungestraft zu lassen. Die Gegner wiederum sprachen dem Rückwirkungsverbot übergesetzlichen Rang zu. Der Rückgriff auf übergesetzliches Recht erfolgte damit nicht bloß, um ein ‚rechtliches Vakuum‘ zu füllen, das durch die Umbruchsituation entstanden war; er diente auch nicht allein der Umwertung nationalsozialistischen Rechts in Unrecht. Übergesetzliches Recht war vielmehr auch ein zentrales Argument in der Diskussion um die Legitimität von Besatzungsrecht. Argumentationen mit übergesetzlichem Recht verschwanden aus rechtspraktischen Diskussionen so schnell, wie sie gekommen waren. Der Höhepunkt war bereits 1947 erreicht. Dass übergesetzliches Recht dennoch im rechtspraktischen Diskurs bis in die 1950er Jahre präsent blieb, ist der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unter der Präsidentschaft von Hermann Weinkauff geschuldet, welche aber mehr Kritik als Zustimmung in der Fachliteratur erntete (Kapitel 2). 7. Gustav Radbruch, dessen Formel wohl das einzige ist, was aus den Naturrechtsdebatten in den bleibenden Bestand der Rechtsphilosophie eingegangen ist, spielte für den Verlauf der Diskussionen keine entscheidende Rolle. Es wurde vor allem die von ihm formulierte These aufgenommen, dass der Positivismus Juristen wehrlos gegenüber dem Nationalsozialismus gemacht habe. Seine Nachkriegsphilosophie blieb fragmenthaft und seine Positionen waren kontextabhängig, was von den Zeitgenossen wohl wacher wahrgenommen wurde, als es im Rückblick gesehen wird. Er intervenierte in die rechtspraktische Diskussion, indem er vor den Gefahren warnte, die übergesetzliches Recht für den wieder zu errichtenden Rechtsstaat mit sich brachte. Er zeigte Faszination für das englische Präjudizienwesen und schlug vor, sich an diesem zu orientieren, um Gerechtigkeit und Rechtsstaat miteinander in Einklang zu

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Zusammenfassung und Ergebnisse

bringen. Zugleich stand er den Naturrechtsdebatten durchaus aufgeschlossen gegenüber und bestärkte die Notwendigkeit einer Besinnung auf überpositive Maßstäbe. Ob diese christlich fundiert oder kulturrechtlich an der Tradition der Menschenrechte orientiert sein sollten, ließ er offen (Kapitel 2). 8. Die Diskussion um eine säkulare Begründung des Naturrechts setzte spät ein und hatte ihren Höhepunkt erst in der ersten Hälfte der 1950er Jahre. Sie entwickelte sich in Kritik an den übrigen Naturrechtsdebatten und wurde im Rahmen der akademischen Rechtsphilosophie geführt. Besonders von einem geschlossenen System absoluter überzeitlicher Normen, wie es die katholische Lehre entwarf, distanzierten sich die Beteiligten ausdrücklich. Sie forderten, dass die Geschichtlichkeit allen Rechts anerkannt werden müsse und fragten danach, wie das Verhältnis zwischen metaphysischem Gehalt des Rechts und historischem Wandel von Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen gefasst werden könne. Damit standen theoretische Fragen im Vordergrund. Einzig Helmut Coing entwarf eine umfassende, auch materiell ausgefüllte Naturrechtslehre. Trotz der Skepsis gegenüber dem traditionellen Naturrecht herrschte auch in diesem Gesprächskreis Einigkeit, dass es einen objektiven Kern des Rechts geben müsse. Die Suche nach diesem stütze sich auf geisteswissenschaftliche, lebensphilosophische und wertphilosophische Konzepte aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts, sowie auf normative Soziologie, Ontologie und Existenzphilosophie. Im Verlauf der Diskussion kristallisierten sich zwei Wege heraus, wie die Spannung zwischen Geschichtlichkeit und Objektivität aufgelöst werden könne: Einerseits setzte sich eine weniger natur- als kulturrechtlich orientierte Rechtsphilosophie durch. Andererseits fand das Konzept der „Natur der Sache“, und damit eine ontologische Begründung des objektiven Kerns des Rechts, breite Zustimmung. Naturrechtslehren wurden damit in den 1950er Jahren abgelöst von der Institutionenlehre, die sich sowohl im Zivilrecht als auch im Verfassungsrecht niederschlug. Der Antipositivismus der ersten Nachkriegsjahre blieb damit erhalten. Zugleich veränderte sich im Verlauf dieser Diskussion die Funktion übergesetzlichen Rechts: Ging es in den ausgehenden 1940er Jahren noch um die Frage, wie die Nichtigkeit gesetzlichen Unrechts begründet werden könne, rückte in den 1950er Jahren die Bedeutung der Gerechtigkeitsfrage für Einzelfallentscheidungen in den Mittelpunkt. Während man übergesetzliches Recht materiell auf ein Minimum reduzierte, weitete man seine Funktion aus: Es war nicht mehr nur Schranke für die Geltung positiven Rechts, sondern sollte als Auslegungsmaxime in jeder richterlichen Entscheidung herangezogen werden. Die Diskussion löste sich damit vom Nationalsozialismus als ihrem Ausgangspunkt. Sie mündete in die Forderung nach Anerkennung richterlicher Entscheidungsspielräume und in die Legitimierung richterlicher Rechtsfortbildung (Kapitel 5).

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9. Davon, dass die Naturrechtsbesinnung nach 1945 katholisch dominiert gewesen sei oder gar von einer „Katholisierung des Rechts“ (Helmut Simon, 1962), kann vor diesem Hintergrund keine Rede sein. Die Diskussionsverläufe und -gegenstände unterschieden sich in den Debatten erheblich und Naturrechtskonzeption und Geltungslehre orientierten sich keinesfalls einheitlich am katholischen Modell. Die katholische Lehre kann jedoch als Kristallisationspunkt gesehen werden: In der evangelischen und in der säkularen Debatte grenzte man sich von ihr ab und suchte gerade in der Kritik an ihr nach einer eigenen Position. 10. Auch die Vorstellungen über das Verhältnis übergesetzlicher Normen zum Gesetzesrecht, waren nicht einheitlich. In der rechtspraktischen Diskussion wurde übergesetzliches Recht herangezogen, um die Geltung von Gesetzesrecht zu begrenzen. Im Falle extremen Unrechts sollte sich ‚Recht‘ gegen das ‚Gesetz‘ durchsetzen. Die Verfasser katholischer Naturrechtsschriften interessierten sich vergleichsweise wenig für die Geltungsbedingungen des Gesetzesrechts. Ihnen ging es darum zu zeigen, dass es mit dem katholischen Naturrecht echtes ‚Recht‘ jenseits des ‚Gesetzes‘ gebe. Die Beteiligten an den protestantischen Diskussion waren hierin vorsichtiger: Übergesetzliche Normen verpflichteten aus ihrer Sicht nicht rechtlich, sondern religiös. Religiös verbindlich war das ‚Recht‘, juristisch das ‚Gesetz‘. Sie forderten dazu auf, im Konfliktfalle der religiösen Norm zu folgen und im Übrigen darauf hinzuwirken, dass es zu solchen Konflikten nicht mehr komme. In der säkularen Diskussion wurde zunächst wie in der rechtspraktischen Diskussion ‚Recht‘ als Grenze des ‚Gesetzes‘ begriffen. Mit der Anerkennung übergesetzlichen Rechts als Auslegungsmaxime veränderte sich dies grundlegend: Das ‚Recht‘ war nun Teil des ‚Gesetzes‘, es ging um ‚Recht‘ im ‚Gesetz‘. 11. In allen Fällen wurde das ‚Gesetz‘ allein als unzureichend angesehen. Hiermit ging eine Relativierung der Gesetzesbindung einher. Positivistische Gegenpositionen wurden kaum formuliert und die wenigen dieser Stimmen, die es gab, fanden kein Gehör. Prominente Vertreter des Positivismus im Weimarer Methodenstreit waren während des Nationalsozialismus ins Exil gegangen und nicht zurückgekehrt. Andere kehrten zwar nach Deutschland zurück, der Weg in die Jurisprudenz war ihnen aber versperrt; sie fassten Fuß in der sich im Aufbau befindlichen Politikwissenschaft. Die wenigen, die nach 1945 wieder als Juristen in Deutschland tätig sein konnten, konzentrierten sich auf Fragen des politischen Wiederaufbaus und nahmen an den Verfassungsgebungsprozessen aktiv teil. An den Naturrechtsdebatten beteiligten sie sich nicht, ihre Werke wurden nicht rezipiert (Kapitel 1).

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Zusammenfassung und Ergebnisse

III. Positionierung in der Umbruchsituation Naturrechtsliteratur war für die Jurisprudenz Wendeliteratur. Juristen grenzten sich vom Nationalsozialismus ab, verorteten sich in der Gegenwart und entwarfen Visionen für die neu aufzubauende Gesellschaftsordnung, indem sie über Naturrecht oder übergesetzliches Recht schrieben. In den hierdurch vorgenommenen Positionierungen zeigt sich, dass die Naturrechtsbesinnung ein Erneuerungs- und Bewahrungsprojekt zugleich war. Die Autoren wollten einen Bruch mit der jüngsten Vergangenheit vollziehen, stellten ihr bisheriges Denken jedoch nicht grundlegend in Frage und suchten nach Erzählungen, die diesem erneut Legitimität vermittelten. Zugleich vergewisserten sie sich des Werts und der Aufgaben der Jurisprudenz in der neuen Gesellschaftsordnung und damit der eigenen professionellen Identität. Von zentraler Bedeutung war dabei das Verhältnis von Recht und Jurisprudenz zur Politik, es durchzog die Naturrechtsliteratur auf vielfältige Weise: Sowohl die Deutung der Vergangenheit als auch die Selbstvergewisserung erfolgten auf eine Art, die es der Jurisprudenz möglich machte, wieder legitim rechtlich über Recht zu sprechen und hierin Autorität insbesondere auch gegenüber dem Gesetzgeber zu beanspruchen. 1. Die Frage der Schuld war gedanklicher Ausgangspunkt für die Naturrechtsbesinnung. Mit der These, der Positivismus habe Juristen wehrlos gemacht und es dem Nationalsozialismus ermöglicht, seine Verbrechen im Namen des Rechts zu begehen, wurde eine Grenze zwischen Schuld und Unschuld, einer positivistischen und einer antipositivistischen Rechtslehre sowie zwischen Jurisprudenz und Politik gezogen. Die Schuldzuweisungen, die auf diese Weise vorgenommen wurden, basierten nicht auf historischen Analysen und lebten von signifikanten Ausblendungen. Ein Positivismus, wie er in den Naturrechtstexten beschrieben wurde, hatte so nie existiert und auch die Darstellung nationalsozialistischer Rechtslehre und -praxis blieb schemenhaft. Während die Wehrlosigkeit der Justiz gegenüber dem nationalsozialistischen Regime betont wurde, wurde die eigenständige Rolle ausgeblendet, die Justiz und Rechtswissenschaft für die nationalsozialistische Herrschaftsordnung gespielt hatten. Und während der positivistischen Rechtslehre der Zeit vor 1933 Schuld zugewiesen wurde, blieb unerwähnt, dass ihre prominentesten Vertreter die Weimarer Demokratie verteidigt hatten und als Kritiker des Nationalsozialismus aus den Universitäten vertrieben worden waren. Die Rolle antipositivistischen Denkens, das die Verfasser der Naturrechtsliteratur vor 1933 und vor 1945 überwiegend vertreten hatten, wurde nicht diskutiert. Die Frage der Schuld galt mit der Positivismusthese als beantwortet. An antipositivistisches Denken konnte damit auch ohne Reflexion seiner Bedeutung vor und während des Nationalsozialismus wieder angeknüpft werden. Aufgrund der Positivismusthese wurde es zum Inbegriff des Neuanfangs (Kapitel 1).

III. Positionierung in der Umbruchsituation

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2. Mit der Kritik am Positivismus konstituierte die Naturrechtsliteratur das Recht in strikter Abgrenzung von der Politik. Die Positivismuskritiken bauten auf der Annahme auf, dass das Recht deshalb in den Dienst nationalsozialistischer Herrschaft hatte gestellt werden können, weil es außerrechtlichen Einflüssen ausgesetzt gewesen sei, etwa durch den Gesetzgeber, den Staat oder indem es in den Dienst der Erfordernisse einer tatsächlichen oder vermeintlichen Wirklichkeit gestellt wurde. Von diesen Einwirkungen galt es das Recht zu bereinigen und ihm auf diese Weise seine Autonomie zurückzugeben. Diese Deutung des Geschehenen brachte es mit sich, dass das Recht als solches nicht in Frage gestellt werden musste. Recht, das man Recht sein ließ, wurde in der Naturrechtsliteratur als etwas Gutes, der Gerechtigkeit Verpflichtetes angesehen. Während Politik aus dem Bereich des Rechts verwiesen wurde, wurden Gewissen, Moral und Werte zu integralen Bestandteilen des Rechts erklärt. Rechtliches Sprechen über Recht sollte im Verbund mit Geisteswissenschaft und Theologie erfolgen (Kapitel 1). 3. Auch die Frage, wie man sich zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus zu positionieren habe, wurde damit in den Naturrechtsdebatten nicht als eine politische gedacht. Zwar war sie durch die Verbindung, die zwischen Nationalsozialismus und Positivismus gezogen wurde, moralisch stark aufgeladen. Wie sich rechtsphilosophische Verortung und die mit ihr einhergehenden methodischen Grundentscheidungen strukturell zu Diktatur und totalitärer Herrschaft oder auch zu Rechtsstaat und Demokratie verhielten, war jedoch keine Frage, die im Rahmen der Naturrechtsdebatten aufgeworfen wurde (Kapitel 1 und 6 C). 4. Während die Naturrechtsliteratur auf diese Weise Recht und Rechtsdenken als etwas Apolitisches konzipierte, positionierten sich die Autoren mit den Werten, denen sie naturrechtliche Verbindlichkeit zuschrieben, durchaus politisch: Sie skizzierten, wie sie sich die Gestaltung der Nachkriegsgesellschaft vorstellten, und brachten dies in die Diskussion ein. Trotz aller Unterschiede zwischen den einzelnen Gesprächskreisen in der Konzeption übergesetzlichen Rechts gab es dabei eine gemeinsame Tendenz: Es waren die Wert- und Ordnungsvorstellungen des traditionellen, sozial ausgerichteten Konservativismus, für die Naturrecht nach 1945 ein Träger war (Kapitel 6 D). Werte wie soziale Solidarität, Gemeinschaftsbindung und Gemeinwohlorientierung dominierten die Naturrechtskonzeptionen. Freiheit wurde nicht nur als negative Freiheit gedacht, viele Autoren betonten vielmehr, dass sich Freiheit gerade auch in Gemeinschaft verwirkliche. Sie forderten, dass Ehe, Familie und Kirche in ihren Eigengesetzlichkeiten Schutz genießen sollten. Die Ausgestaltung subjektiver Rechte des Einzelnen gegenüber diesen Gemeinschaften wie auch gegenüber dem Staat blieb schwach. Keine der Naturrechtskonzeptionen erklärte Mitgestaltung und politische Partizipation für naturrechtlich geschützt (Kapitel 6 A). Obgleich alle Naturrechtsschriften in Abgrenzung zum Nationalsozialismus

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Zusammenfassung und Ergebnisse

den Wert von Menschenwürde und individuellen Freiheitsrechten betonten, lag den Konzeptionen damit eine tiefe Skepsis gegenüber Liberalismus, Individualismus und Demokratie zugrunde (Kapitel 6 A und B). Gustav Radbruch und Helmut Coing fügten sich in diesen Konsens nicht ein, setzten jedoch auch nicht in einer Weise einen Kontrapunkt, dass dieser Gehör gefunden hätte (Kapitel 6 A). 5. Als Beiträge zum politischen Wiederaufbau oder als Interventionen in die Verfassungsgebungsprozesse lassen sich die meisten der Naturrechtsschriften nicht lesen. Adolf Süsterhenn, der sowohl publizistisch für das katholische Naturrecht eintrat als auch dessen verfassungspolitische Umsetzung verfolgte, war so gesehen eine Ausnahme. In den meisten Naturrechtsschriften finden sich keine Vorschläge, wie die Nachkriegsordnung konkret zu gestalten sei. Die Gesellschaftskonzeption, welche die Autoren mit dem Naturrecht entwarfen, hatte einen utopischen Charakter (Kapitel 6 B). Welche Institutionen aufgebaut und wie Verfahren gestaltet werden sollten, um diese Utopie zu verwirklichen, machten sie nicht zu ihrem Thema. Die Naturrechtsliteratur stand damit nicht nur der Demokratie skeptisch gegenüber, auch an rechtsstaatlichen Verfahren zeigte sie sich nicht interessiert. Auch in ihrer apolitischen Haltung gegenüber ihren eigenen Zukunftsentwürfen positionierte sie sich damit durchaus politisch gegenüber der neu zu errichtenden Gesellschaftsordnung (Kapitel 6 B und D). 6. Auch die Frage, wie die gerichtliche Handhabung des Naturrechts institutionalisiert werden solle, spielte in den Naturrechtsdebatten eine untergeordnete Rolle. Eine Ausnahme stellt hier die rechtspraktische Debatte dar. Diese berührte sich mit verfassungs- und justizpolitischen Diskussionen um die Frage eines materiellen Prüfungsrechts für die Gerichte und die Schaffung von Verfassungsgerichtshöfen (Kapitel 2). Im Übrigen blieb in vielen Schriften schon das Verhältnis zwischen Naturrecht und positivem Recht vage, obgleich dieses für eine gerichtliche Umsetzung von eminenter Bedeutung war. Selbst Vertreter der katholischen Naturrechtslehre, die Naturrecht als „echtes Recht“ ansahen, überließen die Frage der Verbindlichkeit letztlich dem individuellen Gewissen. Naturrecht wurde damit in der Person des einzelnen Juristen bzw. der einzelnen Juristin verankert. Die „Erneuerung des Rechts“, wie sie in den Naturrechtsdebatten diskutiert wurde, mündete oft in nicht mehr als in Appellen an Richter/innen, sich auf die naturrechtlichen Werte zu besinnen und diese in ihrer Rechtsprechung zu berücksichtigen (Kapitel 6 C). 7. Diese Aufrufe an Richter/innen, dem Naturrecht in der Praxis Geltung zu verschaffen, waren eng verbunden mit der Forderung nach Entscheidungsspielräumen für die Justiz. Eine wertverbundene Justiz sollte Schutz vor gesetzlichem Unrecht garantieren und stand für ein erneuertes Recht. Ihr, nicht dem Gesetzgeber, sollte das Recht anvertraut werden. In der Naturrechtsbesinnung

IV. Konjunktur des Naturrechts

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vergewisserte sich die Jurisprudenz somit nicht nur der Legitimität von Recht und verständigte sich über den eigenen Beitrag zur Verwirklichung einer gerechten Gesellschaftsordnung. Die Naturrechtsliteratur war auch ein Ort, an dem die Jurisprudenz Anspruch auf Deutungshoheit über das Recht und auf gesellschaftliche Autorität erhob (Kapitel 6 C). Mit der Forderung nach einer starken Justiz berührten sich die Naturrechtsdebatten mit den justizpolitischen Diskussionen der 1940er Jahre (Kapitel 2). Zugleich bereiteten sie mit ihrem ‚Denken von der Justiz aus‘ den Boden für die zivilrechtliche Methodendiskussion der 1950er Jahre, die das Richterrecht als zentralen Pfeiler der Rechtsordnung anerkannt wissen wollte (Kapitel 5). Auch die Forderung nach einer „Großen Justizreform“ in den 1950er Jahren speiste sich aus diesem Denken (Kapitel 6 C).

