Recht auf Arbeitslosigkeit? Ein Lesebuch über Leistung, Faulheit und die Zukunft der Arbeit [2. exp. ed.] 9783770566877, 9783846766873

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German Pages XII, 172 [195] Year 2022

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Recht auf Arbeitslosigkeit? Ein Lesebuch über Leistung, Faulheit und die Zukunft der Arbeit [2. exp. ed.]
 9783770566877, 9783846766873

Table of contents :
Frontmatter
Cover
Recht auf Arbeitslosigkeit?
Imprint
Inhalt
Vorwort
Vorwort zur zweiten Auflage
Kriterien der Textauswahl
1. Über die vorausgesetzte Vertheilung der Arbeitszweige im Vernunftstaate (1800)
2. Die Art der Arbeit (1821)
3. Neue Welt der Arbeit (1829)
4. Arbeit (1834)
5. Versuch einer sozialen Klugheitslehre (1843)
6. Arbeiten und nicht verzweifeln (1843)
7. Von der Arbeit und vom Genuß (1844)
8. Die Sphäre der Wohlfahrt (1862/63)
9. Revolutionärer Katechismus (1866)
10. Keine Cultur ohne Dienstboten (1874)
11. Das Recht auf Faulheit (1880)
12. Arbeit und Langeweile, Muße und Müßiggang (1882)
13. Grundgesetze der sozialistischen Gesellschaft (1883)
14. Der Sozialismus und die Seele des Menschen (1891)
15. Rede an die Jugend (1893)
16. Reich der Notwendigkeit und Reich der Freiheit (1894)
17. Die Befreiung von der Arbeit und die konservative Einstellung (1899)
18. Die Abwegigkeit des sozialistischen Ideals (1900)
19. „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen!“ (1917)
20. Die Faulheit als eigentliche Wahrheit der Menschheit (1921)
21. Arbeit und Weltanschauung (1924)
22. Meine Philosophie der Arbeit (1929)
23. Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder (1930)
24. Der Freiheitsanspruch als Arbeitsanspruch (1932)
25. Lob des Müßiggangs (1932)
26. Zum Begriff der parasitären Bevölkerung (1949)
27. Sur l’eau (1951)
28. Die Gesellschaft von Konsumenten (1958)
29. Muße als unerläßliches, erst halb erforschtes Ziel (1959)
30. Das Ende der Utopie (1968)
31. Die Verleumdung der Leistung (1975)
32. Wie wird man Anarchist? Gespräch mit Peter Jay (1976)
33. Die Antiquiertheit der Arbeit (1977)
34. Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht (1982)
35. Arbeiterkonservativismus (1983)
36. Arbeit heute. Ein Gespräch mit Hans-Ulrich Reck (1984)
37. Das postmarktwirtschaftliche Zeitalter (1995)
38. Die glücklichen Arbeitslosen (2000)
39. Das Ende der Arbeit: Die letzte Gestalt der mondialisation? (2001)
40. Ein Gedankenexperiment (2005)
41. Vermessung der Utopie. Ein Gespräch über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft (2009)
42. Über das Phänomen der Bullshit-Jobs (2013)
Backmatter
Quellenverzeichnis

Citation preview

Recht auf Arbeitslosigkeit?

Literatur und Ökonomie Herausgegeben von Iuditha Balint Wissenschaftlicher Beirat Moritz Baßler, Stefan Berger, Fritz Breithaupt, Stefan Brüggerhoff, Ludger Claßen, Patrick Eiden-Offe, Thomas Ernst, Jörn Etzold, Walter Fähnders, Julika Griem, Heinrich Theodor Grütter, Stephanie Heimgartner, Jochen Hörisch, Stefan Mühlhofer, Michael Niehaus, Rolf Parr, Franziska Schößler, Erhard Schütz, Joseph Vogl, Burkhardt Wolf, Thomas Wegmann, Joachim Wittkowski, Thomas Wortmann

BAND 6

Rainer Barbey (Hg.)

Recht auf Arbeitslosigkeit? Ein Lesebuch über Leistung, Faulheit und die Zukunft der Arbeit

2., überarbeitete und erweiterte Auflage

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Fritz Hüser Instituts Umschlagabbildung: Charlie Chaplin, Modern Times, 1936.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2022. Die erste Auflage ist 2012 im Klartext Verlag erschienen. © 2022 Brill Fink, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Der Herausgeber hat sich intensiv bemüht, im Vorfeld der Publikation mit allen Rechteinhabern der verwendeten Texte Kontakt aufzunehmen. Sollten Ihre Belange nicht berücksichtigt worden sein, wenden Sie sich bitte an den Verlag. www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISSN 2698-7066 ISBN 978-3-7705-6687-7 (paperback) ISBN 978-3-8467-6687-3 (e-book)

Inhalt Vorwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ix

Vorwort zur zweiten Auflage  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xvi



Kriterien der Textauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . xxi

1.

Über die vorausgesetzte Vertheilung der Arbeitszweige im Vernunftstaate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Johann Gottlieb Fichte

2.

Die Art der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel

3.

Neue Welt der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Charles Fourier

4. Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich List

8

5.

Versuch einer sozialen Klugheitslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Sören Kierkegaard

6.

Arbeiten und nicht verzweifeln  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Thomas Carlyle

7.

Von der Arbeit und vom Genuß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Moses Hess

8.

Die Sphäre der Wohlfahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Johann Gustav Droysen

9.

Revolutionärer Katechismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Michail Bakunin

10. Keine Cultur ohne Dienstboten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Heinrich von Treitschke

vi

Inhalt

11. Das Recht auf Faulheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Paul Lafargue 12. Arbeit und Langeweile, Muße und Müßiggang . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Friedrich Nietzsche 13. Grundgesetze der sozialistischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 August Bebel 14. Der Sozialismus und die Seele des Menschen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Oscar Wilde 15. Rede an die Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Emile Zola 16. Reich der Notwendigkeit und Reich der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Karl Marx 17. Die Befreiung von der Arbeit und die konservative Einstellung . . . . 46 Thorstein Veblen 18. Die Abwegigkeit des sozialistischen Ideals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Lew Tolstoi 19. „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Wladimir Iljitsch Lenin 20. Die Faulheit als eigentliche Wahrheit der Menschheit . . . . . . . . . . . 54 Kasimir Malewitsch 21. Arbeit und Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 Max Scheler 22. Meine Philosophie der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Henry Ford 23. Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder . . . . . . . . . . 66 John Maynard Keynes

Inhalt

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24. Der Freiheitsanspruch als Arbeitsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Ernst Jünger 25. Lob des Müßiggangs  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Bertrand Russell 26. Zum Begriff der parasitären Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Antonio Gramsci 27. Sur l’eau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Theodor W. Adorno 28. Die Gesellschaft von Konsumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Hannah Arendt 29. Muße als unerläßliches, erst halb erforschtes Ziel . . . . . . . . . . . . . . . 89 Ernst Bloch 30. Das Ende der Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Herbert Marcuse 31. Die Verleumdung der Leistung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Helmut Schelsky 32. Wie wird man Anarchist? Gespräch mit Peter Jay  . . . . . . . . . . . . . . . 105 Noam Chomsky 33. Die Antiquiertheit der Arbeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Günther Anders 34. Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Ralf Dahrendorf 35. Arbeiterkonservativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 André Gorz 36. Arbeit heute. Ein Gespräch mit Hans-Ulrich Reck . . . . . . . . . . . . . . . 134 Jürgen Habermas

viii

Inhalt

37. Das postmarktwirtschaftliche Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Jeremy Rifkin 38. Die glücklichen Arbeitslosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Ulrich Beck 39. Das Ende der Arbeit: Die letzte Gestalt der mondialisation? . . . . . 148 Jacques Derrida 40. Ein Gedankenexperiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Wolfgang Engler 41. Vermessung der Utopie. Ein Gespräch über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . 159 Raul Zelik/Elmar Altvater 42. Über das Phänomen der Bullshit-Jobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 David Graeber Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

Vorwort Arbeit ist eine Quelle der Kultur, des Wohlstands, der Zivilisation und des Fortschritts, sie ist ein Mittel der Erkenntnis, der Wissenschaft, der Aufklärung, ein Garant der Würde des Einzelnen und der allgemeinen Menschenrechte – darin stimmen im 19. Jahrhundert die unterschiedlichsten Denker weitgehend überein. „Schon der Wunsch, Arbeit zu verrichten“, behauptet etwa der englische Schriftsteller Thomas Carlyle stellvertretend für das noch junge viktorianische Zeitalter emphatisch, „leitet immer mehr und mehr zur Wahrheit und zu den Gesetzen und Vorschriften der Natur, welche Wahrheit sind“. Friedrich List, einer der ersten modernen Ökonomen Deutschlands, begreift Arbeit mit den Prämissen der wirtschaftsliberalen Tradition als „das einzig vernünftig-legitime wie das sicherste und nachhaltigste Mittel für Individuen und Nationen, zu Reichthum und Wohlstand zu gelangen“. Und selbst eine so idiosynkratische, unangepasste Persönlichkeit wie der russische Anarchist Michail Bakunin leitet die Passagen über Arbeit ihres Revolutionären Katechismus mit den Worten ein: „Die Arbeit ist die Grundlage der Menschenwürde und des Menschenrechts. Denn nur durch eine freie und intelligente Arbeit schafft der Mensch, seinerseits Schöpfer der äußeren Welt und seiner eigenen Bestialität sein Menschsein und sein Recht abgewinnend, die zivilisierte Welt“. Dass es die Arbeit ist, die uns vom Tier und/oder vermeintlich unterentwickelten Völkern unterscheidet, auch darin besteht über die verschiedensten ideologischen Lager hinweg bemerkenswerte Einigkeit. Nicht nur Bakunin zieht diese zivilisatorische Trennlinie, bereits Hegel schreibt in seiner Rechtsphilosophie: „Der Barbar ist faul und unterscheidet sich vom Gebildeten dadurch, daß er in der Stumpfheit vor sich hin brütet, denn die praktische Bildung besteht eben in der Gewohnheit und in dem Bedürfen der Beschäftigung“. Einer der Schüler Hegels, der Historiker Johann Gustav Droysen formuliert die spezifische Differenz zwischen menschlicher Arbeit und der rein physischen Aktivität der Tiere folgendermaßen: „Die Arbeit ist ebenso etwas speziell Menschliches, wie Denken und Glauben. Das Tier strengt sich auch wohl an, um seine Bedürfnisse, seine Triebe zu befriedigen. Aber die Anstrengung endet mit der Befriedigung, sie hat keinen Zweck, der über die Befriedigung hinausläge, kein Fortschreiten zu diesem Zweck, keine Geschichte“. „Im rohen Naturzustand erscheint dem Menschen überall die Arbeit als ein Übel“, weiß Friedrich List, und ein weiterer Geschichtswissenschaftler, Heinrich von Treitschke, verkündet mit unüberhörbarer Geringschätzung: „Der Barbar verachtet die Arbeit, er schafft nur für das Heute“. Vielleicht ein wenig enttäuscht über die Ursprünge des Deutschtums setzt der

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Vorwort

konservative Publizist und zeitweilige Reichstagsabgeordnete hinzu: „Selbst der hochbegabte Germane pflog stolzer Ruhe nach der Erregung des Krieges und der Jagd“. Eine der wenigen signifikanten Ausnahmen im uniformen Arbeitsdiskurs des 19. Jahrhunderts stellt der französische Sozialist Paul Lafargue mit einer kleinen Schrift dar, die den sprechenden Titel Das Recht auf Faulheit trägt. Der Autor betreibt darin, gleich Nietzsche und seinen Aphorismen über Arbeit und Langeweile bzw. Muße und Müßiggang, eine radikale und, gegenüber der Fröhlichen Wissenschaft, weitaus umfassendere und analytisch präzisere Umwertung aller (Arbeits-)Werte seiner Zeit. Für Lafargue bedeutet harte körperliche Arbeit nur geistige und physische Degeneration, und er fordert fast rousseauistisch dazu auf, den „stolzen Wilden“, der noch nicht durch das „Dogma von der Arbeit korrumpiert“ worden sei, mit den „abgerackerten Maschinensklaven“ in den hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften zu vergleichen. Auch Lafargues Blick auf die Nationalcharaktere der Völker Europas in Vergangenheit und Gegenwart gehorcht dieser Logik: „Für den Spanier, in dem das ursprüngliche Tier noch nicht ertötet ist, ist die Arbeit die schlimmste Sklaverei. Auch die Griechen hatten in der Zeit ihrer höchsten Blüte nur Verachtung für die Arbeit; den Sklaven allein war es gestattet, zu arbeiten, der freie Mann kannte nur körperliche Übungen und Spiele des Geistes“. Von der seltsam anmutenden Wortwahl, die Sklaven das Arbeiten „gestattet“, einmal abgesehen: Wirken diese Zeilen nicht erfrischend in einer Zeit, in der unterm neoklassischen Diktat von Haushaltskonsolidierung und Inflationsangst die Rede vom faulen Südländer in der deutschen Publizistik wieder fröhliche Urständ feiert? In der Schreibgegenwart Lafargues war allerdings auch die Abwertung der Muße des klassischen Altertums gängige Praxis: Vom „bornierten Vorrecht des Nichtarbeitens in der antiken Welt“ spricht Droysen, und Bakunin wettert gegen deren „stupide Verachtung der Arbeit“, allerdings nicht ohne klarzustellen, dass es sich bei der Geringschätzung von körperlicher Arbeit um die Prioritäten einer privilegierten Elite innerhalb einer Sklavenhaltergesellschaft handelt. Gegen das Wohlstandsparadigma führt Lafargue an, dass die Vermehrung des Nationalreichtums durch Arbeit nicht notwendigerweise denjenigen zugute kommen muss, die ihn erwirtschaften. Dass ein florierender Niedriglohnsektor Wachstum allenfalls am oberen Ende der Gesellschaft generiert, kann man also bereits im Recht auf Faulheit nachlesen, und auch die These, dass Mehrarbeit „in der angeblich guten Geschäftszeit“ zu Überproduktionskrisen führen kann, berührt einen Zusammenhang, der sich mühelos bis in die Gegenwart hinein verlängern ließe. An den Menschenrechten als emanzipatorischem Ziel der Arbeiterbewegung lässt Lafargue ebenfalls kein

Vorwort

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gutes Haar, wittert er hinter ihnen doch, etwas einseitig, nur „die Rechte der kapitalistischen Ausbeutung“ – freilich ist auch diese letzte Invektive des Autors nicht ganz ohne Berechtigung, wenn man bedenkt, dass die Menschenrechte nicht selten zur Rechtfertigung von Wirtschaftskriegen (kriegerisches Handeln, übrigens, stellt ebenfalls eine Form von Arbeit dar, wie viele der hier versammelten Autoren betonen) und idealistischen Verbrämung ungerechter Eigentumsverhältnissen missbraucht wurden. In diesem Sinne äußert sich, gut 120 Jahre später, nicht zuletzt auch Jacques Derrida in einem Vortrag über die Zukunft der Werte im Auftrag der UNESCO, wenn er auf die ungleiche Verteilung von Arbeitszeit und Einkommen im Weltmaßstab hinweist. „Jedes Lob der Menschenrechte, die diese Form der ökonomischen Ungleichheit nicht in Rechnung stellt“, so der französische Philosoph, „verkommt schnell zum formalen Geschwafel, wenn nicht zur Obszönität“. Wie verhängnisvoll die rhetorische Überhöhung von Arbeit bisweilen wirken und welche Pervertierung so manche Argumentation in der dialektischen Geschichte der Aufklärung durchmachen kann, wird an einem anderen Zusammenhang deutlich, demjenigen von Arbeit und Freiheit nämlich. Noch einmal Droysen, ganz hegelianisch: „Man kann sagen, die Geschichte der Arbeit ist die der Freiheit und ihres Fortschreitens“. Im 20. Jahrhundert, am Vorabend des Nationalsozialismus, wird dann Ernst Jünger den Freiheitsanspruch als Arbeitsanspruch definieren, und vielleicht ist es von hier aus, dem totalitären Arbeitsbegriff in der 1932 erschienenen Schrift Der Arbeiter, wirklich nur ein kleiner Schritt bis zu jener berüchtigten Inschrift über den Toren von Auschwitz: „Arbeit macht frei“. Dass niemand frei genannt werden kann, der gezwungen ist, seine Arbeitskraft nach dem dürren Gesetz von Angebot und Nachfrage zu verkaufen und um eines nicht selten kärglichen Lohnes willen ungeliebte Tätigkeiten auszuüben, stellt schon Moses Hess in seinem Katechismus zu Fragen der Arbeit und des Genusses von 1844 in aller Deutlichkeit klar. Er unterscheidet zwischen freier Tätigkeit, die sich aus eigenem Antrieb die Zwecke selbst setzt, und heteronomer Arbeit, die allein aufgrund äußerer Zwänge getan wird. „Der Mensch, welcher den Lohn für seine Arbeit außerhalb seiner selbst sucht“, ist für Hess „ein Sklave, der für fremde Zwecke thätig ist, eine leblose Maschine, welche getrieben wird“. Mit Blick auf die damalige (frühkapitalistische) Wirtschaftsordnung, die vielleicht immer noch oder schon wieder die heutige ist, gelangt der Autor schließlich zu dem nüchternen Fazit: „Fast jede Thätigkeit wird in unsrer Gesellschaft nicht aus dem innern Antriebe unsrer Menschennatur, nicht aus Lust und Liebe zur Arbeit, sondern aus einem äußern Antriebe, in der Regel aus Noth oder des Geldes wegen verrichtet“. – Allgemeiner, lakonischer, aber eben darum nicht weniger stimmig wird es Karl Marx einige Jahrzehnte

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Vorwort

später in einer berühmten Passage aus dem Fragment gebliebenen dritten Band des Kapital formulieren: „Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört“. Heteronomes Arbeiten bestimmt darüber hinaus, gemäß dem Adornoschen Leitsatz, dass es kein richtiges Leben im beschädigten, falschen geben könne, auch das, was wir gemeinhin unter „Freizeit“ zu verstehen gewohnt sind, denjenigen Teil der menschlichen Lebensdauer also, der jenseits des Arbeitstags für Erholung, freie Tätigkeit und buchstäblich zweck-loses Spielen reserviert zu sein scheint. „Muße“, analysiert Günther Anders in seinem Essay Die Antiquiertheit der Arbeit von 1977 unbarmherzig, ist „nicht eo ipso ein Freiheitszustand, vielmehr ist die Art der Muße durch die Art der uns aufgezwungenen Arbeit determiniert, also ebenfalls aufgezwungen. Die Hobbies, die vorgeben, freigewählte Mußebeschäftigungen zu sein, sind bestimmt durch die HobbyObjekte, die als Waren offeriert werden, und diese sind ihrerseits bestimmt durch den Typ des heutigen Arbeitens, als Gegentypen“. Die Folge: „Muße, Konsum und Sport sind uns ebenso auferlegt wie die Arbeit. Was wir in Arbeit und Muße erfahren, ist also nicht, wie es auf den ersten Blick scheint, eine doppelte Freiheit; vielmehr eine doppelte Unfreiheit, die, da sie im Kostüm einer doppelten Freiheit auftritt, die Lebenslüge der Epoche ist“. Doch lässt sich das von Marx skizzierte Reich der Freiheit, die Utopie einer der entfremdeten Arbeit ledigen Menschheit überhaupt verwirklichen? Die Ausgangsposition ist denkbar schlecht. „Das unmittelbare Material, das nicht verarbeitet zu werden braucht“, gibt bereits Hegel pessimistisch zu bedenken, „ist nur gering: selbst die Luft hat man sich zu erwerben, indem man sie warm zu machen hat; nur etwa das Wasser kann man so trinken, wie man es vorfindet. Menschenschweiß und Menschenarbeit erwirbt dem Menschen die Mittel des Bedürfnisses“. Arbeit, von Hegel sowie vielen vor und nach ihm als Stoffwechsel des Menschen mit der Natur definiert, wurde, glaubt man dem in der Rede vom „Menschenschweiß“ kodierten biblischen Gründungsmythos, nach der Vertreibung aus dem Garten Eden als Fluch über das Menschengeschlecht verhängt. Als Mittel, von hinten wieder ins Paradies zurückzugelangen, haben zahlreiche Utopisten auf die Technik, auf Mechanisierung und Automation gesetzt. Am schönsten hat diesen kategorischen Imperativ des Maschinenfortschritts sicherlich Oscar Wilde in seinem Essay Der Sozialismus und die Seele des Menschen in Worte gefasst: „Jede rein mechanische, jede eintönige und dumpfe Arbeit, jede Arbeit, die mit widerlichen Dingen zu tun hat und den Menschen in abstoßende Situationen zwingt, muß von der Maschine getan werden. Die Maschine muß für uns in den Kohlengruben arbeiten und gewisse hygienische Dienste tun und Schiffsheizer sein und die Straßen reinigen und an Regentagen Botendienste tun und muß alles tun, was unangenehm ist“.

Vorwort

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In der technologisch bedingten Massenarbeitslosigkeit des 20. und 21. Jahrhunderts, der Praxis der Frühverrentung und der Teilzeitjobs scheint diese Forderung zumindest partiell verwirklicht worden zu sein, offenbart durch eben diese unvollständige Einlösung allerdings auch in Ansätzen die Schattenseiten einer Utopie der freien Zeit. Viele Analytiker der Arbeit haben seit den fordistischen zwanziger Jahren immer wieder darauf hingewiesen, dass der sinnvolle Umgang mit einem Übermaß an Mußestunden erst erlernt werden muss. „Noch für lange Zeiten wird der alte Adam in uns so mächtig sein, daß jedermann wünschen wird, irgendeine Arbeit zu tun, wenn er zufrieden sein will“, befürchtet beispielsweise John Maynard Keynes in seiner Prognose über die wirtschaftlichen Möglichkeiten seiner Enkelkinder, also der Menschheit im Jahre 2030. Und in besagtem Text zur Antiquiertheit der Arbeit, aus dem selbst ein vergleichsweise vorsichtiger Optimismus, wie ihn noch der britische Ökonom trotz der Weltwirtschaftskrise von 1929 an den Tag legte, völlig gewichen ist, hat Günther Anders zu bedenken gegeben, dass viele Individuen in dem „Ozean der freien Zeit“, den ihnen die Segnungen der Automatisierung beschert haben, zu ertrinken drohen und daraus gefolgert, „daß der Mensch ohne die Arbeit, zu der er nun einmal verflucht ist, nicht leben kann, daß er unfähig ist, around the clock Unterhaltung auszuhalten“. Andere Anti-Utopisten – und zu diesen gehört im vorliegenden Fall auch Karl Marx mit seinem bereits erwähnten Kapital-Fragment – haben schon im vorletzten Jahrhundert darauf hingewiesen, dass der technische Fortschritt stets neue, vorher nicht gekannte Bedürfnisse erzeugt, die wiederum immer neue Arbeitsanstrengungen nötig machen. Das Reich der Naturnotwenigkeit pflanzt sich auf erweiterter Stufenleiter also beständig fort. Diesen Prozess haben nicht nur die Klassiker des wissenschaftlichen Sozialismus erkannt. Nicht unbedingt sympathisch, aber prägnant und wohl leider zutreffend hat auf der Gegenseite des politischen Spektrums auch Heinrich von Treitschke die Dialektik der technologischen Innovation, die Rationalisierung und Güternachfrage zugleich generiert, in Worte gefasst: „Jeder große Erfolg der wirthschaftlichen Arbeit erweckt neue materielle Bedürfnisse in unendlicher Folge. […] Man denke noch so hoch von der möglichen Vervollkommnung des Maschinenwesens, es wird doch ewig dabei bleiben, daß Millionen mit Schmutz und Unrath, mit häßlicher und eintöniger Arbeit sich befassen müssen“. Aber selbst wenn dem nicht so wäre, wenn wirklich irgendwann einmal Maschinen jedwede unangenehme Tätigkeit von den Menschen nehmen könnten – auch diese scheinbar paradiesische Science-Fiction-Utopie kommt nicht völlig ohne monotone Arbeit aus, wie der Sozialwissenschaftler und Publizist Wolfgang Engler vor wenigen Jahren in seinem „Gedankenexperiment“ anmerkte. Zwar kann man, heißt es dort, im Idealfall gerade noch

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Vorwort

konzedieren, dass der produktive Apparat im Dienste der Menschheit „ohne Handlanger“ und „ohne nennenswertes Überwachungspersonal“ auskäme. Aber: „Dann müßte er noch immer mit Rohstoffen beliefert, mit Energie versorgt, gewartet, in Teilen oder ganzen Modulen periodisch erneuert werden. Das Endprodukt müßte die Verbraucher erreichen, die ihrerseits nicht nur essen und sich kleiden, sondern auch wohnen und sich fortbewegen wollen; all das schließt Arbeit ein“. Einen weiteren, nicht weniger fundamentalen Einwand gegen die Verwirklichung des Märchens vom Schlaraffenland artikuliert Hannah Arendt in ihrem Buch über die Vita Activa: „[D]ie überschüssige Zeit des Animal laborans wird niemals für etwas anderes verbraucht als Konsumieren, und je mehr Zeit ihm gelassen wird, desto begehrlicher und bedrohlicher werden seine Wünsche und sein Appetit“. Mit anderen Worten: In einer Welt der Muße wäre die Unterhaltungsindustrie ein gigantischer Wachstumszweig, d. h. Arbeitsplatzanbieter. Wenn aber selbst der kollektive Freizeitpark nicht ohne Dienstboten auskommt, dann bedeutet das nichts anderes als die bittere Einsicht, dass das Ideal einer völligen Arbeitslosigkeit wohl genauso unrealisierbar ist wie ihr Gegenstück, die Chimäre der Vollbeschäftigung. Heißt das, dass wir deshalb gänzlich auf die Utopie, verstanden als einen Nicht-Ort jenseits der Arbeit, verzichten müssen? „Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick, denn sie läßt die eine Küste aus, wo die Menschheit ewig landen wird“. Vielleicht lässt sich, im Anschluss an diesen zweiten kategorischen Leitsatz Oscar Wildes, als neuer utopischer Hafen eine Arbeitswelt entwerfen, in der die Verkürzung des Arbeitstages die Grundbedingung und die Verteilung von ungeliebten Tätigkeiten libertärer organisiert ist. Auch hier gibt es freilich antagonistische Kräfte, die der amerikanische Soziologe Thorstein Veblen in der finanziell unabhängigen Leisure Class gesehen hat, die am Erhalt der traditionellen Arbeitsorganisation interessiert ist, von deren Ausbeutungsmechanismen sie schließlich profitiert, während sein französischer Kollege André Gorz im Gegensatz dazu als Hemmschuh den Strukturkonservatismus der Arbeitsplatzbesitzer benannte, die sich oft aus Angst vor Statusverlust alternativen Modellen der Arbeitsteilung verweigern. Dennoch skizzieren nicht wenige Autoren der letzten Jahrzehnte, oft aufgrund ganz unterschiedlicher Prämissen, die konkrete Utopie einer Neuen Welt der Arbeit, die sich jenseits von Staat und Markt realisiert. Jeremy Rifkin nennt diesen, oftmals an den archaischen Ritualen des Gabentauschs ausgerichteten Bereich den „Dritten Sektor“, Ralf Dahrendorf sieht in der Schwarzarbeit ein „Signal für eine bessere Zukunft“ und Jürgen Habermas weist ausführlich auf das Potenzial kommunikativer Arbeitsformen jenseits althergebrachter Beschäftigungsverhältnisse hin. Unter diesen erweiterten,

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alternativen Arbeitsbegriff fallen für Habermas unter anderem „die zeitaufwendigen, sehr intensiven Willensbildungsprozesse, die in Wohngemeinschaften, in der Nachbarschaft, in den Kommunen nötig wären, um z. B. das  Zusammenleben der verschiedenen Generationen auf eine Weise zu ordnen, die die negativen Auswirkungen der Struktur von Kleinfamilien, auf deren Vorzüge wir nicht verzichten möchten, ausgleichen könnte – im Hinblick auf die Alten, die Kinder, die Behinderten und Gebrechlichen, die Vereinsamten usw.“ Auch das Internet bietet in dieser Hinsicht gleichsam utopische Nischen für freie Formen der Tätigkeit, für Autonomie in der Fremdbestimmung. Im letzten Text dieses Bandes erwähnen Raul Zelik und Elmar Altvater in diesem Zusammenhang die Open Source-Bewegung, die den Quelltext von Computerprogrammen, aber auch ganz allgemeine Inhalte, also jedwede Form von Information oder Wissen über das Netz frei zugänglich macht und damit das Privateigentum an geistigen Produktionsmitteln de facto aufhebt. In virtuellen Arbeitsgemeinschaften wie den kostenlosen online-Enzyklopädien, deren Beiträger kooperativ, unentgeltlich und ohne Aussicht auf öffentliche Anerkennung ihre Kenntnisse zur Verfügung stellen, verwirklicht sich mithin weltweit und ganz konkret eine fast schon anarcho-kommunistische Assoziation gleichberechtigter Kräfte, die in vielen schwärmerischen Entwürfen aus früheren Zeiten noch recht verschwommen an die Wand gemalt wurde. Man sieht: „Das Neue kommt unerwartet und vielleicht auch überraschend unspektakulär daher“. Rainer Barbey, im Juli 2010