IV. Konjunktur des Naturrechts Dass sich so viele Juristen nach 1945 dem Naturrecht zuwandten, erklärt sich aus einer Summe verschiedener Faktoren: 1. Naturrecht hatte schon deswegen Konjunktur, weil sich die Naturrechtsdebatten gegenseitig verstärkten. Kirchliche und juristische Bedürfnisse trafen sich und gaben sich gegenseitig Impulse (Kapitel 2–4). Zugleich bestärkten sich die Autoren über die Gesprächskreise hinweg in der Wahrnehmung, auf dem richtigen Weg zu sein, da sie sich in Wertorientierung und Vergangenheitsdeutung nah waren (Kapitel A, B, D und E). 2. Für die Jurisprudenz waren die Naturrechtsdebatten der Rahmen, in dem das eigene fachliche Selbstverständnis und damit die durch die „Krise des Rechts“ in Frage gestellte professionelle Identität wieder hergestellt werden konnten. Attraktiv war die Besinnung auf Naturrecht, da sie einerseits die Möglichkeit bot, sich vom Nationalsozialismus abzugrenzen und einen Neuanfang zu verkünden, andererseits aber nicht dazu zwang, alles bisherige Denken in Frage zu stellen. In der Naturrechtsliteratur wurde an positive Traditionen erinnert, zugleich war sie ein Rahmen, in dem verdeckt konservatives Ordnungsdenken sowie ein antipositivistisches Rechtsverständnis fortwirken konnten. Denktraditionen aus der Zeit vor 1933 mussten auf diese Weise nicht grundlegend in Frage gestellt werden und wurden durch ihre Verbindung mit dem Naturrecht rehabilitiert. Dies gab Sicherheit und ermöglichte, auf die Unsicherheit des Umbruchs nicht mit Schweigen oder Fragen zu reagieren, sondern mit Antworten (Kapitel 6 A, B, D und E).

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Zusammenfassung und Ergebnisse

3. Die Besinnung auf Naturrecht war nach 1945 eine Möglichkeit, mit der Vergangenheit zu brechen, ohne über individuelle Schuld und eigene Handlungsmuster öffentlich nachdenken zu müssen. Schon das Bekenntnis zum Naturrecht selbst wurde als Beitrag zur Erneuerung des Rechts wahrgenommen. Eine Jurisprudenz, die sich dem Naturrecht geöffnet hatte, galt als eine, die aus eigener Kraft ihre Legitimität zurückerlangt hatte. Die Naturrechtsdebatten ermöglichten es damit allen, sich an einem Neuanfang für die Jurisprudenz zu beteiligen. Voraussetzungslos und niedrigschwellig im Zugang wirkten sie integrativ in einer Profession, in der jeder seine eigene Geschichte im Nationalsozialismus gehabt hatte (Kapitel 6 E). 4. Gerade durch die Konjunktur des Naturrechts ließ der Druck schnell nach, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu befassen. In der Wahrnehmung der Autoren schaffte es die Jurisprudenz, die „Krise des Rechts“ durch die Besinnung auf das Naturrecht zu überwinden. Die Legitimität von Recht und Jurisprudenz mussten damit bald nicht mehr in Frage gestellt werden. Die Naturrechtsliteratur trug auf diese Weise dazu bei, dass die Jurisprudenz die Unsicherheiten hinter sich lassen konnte, welche in der Umbruchsituation die Besinnung auf das Naturrecht ausgelöst hatte. Der Nationalsozialismus verschwand aus der rechtsphilosophischen Literatur, noch ehe die Naturrechtsdebatten abgeklungen waren.

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Kapitel 7

Zwei Zeitsprünge: Die Unfähigkeit zu trauern und ihr Preis I. Abklingen der Naturrechtsdebatten Die Besinnung auf Naturrecht währte nicht lange, es handelt sich um eine kurze Phase der westdeutschen Rechtswissenschaftsgeschichte.1 Kaum zehn Jahre nachdem sie begonnen hatte, konstatierten Rechtsphilosophen, dass sich die meisten Juristen wieder vom Naturrecht abgewandt hätten. Man begegne dem Naturrecht „mit Mißtrauen und Ablehnung“2 schrieb Erich Fechner 1954 und stellte fest, dass „gegenwärtig der Positivismus wieder an Boden“ gewinne.3 Bereits ein Jahr zuvor hatte Hans Welzel gewarnt: „Wir stehen heute in Deutschland, sieben Jahre nach dem Zusammenbruch, in der akuten Gefahr, wieder in einen extremen Positivismus zurückzugleiten.“4 Peter Schneider wollte gar von einer „ewigen Wiederkehr des Positivismus“ sprechen.5 Ein Abklingen der Naturrechtseuphorie kann jedoch sogar noch früher datiert werden. In den an rechtspraktischen Fragen orientierten juristischen Fachzeitschriften nahm bereits zwei bis drei Jahre nach Kriegsende die Anzahl der Beiträge, in denen Naturrecht eine Rolle spielte, rapide ab. Schon 1950 fehlen in den Sachverzeichnissen der führenden Zeitschriften die Stichworte ‚Naturrecht‘ und ‚Positivismus‘, auch das Stichwort ‚Rechtsphilosophie‘ verschwand aus den Registern.6 Die Jurisprudenz wandte sich wieder Dogmatik oder auch 1  So auch Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie in der Nach-Neuzeit, 1990, S. 8; Ulfrid Neumann, in: Dieter Simon (Hg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 1994, S. 145 (158); Arndt Künnecke, Auf der Suche nach dem Kern des Naturrechts, 2003, S. 39. 2  Erich Fechner, Naturrecht und Existenzphilosophie, ARSP 41 (1954/55), 305 (ebd.). 3  Erich Fechner, ebd., S. 312; im gleichen Sinne Ulrich Scheuner, in: Hans Dombois (Hg.), Recht und Institution, 1956, S. 34 (36). 4  Hans Welzel, Naturrecht und Rechtspositivismus (1953), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 322 (325). 5  Peter Schneider, Naturrechtliche Strömungen in deutscher Rechtsprechung, ARSP 42 (1956), 98 (ebd.). 6  Auswertungszeitraum bis 1955: MDR letzter Nachweis 1949; JR letzter Nachweis 1951. In der NJW sind vom 1. Jg. 1947 an nur vereinzelt Rezensionen zu diesen Themen zu finden, hieran ändert sich auch nach 1950 nichts, das Stichwort „Naturrecht“ taucht jedoch 1950 zum letzten Mal auf. In der SJZ waren Artikel mit Naturrechtsbezug zunächst relativ stark präsent, die Anzahl der Artikel unter allen drei Stichworten nahm jedoch im Laufe der 1940er

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Kapitel 7: Zwei Zeitsprünge: Die Unfähigkeit zu trauern und ihr Preis

Rechtspolitik zu, ohne sich hierfür auf rechtsphilosophische Überlegungen zu stützen. Dass die Naturrechtsfrage dennoch auch außerhalb der rechtsphilosophischen Fachliteratur in der juristischen Öffentlichkeit ein Thema blieb, war in erster Linie bedingt durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Seine naturrechtlichen Argumentationen wurden allerdings zunehmend skeptisch aufgenommen und auch die Werte, die er als naturrechtlich ansah, stießen nicht mehr auf einhellige Zustimmung. Etwas länger währte die Beschäftigung mit der Naturrechtsfrage in rechtsphilosophisch interessierten Kreisen der Rechtswissenschaft und unter Juristen, die sich im Umfeld der Kirchen bewegten. Diese Naturrechtsdebatten können in zwei Phasen eingeteilt werden: In der ersten ging es darum, herauszufinden, wie man mit der Erfahrung des Nationalsozialismus umgehen könne, und Kirche beziehungsweise Jurisprudenz in der Nachkriegsgesellschaft zu positionieren. In der zweiten stand die philosophische Auseinandersetzung mit der Frage im Mittelpunkt, wie an einem objektiven Kern des Rechts festgehalten werden könne, auch wenn man die Geschichtlichkeit allen Rechts anerkenne. Katholische Juristen trugen zur Naturrechtsdiskussion vor allem in der ersten Phase bei, die für sie etwa 1950 endete. Ihr folgte erst einmal nichts. Erst Ende der 1950er Jahre nahmen katholische Theologen und Rechtswissenschaftler den Faden wieder auf, nunmehr mit dem Impuls, die als zu statisch empfundene Naturrechtslehre an die Einsicht in die Geschichtlichkeit anzupassen.7 In den 1960er Jahren folgten erste kritische Auseinandersetzungen mit den illiberalen und undemokratischen Gehalten der Neuscholastik, deren Lehre von der katholischen Naturrechtsliteratur nach 1945 aktualisiert worden war.8 In der evangelischen Diskussion stand unmittelbar nach Kriegsende zunächst die Frage im Vordergrund, ob und wie sich die Kirche zu weltlichen Belangen positionieren sollte. Dies war hier jedoch von Anfang an mit der Frage verbunden, ob ein Naturrecht auf theologischer Grundlage begründbar sei. Evangelische Autoren machten in diesem Zusammenhang frühzeitig die Geschichtlichkeit des Rechts zum Thema. Spätestens mit dem Arbeitstreffen in Jahre deutlich ab, Nachweise finden sich aber bis zum letzten Jg. 1950. Das gleiche gilt für die DRZ. In der JZ als Nachfolgezeitschrift von SJZ und DRZ, bleibt die Rechtsphilosophie vergleichsweise stark präsent, auch das Stichwort „Naturrecht“ taucht hier noch 1955 auf. Das gleiche Phänomen lässt sich im Privatrecht beobachten, wo Beiträge zur Prinzipiendiskussion um 1949 aus den Zeitschriften weitgehend verschwanden, dazu Ilka Kauhausen, Nach der ‚Stunde Null‘, 2007, S. 228 ff. 7  Unter Juristen vor allem durch Arthur Kaufmann vorangetrieben, grundlegend: Naturrecht und Geschichtlichkeit, 1957. Eine Ausnahme war Günther Küchenhoff, der noch 1962 seine Naturrechtsschrift „Naturrecht und Christentum“ (1948) unter dem veränderten Titel „Naturrecht und Liebesrecht“ neu auflegte. 8  Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der deutsche Katholizismus im Jahre 1933 (1961), 1988; Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik (1962), 1983, S. 224 ff.; Klaus Breuning, Die Vision des Reiches, 1969.

I. Abklingen der Naturrechtsdebatten

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Göttingen 1949 nahm die Diskussion einen stark theoretischen Charakter an. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre verlagerte sich die Diskussion und wurde nun vor allem auf dem Feld des Kirchenrechts geführt, wo sie bis in die 1960er Jahre hinein virulent blieb. Die säkulare Diskussion wurde angestoßen durch Coings Versuch einer „wissenschaftlichen“9 und gerade nicht theologischen „Neubegründung“ des Naturrechts im Jahr 1947. Sie entfaltete sich erst in der ersten Hälfte der 1950er Jahren in kritischer Positionierung gegenüber geschlossenen Naturrechtssystemen scholastischer Prägung. Wie mit der Einsicht in die Geschichtlichkeit des Rechts umzugehen sei, war die Frage, um welche die Auseinandersetzung von Anfang an kreiste. Die säkulare Naturrechtsdebatte stand damit insgesamt im Zeichen der Abwendung vom Naturrecht. Das Ende lässt sich für keine der Debatten genau datieren. Sie verflüchtigten sich im Laufe der 1950er Jahre allmählich. Naturrecht wurde immer weniger diskutiert und Skepsis häufiger artikuliert, ohne dass sich jedoch Ansätze für einen Gegenangriff entwickelt hätten. Die Kritiken „testierten das Ende dieser Lehren, sie verursachten es nicht“, beschreibt Ulfrid Neumann diesen Vorgang treffend.10 Man verlagerte den Fokus und wandte sich damit anderen Fragen zu, ohne sich in strikte Opposition zu den Naturrechtsentwürfen der ersten Nachkriegsjahre zu begeben. Vollständig verschwand das Naturrecht nicht.11 Die Naturrechtsliteratur verlor aber bereits um 1950 erheblich an Breite und wich im Laufe der 1950er Jahren anderen Themen und Zugriffen. Wie lässt sich dieser Vorgang erklären? Weinkauff sah eine Ursache darin, dass „mit dem Wiedererstarken und dem Funktionieren des Rechtsstaates […] die Naturrechtsfrage erheblich an praktischer Bedeutung verloren hatte.“12 Auch wenn sich Rechtspraktiker nach Kriegsende nicht nur aufgrund der recht 9 

Helmut Coing, Die obersten Grundsätze des Rechts, 1947, S. 7. Ulfrid Neumann, in: Dieter Simon (Hg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 1994, S. 145 (158 f.). 11  Dies gilt erst recht für Philosophie und Theologie. Spätere Naturrechtsentwürfe von Seiten der Philosophie z.B. Hans Reiner, Grundlagen, Grundsätze und Einzelnormen des Naturrechts, 1964. Er leitete eine „nach möglichster Objektivität strebenden Daseinsordnung“ aus der Natur und der Vernunft des Menschen ab. Sein Entwurf erinnert an die statischen Naturrechtentwürfe der katholischen Naturrechtsbesinnung, wenn auch ohne religiösen Bezug. Ähnlich auch Günter Brenner, Naturrecht und politische Ordnung, 1968. Für die evangelische Theologie Überblick bei Klaus Tanner, Der lange Schatten des Naturrechts, 1993, S. 20 ff.; für die katholische Theologie Andreas Laun, Die naturrechtliche Begründung der Ethik in der neueren katholischen Moraltheologie, 1973, S. 106 ff. 12  Hermann Weinkauff, Naturrecht und Justiz, in: Die politische Meinung, Heft 71, 1962, S. 21 (23). Im gleichen Sinne schon Erich Fechner, Naturrecht und Existenzphilosophie, ARSP 41 (1954/55), 305 (312). Umgekehrt sah Fechner aber auch gerade die „allzu leichtfertige Berufung auf naturrechtliche Grundsätze“ als Grund für die Ablehnung des Naturrechts in der Praxis an. Ulrich Schneuner sah die Ursache für das Abebben der Naturrechtsbegeisterung u.a. darin, dass für die Legitimierung der rückwirkenden Strafverfolgung von NS-Verbrechen auf übergesetzliches Recht zurückgegriffen worden war, in: Hans Dombois (Hg.), 10 

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Kapitel 7: Zwei Zeitsprünge: Die Unfähigkeit zu trauern und ihr Preis

lichen Unsicherheiten, welche die Umbruchsituation mit sich brachte, dem Naturrecht zugewandt hatten,13 ist diese Erklärung sicherlich nicht ganz falsch. Das Naturrecht war ein willkommenes Argument in der Diskussion um vergangenheitspolitische und justizpolitische Fragen, das wieder verschwand, als hierfür kein Bedarf mehr bestand. Es entfaltete unter Rechtspraktikern keine Tiefenwirkung. Auch im Übrigen schwand der Bedarf: Die Jurisprudenz hatte sich im Rahmen der Naturrechtsdebatten auf eine Deutung der Vergangenheit verständigt und sich ihres Wertes und ihrer Aufgaben in der neuen Gesellschaftsordnung vergewissert. Die Naturrechtsdebatten hatten somit ihren Teil dazu beigetragen, dass der Nationalsozialismus bereits wenige Jahre nach Kriegsende aus der rechtsphilosophischen Diskussion verschwinden konnte. Die Naturrechtsfrage blieb für einige wenige Jahre weiter präsent, nun ohne Bezugnahmen auf ihren historischen Ausgangspunkt, ehe auch sie verklang. Dass die naturrechtlichen Stimmen in der ersten Hälfte der 1950er Jahre merklich stiller wurden und bald ganz verstummten, lag allerdings nicht nur an der Stabilisierung des Selbstverständnisses und der Gesellschaftsordnung. In ihr spiegelt sich vielmehr auch der Wandel von Anschauungen und Werten in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der 1950er Jahre. Die der Vergangenheit entnommenen Wertvorstellungen, die der Verbindung von Christentum und Konservativismus der ersten Nachkriegsjahre zugrunde lagen, konnten mit diesem Wandel nicht Schritt halten. Im Zeichen von Wirtschaftswunder und Westbindung14 ebbte auch außerhalb der juristischen Naturrechtsliteratur spätestens Mitte der 1950er Jahre die Welle der Rückbesinnung auf christlich-abendländische Werte ab.15 Selbst innerhalb konservativer Kreise wurde sie bald nicht mehr als zeitgemäß wahrgenommen. Es folgte in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre eine Umorientierung hin zu einer konservativen Theorie, die sich von der Religion löste und den Umgang mit dem modernen Industrie- und Verwaltungsstaat in den Mittelpunkt rückte.16 Die Naturrechtsbesinnung von Juristen kollidierte allerdings in den 1950er Jahren nicht nur mit diesem gesellschaftlichen Modernisierungsprozess, sondern auch mit dem Grundgesetz. Das Grundgesetz forderte Demokratie und folgte einem pluralistischen Gesellschaftskonzept, in welchem Bürger/innen mit subjektiven individuellen Rechten ausgestattet waren und ihre Konflikte im Wege rechtsstaatlicher Verfahren lösen können sollten. Wie in Kapitel 6 gezeigt, Recht und Institution, 1956, S. 34 (36). Tatsächlich hatten sich jedoch Gegner wie Befürworter des Rückwirkungsgesetzes übergesetzlichen Rechts bedient, siehe dazu Kapitel 2, S. 68 ff. 13  Hierzu Kapitel 2. 14  Zu den Veränderungsprozessen in den 1950er Jahren Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.), Modernisierung im Wiederaufbau, 1993; Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen?, 1999; Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland, 2002. 15  Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika, 1999. 16  Hierzu Kapitel 6 D.