Vorwort zur zweiten Auflage Angesichts von Prognosen, die für die nächsten Jahre einen digitalisierungsbedingten Verlust von Millionen Stellen vorhersagen, und der weiterhin rasanten Transformation unserer Arbeitswelt hat die Frage nach einem Recht auf Arbeitslosigkeit auch eine Dekade nach dem Erscheinen der ersten Auflage nichts an Aktualität eingebüßt. Zum einen wurde die vorliegende Neuedition um einige wichtige ältere Texte ergänzt und damit der Kompendiumscharakter der Textsammlung gestärkt: Den Beginn markiert nun ein Kapitel aus Johann Gottlieb Fichtes Der geschlossene Handelsstaat, der 1800, also genau an der Schwelle zum Jahrhundert der Industrialisierung erschien. Vor dem Hintergrund der merkantilistisch grundierten, auf einen autarken Ständestaat abzielenden Vorstellungen, die er in seiner Abhandlung entwickelt, erweist sich Fichte zwar als Anhänger einer rigiden Arbeitsteilung, er formuliert aber im Zusammenhang seines Verständnisses vom Wohlstand der Nation bereits eine Reihe recht progressiv anmutender Imperative. Der Nationalreichtum besteht für ihn darin, sich mit möglichst leichter Arbeit „die menschlichsten Genüsse“ zu verschaffen, und die dabei hergestellten Annehmlichkeiten und Glücksgüter haben zudem allen gleichermaßen zugute zu kommen. Der Mensch steht für Fichte unter der ethischen Verpflichtung zu arbeiten, doch soll er dies „angstlos, mit Lust und mit Freudigkeit“ tun können und dabei noch genügend Zeit zu Kontemplation und intellektueller Reflektion zur Verfügung haben – in den Worten des idealistischen Philosophen: „seinen Geist, und sein Auge zum Himmel zu erheben, zu dessen Anblick er gebildet ist“. Aus der Sicht Sören Kierkegaards hingegen gehört vor allem die „Bestimmung sich zu unterhalten“ und damit der Langeweile zu entfliehen zum Telos des menschlichen Daseins. In der Perspektive seines „Versuchs einer sozialen Klugheitslehre“ aus Kierkegaards Hauptwerk Entweder/Oder (1843) ist es gerade die „unermüdliche Tätigkeit, die einen Menschen aus der Welt des Geistes ausschließt und ihn in eine Klasse mit den Tieren setzt, welche instinktmäßig jederzeit in Bewegung seien müssen“. Unabhängig von der bemerkenswerten Unkenntnis, die diese Äußerung über weite Teile der Tierwelt (und keineswegs nur das sprichwörtliche Faultier) verrät: Kierkegaards Verständnis von Müßiggang, den er nicht als moralisch verwerflichen Ursprung aller Laster, sondern als göttliche Eigenschaft begreift, stellt eine paradigmatische Umwertung dar, die in der Diskussion um eine Emanzipation vom Arbeitszwang immer wieder vorgenommen wurde. Sehr prägnant wird dieser Topos beispielsweise von Kasimir Malewitsch in seinem Essay mit dem sprechenden Titel Die Faulheit als eigentliche Wahrheit der Menschheit zum Ausdruck gebracht. Nach

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vollbrachter Schöpfung von Erde und Weltall, dem Produkt von sechs Tagen Arbeit, „schafft Gott nichts mehr, er ruht sich auf seinem Thron der Faulheit aus und schaut seine Weisheit an“, und in den Augen Malewitschs strebt der Mensch nur danach, sich diesem Bild göttlicher Vollkommenheit so weit wie möglich anzunähern: Alle Anstrengung im Arbeitsprozess dient allein dem Zweck, irgendwann einen Zustand ewigen Nichtstuns zu erreichen. Dass dieser schwärmerisch-utopistische Text von 1921 in der vorliegenden Neuauflage direkt nach Lenins berühmt-berüchtigter Zitation der paulinischen Wendung „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“ (für Malewitsch „das grausamste aller Gesetze“) in einer Denkschrift kurz nach der Oktoberrevolution zu stehen gekommen ist, verdeutlicht den mentalitätsgeschichtlichen Graben, der am Ende des Tages die sowjetische Künstler-Avantgarde vom Autoritarismus der Bolschewiki getrennt hat. Der „Behauptung böswilliger Gegner, die Sozialisten wollten nicht arbeiten, wollten womöglich die Arbeit abschaffen“, war in der Geschichte der Arbeiterbewegung zuvor freilich schon einer der Gründerväter der deutschen Sozialdemokratie, August Bebel, in seinem vielfach aufgelegten und stetig erweiterten programmatischen Werk Die Frau und der Sozialismus (Urfassung von 1879) entschieden entgegengetreten. Die „gleiche Arbeitspflicht Aller ohne Unterschied des Geschlechts“ ist für Bebel nicht weniger als das „erste Grundgesetz der sozialisirten Gesellschaft“, allerdings schwebte ihm, im Unterschied zur rigiden Arbeitsorganisation, die Lenin später entwarf, eine strikt an den Bedürfnissen der Menschen orientierte, demokratisch gewählte Planungsbehörde ohne hierarchische Gliederung, ohne ökonomische oder politische Privilegien vor, die den Produktionsprozess nach emanzipatorischen Prinzipien regelt. Die Leitwissenschaft dieses Verwaltungsapparats ist die Statistik, betriebliche Mitbestimmung und Gleichberechtigung der Geschlechter sind seine obersten Grundsätze. Ziel ist eine „auf voller Freiheit und demokratischer Gleichheit organisirte Arbeit, wo Einer für Alle, Alle für Einen stehen“. Die Riege der in diesem Buch versammelten Arbeitsenthusiasten im 19. Jahrhundert bereichert schließlich die Rede an die Jugend (1893) von Emile Zola. Diesem ist Arbeit, ähnlich wie Thomas Carlyle, „das einzige Gesetz der Welt“, ein die Ansprüche des Individuums übersteigendes, beinahe kosmisches Prinzip, alleiniger Daseinszweck und sinnstiftende Instanz für den Menschen. Es gibt „keinen anderen Existenzgrund, wir alle entstehen nur dazu, um unseren Anteil an der Arbeit zu verrichten und dann zu verschwinden“. Egal ist in dieser säkularisierten Arbeitsreligion, was getan wird, da rastlose Tätigkeit nicht nur ein Wert an sich ist, sie schützt darüber hinaus vor unnützen, ungesunden Träumereien und quälenden metaphysischen Spekulationen, sie ist letztlich moralischer Selbstzweck, denn: „Ein Mensch, der arbeitet, ist

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immer gut.“ Zolas Überhöhung der Arbeit zur wichtigsten lebensweltlichen Richtschnur für die kommenden Generationen mutet heute angesichts hoher Jugendarbeitslosigkeit in vielen Ländern anachronistisch und sein blinder Aktionismus vor dem Hintergrund der folgenden Menschheitskatastrophen im 20. Jahrhundert (auch bei ihm fällt die verhängnisvolle Formulierung von der „Arbeit, die frei macht“) geradezu gefährlich an – dennoch ist die Rede an die Jugend ein einzigartiges Zeugnis für die technokratischen Fortschrittsutopien, die durch die rasante industrielle Entwicklung in ihrer Zeit inauguriert wurden. Ziel der Neuauflage war es außerdem, die Anthologie durch neuere Texte näher an die Diskussionen der Gegenwart heranzuführen. Den jüngsten Beitrag der Sammlung stellt nun David Graebers Aufsatz Über das Phänomen der Bullshit-Jobs von 2013 dar. Der britische Anthropologe legt sich darin die Frage vor, warum sich die Prognose von John Maynard Keynes, zur Jahrtausendwende ließe sich ein Arbeitstag von 3 bis 4 Stunden realisieren, trotz der technischen Möglichkeiten unserer Tage bislang nicht erfüllt hat. „Es ist, als würde sich jemand irgendwelche sinnlosen Tätigkeiten ausdenken, nur damit wir alle ständig arbeiten“. Die Antwort fügt sich in die anarchistischen Denktraditionen, denen Graeber verbunden war: Sie liegt in einem stetig wachsenden Verwaltungssektor begründet, einem parasitären Apparat im Unternehmensmanagament und in den staatlichen Administrationen, deren Mitglieder zwar gut bezahlt, aber mit zeitlich und inhaltlich wenig erfüllenden Berufen betraut sind – „Bullshit Jobs“ eben. Gleichzeitig ist diese Bürokratie bestrebt, ihre jeweiligen Belegschaften nach den Prinzipien kapitalistischer Effizienz zu rationalisieren, d. h. möglichst viel Arbeit von möglichst wenig Menschen in möglichst kurzer Zeit erledigen zu lassen. So entsteht eine dreigeteilte Arbeitswelt: „Echte produktive Arbeiter werden erbarmungslos unter Druck gesetzt und ausgebeutet. Der Rest gliedert sich in die terrorisierte Schicht der allgemein geschmähten Arbeitslosen und eine größere Schicht derer, die im Wesentlichen fürs Nichtstun bezahlt werden“. Dass sich vor dem Hintergrund einer anarchistischen Anthropologie die Forderung nach selbstbestimmtem Arbeiten beinahe von selbst ergibt, belegt auch ein Fernsehinterview mit Noam Chomsky aus dem Jahre 1976. Chomsky geht davon aus, dass jedem Menschen das Bedürfnis nach freier, kreativer Tätigkeit innewohnt. Die Arbeits-Organisationsform, die diesem Bedürfnis am ehesten gerecht wird, ist für ihn ein anarchosyndikalistisches Rätesystem, das, beginnend auf kommunaler Ebene und verwurzelt in ihr, die gesellschaftlich erforderlichen Arbeiten nach den Wünschen, den Fähigkeiten jedes Einzelnen gerecht verteilt und dem von Bebel knapp hundert Jahre zuvor skizzierten Verwaltungswesen gar nicht einmal so unähnlich ist. Bei dem im Zuge dieser

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Verteilungsfragen immer wieder aufgeworfenen Hauptproblem – wer übernimmt die ungeliebten Aufgaben? – räumt Chomsky mit der weit verbreiteten Vorstellung auf, dass sogenannte niedere, geistig scheinbar anspruchslose Arbeiten notwendigerweise wenig erfüllend seien: „Ich muss gestehen, ich habe schon einige sehr fröhlich dreinschauende Eisverkäufer gesehen […], denen vielleicht zufälligerweise der Gedanke gefällt, dass sie Kindern zu einem Eis verhelfen, was mir verglichen mit tausenden anderer Berufe, die mir in den Sinn kommen, eine absolut sinnvolle Art und Weise zu sein scheint, seine Zeit zu verbringen“. Wir müssen uns den Eisverkäufer also als glücklichen Menschen vorstellen! Mit dem unvermuteten Glück einer weiteren äußerst gering eingestuften sozialen Statusgruppe setzt sich ein letzter Neuzugang in der hier vorliegenden Textsammlung auseinander, nämlich Ulrich Becks 2000 erschienene Reflexionen über das Manifest der Glücklichen Arbeitslosen, einer Berliner Initiative, die vor dem Hintergrund der ab den späten neunziger Jahren beständig zunehmenden Stigmatisierung von Erwerbslosen provozierend die positiven Seiten ihrer Existenz betonte. „Immerhin verfügen alle Arbeitslosen über eine preiswerte Sache: Zeit. Das könnte ein historisches Glück sein, die Möglichkeit, ein vernünftiges, fried- und freudvolles Leben zu führen: man kann unser Ziel als eine Zurückeroberung der Zeit kennzeichnen. Dabei ist der Glückliche Arbeitslose ein aktiver Mensch. Gerade deswegen hat er keine Zeit zu arbeiten“. Beck setzt das Manifest einerseits ideengeschichtlich in Bezug zu Marxens Konzept der entfremdeten Arbeit, andererseits stellt er es in den zeitgenössischen Kontext einer sich im Zuge der Prekarisierung des Arbeitsmarkts allmählich herausbildenden „neofeudalen Dienstbotengesellschaft“ mit schlecht entlohnten, fremdbestimmten Service-Tätigkeiten. Gleichzeitig weist der Soziologe aber auch auf einen Tatbestand hin, der aus gutem Grund in der Debatte zumeist ausgespart wird – „daß nicht Arbeitslosigkeit, sondern Geldlosigkeit das eigentliche Problem ist. Da dies aber nicht offen ausgesprochen werden darf, sind alle dazu gezwungen, einen Heißhunger auf oft sinnlose Arbeit zu bekunden, um das eigentlich drohende Schicksal der Geldlosigkeit abzuwenden“. Das Einzige, was den Arbeitslosen mithin vom vermögenden Rentier unterscheidet ist also – die Höhe des leistungslos bezogenen Einkommens. Die Fragen, die sich hier auftun, rühren an den Kern des Selbstverständnisses unserer kapitalistischen Wettbewerbs- und Leistungsideologie. Wann wird Faulheit sanktioniert und wann nicht? Bedenkt man weiterhin, dass in der Gruppe der abhängig Beschäftigten, wie nicht nur David Graeber hervorhebt, häufig ein indirekt proportionales Verhältnis existiert zwischen dem Gehalt und der gesellschaftlichen Relevanz der jeweiligen Erwerbsarbeit, dass

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im Extremfall bestimmte Berufsgruppen fürs Nichtstun bezahlt werden und wichtige Lehr-, Pflege- und sonstige Reproduktionsarbeit gar nicht, so kommt man unweigerlich zu dem Schluss, dass wir nach wie vor nicht am Ende, sondern erst am Beginn der Diskussionen um eine gerechte Zukunft unserer (Nicht-)Arbeitsgesellschaft stehen. Es bleibt weiter spannend! Rainer Barbey, im Oktober 2021

Kriterien der Textauswahl Der vorliegende Sammelband möchte keinen aktuellen Querschnitt etwa der Grundeinkommen-Debatte oder eine synchrone Darstellung zum vielbeschworenen Ende der Arbeitsgesellschaft liefern, sondern, etwas weiter gefasst, einen diachron geschichtlichen Überblick über maßgebliche Antworten zu folgenden Fragen bieten: „Wie verhalten sich Arbeit und Muße zueinander?“, „Ist eine völlige Emanzipation vom Arbeitszwang möglich?“, „Gibt es ein Recht auf Arbeit bzw. Arbeitslosigkeit?“ Die Kriterien der Textauswahl waren dabei die folgenden: 1. Grundsätzlich wurden nur diskursive (also keine fiktionalen) Texte aufgenommen. 2. Es wurden nur Texte berücksichtigt, die nach 1800, also dem Einsetzen der Industrialisierung entstanden sind. 3. Um der vielschichtigen Thematik in allen Facetten gerecht zu werden, wurde versucht, Arbeiten von Autoren aus den verschiedensten weltanschaulichen Richtungen und mit möglichst unterschiedlichen Positionen unter einen Hut zu bringen. Auf diese Weise sollen Redundanzen vermieden werden, die freilich nicht völlig ausgeschlossen sind. Im günstigsten Fall allerdings kommentieren sich die versammelten Texte wechselseitig, widersprechen einander und treten so in einen abwechslungsreichen Dialog. Das Fragezeichen im Titel des Buches ist also sehr bewusst gesetzt: Konträre Thesen sollen gegeneinandergestellt werden, Lenins, der Bibel entnommener Imperativ „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“ steht neben Paul Lafargues Recht auf Faulheit, Bertrand Russells Lob des Müßiggangs neben Ernst Jüngers Identifikation von Freiheits- und Arbeitsanspruch, Thomas Carlyles puritanischer Hymnus auf das Arbeitsprinzip neben der Antiquiertheit der Arbeit von Günter Anders usw. 4. Generell wurde auf eine gewisse „Prominenz“ der Verfasser Wert gelegt; repräsentativen Autoren wurde der Vorzug vor avancierten Positionen fachlicher Einzeldisziplinen gegeben. Der Herausgeber dankt Walter Fähnders für wissenschaftliche Beratung, dem FritzHüser-Institut für die finanzielle Förderung dieser Publikation sowie Maximilian Lauth und Lara Pfeilschifter für technische Unterstützung.

Über die vorausgesetzte Vertheilung der Arbeitszweige im Vernunftstaate (1800) Johann Gottlieb Fichte Ein und der andere Leser dürften glauben, daß unsre Theorie durch ihre Vordersätze erschlichen sey, indem das Eigenthum nicht, wie gewöhnlich, in den ausschließenden Besitz eines Objekts, sondern in das ausschließende Recht zu einer freien Handlung gesezt, und die für das menschliche Leben nöthige freie Handlungen ganz willkührlich unter mehrere Stände vertheilt würden. Das leztere, diese Vertheilung, sey etwas zufälliges, einem Staate als solchem durchaus unwesentliches. Es könne Staaten geben, in denen jeder Einwohner sein Stück Acker habe, und seine Nahrung darauf selbst erbaue, einige Stück Zuchtvieh halte, seine Holzschuh sich selbst schnitze, die Leinwand zu seinem Rocke aus selbst erbautem Hanfe in den Wintertagen selbst webe, u.  s.  w. Ein solcher Staat habe keinen besondern Stand der Künstler, kein Gleichgewicht zwischen diesen und den Producenten, keinen Handel, noch Kaufleute; es passe auf denselben kein einiger Zug meiner Theorie; und doch werde ich demselben aus dieser Ursache den Namen eines rechtlichen Staates nimmermehr absprechen wollen. Die Verordnungen über Handel und Gewerbe seyen sonach lediglich Sache des Vortheils, der Klugheit, und in so fern ganz willkührlich, keinesweges ein Gegenstand des strengen Rechts. Ich bemerke darauf zuförderst, daß selbst in einem solchen Staate das Eigenthumsrecht nicht unmittelbar auf den Acker, sondern auf das ausschließende Recht geht, den Acker nach Willkühr zu brauchen […]. Ich bemerke ferner, daß eine Nation in dem beschriebenen Zustande eine armselige, noch zur Hälfte in der Barbarei zurückgebliebne Nation ist; daß, wenn dieselbe aus ihrer eignen Mitte regiert wird, und ihre Regenten keine andere Bildung haben, als die unter ihr zu erlangende, an eine weise Gesezgebung und Staatseinrichtung bei derselben kaum zu gedenken ist: und nur in dieser Rücksicht, daß keiner über die Grenze seines Wissens eben so wenig wie über die seines Könnens hinaus, verbunden werden kann, würde ich eine Staatsverwaltung, die unter diesen Umständen in ihrer Gesezgebung auf einen solchen Zustand der Dinge, und auf das Beharren in einem solchen Zustande der Dinge rechnete, mit der Benennung einer rechtswidrigen verschonen. Aber daß eine Regierung, die das bessere kennte, oder zu kennen vermöchte, denselben

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Johann Gottlieb Fichte

Zweck sich setzte, und dieselbe Rechnung machte; daß diese nichts thäte, um aus diesem Zustande herauszugehen, und die Nation aus demselben herauszureißen, könnte ich nicht anders als rechtswidrig nennen. Es ist nicht ein bloßer frommer Wunsch für die Menschheit, sondern es ist die unerläßliche Foderung ihres Rechts, und ihrer Bestimmung, daß sie so leicht, so frei, so gebietend über die Natur, so ächt menschlich auf der Erde lebe, als es die Natur nur irgend verstattet. Der Mensch soll arbeiten; aber nicht wie ein Lastthier, das unter seiner Bürde in den Schlaf sinkt, und nach der nothdürftigsten Erholung der erschöpften Kraft zum Tragen derselben Bürde wieder aufgestört wird. Er soll angstlos, mit Lust und mit Freudigkeit arbeiten, und Zeit übrig behalten, seinen Geist, und sein Auge zum Himmel zu erheben, zu dessen Anblick er gebildet ist. Er soll nicht gerade mit seinem Lastthier essen; sondern seine Speise soll von desselben Futter, seine Wohnung von desselben Stalle sich eben so unterscheiden, wie sein Körperbau von jenes Körperbaue unterschieden ist. Dies ist sein Recht, darum weil er nun einmal ein Mensch ist. Man hat viel und häufig von Nationalreichthum, Nationalwohlstand, u. dergl. geredet. Ich werde nöthig haben, die mehresten Bedeutungen, die dieses Wort haben kann, in dieser Schrift anzugeben. Die, auf welche wir hier stoßen, ist folgende: der innere wesentliche Wohlstand besteht darin, daß man mit mindest schwerer, und anhaltender Arbeit sich die menschlichsten Genüsse verschaffen könne. Dies soll nun seyn ein Wohlstand der Nation; nicht einiger Individuen, deren höchster Wohlstand oft das auffallendste Zeichen, und der wahre Grund ist von dem höchsten Übelbefinden der Nation; er soll so ziemlich über Alle in demselben Grade sich verbreiten. Wenn nicht entweder die Kräfte unsrer eignen Natur sich ins ungeheure vermehren, oder wenn nicht die Natur ausser uns sich ohne unser Zuthun durch ein plözliches Wunder umwandelt, und ihre eignen bisher bekannten Gesetze vernichtet, so haben wir jenen Wohlstand nicht von ihr, wir haben ihn lediglich von uns selbst zu erwarten; wir müssen uns ihn durch Arbeit erwerben. Dazu giebt es nun kein anderes Mittel, als Kunst, und Kunstfertigkeit, vermittelst welcher die kleinste Kraft, durch zweckmäßige Anwendung, einer tausendfachen Kraft gleich werde. Kunst aber, und Kunstfertigkeit entsteht durch fortgesetzte Übung; entsteht dadurch, daß jeder sein ganzes Leben einem einzigen Geschäft widme, und alle seine Kraft und sein Nachdenken auf dieses Eine Geschäft richte. Die zum menschlichen Leben nöthigen Arbeitszweige müssen sonach vertheilt werden. Nur unter dieser Bedingung wirkt die Kraft mit dem höchsten Vortheil.

Die Art der Arbeit (1821) Georg Wilhelm Friedrich Hegel Die Vermittlung, den partikularisierten Bedürfnissen angemessene, ebenso partikularisierte Mittel zu bereiten und zu erwerben, ist die Arbeit, welche das von der Natur unmittelbar gelieferte Material für diese vielfachen Zwecke durch die mannigfaltigsten Prozesse spezifiziert. Diese Formierung gibt nun dem Mittel den Wert und seine Zweckmäßigkeit, so daß der Mensch in seiner Konsumtion sich vornehmlich zu menschlichen Produktionen verhält und solche Bemühungen es sind, die er verbraucht. Zusatz. Das unmittelbare Material, das nicht verarbeitet zu werden braucht, ist nur gering: selbst die Luft hat man sich zu erwerben, indem man sie warm zu machen hat; nur etwa das Wasser kann man so trinken, wie man es vorfindet. Menschenschweiß und Menschenarbeit erwirbt dem Menschen die Mittel des Bedürfnisses.

*** An der Mannigfaltigkeit der interessierenden Bestimmungen und Gegenstände entwickelt sich die theoretische Bildung, nicht nur eine Mannigfaltigkeit von Vorstellungen und Kenntnissen, sondern auch eine Beweglichkeit und Schnelligkeit des Vorstellens und des Übergehens von einer Vorstellung zur andern, das Fassen verwickelter und allgemeiner Beziehungen usf. – die Bildung des Verstandes überhaupt, damit auch der Sprache. – Die praktische Bildung durch die Arbeit besteht in dem sich erzeugenden Bedürfnis und der Gewohnheit der Beschäftigung überhaupt, dann der Beschränkung seines Tuns, teils nach der Natur des Materials, teils aber vornehmlich nach der Willkür anderer, und einer durch diese Zucht sich erwerbenden Gewohnheit objektiver Tätigkeit und allgemeingültiger Geschicklichkeiten. Zusatz. Der Barbar ist faul und unterscheidet sich vom Gebildeten dadurch, daß er in der Stumpfheit vor sich hin brütet, denn die praktische Bildung besteht eben in der Gewohnheit und in dem Bedürfen der Beschäftigung. Der Ungeschickte bringt immer etwas anderes heraus, als er will, weil er nicht Herr über sein eigenes Tun ist, während der Arbeiter geschickt genannt werden kann, der die Sache hervorbringt, wie sie sein soll, und der keine Sprödigkeit in seinem subjektiven Tun gegen den Zweck findet.

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Georg Wilhelm Friedrich Hegel

*** Das Allgemeine und Objektive in der Arbeit liegt aber in der Abstraktion, welche die Spezifizierung der Mittel und Bedürfnisse bewirkt, damit ebenso die Produktion spezifiziert und die Teilung der Arbeiten hervorbringt. Das Arbeiten des Einzelnen wird durch die Teilung einfacher und hierdurch die Geschicklichkeit in seiner abstrakten Arbeit sowie die Menge seiner Produktionen größer. Zugleich vervollständigt diese Abstraktion der Geschicklichkeit und des Mittels die Abhängigkeit und die Wechselbeziehung der Menschen für die Befriedigung der übrigen Bedürfnisse zur gänzlichen Notwendigkeit. Die Abstraktion des Produzierens macht das Arbeiten ferner immer mehr mechanisch und damit am Ende fähig, daß der Mensch davon wegtreten und an seine Stelle die Maschine eintreten lassen kann.

Neue Welt der Arbeit (1829) Charles Fourier Der Titel Neue Welt der Arbeit schien mir am treffendsten zur Bezeichnung der schönen sozialistischen Ordnung, die unter anderem auch die Produktionstätigkeit anziehend machen wird. Dort wird man unsere Müßiggänger und sogar die Zierpuppen winters wie sommers von 4 Uhr früh an auf den Beinen finden, um sich eifrig nützlicher Arbeit zu widmen, nämlich der Sorge für Garten und Hof und den Verrichtungen in Haushalt, Fabrik und anderswo, die im Zivilisationssystem der ganzen reichen Klasse Abscheu einflößen. Alle diese Arbeiten werden mit Hilfe einer gänzlich neuen Einteilung anziehend, die ich Leidenscbaftsserien oder Serien kontrastierender Gruppen nennen möchte. Es ist dasjenige System, dessen alle Leidenschaften bedürfen; es ist die einzige Ordnung, die dem Gebot der Natur entspricht. Nie wird sich der Wilde mit produktiver Tätigkeit befassen, solange sie nicht in Leidenschaftsserien erfolgt. In dieser Ordnung wird der Aufrichtige und Redliche sein Glück machen. Die meisten Laster, die nach unseren Sitten schimpflich sind, wie Naschhaftigkeit, werden zum Mittel produktiven Wetteifers, so daß man dort Feinschmeckerei als Triebfeder zum Maßhalten fördert. Ein solches System ist dem der Zivilisation entgegengesetzt, wo nur Lug und Trug zu Vermögen verhelfen und wo Maßhalten nur durch Sittenstrenge erreicht wird. Dementsprechend nennen wir die Zivilisation mit ihrem verlogenen Treiben und ihrer abstoßenden Produktionsweise verkehrte Welt und den Sozialismus rechte Welt, da er sich auf Wahrhaftigkeit und eine anziehende Produktionsweise gründet. Vor allem für Wissenschaftler und Künstler wird die sozialistische Ordnung eine neue und eine rechte Welt sein. Sie erreichen dort unverzüglich das Ziel ihrer höchsten Wünsche, ein gewaltiges Vermögen, zwanzig- und hundertfach höher als das, was sie in der Zivilisation erhoffen können, die ihnen nur Dornenpfade bietet, sie allen möglichen Unannehmlichkeiten aussetzt und jedweder Abhängigkeit unterwirft. Wenn ich den anderen Klassen das vierfache Einkommen ankündige, werden sie mich zunächst der Übertreibung verdächtigen. Aber die sozialistische Theorie ist so leicht zu begreifen, daß jeder ihr Richter sein und ganz genau beurteilen kann, ob die hier unter der Bezeichnung Leidenschaftsserien beschriebene naturgemäße Methode wirklich ein viermal so großes

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Charles Fourier

Produkt zu liefern vermag wie unsere zersplitterte Produktionsweise, die in so viele Betriebe unterteilt ist, wie es Ehepaare gibt. Zu allen Zeiten stieß die Forschung über die Assoziation auf folgendes Vorurteil: „Unmöglich lassen sich drei oder vier Haushalte zu gemeinsamer Wirtschaftsführung vereinigen, ohne daß es schon in der ersten Woche namentlich unter den Frauen Zank gibt. Nahezu aussichtslos ist es, dreißig oder vierzig Familien zu vereinigen, ganz zu schweigen von drei-oder vierhundert.“ Das ist völlig falsch gedacht. Denn wenn Wirtschaftlichkeit und System in Gottes Willen liegen, konnte er nur auf die Assoziation der größtmöglichen Menge bedacht sein. Daher war der Mißerfolg bei kleinen Verbindungen von drei oder dreißig Familien ein Fingerzeig dafür, daß die Vereinigung bei einer großen Menge gelingen würde – ohne daß wir schon die Theorie der naturgemäßen Assoziation oder der von Gott gewollten Methode untersuchen wollen –, und entsprach dem Gebot der Anziehung, dem Dolmetscher Gottes für das sozialistische System. Gott lenkt die materielle Welt durch Anziehung; würde er zur Lenkung der sozialen Welt eine andere Triebkraft einsetzen, gäbe es in seinem System keine Einheit, sondern einen Dualismus der Wirkungen. […] Wenn die Armen, die Arbeiterklasse, im Sozialismus nicht glücklich sind, werden sie ihn durch Feindseligkeiten, Diebstahl und Aufruhr stören. Eine solche Ordnung hätte ihren eigentlichen Zweck verfehlt, die Sphäre der Leidenschaften ebenso wie das materielle Leben zu assoziieren und die Leidenschaften, Charaktere, Neigungen, natürlichen Triebe und sonstigen Ungleichheiten in Übereinstimmung zu bringen. Sichert man dagegen der armen Klasse, um sie zufriedenzustellen, ihr Auskommen, so wird sie der Vorschuß eines reichlichen Existenzminimums an Unterhalt, Kleidung usw. zum Faulenzen verleiten. Den Beweis dafür sieht man in England, wo die 200 Millionen jährlicher Unterstützung für die Armen nur die Zahl der Bettler vermehren. Das Heilmittel gegen Faulenzerei und andere Laster, die die Assoziation zerrütten könnten, liegt in der Erforschung und Entdeckung eines anziehenden Produktionssystems, das die Arbeit in ein Vergnügen verwandelt und die Ausdauer des Volkes bei der Arbeit und damit die Ableistung des vorgeschossenen Existenzminimums garantiert. […] Indessen wird jedermann gewahr, daß die soziale Welt ihr Ziel noch lange nicht erreicht hat und daß der Fortschritt der Produktion den Massen nur als Köder dient. In dem vielgerühmten England ist die halbe Bevölkerung gezwungen, sechzehn Stunden am Tage zu arbeiten, zum Teil noch dazu in stickigen Werkstätten, um sieben französische Sous zu verdienen, und das in

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einem Land, in dem der Unterhalt teurer ist als in Frankreich. Wie weise ist da doch die Natur, wenn sie dem Wilden tiefe Verachtung für die zivilisierte Produktionsweise eingibt, denn diese bringt den Produzenten nur Verderben und allein den Müßiggängern und einigen Leitern Vorteile. Wäre die Produktion bloß dazu bestimmt, solche skandalösen Ergebnisse hervorzurufen, so hätte Gott sie nicht geschaffen und den Menschen schon gar nicht einen derartigen Hunger nach Reichtum gegeben, den die zivilisierte und die barbarische Produktionsweise nicht stillen können; denn diese stürzen die ganze produktiv tätige Masse ins Elend, damit sich einige Bevorzugte bereichern, die sich noch arm dünken, wenn man ihnen glauben darf. Halten wir den Sophisten, die uns dieses gesellschaftliche Chaos als raschen Vormarsch zu wachsender Vervollkommnung rühmen, die vier Grundbedingungen sozialer Weisheit entgegen, von denen die zivilisierte Ordnung keine einzige erfüllen kann: – anziehende Produktionsweise, – proportionale Verteilung, – gleichbleibende Bevölkerungszahl, – wirtschaftliche Verwendung der Mittel. Das ist freilich etwas ganz Neues, und es ist notwendig, einiges zu wiederholen, damit sich der Leser von seinen zahllosen Vorurteilen befreien und einen festen Standpunkt gewinnen kann. Ich habe schon darauf aufmerksam gemacht, daß sich das Volk in der Zivilisation dem Müßiggang ergeben würde, wenn es über ein reichliches Existenzminimum, eine gesicherte Ernährung und einen anständigen Unterhalt verfügte, weil die zivilisierte Produktionsweise zu abstoßend ist. In der sozialistischen Ordnung muß deshalb die Arbeit so viel Reiz bieten wie heute unsere Festlichkeiten und Schauspiele. Dann garantiert die anziehende Produktionsweise beziehungsweise die Neigung des Volkes zu angenehmen und einträglichen Arbeiten die Ableistung des vorgeschossenen Existenzminimums. Diese Liebe zur Arbeit kann nur bei einer gerechten Verteilungsweise lebendig erhalten werden, die jedem einzelnen, ob Mann, Frau oder Kind, dreierlei Gewinnanteil entsprechend seinen drei produktiven Leistungen, Kapital, Arbeit und Talent, gewährt und ihn völlig zufriedenstellt.