I. Abklingen der Naturrechtsdebatten

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knüpfte die Naturrechtsbesinnung dagegen an Denk- und Deutungsmuster an, die mit ihren Wurzeln im konservativen Denken des späten 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Skepsis gegenüber der liberalen Demokratie getragen. In ihrer Orientierung auf Berufsethik und Gewissen konnte sie zur rechtlichen Ausgestaltung des Rechtsstaates wenig Konkretes beitragen. Die als naturrechtlich angesehenen Werte überschnitten sich zwar mit denen des Grundrechtsteils des Grundgesetzes, setzten aber insbesondere hinsichtlich der Gemeinschaftsbindung individueller Freiheit und politischer Teilhabe deutlich andere Akzente. Diese Diskrepanz zwischen den Ordnungsvorstellungen der Naturrechtsliteratur und dem Grundgesetz machte sich darin bemerkbar, dass sich die Autoren in weiten Teilen verfassungspolitisch nicht einließen und ihre Überlegungen nach 1949 vom Inkrafttreten des Grundgesetzes unberührt blieben. Hieran änderte sich auch in der Schlussphase der Naturrechtsbesinnung nichts. Dies deutet darauf hin, dass die mit dem Naturrecht verbundenen Wertvorstellungen nicht kompatibel waren mit den Anforderungen des Grundgesetzes und auch nicht schrittweise angepasst werden konnten. Die Anpassung musste auf anderem Wege erfolgen. Es änderte sich vor allem der Zugriff: Die starren Naturrechtskataloge, denen absolute und überzeitliche Geltung zugesprochen worden war, verschwanden. Bei der Bezeichnung bestimmter Werte als „naturrechtlich“ wurde man vorsichtiger. Mitte der 1950er Jahre beschäftigte sich die Rechtsphilosophie nur noch mit strukturellen Fragen.17 Damit verbunden war eine Hinwendung zu realen Gegebenheiten, die als ein Ankommen in der gesellschaftlichen Wirklichkeit unter dem Grundgesetz gedeutet werden kann: Die Bedeutung und der Wert des positiven Rechts für die konkrete Rechtsordnung wurden in der Auseinandersetzung mit der Frage der Geschichtlichkeit des Rechts, die für diese zweite Phase der Naturrechtsdiskussionen charakteristisch ist, immer stärker anerkannt. Zugleich verlagerte sich der Blick auf Auslegung und Fortbildung des positiven Rechts. Es ging damit nicht mehr um Zukunftsentwürfe, sondern um die praktische Arbeit mit dem Recht. Die Diskussion um eine theologische Fundierung des evangelischen Kirchenrechts zeugt ebenso hiervon wie die Hinwendung zur Methodenfrage im Zivilrecht oder zu der Lehre von den Grundrechten als objektiver Wertordnung im Staatsrecht.18 Alle diese Diskussionen begegneten der neuen Rechts17  Eine Ausnahme stellte hier Hermann Weinkauff dar, in dessen Schriften sich insofern keine Veränderung mit der Zeit feststellen lässt, vgl. Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (1960), Nachdruck in: Werner Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 1962, S. 553–576; Naturrecht und Justiz (1962), S. 21–34. Grundlegend hierzu Daniel Herbe, Hermann Weinkauff (1894–1981), 2008. Ebenso sei hier auf Günther Küchenhoff verwiesen, siehe oben in diesem Kapitel, Fn. 7. 18  Zu Ersteren Kapitel 4 und 5. Zur Herkunft der Lehre von der „objektiven Wertordnung“ aus der materiellen Verfassungslehre Rudolf Smends und damit aus einer antipositivistischen, aber gegenüber überzeitlich-statischen Naturrechtsnormen skeptischen Tradition

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ordnung nicht mehr mit Skepsis, sondern nahmen das von ihr vorgegebene Material auf. Sie operierten auf der Ebene des geltenden positiven Rechts. Einen scharfen Bruch mit der Naturrechtsbesinnung stellten sie allerdings ebenso wenig dar, wie es sich um entschiedene Bekenntnisse zum vom Grundgesetz konzipierten demokratischen Rechtsstaat handelte. Die Skepsis gegenüber dem Gesetzgeber blieb erhalten, die Ausgestaltung der Gesetzesbindung blieb schwach. Es wurde von Justiz und Rechtswissenschaft aus gedacht, nicht vom Gesetzgeber.19 Als Korrektiv der Gesetzgebung dienten nunmehr eine Wertordnung, die dem positiven Recht als immanent angesehen wurde, ferner von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis begründete Traditionen und schließlich die Institutionenlehre. Wo nach einer verfassungsrechtlichen Legitimierung hierfür gefragt wurde, stützte man sich auf Art. 20 Abs. 3 GG, der die Gerichte für an „Gesetz und Recht“ gebunden erklärte. 20 Damit gebe das Grundgesetz das „äußere Signal“ für die Anerkennung „außergesetzlicher Instanzen für den Richter“ wie der Natur der Sache, vorgegebene Ordnungen oder moralische Maßstäbe im Sinne des Naturrechts. Ob dies im Sinne des Verfassungsgebers war, spielte keine Rolle – es sei „gleich, was sich der Verfassungsgeber dabei gedacht hat“, schrieb Wieacker 1957 aus heutiger Sicht provokativ. 21 Die Bindung an „Gesetz und Recht“ war so verstanden eine Bindung an „Recht und Gesetz“. 22 Die Skepsis gegenüber dem Gesetzgeber blieb also in den 1950er Jahren bestehen. Die Frage, wie mit der Erfahrung des Nationalsozialismus umzugehen sei, verschwand. Still wurde es auch um die klassische Frage der Rechtsphilosophie nach einer gerechten Gesellschafts- und Rechtsordnung. Die Naturrechtsdebatten wurden nicht von neuen rechtsphilosophischen Fragen und Ansätzen Ilse Staff, in: Thomas Henne/Arne Riedlinger (Hg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, 2005, S. 315–326. 19  Auf den Zusammenhang zwischen Naturrechtsbesinnung, der mit ihr eingehenden Autorisierung der Gerichte und der Entwicklung zu einem „Justizstaat“ weist auch Wolf Rosenbaum hin: Naturrecht und positives Recht, 1972, S. 171 ff. 20 Z.B. Hermann Jahrreiß, Gesetz und Recht – Recht und Gesetz, NJW 1950, 3–5; Otto Bachof, Zum richterlichen Prüfungsrecht, NJW 1952, 242 (ebd.); Arthur Kaufmann, Gesetz und Recht, in: Thomas Würtenberger u.a. (Hg.), Existenz und Ordnung, 1962, S. 357–397. In jüngerer Zeit auch Frank Saliger, Radbruchsche Formel und Rechtsstaat, 1995, S. 32. 21  Franz Wieacker, Gesetz und Richterkunst, 1957, S. 7. Nicht ganz so offen gegen den Verfassungsgeber argumentierend, in der Stoßrichtung aber sehr ähnlich bereits Walter Mallmann, … la bouche qui prononce les paroles?, JZ 1951, 245 (ebd.). Er argumentierte, dass die Gesetzesbindung der Gerichte trotz des „Rückfalls in positivistische Terminologie, den der Parlamentarische Rat sich in Art. 97 geleistet hat“ als eine Bindung an das „Gesetz im höheren Sinn“ verstanden werden müsse. 22  Völlig ohne Ironie Otto Bachof, Zum richterlichen Prüfungsrecht, NJW 1952, 242 (243), der die Reihenfolge der Begriffe bewusst verkehrte und forderte, dass „im Falle eines sonst unlöslichen Konfliktes zwischen Recht und Gesetz das ‚Gesetz-vor-Recht-Denken‘ dem ‚Recht-vor-Gesetz-Denken‘ zu weichen hat.“ Ähnlich in der Kommentierung zu Art. 20 III GG bei Hermann von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, S. 140.

II. Aufbruch der Rechtstheorie

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abgelöst. Was wurde in der Folgezeit aus den Fragen nach Gerechtigkeit und dem Unrecht der Vergangenheit? Wie veränderte sich das Nachdenken über die Rolle der Jurisprudenz in der Gesellschaft und über ihr Verhältnis zum demokratischen Gesetzgeber? Wurden diese Fragen nach dem Abklingen der Naturrechtsdebatten in der Rechtsphilosophie der Bundesrepublik noch einmal in Verbindung zueinander gebracht? Gerechtigkeit, Vergangenheitsschuld und Demokratie – die Stichworte sind groß. Ich beschränke mich darauf, an zwei Wegmarken nach Spuren ihres Zusammenspiels Ausschau zu halten. Zwei Zeitsprünge nehme ich dafür vor.

II. Aufbruch der Rechtstheorie Der erste Zeitsprung führt in die späten 1960er und frühen 1970er Jahre, denn hier schlug sich der grundlegende gesellschaftliche Wandel in der Rechtswissenschaft nieder, der sich in der Bundesrepublik in den 1960er Jahren vollzogen hatte. Die sogenannte „skeptische Generation“, die nach Kriegsende im Zeichen der Westbindung und Demokratisierung politisch sozialisiert worden war, gewann ab etwa 1960 an gesellschaftlichem Einfluss. 23 Mit ihr bildete sich eine kritische Öffentlichkeit heraus, die mit einem wachen demokratischen Bewusstsein Mitsprache und Anerkennung gesellschaftlicher Pluralität forderte. Die Politikwissenschaft etablierte sich und Soziologie avancierte zur Leitwissenschaft. 24 Zugleich wandelte sich der Umgang mit der Vergangenheit. Die nationalsozialistischen Verbrechen rückten mit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess (1957/58), dem Eichmannprozess (1963), dem ersten Ausschwitz-Prozess (1963–65) und der Debatte um die Aufhebung der Verjährung im Bundestag (1965) wieder in das öffentliche Bewusstsein. 25 Die Vergangenheit sollte nicht „überwunden“ oder „bewältigt“, sondern „aufgearbeitet“ werden. 26 Mit Helmuth Plessners „Die ver23  Diese Bezeichnung bezieht sich auf die Jugendgeneration des ersten Nachkriegsjahrzehnts, also der ab etwa 1925 geborenen, und geht zurück auf die empirische Studie von Helmut Schelsky, Die skeptische Generation (1957), 1975. Schelsky beschrieb die Haltung dieser Generation zur Politik als ambivalent. Sie sei skeptisch gegenüber dem Tagesgeschehen der offiziellen Politik, zugleich freiheitsorientiert und zustimmend gegenüber der Idee der Demokratie S. 351 ff. (besonders S. 358–360). Zur Generationsbildung für die Nachkriegszeit Überblick bei Clemens Albrecht, in: ders. u.a. (Hg.), Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik, 1999, S. 497 (498 ff.); zu den Wirkungen des Generationswechsels um 1960 auch Michael Bock im selben Band, S. 530 (550). 24  Jan-Werner Mueller, in: ders. (Hg.), German ideologies since 1945, 2003, S. 7 beschreibt den Aufstieg der Sozialwissenschaften in den 1950er Jahren als ein Zeichen, sich radikal auf die Gegenwart zu besinnen. 25  Überblick über Prozesse und Verjährungsdiskussionen statt aller Gerhard Werle, NJW 1992, 2529–2535. 26  Siehe nur Theodor W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit (1959), in: Eingriffe (1963), 2003, S. 125–146.

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Kapitel 7: Zwei Zeitsprünge: Die Unfähigkeit zu trauern und ihr Preis

spätete Nation“ und Jürgen Habermas‘ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ erschienen zudem um 1960 zwei Bücher, welche den Blick von der Vergangenheit aus in die Gegenwart lenkten: Sie sahen in der Demokratisierung der Gesellschaft die Chance, endgültig mit dem „deutschen Sonderweg“ zu brechen, der in den Nationalsozialismus gemündet war. 27 Vergangenheitsschuld und Demokratie waren damit nicht nur zentrale Themen der 1960er Jahre, sie gingen in dieser Zeit auch eine neue Allianz ein. Dies lässt erwarten, dass sich auch in der Rechtsphilosophie das Nachdenken über Vergangenheit und Demokratie veränderte und in ein neues Verhältnis zum Recht gebracht wurde.

1. Paradigmenwechsel: Realismus, Rationalität und Ideologiekritik Tatsächlich vollzog sich mit Generationswechsel und gesellschaftlichem Wandel auch in der Rechtsphilosophie ein grundlegender Paradigmenwechsel. 28 Die normative Frage nach einer gerechten Gesellschaftsordnung rückte in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre vollständig in den Hintergrund. Wie auch die Fachphilosophie wandte sich die Rechtsphilosophie von ihrer metaphysischen Tradition ab und markierte diesen Bruch durch die Wiederbelebung der Selbstbezeichnung als „Rechtstheorie“. 29 Endgültig hinter sich lassen wollte sie damit auch die Überreste des Naturrechtsdenkens der Nachkriegszeit: „Wir sind kein ‚christliches Abendland‘, wir sind kein christlicher Staat mit christlichem Recht“,30 schrieb Rudolf Wiethölter 1968 und forderte eine „Entzauberung der Rechtswelt, Götter- und Götzendämmerung, Entmythologisierung“. 31 Das Naturrechtsdenken sei „mit dem der modernen wissenschaftlichen Erkenntnis entsprechenden Weltbild nicht vereinbar“,32 stellte Hans Albert 1972 fest 27 Zu dieser zweiten Welle der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ in der Bundesrepublik Clemens Albrecht, in: ders. u.a. (Hg.), Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik, 1999, S. 497 (510 ff.) sowie Michael Bock im selben Band, S. 530 (550 ff.). 28  Bislang gibt es kaum Veröffentlichungen, die sich zeithistorisch mit der Jurisprudenz um 1968 beschäftigen. Jüngst KritV 2009, Heft 2, Schwerpunkt zu „1968 und das Recht“, hrsg. v. Thomas Pierson und Michael Rockmann sowie Thomas Pierson, ZRG 127 (2010), S. 391–407. 29  Literarischer Aufbruch, der sich schon in den Titeln bemerkbar machte: Gründung der Zeitschrift „Rechtstheorie“ 1970, Gründung des „Jahrbuchs für Rechtstheorie und Rechtssoziologie“ 1971. Außerdem Sammelbände: Arthur Kaufmann, Rechtstheorie. Ansätze zu einem kritischen Rechtsverständnis, 1971; ders./Winfried Hassemer, Grundprobleme der zeitgenössischen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 1971; Günther Jahr/Werner Maihofer (Hg.), Rechtstheorie. Beiträge zur Grundlagendiskussion, 1971; Jahrbuch für Rechtstheorie und Rechtssoziologie, Bd. 2 (1972) unter dem Titel „Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft“. 30  Rudolf Wiethölter, Rechtswissenschaft, 1968, S. 41. 31  Rudolf Wiethölter, Rechtswissenschaft, 1968, S. 26. 32  Hans Albert, in: Jahrbuch für Rechtstheorie und Rechtssoziologie, Bd. 2 (1972), S. 80 (86).

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und Werner Maihofer forderte eine „Neufundierung und Neuorientierung der Rechtswissenschaft“ jenseits von Naturrecht und Positivismus in Gestalt einer „Realistischen Jurisprudenz“.33 Unter dem Dach der Rechtstheorie versammelte sich eine Vielzahl verschiedener Ansätze.34 Die Hermeneutik Gadamers wurde rezipiert und für die Jurisprudenz fruchtbar gemacht, und eine rege Diskussion befasste sich mit der Frage, inwieweit die Regeln der formalen Logik auf rechtliche Aussagen angewandt oder modifiziert werden könnten. Die Juristische Rhetorik fragte nach Argumentationsmustern der Jurisprudenz und deren Bedeutung für Überzeugungskraft und Legitimität von Entscheidungen. Die politische und marxistische Rechtstheorie trat an, Herrschaftsverhältnisse im Recht sichtbar zu machen und suchte nach Wegen, das Recht in emanzipatorischer Weise zu nutzen.35 Betrachtet man das Feld zunächst grob, so fällt auf, dass sich all diese Ansätze bemühten, eine realistische Beschreibung juristischer Entscheidungspraxis als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zu nehmen. Auch in der Rechtstheorie machte sich damit bemerkbar, dass die Soziologie zur Leitwissenschaft geworden war, sie suchte die Verbindung zur Rechtssoziologie, die in dieser Zeit wieder zum Leben erweckt wurde.36 Der Blick richtete sich darauf, wie sich gesellschaftliche Wertvorstellungen und gesellschaftlich anerkanntes Wissen mit juristischen Argumenten verbanden und in den Entscheidungsprozess einflossen. Das Stichwort „Vorverständnis“, das Josef Esser in der Rezeption der Gadamerschen Hermeneutik in die rechtstheoretische Diskussion eingeführt hatte,37 wurde breit aufgenommen. Zugleich stechen „Rationalität“ und „Wissenschaftlichkeit“ als zentrale Topoi in der Diskussion um die verschiedenen Ansätze ins Auge. Der als „spekulativ“ wahrgenommenen metaphysischen 33  Werner Maihofer, in: Günther Jahr/Werner Maihofer (Hg.), Rechtstheorie, 1971, S. 427 (428). 34  Dies wird schon deutlich, wenn man sich die Einleitungen zu den drei Sammelbänden anschaut, die 1971/72 erschienen sind, vgl. Fn. 29. Die Beiträge in diesen Bänden zeugen von sehr unterschiedlichen Versuchen zu bestimmen, was Rechtstheorie überhaupt ist, so z.B. die einander entgegengesetzten Beiträge von Jens-Michael Priester und Dietrich Böhler in: Günther Jahr/Werner Maihofer (Hg.), Rechtstheorie, 1971. Winfried Hassemer fragte dementsprechend, ob das, was als Rechtstheorie bezeichnet werde, nicht möglicherweise „auf nur zufälliger und deshalb vorübergehender Übereinstimmung“ beruhe, ohne einen gemeinsamen Gegenstand und eine gemeinsame Methode aufzuweisen, in: Arthur Kaufmann, Rechtstheorie, 1971, S. 27 (ebd.). Ralf Dreier merkt dazu rückblickend an, dass diese Fragen nie ausdiskutiert wurden, in: Robert Alexy (Hg.), Integratives Verstehen, 2005, S. 215 (220). 35  Bislang gibt es nur knappe Überblicksdarstellungen zu dieser Phase bundesrepublikanischer Rechtsphilosophie: Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie in der Nach-Neuzeit, 1990; Ulfrid Neumann, in: Dieter Simon (Hg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 1994, S. 145 (158 ff.); Eric Hilgendorf, Die Renaissance der Rechtstheorie zwischen 1965 und 1985, 2005 sowie Ralf Dreier, in: Robert Alexy (Hg.), Integratives Verstehen, 2005, S. 215–224. 36 Hierzu Hubert Rottleuthner, KritV 2009, 202–220. 37 Hierzu Monika Frommel, Die Rezeption der Hermeneutik bei Karl Larenz und Josef Esser, 1981.

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Rechtsphilosophie wurden Realismus und Rationalität als neue Leitbegriffe entgegengesetzt. Die Akzente waren hierbei freilich unterschiedlich. Die juristische Hermeneutik führte die Kritik der zivilrechtlichen Methodenlehre der 1950er Jahre am deduktiven Entscheidungsmodell fort, vollzog aber eine realistische Wende.38 Recht war für sie etwas, das in juristischen Einzelfallentscheidungen in einem komplexen Prozess des Verstehens, Argumentierens und Entscheidens erst hergestellt wurde. In der Gesellschaft herrschende Wertvorstellungen flossen hierbei ebenso in die Entscheidung ein, wie das subjektive Vorverständnis der Person, welche die Entscheidung zu treffen hatte.39 Rechtliches und außerrechtliches Wissen waren damit nicht strikt trennbar. Es gab weder „das Recht“ als ein reines, von Werten geschiedenes Recht, noch überzeitliche Werte, die als Maßstab hätten dienen können. Legitimität herzustellen war folglich ebenfalls ein gesellschaftlicher Prozess, das Recht lebte also von einer Rückbindung an gesellschaftliche Diskurse.40 Richtigkeit könne nur durch „Argumentation und Konsens“ hergestellt werden, so Arthur Kaufmann und Winfried Hassemer.41 Juristische Entscheidungen seien intersubjektiv nachvollziehbar, wenn sie sich um eine konsensfähige rationale Begründung bemühten, heißt es auch bei Esser: „Das bedeutet nicht, daß jenseits dieser Programmierung das Feld freier Subjektivität und willkürlicher Maßstäbe für das ‚Vernünftige‘ begönne. Auch diese Maßstäbe sind in den gesellschaftlichen Konsens einbezogen, der das Verständnis eines positiven Rechts legitimiert. Sie bedürfen daher der Rückbindung an diesen Konsens und im Zweifelsfalle der Argumentation ihrer Vernünftigkeit und zwar einer sachbezogenen Argumentation, nicht der schlichten Verweisung auf ein historisch gegebenes System oder das Wesen der betreffenden Institution.“42 38  Für die Fortführung der Diskussion um Theodor Viehwegs Ansatz, v. a. auch im Rahmen der Diskussion um juristische Hermeneutik, Agnes Launhardt, Topik und Rhetorische Rechtslehre, 2010, S. 66 ff., 79 ff.; für die Theoriebildung Josef Essers Stefan Vogel, Josef Esser – Brückenbauer zwischen Theorie und Praxis, 2009. 39  Arthur Kaufmann brachte diesen Gedanken auf die Formel: „Der Richter trägt etwas von seiner Persönlichkeit herein“, in: Durch Naturrecht und Rechtspositivismus zur juristischen Hermeneutik (1975), Nachdruck in: Beiträge zur juristischen Hermeneutik, 1984, S. 79 (84). 40  Zum Zusammenspiel gesellschaftlicher und rechtlicher Argumentationen für die Legitimität einer Entscheidung Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970, S. 167 f.: „Man kann ohne Paradoxie sagen, daß jeder Entscheidungsakt […] Ausdruck des Bedürfnisses nach kommunizierbarer Wertdurchsetzung innerhalb des Rechts ist. Als Ausdruck dieses Kommunikationswillens muß er die Wertung sachlich begründen. Als Ausdruck des Rechts muß er gleichzeitig die systematischen und dogmatischen Bindungen an kontinuier­ liche Rechtsvorstellungen erneuern wie aber auch in der Herstellung des Bewertungskonsenses die Umwelt überzeugen.“ 41  Arthur Kaufmann/Winfried Hassemer, Grundprobleme der zeitgenössischen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, 1971, S. 72; auch Chaim Perelman, Juristische Logik (1976), dt. 1979. 42  Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970, S. 129.

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Einen grundlegend anderen Weg im Umgang mit der Verwobenheit gesellschaftlicher Wertvorstellungen und juristischer Argumentationen schlug die analytische Rechtstheorie ein. Konsens und Plausibilität kritisierte sie als zu unpräzise.43 Statt sich mit ihnen als Maßstab für juristische Richtigkeit zufrieden zu geben, wollte sie Logik, linguistische Analyse und empirische Sozialforschung für die Jurisprudenz fruchtbar machen. Jurisprudenz spiele sich andernfalls „weithin ab als Jonglieren mit Gemeinplätzen, mit zu Legitimationsformeln erstarrten Standardargumenten, die aber häufig die einzig denkbaren zu sein scheinen. […] Kommunikation mit Hilfe solcher vager Erwägungen unterliegt vielfachen Trick- und Manipulationsmöglichkeiten.“44 Analytische Rechtstheorie ging davon aus, dass Intersubjektivität nur garantiert werden könne, wenn juristische Argumentationen so weit wie möglich logischer oder empirischer Überprüfung zugänglich gemacht würden. Damit griff sie die Wissenschaftstheorie des Wiener Kreises sowie des kritischen Rationalismus auf, welche für die Trennung empirischer und normativer Aussagen eingetreten waren, zugleich aber eine möglichst rationale Begründung von Werturteilen eingefordert hatten. Beide waren Ende der 1950er Jahre in die erkenntnistheoretischen Diskussionen der Bundesrepublik zurückgekehrt.45 Im Umgang mit dem Recht wiesen analytische Zugriffe in zwei Richtungen. Zum einen waren ihre Vertreter überzeugt, dass auch Wertentscheidungen, wie es juristische Entscheidungen sind, rational begründet werden könnten und müssten. „Die Gerechtigkeitsentscheidung ist immer ein rationales Vergleichen, Erwägen von analogen Fällen und Möglichkeiten – ein System vom Stellung43  Siehe etwa Hubert Rottleuthner, in: Hans-Joachim Koch (Hg.), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, 1976, S. 7–29. Vermittelnd, da beide Zugriffe notwendig seien und einander ergänzen müssten, Ota Weinberger, in: Jahrbuch für Rechtstheorie und Rechtssoziologie 2 (1972), S. 134 (140 ff.). 44  Gerhard Struck, in: Dieter Grimm (Hg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, Bd. 1, 1973, S. 13 (33). 45  Ein Großteil der Mitglieder des Wiener Kreises und der Anhänger analytischer Philosophie ging vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges ins Exil und kehrte nach 1945 nicht in den deutschsprachigen Raum zurück. Hierzu Friedrich Stadler, Studien zum Wiener Kreis, 1997, S. 607 ff. Ein ambivalentes Bild der Rückkehr der analytischen Philosophie in der Bundesrepublik zeichnet Willy Hochkeppel, er spricht von einer „ungemein schleppenden, spärlichen und seit Jahrzehnten eigentlich widerwilligen Rezeption“, insbesondere aufgrund der Dominanz naturrechtlicher und existenzphilosophischer Ansätze sowie der Positivismuskritik der kritischen Theorie, in: Paul Kruntorad (Hg.), Jour Fixe der Vernunft, 1991, S. 79 (91). Es dauerte bis zum Ende der 1970er Jahre, bis sie sich wieder als fester Bestandteil der Fachphilosophie etabliert hatte, hierzu und zu der Rolle Wolfgang Stegmüllers für die analytische Philosophie in der Bundesrepublik Hans-Joachim Dahms, in: Friedrich Stadler (Hg), Vertreibung, Transformation und Rückkehr der Wissenschaftstheorie, 2010, S. 271 (299 ff.). Die für den kritischen Rationalismus grundlegende Arbeit Karl Poppers, „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ erschien 1957 erstmals in deutscher Übersetzung. Die Rezeption erfolgte v. a. durch Hans Albert, der diesen Ansatz auch in die rechtstheoretischen Diskussionen um 1970 einbrachte.

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nahmen, reguliert und harmonisiert durch das Postulat der logischen Konsequenz“, heißt es etwa bei Ota Weinberger.46 „Die Gerechtigkeitsabwägung“ sei eben nicht „bloß intuitive Konfrontation und Stellungnahme, sondern Konfrontation aufgrund von rationalen Analysen und unter dem Gesichtspunkt der Folgerichtigkeit.“47 Zum anderen hatten sie eine ideologiekritische Stoßrichtung, die freilich oft nicht deutlich herausgearbeitet wurde. Durch die Analyse von Satzarten und des Zusammenspiels der einzelnen Sätze in einer Argumentation, sollte aufgezeigt werden, welche Prämissen ihr zugrunde lagen, welche Folgen Begriffsdefinitionen für die weitere Subsumtion hatten, wo Wertungsspielräume gegeben waren und wie diese genutzt wurden. Metaphysische Annahmen oder auch das ‚Vorverständnis‘ konnten auf diese Weise offengelegt werden. „Die deduktiv-­axiomatische Methode verlangt nur die Offenlegung dessen, was man auch ohne sie voraussetzen muß. Die Formalisierung zerstört nicht die Bedeutung, sondern beseitigt die Gefahr, daß man Voraussetzungen benutzt, ohne sie offenzulegen“48, so Eike von Savigny. Und Hans-Joachim Koch schrieb programmatisch: „Gerade der Einsatz der formalen Logik hat eine durchaus kritische Funktion!“49 Gegen die juristische Hermeneutik und die Topik forderte er offensiv die „Rehabilitierung des deduktiven Begründens“.50 Auch die kritische Rechtstheorie verschrieb sich der Ideologiekritik und forderte eine realitätsnähere, sozialwissenschaftlich fundierte Rechtswissenschaft. Anders als die analytische Rechtstheorie blieb sie allerdings methodisch in weiten Teilen der juristischen Hermeneutik treu. Unter dem Einfluss der kritischen Theorie der Frankfurter Schule wandte sie sich strikt gegen eine rein logische oder empirische Fundierung des Rechts.51 Es sei vielmehr eine umfassende 46  Ota Weinberger, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), S. 134 (137). 47  Ota Weinberger, ebd., S. 142. 48  Eike von Savigny, in: Günther Jahr/Werner Maihofer (Hg.), Rechtstheorie, 1971, S. 315 (343); im gleichen Sinne auch Jürgen Rödig, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), S. 163 (178): „Wer versucht einen Rechtsfall ‚logisch‘ streng zu lösen, sieht bald ein, daß er zahlreiche sachbezogene Voraussetzungen benötigt, die in den einschlägigen Gesetzen nicht enthalten sind. Diese Voraussetzungen scheinen oft selbstverständlich zu sein. Dennoch sind sie nicht schon logisch wahr. Oft sind sie gar nicht selbstverständlich.“ 49  Hans-Joachim Koch, in: Winfried Hassemer u.a. (Hg.), Argumentation und Recht, 1980, S. 59 (86); zur kritischen Funktion eingehender: ders./Helmut Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982, S. 115 ff. 50  Hans-Joachim Koch, in: Winfried Hassemer u.a. (Hg.), Argumentation und Recht, 1980, S. 59 (62). 51  Damit knüpfte sie an die Kontroverse zwischen kritischer Theorie und kritischem Rationalismus an, die in Folge der Referate Adornos und Poppers auf dem Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 1961 ausgebrochen war. Siehe zu der folgenden Diskussion die Dokumentation Theodor W. Adorno u.a., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie (1972), 13.A. 1989. Der Vorwurf gegenüber der analytischen Rechtstheorie lautete, dass diese durch ihre Fixierung auf einen logisch-empirisches Wissenschaftskonzept die gesellschaftliche Wirklichkeit des Rechts nicht nur unzureichend erfasse, sondern auch „techno-

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„Reflexion der gesamtgesellschaftlichen Bezüge“ des Rechts nötig.52 Rechtstheorie dürfe nicht als „reine Wissenschaft“53 von der Rechtsphilosophie und der Rechtsdogmatik isoliert werden, stattdessen solle eine „umfassende Theorie des Rechts“ entwickelt werden, „in der Rechtsdogmatik, Rechtsoziologie und Rechtsphilosophie aufgehoben sind.“54 Von der kritischen Theorie wurde vor allem die Forderung nach einer selbstreflexiven Hermeneutik übernommen. Jürgen Habermas hatte diese in „Erkenntnis und Interesse“ (1965) formuliert, da Erkenntnis nie losgelöst vom erkenntnisleitenden Interesse erfolge und es „objektive“ Erkenntnis unabhängig vom erkennenden Subjekt nicht geben könne. Emanzipatorisch könne Wissenschaft nur dann sein, wenn sie die Geschichte und die gesellschaftlichen Bedingungen, denen sie verhaftet ist, kritisch selbst reflektiere. Dieses Schlagwort der „Selbstreflexion“ war es, das in die Rechtstheorie zu Beginn der 1970er Jahre Eingang fand. 55 Die methodischen Folgerungen hieraus wurden jedoch kaum konkreter formuliert, einzig die Notwendigkeit, rechtssoziologisches Wissen in eine so verstandene kritisch-hermeneutische Jurisprudenz einzubeziehen, lässt sich den Texten entnehmen56 und führte zu einer Erweiterung der Theorie juristischer Hermeneutik insgesamt.

2. Von der Politik gegen das Recht zur Politik im Recht Durch die ideologiekritische Wendung der Rechtstheorie und die Verlagerung des Blicks auf den Entscheidungsprozess, veränderte sich der Blick auf das Verhältnis von Politik und Recht grundlegend: Die Naturrechtsdebatten hatten von der Entgegensetzung von Recht und Gerechtigkeit auf der einen, Politik auf der anderen Seite gelebt. Hermeneutik und ideologiekritische analytische Rechtstheorie lenkten nun den Blick auf den Umstand, dass subjektive Vorverständnisse und Wertungen in jede juristischen Entscheidung und Argumentation einfließen. Dass dem Recht eine Politik inhärent war, wurde nicht mehr als Problem, sondern als Selbstverständlichkeit angesehen. Politik war nicht mehr logisch verwertbares Wissen über soziale Zusammenhänge zur unkontrollierten Verfügung“ freigebe, so Diskussionsüberblick bei Jürgen Klüver/Jens-Michael Priester/Jürgen Schmidt/ Friedrich O. Wolf, in: Günther Jahr/Werner Maihofer (Hg.), Rechtstheorie, 1971, S. 1 (7), im selben Sinne etwa auch Karl-Ludwig Kunz, in: Arthur Kaufmann (Hg.), Rechtstheorie, 1971, S. 19 (24). Diese Kritik geht zurück auf Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, in: Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘ (1968), 4.A. 1974, S. 146 (150 f.). 52  Jürgen Klüver u.a., vgl. Fn. 51. 53  Jens-Michael Priester, in: Günther Jahr/Werner Maihofer (Hg.), Rechtstheorie, 1971, S. 13 (46 f.). 54  Jürgen Klüver u.a., vgl. Fn. 51. 55  Arthur Kaufmann, in: ders. (Hg.), Rechtstheorie, 1971, S. 1 (3 f.) sowie im selben Band Karl-Ludwig Kunz, S. 19 (23); Wolf Paul, S. 53 (69); Ulrich Schroth, S. 103 (108); ebenfalls ­Dietrich Böhler, in: Günther Jahr/Werner Maihofer (Hg.), Rechtstheorie, 1971, S. 62 (100 ff.). 56  So etwa bei Dietrich Böhler, in: Günther Jahr/Werner Maihofer (Hg.), Rechtstheorie, 1971, S. 62 (107).

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Gegenspielerin, sondern Teil des Rechts. Sie konnte verschleiert oder offen diskutiert, nicht jedoch eliminiert werden. Damit hatte sich ein grundlegender Wandel des Denkstils in der Rechtsphilosophie vollzogen. Der Schritt von einer „verinnerlichten, an die Geisteswissenschaften angelehnten Verstehenswissenschaft zu einer politischen Handlungswissenschaft“ sei vollzogen, konstatierte Peter Schwerdtner 1971.57 Mit der Anerkennung der Politik im Recht war verbunden, dass Richterrecht in der rechtswissenschaftlichen Grundlagendiskussion der 1970er Jahre breit als Realität angenommen wurde. Dies machte sich besonders in der Rechtssoziologie bemerkbar, die in dieser Zeit ihre Rückkehr in die bundesrepublikanische Rechtswissenschaft mit empirischen Studien im Bereich der Richtersoziologie einleitete.58 Auch die Rechtstheorie nahm die Existenz des Richterrechts zum Ausgangspunkt. Es fällt auf, dass Richterrecht dabei nicht nur als Realität angesehen wurde, der sich die Rechtstheorie stellen musste. Es galt vielmehr vielen als Chance. In die Gerichte wurde die Hoffnung gesetzt, dass sie gesellschaftlichen Konflikten angemessener begegnen könnten als der Gesetzgeber. Zweigert sah Richter/innen in der Rolle des „Sozialingenieurs“,59 Teubner bezeichnete sie als „dezentrale Gesetzgeber“.60 Nicht strikt gebundene, sondern freie, aber verantwortungsvolle Gerichte sollten garantieren, dass das Recht mit der gesellschaftlichen Entwicklung Schritt halten könne.61 Esser sprach von einer „Unverzichtbarkeit rechtspolitischer Entscheidungen des Richters“.62 Nur so könnten gesetzgeberische Zwecke in sich wandelnden Kontexten realisiert, Folgenabschätzungen angemessen Rechnung getragen63 und der Wandel ge57  Peter Schwerdtner, Rechtswissenschaft und kritischer Rationalismus, RTh 2 (1971), 224 (232). 58 Z.B. Walther Richter, Zur soziologischen Struktur der deutschen Richterschaft, 1968; Wolfgang Kaupen, Die Hüter von Recht und Ordnung, 1969; Rüdiger Lautmann, Justiz – die stille Gewalt, 1972; sowie später Andreas Heldrich/Gerhard Schmidtchen, Gerechtigkeit als Beruf, 1982; Hubert Rottleuthner (Hg.), Rechtssoziologische Studien zur Arbeitsgerichtsbarkeit, 1984. 59  Konrad Zweigert, in: Die Zeit vom 23.2.1969, zitiert bei Friedrich Karl Kübler, DRiZ 1969, 379 (382). 60  Gunther Teubner, Folgenkontrolle und responsive Dogmatik, RTh 6 (1975), 179 (183 f.). 61  So etwa Winfried Hassemer, in: Arthur Kaufmann (Hg.), Rechtstheorie, 1971, S. 27 (33): „Eine Methodenlehre jedoch, welche die Bedingungen des Umgangs mit einem jeden Gesetz zutreffend beschreibt und von daher ein Veränderungsbewusstsein hat, hat die Potenz zur Rechtsreform. Sie kann realisieren, daß sich das Rechtssystem entwickelt, sie kann die Faktoren aufdecken, die eine solche Entwicklung in Gang halten, und sie kann diese Faktoren bewerten. Rechtspolitik, Rechtsgeschichte und Rechtstatsachenforschung sind ihr nicht verbotene Bereiche, sondern Wirkungsfaktoren innerhalb des Rechtssystems. Sie betreibt nicht Technik, sondern Praxis.“ 62  Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 1970, S. 196. 63  Zur Diskussion um die Folgenorientierung Überblick bei Martina Renate Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, 1995, S. 9 ff.

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sellschaftlicher Wertvorstellungen berücksichtigt werden. Andere verbanden mit der Stärkung des Richterrechts auch die Hoffnung auf ein bürgernäheres, emanzipatorisch wirkendes Recht. So formulierte Teubner grundlegende Skepsis gegenüber dem Gesetzgeber, da „im parlamentarischen Prozess organisationsfähige und konfliktfähige Interessen selektiv berücksichtigt werden“, und schlug vor: „Die im politischen Prozess strukturell bedingte Vernachlässigung von Interessen, denen es an Organisations- und/oder Konfliktfähigkeit mangelt, könnte in gewissem Umfang durch richterliche Normsetzung aufgefangen werden. Die Justiz könnte damit für bestimmte Mängel des parlamentarischen Prozesses kompensatorische Funktion übernehmen.“64 Wenn trotz dieser Skepsis gegenüber dem Gesetzgeber von einer „partiellen Renaissance des Rechtspositivismus“ die Rede sein kann,65 so lag dies in erster Linie an der analytischen Rechtstheorie. Sie setzte einen Kontrapunkt in der Diskussion um Richterrecht. Zwar waren sich auch ihre Vertreter bewusst, dass außerrechtliche Vorverständnisse schon aufgrund der Unschärfen der Gesetzessprache stets in juristische Entscheidungen einflossen. Sie forderten jedoch, dass sich die Jurisprudenz dennoch darum bemühen müsse, Gesetzesbindung so weit wie möglich zu realisieren. Linguistische Analyse der Gesetzessprache sollte zu einer möglichst präzisen Interpretation des Gesetzestextes führen, deduktive Logik Bindung und Wertungsspielräume in der Argumentation sichtbar machen. Diese Spielräume wiederum sollten so rational wie möglich genutzt werden. Die analytische Rechtstheorie erkannte damit Richterrecht zwar als Realität an, hinterfragte aber seine Legitimität: Es war aus ihrer Sicht nicht schon deswegen legitim, wenn und weil es ein gerechtes oder emanzipatorisches Ergebnis brachte. Legitim waren richterliche Entscheidungen vielmehr nur, wenn sie die Gesetzesbindung ernst nahmen und die Spielräume auf eine Weise ausfüllten, die intersubjektiv überprüfbar und diskutierbar war. Die Diskussion um die juristische Logik und die analytische Rechtstheorie blieb in weiten Teilen in den Grundfragen stecken.66 Wo sie darüber hinausging, wies sie in zwei Richtungen: Einerseits regte sie an, die juristische Methoden64 

Gunther Teubner, RTh 6 (1975), 179 (193 f.). Ralf Dreier, in: Robert Alexy (Hg.), Integratives Verstehen, 2005, S. 215 (220). 66  So blieb es oft bei bloß deskriptiver Erfassung juristischer Argumentationsstrukturen. Hierauf sollte die Kritik dieser Argumentationsstrukturen aufbauen und es sollte eine Theorie entwickelt werden, wie diese verbessert werden könnten, vgl. z.B. Ulfrid Neumann u.a., Juristische Dogmatik und Wissenschaftstheorie, 1976. Breit diskutiert wurde auch das analytische Handwerkszeug, so die Frage, ob die Regeln der formellen Logik auf normative Aussagen angewandt werden könnten, oder ob es einer Anpassung dieser Regeln und damit einer „deontischen Logik“ bedürfe. Siehe statt aller nur die Kontroverse zwischen Jürgen Rödig und Ota Weinberger, in: Jahrbuch für Rechtstheorie und Rechtssoziologie 2 (1972). Daneben zählt zu den Grundfragen etwa auch Kontroverse, ob juristische Dogmatik wissenschaftlich im Sinne der analytischen Philosophie und des kritischen Rationalismus betrieben werden könne, siehe z.B. die Diskussion zwischen Hans Albert und Eike von Savigny, ebd. S. 80–113. 65 So

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lehre darauf zu überprüfen, wie sie dem Postulat der Gesetzesbindung gerecht werden konnte, wobei nur Hans-Joachim Koch und Helmut Rüßmann dieser Frage umfassend nachgingen.67 Andererseits wollte sie Anstöße geben, Gesetzgebungstechnik so zu optimieren, dass die Gerichte klarere Vorgaben für ihre Entscheidungen an die Hand bekamen. Logik wie auch linguistische Einsichten sollten herangezogen werden, um zu einer präziseren Fassung von Gesetzestexten zu kommen. 68 Die analytische Rechtstheorie bediente sich damit nicht nur der positivistischen Wissenschaftstheorie des Wiener Kreises. Auch in ihren Vorstellungen von Gesetzesbindung und Umgang mit außerrechtlichen Wertungen positionierte sie sich positivistisch: Es ging ihr darum, die Möglichkeiten auszuloten, eine normativistische Rechtstheorie wie die Kelsens durch Gesetzgebungs- und Methodenlehre auszufüllen.69 Von einer ‚Renaissance des Rechtspositivismus‘ kann dennoch nur mit Vorsicht gesprochen werden. Die Diskussion zwischen hermeneutischen und analytischen Zugriffen lässt sich mit dem Gegensatz von Positivismus und Antipositivismus nur unzureichend beschreiben. Der Antipositivismus der hermeneutischen Zugriffe hatte gegenüber dem der 1940er und 1950er Jahre erheblich an Schärfe verloren. Der Wert des positiven Rechts und die Notwendigkeit der Gesetzesbindung wurden von allen Seiten hervorgehoben. Umgekehrt erkannte die analytische Rechtstheorie an, dass ein reiner Normativismus nicht möglich sei und es allenfalls um Optimierung der Gesetzesbindung gehen könne. Die Polarisierung zwischen Positivismus und Antipositivismus wurde offenbar insgesamt nicht mehr als fruchtbar angesehen. Jedenfalls wurde die Diskussion nicht in dieser strikten Dichotomie geführt und lässt sich wohl angemessener als eine Diskussion im Spannungsfeld zwischen Realismus und Normativismus beschreiben. Zum Teil wurde sogar nach Synergieeffekten zwischen den verschiedenen Zugriffen70 oder nach Kombinationsmöglichkeiten71 gesucht. Die Nähe zwischen einem „selbstkritischen Rechtspositivismus“ und einem 67  Hans-Joachim Koch/Helmut Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982; vorher bereits: Hans-Joachim Koch (Hg.), Methodenlehre und analytische Rechtstheorie, 1976. 68  Für die Logik Überlegungen bei Jürgen Rödig, in: Jahrbuch für Rechtstheorie und Rechtssoziologie 2 (1972), S. 163 (177 f.); für „noch Zukunftsmusik“ wird dies von Ota Weinberger erklärt, in: Dieter Grimm (Hg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, Bd. 2 (1974), 1976, S. 80 (104); für die Linguistik etwa Adalbert Podlech im selben Band, S. 105 (111 ff.). 69  Zu gedanklichen Berührungspunkten zwischen der Lehre Kelsens und der Wissenschaftstheorie des Wiener Kreises, persönlichem Kontakt und Zusammenarbeit Clemens Jabloner/Friedrich Stadler (Hg.), Logischer Empirismus und Reine Rechtslehre, 2001, S. 19 ff. 70  So etwa Ota Weinberger, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1971), S. 134 (141). Von gegenseitiger Befruchtung zeugen auch Sammelbände, deren Beiträge verschiedenen Zugriffe folgen: Werner Krawietz u.a. (Hg.), Argumentation und Hermeneutik in der Jurisprudenz, Rechtstheorie Beiheft Nr. 1, 1979; Zusammenstellung von Texten seit 1976 Robert Alexy u.a. (Hg.), Elemente einer juristischen Begründungslehre, 2003. 71  Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation (1978), 1996. Er rekonstruiert

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„selbstkritischen Rechtsmoralismus“ wurde zwar erst über ein Jahrzehnt später von Otfried Höffe konstatiert,72 tatsächlich stellte sich aber schon in der rechtstheoretischen Diskussion der 1970er Jahre eine gewisse Unaufgeregtheit ein.