Arbeit (1834) Friedrich List Im rohen Naturzustand erscheint dem Menschen überall die Arbeit als ein Übel. Daher die unterwürfige und dienende Stellung der Kinder und Frauen im wilden und patriarchalischen Zustande, daher die Sklaverei, die Rasseneintheilung und die Anmaßung von Vorrechten. Sklaverei und Rasseneintheilung, wie sehr sie auf der heutigen Stufe der Cultur der Ausbreitung und den Fortschritten der Civilisation im Wege stehen, scheinen doch eine nothwendige Schule gewesen zu sein, welche die rohe Menschheit zu durchlaufen hatte, um der Segnungen der freien und freiwilligen Arbeit theilhaftig zu werden. Durch sie wurde die Theilung der Arbeit befördert, wurde die erste Vervollkommnung der Maschinen und Verfahrungsweisen zu Stande gebracht, wurden die Menschen an körperliche Anstrengungen gewöhnt und für diejenige Periode vorbereitet, wo sie in der Arbeit die Mittel finden sollten, sich von der Gewalt ihrer Unterdrücker loszukaufen und für die Bewahrung ihrer Rechte Garantien zu erlangen. In den Bestrebungen des Menschen, die Last der Arbeit, jenen Fluch, der bei seiner Vertreibung aus dem Paradiese über ihn ausgesprochen worden ist, von sich selbst ab und auf andere zu wälzen, erkennen wir noch heute den Urgrund des Bestrebens nach Herrschaft und Vorrechten, den Urgrund der Kriege und Feindseligkeiten, welche unter den Nationen der Erde bestehen. Und wie wir die Arbeit als das einzig vernünftig-legitime wie das sicherste und nachhaltigste Mittel für Individuen und Nationen, zu Reichthum und Wohlstand zu gelangen, erkennen, so erscheinen uns alle gesellschaftlichen Zustände, die nicht auf dieser Basis ruhen, als solche, die sich mit der fortschreitenden Aufklärung und Verbesserung der menschlichen Institutionen ändern müssen. Nehmen wir z. B. den Krieg: was war er, seit man Geschichte kennt, mit nur geringer Ausnahme, anders als ein Mittel, die Heerführer zu bereichern, Muth und Talente geltend zu machen, ihre Macht auszudehnen? und wer anders hatte die Kosten zu bestreiten als die, welche im Schweiß ihres Angesichts das Korn gepflanzt, das Eisen aus den Eingeweiden der Erde hervorgeholt, das Kleid gesponnen und gewoben hatten? Aber nicht nur auf Kosten ihrer Früchte ward dieses im Müßiggang und im Zerstörungssinn wurzelnde Spiel getrieben, es verdarb selbst die Wurzeln der Arbeit, indem es die Ehre nahm, die ihr gebührte, die Gewohnheit zerstörte, ohne die es

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keinen Fleiß giebt, die Sicherheit des Eigenthums und den Verkehr zerrüttete, ohne welche der Fleiß nur wenig vermag. Erinnern wir uns, wie im Mittelalter einzelne Thäler, Gaue, Provinzen sich auf diese Weise wechselseitig aufrieben, und wie es in unserer Zeit schon dahin gekommen ist, daß ganze Staatenvereine das Rechtsgesetz anerkennen; ja, daß es ein Staatensystem giebt, das, rein aus der Arbeit hervorgegangen und seinem Entstehungsgrund gemäß aufgebaut, nach außen keinen andern Krieg kennt als den der Vertheidigung gegen ungerechte Angriffe, im Innern keine andern Kämpfe besteht als mit der rohen Natur, und unter sich von keiner andern Eifersucht weiß als von der, sich in den Institutionen der Civilisation den Rang abzulaufen, so ist wohl auch die Hoffnung keine Chimaire, daß das Princip der Arbeit einst die ganze Erde besiegen und beherrschen werde. Der vollkommenste Zustand des Menschengeschlechts, den sich in dieser Beziehung die Vernunft denken kann, ist wohl der, wenn es dahin gelangt, alle übermäßig anstrengenden Geschäfte durch Naturkräfte zu verrichten, wenn somit dem Menschen nur noch so viele körperliche Anstrengung übrig bleibt, als ihm zu seinem körperlichen Wohlbefinden erforderlich ist, und wenn jeder Mensch in die Lage gesetzt ist, sein Leben in einem Wechsel von geistigen und körperlichen Genüssen hinzubringen. Daß die Menschheit diesem Ziele entgegen strebe, ist nicht zu verkennen. Schon ersetzen die Maschinen und Erfindungen des civilisirten Europas die Sklavenarbeit des Alterthums und des heutigen Orients. Schon ist in den civilisirtesten Staaten der absolute Müßiggang am seltensten; schon führt hier die geistige Arbeit zu Ehren und Würden, die körperliche zu Achtung und Ansehen, und schon ist jeder im ungestörten freien Genuß ihrer Früchte und wird es um so mehr sein, je mehr die politischen Institutionen sich vervollkommnen, je weniger also die Arbeit in Anspruch genommen wird, ihre Früchte mit dem Müßiggang und der rohen Gewalt zu theilen. […] Die Arbeit ist productiv, entweder indem sie Tauschwerthe hervorbringt, oder indem sie die productiven Kräfte vermehrt. Wer Pferde großzieht, producirt Tauschwerthe; wer Kinder lehrt, producirt productive Kräfte. Die Arbeit des Letztern ist in Beziehung auf das Allgemeine nicht darum productiv, weil er unter der Benennung Schulgeld Werthe für seine Dienste empfängt, sondern weil er die künftige Generation durch seine Dienstleistung zur Production befähigt. Die materiellen Güter der Gesellschaft vermindern sich um die ganze Summe der Werthe, welche der Lehrer consumirt, sie werden ihr in Kräften ersetzt. Werthe und Kräfte aber sind so verschieden wie Geist und Körper, und indem man die Lehre von den einen mit der Lehre von den andern vermischt, indem man die Kräfte nach Werthen schätzt, kann man nur absurde Folgerungen gewinnen. So würde z. B. ein Mann, der nichts auf die

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Erziehung seiner Kinder verwendet und die Producte seiner Arbeit aufspart, als productiv erscheinen, während ein anderer, der alle Früchte seiner Arbeit auf die Erziehung seiner Kinder verwendet, als unproductiv erschiene; ein Sklavenhalter, der in den jungen Sklaven Werthe heranzieht, wäre productiver als derjenige, der dem Lande in seinen Kindern Producenten erzieht. Wie auf diese Weise die Gesellschaft durch Aufopferungen von Werthen Kräfte erlangt, so werden nicht selten die productiven Kräfte der Production von Werthen aufgeopfert. So können die Sklavenhalter nur durch Aufopferung eines großen Theils der Productivkräfte menschlicher Wesen sie zu einer Sache erniedrigen, die Tauschwerth hat; so giebt es eine Menge Arbeiten, wodurch Werthe dargestellt, aber Kräfte vernichtet werden; wir erinnern nur an die gebrannten Wasser, das Opium, an Waffen und Werkzeuge, die zum geistigen und körperlichen Mord mißbraucht werden u. s. w. Alle Arbeiten, welche darauf verwandt werden, den Rechtszustand und die Ordnung in der Gesellschaft zu erhalten, Laster und Verbrechen zu verhüten, Sittlichkeit zu befördern, körperliche Übel zu vermindern u. s. w., wie die Arbeiten der Rechtsgelehrten, der Administratoren, der Geistlichen und Ärzte, sind vorzüglich darum productiv, weil sie die productiven Kräfte der Gesellschaft erhalten und vermehren, nicht weil sie in Tauschwerthen belohnt werden. Die Arbeiten, welche auf die Ausübung der schönen Künste und Wissenschaften verwandt werden, gewähren dem Menschen Erholung, erheben sein Gemüth, bilden seinen Geist und verschönern das Leben, produciren daher Genüsse, welche auf dem höheren Standpuncte der Civilisation und des Wohlstandes nicht minder wünschenswerth sind als die materiellen, und befähigen und spornen überdies zu höherer geistiger und materieller Production. Die Arbeiten des Gesindes befähigen den Hausherrn zu Verrichtung wichtigerer Geschäfte, die Hausfrau zu Erziehung ihrer Kinder, und vermehren dadurch die productiven Kräfte der Gesellschaft. […] Unproductiv sind eigentlich nur die Müßiggänger, diejenigen, welche sich zum Nachtheil der Moralität, der Ordnung und des Wohlbefindens der Gesellschaft beschäftigen, und diejenigen, welche auf Kosten der Gesellschaft leben, ohne ihr dafür verhältnismäßige Dienste zu leisten. Ob Capitalisten und Rentirer und inwiefern sie productiv seien, wird von der Art und Weise, wie sie in den Besitz ihres Vermögens gekommen sind, und welchen Gebrauch sie von ihrem Einkommen und von ihrer Zeit machen, abhängen. Haben sie oder ihre Erblasser ihr Vermögen durch Industrie erworben, so wird schon ihre Ostentation als Sporn für alle industriellen Classen dienen, auf gleichem Wege zu gleichem Ziele zu gelangen. Wäre aber dagegen das Capital, von dem sie leben, auf widerrechtliche oder gar schädliche Weise erworben, so kann ihre

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Ostentation die industriellen Classen nur entmuthigen. In freien und wohl organisierten Ländern kann man nur durch die Achtung des Publikums glänzen oder ehrenvoll bestehen, daher hier die Rentirer sich durch Dienstleistungen, die sie dem Publicum erweisen, durch thätige Theilnahme an gemeinnützigen Anstalten, durch Beförderung der Wissenschaften und Künste, durch Unterstützung neuer Unternehmungen auszuzeichnen streben, und diejenigen Menschen, welche nur sich selbst und ihren Neigungen und Leidenschaften leben, sehr selten sind, weil man sie verachtet. In jener Stellung erscheinen die Rentirer und Capitalisten als sehr productiv, während sie in dieser unter die der Production nachtheiligen Classen zu rechnen sind.

Versuch einer sozialen Klugheitslehre (1843) Sören Kierkegaard Müßiggang, pflegt man zu sagen, ist aller Laster Anfang. Um das Laster nicht aufkommen zu lassen, empfiehlt man die Arbeit. Indes, sowohl aus dem gefürchteten Anlaß wie aus dem empfohlenen Mittel ersieht man leicht, daß die ganze Betrachtung recht plebejischer Herkunft ist. Müßiggang als solcher ist keinerwege aller Laster Anfang, er ist vielmehr ein wahrhaft göttliches Leben, wofern man sich nicht langweilt. Allerdings, Müßiggang kann der Anlaß werden, daß man sein Vermögen verliert usw.; eine adelige Natur fürchtet aber dergleichen nicht, wohl aber fürchtet sie die Langeweile. Die olympischen Götter langweilten sich nicht, sie lebten glücklich in glücklichem Müßiggang. Eine weibliche Schönheit, die weder näht noch spinnt, noch bügelt, noch liest, noch musiziert ist glücklich in Müßiggang; denn sie langweilt sich nicht. Müßiggang ist also so weit davon, aller Laster Anfang zu sein, daß er vielmehr gerade das wahre Gute ist. Aller Laster Anfang ist die Langeweile als die Wurzel alles Übels, sie ist es, die man sich vom Leibe halten muß. Müßiggang ist nichts Übles, ja man muß sagen: ein Mensch, der für diesen keinen Sinn hat, zeigt damit, daß er sich nicht zur Humanität erhoben hat. Es gibt eine unermüdliche Tätigkeit, die einen Menschen aus der Welt des Geistes ausschließt und ihn in eine Klasse mit den Tieren setzt, welche instinktmäßig jederzeit in Bewegung sein müssen. Es gibt Menschen, die eine außerordentliche Gabe besitzen, alles in geschäftliche Tätigkeit zu verwandeln, deren ganzes Leben geschäftliche Tätigkeit ist, die sich verlieben, sich verheiraten, einen Witz anhören, einen Kunstgegenstand bewundern mit dem gleichen geschäftlichen Eifer, mit dem sie ihre Arbeit im Kontor verrichten. Das lateinische Sprichwort otium est pulvinar diaboli (Muße ist des Teufels Kopfkissen) hat durchaus seine Richtigkeit; aber der Teufel findet nicht die Zeit, sein Haupt auf dies Kissen zu legen, wenn man sich nicht langweilt. Sintemal die Leute jedoch glauben, es sei des Menschen Bestimmung zu arbeiten, so ist die Entgegensetzung von Müßiggang und Arbeit richtig. Ich, ich nehme an: es ist des Menschen Bestimmung sich zu unterhalten; daher ist meine Entgegensetzung nicht minder richtig. Langeweile ist der dämonische Pantheismus. Bleibt man bei ihr als solcher stehn, so wird sie das Böse; sobald sie dagegen aufgehoben wird, ist sie wahr; sie wird aber allein dadurch aufgehoben, daß man sich unterhält – mithin, man muß sich unterhalten. Es verrät Unklarheit, wenn man sagt, sie werde aufgehoben

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Versuch einer sozialen Klugheitslehre

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durch Arbeiten; denn freilich kann Müßiggang durch Arbeit aufgehoben werden, da dies ihr Gegensatz ist, Langeweile aber kann es nicht, wie man ja auch daraus ersieht, daß die alleremsigsten Arbeiter, die in ihren emsigen Summen am meisten umherschwirrenden Insekten, die allerlangweiligsten sind; und wenn sie sich nicht langweilen, so kommt das daher, daß sie keine Vorstellung von dem haben, was Langeweile ist; so aber ist die Langeweile nicht aufgehoben.

Arbeiten und nicht verzweifeln (1843) Thomas Carlyle Es liegt ein dauernder Adel und selbst etwas Heiliges in der Arbeit. Wäre der Mensch auch noch so wenig seines hohen Berufes eingedenk, so berechtigt er doch immer noch zu Hoffnungen, solange er wirklich und ernstlich arbeitet – nur im Müßiggange liegt ewige Verzweiflung. Arbeit steht, sei sie auch noch so niedrig und mammonistisch, stets im Zusammenhang mit der Natur. Schon der Wunsch, Arbeit zu verrichten, leitet immer mehr und mehr zur Wahrheit und zu den Gesetzen und Vorschriften der Natur, welche Wahrheit sind. Das letzte Evangelium in dieser Welt ist: Kenne deine Arbeit und tue sie. „Kenne dich selbst“, – lange genug hat dieses Dein armes „Selbst“ Dich gequält, und du wirst, wie ich glaube, es niemals kennen lernen. Halte es nicht für deine Aufgabe, dich kennen zu lernen, denn du bist ein Individuum, welches du niemals kennen lernen wirst. Wisse vielmehr, woran du arbeiten kannst, und arbeite daran wie ein Herkules! Das ist jedenfalls ein besseres System. Es steht geschrieben: „Eine unendliche Bedeutung liegt in der Arbeit“, der Mensch vervollkommnet sich durch das Arbeiten. Wildes Röhricht und Unkraut wird hinweggeräumt, schöne Saatfelder steigen stattdessen empor und stattliche Städte, und dabei hört der Mensch selbst erst auf, ein Acker voll Unkraut oder eine unfruchtbare, ungesunde Wüste zu sein. Man bedenke, wie selbst bei den niedrigsten Gattungen der Arbeit die ganze Seele des Menschen von dem Augenblicke an, wo er sich an die Arbeit macht, in einen gewissen Grad von wirklicher Harmonie versetzt wird. Zweifel, Begierden, Kummer, Reue, Entrüstung, selbst Verzweiflung – alle diese umlagern wie Höllenhunde die Seele des armen Tagelöhners ebenso wie jedes anderen Menschen. Aber er widmet sich mit freier Tapferkeit seiner Aufgabe und alle verstummen und kriechen murrend in ihre Höhlen zurück. Der Mensch ist nun ein Mensch. Die heilige Glut der Arbeit gleicht einem läuternden Feuer, wo jedes Gift verbrannt wird, und wo selbst aus dem dichtesten Rauche eine helle, heilige Flamme emporsteigt! […] Arbeit ist Leben. Aus dem innersten Herzen des Arbeiters steigt seine gottgegebene Kraft, die heilige, himmlische Lebensessenz, die ihm durch den allmächtigen Gott eingehaucht worden. Aus seinem innersten Herzen erwacht er

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Arbeiten und nicht verzweifeln

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zu allem Edelsinn, – zu aller Kenntnis, „Selbstkenntnis“ und vielem anderen, sobald als die Arbeit richtig beginnt. […] Im Grunde genommen ist alle echte Arbeit Religion, und jede Religion, die nicht Arbeit ist, kann gehen und unter Brahminen, Antinomiern, tanzenden Derwischen, oder wo sie will, wohnen; bei mir findet sie keine Herberge. Bewunderungswürdig war jener Ausspruch der alten Mönche: Laborare est orare, Arbeiten heißt Beten. Älter als alle gepredigten Evangelien war dieses ungepredigte, unartikuliert, aber unausrottbare und ewig dauernde Evangelium: Arbeite und finde darin Dein Wohlergehen. Mensch, Sohn der Erde und des Himmels, liegt hier nicht in Deinem innersten Herzen ein Geist rühriger Methode, eine Kraft zur Arbeit, und brennt wie ein mühsam glimmendes Feuer und läßt dir keine Ruhe, bis Du es entfaltest und in wohltätigen Tatsachen um dich her niederschreibst! Was unmethodisch und wüste ist, wirst du methodisch und urbar, Dir gehorsam und fruchttragend machen. Überall, wo du Unordnung findest, da ist Dein ewiger Feind. Greif ihn rasch an und bezwinge ihn; mache Ordnung daraus, die nicht dem Chaos, sondern der Intelligenz, der Gottheit und Dir untertan ist! Die Distel, welche auf deinem Wege wächst, grabe aus, damit statt derselben ein Halm nützlichen Grases, ein Tropfen nährender Milch wachsen möge. Du siehst den seither unbenutzten Baumwollenstrauch; sammle seinen weißen Daun, spinne ihn und webe ihn, damit anstatt wertloser Streu nutzbare Gewebe daraus entstehen und die nackte Haut des Menschen damit bedeckt werde. […] Alle wahre Arbeit ist heilig; in jeder wahren Arbeit, wäre es auch nur wahre Handarbeit, liegt etwas Göttliches. Die Arbeit, so breit wie die Erde, hat ihren Gipfel im Himmel. Schweiß der Stirn und von diesem an bis zum Schweiß des Gehirns, bis zum Schweiß des Herzens, worin alle Berechnungen eines Kepler, alle Betrachtungen eines Newton, alle Wissenschaften, alle gedichteten Heldenlieder, alle vollführten Heldentaten, alle Märtyrerleiden eingeschlossen sind bis zu jenem „blutigen Schweiße der Todesangst“, den alle Menschen göttlich genannt haben! O Bruder, wenn dies nicht „Anbetung“ ist, dann ist die Anbetung zu beklagen, denn dies ist das Erhabenste, was bis jetzt unter Gottes Himmel entdeckt worden. Wer bist Du, daß Du Dich über Dein arbeit- und mühereiches Leben beklagst? Beklage dich nicht. Blicke auf, mein müder Bruder. Siehe dort in Gottes Ewigkeit Deine Mitarbeiter. Sie leben noch, sie allein leben noch, die heilige Schar der Unsterblichen, die himmlische Leibwache des Reiches der

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Thomas Carlyle

Menschheit. Selbst in dem schwachen menschlichen Gedächtnis leben sie so lange als Heilige, als Helden, als Götter. Sie allein überleben, sie allein bevölkern die unermeßlichen Einöden der Zeit! Der Himmel ist, obschon streng, doch nicht ungütig gegen Dich. Der Himmel ist gütig, wie eine edle Mutter, wie jene spartanische Mutter, die, während sie ihrem Sohn seinen Schild gab, sagte: „Mit ihm, mein Sohn, oder auf ihm!“ Auch du sollst in Ehren heimkehren; auch du wirst – bezweifle es nicht – mit Ehren in deiner fernen Heimat erscheinen, wenn Du in der Schlacht Deinen Schild bewahrst! Du bist in den Ewigkeiten und tiefsten Reichen des Todes nicht ein Fremdling, sondern überall ein Bürger! Beklage dich nicht; sogar die Spartaner beklagten sich nicht. Und wer bist Du, daß Du Dich Deines Lebens des Müßigganges rühmst und wohlgefällig Deine glänzenden, goldenen Equipagen mit ihren weichen Polstern zeigst, auf welche Du die Hände zum Schlaf faltest? Blicke auf, blicke nieder, um, hinter oder vor Dich, siehst du wohl irgend einen müßigen Helden, Heiligen, Gott oder auch Teufel? Nicht die Spur von einem. Im Himmel, auf der Erde, in den Wassern, unter der Erde ist niemand, der Dir gleicht. Du bist ein Unikum in dieser Schöpfung und gehörst nur diesem außerordentlichen Jahrhundert oder halben Jahrhundert an! Es gibt auf dieser Welt nur ein einziges Ungeheuer und dieses ist der Müßiggänger. Was ist seine „Religion“? Daß die Natur ein Phantasma ist, wo listige Bettelei oder Dieberei zuweilen gute Nahrung findet; daß Gott eine Lüge ist, und daß der Mensch und sein Leben eine Lüge sind. Ach wer von uns kann nur sagen, ich habe gearbeitet? Die Treuesten von uns sind unnütze Knechte, die Treuesten von uns wissen das am besten. Die Treuesten von uns können sagen: „Viel von meinem Leben ist vergeudet worden!“ Der aber, welcher, ausgenommen „bei öffentlichen Gelegenheiten“, weiter keine Funktion hat, als auf graziöse oder ungraziöse Weise müßig zu gehen und Söhne zu zeugen, die ebenfalls müßig gehen, was soll wohl der von sich sagen, wenn er der Wahrheit die Ehre geben will! Was den Lohn für die Arbeit betrifft, so ließen sich unzählige Dinge darüber sagen, und es wird und muß noch unendlich viel darüber gesprochen, ermittelt und geschrieben werden. „Ein redlicher Tageslohn für ein redliches Tageswerk“ ist die allerbilligste Forderung! Ein Geldlohn, „welcher ausreicht, um den Arbeiter am Leben zu erhalten, damit er weiter arbeite“, so viel ist, wenn man ihn nicht stracks aus dieser Welt verbannen will, für den edelsten Arbeiter ebenso unumgänglich notwendig, wie für den geringsten! […] Arbeit ist die Mission des Menschen auf dieser Erde. Es kämpft sich ein Tag herauf, es wird ein Tag kommen, an dem der, welcher keine Arbeit hat, es nicht für geraten halten wird, sich in unserm Bereich des Sonnensystems zu zeigen, sondern sich anderwärts umsehen mag, ob irgendwo ein fauler Planet sei.

Von der Arbeit und vom Genuß (1844) Moses Hess 1. Was heißt arbeiten? Ein jedes Umwandeln der Stoffe für das Leben der Menschheit heißt arbeiten oder wirken, schaffen, hervorbringen, erzeugen, produziren, handeln, thätig sein, kurz: leben; denn in Wahrheit arbeitet Alles, was da lebt, wie denn auch in Betreff des menschlichen Lebens nicht nur Kopf und Hände, sondern auch alle andern Glieder und Organe des menschlichen Körpers die Stoffe, welche sie von Außen empfangen, für das Menschenleben umwandeln, z. B. der Mund, indem er den empfangenen Stoff für den Magen, dieser wiederum, indem er das Empfangene für das Blut verarbeitet u. s. w., d. h. jedes Organ des menschlichen Körpers, wie jedes Glied der menschlichen Gesellschaft, produzirt für das Ganze oder arbeitet, schafft, indem es nur zu konsumiren, zu genießen scheint, und genießt wiederum sein eignes Leben, indem es nur für das Ganze zu arbeiten oder zu produziren scheint. Diese Harmonie von Arbeit und Genuß findet aber nur im organischen oder im organisirten Leben statt, nicht im unorganisirten, wie wir sogleich sehen werden. 2. Welche Arten von Arbeit gibt es? Organisirte und unorganisirte. Mit andern Worten: es gibt freie Thätigkeit und gezwungene Arbeit oder Zwangsarbeit. 3. Was ist freie Thätigkeit und was ist gezwungene Arbeit? Freie Thätigkeit ist Alles, was aus innerm Antriebe, Zwangsarbeit dagegen Alles, was aus äußerm Antriebe oder Noth geschieht. Erfolgt die Arbeit aus innerm Antriebe, so ist sie eine Lust, die den Lebensgenuß fördert, eine Tugend, die ihren Lohn in sich selbst trägt. Erfolgt sie dagegen aus äußerm Antriebe, so ist sie eine Last, welche die Menschennatur erniedrigt und erdrückt, ein Laster, welches nur um schnöden Sündenlohn ausgeübt wird, so ist sie Lohnund Sklavenarbeit. Der Mensch, welcher den Lohn für seine Arbeit außerhalb seiner selbst sucht, ist ein Sklave, der für fremde Zwecke thätig ist, eine leblose Maschine, welche getrieben wird. 4. Welche von beiden Arbeiten versteht man heutzutage unter Arbeit? Die gezwungene Arbeit. 5. Wie heißt gegenwärtig die freie Thätigkeit? Sie heißt entweder Genuß oder Tugend. 6. Was versteht man heutzutage unter Genuß?