3. Positivismus: Rückkehr ohne Rehabilitation Vorsicht ist auch aus einem anderen Grund geboten. Die Rückkehr des Rechtspositivismus in die Rechtstheorie der Bundesrepublik ging nicht mit seiner Rehabilitierung einher. Dies hatte sicherlich verschiedene Gründe. Einem möchte ich im Folgenden nachgehen. Ich gehe dabei davon aus, dass der veränderte Blick auf Demokratie und nationalsozialistische Vergangenheit, der sich in den 1960er Jahren in der Bundesrepublik entwickelt hatte, die Chance bot, über rechtstheoretische Positionierungen auf neue Weise nachzudenken. Tatsächlich schlug die Rechtstheorie in den frühen 1970er Jahren neue Wege ein, stellte dies jedoch nicht in einen Zusammenhang mit einem dieser beiden großen Themen der Zeit. Möglicherweise liegt hierin ein Grund dafür, dass positivistische Positionen zurückkehren konnten, ohne dass eine Rehabilitation erfolgte. Doch zunächst zu den Beobachtungen, von denen dieser Erklärungsansatz ausgeht. Anders als in den Naturrechtsdebatten der unmittelbaren Nachkriegszeit bildete der gesellschaftliche Pluralismus der Bundesrepublik in den 1970er Jahren für alle Strömungen der Rechtstheorie den gedanklichen Ausgangspunkt. Die Frage, wie damit umzugehen sei, dass in juristische Entscheidungen stets außerrechtliche, in der Gesellschaft verankerte Wertvorstellungen eingingen, stellte sich gerade deshalb mit Vehemenz, weil man nun annahm, dass diese nicht homogen seien. Damit drängte sich die Frage auf, wie gewährleistet werden könne, dass juristische Entscheidungen nicht partikularen Sichtweisen folgten. Trotz dieser Hinwendung zu einem pluralistischen Gesellschaftsverständnis, war Demokratie nur am Rande ein Thema für die Rechtstheorie. Wenn der Zusammenhang zwischen Demokratie und Rechtstheorie überhaupt angesprochen wurde, so in sehr unterschiedlicher Weise. „Die Zukunft muß angesichts der Pluralität der Gesellschaft dem positiven Gesetz gehören“,73 schrieb Peter Schwerdtner. Chaim Perelman hingegen behauptete genau das Gegenteil: „In der Demokratie kann man die positivistische Rechtauffassung, nach der das Recht lediglich der willkürliche Ausdruck eines souveränen Willens wäre, nicht juristische Argumentationen nach deduktivem Schema, um die Grenzen des Normativismus aufzuzeigen, vgl. ebd. S. 281. 72  Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit (1987) 1989, S. 165 f. 73  Peter Schwerdtner, RTh 2 (1971), 224 (239). Friedrich Karl Kübler, der eine richterrechtliche Ausrichtung der Rechtsordnung durchaus begrüßte, mahnte ebenfalls an, dass die mit der Legitimierung des Richterrechts einhergehende Gesetzgeberschelte einer zur Demokratie bestimmten Industriegesellschaft nicht gerecht werden, in: Amt und Stellung des Richters in der Gesellschaft von morgen, DRiZ 1969, 379 (382).

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vertreten. Denn ein wirksames Recht soll annehmbar sein und nicht erzwungen werden.“74 Für Martin Kriele wiederum leitete sich aus dem verfassungsrechtlichen Demokratiegebot ein gemäßigter Rechtsmoralismus her, der den Wert positiven Rechts ebenso anerkannte wie kulturrechtliche Errungenschaften.75 Demokratie war kein Leitgedanke in den Diskussionen um Rechtstheorie, sie folgten vielmehr den Forderungen nach Wissenschaftlichkeit bzw. Ideologiekritik. Demokratietheoretische Ansätze, welche auch das Nachdenken über Recht hätten befruchten können, blieben unbeachtet, so etwa die Demokratietheorie Ernst Fraenkels, der sich nun, zurück aus dem Exil, des Themas von der Politikwissenschaft aus annahm.76 Auch die Philosophie Ernst Blochs, der Naturrecht als Ergebnis emanzipatorischer politischer Kämpfe ansah und politischer Selbstbestimmung zentralen Wert zumaß, wurde nicht aufgegriffen.77 Dies gilt auch für die politische Rechtswissenschaft. Wiethölter, der emphatisch wie kein anderer forderte, das Recht dürfe nicht länger einer „emanzipative[n], freiheitliche[n] und soziale[n] Demokratisierung“ der Gesellschaft entgegenstehen,78 ließ offen, was über die Forderung nach Rechtskritik hinaus sich daraus genau für die Jurisprudenz ergeben sollte und erntete scharfe Kritik von Gerd Roellecke, für die „unabgesicherte Hoffnung auf Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse.“79 Als einer der Wenigen wies dieser auf den Zusammenhang zwischen Verfassung, Demokratie und Gesetzesbindung hin: „Wo und bei wem hat der Jurist nachzufragen, wenn er sich über den Inhalt eines Gesetzes nicht im Klaren ist? Wo findet er ‚vernünftiges und gerechtes Denken‘? Wer vertritt die ‚angesehene Meinung‘, von der er sich leiten lassen soll? […] Die Antwort ist indessen […] ganz nüchtern zunächst dem positiven Verfassungsrecht und den Verfahrensordnungen und dann der Tradition zu entnehmen.“80 Selbst in der analytischen Rechtstheorie, die sich die Ausgestaltung der Gesetzesbindung auf die Fahnen schrieb, war Demokratie kein zentraler Argumentationstopos. Wissenschaftlichkeit und Rationalität waren die tragenden 74 

Chaim Perelman, Juristische Logik (1976), dt. 1979, S. 239. Martin Kriele, Rechtspflicht und positivistische Trennung von Recht und Moral (1966), Nachdruck in: Recht, Vernunft, Wirklichkeit, 1990, S. 453–470, noch deutlicher im selben Band in: Staatsphilosophische Lehren aus dem Nationalsozialismus (1982), S. 393–408. 76 Dazu Joachim Perels, KJ 2007, 286 (289 ff.). 77  „Echtes Naturrecht, den vernunfthaft befreiten Willen setzend, war eines des erst zu erkämpfenden Gerechten; so meinte es auch keine Gerechtigkeit von oben, die jedem austeilend oder vergeltend, seine Ration vorschreibt, sondern eine aktive von unten, damit man überhaupt keine mehr brauche“, Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde (1961), 1980, S. 14. Zur Rechtsphilosophie Blochs siehe auch Hartmut Wagner, Utopie, Menschenrechte, Naturrecht, 1995. Dort auch zu den demokratietheoretischen Impulsen für Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, die von der Blochschen Philosophie ausgehen, S. 170 ff. 78  Rudolf Wiethölter, Recht und Politik, ZRP 1969, 155 (157). 79  Gerd Roellecke, Juristische Methodenlehre und die Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins, in: Theo Ritterspach u.a. (Hg.), Festschrift für Gebhard Müller, 1970, S. 323 (338). 80  Gerd Roellecke, ebd., S. 339. 75 

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Pfeiler. Ausnahmen waren hier Hans-Joachim Koch und Helmut Rüßmann, die in aller Deutlichkeit darauf hinwiesen, dass die analytische Philosophie des Wiener Kreises „jedenfalls grundsätzlich staatlichem Handeln in einem säkularen demokratischen Rechtsstaat gut ansteht.“81 Indem sie sich der Optimierung der Gesetzes- und Verfassungsbindung widmete, beschäftigte sich die analytische Rechtstheorie zwar auch im Übrigen mit der Frage, wie der demokratisch gebildete Wille einer pluralistischen Gesellschaft rechtlich umgesetzt werden könne. Sie machte die Bedeutung der Demokratie für ihren rechtstheoretischen Zugriff in weiten Teilen jedoch nicht zum Thema. Demokratie kam hier nicht einmal ein „nüchternes Pathos“82 zu. Es fehlte an jeglichem Pathos. Auch von dem veränderten Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit blieb die Debatte um Rechtstheorie weitgehend unberührt. Dies erstaunt, denn mit den Prozessen kehrte die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus nicht nur in das Bewusstsein der allgemeinen Öffentlichkeit zurück, sondern auch in die rechtswissenschaftliche Forschung. Um 1965 erschienen erste rechtswissenschaftliche Arbeiten zum Nationalsozialismus, die von einer jungen Generation verfasst wurden, die selbst in dieser Zeit noch nicht juristisch tätig gewesen war.83 Ilse Staff (1964) und Werner Johe (1967) stellten erstes Material zur Justizpraxis im Nationalsozialismus zusammen, Claus Roxin (1963) und Herbert Jäger (1967) befassten sich in ihren Habilitationsschriften mit der Struktur nationalsozialistischer Verbrechen und den Möglichkeiten, diese strafrechtsdogmatisch zu fassen, der Deutsche Juristentag berief Experten ein, um die „juristische Aufarbeitung“ zu diskutieren.84 Die „Kritische Justiz“ nahm sich ab 1968 des Themas an und erinnerte an Analysen emigrierter Rechtswissenschaftler wie Ernst Fraenkel, Franz L. Neumann oder Otto 81  Hans-Joachim Koch/Helmut Rüßmann, Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie, in: Robert Alexy u.a. (Hg.), Rechts- und Sozialphilosophie in Deutschland heute, 1991, S. 186 (187). Tatsächlich war der Wiener Kreis in den 1920er Jahren bekennend demokratisch: Wissen sollte durch logisch-empirische Klarheit breit zugänglich gemacht werden, metaphysischer Philosophie wurde Verschleierung und damit Exklusivität vorgeworfen, dazu Friedrich Stadler, in: Paul Kruntorad (Hg.), Jour Fixe der Vernunft, 1991, S. 23–41. 82  So über Kelsen Klaus Günther, in: Red. Kritische Justiz (Hg.), Streitbare Juristen 1988, S. 367–379. Jüngst hierzu auch Ralf Seinecke, JZ 2010, 279–286. Zu Kelsens demokratischer Haltung auch Kapitel 1 m.w.N. in Fn. 69. 83  Zu der Entwicklung der rechtshistorischen Forschung zum Nationalsozialismus ab dieser Zeit und zur ihr zunächst entgegengebrachten Kritik und Skepsis Michael Stolleis, Recht im Unrecht, 1994, S. 15 ff., 36–56 m.w.N. Eigendynamik gewann die Forschung erst im Laufe der 1980er Jahre. 84  Ilse Staff (Hg.), Justiz im Dritten Reich, 1964; Werner Johe, Die gleichgeschaltete Justiz, 1967, die als Dissertation allerdings an einer philosophischen Fakultät eingereicht wurde; Claus Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 1963, S. 246 ff.; Herbert Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, 1967. Die vom Deutschen Juristentag (DJT) organisierte Expertentagung zur Strafverfolgung von NS-Verbrechen fand im April 1966 in Königstein statt, dazu Heike Litzinger/Thomas Horstmann, An den Grenzen des Rechts, 2006. Auf dem 46. DJT im selben Jahr in Essen war das Thema Verhandlungsgegenstand.

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Kirchheimer.85 Auch das erste groß angelegte Forschungsprojekt zur Justiz im Nationalsozialismus, initiiert vom Institut für Zeitgeschichte, durchgeführt unter der Leitung Hermann Weinkauffs, fällt in diese Zeit. 1968 erschien der Abschlussbericht Weinkauffs.86 Everhard Franßen, damals junger Verwaltungsrichter, griff ihn scharf als apologetisch an.87 Mit diesem neuen Wissen über Recht im Nationalsozialismus veränderte sich der Deutungsrahmen und damit auch der Blick auf die rechtsphilosophischen Folgerungen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit gezogen worden waren. Die Positivismusthese wurde nun aus historischer Sicht in Frage gestellt. Die Arbeiten Ernst-Wolfgang Böckenfördes (1961), Kurt Sontheimers (1962) und Friedrich Karl Küblers (1966) wiesen auf die Allianzen zwischen naturrechtlichem bzw. antipositivistischem Denken sowie republik- und demokratiefeindlicher Haltung in der Weimarer Zeit hin.88 1968 erschien die „Unbegrenzte Auslegung“ von Bernd Rüthers, welche die Methode nationalsozialistischer Rechtsprechung analysierte. Seite Arbeit zerstörte den Mythos, von dem die Naturrechtsdebatten gelebt hatten: Sie zeigte auf, dass sich nationalsozialistische Rechtspraxis zu einem beträchtlichen Teil auf unbestimmte und ideologisch ausfüllbare Begriffe und Argumentationsfiguren gestützt hatte. Nicht eine starre Bindung an das Gesetz, sondern gerade die flexible Umdeutung von Gesetzen waren die Technik, mit der das Recht in den Dienst des Nationalsozialismus gestellt worden war. Diese Erkenntnisse hatten das Potential, neue Anfragen an Rechtsphilosophie und Rechtstheorie zu stellen. Dennoch finden sich in den Diskussionen der frühen 1970er Jahre kaum Spuren einer Auseinandersetzung mit ihnen. Die Schweizer Arbeit Walter Otts zum Rechtspositivismus (1976) sticht inso85  Zusammenstellung einer Auswahl von Artikeln mit Übersicht über alle in der Zeitschrift erschienenen Beiträge zum Thema: Redaktion Kritische Justiz (Hg.), Der Unrechts-Staat, Bd. 1: 1979, Bd. 2: 1984. Der „Doppelstaat“ von Ernst Fraenkel erschien erst 1974 auf deutsch, „Behemoth“ von Franz L. Neumann 1977, die Schriften Otto Kirchheimers zum NS-Recht wurden 1976 in dem Band „Von der Weimarer Republik zum Faschismus“ auf deutsch veröffentlicht, zuvor allerdings dt. Übersetzung von „Die Rechtsordnung des Nationalsozialismus“ (engl. 1941), in: KJ 1971, 356–370. Die Rezeption war nicht nur freundlich: Kritisch aus marxistischer Sicht zu Fraenkels Beschreibung des NS-Staates Bernhard Blanke mit der völlig unzutreffenden Einschätzung, Fraenkel habe mit seiner Gemeinwohltheorie an der „Renaissance des Naturrechts“ mitgewirkt, KJ 1975, 224 (243). 86  Zu dem Projekt Joachim Rückert, in: Horst Möller/Udo Wengst (Hg.), 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte, 1999, S. 181–213. 87  Hermann Weinkauff, Die deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, 1968. Hierzu die Kritik von Everhardt Franßen, Positivismus als juristische Strategie, JZ 1969, 766–775; Replik von Hermann Weinkauff, Was heißt das: „Positivismus als juristische Strategie“?, JZ 1970, 54–57. Ähnlich die Kritik von Richard Schmidt, Hermann Weinkauff (nach Emile Zola): j’excuse, KJ 1969, 102–106. 88  Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die katholische Kirche im Jahre 1933 (1961), 1988; Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik (1962), 1983; Friedrich Karl Kübler, Der deutsche Richter und das demokratische Gesetz, AcP 162 (1963), 104–128.

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fern heraus. Er nahm die historischen Analysen auf und bewertete vor diesem Hintergrund den Positivismus neu. Im Ergebnis folgte er nicht einer strikten Trennungsthese, sondern bejahte die Radbruchsche Formel, wog aber Vor- und Nachteile beider auf neue, sachlich-pragmatische Art ab.89 Im Übrigen wurde die Arbeit von Rüthers nur von wenigen überhaupt erwähnt.90 Ihre Ergebnisse spielten in den Diskussionen um analytischen oder hermeneutischen Zugriff und Gesetzesbindung oder Richterrecht keine ­Rolle.91 Nur ganz wenige Autoren setzten ihre rechtstheoretische Haltung in ein Verhältnis zu ihrer Deutung der nationalsozialistischen Vergangenheit.92 Eine Ausnahme war Rüthers selbst, der als Konsequenz aus seiner Analyse ein offen politisches, aber transparentes und damit kritisch diskutierbares Richterrecht forderte.93 Zeitgleich stützte auch Wiethölter in ähnlicher Weise seine Forderung nach einer politischen Rechtstheorie ab: „Dieses unpolitische Rechtsselbstverständnis stand die Weimarer Eroberungsdemokratie gerade noch durch und brachte es sogar fertig, sich nach 1945 gleichsam als ‚naziverfolgt‘ auszugeben, während es als ‚Täter hinter dem Täter‘ unter Anklage hätte gestellt werden sollen.“94 Eine weitere Ausnahme war Martin Kriele. Er wies darauf hin, „daß gerade das positivistische Prinzip legalen Gesetzesgehorsams den Juristen oft auch die Möglichkeit gab, sich auf den Wortlaut der Gesetze zu berufen, um sich gegen Uminterpretationen aus dem Geist der nationalsozialistischen Weltanschauung oder des ‚gesunden Volksempfindens‘ wenigstens eine Zeitlang zu sperren.“95 89 

Walter Ott, Der Rechtspositivismus (1976), 2.A. 1992, S. 187 ff. der „Methodenlehre der Rechtswissenschaft“ von Karl Larenz, bis heute ein Standardwerk, finden sich auch Jahrzehnte nach Erscheinen der Arbeit von Bernd Rüthers keine Hinweise auf diese, so nicht in der 4. Aufl. (1979), in der 5. Aufl. (1983) und in der 6. Aufl. (1991). Der NS bleibt auch in der 6. Aufl. komplett aus den methodengeschichtlichen Ausführungen ausgespart. 91  Zur Ignoranz gegenüber der Arbeit Rüthers’ auch Klaus Luig, Macht und Ohnmacht der Methode, NJW 1992, 2536 (ebd.). Eine Ausnahme ist Gerd Roellecke, Juristische Methodenlehre und die Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins (1970), S. 323 (337). 92  Dies gilt auch für die justizpolitischen Diskussionen der Zeit. Diejenigen, die an einer Demokratisierung der Justiz interessiert waren, argumentierten zumeist nicht mit dem NS, sondern mit einer langen Tradition obrigkeitsstaatlichem Denken in der Justiz. Eine Ausnahme war Rudolf Wassermann, Der politische Richter, 1972, S. 103 ff. Dazu und zum Zusammenspiel von Vergangenheitsdeutung und justizpolitischen Reformvorstellungen in den 1960er Jahren insgesamt Jörg Requate, in: Norbert Frei u.a. (Hg.), Geschichte vor Gericht, 2000, S. 72–92. 93  Bernd Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 1968, S. 431 ff. 94  Rudolf Wiethölter, Rechtswissenschaft, 1968, S. 28. Die Forderung nach einem offen politisch-sozialgestalterischen Verständnis von Rechtspraxis liegt als Subtext auch der Analyse der Naturrechtsbesinnung der Nachkriegszeit und ihrer Folgen durch Wolf Rosenbaum, Naturrecht und positives Recht, 1972 zugrunde, besonders deutlich in der Schlussbemerkung S. 209 ff. 95  Martin Kriele, Rechtspositivismus und Naturrecht – politisch beleuchtet (1969), Nachdruck in: Recht, Vernunft, Wirklichkeit, 1990, S. 487 (503). 90  In

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Die Worte Krieles zeigen, dass mit dem veränderten Blick auf den Nationalsozialismus eine Konstellation eingetreten war, in der eine Rehabilitation des Positivismus denkbar gewesen wäre. Positivistische Positionen waren in die bundesrepublikanische Rechtstheorie zurückgekehrt. Die Fronten hatten sich nicht aufgelöst, aber doch entspannt, und der Wert, den das positive Recht gerade für eine pluralistische Gesellschaft hatte, stand nicht mehr in Frage.96 Dennoch blieb eine Rehabilitierung aus. Die Macht der Positivismusthese97 konnte nicht gebrochen werden. Eine Äußerung wie die Krieles blieb die Ausnahme in der Rechtstheorie. Für eine Rehabilitierung fehlte es sowohl an offensiven Bekenntnissen zum Positivismus98 als auch an einem Diskurs darüber, warum eine positivistische Positionierung gefordert sein könnte. Die Positivismusthese und die mit ihr verbundene Vergangenheitsdeutung hatten in der ersten Nachkriegszeit bewirkt, dass ein naturrechtliches Rechtsverständnis als einzig legitime und richtige rechtsphilosophische Positionierung erschienen war. Ob man sich für einen naturrechtlichen oder für einen positivistischen Zugriff entschied, war damit eine hochgradig normativ aufgeladene, moralische Frage. Mit dem Paradigmenwechsel um 1970 stellte sich die Frage, was rechtsphilosophische Grundentscheidungen legitimieren konnte, aufs Neue. Realismus, Rationalität und Ideologiekritik waren die Legitimationsquellen, auf die nun zurückgegriffen wurde. Vermutlich fehlte ihnen eine moralische Kraft, die es mit der Normativität der Positivismusthese hätte aufnehmen können.99 Ob der Verweis auf eine demokratische Umorientierung der Rechtstheorie oder auf den veränderten Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit eine stärkere Kraft gegenüber der Positivismusthese gehabt hätte, lässt sich nur mutmaßen. Es ist zumindest denk96  Grundlegend hinterfragt wurde der Wert positiven Rechts in dieser Zeit in der Linken, die das Recht als Herrschaftsinstrument begriff. Sie stellte die Neutralität und Objektivität des Rechts grundlegend in Frage, die Möglichkeit, das Recht emanzipatorisch zu nutzen, wurde bezweifelt. Anders als die Naturrechtsdebatten und die Diskussionen um Richterrecht zielte diese Kritik aber nicht darauf, Recht gegen das Gesetz auszuspielen und der Autorität des Gesetzgebers die der Gerichte entgegen zu setzen. Es ging ihr um Rechtskritik und damit darum, die Ausschlüsse, die Gesetz und Recht produzieren, sichtbar zu machen. Während die marxistische Rechtskritik im Laufe der 1970er Jahre an Bedeutung verlor, entwickelte sich aus der feministischen Rechtskritik ab den 1980er Jahren ein erhebliches rechtspolitisches Potential, umfassender Überblick zuletzt bei Beate Rudolf (Hg.), Geschlecht im Recht, 2009; Lena Foljanty/Ulrike Lembke (Hg.), Feministische Rechtswissenschaft, 2.A. 2012. 97  Hierzu Kapitel 1. 98  Wenn in den 1970er Jahren überhaupt solche Bekenntnisse ausgesprochen wurden, dann sehr vorsichtig, so bei Norbert Hoerster, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), S. 115–132. Hinsichtlich des Positivismus Kelsenscher Spielart schrieb er den Nachkriegskonsens allerdings fort. 99  Tatsächlich war die Positivismusthese das, was von der Naturrechtsbesinnung der Nachkriegszeit auch dann noch übrig blieb, als sie längst durch rechtshistorische Forschung als entzaubert gelten musste. Sie findet sich etwa noch 1990 bei Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie in der Nach-Neuzeit, 1990, S. 9.

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bar. Festhalten lässt sich, dass sich die Rechtsphilosophie zwar in den 1960er und 1970er Jahren für demokratische und pluralistische Ansätze öffnete, diesen Wandel aber im Stillen vollzog.100 In der „Neugründung der Republik“ verbanden sich Vergangenheit und Demokratie in der Rechtstheorie nicht zu einer neuen Legitimationsquelle für veränderte oder auch gänzlich neue rechtsphilosophische Positionierungen.

III. Mauerschützenprozesse und die neue alte Naturrechtsfrage Der zweite Zeitsprung führt abermals zwei Jahrzehnte weiter, in die frühen 1990er Jahre. Mit der Wiedervereinigung begegneten sich Demokratie, Vergangenheit und Recht erneut. Gesamtgesellschaftlich stellte sich die Frage, wie ein demokratischer Rechtsstaat angemessen mit vergangenem Systemunrecht umgehen sollte. Für die Gerichte wiederum drängte die Frage, was dies für die Konzeption von Recht bedeutete, nach rechtsphilosophischer Klärung. Die Prozesse gegen Mauerschützen, Wahlfälscher/innen, Richter/innen und andere Täter/innen des Systemunrechts der DDR101 stellten sie vor Fragen, die 45 Jahre zuvor mit naturrechtlichen Argumenten hart umkämpft waren: War Vertrauen in die Legalität eines Unrechtsstaats oder in eine menschenrechtsfeindliche Rechtspraxis schutzwürdig? Sollte rückwirkend bestraft werden? Wenn ja, wie konnte dies legitimiert werden? Anders als in der unmittelbaren Nachkriegszeit gab es im Umgang mit dem Systemunrecht der DDR kein Rückwirkungsgesetz, auch nicht für Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Gerichte waren vorsichtig und skrupulös,102 doch sie entschieden sich für eine rückwirkende Bestrafung.103 Eine Rechtfertigung der Schüsse an der Grenze durch das DDR-Grenzgesetz komme nicht in Frage, 100  Erst seit den 1980er Jahren wurden verzerrte Positivismusvorstellungen durch rechtshistorische Forschung grundlegend in Frage gestellt. Vor allem die Begriffsjurisprudenz erfuhr hierdurch eine Rehabilitierung, siehe hierzu Nachweise in Kapitel 1, Fn. 8. 101  Überblick bei Klaus Marxen/Gerhard Werle, Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht, 1999. 102  So auch Bernhard Schlink, Rechtsstaat und revolutionäre Gerechtigkeit, NJ 1994, 433 (434). 103  So der BGH für die Strafbarkeit von Mauerschützen: Urteil v. 3.11.1992, BGHSt 39, 1 ff.; Urteil v. 25.3.1993, BGHSt 39, 168 ff.; Urteil v. 26.7.1994, BGHSt 40, 218 ff.; Urteil v. 26.7.1994, BGHSt 40, 241 ff.; Urteil v. 20.3.1995, BGHSt 41, 101 ff.; Urteil v. 4.3.1996, BGHSt 42, 65 ff. Freisprüche aufgrund der Umstände des Einzelfalls bei grundsätzlicher Bejahung der rückwirkenden Bestrafbarkeit: Urteil v. 18.5.1995, BGHSt 41, 149 ff.; Urteil v. 17.12.1996, BGHSt 42, 356 ff. Bestätigend BVerfG, Beschluss v. 24.10.1996, NJ 1997, 19 ff.; BVerfG, Beschluss v. 21.7.1997, EuGRZ 1997, 413 ff.

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„wenn in ihm ein offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit zum Ausdruck kommt; der Verstoß muß so schwer wiegen, daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletzt. Der Widerspruch des positiven Gesetzes muß so unerträglich sein, daß das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat“,104

entschied der Bundesgerichtshof im ersten Mauerschützenprozess am 3. November 1992. Das Bundesverfassungsgericht folgte: „Das strikte Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG findet – wie dargelegt – seine rechtsstaatliche Rechtfertigung in der besonderen Vertrauensgrundlage, welche die Strafgesetze tragen, wenn sie von einem an die Grundrechte gebundenen demokratischen Gesetzgeber erlassen werden. Diese besondere Vertrauensgrundlage entfällt, wenn der andere Staat für den Bereich schwersten kriminellen Unrechts zwar Straftatbestände normiert, aber die Strafbarkeit gleichwohl durch Rechtfertigungsgründe für Teilbereiche ausgeschlossen hatte, indem er über die geschriebenen Normen hinaus zu solchem Unrecht aufforderte, es begünstigte und so die in der Völkergemeinschaft allgemein anerkannten Menschenrechte in schwerwiegender Weise missachtete. Hierdurch setzte der Träger der Staatsmacht extremes staatliches Unrecht, das sich nur solange behaupten kann, wie die dafür verantwortliche Staatsmacht faktisch besteht.“105

Damit war die Radbruchsche Formel von 1946 wieder in das Zentrum der rechtswissenschaftlichen Diskussion gerückt. Sie bot erneut übergesetzliche Maßstäbe, die ein Urteil über vergangene Schuld ermöglichen sollten, nun nicht mehr nur über die Gesetze der Zeit hinweg, sondern auch über die des Raumes. Zu einer Neuauflage der Nachkriegsdebatten um Naturrecht oder auch nur um die Formel kam es jedoch nicht.106 Schon Umgang und Interpretation der Formel unterschieden sich von denen nach 1945 erheblich. Es war eine bestimmte Facette der Nachkriegsphilosophie Radbruchs, die in den Urteilen wie auch in den Diskussionen um die Bestrafung von DDR-Unrecht herausgegrif104 

BGHSt 39, 1 (15 f.). BVerfG, Beschluss v. 24.10.1996, NJ 1997, 19 (20). 106  Die Übertragbarkeit der Formel wurde in den Urteilen durchaus kritisch diskutiert, letztlich aber bejaht, so BGHSt 39, 1 (15 f.): „Die Übertragung dieser Gesichtspunkte auf den vorliegenden Fall ist nicht einfach, weil die Tötung von Menschen an der innerdeutschen Grenze nicht mit dem nationalsozialistischen Massenmord gleichgesetzt werden kann. Gleichwohl bleibt die damals gewonnene Einsicht gültig, daß bei der Beurteilung von Taten, die in staatlichem Auftrag begangen worden sind, darauf zu achten ist, ob der Staat die äußerste Grenze überschritten hat, die ihm nach allgemeiner Überzeugung in jedem Land gesetzt ist“; ebenso in der Literatur Frank Saliger, Radbruchsche Formel und Rechtsstaat, 1995, S. 34 ff., demzufolge eine Beschränkung der Anwendung der Formel auf den Nationalsozialismus „weder der Bedeutung der Formel für die Rechtsphilosophie Radbruchs noch dem Formelgehalt gerecht“ werde. Radbruchs eigenen Aussagen widerspricht dies. Er schrieb, die Anwendung der von ihm entwickelten Formel ihre Grenze finde „in den völlig singulären Verhältnissen der zwölf Nazi-Jahre, in Ereignissen, die wir in ihrer Einzigartigkeit auch jetzt noch kaum zu fassen vermögen“, in: Zur Diskussion über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, SJZ 1947, Sp. 131 (136). 105 

III. Mauerschützenprozesse und die neue alte Naturrechtsfrage

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fen wurde. Nicht die naturrechtliche Lesart der Formel war es, die aufgenommen wurde, sondern der kulturrechtliche, an der liberalen Menschenrechtstradition orientierte Ansatz,107 der Radbruch möglicherweise ohnehin näher gelegen hat.108 In der Fünften Minute der Rechtsphilosophie hatte er im Herbst 1945 dieses in der Geschichte der Menschheit verankerte Recht folgendermaßen beschrieben: „[D]ie Arbeit der Jahrhunderte hat doch einen festen Bestand herausgearbeitet, und in den sogenannten Erklärungen der Menschen- und Bürgerrechte mit so weitreichender Übereinstimmung gesammelt, daß in Hinsicht auf manche von ihnen nur noch gewollte Skepsis den Zweifel aufrechterhalten kann.“109 „Heute sind konkretere Prüfungsmaßstäbe hinzugekommen“, schloss der Bundesgerichtshof hieran an. „Die internationalen Menschenrechtspakte bieten Anhaltspunkte dafür, wann der Staat nach der Überzeugung der weltweiten Rechtsgemeinschaft Menschenrechte verletzt.“110 Er zog vor allem den Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte zur Konkretisierung des materiellen Gehalts der Formel heran,111 der von der DDR zwar ratifiziert, aber nie in innerstaatliches Recht umgesetzt worden war. Und dennoch: Übergesetzliches Recht wurde nun im Lichte positiven Rechts interpretiert und verdichtet. Die Menschenrechtskonventionen und -abkommen, welche die Formel ausfüllen sollten, waren in Reaktion auf die nationalsozialistischen Verbrechen entwickelt worden und damit eine Errungenschaft der 45 Jahre, die seit Kriegs­ ende vergangen waren. Der liberale und auf politische Freiheit zielende Gehalt dieser Menschen- und Bürgerrechte hatte sich tief im Verfassungskonsens der Bundesrepublik verankert. Mit dem christlich-abendländischen Wertekonsens der Naturrechtsdebatten der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte dieser nicht mehr viel zu tun. Es war ein bundesrepublikanischer Radbruch, der mit den Mauerschützenprozessen in die Rechtsprechung zurückkehrte. In der rechtswissenschaftlichen Diskussion fanden die Urteile vielfach Zustimmung,112 stießen aber auch auf Kritik. Die Kritiker/innen hielten den Entscheidungen eine Forderung entgegen, die ebenfalls von Radbruch 1946 erhoben worden war: die Forderung nach einem Rückwirkungsgesetz bzw. nun unter dem Grundgesetz nach einer Verfassungsänderung, die ein Rückwirkungsgesetz erlaubte.113 „[E]in Rechtsstaat, einmal etabliert, muß sich treu bleiben: Das

107  Zu den verschiedenen Facetten von Radbruchs Philosophie nach 1945 siehe Kapitel 2, S. 64 f. 108  Dazu Kapitel 2, S. 56 ff. sowie Kapitel 6, S. 238. 109  Gustav Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie (1945), GRGA Bd. 3, 1999, S. 78 (79). 110  BGHSt 39, 1 (16). 111  BGHSt 41, 101 (105). 112  Zahlreiche Nachweise bei Lackner/Kühl, Strafgesetzbuch, 27.A. 2011, § 2, Rn. 16 a. 113  Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105 (107).

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Rechtsgefühl darf geschriebene Verfassungsnormen nicht überrollen. Die einzig rechtsstaatliche Möglichkeit, hier dem Rechtsgefühl zum Sieg zu verhelfen, besteht darin, dem Art. 103 Abs. 2 GG im Weg der Verfassungsänderung eine Ausnahmeklausel für Verbrechen gegen die Menschheit/Menschlichkeit anzufügen“, so Bodo Pieroth in seinem Vortrag auf der Staatsrechtslehrertagung 1991 in Gießen, wo „der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der Vergangenheit“ Verhandlungsgegenstand waren.114 Es waren nicht die großen Ideengebäude von Naturrecht und Positivismus, die sich hier begegneten. Hatte der Bundesgerichtshof mit seiner Konkretisierung des übergesetzlichen Rechts im Lichte der Menschenrechtskonventionen den materiellen Rechtsstaat der alten Bundesrepublik zum Maßstab der Beurteilung erklärt, argumentierten Pieroth wie auch andere Kritiker/innen positivistisch, weil es der formelle Rechtsstaat der alten Bundesrepublik war, den sie davor bewahren wollten, sich in der Konfrontation mit dem Unrecht der DDR in Frage zu stellen. 1947 hatten sich noch Gegner wie Befürworter der rückwirkenden Bestrafung auf natur- oder kulturrechtliche Argumente berufen müssen.115 Nun konnten sich die Kritiker/innen der Gerichte auf positives Verfassungsrecht stützen. Anders war auch, dass die Diskussion nun weit über die Frage hinausging, ob eine rückwirkende Bestrafung legitim sei. Vor allem die Kritiker/innen rückwirkender Bestrafung in Rechtsphilosophie, Staatsrechtslehre und Strafrechtswissenschaft warfen die Frage auf, ob Strafe überhaupt eine sinnvolle Reaktion auf vergangenes Unrecht eines untergegangen Staates sei. „[M]it der inneren Versöhnung beginnen und die Toten die Toten begraben […] lassen“, lautete etwa die Forderung von Josef Isensee auf der Gießener Staatsrechtslehrertagung116 und Günther Jakobs mahnte an, den Strafzweck zu bedenken, denn „als Strafzweck für externe Täter bleibt nur die schiere Abschreckung, und damit bleibt zu prüfen, wer und wovor denn jetzt noch abgeschreckt werden

114  VVdStL 51 (1992), S. 91–112. Ein Rückwirkungsgesetz forderten in der Aussprache Horst Dreier, S. 137 f.; Karl Albrecht Schachtschneider, S. 152 f.; i. E. ebenso Arthur Kaufmann, Die Radbruchsche Formel vom gesetzlichen Unrecht und vom übergesetzlichen Recht in der Diskussion um das im Namen der DDR begangene Unrecht, NJW 1995, 81–86, wobei er nicht gegen, sondern mit der Radbruchschen Formel argumentierte; trotz Skepsis, ob die Bestrafung zweckmäßig sei, auch Bernhard Schlink, Rechtsstaat und revolutionäre Gerechtigkeit, NJ 1994, 433–437. Gegen jede Form der Rückwirkung und damit auch gegen ein Rückwirkungsgesetz z.B. Josef Isensee, Der deutsche Rechtsstaat vor seinem unrechtsstaatlichen Erbe, in: ders. (Hg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, 1992, S. 91–111; im selben Band Günther Jakobs, Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht?, S. 37–64; Matthias Herdegen, in: VVdStL 51 (1992), S. 139 f. 115  Zu der Diskussion um die Legitimität rückwirkender Bestrafung aufgrund des KRG Nr. 10 siehe Kapitel 2. 116  VVdStL 51 (1992), S. 137.