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Moses Hess

Das Leben nach gewissen sinnlichen Neigungen, ohne Rücksicht auf die ganze Menschennatur. 7. Was versteht man heutzutage unter Tugend? Das Leben nach gewissen geistigen Neigungen, ohne Rücksicht auf die ganze Menschennatur. 8. Können wir heutzutage unserer ganzen Menschennatur gemäß thätig sein oder unser menschliches Leben wahrhaft genießen? In keiner Weise. – Fast jede Thätigkeit wird in unsrer Gesellschaft nicht aus dem innern Antriebe unsrer Menschennatur, nicht aus Lust und Liebe zur Arbeit, sondern aus einem äußern Antriebe, in der Regel aus Noth oder des Geldes wegen verrichtet. – Andrerseits sind jene Lebensthätigkeiten, welche wir aus innerm Antriebe verrichten, jene, die wir Genuß oder Tugend nennen, so beschaffen, daß sie dem wahren Lebensgenuß der Menschennatur noch mehr schaden, als dies durch die Zwangsarbeit geschieht. – Die Unmäßigkeit in der Befriedigung gewisser sinnlicher und geistiger Lebensthätigkeiten, diese Unmäßigkeit, welche nicht der Menschennatur entspricht und zu welcher der Mensch sich jetzt nur hingezogen fühlt, weil seine Natur nicht ganz entwickelt, sondern unterdrückt wird, sie verursacht, daß alle freie Lebensthätigkeit der jetzigen Menschen einen unmenschlichen oder thierischen Charakter annimmt. So wird das Trinken zum Saufen, der Gattungsakt oder die Geschlechtsliebe zur ausschweifenden Wollust, das Ausruhen von anstrengenden Arbeiten zur Trägheit, die Gelehrsamkeit zur Pedanterie, die Sehnsucht des Herzens nach höherem Leben zur Frömmelei, die Tugend zur Selbstpeinigung u. s. w. – Alle die sinnlichen sowohl wie die geistigen Neigungen arten nur deßhalb in Unmäßigkeit aus und werden zur Sucht, weil nicht die ganze menschliche Natur entwickelt, vielmehr unterdrückt und ausgeartet ist. – Die Sucht aber macht sich auf Kosten aller andern Neigungen der menschlichen Natur geltend und würdigt den Menschen zum Thier herab, das auch nur einseitige Triebe hat. 9. Ist es möglich, daß alle Menschen ihrer Natur gemäß leben und wirken? Es ist nicht nur möglich, sondern das Gegentheil wäre unmöglich, wenn die menschliche Natur in allen Menschen entwickelt und nicht durch die gesellschaftlichen Verhältnisse gewaltsam unterdrückt würde. 10. Welche Arten von Arbeit sind in einer Gesellschaft möglich, wo die menschliche Natur in allen Menschen entwickelt wird und wo jeder Mensch alle seine Fähigkeiten anwenden kann? In einer solchen Gesellschaft ist keine andere als die freie Thätigkeit möglich. 11. Welche Arten von Arbeit sind in einer Gesellschaft möglich, wo weder die Menschen vollständig entwickelt, noch auch die entwickelten menschlichen Kräfte angewendet werden können?

Von der Arbeit und vom Genuẞ

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In einer solchen Gesellschaft ist nichts Anderes, als Zwangsarbeit, Müßiggang, Genußsucht und falsche Tugend möglich. 12. Können in unsrer heutigen Gesellschaft alle menschlichen Kräfte entwickelt und die entwickelten Kräfte angewendet werden? In keiner Weise. Wir sind gehemmt sowohl in unsrer Entwickelung, wie in der Anwendung unsrer Fähigkeiten und Kräfte. Eine allgemeine Erziehung und Bildung, so wie der Austausch und Gebrauch unsrer Kräfte, ist in unsrer Gesellschaft unmöglich. Die meisten Kräfte des Menschen bleiben unentwickelt und die entwickelten werden in der Regel unterdrückt. Das Leben der Menschen in der heutigen Gesellschaft ist daher meistens in gezwungene Arbeit, Entsagung und Genußsucht getheilt. Hier schwelgt man, dort darbt man; bald drückt der Mangel, bald der Überfluß den Menschen zum Thier herab. 13. Warum ist in der heutigen Gesellschaft die Entwickelung und die An­ wendung unsrer menschlichen Kräfte unmöglich? Weil wir uns gegenseitig zu Sklaven machen, indem wir uns oder, was dasselbe ist, alle unsre menschlichen Kräfte kaufen und verkaufen.

Die Sphäre der Wohlfahrt (1862/63) Johann Gustav Droysen Die Arbeit ist ebenso etwas speziell Menschliches, wie Denken und Glauben. Das Tier strengt sich auch wohl an, um seine Bedürfnisse, seine Triebe zu befriedigen. Aber die Anstrengung endet mit der Befriedigung, sie hat keinen Zweck, der über die Befriedigung hinausläge, kein Fortschreiten zu diesem Zweck, keine Geschichte. Dem Menschen wird die Arbeit um so mehr ein Genuß, als er seine Freiheit, seine sittliche Selbstbestimmung entwickelt, der Genuß, über die Willkür seiner Bewegungen, der geistigen wie der körperlichen, Herr zu sein und sie nach Zwecken zu bestimmen. Man kann sagen, die Geschichte der Arbeit ist die der Freiheit und ihres Fortschreitens. Sie umfaßt alle die Stadien zwischen der unendlichen Arbeitsteilung in der Zivilisation und der fast tierähnlichen Selbstgenügsamkeit, der Trägheit und Stumpfheit, wie sie noch jetzt in den rohesten Völkern zu sehen ist. Sie zeigt den unendlichen Fortschritt von dem bornierten Vorrecht des Nichtarbeitens in der antiken Welt zur sittlichen Anerkennung der Arbeit im Christentum. Und auch da hat es erst der tiefeingreifenden Reformation bedurft, um die Arbeit zu ihrer Ehre zu erheben, sie zu emanzipieren. Die freie Arbeit ist das glänzende Ergebnis der großen Bewegung der Aufklärung im 18. Jahrhundert geworden. In der Geschichte der Arbeit liegt das Wesen der Stände. Denn sie erwachsen nach dem Gegensatz der Arbeit und Nichtarbeit, nach den Unterschieden der geistigen und leiblichen, der öffentlichen und privaten Arbeit, nach ihrer Gemeinsamkeit. Das ständische Wesen ist so wenig durch den Staat gesetzt, daß vielmehr gerade in dieser Form die Gesellschaft ihren bestimmenden Anteil an der Formung und Umformung des Staates hat. Wie im Altertum die Ansicht galt, daß die Barbaren zu Sklaven geboren seien, ebenso drängt der rechte ständische Eifer darauf, die Unterschiede der Arbeit überhaupt kastenhaft zu fixieren, sie als natürliche Bestimmtheit zu sehen. Man weiß, in welcher Ausdehnung im alten Ägypten, in Indien das der Fall war, und der Anspruch des adligen Blutes in unseren Tagen ist im Prinzip um nichts besser und tiefer als jene alten Borniertheiten, am wenigsten im Geiste des Christentums. Ein anderer Gesichtspunkt in betreff der arbeitenden Kräfte ist, in welchem Maße sie frei oder gebunden sind. Sie wachsen in dem Maße, als sie frei sind, und sie werden um so freier, je mehr sich die Arbeit teilt, d. h. je enger die Gemeinschaft der Bedürfnisse wird. Erst auf diesem Wege entsteht die

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dichte Verkettung der Gesellschaft, in der jeder dem andern nötig ist, jeder den andern bestimmt und von ihm bestimmt wird. Es entsteht jenes ruhige Niveau der Produktion und Konsumtion, des Angebots und der Nachfrage, welches nur noch geringe Wertschwankungen eintreten läßt, wo sonst Hungersnot oder plötzliche Verarmung unausbleiblich war. Und je freier die Arbeit und die Arbeitsteilung wird, desto sicherer ist die äußere Wohlfahrt des Geschlechts assekuriert. […] Die unendliche Reihe der Bedürfnisse, von den niedrigsten materiellen bis zu den höchsten geistigen hat die Arbeit zu befriedigen. Und in der Befriedigung selbst wächst die Zahl und steigert sich die Qualität der Bedürfnisse, steigert sich zugleich die Intensität und der sittliche Wert der Arbeit. Jenes alte Fluchwort: „im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brot essen“ ist zum Segensspruch für die Menschheit geworden. Jedes Kind weiß jetzt, daß die Höhe der Arbeit nur ein anderer Ausdruck ist für die Höhe der Kultur.

Revolutionärer Katechismus (1866) Michail Bakunin Die Arbeit ist die Grundlage der Menschenwürde und des Menschenrechts. Denn nur durch eine freie und intelligente Arbeit schafft der Mensch, seinerseits Schöpfer der äußeren Welt und seiner eigenen Bestialität sein Menschsein und sein Recht abgewinnend, die zivilisierte Welt. Die Unehre, die in der antiken Welt und der feudalen Gesellschaft an die Idee der Arbeit geheftet wurde und die ihr zum großen Teil noch heute anhängt, trotz aller Phrasen über ihre Würde, die wir täglich wiederholen hören, diese stupide Verachtung der Arbeit, hat zwei Quellen: erstens die so charakteristische Überzeugung des Altertums, die selbst heute noch geheime Anhänger besitzt, daß, um irgendeinem Teil der menschlichen Gesellschaft die Mittel zu geben, sich durch Wissenschaft, Kunst, Rechtserkenntnis und Rechtsdurchführung zu humanisieren, es notwendig sei, daß ein anderer, natürlich viel zahlreicherer Teil, sich der Arbeit widme, als Sklave. Dieses Grundprinzip der antiken Zivilisation war die Ursache ihres Ruins. Die Stadtgemeinde, durch den privilegierten Müßiggang der Bürger korrumpiert und desorganisiert, andererseits untergraben durch die unbemerkbare und langsame, aber dauernde Tätigkeit dieser enterbten Sklavenwelt, die trotz der Sklaverei durch die heilsame Wirkung der Arbeit, selbst der erzwungenen, moralisiert und in ihrer primitiven Kraft bewahrt war, – dieses antike Stadtwesen fiel unter den Schlägen der barbarischen Völker, denen diese Sklaven durch ihre Geburt zum großen Teil angehört hatten. – Das Christentum, diese Religion der Sklaven, zerstörte später nur die antike Ungleichheit, um eine neue Ungleichheit zu schaffen: das Privileg der göttlichen Gnade und der Auserwählten durch Gott, welches (im Verein mit) der durch das Recht der Eroberung notwendig entstandenen Ungleichheit von neuem die menschliche Gesellschaft in zwei Lager trennte, die Kanaille und den Adel, die Hörigen und die Herren; diese letzteren erhielten das edle Handwerk der Waffen und des Regierens, während den Leibeigenen nur die Arbeit blieb, die nicht nur als entwürdigend galt, sondern auch als fluchbeladen. Dieselbe Ursache brachte unvermeidlich dieselbe Wirkung hervor; die Welt des Adels, entnervt und demoralisiert durch das Privileg des Müßiggangs, fiel 1789 unter den Schlägen der Hörigen, empörter Arbeiter, einig und mächtig. Dann wurde die Freiheit der Arbeit proklamiert, ihre Rehabilitation dem Recht nach. Aber nur dem Recht nach, denn in der

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Tat selbst bleibt die Arbeit noch entehrt und geknechtet. Die erste Quelle dieser Knechtung, die im Dogma der politischen Ungleichheit der Menschen bestanden hatte, war durch die große Revolution verstopft worden; daher muß man die gegenwärtige Verachtung der Arbeit der zweiten Quelle zuschreiben, die keine andere ist, als die Trennung zwischen geistiger Arbeit und Handarbeit, die sich herausbildete und noch heute in voller Kraft besteht; sie reproduziert in neuer Form die antike Ungleichheit und teilt von neuem die soziale Welt in zwei Lager: die jetzt nicht mehr durch das Gesetz, sondern durch das Kapital privilegierte Minderheit und die Mehrheit der gezwungenen Arbeiter, gezwungen nicht mehr durch das unbillige Recht des gesetzlichen Vorrechts, sondern durch den Hunger. In der Tat ist heute die Würde der Arbeit schon theoretisch anerkannt, und die öffentliche Meinung gibt zu, daß es eine Schande ist, zu leben, ohne zu arbeiten. Nur aber, weil die menschliche Arbeit, in ihrer Gesamtheit betrachtet, in zwei Teile zerfällt, deren einer, ganz geistig und ausschließlich als edel bezeichnet, die Wissenschaften, Künste, den Gedanken, die Auffassung, die Erfindung, die Berechnung, das Regieren und die allgemeine und die subalterne Leitung der Arbeiterkräfte umfaßt, der andere dagegen nur die manuelle Ausführung, die sich durch das ökonomische und soziale Gesetz der Arbeitsteilung auf eine rein mechanische Tätigkeit, ohne Geist und Idee, beschränkt hat – unter diesen Verhältnissen haben sich die Bevorrechteten des Kapitals, eingeschlossen die durch ihre persönlichen Fähigkeiten dazu am wenigsten berufenen, der ersteren Arbeitskategorie bemächtigt und überlassen die zweite dem Volk. Daraus ergeben sich drei große Übel: eines für die Bevorrechteten des Kapitals, das zweite für die Volksmassen und das dritte, das aus den beiden ersteren hervorgeht, für die Produktion, den Wohlstand, die Gerechtigkeit und die geistige und moralische Entwicklung der ganzen Gesellschaft. Das Übel, an dem die privilegierten Klassen leiden, ist das folgende: indem sie bei der Verteilung der sozialen Funktionen den bequemen Teil übernehmen, nehmen sie einen immer unbedeutenderen Platz in der geistigen und moralischen Welt ein. Es ist ganz richtig, daß ein gewisser Grad von Muße absolut notwendig ist zur Entwicklung des Geistes, der Wissenschaft und der Kunst; aber solche Muße muß verdient sein, sie muß der gesunden Ermüdung durch tägliche Arbeit folgen, eine gerechte Erholung, die nur von der größeren oder geringeren Energie, Fähigkeit und gutem Willen des einzelnen abhinge und sozial allen auf gleiche Weise zur Verfügung stünde. Jede privilegierte freie Zeit dagegen stärkt keineswegs den Geist, sondern entnervt, demoralisiert und tötet ihn. Die ganze Geschichte beweist uns, mit einigen seltenen Ausnahmen, daß die durch Vermögen und Rang privilegierten Klassen stets die in geistiger Beziehung am wenigsten produktiven waren, und die größten Entdeckungen in Wissenschaft, Kunst und Industrie wurden meist von Männern gemacht, die

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in ihrer Jugend gezwungen waren, mit harter Arbeit ihr Brot zu verdienen. Die menschliche Natur ist so angelegt, daß die Möglichkeit des Schlechten unfehlbar und immer die Wirklichkeit des Schlechten hervorbringt und daß die Moralität des einzelnen viel mehr von seinen Lebensverhältnissen und seinem Milieu abhängt als von seinem eigenen Willen. In dieser Hinsicht, wie in jeder anderen, ist das Gesetz der sozialen Solidarität unerbittlich, so daß man, um die Menschen moralischer zu machen, sich nicht so sehr um ihr Gewissen kümmern muß, als um ihre sozialen Existenzbedingungen, und es gibt für die Gesellschaft wie für den einzelnen keinen anderen Erwecker der Moral als die Freiheit inmitten der vollsten Gleichheit. Man setze den aufrichtigsten Demokraten auf einen Thron; wenn er ihn nicht sofort verläßt, wird er unfehlbar eine Kanaille werden. Ein als Aristokrat Geborener, der nicht durch einen glücklichen Zufall seinen Rang verachtet und haßt und sich nicht des Adels schämt, wird unvermeidlich eitel und nichtig sein, nach der Vergangenheit seufzend, nutzlos in der Gegenwart und leidenschaftlicher Gegner der Zukunft. Ebenso wird der Bourgeois, das verwöhnte Kind des Kapitals und der privilegierten Muße, seine freie Zeit zu Müßiggang, Korruption, Ausschweifung verwenden oder sich ihrer als schreckliche Waffe bedienen, um die Arbeiterklassen noch mehr zu knechten, und er wird schließlich gegen sich eine Revolution hervorrufen, die schrecklicher sein wird als die von 1793. Das Übel, an dem das Volk leidet, ist noch leichter zu bestimmen: es arbeitet für andere, und seine Arbeit ohne Freiheit, Muße und Geist wird dadurch herabgewürdigt, erniedrigt, erdrückt und tötet es. Es ist gezwungen, für andere zu arbeiten, denn, im Elend geboren, ohne Erziehung und vernünftigen Unterricht, moralisch versklavt durch religiöse Einflüsse, sieht es sich waffenlos, diskreditiert, ohne Initiative und eigenen Willen ins Leben geworfen. Vom Hunger von der zartesten Jugend an gezwungen, ein trauriges Brot zu verdienen, muß es seine physische Kraft, seine Arbeit zu den härtesten Bedingungen verkaufen und denkt weder daran, noch hat es die materielle Möglichkeit, andere Bedingungen zu verlangen. Vom Elend zur Verzweiflung getrieben, empört es sich manchmal, aber ohne die Einheit und Kraft, die der Gedanke verleiht, schlecht geführt, meist von seinen Führern verraten und verkauft, beinahe immer in Unwissenheit, gegen welches seiner Leiden es sich wenden soll, in den meisten Fällen seinen Schlag nach einer falschen Richtung führend, hat es, bis jetzt wenigstens, in seinen Empörungen Mißerfolg gehabt und fiel, müde des unfruchtbaren Kampfes, immer wieder in die alte Knechtschaft zurück. Diese Knechtschaft wird so lange dauern, als das Kapital, außerhalb der gemeinsamen Tätigkeit der Arbeiterkräfte stehend, dieselben ausbeuten wird und so lange, als der Unterricht, der in einer gut organisierten Gesellschaft auf alle gleich verteilt sein sollte, nur die Intelligenz einer privilegierten Klasse

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entwickelt und so dieser den ganzen geistigen Teil der Arbeit überträgt und dem Volke nur die rohe Verwendung seiner geknechteten physischen Kräfte überläßt, die immer verurteilt sind, Ideen auszuführen, die nicht die ihrigen sind. Durch diese ungerechte und verhängnisvolle Entartung wird die Arbeit des Volkes eine rein mechanische, der eines Arbeitstiers ähnliche, und ist entehrt, verachtet und als natürliche Folge jedes Rechts beraubt. Daraus ergibt sich für die Gesellschaft in politischer, geistiger und moral­ ischer Hinsicht ein ungeheueres Übel. Die das Monopol der Wissenschaft genießende Minorität ist als Wirkung dieses Vorrechts selbst an Geist und Herz getroffen bis zum Grade, daß sie vor Wissen dumm wird; denn nichts ist so schädlich und unfruchtbar wie patentierte und privilegierte Intelligenz. Andererseits das Volk, vollständig von Wissenschaft entblößt, niedergedrückt von der täglichen mechanischen Arbeit, die es eher verdummt als daß sie seine natürliche Intelligenz entwickelte, des Lichtes beraubt, das ihm den Weg zu seiner Befreiung zeigen könnte – das Volk, es müht sich vergebens ab in seiner Zwangsarbeit, und da es stets die numerische Kraft für sich hat, bringt es stets die Existenz der Gesellschaft selbst in Gefahr. Daher ist es notwendig, daß die ungerechte Teilung von geistiger und Handarbeit anders arrangiert werde. Die ökonomische Produktivität der Gesellschaft leidet selbst bedeutend darunter; Intellekt, von körperlicher Tätigkeit getrennt, wird nervös, vertrocknet, entartet, während Körperkraft, vom Geiste getrennt, verdummt, und in diesem Zustand künstlicher Trennung produziert keiner der beiden Teile die Hälfte dessen, was er produzieren kann und muß, wenn in neuer sozialer Synthese vereint, beide nur eine einzige produktive Tätigkeit bilden werden. Wenn der Mann der Wissenschaft arbeiten und der Mann der Arbeit denken wird, wird intelligente und freie Arbeit als schönster Ruhmestitel für den Menschen gelten, als Grundlage seiner Würde, seines Rechts, als Offenbarung seiner Menschenkraft auf der Erde – und die Menschheit wird konstituiert sein. Die intelligente und freie Arbeit wird notwendigerweise assoziierte Arbeit sein. Es wird jedem freistehen, sich zur Arbeit zu assoziieren oder nicht, aber es besteht kein Zweifel, daß, mit Ausnahme von Arbeiten der Einbildungskraft, deren Natur die Konzentrierung der Intelligenz des einzelnen in sich selbst erfordert, in allen industriellen und selbst wissenschaftlichen und künstlerischen Unternehmungen, deren Natur assoziierte Arbeit zuläßt, alle die Assoziation vorziehen werden aus dem einfachen Grunde, weil dieselbe auf wunderbare Weise die Produktivität eines jeden vervielfältigt, und weil jeder als Mitglied und Mitarbeiter einer Produktivassoziation in kürzerer Zeit und mit viel weniger Mühe viel mehr verdienen wird. Wenn die freien Produktivassoziationen, nicht mehr Sklaven, sondern ihrerseits Herren und

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Michail Bakunin

Besitzer des ihnen erforderlichen Kapitals, in ihren Reihen als Mitarbeiter neben den durch den allgemeinen Unterricht befreiten Arbeiterkräften, alle spezialen Intelligenzen besitzen werden, die jede Unternehmung erfordert, wenn sie, sich untereinander verbindend, immer frei, nach ihren Bedürfnissen, nach ihrer Art und Weise, früher oder später alle nationalen Grenzen überschreitend, eine ungeheure ökonomische Föderation bilden werden, mit einem Parlament, das durch die ebenso umfassenden wie genauen und detaillierten Daten einer Weltstatistik, wie sie heute noch nicht existieren kann, informiert, Angebot und Nachfrage kombinierend, die Produktion der Weltindustrie leiten, bestimmen und zwischen den verschiedenen Ländern verteilen kann, so daß es nie oder beinahe nie mehr Handelskrisen, Industriekrisen, gezwungenen Stillstand, Unglücksfälle und Not, verlorenes Kapital gäbe – dann wird die menschliche Arbeit, die Befreiung eines jeden und aller, die Welt regenerieren.

Keine Cultur ohne Dienstboten (1874) Heinrich von Treitschke Jedermann weiß, das Menschengeschlecht wie der Einzelne vollzieht die größten Sprünge seiner Entwicklung in den Tagen der Kindheit; der Erwachsene kann nie wieder eine so grundtiefe Wandlung seines ganzen Seins erleben wie einst da er sprechen lernte. Zu jenen großen ersten Schritten der jugendlichen Menschheit, welche immer wieder die Verwunderung der Rückschauenden erregen und auch den Skeptiker an die göttliche Vernunft der Geschichte erinnern, zählt aber unzweifelhaft – die Einführung der Sklaverei, eine rettende That der Cultur, die auf jene fernen Jahrtausende mindestens ebenso erweckend und sittigend eingewirkt hat wie das Christenthum auf eine spätere Epoche. Jägervölker kennen die Sklaverei nicht; denn der wehrlose Knecht ist hier werthlos, und in diesem rohen Dasein regt sich noch nicht der Gedanke, daß es menschlich sei, den Fremdling nicht zu treffen oder zu morden. Auch Hirtenvölker, so lange sie noch still für sich hinleben, bedürfen der Sklaven nicht; dem Heerdenbesitzer dienen die Stammgenossen und vielleicht Einzelne anderen Stammes, welche durch Schuld oder Unglück ihre Heerde verloren haben; hier ist das Gemeinwesen die erweiterte Familie und darum geschichtslos, ohne Entwickelung. Erst wenn die Völker seßhaft werden, tritt die Sklaverei in die Geschichte ein, mit ihr die erste schwache Ahnung von dem Werthe des Menschenlebens und die erste nachhaltige Arbeit. Der Barbar verachtet die Arbeit, er schafft nur für das Heute, selbst der hochbegabte Germane pflog stolzer Ruhe nach der Erregung des Krieges und der Jagd. Nur die harte Faust des Siegers kann in jener rauhen Welt die für die Zukunft sorgende Arbeit erzwingen; nur so entsteht wirkliches Capital, die Vorbedingung aller reineren Gesittung. Ohne die scharfe Scheidung eines herrschenden und eines dienenden Standes sind die Anfänge der Cultur weder nachweisbar noch denkbar. Von der Trägheit der Barbaren zur Sklaverei, von da zur gebundenen und endlich zur freien Arbeit, das ist im Großen der aufsteigende Werdegang der Gesellschaft. Und wie jede große Wendung der Geschichte lange nachwirkend neue Kräfte der Gesittung entbindet, so kommt auch erst mit der Ansiedelung und der unfreien Arbeit ein Zustand leidlichen Friedens für das Menschengeschlecht. Niemand glaubt mehr an den Krieg Aller gegen Alle, womit Thomas Hobbes die Welt erschreckte. Nicht der Einzelne kämpft gegen den Einzelnen in den Anfängen der Geschichte; wohl

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Heinrich von Treitschke

aber steht der Stamm mißtrauisch gegen den Stamm, und sieht in dem Fremdling den Feind. Die erste Berührung unfertiger Völker ist immer feindlich; nur tapfere Stämme haben ein Werden, eine Zukunft, während die feigen ohne Geschichte dahinwelken wie das matte Geschlecht auf den Inselwolken der Südsee. Erst dann kommt einige Ruhe und Stetigkeit in das historische Leben, wenn der Sieger lernt die Besiegten nicht mehr zu verjagen oder zu vernichten, sondern zu benutzen, sie als dienende Glieder seinem eigenen Gemeinwesen einzufügen. Nur durch Eroberung und Unterjochung werden die Horden zu Völkern, fähig ein Bild der Menschheit aus sich heraus zu gestalten. Einen freundlicheren Weg zu so hohen Zielen kennt die Geschichte nicht; fest und derb sind die Fäden, die sie an ihrem Webstuhl ausspannt. […] Unser Geschlecht ist aber so gebrechlich und bedürftig von Natur, daß die ungeheure Mehrheit der Menschen immer und überall der Sorge um das Leben, der materiellen Arbeit ihr Dasein widmen muß. Die Millionen müssen ackern und schmieden und hobeln, damit einige Tausende forschen, malen und regieren können. Umsonst versucht der Socialismus durch leeres Wuthgeschrei diese herbe Erkenntniß aus der Welt zu schaffen; der Beweis ihrer Wahrheit liegt schon in der Thatsache, daß die Menschheit lange Jahrtausende brauchte, bis der Beruf des Staatsmannes, des Künstlers, des Gelehrten nur entstehen konnte. Keine Verbesserung der Technik kann dies Verhältniß jemals aufheben. Die Erleichterung der Production entlastet allerdings den Menschen von vielen mechanischen Arbeiten und stellt den Arbeiter freier. Das Seherwort des Aristoteles: „wenn die Weberschiffchen von selber gehen, brauchen wir keine Sclaven mehr“ ist längst in Erfüllung gegangen; und wer die Dienerschaaren Ostindiens neben das bescheidene Häuflein der europäischen Dienstboten stellt, darf sich froh gestehen, um wie viel besser wir die Kraft des Menschen zu benutzen, seinen Werth zu schätzen wissen. Gleichwohl ist die Kopfzahl der sogenannnten arbeitenden Klassen im Laufe der Geschichte verhältnißmäßig nicht wesentlich gesunken, in der Blüthezeit Athens konnte bereits ein ebenso großer, vielleicht ein noch größerer Bruchtheil der Bevölkerung den idealen Zwecken des Staates, der Kunst und Wissenschaft und einer edlen Muße leben, wie im heutigen Berlin. Denn jeder große Erfolg der wirthschaftlichen Arbeit erweckt neue materielle Bedürfnisse in unendlicher Folge. Seit wir gelernt haben, den Raum durch die Kraft des Dampfes einigermaßen zu beherrschen, arbeitet eine täglich wachsende Menschenmenge an der Überwindung des Raumes, die doch nur ein Mittel ist für die Zwecke der wirklichen Cultur. Wo eine Eisenbahn unter normalen Verhältnissen, in einem Lande schon rührigen Verkehrs, gebaut wird, da wächst bekanntlich die Zahl der Pferde; das Verkehrsbedürfniß steigt dermaßen, daß

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die Nebenstraßen allein mehr Kutscher und Zugthiere beschäftigen als früher das gesammte Land. Andererseits gehen die Weberschiffchen nicht ganz von selbst, die eisernen Sklaven der neuen Industrie bedürfen der menschlichen Leitung und Hilfe. Man denke noch so hoch von der möglichen Vervollkommnung des Maschinenwesens, es wird doch ewig dabei bleiben, daß Millionen mit Schmutz und Unrath, mit häßlicher und eintöniger Arbeit sich befassen müssen. Keine Cultur ohne Dienstboten, das folgt nothwendig aus dem Gesetze der Arbeitstheilung. Die Maschine kann in der Regel nur Massenbedürfnisse befriedigen, sie wird darum niemals die niederen persönlichen Dienstleistungen verdrängen. Die bürgerliche Gesellschaft eines reifen Volkes ist immer eine Aristokratie, auch unter demokratischer Staatsverfassung. Oder, um ein sehr verhaßtes aber wahres Wort trocken auszusprechen – die Klassenherrschaft, richtiger: die Klassenordnung, ergiebt sich ebenso nothwendig aus der Natur der Gesellschaft, wie der Gegensatz von Regierenden und Regierten aus der Natur des Staates. Die Socialdemokratie bekennt schon durch ihren Namen, daß sie den Unsinn will. Auf einem ihrer Congresse ward bereits, wie in unbewußter Selbstverhöhnung, die Frage aufgeworfen, ob nicht ein fünfter Stand entstehen würde, wenn dereinst der vierte Stand am Ziele seiner Wünsche angelangt sei. Ganz gewiß würde er entstehen! Sobald die heutigen Arbeiter sich in eine Klasse privatisirender Gentlemen verwandeln, welche zwanzig Stunden des Tages den freien Künsten des Schlafens, Trinkens und Redehaltens widmen, muß unfehlbar zu ihren Füßen ein neuer Stand sich bilden, der durch wirkliche Arbeit die wirthschaftlichen Bedürfnisse der Gesellschaft befriedigt. Jede sociale Revolution kann die bestehende Aristokratie zu maßvollem Gebrauche ihrer Macht zwingen oder eine neue Aristokratie auf den Platz der alten erheben. Auch die schrankenlose Concurrenz bewirkt nur, daß der Einzelne auf der Stufenleiter der Gesellschaft schneller auf- und niedersteigt, doch sie bricht diese Leiter nicht ab. Der einzelne Nordamerikaner wird wohl binnen weniger Jahre erst Barbier, dann Staatsmann, dann Flickschneider und endlich Bankdirektor. Aber auch in dieser jungen Welt der socialen Wandelungen gilt unabänderlich das Gesetz: nur einer Minderzahl ist beschieden, die idealen Güter der Cultur ganz zu genießen; die große Mehrheit schafft im Schweiße ihres Angesichts.

Das Recht auf Faulheit (1880) Paul Lafargue Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht, eine Sucht, die das in der modernen Gesellschaft herrschende Einzel- und Massenelend zur Folge hat. Es ist dies die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht. Statt gegen diese geistige Verirrung anzukämpfen, haben die Priester, die Ökonomen und die Moralisten die Arbeit heiliggesprochen. Blinde, und beschränkte Menschen, haben sie weiser sein wollen als ihr Gott; schwache und unwürdige Geschöpfe, haben sie das, was ihr Gott verflucht hat, wiederum zu Ehren zu bringen gesucht. Ich, der ich weder Christ noch Ökonom, noch Moralist zu sein behaupte, ich appelliere von ihrem Spruch an den ihres Gottes, von den Vorschriften ihrer religiösen, ökonomischen oder freidenkerischen Moral an die schauerlichen Konsequenzen der Arbeit in der kapitalistischen Gesellschaft. In der kapitalistischen Gesellschaft ist die Arbeit die Ursache des geistigen Verkommens und körperlicher Verunstaltung. Man vergleiche die von einer ganzen Schar zweihändiger Knechte bedienten Vollblutpferde in den Ställen eines Rothschild oder Hohenlohe mit den schwerfälligen normannischen oder pommerischen Gäulen, welche das Land beackern, den Mistwagen ziehen und die Ernte einfahren müssen! Man betrachte den stolzen Wilden, wenn ihn die Missionare des Handels und die Handlungsreisenden in Glaubensartikeln noch nicht durch Christentum, Syphilis und das Dogma von der Arbeit korrumpiert haben, und dann vergleiche man mit ihnen unsere abgerackerten Maschinensklaven! Will man in unserem zivilisierten Europa noch eine Spur der ursprünglichen Schönheit des Menschen finden, so muß man zu den Nationen gehen, bei denen das ökonomische Vorurteil den Haß wider die Arbeit noch nicht ausgerottet hat. Spanien, das jetzt allerdings auch aus der Art schlägt, darf sich noch rühmen, weniger Fabriken zu besitzen als wir Gefängnisse und Kasernen; aber des Künstlers Auge weilt bewundernd auf dem kühnen, kastanienbraunen, gleich Stahl elastischen Andalusier; und unser Herz schlägt höher,

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wenn wir den in seiner durchlöcherten „Capa“ majestätisch drapierten Bettler einen Herzog von Ossuna mit „amigo“ (Freund) traktieren hören. Für den Spanier, in dem das ursprüngliche Tier noch nicht ertötet ist, ist die Arbeit die schlimmste Sklaverei. Auch die Griechen hatten in der Zeit ihrer höchsten Blüte nur Verachtung für die Arbeit; den Sklaven allein war es gestattet, zu arbeiten, der freie Mann kannte nur körperliche Übungen und Spiele des Geistes. Das war die Zeit eines Aristoteles, eines Phidias, eines Aristophanes, die Zeit, da eine Handvoll Tapferer bei Marathon die Horden Asiens vernichtete, welches Alexander bald darauf eroberte. Die Philosophen des Altertums lehrten die Verachtung der Arbeit, dieser Herabwürdigung des freien Mannes: die Dichter besangen die Faulheit, dieses Geschenk der Götter: O Melibäus, ein Gott schenkte uns diesen Müßiggang! singt Virgil. Christus lehrt in der Bergpredigt die Faulheit: „Sehet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen; sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht, und doch sage ich Euch, daß Salomo in all’ seiner Pracht nicht herrlicher gekleidet war.“ (Matthäi 6, 28 und 29.) Jehovah, der bärtige und sauertöpfische Gott, gibt seinen Verehrern das erhabenste Beispiel idealer Faulheit: nach sechs Tagen Arbeit ruht er auf alle Ewigkeit aus. […] Welches sind in unserer Gesellschaft die Klassen, welche die Arbeit um der Arbeit willen lieben? Die Kleinbauern und Kleinbürger, welche, die einen auf ihren Acker gebückt, die andern in ihren Boutiken vergraben, dem Maulwurf gleichen, der in seiner Höhle herumwühlt, und sich nie aufrichten, um mit Muße die Natur zu betrachten. Und auch das Proletariat, die große Klasse der Produzenten aller zivilisierten Nationen, die Klasse, die durch ihre Emanzipation die Menschheit von der knechtischen Arbeit erlösen und aus dem menschlichen Tier ein freies Wesen machen wird, auch das Proletariat hat sich, seinen historischen Beruf verkennend, von dem Dogma der Arbeit verführen lassen. Hart und schrecklich war seine Züchtigung. Alles individuelle und soziale Elend entstammt seiner Leidenschaft für die Arbeit. […] Die Nationalökonomen werden nicht müde, den Arbeitern zuzurufen: Arbeitet, arbeitet, damit der Nationalreichtum wachse! und doch war es einer der ihrigen, Destutt de Tracy, der da sagte: „Die armen Nationen sind es, wo das Volk sich wohlbefindet, bei den reichen Nationen ist es gewöhnlich arm;“ und sein Schüler Cherbulliez setzt hinzu: „Indem die Arbeiter zur Anhäufung produktiver Kapitalien mitwirken, fördern sie selbst den Faktor, der sie früher

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oder später eines Teils ihres Lohnes berauben wird.“ Aber von ihrem eigenen Gekrächz betäubt und versimpelt, erwidern die Ökonomen: Arbeitet, arbeitet, um eurer Wohlfahrt willen! Und im Namen der christlichen Milde predigt ein Pfaffe der anglikanischen Kirche, Towsend – er könnte auch Stöcker* heißen –: Arbeitet, arbeitet Tag und Nacht: indem ihr arbeitet, vermehrt ihr eure Leiden, und euer Elend enthebt uns der Aufgabe, euch gesetzlich zur Arbeit zu zwingen. Der gesetzliche Arbeitszwang macht „zu viel Mühe, fordert zu viel Gewalt und erregt zu viel Aufregung; der Hunger ist dagegen nicht nur ein friedlicher, geräuschloser, unermüdlicher Antreiber zur Arbeit, er bewirkt auch, als die natürlichste Veranlassung zur Arbeit und gewerblichen Tätigkeit, die gewaltigste Anstrengung.“ Arbeitet, arbeitet, Proletarier, vermehrt den Nationalreichtum und damit euer persönliches Elend. Arbeitet, um, immer ärmer geworden, noch mehr Ursache zu haben, zu arbeiten und elend zu sein. Das ist das unerbittliche Gesetz der kapitalistischen Produktion. Dadurch, daß die Arbeiter den trügerischen Redensarten der Ökonomen Glauben schenken und Leib und Seele dem Dämon Arbeit verschreiben, tragen sie selbst zu jenen industriellen Krisen bei, wo die Überproduktion den gesellschaftlichen Organismus in krankhafte Zuckungen versetzt. Dann werden wegen Überfluß an Waren und Mangel an Abnehmern die Fabriken geschlossen, und mit tausendsträhniger Geißel peitscht der Hunger die Arbeiterbevölkerung. Betört von dem Dogma von der Arbeit sehen die Prol­ etarier nicht ein, daß die Mehrarbeit, der sie sich in der angeblich guten Geschäftszeit unterzogen haben, die Ursache ihres jetzigen Elends ist […]. Statt in den Zeiten der Krisis eine Verteilung der Produkte und allgemeine Erholung zu verlangen, rennen sich die Arbeiter vor den Türen der Fabriken die Köpfe ein. Mit eingefallenen Wangen, abgemagertem Körper überlaufen sie die Fabrikanten mit kläglichen Ansprachen: „Lieber Herr Stumm, bester Herr Berger, geben Sie uns doch Arbeit, es ist nicht der Hunger, der uns plagt, sondern nur die Liebe zur Arbeit.“ – Und, kaum imstande sich aufrechtzuerhalten, verkaufen die Elenden 12–14 Stunden Arbeit um die Hälfte billiger als zur Zeit, wo sie noch Brot im Korbe hatten. Und die Herren industriellen Philantropen benutzen die Arbeitslosigkeit, um noch billiger zu produzieren. […]

* Cherbulliez … Towsend … Stöcker: Gemeint sind wohl der französische Schriftsteller Victor Cherbuliez (1839–1889), Joseph Townsend (1739–1816), englischer Geistlicher, Arzt und Geologe sowie Adolf Stoecker (1835–1909), evangelischer Theologe und Politiker im deutschen Kaiserreich (Anm. d. Herausgebers).

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Wenn die Herabsetzung der Arbeitszeit der gesellschaftlichen Produktion neue mechanische Kräfte zuführt, so wird die Verpflichtung der Arbeiter, ihre Produkte auch zu verzehren, eine enorme Vermehrung der Arbeitskräfte zur Folge haben. Die von ihrer Mission, Allerweltskonsument zu sein, erlöste Bourgeoisie wird nämlich schleunigst die Menge von Soldaten, Beamten, Kupplern usw., die sie der nützlichen Arbeit entzogen hatte, damit sie ihr konsumieren und vergeuden halfen, freigeben – das heißt dem Arbeitsmarkt. Dieser wird, wenn alle gesellschaftlichen Kräfte ihm zugeführt werden, so überfüllt sein, daß man schier gezwungen sein wird, die Arbeit zu verbieten; es wird fast unmöglich sein, für diesen Schwarm bisher unproduktiver Menschen Verwendung zu finden, denn sie sind zahlreicher als die Heuschrecken. Dann wird man an die denken, die für den kostspieligen und nichtsnutzigen Bedarf dieser Leute aufzukommen hatten. Wenn keine Lakaien und Generäle mehr galonniert, keine verheirateten und unverheirateten Prostituierten mehr in Spitzen eingehüllt, keine Paläste mehr eingerichtet und keine Kanonen mehr gegossen zu werden brauchen, dann wird man mittels drakonischer Gesetze die Posamentier-, Spitzen-, Eisen- usw. Arbeiter und Arbeiterinnen im Interesse der Hygenie und der Veredelung der Rasse zu Ruder- und Tanzübungen anhalten, damit sie ihre untergrabene Gesundheit wiederherstellen. Von dem Augenblick an, wo die europäischen Produkte nicht mehr in alle Welt hinaus verschickt werden, werden auch die Seeleute, die Lastträger und Fuhrleute anfangen, den Daumen drehen zu lernen. Dann werden die glücklichen Südseeinsulaner sich der freien Liebe hingeben können, ohne die Fußtritte der zivilisierten Venus und die Predigten der europäischen Moral fürchten zu brauchen. Noch mehr. Um für alle unproduktiven Kräfte der heutigen Gesellschaft Arbeit zu finden, und die immer weitere Vervollkommnung der Arbeitsmittel zu fördern, wird die Arbeiterklasse ihrem Hang zur Enthaltsamkeit gleich der Bourgeoisie, Gewalt antun und ihre Fähigkeit, zu konsumieren, möglichst zu steigern suchen müssen. Anstatt täglich 20 oder 30 Gramm zähes Fleisch zu essen, wenn sie überhaupt welches ißt, wird sie saftige Beefsteaks von ein oder zwei Pfund essen; statt bescheiden einen Wein zu trinken, der katholischer (d. h. getaufter) ist als der Papst, wird sie aus vollen Gläsern Bordeaux und Burgunder trinken, der keiner industriellen Taufe unterzogen ist, und das Wasser dem Vieh überlassen. Die Proletarier haben sich in den Kopf gesetzt, die Kapitalisten zu zehn Stunden Gruben- oder Fabrikarbeit anhalten zu wollen – das ist der große Fehler, die Ursache der sozialen Gegensätze und der Bürgerkriege. Nicht auferlegen, verbieten muß man die Arbeit. Den Rothschilds, den Krupps wird erlaubt werden, den Beweis zu liefern, daß sie ihr ganzes Leben lang

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Nichtstuer gewesen sind; und wenn sie versprechen, trotz des allgemeinen Zuges zur Arbeit, als vollkommene Nichtstuer zu leben, so wird man sie unter Kontrolle stellen und ihnen jeden Morgen ein 20-Mark-Stück für ihre kleinen Vergnügungen auszahlen. Die gesellschaftliche Zwietracht verschwindet. Einmal überzeugt, daß man ihnen durchaus nichts Übles antun, sondern sie nur von der Plage, Überkonsumenten und Verschleuderer sein zu müssen, befreien will, werden die Kapitalisten und Rentiers die ersten sein, die sich zur Partei des Volkes schlagen. Diejenigen Bourgeois, die unfähig sind, ihre Qualifikation als vollendete Nichtsnutze nachzuweisen, wird man ihren Instinkten nachgehen lassen: es existieren genügend Berufe, um sie unterzubringen. […] Wenn die Arbeiterklasse sich das Laster, welches sie beherrscht und ihre Natur herabwürdigt, gründlich aus dem Kopf schlagen und sich in ihrer furchtbaren Kraft erheben wird, nicht um die famosen „Menschenrechte“ zu verlangen, die nur die Rechte der kapitalistischen Ausbeutung sind, nicht um das „Recht auf Arbeit“ zu proklamieren, das nur das Recht auf Elend ist, sondern um ein ehernes Gesetz zu schmieden, das jedermann verbietet, mehr als drei Stunden pro Tag zu arbeiten, so wird die alte Erde, zitternd vor Wonne, in ihrem Innern eine neue Welt sich regen fühlen … aber wie soll man von einem durch die kapitalistische Moral korrumpierten Proletariat einen männlichen Entschluß verlangen! – – – Wie Christus, die leidende Verkörperung der Sklaverei des Altertums, erklimmt unser Proletariat, Männer, Frauen und Kinder, seit einem Jahrhundert den rauhen Kalvarienberg der Leiden; seit einem Jahrhundert bricht Zwangsarbeit ihre Knochen, martert ihr Fleisch, zerrüttet ihre Nerven; seit einem Jahrhundert quält Hunger ihren Magen und verdummt ihr Gehirn…  . O Faulheit, erbarme Du Dich des unendlichen Elends! O Faulheit, Mutter der Künste und der edlen Tugenden, sei Du der Balsam für die Schmerzen der Menschheit!

Arbeit und Langeweile, Muße und Müßiggang (1882) Friedrich Nietzsche Sich Arbeit suchen um des Lohnes willen – darin sind sich in den Ländern der Zivilisation jetzt fast alle Menschen gleich; ihnen allen ist Arbeit ein Mittel, und nicht selber das Ziel; weshalb sie in der Wahl der Arbeit wenig fein sind, vorausgesetzt daß sie einen reichlichen Gewinn abwirft. Nun gibt es seltnere Menschen, welche lieber zugrunde gehen wollen, als ohne Lust an der Arbeit arbeiten: jene Wählerischen, schwer zu Befriedigenden, denen mit einem reichlichen Gewinn nicht gedient wird, wenn die Arbeit nicht selber der Gewinn aller Gewinne ist. Zu dieser seltenen Gattung von Menschen gehören die Künstler und Kontemplativen aller Art, aber auch schon jene Müßiggänger, die ihr Leben auf der Jagd, auf Reisen oder in Liebeshändeln und Abenteuern zubringen. Alle diese wollen Arbeit und Not, sofern sie mit Lust verbunden ist, und die schwerste, härteste Arbeit, wenn es sein muß. Sonst aber sind sie von einer entschlossenen Trägheit, sei es selbst, daß Verarmung, Unehre, Gefahr der Gesundheit und des Lebens an diese Trägheit geknüpft sein sollte. Sie fürchten die Langeweile nicht so sehr als die Arbeit ohne Lust: ja sie haben viel Langeweile nötig, wenn ihnen ihre Arbeit gelingen soll. Für den Denker und für alle empfindsamen Geister ist Langeweile jene unangenehme „Windstille“ der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht; er muß sie ertragen, muß ihre Wirkung bei sich abwarten – das gerade ist es, was die geringeren Naturen durchaus nicht von sich erlangen können! Langeweile auf jede Weise von sich scheuchen ist gemein: wie arbeiten ohne Lust gemein ist. Es zeichnet vielleicht die Asiaten vor den Europäern aus, daß sie einer längeren, tieferen Ruhe fähig sind als diese; selbst ihre Narcotica wirken langsam und verlangen Geduld, im Gegenteil zu der widrigen Plötzlichkeit des europäischen Giftes, des Alkohols. *** Es ist eine indianerhafte, dem Indianerblute eigentümliche Wildheit in der Art, wie die Amerikaner nach Gold trachten: und ihre atemlose Hast der Arbeit – das eigentliche Laster der neuen Welt – beginnt bereits durch Ansteckung das alte Europa wild zu machen und eine ganz wunderliche Geistlosigkeit darüber zu breiten. Man schämt sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen

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Friedrich Nietzsche

macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag ißt, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, – man lebt wie einer, der fortwährend etwas „versäumen könnte“. „Lieber irgendetwas tun als nichts“ – auch dieser Grundsatz ist eine Schnur, um aller Bildung und allem höheren Geschmack den Garaus zu machen. Und so wie sichtlich alle Formen an dieser Hast der Arbeitenden zugrundegehn: so geht auch das Gefühl für die Form selber, das Ohr und Auge für die Melodie der Bewegungen zugrunde. Der Beweis dafür liegt in der jetzt überall geforderten plumpen Deutlichkeit, in allen den Lagen, wo der Mensch einmal redlich mit Menschen sein will, im Verkehre mit Freunden, Frauen, Verwandten, Kindern, Lehrern, Schülern, Führern und Fürsten – man hat keine Zeit und keine Kraft mehr für die Zeremonien, für die Verbindlichkeit mit Umwegen, für allen Esprit der Unterhaltung und überhaupt für alles Otium. Denn das Leben auf der Jagd nach Gewinn zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur Erschöpfung auszugeben, im beständigen Sich-Verstellen oder Überlisten oder Zuvorkommen: die eigentliche Tugend ist jetzt, etwas in weniger Zeit zu tun als ein anderer. Und so gibt es nur selten Stunden der erlaubten Redlichkeit: in diesen aber ist man müde und möchte sich nicht nur „gehen lassen“, sondern lang und breit und plump sich hinstrecken. Gemäß diesem Hange schreibt man jetzt seine Briefe: deren Stil und Geist immer das eigentliche „Zeichen der Zeit“ sein werden. Gibt es noch ein Vergnügen an Gesellschaft und an Künsten, so ist es ein Vergnügen, wie es müdegearbeitete Sklaven sich zurecht machen. Oh über diese Genügsamkeit der „Freude“ bei unsern Gebildeten und Ungebildeten! Oh über diese zunehmende Verdächtigung aller Freude! Die Arbeit bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: der Hang zur Freude nennt sich bereits „Bedürfnis der Erholung“ und fängt an sich vor sich selber zu schämen. „Man ist es seiner Gesundheit schuldig“ – so redet man, wenn man auf einer Landpartie ertappt wird. Ja es könnte bald so weit kommen, daß man einem Hange zur vita contemplativa (das heißt zum Spazierengehen mit Gedanken und Freunden) nicht ohne Selbstverachtung und schlechtes Gewissen nachgäbe. – Nun! Ehedem war es umgekehrt: die Arbeit hatte das schlechte Gewissen auf sich. Ein Mensch von guter Abkunft verbarg seine Arbeit, wenn die Not ihn zum Arbeiten zwang. Der Sklave arbeitete unter dem Druck des Gefühls, daß er etwas Verächtliches tue – das „Tun“ selber war etwas Verächtliches. „Die Vornehmheit und die Ehre sind allein bei otium und bellum“: so klang die Stimme des antiken Vorurteils!

Grundgesetze der sozialistischen Gesellschaft (1883) August Bebel Indem die Gesellschaft nunmehr sich im alleinigen Besitz aller Arbeitsmittel befindet, aber die Befriedigung von Bedürfnissen ohne entsprechende Arbeitsleistung nicht möglich ist, auch kein Gesunder und Arbeitsfähiger das Recht hat zu verlangen, dass ein anderer für ihn arbeite, so ist die gleiche Arbeitspflicht Aller ohne Unterschied des Geschlechts, das erste Grundgesetz der sozialisirten Gesellschaft. Die Behauptung böswilliger Gegner, die Sozialisten wollten nicht arbeiten, wollten wo möglich die Arbeit abschaffen – ein Unsinn in sich – fällt auf sie selbst zurück. Faullenzer sind nur möglich, wo andere für sie arbeiten. Dieser famose Zustand besteht heute und zwar vorzugsweise zu Gunsten der schlimmsten Gegner der Sozialisten. Letztere stellen den Grundsatz auf: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Allein die Arbeit soll nicht nur Arbeit, d. h. Thätigkeit an sich sein, sondern auch nützliche, produktive Arbeit. Die neue Gesellschaft verlangt also, dass Jeder eine bestimmte industrielle, gewerbliche, ackerbauliche Thätigkeit ergreife, worin er ein bestimmtes Produktenquantum zur Befriedigung vorhandener Bedürfnisse schaffen hilft. Ohne Arbeit kein Genuss, keine Arbeit ohne Genuss. Aber indem alle verpflichtet sind zu arbeiten, haben alle auch das gleiche Interesse, drei Bedingungen bei der Arbeit zu erreichen. Erstens: dass die Arbeit mässig sei, keinen überanstrenge und sich in der Zeit nicht zu sehr ausdehne; zweitens, dass die Arbeit möglichst angenehm sei und möglichst Abwechselung biete; drittens, dass sie möglichst ergiebig sei, weil davon hauptsächlich das Maass des Genusses abhängt. Alle drei Bedingungen hängen von der Art und der Menge der zur Verfügung stehenden Produktivkräfte ab und von den Ansprüchen, welche die Gesellschaft an ihre Lebenshaltung macht. Da die sozialistische Gesellschaft sich nicht bildet, um proletarisch zu leben, sondern um die proletarische Lebensweise der Mehrzahl der Menschen abzuschaffen und Jedem ein möglichst hohes Maass von Lebensannehmlichkeiten zu ermöglichen, so entsteht die Frage, wie hoch stellt die Gesellschaft durchschnittlich ihre Ansprüche? Um dies festzustellen, ist die Einrichtung einer Verwaltung, die alle Thätig­ keitsgebiete der Gesellschaft umfasst, nothwendig. Die einzelnen Kommunen bilden hierzu eine zweckmässige Grundlage, und wo dieselben so gross sind, dass sie die Detailübersicht erschweren, wird man sie in Bezirke theilen.

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August Bebel

Sämmtliche mündige Kommuneangehörige ohne Unterschied des Geschlechts nehmen an den bezüglichen Wahlen theil und bestimmen die Vertrauenspersonen, welche die Verwaltung zu leiten haben. An der Spitze sämmtlicher Lokalverwaltungen steht die Zentralverwaltung – wohlgemerkt keine Regierung mit herrschender Gewalt – nur eine leitende Verwaltung. Ob diese Zentralverwaltung direkt durch die Gesammtheit oder durch die Kommuneverwaltungen ernannt wird, interessirt nicht, hat heute auch Niemand zu bestimmen. Man wird all dergleichen Fragen ziemlich wenig Bedeutung beilegen, denn es handelt sich nicht um die Besetzung von Posten, die besondere Ehre, grössere Gewalt und höheres Einkommen einbringen, sondern um Vertrauensposten, wozu man die Brauchbarsten, ob Mann, ob Frau, nimmt, die man entlässt und wieder wählt, wie es das Bedürfniss und die Stimmung der Wählenden mit sich bringt. Es sind Posten, die von Jedem nur auf Zeit eingenommen werden. Eine besondere „Beamtenqualität“ haben also die Inhaber dieser Stellen nicht, denn es fehlt die Eigenschaft dauernder Funktion und die Möglichkeit des Avancements. Eine hierarchische Ordnung existirt überhaupt nicht. Aus den schon erörterten Gesichtspunkten ist auch die Frage gleichgültig, ob zwischen der Zentralverwaltung und den Lokalverwaltungen Zwischenstufen, etwa Provinzialverwaltungen, stehen sollen. Hält man sie für nöthig, richtet man sie ein, sind sie nicht nöthig, lässt man sie sein. Das praktische Bedürfniss entscheidet. Haben Fortschritte in der Entwickelung alte Organisationen überflüssig gemacht, so schafft man sie ohne Sang und Klang und ohne grossen Streit ab, da kein persönliches Interesse vorhanden ist, und richtet ebenso leicht neue ein. Man sieht, diese Verwaltung ist von der heutigen himmelweit verschieden. Welcher Kampf in den Zeitungen, welches Zungengefecht in unsern Parlamenten, welche Aktenstösse in unsern Kanzleien um eine geringfügige Aenderung in der Verwaltung. Die Hauptsache ist nun, die Zahl und die Art der verfügbaren Kräfte festzustellen, die Zahl und Art der Arbeitsmittel: Fabriken, Werkstätten, des Grund und Bodens etc. und ihre bisherige Leistungsfähigkeit, dann die Vorräthe, das Bedürfniss in den verschiedensten Lebensmitteln auf den Durchschnittsbedarf der Bevölkerung zu berechnen. Bei allen diesen Dingen spielt also die Statistik die Hauptrolle; sie wird die wichtigste Hilfswissenschaft in der neuen Gesellschaft, weil sie das Maass für alle gesellschaftliche Thätigkeit liefert. Die Statistik wird bereits heute für ähnliche Zwecke umfassend angewandt. Die Reichs-, Staats-, Kommunalbudgets basiren auf einer grossen Zahl statistischer Erhebungen, die in den einzelnen Verwaltungszweigen alljährlich aufgenommen werden. Längere Erfahrungen und eine gewisse Stabilität in den laufenden Bedürfnissen erleichtern sie. Auch jeder Unternehmer einer grösseren Fabrik, jeder Kaufmann ist unter normalen Verhältnissen im

Grundgesetze der sozialistischen Gesellschaft

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Stande, genau bestimmen zu können, was er für das kommende Vierteljahr für Bedürfnisse hat, und in welcher Art er seine Produktion und seine Einkäufe einrichten muss. Treten nicht Aenderungen excessiver Art ein, so kann er denselben leicht und ohne Mühe gerecht werden. Die Erfahrung, dass die Krisen durch die blinde Produktion, d. h. weil ohne Kenntniss der Vorräthe, des Absatzes und Bedarfs in den verschiedenen Artikeln auf dem Weltmarkt erzeugt werden, hat z. B. schon seit Jahren die Eisenproduzenten in verschiedenen Ländern veranlasst, sich zu vereinigen, eine genaue Statistik ihrer Vorräthe, ihrer Produktionsfähigkeit und des wahrscheinlichen Absatzes aufzustellen und darnach zu bestimmen, wie viel jede einzelne Unternehmung für die nächsten Monate erzeugen lassen dürfe. Uebertretung wird mit hoher Konventionalstrafe und Aechtung belegt. Die Unternehmer schliessen diese Verträge, um sich vor Schaden zu bewahren, aber ohne Rücksicht auf ihre Arbeiter, die bald kürzere, bald längere Zeit arbeiten müssen. Ebenso besitzt bereits heute der Handel umfassende Statistiken. Allwöchentlich liefern die grösseren Handels­ und Hafenplätze Uebersichten über die Vorräthe an Petroleum, Kaffee, Baumwolle, Zucker, Getreide etc., Statistiken, die häufig allerdings ungenau sind, weil die Waarenbesitzer oft ein persönliches Interesse haben, die Wahrheit nicht bekannt werden zu lassen. Aber im Ganzen treffen sie doch ziemlich sicher zu und geben dem Interessenten einen Ueberblick, wie der Markt in der nächsten Zeit sich gestalten wird. Ebenso haben alle vorgeschritteneren Staaten bereits mit der Aufstellung von Erntestatistiken begonnen, und kann man, wenn man weiss, wie viel Ackerland mit einer bestimmten Frucht bestellt wurde, den Durchschnittsertrag der Ernte und nach dem wahrscheinlichen Ernteausfall ziemlich genau die Preise berechnen. Da aber in einer sozialisirten Gesellschaft die Verhältnisse weit geordneter sind, alles nur nach Plan und Ordnung vor sich geht, die ganze Gesellschaft organisirt ist, so ist also die Feststellung des Maasses der verschiedenen Bedürfnisse sehr leicht, und wenn erst einige Erfahrung vorliegt, vollzieht sich das Ganze spielend. Die nach Umständen und nach Arbeitsgebieten in verschiedenen Perioden aufzustellenden Bedarfsstatistiken in Vergleich gestellt zu der vorhandenen Leistungsfähigkeit der Gesellschaft ergiebt das Durchschnittsmaass für die tägliche und gesellschaftlich nothwendige Arbeitszeit. Der Einzelne entscheidet selbst, in welcher Thätigkeit er sich beschäftigen will, die grosse Zahl der verschiedensten Arbeitsgebiete trägt den verschie­ densten Wünschen Rechnung. Stellt sich auf dem einen Gebiet ein Ueberschuss, auf dem andern ein Mangel an Kräften heraus, so hat die Verwaltung die Arrangements zu treffen und einen Ausgleich herbeizuführen.