III. Mauerschützenprozesse und die neue alte Naturrechtsfrage

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soll.“117 Walter Odersky wiederum warnte vor der Gefahr, „daß das öffentliche Bewußtsein sich salviert, wenn es die Aufarbeitung gleichsam für getan hält dadurch, daß einzelne Täter abgeurteilt werden.“ Das Unrecht „in Erinnerung zu behalten und über Ursachen nachzusinnen, auch mittelbare Verstrickungen zu erkennen und anzuerkennen“, das sei die Aufgabe, die sich nun stelle.118 Damit waren Fragen aufgeworfen, die so in den Naturrechtsdebatten der Nachkriegszeit nicht gestellt wurden. Deren Gegenstand war die Vergangenheit selbst gewesen, die nach Deutung und Bewertung verlangte. Die Diskussion um den juristischen Umgang mit vergangenem Unrecht war nur partiell mit den Naturrechtsdebatten verknüpft und währte dort nur kurz. Ob es legitim sei, dem Systemunrecht eines untergegangenen Staates mit Mitteln des Strafrechts zu begegnen, war die Frage, die im Rahmen der rechtspraktischen Naturrechtsdebatte diskutiert worden war. Ob ein solcher Umgang mit der Vergangenheit auch zweckmäßig war, was er für Gegenwart und Zukunft bedeutete und welche Alternativen es gab, waren Fragen, die erst jetzt, nach 1990, breit erörtert wurden. Was konnte Recht im Umgang mit der Vergangenheit leisten, wo lagen die Grenzen des Rechts? Vergangenheit und der Umgang mit ihr waren auf diese Weise in veränderter Form wieder in den Blick der Rechtsphilosophie gerückt. In der Diskussion um die Mauerschützenprozesse wurden sie erneut mit der Frage nach Begriff und Geltung des Rechts verbunden. Was eine demokratische Verortung der Rechtslehre für den Umgang mit der Vergangenheit bedeuten konnte und sollte, war jedoch eine Frage, die in der Diskussion um Rechtsstaatskonzeptionen und Strafzwecke abermals unterging. Es blieb bei einer Einzelstimme, die eindringlich einen Zusammenhang herstellte: „Bei der Radbruchschen Formel wird die Entscheidung im Zweifelsfall durch den Richter in einem konkreten Gerichtsverfahren mit allen einzelfallbedingten Besonderheiten gefällt – vielleicht unter freundlicher Assistenz kompetenter Rechtsphilosophen. Bei der rechtspositivistischen Lösung hingegen wird die Entscheidung durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber gefällt – nach einer öffentlichen, kritisch und vermutlich kontroversen Diskussion, die zudem mit einem heilsamen Zwang zu einer bewussten gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit verbunden ist. Ich hätte keine Schwierigkeiten, mich bei dieser Alternative gegen den Richter und für den demokratischen Gesetzgeber zu entscheiden.“119 117 

Günther Jakobs, Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht? (1992), S. 37 (62). Walter Odersky, Die Rolle des Strafrechts bei der Bewältigung politischen Unrechts,1992, S. 29; im gleichen Sinne auch Bernhard Schlink, NJ 1994, 433 (435). Die Bedeutung öffentlicher Erinnerung hervorhebend auch Uwe Wesel, Der Honecker-Prozeß, 1994, S. 152 f. 119  Diskussionsbeitrag auf der Staatsrechtslehrertagung 1991 von Horst Dreier, VVdStL 51 (1992), S. 137 f. In ähnlicher Deutlichkeit nur Bernhard Schlink, NJ 1994, 433 (437). Statt diese Position auszubauen, sprach sich Dreier jedoch später kritisch gegenüber rückwirkender Bestrafung im Allgemeinen aus und damit implizit auch gegenüber einer entsprechenden 118 

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Kapitel 7: Zwei Zeitsprünge: Die Unfähigkeit zu trauern und ihr Preis

IV. Fazit: Die Unfähigkeit zu trauern und ihr Preis Diese Worte Horst Dreiers geben etwas zu bedenken, worum es in der vorliegenden Arbeit nicht ging. Sie lenken den Blick darauf, dass die Rolle des Rechts im Umgang mit den Verbrechen der Vergangenheit auch ganz anders gedacht werden kann. Vergangenheitsschuld und Recht begegneten sich in dieser Arbeit, weil Recht über die Verbrechen der Vergangenheit zu urteilen vermag. Sie begegneten sich zudem, weil für die Jurisprudenz gerade in der Erinnerung an das vergangene Unrecht ein Weg lag, das Recht von der Last seiner Verstrickungen zu befreien. Die Worte Dreiers verweisen nun auf ein Rechtsdenken, das der Erinnerung an vergangenes Unrecht einen eigenständigen Wert beimisst und einer offenen gesellschaftlichen Auseinandersetzung um den Umgang mit ihm Raum geben will. Sie zeigen damit eine ganz andere Dimension des Nachdenkens über das Verhältnis von Recht und Vergangenheitsschuld auf. Dies lädt dazu ein, die Perspektive zu wechseln und zu fragen, was das Recht zu einer demokratischen Erinnerungskultur beitragen kann. Welche Rechtslehre braucht eine Gesellschaft, die Erinnerung lebendig halten will, welches Recht eine Gesellschaft, die aus der Auseinandersetzung zwischen konkurrierenden Erinnerungen Impulse ziehen will? Auf diese Weise über Recht nachzudenken, verlangt, nicht allein vom Recht und von der Jurisprudenz aus zu denken, sondern im Blick zu haben, an welch unterschiedlichen Orten an vergangenes Unrecht erinnert und der Umgang mit ihm ausgehandelt wird, welche Symboliken mit diesen Orten verbunden sind und welche Bedeutung sie der Erinnerung verleihen. Dies bedeutet, behutsam darüber nachzudenken, wie die rechtliche Ausgestaltung von Erinnerungsräumen aussehen kann und soll: Wer soll Gehör finden? Soll einer bestimmten Deutung der Vergangenheit Vorrang gewährt werden? Wie können Räume geschaffen und geschützt werden, in denen konkurrierende Deutungen ausgesprochen und diskutiert werden können? Es wäre anachronistisch zu behaupten, dass diese Fragen bereits nach 1945 hätten diskutiert werden können und sollen. Sich mit der gesellschaftlichen Bedeutung von Erinnerung zu beschäftigen und nach dem Beitrag zu fragen, den das Recht hierzu leisten könnte, war nicht denkbar, solange in Frage stand, ob die Jurisprudenz überhaupt wieder legitim über Recht würde sprechen können. Die Naturrechtsdebatten waren jedoch nicht bloß ein Ort der Vergewisserung. Sie legten auch einen Grundstein für einen auf Justiz und Jurisprudenz verengten Blick im Nachdenken über Recht. Den Zugang zu erweiterten PerspektiVerfassungsänderung, in: Verfassungsstaatliche Vergangenheitsbewältigung, in: Peter Badura/Horst Dreier (Hg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, Bd. 1, S. 159 (206 f.).

IV. Fazit: Die Unfähigkeit zu trauern und ihr Preis

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ven auf Recht, Demokratie und Vergangenheitsschuld versperrten sie damit auf Jahrzehnte.120 So gesehen war die Besinnung auf Naturrecht nach 1945 nicht bloß „Episode“.

120  Die Frage nach dem „Preis der Unfähigkeit zu trauern“ verdanke ich einer Tagung, die vom 12.–14.8.2008 an der Justizakademie des Landes Nordrhein-Westfalen in Recklinghausen unter dem Titel „Keine Zeit zu trauern…? Die Justiz nach 1945. Was war der Preis für ihr nahtloses Weiterfunktionieren?“ stattfand, insbesondere dem hervorragenden Schlussreferat der Tagungsleiterin Helia-Verena Daubach. Leider kam eine Dokumentation nicht zustande.

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Quellen- und Literaturverzeichnis Unveröffentlichte Quellen Evangelische Akademie Bad Boll, Akte: Juristentagung 1945. (zitiert: Ev. Ak. Bad Boll, Aktenbezeichnung: Dokumentenbezeichnung, Blatt oder Seitenzahl) Evangelische Akademie Bad Boll, Akte: Juristentagung 1946. (zitiert: Ev. Ak. Bad Boll, Aktenbezeichnung: Dokumentenbezeichnung, Blatt oder Seitenzahl) Landeshauptarchiv Koblenz, Bestand: 700/177 (Nachlass Adolf Süsterhenn). (zitiert: LHA Koblenz 700/177, Aktennummer, Aktenbezeichnung: Dokumentenbezeichnung, Blatt oder Seitenzahl) Universitätsarchiv Freiburg, Bestand: C130 (Nachlass Erik Wolf). (zitiert: UAF, C 130/Aktennummer, Aktenbezeichnung: Dokumentenbezeichnung, Blatt oder Seitenzahl)

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400

401

Personenregister Adickes, Franz 305, 308, 313 Adorno, Theodor W. 41, 349, 354 Albert, Hans 350, 353, 357 Alexy, Robert 358 Anschütz, Gerhard 21, 38, 48 Apelt, Willibalt 46, 48, 66, 82, 83, 90 Arendt, Hannah 74 Arndt, Adolf 46, 90, 190, 258, 275, 324, 332 Asmussen, Hans 145 Bachof, Otto 89, 90 f., 323, 348 Bader, Karl S. 258, 305, 308 Barth, Karl 146 ff., 155 ff., 159, 161 f., 164, 167, 169, 334 Baur, Fritz 306, 312 Becker, Walter G. 82, 86, 309 Bergbohm, Karl 20, 32 Berggrav, Eivind 229, 231 f., 248, 251, 265 f., 269, 270 Beyer, Wilhelm R. 40, 46, 279 Binder, Julius 215 Blanke, Bernhard 362 Bleibtreu, Konrad 155 Bleibtreu, Otto 312 Bloch, Ernst 360 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 105, 107, 110, 136, 319, 344, 362 Böckle, Franz 136 Boetticher, Eduard 312 Böhler, Dietrich 351, 355 Böhler, Wilhelm 119, 127 Böhm, Franz 143 Bonhoeffer, Dietrich 143 Bornewasser 119, 127 Bosch, Friedrich Wilhelm 244 Brenner, Günter 345 Breuning, Klaus 344 Brunner, Emil 145, 146 ff., 153, 155 ff.,

159, 161 f., 187, 191, 229, 231, 244, 248, 269, 334 Brunotte, Heinz 149, 155 Buchwald, Friedrich 2, 52 Cathrein, Victor 104, 106, 107 Cohn, Georg 193, 195 Coing, Helmut 16 f., 26, 28, 33, 34, 46, 67, 72, 73, 74 f., 77 f., 82, 155, 175 ff., 196 ff., 204 ff., 215, 216, 222 f., 233 ff., 237 f., 243 ff., 248, 250, 253 f., 255 f., 258, 270 f., 272, 279 f., 281 f., 283, 285, 288, 291, 292, 297 f., 298 f., 303 f., 309, 312, 314 f., 323, 325, 336, 340, 345 Darmstaedter, Friedrich 149 Delekat, Friedrich 154 f. Dibelius, Otto 144, 230 Dilthey, Wilhelm 182, 206 Dirks, Walter 123, 134, 328 Dohna, Alexander Graf zu 138 Dombois, Hans 1, 155, 159, 160 f., 170 f., 172, 241 f., 244, 245, 251 Dreier, Horst 35, 38, 368, 369 Duckeleit, Gerhard 258 Ebers, Godehard Josef 117 Ehlers, Hermann 149 Eichmann, Eduard 106 Ellul, Jacques 157 f., 159 ff., 161 f., 241 Engisch, Karl 181 Erdsiek, Gerhard 68, 84 f., 308, 311 Esser, Josef 28, 29, 211 f., 214 f., 216 ff., 221, 223, 254, 270, 276, 295, 297 f., 302, 303, 316, 351, 352, 356 Fechner, Erich 189 f., 193, 194 ff., 196, 200 f., 294, 343, 345 Feine, Hans Erich 145, 262

402

Personenregister

Feyock, Georg 312 Figge, Robert 24, 27, 67, 77–79 Forsthoff, Ernst 319, 321 Fraenkel, Ernst 39, 47 f., 230, 360, 361 f. Franßen, Everhard 362 Freyer, Hans 321 Fricke, Otto 149 Friedrich, Carl Joachim 286 Gadamer, Hans-Georg 351 Gehlen, Arnold 321 Genzmer, Erich 176 Gerner, Erich 312 Goethe, Johann Wolfgang 98, 289 Güde, Max 67, 71 f., 73, 74, 299 f. Gundlach, Gustav 125 Habermas, Jürgen 350, 355 Haensel, Carl 24 Halbwachs, Maurice 45 Hartmann, Nicolai 178 f., 183, 189, 297 Hassemer, Winfried 350, 351, 352, 356 Heck, Philipp 207 Heckel, Johannes 144, 170, 243, 249, 251, 264 f. Hedemann, Justus Wilhelm 21 f., 230 f. Heidegger, Martin 140 f., 165, 166, 190 f., 193, 320 Heldrich, Andreas 356 Heller, Hermann 233 Henneka, Anton 75 Herdegen, Matthias 368 Heusinger, Bruno 312 Heydte, Friedrich August von der 98 f., 116, 190, 277 f., 296, 297 Hippel, Ernst von 23 f., 28, 30, 32, 98, 101, 102, 109, 111 f., 113 f., 116, 133 f., 244, 250, 260 ff., 274, 295, 297, 301 Hippel, Fritz von 15, 25, 27, 31, 33, 44, 277, 287, 288, 298, 325 Hoche, Alfred E. 182 f. Hodenberg, Hodo Freiherr von 67, 68 ff., 73, 75 Hoerster, Norbert 364 Höffe, Otfried 359 Höffner, Joseph 125, 127 Hofmannsthal, Hugo von 318

Hollerbach, Alexander 13, 115, 138, 140, 141, 142, 143, 148, 165, 225, 232 Hornig, Erich 312 Huber, Ernst Rudolf 22, 31, 319 Hugelmann, Karl 99 Isensee, Josef 368 Jäger, Herbert 361 Jahr, Günther 350 Jahrreiß, Hermann 348 Jakobs, Günther 368 f. Jaspers, Karl 190 Jellinek, Walter 24, 81 Jerusalem, Franz W. 138 Johe, Werner 361 Jostock, Paul 122, 125 Junglas, Johann 122 Kahn-Freund, Otto 230 Kaiser, Jakob 123 Kaufmann, Arthur 3, 13, 344, 348, 350, 351, 352, 355, 364, 368 Kaufmann, Erich 21, 240 Kaupen, Wolfgang 356 Keidel, Theodor 312 Kelsen, Hans 21, 34 f., 38 f., 40, 47, 99, 195 f., 221, 358, 364 Kern, Ernst 83, 87, 94 Kierkegaard, Søren 190 Kiesselbach, Wilhelm 67, 72 f., 74 f. 85 f. Kipp, Heinrich 1 f., 24, 26, 98, 99, 100, 101, 102, 109, 111 ff., 116, 236, 243 f., 249 f., 251, 256, 260, 262, 266, 267, 268, 269, 275, 277, 283, 285, 286 f., 294 f., 299, 301, 308, 310, 322 Kirchheimer, Otto 39, 48, 362 Klüver, Jürgen 355 Koch, Hans-Joachim 354, 358, 361 Koschaker, Paul 258, 286 Köttgen, Arnold 319 Kramer, Helmut 38 Krawietz, Werner 358 Kriele, Martin 360, 363 f. Kübler, Friedrich Karl 359, 362 Küchenhoff, Günther 98, 99, 102, 104, 107, 243 f., 297, 344, 347

Personenregister

Kühl, Kristian 13 Kunkel, Wolfgang 176 Kunz, Karl-Ludwig 355

Odersky, Walter 369 Oppler, Kurt 306 Ott, Walter 362 f.

Lange, Heinrich 22, 33, 39, 230 Lange, Richard 75 f. Larenz, Karl 22, 34, 39, 140, 181, 196, 197, 200 ff., 212, 214, 215, 216 f., 219 f., 222, 223, 269, 285, 286, 295, 298, 303, 363 Lau, Heinrich 14, 328 Lautmann, Rüdiger 356 Lehmann, Heinrich 22, 230 Leo XIII. 104, 123, 124 Lierman, Hans 159 Linhardt, Robert 115

Paul, Wolf 355 Perelman, Chaim 352, 359 f. Pesch, Heinrich 125 Petersen, Georg 312 Pieroth, Bodo 368 Pius IX. 104 Pius XI. 104, 107, 115, 123, 125 Pius XII. 108, 110, 111, 113, 115 Plessner, Helmuth 345 f. Podlech, Adalbert 358 Poll, Friedrich von 124 Popper, Karl 353, 354 Priester, Jens-Michael 351, 355

Maihofer, Werner 165, 190, 193 f., 196, 198, 350 f. Mallmann, Walter 83, 89, 324, 348 Mangoldt, Hermann von 348 Mannzen, Walter 46, 82, 83, 87 Maunz, Theodor 321 Mausbach, Joseph 104 Meinecke, Friedrich 98 Meister, Hans-Georg 76 Mensing, Carl 149 Merkatz, Hans-Joachim von 89 f. Merkel, Hans 312 Merkl, Adolf Julius 20, 35, 225 Messner, Johannes 125 Meyer 75, 76 Meyer, Theodor 104 Mitteis, Heinrich 23 f., 26, 258, 259, 274, 276, 277, 294 f., 298, 299, 307, 308, 309, 310 Mohler, Armin 318 ff. Mohnen, Heinz 312 Müller, Eberhard 144 f. Müller, Ingo 14, 38 Müller, Konrad 155 Mumm, Reinhard 155 Nawiasky, Hans 38, 48, 323 f. Nell-Breuning, Oswald von 122, 125 Neumann, Franz L. 39, 48, 230, 233, 286, 361 f. Niemöller, Martin 149

403

Radbruch, Gustav 1 f., 16, 19, 25 f., 34, 38, 39, 52–66, 67, 70 f., 72, 73, 74, 75, 80, 81, 94, 138, 197 f., 206, 233, 238, 248, 258, 270 f., 285, 287, 311, 335, 340, 366 f. Raiser, Ludwig 155 Ranke, Hans-Jörg 155 Reiner, Hans 345 Richter, Walther 356 Rickert, Heinrich 198 Riezler, Erwin 182 Ritter, Gerhard 143 Rödig, Jürgen 354, 357, 358 Roellecke, Gerd 360, 363 Roemer, Walter 1 Rommen, Heinrich 23 f., 28, 30, 33, 79, 98 f., 99, 101, 109, 243, 244, 250, 254, 260, 266, 275, 267, 268 f., 279 f., 308, 310 Rosenbaum, Wolf 14, 38, 348, 363 Rotberg, Hans 84 Rottleuther, Hubert 351, 353, 356 Roxin, Claus 361 Ruscheweyh, Herbert 83, 306, 312 Rüßmann, Helmut 354, 358, 361 Rüthers, Bernd 22, 362 f. Sauer, Wilhelm 34 Savigny, Eike von 354, 357 Schachtschneider, Karl Albrecht 368

404

Personenregister

Schelauske, Hans-Dieter 13 Scheler, Max 178 f., 183, 189, 297 Schelsky, Helmut 321, 349 Scheuner, Ulrich 108, 116, 155, 156 ff., 159, 242, 265, 268, 293, 343 Schiffer, Eugen 305 Schiller, Friedrich 98, 289 Schlink, Bernhard 365, 368, 369 Schmidt, Eberhard 27, 84, 85, 86 Schmidt, Jürgen 355 Schmidt, Richard 362 Schmidtchen, Gerhard 356 Schmitt, Carl 29, 39, 191, 240, 262, 269, 320, 321 Schneider, Peter 343 Schönfeld, Walther 1, 24, 28, 44, 148 f., 169, 248, 249, 250, 254, 276, 295, 299 Schroth, Ulrich 355 Schwarzhaupt, Elisabeth 159 Schweitzer 149 Schwerdtner, Peter 356, 359 Sinzheimer, Hugo 230, 233 Smend, Rudolf 149, 155, 164, 171, 347 Sohm, Rudolph 170 Sontheimer, Kurt 262, 318, 344, 362 Spengler, Oswald 231 Spranger, Eduard 181, 182 Stadtmüller, Georg 1, 99, 266, 268 f., 308 Staff, Ilse 347 f., 361 Stoecker 83 Stohr 119, 127 Stratenwerth, Günter 197, 198, 199 f., 202 Struck, Gerhard 353 Strucksberg, Georg 75 Süsterhenn, Adolf 1 f., 16 f., 23 f., 27 ff., 38, 98 f., 101, 102, 103, 104, 108, 109, 113, 116 ff., 195, 228, 231, 236, 243, 247 f., 251, 251, 260 f., 263, 265, 267 f., 270, 285, 286, 294, 295 f., 299, 306 f., 310, 324, 333, 340 Teubner, Gunther 356, 357 Thoma, Richard 38, 48 Thomas von Aquin 100, 119 Thyssen, Johannes 193

Tischleder, Peter 106, 129 Tomberg, Valentin 2, 98, 102, 109, 111, 260, 266, 274 f., 277, 297, 301 f. Troeltsch, Ernst 230 Viehweg, Theodor 211 f., 212 f., 214, 216, 352 Vogel, Heinrich 154, 155 Wahl, Eduard 308 Waldow 69, 83 Walther, Manfred 14, 28, 38, 58 Walz, Hermann 145 Wassermann, Rudolf 363 Weber, Hellmuth von 75, 76, 82–88 Weber, Max 195 Weber, Oskar 312 Weber, Otto 155 Weber, Werner 321 Weinberger, Ota 25, 35, 353 f., 357 f. Weinkauff, Hermann 1 f., 16 f., 24, 25 ff., 28, 33, 44, 83, 86 f., 88, 116, 236 f., 243 f., 248, 249, 251, 253, 254, 258, 270, 272, 276, 285, 288, 289, 295, 299 f., 301, 303, 304, 306, 307, 308 f., 310–314, 324, 335, 345, 347, 362 Welty, Eberhard 122 Welzel, Hans 24, 28, 29, 30, 80, 181, 188, 190 ff., 197, 198, 199 ff., 203, 223, 238, 282, 286, 292 f., 294, 297, 299, 343 Wesel, Uwe 369 Wieacker, Franz 1 f., 15, 23, 29 f., 40 f., 181, 188–190, 197, 211 f., 214 f., 216– 220, 223, 226, 238, 254, 258, 272, 276, 277, 288, 294, 295, 298, 316, 327, 348 Wieczorek, Bernhard 312 Wiesner, Werner 155 Wiethölter, Rudolf 350, 360, 363 Wimmer, August 67, 70 f., 73, 74, 76 Wolf, Erik 16 f., 29 ff., 33 f., 40, 47, 137–143, 145–153, 153 f., 155, 156, 160, 164–169, 170 f., 171 ff., 193, 229, 231, 232 f., 235, 243, 264, 269, 270, 276, 277, 278, 293 f., 296, 297, 299, 304 f., 306, 324, 325, 334 Wolf, Ernst 149, 154, 155, 156 ff., 159, 163, 241 f.