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August Bebel

In dem Maasse, wie alle Kräfte gegenseitig sich einarbeiten, geht das Räderwerk immer glatter. Die einzelnen Arbeitszweige und Abtheilungen wählen ihre Ordner, welche die Leitung zu übernehmen haben. Das sind keine Zuchtmeister wie die meisten heutigen Arbeitsinspektoren, Werkführer, sondern einfache Genossen, welche die ihnen übertragene verwaltende Funktion an Stelle einer produzirenden ausüben. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass bei vorgeschrittenerer Organisation und bei höherer Durchbildung aller Glieder diese Funktionen einfach alternirende werden, die in gewissen Zwischenräumen nach einem bestimmten Turnus alle Betheiligten ohne Unterschied des Geschlechts übernehmen. Dass eine solche auf voller Freiheit und demokratischster Gleichheit organisirte Arbeit, wo Einer für Alle, Alle für Einen stehen, das höchste Gefühl der Solidarität erweckt, einen Geist freudiger Schaffenslust und einen Wetteifer erzeugt, wie er in dem heutigen Wirthschaftssystem nie und nirgends zu finden ist, leuchtet ein. Und dieser Geist wirkt auch wieder auf die Produktivität der Arbeit und die Vervollkommnung des Produkts.

Der Sozialismus und die Seele des Menschen (1891) Oscar Wilde Wenn nun der Staat nicht zu regieren hat, kann gefragt werden, was er zu tun hat. Der Staat wird eine freiwillige Vereinigung sein, die die Arbeit organisiert und der Fabrikant und Verteiler der notwendigen Güter ist. Der Staat hat das Nützliche zu tun. Das Individuum hat das Schöne zu tun. Und da ich das Wort Arbeit gebraucht habe, will ich nicht unterlassen zu bemerken, daß heutzutage sehr viel Unsinn über die Würde der körperlichen Arbeit geschrieben und gesprochen wird. An der körperlichen Arbeit ist ganz und gar nichts notwendig Würdevolles, und meistens ist sie ganz und gar entwürdigend. Es ist geistig und moralisch genommen schimpflich für den Menschen, irgendetwas zu tun, was ihm keine Freude macht, und viele Formen der Arbeit sind ganz freudlose Beschäftigungen und sollten dafür gehalten werden. Einen kotigen Straßenübergang bei scharfem Ostwind acht Stunden im Tag zu fegen ist eine widerwärtige Beschäftigung. Ihn mit geistiger, moralischer oder körperlicher Würde zu fegen scheint mir unmöglich. Ihn freudig zu fegen wäre schauderhaft. Der Mensch ist zu etwas Besserem da, als Schmutz zu entfernen. Alle Arbeit dieser Art müßte von einer Maschine besorgt werden. Und ich zweifle nicht, daß es so kommen wird. Bis jetzt war der Mensch bis zu gewissem Grade der Sklave der Maschine, und es liegt etwas Tragisches in der Tatsache, daß der Mensch, sowie er eine Maschine erfunden hatte, die ihm seine Arbeit abnahm, Not zu leiden begann. Das kommt indessen natürlich von unserer Eigentums-und Konkurrenzwirtschaft. Ein einzelner ist der Eigentümer einer Maschine, die die Arbeit von fünfhundert Menschen tut. Fünfhundert Menschen sind infolgedessen beschäftigungslos; und da man ihre Arbeit nicht braucht, sind sie dem Hunger preisgegeben und legen sich auf den Diebstahl. Der einzelne eignet sich das Produkt der Maschine an und behält es und hat fünfhundertmal soviel als er haben sollte, und wahrscheinlich, was viel wichtiger ist, bedeutend mehr, als er tatsächlich braucht. Wäre diese Maschine das Eigentum aller, so hätte jedermann Nutzen davon. Sie wäre der Gemeinschaft von größtem Vorteil. Jede rein mechanische, jede eintönige und dumpfe Arbeit, jede Arbeit, die mit widerlichen Dingen zu tun hat und den Menschen in abstoßende Situationen zwingt, muß von der Maschine getan werden. Die Maschine muß für uns in den Kohlengruben arbeiten und gewisse hygienische Dienste tun und Schiffsheizer sein und die Straßen reinigen und

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Oscar Wilde

an Regentagen Botendienste tun und muß alles tun, was unangenehm ist. Jetzt verdrängt die Maschine den Menschen. Unter richtigen Zuständen wird sie ihm dienen. Es ist durchaus kein Zweifel, daß das die Zukunft der Maschine ist, und ebenso wie die Bäume wachsen, während der Landwirt schläft, so wird die Maschine, während die Menschheit sich der Freude oder edler Muße hingibt – Muße, nicht Arbeit, ist das Ziel des Menschen – oder schöne Dinge schafft oder schöne Dinge liest oder einfach die Welt mit bewundernden und genießenden Blicken umfängt, alle notwendige und unangenehme Arbeit verrichten. Es steht so, daß die Kultur Sklaven braucht. Darin hatten die Griechen ganz recht. Wenn es keine Sklaven gibt, die die widerwärtige, abstoßende und langweilige Arbeit verrichten, wird Kultur und Beschaulichkeit fast unmöglich. Die Sklaverei von Menschen ist ungerecht, unsicher und entsittlichend. Von mechanischen Sklaven, von der Sklaverei der Maschine hängt die Zukunft der Welt ab. Und wenn gebildete und gelehrte Männer es nicht länger nötig haben, in ein fürchterliches Armenviertel hinabzusteigen und schlechten Kakao und noch schlechtere Decken an halbverhungerte Menschen zu verteilen, so werden sie eben köstliche Muße haben, wundervolle und herrliche Dinge zu ihrer eigenen und aller andern Freude zu ersinnen. Es wird große Kraftstationen für jede Stadt und, wenn nötig, für jedes Haus geben, und diese Kraft wird der Mensch je nach Bedarf in Wärme, Licht oder Bewegung verwandeln. Ist dies utopisch? Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick, denn sie läßt die eine Küste aus, wo die Menschheit ewig landen wird. Und wenn die Menschheit da angelangt ist, hält sie Umschau nach einem besseren Land und richtet ihre Segel dahin. Der Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.

Rede an die Jugend (1893) Emile Zola Ich hatte nur einen Glauben, eine Kraft: die Arbeit. Mich hielt nur jene ungeheure Arbeit aufrecht, die ich mir aufgetragen hatte. […] Die Arbeit, von der ich zu Ihnen spreche, ist eine regelmäßige Arbeit, eine Lektion, eine Pflicht, die ich mir gestellt habe, um in meinem Werk täglich, wenn auch nur um einen Schritt, vorwärts zu kommen. […] Arbeit! Gedenken Sie, meine Herren, daß sie das einzige Gesetz der Welt ausmacht. Das Leben hat keinen anderen Zweck, keinen anderen Existenzgrund, wir alle entstehen nur dazu, um unseren Anteil an der Arbeit zu verrichten und dann zu verschwinden. Das Leben ist nur jene Bewegung, die es erhält und die es weitergibt: das heißt Arbeit, Arbeit am großen, endgültigen Werk, bis zum Ende aller Zeiten. Sollten wir angesichts dieser Arbeit nicht bescheiden sein, die individuelle Aufgabe, die jeder von uns zu erfüllen hat, akzeptieren, ohne zu revoltieren, ohne dem Egoismus zu verfallen, der nur sich sieht und sich nicht unterordnen will? Sobald man diese Pflicht akzeptiert und erfüllt hat, macht sich selbst bei höchst unruhigen Geistern eine große Ruhe bemerkbar. Ich weiß, daß es Leute gibt, die das Unendliche verwirrt, die am Mysterium leiden; ich wende mich brüderlich an sie und rate ihnen, ihr Leben mit einer so großen Arbeit zu füllen, daß Sie deren Ende möglichst nicht absehen können. Sie wäre ein Wegweiser, der es ihnen ermöglicht, geradeaus zu gehen, sie böte Zerstreuung in jedem Augenblick, sie stellte das Korn dar, das die Intelligenz mahlen und aus dem sie ihr tägliches Brot machen sollte, voller Befriedigung, ihre Pflicht erfüllt zu haben. Natürlich wird damit kein metaphysisches Problem gelöst, doch es ist ein praktisches Mittel, anständig und vergleichsweise ruhig zu leben. Doch ist es gering zu schätzen, moralisch und physisch gesund zu sein und der Gefahr des Träumens zu entrinnen, indem man die Frage nach dem höchstmöglichen irdischen Glück mit Arbeit beantwortet? Ich muß zugeben, daß ich mich immer vor Chimären gehütet habe. Nichts ist für Einzelne wie für Völker ungesunder als die Illusion: sie verhindert Anstrengungen, macht blind, ist die Eitelkeit der Schwachen. In einer Legende zu leben, sich über die Realität hinwegzutäuschen, zu glauben, es reiche, die Macht zu träumen, um stark zu sein: wir haben nur zu gut sehen müssen, zu welchem Desaster dies führt. Man rät den Völkern, gen Himmel zu blicken, an ein höheres Wesen zu glauben, sich für ein Ideal zu begeistern. Nein, nein!

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Emile Zola

Das ist eine Sprache, die mir fast gottlos erscheint. Nur jenes Volk ist stark, das arbeitet, nur die Arbeit gibt Glauben und Kraft. Wenn man siegen will, müssen die Arsenale voll, die Bewaffnung so kraftvoll und perfektioniert wie möglich, die Armee hervorragend ausgebildet und voller Vertrauen in ihre Führer und sich selbst sein. All das ist möglich, man benötigt nur Willenskraft und Methode. Man sei davon überzeugt: Das kommende Jahrhundert, die unbegrenzte Zukunft gehört der Arbeit. Sieht man nicht schon im aufstrebenden Sozialismus jenes künftige soziale Gesetz, ein Gesetz der Arbeit für alle, einer Arbeit, die frei macht und Frieden schafft? O Jugend, mach Dich ans Werk: Jeder von Euch sollte seine Pflicht tun, eine Aufgabe übernehmen, die sein Leben erfüllt. Auch wenn sie nur bescheiden ist, muß sie nicht weniger nützlich sein. Egal welche Arbeit, wenn sie nur getan wird und Euch aufrecht erhält. Wenn Ihr sie vollbracht habt, ohne Übertreibung, aber täglich, wird sie Euch mit einem gesunden und frohen Leben belohnen und von der Qual des Unendlichen frei machen. Welch gesunde und große Gesellschaft, in der jeder seinen vernunftgemäßen Teil der Arbeit beisteuert! Ein Mensch, der arbeitet, ist immer gut. Ich bin überzeugt, der einzige Glaube, der uns retten kann, ist jener an die Effizienz vollbrachter Anstrengungen. Gewiß ist es schön, von der Ewigkeit zu träumen. Doch dem wahren Menschen ist es genug, gelebt und seine Arbeit getan zu haben.

Reich der Notwendigkeit und Reich der Freiheit (1894) Karl Marx Der wirkliche Reichtum der Gesellschaft und die Möglichkeit beständiger Erweiterung ihres Reproduktionsprozesses hängt […] nicht ab von der Länge der Mehrarbeit, sondern von ihrer Produktivität und von den mehr oder minder reichhaltigen Produktionsbedingungen, worin sie sich vollzieht. Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.

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Die Befreiung von der Arbeit und die konservative Einstellung (1899) Thorstein Veblen Die Beziehung der müßigen (also der wohlhabenden, nichtarbeitenden) Klasse zum Wirtschaftsprozeß ist finanzieller Natur, das heißt, sie ist durch Erwerb und nicht durch Produktion, durch Ausbeutung und nicht durch Nutzen gekennzeichnet. Die Funktion der müßigen Klasse wie auch der Industriekapitäne kann natürlich indirekt trotzdem von größter Wichtigkeit für das Wirtschaftsleben sein, und es liegt keineswegs in unserer Absicht, sie in irgendeiner Weise herabzuwürdigen. Wir wollen einzig die Natur der Beziehung beschreiben, die diese Klasse zum Arbeitsprozeß und zu den wirtschaftlichen Institutionen unterhält. Ihre Funktion ist parasitär, und ihr Interesse besteht darin, von den vorhandenen Mitteln soviel als möglich für den eigenen Nutzen abzuzweigen und alles zu behalten, was einmal unter ihre Kontrolle gelangt ist. Die Konventionen der Geschäftswelt sind unter dem Einfluß dieses räuberischen oder parasitären Prinzips entstanden. Es handelt sich dabei um Konventionen, die das Eigentum betreffen, um mehr oder weniger entfernte Ableitungen und Übernahmen aus der alten räuberischen Kultur. Dank diesem fernen Ursprung genügen sie der modernen Situation natürlich nicht mehr, ja, selbst für finanzielle Zwecke sind sie nicht so vortrefflich geeignet, wie es wünschenswert erscheinen möchte. Das veränderte industrielle Leben erfordert eben auch andere Erwerbsmethoden, und die reichen Klassen haben daher ein Interesse daran, die finanziellen Institutionen in der Weise anzupassen, daß sie den größtmöglichen privaten Gewinn abwerfen, einen Gewinn, der allerdings die Fortdauer des Arbeitsprozesses – aus dem er ja stammt – nicht gefährden darf. Daher läßt sich in der unter dem Einfluß der müßigen Klasse stehenden institutionellen Entwicklung eine mehr oder weniger konsequente Tendenz feststellen, die den finanziellen Zielen entgegenkommt, welche das Wirtschaftsleben der Oberklasse bestimmen. Wie sich das finanzielle Interesse und das Denken in Begriffen von Geld auf die Entwicklung der Institutionen auswirken, läßt sich aus Gesetzen und Verordnungen ablesen, die das Eigentum garantieren, Verträge sichern, finanzielle Transaktionen erleichtern und rechtmäßig erworbene Interessen schützen; ferner aus den Bestimmungen über den Bankrott und den Steuereinzug, die beschränkte Haftung, Bankgeschäfte und Währung, Zusammenschlüsse

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Die Befreiung von der Arbeit

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zwischen Arbeitnehmern oder Arbeitgebern, Trusts und Pools. Die Institutionen dieser Art sind nur für die wohlhabenden Klassen von unmittelbarem Interesse, und dieses Interesse verhält sich bei den Mitgliedern dieser Klasse ungefähr proportional zur Höhe des jeweiligen Besitzes, mit anderen Worten proportional zur gesellschaftlichen Stellung. Doch mittelbar besitzen diese geschäftlichen Konventionen auch schwerwiegende Folgen für den Arbeitsprozeß und das Leben der gesamten Gesellschaft. Indem die wohlhabenden Klassen die institutionelle Entwicklung in der genannten Hinsicht bestimmen, spielen sie eine für die Gesellschaft außerordentlich wichtige Rolle, und zwar nicht nur insofern, als sie versuchen, die herrschende Lebensweise zu bewahren, sondern auch insofern, als sie den Arbeitsprozeß recht eigentlich prägen und formen. Veränderungen und Verbesserungen der institutionalisierten Struktur der geschäftlichen und finanziellen Konventionen verfolgen zunächst unmittelbar das Ziel, die friedliche und geordnete Ausbeutung zu erleichtern; darin aber erschöpft sich ihre Wirkung bei weitem nicht. Die Erleichterungen bei der Führung von Geschäften verhindern nämlich nicht nur Störungen im Arbeitsprozeß und im Leben außerhalb des Arbeitsplatzes, sondern das allmähliche Verschwinden solcher Störungen und Komplikationen – die zu beheben einst Verschlagenheit und eine genaue Kenntnis der Verhältnisse und Umstände voraussetzte – macht mit der Zeit die reiche Klasse selbst überflüssig. Wenn die finanziellen Transaktionen zur Routine werden, benötigt man keine Industriekapitäne mehr. Daß dieses Ergebnis noch der Zukunft angehört, braucht wohl kaum betont zu werden. Die in den modernen Institutionen zugunsten des finanziellen Interesses vorgenommenen Verbesserungen neigen ferner dazu, die „seelenlose“ Aktiengesellschaft an die Stelle des Industriekapitäns zu setzen, wodurch auch von dieser Seite her die große Funktion der müßigen Klasse, nämlich der Besitz, überflüssig wird. Die Richtung, in welche die müßige Klasse die Entwicklung der wirtschaftlichen Institutionen gedrängt hat, besitzt damit indirekt eine große Bedeutung für die Industrie.

Die Abwegigkeit des sozialistischen Ideals (1900) Lew Tolstoi Selbst wenn man die eindeutig unwahre und allen Eigenschaften der menschlichen Natur widersprechende Behauptung einmal gelten ließe, es sei für die Menschen besser, in Fabriken und Städten zu wohnen und unter Zwang an der Maschine zu arbeiten, statt auf dem Lande freie Handarbeit zu leisten, selbst wenn man das also gelten ließe, so enthält doch das Ideal, dem uns der Lehre der Wissenschaftler zufolge die ökonomische Entwicklung entgegenführt, einen inneren Widerspruch, der sich beim besten Willen nicht lösen läßt. Dieses Ideal besteht darin, daß die Arbeiter, zu Herren aller Produktionswerkzeuge geworden, in den Genuß all der Bequemlichkeiten und Vergnügungen gelangen, die jetzt allein den Wohlhabenden vorbehalten sind. Alle werden sich gut kleiden, gut wohnen, gut essen, alle werden bei elektrischer Beleuchtung durch asphaltierte Straßen laufen, Konzerte und Theater besuchen, Zeitungen und Bücher lesen, Auto fahren und dergleichen mehr. Doch wenn alle Menschen in den Genuß bestimmter Gegenstände kommen sollen, muß die Produktion der erwünschten Gegenstände geplant, muß also festgelegt werden, wie lange jeder Arbeiter arbeiten muß: Wie soll das festgelegt werden? Statistische Angaben können (und auch das nur sehr unvollkommen) die Bedürfnisse der Menschen in einer von Kapitalismus, Konkurrenzzwang und Not beherrschten Gesellschaft bestimmen; aber keinerlei statistische Angaben lassen erkennen, wie viele und welche Gegenstände erforderlich sind, um die Bedürfnisse der Menschen in einer Gesellschaft zu befriedigen, in der die Produktionswerkzeuge der Gesellschaft selbst gehören, das heißt dort, wo die Menschen frei sein werden. Dies läßt sich in einer solchen Gesellschaft deswegen nicht bestimmen, weil die Bedürfnisse in einer solchen Gesellschaft die Möglichkeiten zu ihrer Befriedigung immer um ein vielfaches übersteigen. Jeder wird all das haben wollen, was heute die Reichsten besitzen, und deswegen ist es völlig unmöglich, die Menge der für eine solche Gesellschaft benötigten Gegenstände vorauszusagen. Wie will man außerdem die Menschen dazu bringen, Gegenstände herzustellen, welche die einen als nötig, die anderen aber als unnötig oder sogar schädlich betrachten? Hat man beispielsweise ermittelt, daß zur Befriedigung der Bedürfnisse der Gesellschaft jeder mindestens sechs Stunden täglich arbeiten muß, wer will dann in einer freien Gesellschaft jemanden zu diesen

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Die Abwegigkeit des sozialistischen Ideals

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sechs Stunden Arbeit zwingen, wenn der Betreffende weiß, daß ein Teil dieser Stunden zur Herstellung von Gegenständen verwendet wird, die er als unnötig oder sogar schädlich betrachtet? Es steht außer Zweifel, daß bei der jetzigen Einrichtung der Gesellschaft dank der maschinellen Arbeit und vor allem dank der Arbeitsteilung mit großer Ökonomie der Kräfte außerordentlich komplizierte und den höchsten Grad der Vollkommenheit aufweisende Gegenstände zur unterschiedlichsten Verwendung hergestellt werden, deren Produktion für den Hersteller vorteilhaft ist und die zu verwenden wir als höchst bequem und angenehm empfinden. Doch daß diese Gegenstände gut gemacht und mit geringem Kräfteverschleiß hergestellt werden, daß sie dem Kapitalisten Vorteil bringen und wir sie als notwendig betrachten, beweist noch nicht, daß freie Menschen ohne Zwang diese Gegenstände auch weiterhin herstellen würden. Es besteht kein Zweifel, daß Krupp bei der jetzigen Arbeitsteilung sehr schnell und sehr kunstreich wundervolle Kanonen herstellt, daß N.N. sehr schnell und sehr kunstreich bunte Seidenstoffe produziert, daß S.S.  teure  Parfüms, Glanzkärtchen und Gesichtspuder und Popow köstlichen Wodka und dergleichen liefern und daß dies sowohl für die Konsumenten dieser Gegenstände wie auch für die Besitzer der Unternehmen, wo sie hergestellt werden, sehr vorteilhaft ist. Allein nach Kanonen und Parfüms und Wodka werden diejenigen verlangen, die die chinesischen Märkte beherrschen wollen oder die gern Wodka trinken oder Gesichtspflege treiben, es wird jedoch Leute geben, die die Produktion solcher Gegenstände als schädlich betrachten. Aber ganz abgesehen von solchen Gegenständen, es werden sich auch immer Menschen finden, die meinen, daß Ausstellungen, Aktfiguren, Bier und Fleisch nicht notwendig und sogar schädlich sind. Wie will man diese Menschen veranlassen, sich an der Herstellung solcher Gegenstände zu beteiligen? Doch selbst wenn man ein Mittel fände, alle dazu zu bringen, freiwillig bestimmte Gegenstände herzustellen – obwohl es, außer dem Zwang, ein sol­ ches Mittel nicht gibt: Wer soll in einer freien Gesellschaft, ohne kapitalistische Produktion, ohne die Konkurrenz von Angebot und Nachfrage, bestimmen, für welche Gegenstände die Kräfte in erster Linie eingesetzt werden? Wer als erster, wer als zweiter arbeiten soll? Ob erst die sibirische Eisenbahn gebaut und Port Arthur befestigt, der Straßenbau in den Landkreisen dagegen erst danach in Angriff genommen werden soll oder umgekehrt? Was ist vorrangig: die elektrische Beleuchtung oder die Bewässerung der Felder? Und dann gibt es noch eine Frage, die nicht gelöst werden kann, wenn die Arbeiter frei sind: Wer wird welche Arbeit tun? Denn gewiß werden alle lieber Heu mähen oder zeichnen als die Arbeit eines Heizers oder Kloakenreinigers übernehmen. Wie will man bei der Verteilung der Arbeiten die Menschen unter einen Hut

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Lew Tolstoi

bringen? Auf all diese Fragen können statistische Daten keine Antwort geben. Nur eine theoretische Lösung ist möglich, das heißt, es wird Menschen geben, welche die Macht haben, all das anzuordnen. Die einen werden sich mit der Lösung dieser Fragen befassen, die anderen werden sich ihnen unterordnen. Doch abgesehen von der Frage der Planung und Lenkung der Produktion und der Wahl der Arbeit bei der Vergesellschaftung der Produktionswerkzeuge gibt es noch eine weitere, die allerwichtigste Frage – den Grad der Arbeitsteilung, der in einer sozialistisch organisierten Gesellschaft festgelegt werden kann. Die heutige Arbeitsteilung ist durch die Notlage der Arbeiter bedingt. Der Arbeiter willigt ein, sein ganzes Leben lang unter der Erde zu arbeiten oder sein ganzes Leben lang den hundertsten Teil eines Gegenstandes herzustellen, sein ganzes Leben lang inmitten dröhnender Maschinen immer wieder die gleiche Armbewegung zu machen, nur weil er anders seinen Lebensunterhalt nicht finden kann. Ein Arbeiter jedoch, der Besitzer von Produktionswerkzeugen ist und daher keine Not leidet, kann nur durch Zwang dazu gebracht werden, die abstumpfenden und alle seelischen Fähigkeiten abtötenden Bedingungen der Arbeitsteilung auf sich zu nehmen, unter denen die Menschen heute arbeiten. Arbeitsteilung ist für die Menschen zweifelsohne sehr vorteilhaft und entspricht ihrem Wesen, doch wenn die Menschen frei sind, ist Arbeitsteilung nur bis zu einem gewissen, nicht sehr hohen Grade möglich, der in unserer Gesellschaft schon weit überschritten ist. Wenn ein Bauer vorwiegend Schuhe herstellt und seine Frau Stoffe webt, ein anderer Bauer den Acker pflügt und ein dritter als Schmied arbeitet, wenn alle in ihrer Arbeit eine außerordentliche Geschicklichkeit erreichen und sie ihre Erzeugnisse dann tauschen, ist eine solche Arbeitsteilung für alle vorteilhaft, und freie Menschen werden ihre Arbeit selbstverständlich in dieser Weise teilen. Aber eine Arbeitsteilung, bei der einer sein Leben lang den hundertsten Teil einer Gegenstandes herstellt oder als Heizer in einer Fabrik bei fünfzig Grad Hitze arbeiten oder schädliche Gase einatmen muß – eine solche Arbeitsteilung ist für die Menschen nicht von Vorteil, denn sie dient der Erzeugung wertloser Gegenstände und vernichtet das wertvollste Gut, das Leben des Menschen. Daher kann eine Arbeitsteilung, wie sie heute besteht, nur unter Bedingungen des Zwangs existieren. Rodbertus erklärt, Arbeitsteilung verbinde die Menschen zum Kommunismus. Das stimmt, aber nur freie Arbeitsteilung verbindet die Menschheit, also eine solche, bei der die Menschen ihre Arbeit freiwillig teilen. Wenn Menschen beschlossen haben, eine Straße zu bauen, und der eine Erde schaufelt, der andere Steine fährt, der dritte die Steine zerkleinert und so weiter, dann verbindet eine solche Arbeitsteilung die Menschen. Wenn jedoch, ohne daß die Arbeiter es wünschen und bisweilen sogar gegen ihren Wunsch,

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eine strategische Eisenbahnlinie gebaut wird oder ein Eiffelturm oder all der Humbug, mit dem die Pariser Ausstellung angefüllt ist, und der eine Arbeiter Eisenerz fördern, der zweite Kohlen heranfahren, der dritte das Eisenerz schmelzen und der vierte Bäume fällen und sie behauen muß und keiner auch nur die geringste Vorstellung vom Verwendungszweck der jeweiligen Gegenstände hat, dann verbindet eine solche Arbeitsteilung die Arbeiter nicht nur nicht, sondern im Gegenteil, sie trennt sie. Daher werden die Menschen, wenn sie frei sind, bei der Vergesellschaftung der Arbeitswerkzeuge nur eine Arbeitsteilung akzeptieren, bei welcher der Segen dieser Teilung größer ist als das Unheil, das sie dem Arbeiter zufügt. Und da jeder Mensch natürlicherweise Ausweitung und Abwechslungsreichtum seiner Tätigkeit als segensreich betrachtet, ist die heute herrschende Arbeitsteilung in einer freien Gesellschaft selbstverständlich undenkbar. Sobald jedoch die heutige Arbeitsteilung geändert werden sollte, würde – und zwar in sehr hohem Grade – die Produktion jener Gegenstände sinken, die wir jetzt beanspruchen und die (angenommen, es handle sich um einen sozialistischen Staat) dann von der gesamten Gesellschaft beansprucht werden. Anzunehmen, bei einer Vergesellschaftung der Produktionswerkzeuge werde auch weiterhin der gleiche Überfluß an Gegenständen herrschen, der ein Ergebnis erzwungener Arbeitsteilung darstellt, ist dasselbe, wie anzunehmen, bei Abschaffung der Leibeigenschaft würde es auch weiterhin alle Hausorchester, alle Parks, Teppiche, Spitzen und Theater geben, die von den Leibeigenen geschaffen wurden. Somit enthält die Annahme, bei einer Verwirklichung des sozialistischen Ideals würden alle Menschen frei sein und gleichzeitig in den Genuß all dessen oder fast all dessen kommen, was heute die wohlhabenden Klassen genießen, einen unverkennbaren inneren Widerspruch.

„Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen!“ (1917) Wladimir Iljitsch Lenin Die Pariser Kommune war ein großes Vorbild dafür, wie Initiative, Selbständigkeit, Freiheit der Bewegung, Schwungkraft von unten mit einem freiwilligen, dem Schablonenhaften fremden Zentralismus verbunden sein können. Unsere Sowjets gehen denselben Weg. Aber sie sind noch „zaghaft“, sie haben noch nicht den richtigen Schwung, haben sich noch nicht in ihre neue, große, schöpferische Arbeit zur Schaffung der sozialistischen Ordnung „hineingekniet“. Die Sowjets müssen mit größerer Kühnheit und Initiative an die Arbeit gehen. Jede „Kommune“ jede beliebige Fabrik, jedes beliebige Dorf, jede beliebige Konsumgenossenschaft, jedes beliebige Versorgungskomitee, sie alle müssen, untereinander im Wettbewerb stehend, als praktische Organisatoren der Rechnungsführung und Kontrolle über die Arbeit und die Verteilung der Produkte auftreten. Das Programm dieser Rechnungsführung und Kontrolle ist einfach, klar, jedem verständlich: Jeder soll Brot haben, alle sollen feste Schuhe und ordentliche Kleidung tragen, eine warme Wohnung haben, gewissenhaft arbeiten; kein einziger Gauner (auch keiner von denen, die sich vor der Arbeit drücken) darf frei herumspazieren, sondern muß im Gefängnis sitzen oder schwerste Zwangsarbeit verrichten; kein einziger Reicher, der die Regeln und Gesetze des Sozialismus verletzt, darf dem Schicksal des Gauners entgehen, das mit Recht das Schicksal des Reichen werden muß. „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen!“ – das ist das praktische Gebot des Sozialismus. Das ist es, was in der Praxis durchgeführt werden muß. Auf solche praktischen Erfolge sollen unsere „Kommunen“ und unsere Organisatoren aus den Reihen der Arbeiter und Bauern und um so mehr aus den Reihen der Intellektuellen stolz sein (um so mehr, weil sie sich zu sehr, allzu sehr daran gewöhnt haben, auf ihre allgemeinen Anweisungen und Resolutionen stolz zu sein). Tausenderlei Formen und Methoden der praktischen Rechnungsführung und Kontrolle über die Reichen, über die Gauner und Müßiggänger müssen von den Kommunen selbst, von den kleinen Zellen in Stadt und Land ausgearbeitet und in der Praxis erprobt werden. Mannigfaltigkeit ist hier eine Bürgschaft für Lebensfähigkeit, Gewähr für die Erreichung des gemeinsamen, einheitlichen Ziels: der Säuberung der russischen Erde von allem Ungeziefer, von den Flöhen – den Gaunern, von den Wanzen – den Reichen usw. usf. An einem Ort wird man zehn Reiche, ein Dutzend Gauner, ein halbes Dutzend

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„Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen!“

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Arbeiter, die sich vor der Arbeit drücken (ebenso flegelhaft wie viele Setzer in Petrograd, besonders in den Parteidruckereien), ins Gefängnis stecken. An einem anderen Ort wird man sie die Klosetts reinigen lassen. An einem dritten Ort wird man ihnen nach Abbüßung ihrer Freiheitsstrafe gelbe Pässe aushändigen, damit das ganze Volk sie bis zu ihrer Besserung als schädliche Elemente überwache. An einem vierten Ort wird man einen von zehn, die sich des Parasitentums schuldig machen, auf der Stelle erschießen. An einem fünften Ort wird man eine Kombination verschiedener Mittel ersinnen und zum Beispiel durch eine bedingte Freilassung eine rasche Besserung jener Elemente unter den Reichen, den bürgerlichen Intellektuellen, den Gaunern und Rowdys erzielen, die der Besserung fähig sind. Je mannigfaltiger, desto besser, desto reicher wird die allgemeine Erfahrung sein, desto sicherer und rascher wird der Erfolg des Sozialismus sein, desto leichter wird die Praxis – denn nur die Praxis ist dazu imstande – die besten Methoden und Mittel des Kampfes herausarbeiten.

Die Faulheit als eigentliche Wahrheit der Menschheit (1921) Kasimir Malewitsch Auf mich persönlich hat es immer einen seltsamen Eindruck gemacht, wenn ich Mißbilligendes zu hören bekomme oder geschrieben sehe über die Wirkung der Faulheit irgendeines Staats- oder Familienmitglieds: „Die Faulheit ist die Mutter allen Lasters“. So hat man oder hat vielmehr die ganze Menschheit, haben alle Völker das Faktum dieser besonderen Form menschlichen Handelns gebrandmarkt. Mir schien es dabei stets, als sei dieser Vorwurf gegen die Faulheit ungerecht. Warum wird die Arbeit so gepriesen und auf den Thron des Ruhmes und Lobpreises gehoben, während man die Faulheit an den Schandpfahl nagelt, die Faulpelze sämtlich mit Schande bedeckt werden und das Brandmal des Lasters, der Mutter der Faulheit, tragen? Jeder Werktätige wird dagegen gelobt, gefeiert und mit Auszeichnungen überhäuft. Es schien mir stets, das alles müßte sich gerade umgekehrt verhalten: Die Arbeit müßte verflucht sein, wie es in den Legenden vom Paradies heißt, und die Faulheit müßte das sein, wonach der Mensch zu streben hat. Im Leben kam jedoch das Gegenteil heraus. Dieses Gegenteil möchte ich erläutern. Da nun jegliche Darlegung den Weg über Anzeichen oder gegebene Zustände macht und jede Darlegung oder Schlußfolgerung von solchen Anzeichen ausgeht, möchte auch ich in meinen Ausführungen anhand der Anzeichen und ihrer Bezüge den Sinn erläutern, der sich im Wort „Faulheit“ verbirgt. […] Das Wort „Faulheit“ als Bezeichnung eines allgemein menschlichen Zustands ist natürlich sehr gefährlich: es gibt für den Menschen nichts Gefährlicheres auf der Welt, man braucht schließlich nur daran zu denken, daß die Faulheit der Tod für das „Sein“ ist, d. h. für den Menschen, der nur in der Produktion, in der Arbeit sein Heil findet. Wenn das ganze Land nicht arbeitet, nähert es sich dem Tod, ja dem ganzen Volke droht der Tod. Daraus wird klar, daß man diesen Zustand als unheildrohenden verfolgen muß, und auch, daß der Mensch, um dem Tode zu entgehen, sich Lebenssysteme ausdenkt, in denen alle arbeiten würden und es keine Faulenzer gäbe. Darum verfolgt das System des Sozialismus, das zum Kommunismus hinführt, alle vor ihm existierenden Systeme, damit die gesamte Menschheit den einen Weg der Arbeit beschreite und kein einziger Nichtarbeitender übrig bleibe. Deshalb lautet auch das grausamste

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aller Gesetze dieses menschlichen Systems: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Der Kapitalismus verfolgt die Faulheit deswegen, weil sie „Faulenzer“ hervorbringt, weil der Rubel unweigerlich zur Faulheit hinführt, und aus demselben Grund erringt der über dem Menschen hängende Fluch Gottes – die Arbeit – in den sozialistischen Systemen den höchsten Segen. Und diesem Segen hat sich jeder unterzuordnen, sonst droht ihm der Hungertod. Das ist also der Sinn, der sich im Arbeiter- und Werktätigensystem verbirgt. Dieser Sinn besteht darin, daß der Mensch in keinem anderen System jemals zu spüren bekäme, wie der Tod der Allgemeinheit naht, und daß er nie erkennen würde, daß in der Produktion nicht nur das Gemeinwohl, sondern auch das Wohl des Einzelnen steckt. Im allgemeinen Werktätigensystem stellt sich der Tod jedem entgegen, jeder hat vor sich die eine Aufgabe: sich durch die Mühe der Produktion zu retten, sonst droht ihm der Hunger. Ein solches sozialistisches System der Arbeit selbst zielt in seinem letztlich unbewußten Wirken auf die Hinführung der gesamten Menschheit zur Arbeit, um die Produktion zu steigern, Sicherheit zu gewährleisten, die Menschheit zu stärken und über die Produktion auf die Fähigkeit, sein „Dasein“ zu legitimieren. Unumstößlich wahr ist letztlich ein (solches) System, das sich nicht nur um den Einzelnen, sondern um die Menschheit insgesamt kümmert. Das kapitalistische System bietet dasselbe Recht und die Freiheit zu arbeiten, auf Banken Geld zu horten, um sich die „Faulheit“ für die Zukunft zu sichern, und darum behauptet es, der Rubel sei das Zeichen, das damit locke, daß es auch in Wirklichkeit die Seligkeit der Faulheit bringe, von der jeder träume. Das ist die wahre Bedeutung des Rubels, denn der Rubel ist selbst nichts anderes als ein Stückchen Faulheit. Wer mehr davon ansammelt, wird auch mehr von der Seligkeit des Faulseins haben. Denkende, um das Volk besorgte Menschen haben natürlich in ihrem Bewußtsein keinen solchen Sinn und Zweck erkannt und waren stets solidarisch mit jenem Begriff der Faulheit, wonach diese die „Mutter allen Lasters“ sei. Im Unbewußten gab es jedoch etwas anderes, nämlich das Bestreben, in der Arbeit alle gleichzumachen, anders gesagt, alle in der Faulheit gleichzumachen. Man will damit etwas erreichen, was im kapitalistischen System nicht erreichbar ist, wobei es aber dem Kapitalismus wie dem Sozialismus um dasselbe geht: nämlich die Erlangung der einen Wahrheit des menschlichen Grundzustands, der Faulheit. In der Tiefe des Unbewußten verbirgt sich eben diese Wahrheit, doch aus irgendwelchen Gründen wird sie bis heute nicht verstanden, und nirgends wird von irgendeinem System der Arbeit die Parole ausgegeben: Die Wahrheit deines Strebens ist der Weg zur Faulheit. Statt dessen gelten überall die Parolen der Arbeit, und so kommt es, daß Arbeit zwingend ist, daß sie zwingend abgeschafft werden muß, und in der Tat streben die sozialistischen

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Systeme zu diesem Ziel durch die Arbeit, und sie werden sie Stunde um Stunde den Menschen von den Schultern nehmen. Je mehr das Volk arbeitet, desto weniger Arbeitsstunden wird es geben – und umso mehr Stunden der Faulheit. Das kapitalistische System hat mit allen Wahrheiten und Unwahrheiten eine Kapitalistenklasse herausgebildet und sich dadurch in der faulen Zeit Glückseligkeit verschafft; da Faulheit aber durch Arbeit gewährleistet wird, hat der kapitalistische Arbeitsorganisationsplan sich ein entsprechendes System geschaffen, das keine Gleichstellung bei Nutzung der „Faulheit“ ermöglicht. Faulheit nutzen kann nur, wer mit Kapital versorgt ist. Folglich hat sich die Kapitalistenklasse von der Arbeit befreit, befreit von dem, wovon sich die ganze Menschheit hätte befreien müssen. Die Kapitalistenklasse betrachtet das Volk insgesamt als arbeitende, werktätige Kraft, genauso wie die sozialistischen Systeme die arbeitende und werktätige Maschine betrachten, und eben deshalb ist auch jeder Kapitalist bestrebt, das arbeitende und werktätige Volk so zu versorgen, daß die nötigen Kräfte in ihm nicht erlahmen; da jedoch das Volk zahlreich ist, wird selbst diese letzte Sorge außer acht gelassen. Der Kampf zwischen den Kapitalisten und den nichtkapitalistischen Systemen besteht deswegen, weil bei einem Sieg der nichtkapitalistischen Systeme eine Gleichstellung in der Arbeit erfolgt und die kapitalistische Klasse dann um ihre glückselige Faulheit kommt. Und eben deshalb erfolgt die Requirierung aller kapitalistischen Betriebe mit dem Ziel, alle Mittel, die der Arbeit wie auch der Faulheit, gleichmäßig zu verteilen. Die sozialistischen Systeme zielen allein auf diese Gleichheit der Arbeit und der Faulheit, und jeder Mensch wacht darüber, daß die Arbeit auch ja gleich verteilt werde. So sind denn die Faulheitsstunden Ergebnisse dieser gleichen Verteilung. Die kapitalistische Klasse betrachtet die Produktion insgesamt als einen Wert, der Kapital gewährleistet, und das Kapital als Zeichen, das Faulheit gewährleistet. Auch das sozialistische, nichtkapitalistische System sieht in der Produktion einen Wert, der die faulen Stunden des Seins gewährleistet. Die Vervollkommnung des letztgenannten Systems führt nicht zur Vervielfachung, sondern zur Verkürzung der Arbeitszeit. Die Herstellung von Produkten wird nur in dem Maß erfolgen, in dem die Menschheit ihrer bedarf. Es darf nichts Überflüssiges, keinerlei Überproduktion geben, denn letztere gibt es nur da, wo man der Gier nachgeht, die oft keinerlei Nutzen bringt. Da aber im sozialistischen System Nützlichkeit etwas Allgemeinmenschliches ist, wird sie auch durch alle Werktätigen in gleichem Maße sichergestellt. Und folglich ist das Machen von Vollkommenheit nicht für den eigenen Nutzen erhältlich. Sie wird nur durch gesellschaftliche Maßnahmen zum Nutzen der Allgemeinheit zu bekommen sein. Tatsächlich läßt sich mit Bezug auf ihre Erfindung sagen, daß jede gemachte Vollkommenheit im Grunde stets den Nutzen für die Menschheit insgesamt im Sinne hatte, doch

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kaum hat der Vervollkommner seine Sache in die Welt gesetzt, ist schon ein Unternehmer da und greift sie auf, verwendet sie zum erstgenannten Zweck, also dem eigenen Nutzen, indem er diejenigen ausbeutet, die diese Sache nicht erwerben konnten. Es wurde die Maschine gemacht. Der Kapitalist setzte sie gleich für seine Zwecke ein: es ergab sich so für ihn die Möglichkeit, die Zahl der arbeitenden Hände zu verringern und sein Kapital zu vergrößern, wobei er die Arbeiter noch ihres letzten Verdienstes beraubte, der im Erhalt von Rubeln als den Zeichen der Faulheit zum Ausdruck gekommen war. Der größere Teil davon verblieb beim Unternehmer. Dem Arbeiter stellte man zur körperlichen Erholung die Feiertage zur Verfügung, während die Unternehmer unbegrenzte Faulheit genießen konnten. Das sozialistische System wird die Maschine noch weiter entwickeln, zu eben diesem Sinn und Zweck. Ihr Sinn besteht darin, die arbeitenden Hände so weit wie möglich von der Arbeit zu befreien, in anderen Worten, das ganze arbeitende Volk oder die gesamte Menschheit zu einem faulen Hausherrn zu machen, der wie der Kapitalist seine Schwielen und seine Arbeit in die Hände des Volkes legt. Die sozialistische Menschheit überantwortet ihre Schwielen und ihren Schweiß den Muskeln der Maschinen und versorgt auch die Maschine mit unendlicher Arbeit, die nicht eine Sekunde Ruhe gibt. In Zukunft muß sich die Maschine frei machen und ihre Arbeit einem anderen Wesen auferlegen, in dem sie sich vom Joch der sozialistischen Gesellschaft befreit und auch sich selbst das Recht auf „Faulheit“ sichert. Alles Lebendige strebt somit nach Faulheit. Andererseits ist die Faulheit der Hauptanreiz zur Arbeit, denn sie ist nur über die Arbeit zu erreichen; auf dem Menschen liegt also offensichtlich ein Fluch in Gestalt der Arbeit, als hätte er sich zuvor immer in einem Zustand der Faulheit befunden. Vielleicht gab es diesen Zustand im allgemeinen Zusammenleben tatsächlich einmal, und vielleicht ist die Legende von der Erschaffung des Paradieses und der Vertreibung des Menschen aus ihm so etwas wie eine undeutliche Vorstellung von einer entweder gewesenen Wirklichkeit oder einem Bild der Zukunft, zu dem der Mensch durch den Fluch der Arbeit kommt. Doch letzteres läßt sich vielleicht noch weitergehend erklären oder vielmehr, der im „weißen Denken“ vom nichtgestürzten Gott entfaltete Gedanke läßt sich noch ergänzen. Jetzt will ich jedoch gleich eine Vermutung anmerken, die ich möglicherweise einmal als Einführung zu einem anderen Gedanken über den Zweck der Arbeit verwendet habe, um sie damit als ganz anderes Mittel herauszubringen. Im Gesellschaftsleben wird vorausgesetzt, daß Arbeit eine allein durch die Freßordnung bedingte simple Notwendigkeit sei, und daß, weil sie nicht das eigentliche Wesen menschlicher Vervollkommnung ausmacht, nach der Arbeit noch Zeit verbleiben müsse, während derer man noch an der Vervollkommnung arbeiten könnte. Diese Art von Vervollkommnung

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hat Wissenschaften und überhaupt jegliche Kenntnis und Selbsterkenntnis der uns umgebenden Welt zur Voraussetzung. Daraus ergibt sich, daß die Verkürzung der Arbeitszeit sich durch das letztere rechtfertigen läßt. Doch zu diesen Vervollkommnungen rechnet man sogar die Erholung: Kunst gilt gemeinhin als Produktion von Erholung. Mir scheint jedoch, daß die letzte Hälfte insgesamt die erste nicht zu rechtfertigen vermag, da alle Wissenschaft und die anderen Wissensgebiete ebenfalls Arbeit sind, einer anderen Dimension zwar, denn diese Dimension betrifft das schöpferische Darstellen, die Freiheit des Wirkens, das freie Experimentieren und Suchen, und darum hat sie auch mehr Gewicht als die nur durch Arbeit geprägte Hälfte, in der es den schöpferischen Akt so gut wie gar nicht gibt: Ihn übernimmt das Fabrikhafte, d. h. das Multiplikations-Prinzip der Dinge, die von der schöpferischen Vervollkommnung zur Vervielfältigung gebracht wurden. Hierin verbirgt sich auch die Ursache dafür, daß der Arbeiter-Werktätige nach anderen Produktionsbereichen strebt, in denen er sich frei von der Schablonisierung fühlen und sich eine schöpferische Arbeit vornehmen könnte. Solche Arbeit wird von der ganzen Wissenschaft und Kunst geboten, viele haben aber, dank der sozialen Systeme in den jeweiligen Staaten, keinen Zutritt zu diesem zweiten Bereich menschlichen Wirkens, und darum verlangen und besuchen sie auch gerne Schauspiele und alle möglichen Wissenschaftstheater. Wenn ich mich aber in diese Kausalität hineinversetze, dann ersehe ich darin, daß man in der zweiten Hälfte der menschlichen Arbeit die Erholung wahrnimmt, mit anderen Worten, in der Erholung oder im Schöpfertum verbirgt sich ein besonderer Zustand von „Faulheit“, und letzterer führt zur Vervollkommnung der völligen physischen Untätigkeit, indem man alle physische Tätigkeit in den besonderen Zustand der Tätigkeit des reinen Denkens übersetzt. Von der Tätigkeit des Denkens wird aber später noch die Rede sein; jetzt muß erst einmal deutlich gemacht werden, daß die beiden Hälften der menschlichen Arbeit – einmal die Arbeit, dann die zweite Hälfte, die Vervollkommnung durch wissenschaftliche und sonstige Kenntnisse – miteinander identisch sind, daß sie nämlich ein Ganzes bilden und gleichermaßen die Verkürzung einerseits der Arbeitszeit, anderseits der Zeit anstreben, die für das Wissen und die Werke der Wissenschaften aufgewendet wird, denn eben durch Arbeit eilt der Mensch der „Faulheit“ nach. Entsprechend sind Wissenschaft und Wissen bestrebt, durch sich möglichst rasch alles über das Weltall in Erfahrung zu bringen, mit anderen Worten, das gesamte Weltwissen zu erlangen. Kein Mensch kann sich dem verweigern – in jeder Sekunde strebt der Mensch danach, in das Weltgebäude einzudringen und alles zu erkennen, was ihm verborgen ist. Dieses Bestreben ist, würde ich sagen, das Streben

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nach Gott, d. h. nach jenem Bild, das sich die Menschheit von etwas Vollkommenem gemacht hat. Und als was stellt sie ihn sich vor? Sie stellt ihn sich vor als ein Wesen, das allgegenwärtig, allwissend, allmächtig usw. ist, folglich ist jeder Schritt des Menschen auf die Vollkommenheit ausgerichtet, d. h. auf die Annäherung an Gott. Nehmen wir einmal an, der Mensch wird in vielen Tausenden oder Millionen Jahren das Allwissen und damit auch die Allgegenwärtigkeit erreichen. Wie wird sich dieser Augenblick darstellen? Darüber hinaus gibt es nichts mehr zu begreifen und nichts zu wissen, und auch zu tun wird es wohl nichts mehr geben. Die Welt ist erschlossen, und ihr ganzes Wesen ist im Wissen festgehalten; das Weltall wird sich in seiner ganzen Größe und Unendlichkeit seiner Geschöpfe nach seinem ewigen Bewegungsgesetz fortbewegen, seine ganze Bewegung ist in meinem Wissen bereits bekannt, und ebenso unendlich genau ist jede seiner Erscheinungen berechnet. Wenn wir eine solche Vollkommenheit erreicht haben, dann haben wir Gott erreicht, eben jenes Bild, das die Menschheit in ihrer Vorstellung, in Legenden oder in der Wirklichkeit entworfen hat. Es tritt das Prinzip einer neuen, letztlich göttlichen Untätigkeit und Zustandslosigkeit ein; der Mensch verschwindet, denn er geht ein in jenes großartige Bild seines vollkommenen Entwurfes. Dasselbe wird auch die Arbeit betreffen; auch in ihr wird die Menschheit eine solche Vollkommenheit erlangen, in der seine ganze Produktion in die elementare Natur eintritt, so daß ohne jede Mühe alles im Organismus eingeht wie der Atem, der dem ganzen Organismus als die eigentliche bewegende Kraft, als Leben dient. Jenes vollkommene Bild Gottes wird auch von einer Arbeit erträumt, die den Menschen von der Arbeit befreien und jenen glückseligen Zustand erlangen will, in dem alle Fabriken und Betriebe des Menschen von sich aus funktionieren; diese kleine Wirkung wird das Vorbild sein für jene große Fabrik, das Weltall, in dem sämtliche Erzeugnisse ohne Fach-Ingenieur und Arbeiter produziert werden und welches nach Vorstellung des Menschen von einem Gott erbaut wurde, der allmächtig und allwissend war. Natürlich lassen sich Allmächtigkeit und Allwissenheit entlarven und Nachweise für mancherlei Unvollkommenheiten erbringen, die jedoch alle wiederum zur Vollkommenheit hinführen, und vielleicht ist der gesamte Mechanismus des Weltalls im Entwurf prinzipiell in seiner Vollkommenheit absolut, und unvollkommen sind nur seine vernunftmäßigen Details – wie eine der nur scheinbar vollkommenen Formen, nämlich der Mensch; doch im allgemeinen stellt dieser Mensch nur einen kleinen Splitter des Weltgebäudes, des Weltalls dar. Er strebt danach, auf Erden alles gemäß den Gesetzen des Weltalls zu erbauen. Indem sich der Mensch durch Wissen und Arbeit dem einen Ziel, der vollkommenen Allwissenheit und Selbstproduktion nähert, nähert sich der Mensch Gott, der Vollkommenheit, anders gesagt, schließt er sich in ihn oder

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ihn in sich ein, und es kommt der Augenblick der völligen Untätigkeit bzw. der Tätigkeit als Anschauung der Selbstproduktion der Welt, es kommt der Augenblick der völligen „Faulheit“, und dann kann sogar ich nicht mehr an der Vollkommenheit teilhaben: sie ist erzielt. Der Mensch, das Volk oder vielleicht die ganze Menschheit setzen sich immer ein Ziel, und dieses Ziel liegt immer in der Zukunft. Ein solches Ziel ist die Vollkommenheit, die Gott ist; die menschliche Vorstellungskraft hat sich ein Bild von ihm gemacht und für seine Schöpfung sogar die Tage festgelegt, woraus zu ersehen ist, daß Gott die Welt in sechs Tagen erschuf und daß am siebenten Tage Erholung war. Wie lange dieser Tag zu dauern hat, wissen wir nicht, jedenfalls ist der siebente Tag der Tag der Erholung. Nehmen wir an, der erste Tag war einer der physischen Erholung, obwohl es in Wirklichkeit so etwas nicht gab; hätte er das Weltall in körperlicher Arbeit aufbauen müssen, hätte er genausoviel arbeiten müssen wie der Mensch; offensichtlich hatte er keine körperliche Arbeit, und darum mußte er sich auch nicht ausruhen – seine Schöpfung geschah durch das Wort „es werde“, und nach sechsmaligem „es werde“ war das Weltall in seiner ganzen Mannigfaltigkeit geschaffen. Seither schafft Gott nichts mehr, er ruht sich auf seinem Thron der Faulheit aus und schaut seine Weisheit an. Offen bleibt jedoch noch die Frage, ob Gott bei dieser Anschauung nicht eine noch größere Vollkommenheit erlangte. Offenbar nicht, so beschaffen ist eben seine Weisheit, die wir im Weltall erblickt haben. Gott ist so vollkommen, daß er sich im Zustand des Denkens gar nicht befinden kann, denn das ganze Weltall erschöpft die Vollkommenheit des göttlichen Denkens. Ich habe bereits davon gesprochen, daß der Mensch bloß eine kleine Kopie jener Gottheit ist, welche in uns selbst entstanden ist, und zu eben dieser strebt der Mensch in Wirklichkeit, denn es gibt schon viele Menschen, die es allein durch das Denken zur Vollkommenheit des Handelns gebracht haben. Indem sie damit ein ganzes Volk in Bewegung versetzen, zwingen sie auch Stoffe, eine andere Form anzunehmen. Solche Menschen existieren bislang in Gestalt von Führer-Regenten, Ideengebern und Vervollkommnern. Tatsächlich fand noch jeder Ideengeber mittels seines Denkens eine bestimmte Idee, die früher oder später ein ganzes Volk emporhob und zu einer neuen Lebensordnung umgestaltete; der Vervollkommner, der einen neuen Leib, eine Maschine oder einen Apparat entdeckt hat, setzt eine Menge arbeitender Hände in Bewegung, um diese zu vervielfältigen; bei weiterer Vervollkommnung wird die Welt eine andere Gestalt annehmen, sein Denken aber wird auch solche Maschinen schaffen, die seine Sache multiplizieren und dabei den Menschen von der Arbeit befreien, und da die Vervollkommnung des Menschen weitergeht, wird sie in Zukunft schließlich beim Zustand Gottes ankommen, der durch sein „es werde“ die Welt geschaffen hat.

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Jeder Zar-Regent bewegt das Leben allein durch sein „es sei“ oder „es werde“. Kleinere Beispiele davon gibt es in unserem Leben schon, aber alles in der Vergangenheit Vollendete wurde ausschließlich vom Menschen gemacht; in der Gegenwart ist der Mensch bereits nicht mehr allein, sondern zusammen mit der Maschine, und in der Zukunft bleibt allein die Maschine oder irgendeine Entsprechung zu ihr; dann aber wird es nur noch eine Menschheit geben, die auf dem Thron ihrer vorgezeichneten Weisheit sitzt, ohne Führer, Regenten und Vervollkommner; all das wird in ihr sein, und auf diese Weise wird sie von der Arbeit frei werden und Ruhe finden, ewige Erholung in Form von Faulheit, und sie wird in das Bild Gottes eingehen. Damit bewahrheitet sich die Legende von Gott als der Vervollkommnung der „Faulheit“.