Personenregister

Wolf, Friedrich O. 355 Wolff, Ernst 46, 85 ff., 308, 312 Wrobel, Hans 23, 38 Wurm, Theophil 137, 144

405

Würtenberger, Thomas 13, 216, 225 Zinn, Georg August 306, 312, 324, 332 Zweigert, Konrad 356

406

407

Stichwortregister Abendland 115 f. – Abendländische Akademie 115 – Abendländische Aktion 115 f. – Zeitschrift „Neues Abendland“ 115 Abklingen 315, 343 ff. Arbeitstagungen, evangelische – Göttingen (1949) 155 ff., 177 – Treysa (1950) 159, 160 – Hemer (1955) 160 f., 163 Art. 20 III GG 348 Ausbildung, juristische 301 ff. Autorität der Jurisprudenz 12 f., 88, 90, 95, 209, 217, 219 f., 221, 304, 310, 310 ff., 316, 318, 327 f. Barmer Theologische Erklärung 142, 146, 170 Bekennende Kirche 142 f., 146, 149, 170 Berufsethik, juristische 302 ff., 311 Bundesgerichtshof – Kontrollratsgesetz Nr. 10 76 – Beamtenverhältnisse, Art. 131 GG 91 – Geschlechterverhältnis 92 f., 244 – „Naturrechtsprechung“ 88 f., 244, 344 – Mauerschützenprozesse 365 ff. Bundesverfassungsgericht – Beamtenverhältnisse, Art. 131 GG 91 – Geschlechterverhältnis 91 ff. – Mauerschützenprozesse 365 ff. Calvinismus 138, 142, 143, 146 ff., 152, 161, 168, 170 f., 264 f. CDU 115, 116 ff., 322 Common Law 308 ff. Deduktionsdenken 152, 212 f., 214 f. Demokratie – katholische Positionen 106, 110 ff., 129 f., 132 ff., 263

– Skepsis 112 ff., 251, 252 ff., 270, 272, 315 f., 318, 324, 328 – als Teil der Rechtsidee 254 – in den 1970er Jahren 359 ff. Denkstil 6 ff., 46 f., 235, 257 f., 290, 326 Deutscher Juristentag s. Juristentage Dezisionismus 191 Ehe und Familie 101 f., 120, 152, 157, 242 ff. Eigentum, Sozialbindung 229, 231, 232 Eigentumsfreiheit 100, 101, 120, 152, 228, 231, 233 f. Einzelfallgerechtigkeit 208, 213, 219, 307, 309 f. Emigration 38, 39, 47 f., 99, 361 Enzykliken – Rerum Novarum (1891) 104, 106, 123 – Quadragessimo Anno (1931) 104, 122, 123, 125, – Mit brennender Sorge (1937) 107 Erinnerung – Homogenisierung 45–49 – an positive Traditionen 97 f., 278 ff., 289, 326 Evangelische Akademie Bad Boll – Juristentagung (1945) 144 – Juristentagung (1946) 137 Evangelische Akademie Baden 177 Evangelische Akademie in Hessen und Nassau 177 Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) – Gründung 144, 149 – Naturrechtsdiskussion 153 ff. Existenzphilosophie 165, 166 ff., 190 ff. Formalismus s. Positivismus Freiburger Widerstandskreis 143

408

Stichwortregister

Freiheit – individuelle Freiheitsrechte 180, 227, 233 f., 256 – politische Freiheitsrechte 253 f. – von Gemeinschaften 102, 105, 121, 130, 160 f., 239 ff. – in Gemeinschaft 103 f., 129, 168, 241, 255 ff. Freiheitsbegriff – positiver Freiheitsbegriff 103 f., 121, 236 f., 239 f., 318 – negativer Freiheitsbegriff 237 f. – Mittelweg 103 f., 168, 235 ff., 241, 255 ff. Freirechtslehre 57, 64, 208, 215, 223, 305, 308, 309, 313 Geisteswissenschaftliche Richtung 182, 206, 240 Gemeinschaftsorientierung 103 f., 121, 124, 129, 160 f., 230 ff., 238 ff., 318 Gemeinwohl 103 f., 120, 124, 126, 131, 134, 228 ff. Geschichtlichkeit 152 f., 157 f., 161, 162 f., 168 f., 181–185, 187, 188 ff., 191 ff., 199, 347 Geschlechterverhältnis – Art. 3 Abs. 2, 117 GG 91 ff. – Institution der Ehe 101, 152, 157, 242 ff. – hierarchische Geschlechterordnung 243 f. Gesetzesbindung 205–209, 211–220, 348, 354, 356, 357, 358, 360 f. Gesetzgeber – als willkürlich 25 ff., 37 f., 84 – als unfähig 216 f. – fortwirkende Skepsis 348, 357 Gewissen 150, 238, 294 f., 296 ff., 326 f. Gleichheit 53, 54, 120, 122, 152, 180, 227, 261, 263 Grundrechtskonzeption – in der Verfassung von R-Pfalz 120 ff., 228, 231 – Grundrechte und Grundpflichten 103 f., 121, 242, 246 – Grundrechte als „natürlich“ 121 f., 127

Harmonie als Ideal 231, 239 f., 260 ff., 272, 276 Hermeneutik, juristische 352, 358 Identität der Jurisprudenz 8 ff., 11, 19–46 (bes. 37 ff., 41, 45 f.), 79, 81, 258 ff., 290, 325 f. Ideologiekritik 354 f. Individualismus – Abgrenzung vom 102 ff., 106, 124, 230 f., 242, 266 ff., 272 – bei Coing und Radbruch 271 Institutionenlehre 102, 105, 121, 129 f., 157 f., 160 f., 162, 200 f., 239 ff. Integrationslehre (Smend) 89, 240, 347 Interessenjurisprudenz 206 f. Juristentage – Bad Godesberg (1947) 82 ff. – Konstanz (1947) 75 – München (1948) 83 – Köln (1949) 84, 305 – Berlin (1952) 304, 309 – Essen (1966) 361 Justizreform, große 311 ff. Kant – Kritik an 178, 236 f., 268 – Anlehnung an 237, 271 Kapitalismus 124, 228 f. Kirche, evangelische s. EKD Kirche, katholische – Situation nach 1945 98, 108 – Kollaboration mit dem NS 98 f., 107 – Neutralität gegenüber politischer Herrschaftsform 105 f., 107 – Einflussnahme auf Verfassung 116 ff., 131 Kirchenkonferenz Treysa (1945) 144, 149 Kirchenrecht – im Nationalsozialismus 140 f. – bekennendes 142, 145, 169–171 Kompetenzordnung 12 f., 88, 90, 95, 305, 307, 308 ff., 310 ff. Konkretes Ordnungsdenken 197, 200 f., 240 Konservative Revolution 262, 318, 320, 321

Stichwortregister

Konservativismus – traditionell 317–320, 346 f. – technokratisch 321 – sozial 323 – liberal 323 Kontrollratsgesetz Nr. 10 – Rechtslage 54 ff., 75 f. – Legitimität 67–76, 95 – als Ermächtigung zu Richterrecht 72 f. – Anwendung durch dt. Gerichte 55, 67 – Rechtsprechung 76 Kritischer Rationalismus 353 Kulturrecht 64 f., 185 f., 189 f., 194 f., 200, 298 Lebensnähe 22, 32 ff., 152, 161, 200 f., 218 f., 305, 307, 309 Liberalismus – Abgrenzung 231 ff., 242, 266, 270, 272 – bei Coing 233 f., 271 – bei Radbruch 271 Luthertum 143, 144, 152, 161, 170, 264 f. Materielles Prüfungsrecht – in Länderverfassungen 81 f. – durch oberstes Gericht 58, 81, 83 – durch alle Gerichte 62, 86 – Maßstab Verfassung 83, 86 f. – Maßstab übergesetzliches Recht 83, 86, 87, 89 f. Mauerschützenprozesse 365 ff. Mensch als auch soziales Wesen 102 f., 129 f., 236, 246, 255, 318 Menschenwürde 146, 168, 179 f., 192, 227, 256, 271, 272 Metahistory 273 Methode, juristische 205 ff., 357 f. Narrative s. Vergangenheitserzählung Nationalismus 263, 269, 320 Nationalsozialismus – Attribuierungen 1 f., 44 – Erzählungen 19 ff., 209 f., 289 – Verschwinden 210 f., 346, 348 Natur der Sache 196 ff. – bei Radbruch 197 f. – bei Larenz 197, 200 f. – bei Coing 197, 198 f.

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– bei Welzel 197, 199 ff. – positivistisch 197 f. – normativ 198 ff. Naturrecht – nach 1945 s. übergesetzliches Recht – der Aufklärung 268 f., 271 – vor Kriegsende 118, 143, 153 Naturrechtsdebatte – rechtspraktische 51 ff., 225, 227, 247, 248, 270, 285, 292, 296, 308 – katholische 97 ff., 225, 227, 228, 236, 239, 258, 260 ff., 266 ff., 274 f., 285, 292, 294 f., 344 – evangelische 137 ff., 177, 187, 225, 227, 228 f., 231 f., 241 f., 263 ff., 268 ff., 275 f., 278, 285, 292, 294, 296, 344 f., 346 – säkulare 175 ff., 225, 227, 275 f., 292, 294, 296, 300, 308, 345, 346 Naturrechtskritik 350 f. Naturrechtsskepsis 181, 190, 201, 212 Neukantianismus – Kritik am 178 – Einfluss 138, 198 Neuscholastik 99 ff., 104 ff., 107, 114 ff., 120 f., 122 f., 228, 230 notleitender Schuldner 232 NS-Verbrechen – begangen von Gerichten s. Rechtsbeugung – Bestrafung s. Kontrollratsgesetz Nr. 10 Ökumenischer Rat der Kirchen 149, 159 Parlamentarischer Rat 117, 131 Phänomenologie 178, 183 f., 190, 197 Philosophenkönig 112, 114, 134 Pluralismus 132 ff., 242, 260 ff., 271, 272, 324, 359 Politik – NS-Recht als politisiertes Recht 29 ff. – Forderung nach apolitischem Recht 43 – Methode als apolitisch 39, 44 f. – unpolitisch-politisch 283 ff., 324 – naturrechtsbasierte Rechtspolitik 132 ff. – Politik im Recht 355 ff. positives Recht – Eigenwert 132, 192, 206, 347 f., 358

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Stichwortregister

Positivismus – Attribuierungen 23 f., 32 f. – als „seit hundert Jahren herrschend“ 20 ff., 24 – als „inhaltsleer“ 25 ff., 29, 34, 359 f. – als „Gesetz ist Gesetz“ 19, 25 ff., 311, 359 f. – als Geltungspositivismus 28, 34 – als Deduktionsdenken 214 – als Dezisionismus 191 – als Entnahme von Werten aus der Wirklichkeit 30 f. – als Formalismus 31 ff., 42 – als lebensfern 32 f., 152 – als naiv 214 ff. – als Naturalismus 29 ff., 40 f., 43 – als Nominalismus 109, 265 – als Politisierung des Rechts 31, 43 – als Reine Rechtslehre 34 – als Relativismus 25 ff., 34, 42, 132 – als Staatsabsolutismus 27 ff. – als „Lehre, die Recht gleich Macht setzt“ 28 – als zweckorientiertes „Recht ist, was dem Volke nützt“ 29, 34, 43 – Überwindung 36 ff., 215 f., 288 f. – Existenzphilosophie als positivistisch 195 – im Kirchenrecht 170 – partielle Renaissance 357 ff. – und Demokratie 35, 38 f., 46, 47, 87, 132, 359 f., 360 f. Positivismusthese – Dekonstruktion 20 ff., 362 f. – Urheberschaft 19 – Formulierung Radbruchs 19 – Funktion 37–45, 60, 63, 66, 76–81 – Fortwirken 47 ff., 209 ff., 215 f., 362 ff. – Schuldverschiebung an den Gesetzgeber 37 f., 79, 84 f., 209 – Schuldverschiebung innerhalb der Rechtswissenschaft 38 – zeitgenössische Kritik 46 f., 85 f., 173 Radbruchsche Formel – Wortlaut 52 f. – Interpretation 53–66

– Reaktion auf konkrete Fälle 53 f., 58 ff., 63 f. – Rechtsicherheit 58–61, 63, 95 – als Naturrecht 57, 64 f. – als Kulturrecht 64 f. – freirechtliche Wurzeln 64, 311 – Rezeption 72, 78, 87, 92, 366 ff. – in den Mauerschützenprozessen 366 ff. Rechristianisierung 98, 107 ff., 118 ff. Recht, angloamerikanisches s. Common Law Rechtsbeugung 59, 61, 66 f., 77–80, 95 Rechtsgefühl 178 f., 182 f., 208 f., 303 Rechtssoziologie 351, 356 Rechtsstaat – kein Beitrag zum 115, 284 ff., 300 ff., 314 f., 323 f., 328 f. – gerichtlicher Rechtsschutz 247 f., 252 – und Mauerschützenprozesse 367 f. Rechtstheologie 164–171 Rechtstheorie 350 ff. – analytische 353, 357 f. – kritische 354 f., 358 – politische 363 Reichsidee 260 ff. Relativismus 188, 192, 193, 199 f., 267 ff. Revolution 113, 249 Richterbild 208 f., 218 f., 303, 308 ff., 310 ff., 356 Richterkunst 208 f., 218 f., 303 Richterrecht 207–220, 307, 310, 347, 356 f., 363 rückwirkende Bestrafung – Rechtslage 54 ff. – Legitimität 67–76, 95 – Angemessenheit angesichts NS 69, 72 – legitimiert durch übergesetzliches Recht 71 f., 75, 270 – legitimiert in Common-Law-Tradition 75 – legitimiert durch Rückwirkungsgesetz 70, 72 – in den Mauerschützenprozessen 365 ff. Rückwirkungsverbot – übergesetzlicher Charakter 69 f., 270 – kein übergesetzlicher Charakter 70 f., 72

Stichwortregister

Säkularisierung 108 ff., 145, 244, 266 ff., 275 f., 285, 318 Schuld – Thematisierung 37 ff., 85 – Umgang bei Wolf 47, 149, 173 Solidarismus 122 ff., 231 Solidarität 167, 228 f. sozial 122 ff., 168, 228 ff. soziale Rechte 101, 122, 180, 228, 234 Sozialethik, evangelische 230, 231 ff. Sozialismus 123 f., 231 Soziallehre, katholische s. Neuscholastik Staat – als potentiell despotisch 27 ff., 257, 266 ff. – Aufgabe 102 f., 133, 247 ff. – Legitimität 103, 247 ff., 252 ff. – Eigenwert 157, 247 ff., 267, 318 – Verhältnis Kirche-Staat 104 ff., 108, 141, 143 f., 146 ff., 154 – Verhältnis Bürger/innen-Staat 103, 139 f., 247 ff. Staatslehre, organische 101 ff., 131, 239 ff. Staatsrechtslehrertagung – Göttingen (1951) 24 – Gießen (1991) 368 subjektive Rechte – gegenüber dem Staat 103, 248 ff., 251 f. – in Gemeinschaften 238 ff., 244 ff. – Verzicht auf 232 f. – Rede von 239 Subsidiarität 102, 124, 125, 130, 131 Theologie, dialektische 144, 146 Tradition als Rechtsquelle 217 f., 219, 298 übergesetzliches Recht – Terminologie 4, 185 f., 190, 226 – Inhalte 101 ff., 152, 180, 192, 227–258 – Erkenntnis 100 f., 178, 179, 183, 189, 238 – Begründung 94, 100 f., 145 ff., 155 ff., 178 ff., 188 ff. – aus dem Wesen des Menschen 100 f., 179, 198

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– aus biblischer Weisung 145–153 – christologisch 147, 156, 162, 164 – aus der Schöpfungsordnung 147, 156, 159, 161 – christozentrisch 157 f. – trinitarisch 159 f., 163 – bei Coing 178–187 – aus einem objektivem Reich der Werte 179, 189 – aus wiederkehrenden Phänomenen 157, 184 f., 190, 194 f. – als objektiver Kern 192, 194, 198 ff., 203 – als sachlogische Strukturen 192, 199 f. – als ontologischer Kern 194, 198 f., 200 f. – als werdendes Naturrecht 194 f. – als Kulturrecht s. Kulturrecht – als Teil des positiven Rechts 199, 348 – als konkretes und relatives Naturrecht 218 – Funktion – als Grundlage für Rechtspolitik 132, 204 – als Grundlage für Rechtskritik 161, 204 – als Grundlage richterlicher Rechtsschöpfung 208, 291, 310 – als Aufgabe 151, 153, 168, 202, 204, 238, 242, 277, 280, 282, 287, 293, 298 ff., 326 f. – Verhältnis zum positiven Recht – Verbindlichkeit 150 f., 153, 161–163, 164, 167, 207, 291, 292–296 – als Geltungsgrenze 52 f., 101, 151, 203, 205, 291, 293, 296 – als Auslegungsmaxime 201 f., 203, 217–220, 309 f., 347 – als Rechtsbildungsfaktor 208 f., 217–220, 291, 310 Unbegrenzte Auslegung 22, 362 f. Verfassung – von Rheinland-Pfalz 116 ff. – Grundgesetz 88 ff., 220, 346 f., 348 – Bedeutung für Auslegung 206

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Stichwortregister

Verfassungswidriges Verfassungsrecht – Art. 3 Abs. 2, 117 GG (Geschlechterverhältnis) 91 ff. – Art. 131 GG (Beamtenverhältnisse) 89, 91 Vergangenheitserzählung – vom Mittelalter 260 ff., 265 – von der Reformation 263 ff. – von der Aufklärung 265, 266 ff. – als Verfallsgeschichte 109 f., 273, 274 ff. – als historische Konstanten 273, 278 ff. – als Fortschrittsgeschichte 274, 281 f. – Funktion 110, 273–290, 325 ff. – zeitgenössische Kritik 279 Verwerfungskompetenz s. materielles Prüfungsrecht Volksnähe 304 ff., 311 Vorverständnis 351, 354 Wahrheit, Entstehung 6 ff., 45–49, 326 Wehrlosigkeitsthese s. Positivismusthese

Weimarer Reichsverfassung 285 Weltkirchenkonferenz Amsterdam (1948) 149 Wertordnung, objektive 347 Wertphilosophie, materiale 178 f., 183, 189 Wertungsjurisprudenz 211 ff. Westernisierung 346 Widerstandsrecht – Begründung 113, 161, 248 – Grenzen 113, 249 f., 251 f. – gemeinschaftsbezogene Konzeption 251 Wiener Kreis 353 Wohlfahrtsstaat 231 f. Zeitschriftengründungen 1, 97, 115 Zukunftsvisionen 227–258, 276 f., 280, 283 ff., 290 Zwei-Reiche-Lehre 143, 144, 264, 266 Zweites Vatikanisches Konzil 136