Arbeit und Weltanschauung (1924) Max Scheler Sie alle wissen, daß das Christentum – ohne in die groteske Theorie einer „Religion der Arbeit“ zu verfallen – der Arbeit überhaupt, aber auch der Handarbeit im besonderen, gegenüber der Antike einen ganz neuen Adel gegeben hat. Der antike Mensch konnte die Arbeit nicht so schätzen, konnte insbesondere den […] Gedanken, daß der Mensch erst in einem unbegrenzten Geschichtsprozeß das Universum zur Realisierung seiner Bestimmung durch sinnvolle und sinngebende Arbeit zu führen habe, nicht aufnehmen. Ein wesentlicher Grund hierfür war, daß ihm das Göttliche als plastische Form der Sinnenwelt schon ewig immanent schien. Wie dem antiken Menschen (z. B. Aristoteles) die Welt ewig erschien, so kannte er auch keinen geistigen verborgenen Schöpfergott und ebendarum auch keine wahre formenschöpferische Kraft im Menschen. Nur ein ewiger „Beweger“ und Wisser ist der „Gott“ des Aristoteles. Ein solches Universum ist gleichsam fertig, vollendet; es ist im Grunde geschichtslos. Es ist ein ewiger Stufenbau von Formkräften, die zu Gott emporstreben, indem sie ewig von ihm angezogen werden „wie das Liebende durch das Geliebte“. Dies Universum als Weiser, als Künstler staunend und selig zu kontemplieren, verloren im Glanze seiner sichtbaren Formenwelt – das bedingt andererseits notwendig eine Masse von Sklaven, die es erst möglich machen, daß einige, die „ἄριστοι“, kontemplieren können. Die Gottheit selbst geht hier in Selbstkontemplation auf. Nur die griechischen Kyniker schätzten die Arbeit höher ein. Den Hauch einer ganz anderen Welt atmen die für die Antike und ihr Ethos erstaunlichen christlichen Sätze: „Jeder, der nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ (2.Thess.  3,10), und „Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert“, (Matth. 10,10). Mit diesen christlichen Sätzen ist ein geistiger Kern gelegt für die sukzessive Befreiung des Menschen aus persönlicher Unfreiheit, Sklaverei, Hörigkeit in ihren tausendfältigen Formen – ein Keim, der freilich erst in Jahrhunderten langsam und unter den größten Hemmungen aufging. Über die Bedeutung des Christentums für die allmähliche Aufhebung der Sklaverei und Leibeigenschaft ist viel gestritten worden – aber nur über das Maß dieser Bedeutung, nicht über die Tatsache selbst. „Die freie Arbeit der modernen Zeit ist durch das christliche Personideal mitbedingt“ (E. Troeltsch). Aber nicht als zwangsgesetzliche Arbeitspflicht eines Staates oder als politische Forderung

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der Aufhebung der Sklaveninstitution (der sich die Kirche noch jahrhundertelang selbst bediente) sind die obigen Worte gemeint. Sie wollen nur einen gesinnungsmäßigen, geistigen, moralischen Imperativ in die Seele setzen, der sich verschieden auswirken soll je nach der relativen Lage der historischen Welt – jener „Welt“, die des Kaisers ist, nicht Gottes. Auch wollen sie nicht sagen: „Du Mensch verdienst dir deine Existenz erst durch deine Arbeit.“ Der Mensch hat, da Gott seine Seele dem keimenden Leibe einschuf, ein ursprüngliches, weder durch seine besondere Abstammung noch durch seine Arbeitsleistung bedingtes „Recht auf Existenz“ – ein Recht ganz unabhängig von seiner Arbeit. Seine Pflicht zur Arbeit wie sein „Recht zur Arbeit“ und sein „Recht auf Arbeit“ folgen erst diesem höheren Rechte; sie bedingen es nicht. Darum muß auch für den unverschuldet arbeitslosen Menschen gesorgt werden in den Formen der Carität oder staatlicher Gesetzgebung. Und schon darum kann es ein sog. „Recht auf den vollen Ertrag der Arbeit“ nicht geben. Nur ein Recht auf Proportionalität zwischen Arbeit und Entlohnung besteht. Auch die Pflicht der Gläubigen, die Kirche und ihre Diener, die mannigfachen Berufe, deren Arbeit gar nicht meßbar ist und nicht unmittelbar „nützt“, zu unterhalten, ferner die Aufwendungen für das gemeine Wohl schließen ein solches Recht schon aus. Auch insofern muß echter Opfergeist die Arbeit durchwalten, als wir in unserer Arbeit niemals bloß für uns selber, sondern mitverantwortlich für die sozialen Ganzheitlichkeiten arbeiten, in denen wir stehen (Familie, Gemeinde, Staat, Kirche usw.). Auch das Eigentum ist göttliches Unterpfand und Lehen, auf daß wir es recht gebrauchen. Der Geist, der den Besitz der leben- und gnadenerweckenden Hand der Kirche den „Besitz der toten Hand“ nennt, der morgen auch allen Besitz im Dienste höherer, vom Nützlichkeitsstandpunkt aus gesehen „unproduktiver“ oder doch unabmeßbarer Geisteskultur (Kunst, Philosophie, Geisteswissenschaften) den Besitz der „toten Hand“ nennen kann, steht im tiefsten Widerspruch zur christlichen Arbeitslehre.

Meine Philosophie der Arbeit (1929) Henry Ford Es ist sehr interessant, die Erziehungsmethoden bei verschiedenen Völkern zu beobachten. Der Bildungsvorgang ist je nach dem ins Auge gefaßten Ziele verschieden. Viele von den Ländern mit einer alten Zivilisation erziehen ihre oberen Klassen für ein Leben wirtschaftlicher Sorglosigkeit und vegetativer Muße, während ihre unteren Klassen in industrieller Sklaverei gehalten werden. Tatsächlich können wir den Charakter eines Volkes nach dem Gebrauche beurteilen, den es von seiner Muße macht. Es gab Zeiten, wo die Muße als eine vergeudete Zeit betrachtet wurde. Besonders in der Industrie wurde die Einführung von Erholungszeit lange als unpraktisch und als Verschwendung angesehen. Es wurde gesagt, daß der Arbeiter nicht dazu erzogen sei, seine Mußezeit richtig und zu seinem Besten auszunützen, und eine Herabsetzung der täglichen Arbeitszeit nur zu größerer Armut und Arbeitsentwöhnung führen würde. Wir in Amerika haben in den letzten paar Jahren unsere Ansichten sehr stark geändert. Wir sind zu der Erkenntnis gelangt, daß Muße keine Zeitverschwendung ist, sondern daß sie sich auch vom nüchternen Geschäftsstandpunkt aus betrachtet bezahlt macht, daß sie größeren Nutzen, bessere Gesundheitsverhältnisse und ein besseres Erzeugnis gewährleistet. Überdies hat man herausgefunden, daß der Arbeiter sehr bald darauf kommt, seine Mußezeit in einer erfreulichen und der Gesundheit zuträglichen Weise für die Förderung seines eigenen Wohlbefindens und desjenigen seiner Familie zu verwenden. Die zweite Generation ist schon nicht mehr in Verlegenheit, wie sie ihre Zeit angenehm und zugleich nützlich verbringen soll. Wir haben die Erfahrung gemacht, daß selbst Leute aus Ländern mit langer Arbeitszeit und harter Arbeit sehr bald lernen, ihre Mußezeit nützlich zu verwenden. Der Mensch braucht Ruhe, um nachdenken zu können, und die Welt braucht Denker. Es ist eine der schwierigsten Aufgaben, der sich die Industriellenwelt von heute gegenübergestellt sieht, genug Menschen zu finden, die imstande sind, eine Aufgabe durchzudenken, oder ausführende Organe, die ohne Überwachung und ohne fortwährende Anweisung fähig sind, eine bestimmte Arbeit vom Anfang bis zum Ende durchzuführen. Die Amerikaner aller Klassen haben viel mehr Freizeit für sich als die Angehörigen irgendeiner anderen Nation der Welt. Aber die Erholungszeit ist durchaus keine gesicherte Errungenschaft

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der Arbeiter, solange diese sie als ein von ihrer Klasse erkämpftes Vorrecht betrachten und die Industrie sie als Zeitverschwendung ansieht. Es gibt ein ganz deutlich erkennbares Gesetz, das einen bestimmten Zusammenhang zwischen Erholungszeit und wirtschaftlicher Wohlfahrt feststellt. Wir sind im Begriffe, die Nutzanwendung dieses Gesetzes zur Verbesserung unseres Geschäftes, zur Erstarkung unseres Volkes und zur Erzielung erhöhter Wohlfahrt unseres Landes zu erlernen.

Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder (1930) John Maynard Keynes Wir leiden gerade jetzt unter einem bösen Anfall von wirtschaftlichem Trübsinn. Sehr häufig hört man Leute sagen, daß die Zeit außerordentlichen wirtschaftlichen Fortschritts, die das neunzehnte Jahrhundert kennzeichnete, vorüber sei; daß die schnelle Verbesserung der Lebenshaltung sich fortan verlangsamen würde, wenigstens für Großbritannien, und daß ein Rückgang des Wohlstandes in dem vor uns liegenden Jahrzehnt wahrscheinlicher sei als eine Verbesserung. Ich glaube, daß dies eine höchst unüberlegte und irrtümliche Deutung dessen ist, was uns widerfährt. Wir leiden nicht unter dem Rheumatismus des Alters, sondern unter den Wachstumsschmerzen überschneller Veränderung, unter der Schmerzhaftigkeit des Übergangs von einer Wirtschaftsperiode zu einer anderen. Die technische Leistungsfähigkeit ist schneller gestiegen, als wir die Arbeitskräfte eingliedern können; die Verbesserung der Lebenshaltung ging ein wenig zu schnell; das Bank- und Geldsystem der Welt hat verhindert, daß die Zinsrate so schnell fiel, wie es das Gleichgewicht erfordert hätte. […] Die herrschende Weltstockung, die ungeheure Regelwidrigkeit der Arbeitslosigkeit in einer Welt voller Bedürfnisse, die verhängnisvollen Fehler, die wir gemacht haben, machen uns blind gegen das, was unter der Oberfläche vor sich geht, und gegen eine richtige Deutung des Entwicklungszuges der Dinge. Denn ich sage voraus, daß die beiden entgegengesetzten Irrtümer des Pessimismus, die jetzt in der Welt so viel Lärm hervorrufen, in unserer eigenen Zeit sich als falsch erweisen werden: der Pessimismus der Umstürzler, die glauben, die Dinge seien so schlecht, daß nichts als ein gewaltsamer Wechsel uns retten könnte, und der Pessimismus der Rückschrittler, die die Standsicherheit unseres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens für so gefährdet halten, daß wir keine Experimente wagen dürfen. Meine Absicht in diesem Aufsatz ist jedoch nicht, die Gegenwart oder die nahe Zukunft zu untersuchen, sondern mich von der kurzen Sicht freizumachen und mich auf Schwingen in die Zukunft zu wenden. Welchen Stand des wirtschaftlichen Lebens können wir vernünftigerweise in hundert Jahren erwarten? Was sind die wirtschaftlichen Möglichkeiten für unsere Enkelkinder?

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[…] Wir wollen, nur als Annahme, einmal unterstellen, daß wir alle in hundert Jahren von heute an im Durchschnitt in wirtschaftlicher Hinsicht achtmal besser daran wären als jetzt. Sicherlich wäre darin nichts, was uns zu überraschen brauchte. Nun ist es freilich wahr, daß die Bedürfnisse menschlicher Wesen anscheinend unersättlich sind. Aber sie zerfallen in zwei Klassen: solche Bedürfnisse, die in dem Sinne unbedingter Art sind, daß wir sie fühlen, gleichviel, wie die Lage unserer Mitmenschen sein mag, und solche, die in dem Sinne verhältnismäßiger Art sind, daß wir sie nur fühlen, wenn ihre Befriedigung uns über unsere Mitmenschen erhebt, uns ein Gefühl der Überlegenheit gibt. Die Bedürfnisse der zweiten Klasse, solche, die das Verlangen nach Überlegenheit befriedigen, mögen in der Tat unersättlich sein, denn je höher der allgemeine Stand, um so höher sind sie. Das ist aber nicht so zutreffend für die unbedingten Bedürfnisse: es mag bald ein Punkt erreicht werden, vielleicht viel eher, als es uns selbst klar wird, an dem diese Bedürfnisse in dem Sinne befriedigt sind, daß wir vorziehen, unsere weiteren Kräfte nicht-wirtschaftlichen Zwecken zu widmen. Und nun meine Folgerungen, die Sie, wie ich glaube, für die Einbildungskraft um so erstaunlicher finden werden, je länger Sie darüber nachdenken. Unter der Annahme, daß keine wichtigen Kriege und keine erhebliche Vermehrung der Bevölkerung stattfinden, komme ich zu dem Schluß, daß die Lösung des wirtschaftlichen Problems in hundert Jahren zum mindesten in Sicht sein wird. Dies bedeutet, daß die wirtschaftliche Aufgabe, wenn wir in die Zukunft sehen, nicht die beständige Aufgabe der menschlichen Rasse ist. Sie mögen fragen, warum ist das so aufregend? Es ist aufregend, weil wir finden – wenn wir in die Vergangenheit statt in die Zukunft blicken –, daß die wirtschaftliche Aufgabe, der Kampf um die Erhaltung, bisher immer die allererste und höchst dringliche Aufgabe der menschlichen Rasse war, ja, nicht nur der menschlichen Rasse, sondern des gesamten Königreichs des Lebendigen, von den Anfängen des Lebens in seinen niedrigsten Formen. Wir sind also – mit all unseren Beweggründen und tiefsten Trieben – von der Natur ausdrücklich zu dem Zweck entwickelt, unsere wirtschaftliche Aufgabe lösen zu können. Wenn die wirtschaftliche Aufgabe gelöst ist, wird die Menschheit eines ihrer herkömmlichen Zwecke beraubt sein. Wird dies eine Wohltat sein? Wenn man überhaupt an die wirklichen Werte des Lebens glaubt, so eröffnet sich zum mindesten die Aussicht auf die Möglichkeit einer Wohltat. Dennoch denke ich mit Schrecken an die Umstellung der Gewohnheiten und Triebe des gewöhnlichen Menschen, die in

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ihm seit ungezählten Generationen gezüchtet sind, und die er nun in wenigen Jahrzehnten von sich abwerfen soll. Um die heute übliche Sprache zu gebrauchen: müssen wir nicht einen allgemeinen „Nervenzusammenbruch“ erwarten? Wir haben schon ein gewisses Beispiel von dem, was ich meine: einen Nervenzusammenbruch jener Art, die in England und Amerika schon oft genug unter den Ehefrauen der wohlhabenden Klassen vorkommt; viele von ihnen unglückliche Frauen, die durch ihren Wohlstand ihrer herkömmlichen Aufgaben und Beschäftigungen beraubt sind und die ohne den Ansporn der wirtschaftlichen Notwendigkeit das Kochen, Reinemachen und Ausbessern nicht mehr genügend unterhaltend finden, dennoch aber ganz unfähig sind, etwas sie mehr Unterhaltendes zu finden. Für diejenigen, die ihr tägliches Brot mit Schweiß verdienen müssen, ist die Muße eine lang ersehnte Süßspeise – bis sie sie bekommen. […] Zum ersten Male seit seiner Erschaffung wird somit der Mensch vor seine wirkliche, seine beständige Aufgabe gestellt sein, wie seine Freiheit von drückenden wirtschaftlichen Sorgen zu verwenden ist, wie seine Muße auszufüllen ist, die Wissenschaft und Zinseszins für ihn gewonnen haben, damit er weise, angenehm und gut leben kann. Die unermüdlichen und zweckbewußten Geldmacher mögen uns alle in den Schoß des wirtschaftlichen Überflusses mit sich ziehen. Aber nur diejenigen Völker, die die Kunst des Lebens selbst in sich lebendig halten und zu immer höherer Vollkommenheit entwickeln können, die nicht ihr Selbst an die Mittel des Lebens verkaufen, werden fähig sein, den Überfluß zu genießen, wenn er kommt. Doch, glaube ich, gibt es kein Land und kein Volk, das dem Zeitalter der Muße und der Fülle ohne Furcht entgegenblicken könnte. Denn wir sind zu lange dazu erzogen worden, zu streben und nicht zu genießen. Für den gewöhnlichen Menschen ohne eine besondere Begabung ist es eine beängstigende Aufgabe, sich selbst zu beschäftigen, besonders, wenn er nicht länger im Boden wurzelt, oder im Brauchtum, oder in den heißgeliebten Förmlichkeiten einer überkommenen Gesellschaft. Urteilt man nach dem Betragen und den Leistungen der wohlhabenden Klassen heute in allen Teilen der Welt, so ist der Ausblick sehr bedrückend! Denn diese sind, sozusagen, unsere Vorhut, diejenigen, die das versprochene Land für uns übrige auskundschaften und dort ihre Zelte errichten. Denn die meisten von denen, die ein unabhängiges Einkommen, aber keinen Anhang, keine Pflichten und keine Bindungen haben, haben, wie mir scheint, in der Lösung der ihnen gestellten Aufgabe verhängnisvoll versagt.

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Ich bin sicher, daß wir mit ein wenig mehr Erfahrung die neugefundenen Gaben der Natur sehr verschieden von der Art, wie die Reichen es heute tun, benutzen werden, und daß wir einen von dem ihrigen sehr abweichenden Lebensplan für uns entwerfen werden. Noch für lange Zeiten wird der alte Adam in uns so mächtig sein, daß jedermann wünschen wird, irgendeine Arbeit zu tun, wenn er zufrieden sein will. Wir werden mehr Dinge selbst tun, als es bei den Reichen heutzutage üblich ist, und nur allzu froh sein, daß wir kleine Pflichten, Aufgaben und unseren Drill haben. Aber darüber hinaus werden wir uns bemühen, die Butter auf dem Brot dünn zu verstreichen: um die Arbeit, die noch zu leisten ist, soweit wie möglich zu einer gemeinsamen zu machen. Eine Drei-Stunden-Schicht oder eine Fünfzehn-Stunden-Woche kann die Aufgabe noch eine lange Weile hinausschieben. Für die meisten von uns sind drei Stunden am Tag ganz genug, um den alten Adam in uns zufrieden zu stellen. Auch auf anderen Gebieten müssen wir erwarten, auf Veränderungen zu stoßen. Wenn die Anhäufung von Reichtum nicht mehr von hoher gesellschaftlicher Wichtigkeit ist, werden große Veränderungen der Sittengesetze eintreten. Wir werden imstande sein, uns von vielen der scheinsittlichen Grundsätze loszusagen, die uns seit zweihundert Jahren wie ein Albdruck verfolgt haben, wobei wir einige der abstoßendsten menschlichen Eigenschaften in die Stellung höchster Tugenden emporgesteigert haben. Wir werden uns das Wagnis leisten können, den Gelderwerbstrieb nach seinem wahren Wert einzuschätzen. Die Liebe zum Geld als Besitz – zu unterscheiden von der Liebe zum Geld als einem Mittel für die Genüsse und die Wirklichkeiten des Lebens – wird als das erkannt werden, was es ist: ein ziemlich widerliches Leiden, eine jener halbverbrecherischen, halbkrankhaften Neigungen, die man mit Schaudern an die Fachleute für geistige Erkrankungen verweist. Wir werden dann endlich die Freiheit haben, alle Arten von gesellschaftlichen Gewohnheiten und wirtschaftlichen Kniffen von uns zu werfen, die die Verteilung des Reichtums, wirtschaftliche Belohnungen und Strafen betreffen, und die wir jetzt, so widerlich und ungerecht sie in sich selbst sein mögen, mit allen Mitteln aufrechterhalten, weil sie ungeheuer nützlich sind, die Anhäufung von Kapital zu fördern. Natürlich wird es immer viele Leute mit eindringlicher, unbefriedigter Zweckhaftigkeit geben, die blindlings dem Reichtum nachjagen werden, sofern sie nicht einen annehmbaren Ersatz finden können. Aber wir übrigen werden nicht mehr verpflichtet sein, ihnen Beifall zu spenden und sie zu ermutigen. Denn wir werden eifriger, als es die Vorsicht heute erlaubt, den wahren Charakter dieser „Zweckhaftigkeit“ erforschen, mit der die Natur

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beinahe uns alle in verschiedenen Graden ausgestattet hat. Denn Zweckhaftigkeit bedeutet, daß wir uns mehr um die Ergebnisse unseres Handelns in einer entfernten Zukunft bekümmern als um ihren eigenen Wert oder ihre unmittelbare Wirkung auf unsere eigene Umgebung. […] Ich sehe also für uns die Freiheit, zu einigen der sichersten und gewissesten Grundsätze der Religion und herkömmlichen Tugend zurückzukehren: daß Geiz ein Laster ist, das Verlangen von Wucherzinsen ein Vergehen, die Liebe zum Geld verächtlich, und daß diejenigen, die sich am wenigsten um den Morgen sorgen, am wahrsten in den Pfaden der Tugend und maßvoller Weisheit wandeln. Wir werden die Zwecke wieder höher werten als die Mittel, und werden das Gute dem Nützlichen vorziehen. Wir werden wieder diejenigen ehren, die uns lehren, wie der Stunde und dem Tage tugendhaft und gut gerecht zu werden, jene köstlichen Menschen, die zu einem unmittelbaren Genuß der Dinge fähig sind, die Lilien des Feldes, die sich nicht mühen und die nicht spinnen. Aber Achtung! Noch ist die Zeit für all dies nicht gekommen. Für wenigstens noch einmal hundert Jahre müssen wir uns selbst und allen anderen vormachen, daß schön wüst ist und das Wüste schön, denn das Wüste ist nützlich und das Schöne ist es nicht. Geiz, Wucher und Vorsorge müssen für eine kleine Weile noch unsere Götter sein. Denn nur sie können uns aus dem Stollen der wirtschaftlichen Notwendigkeit in das Tageslicht führen. Ich sehe also für nicht so sehr ferne Tage den größten Veränderungen entgegen, die sich je für die Menschheit als Ganzes, in den sachlichen Bedingungen ihrer Umwelt ereignet haben. Aber es wird sich natürlich alles gradweise ereignen, nicht als ein plötzlicher Umsturz. Es hat in der Tat schon begonnen. Der Gang der Dinge wird einfach der sein, daß es immer größere und größere Klassen und Gruppen von Menschen geben wird, für die Fragen wirtschaftlicher Notwendigkeit praktisch aufgehoben sind. Der kritische Unterschied wird erreicht sein, wenn dieser Zustand so allgemein geworden ist, daß sich die Art unserer Pflicht gegenüber unserem Nächsten verändert hat. Denn es wird vernunftgemäß bleiben, wirtschaftlich zweckhaft für andere zu sein, wenn es für einen selbst aufgehört hat, vernünftig zu sein. Das Schrittmaß, in welchem wir unsere Bestimmung wirtschaftlichen Segens erreichen, wird von vier Dingen beherrscht werden: unserer Macht, den Bevölkerungszuwachs zu überwachen; unserer Entschlossenheit, Kriege und innere Kämpfe zu vermeiden; unserer Bereitschaft, der Wissenschaft die Lenkung jener Dinge anzuvertrauen, die das eigentliche Gebiet der Wissenschaft sind; und von der Kapitalansammlung, wie sie sich aus der Spanne

Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder

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zwischen Erzeugung und unserem Verbrauch ergibt, wobei sich dies letzte leicht von selbst regeln wird, wenn die drei ersten gegeben sind. Bis dahin wird es keinen Schaden tun, wenn wir sanfte Vorbereitungen für unser Schicksal treffen, indem wir sowohl die Kunst des Lebens wie die zweckhaften Handlungen ermutigen und uns in ihnen üben. Vor allem aber laßt uns die Wichtigkeit der wirtschaftlichen Aufgabe nicht überschätzen oder ihren angeblichen Notwendigkeiten Dinge von größerer und beständigerer Bedeutung opfern. Sie sollte eine Sache für Fachleute werden, wie Zahnheilkunde. Wie herrlich würde es sein, wenn Volkswirtschaftler es dahin bringen würden, daß man sie mit so bescheidenen, sachkundigen Leuten wie Zahnärzten auf eine Stufe stellt.

Der Freiheitsanspruch als Arbeitsanspruch (1932) Ernst Jünger Insofern der Einzelne sich der Arbeitswelt zugehörig fühlt, äußert sich seine heroische Auffassung der Wirklichkeit darin, daß er sich als Vertreter der Gestalt des Arbeiters begreift. Diese Gestalt deuteten wir an als den innersten Träger, als die zugleich tätige und leidende Kernsubstanz dieser unserer von jeder andersartigen Möglichkeit durchaus unterschiedenen Welt. Aus dem geheimen Willen, diese Substanz zu vertreten, erklärt sich die auffällige Kongruenz der Gebrauchsideologien, wie sie der moderne Machtkampf in vielfachen Schattierungen entwickelt hat. So gibt es kaum eine Bewegung, die auf den Anspruch verzichten könnte, eine Arbeiterbewegung zu sein, kein Programm, bei dem das Wort „sozial“ nicht in den ersten Sätzen zu entdecken ist. Es muß gesehen werden, daß hier über jenes Gemisch von Ökonomie, Mitleid und Unterdrückung, über die Spiegelgefühle der Enterbten hinaus ein immer klarerer Machtwille sich anzumelden beginnt oder daß vielmehr längst eine neue Wirklichkeit vorhanden ist, die auf allen Gebieten des Lebens im Kampfe ihren eindeutigen Ausdruck erstrebt. Die Verschiedenartigkeit der Formulierungen, mit denen der Wille experimentiert, ist belanglos gegenüber der Tatsache, daß es nur eine Form gibt, in der überhaupt gewollt werden kann. Die listigen Fänger der Stimmen, die Krämer der Freiheit, die Hanswürste der Macht, die den Sinn nur als Zweck und die Einheit nur als Zahl zu begreifen vermögen, beunruhigt eine unklare Ahnung jener neuen Größe, als welche die Freiheit inmitten der Arbeitswelt auftreten muß. Da sie aber durchaus vom moralischen Schema eines korrumpierten Christentumes abhängig sind, in dem die Arbeit selbst als böse erscheint und das den biblischen Fluch in das materielle Verhältnis zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten übersetzt, erweisen sie sich als unfähig, die Freiheit anders als ein Negativum, als die Erlösung von irgendwelchen Übeln zu sehen. Es ist aber nichts einleuchtender, als daß innerhalb einer Welt, in der der Name des Arbeiters die Bedeutung eines Rangabzeichens besitzt und als deren innerste Notwendigkeit die Arbeit begriffen wird, die Freiheit sich darstellt als Ausdruck eben dieser Notwendigkeit oder, mit anderen Worten, daß hier jeder Freiheitsanspruch als ein Arbeitsanspruch erscheint.

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Der Freiheitsanspruch als Arbeitsanspruch

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Erst wenn der Freiheitsanspruch in dieser Fassung zutage tritt, kann von einer Herrschaft, kann von einem Zeitalter des Arbeiters die Rede sein. Denn nicht darauf kommt es an, daß eine neue politische oder soziale Schicht die Macht ergreift, sondern darauf, daß ein neues, allen großen historischen Gestalten ebenbürtiges Menschentum den Machtraum sinnvoll erfüllt. Darum lehnen wir es ab, im Arbeiter den Vertreter eines neuen Standes, einer neuen Gesellschaft, einer neuen Wirtschaft zu sehen, darum, weil er entweder nichts ist oder mehr, nämlich der Vertreter einer eigentümlichen, nach eigenen Gesetzen handelnden, einer eigenen Berufung folgenden und einer besonderen Freiheit teilhaftigen Gestalt. So wie sich das ritterliche Leben darin äußerte, daß jede Einzelheit der Lebenshaltung von ritterlichem Sinne getragen war, ebenso ist das Leben des Arbeiters entweder autonom, Ausdruck seiner selbst und damit Herrschaft, oder es ist nichts als das Streben nach Anteil an den verstaubten Rechten, an den fade gewordenen Genüssen einer abgelaufenen Zeit. Um dies begreifen zu können, muß man allerdings einer anderen Auffassung der Arbeit als der herkömmlichen fähig sein. Man muß wissen, daß in einem Zeitalter des Arbeiters, wenn es seinen Namen zu Recht trägt und nicht etwa so, wie sich alle heutigen Parteien als Arbeiterparteien bezeichnen, es nichts geben kann, was nicht als Arbeit begriffen wird. Arbeit ist das Tempo der Faust, der Gedanken, des Herzens, das Leben bei Tage und Nacht, die Wissenschaft, die Liebe, die Kunst, der Glaube, der Kultus, der Krieg; Arbeit ist die Schwingung des Atoms und die Kraft, die Sterne und Sonnensystem bewegt. Solche Ansprüche aber und viele andere, […] im besonderen der Anspruch auf Sinngebung, sind das Kennzeichen einer heranwachsenden Herrenschicht. Die Fragestellung von gestern lautete: Wie gewinnt der Arbeiter Anteil an der Wirtschaft, dem Reichtum, der Kunst, der Bildung, der Großstadt, der Wissenschaft? Morgen aber heißt es: Wie haben alle diese Dinge im Machtraume des Arbeiters auszusehen, und welche Bedeutung wird ihnen zugeteilt? Jeder Freiheitsanspruch innerhalb der Arbeitswelt ist also nur möglich, insofern er als Arbeitsanspruch erscheint. Das bedeutet, daß das Maß der Freiheit des Einzelnen genau dem Maße entspricht, in dem er Arbeiter ist. Arbeiter, Vertreter einer großen, in die Geschichte eintretenden Gestalt zu sein, bedeutet: Anteil zu haben an einem neuen, vom Schicksal zur Herrschaft bestimmten Menschentum. Ist es denn möglich, daß dieses Bewußtsein einer neuen Freiheit, das Bewußtsein, an entscheidender Stelle zu stehen, ebensowohl im Raume des Denkens wie hinter sausenden Maschinen und im Gewühl mechanischer Städte empfunden werden kann? Wir besitzen nicht nur Anzeichen dafür, daß dies möglich ist, sondern wir glauben auch, daß dies die Voraussetzung jedes wirklichen Eingriffes ist und daß gerade hier der

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Ernst Jünger

Angelpunkt von Veränderungen liegt, von denen sich kein Erlöser jemals etwas träumen ließ. Im gleichen Augenblicke, in dem sich der Mensch als Herr, als Träger einer neuen Freiheit entdeckt, sei es, in welcher Lage es immer sei, werden seine Verhältnisse von Grund auf andere. Wenn dies begriffen ist, werden sehr viele Dinge nichtig erscheinen, die heute noch begehrenswert sind. Es ist vorauszusehen, daß in einer reinen Arbeitswelt die Lasten des Einzelnen sich nicht verringern, sondern sogar noch wachsen werden – gleichzeitig aber werden ganz andersartige Kräfte frei, sie zu bewältigen. Ein neues Freiheitsbewußtsein setzt neue Rangverhältnisse, und hier verbirgt sich ein tieferes, für den Verzicht gerüsteteres Glück, wenn überhaupt von Glück die Rede sein soll.

Lob des Müßiggangs (1932) Bertrand Russell Wie die meisten meiner Generation bin ich nach dem Sprichwort „Müßiggang ist aller Laster Anfang“ erzogen worden. Da ich ein sehr braves Kind war, glaubte ich alles, was man mir sagte; und so entwickelte sich mein Pflichtgefühl derart, daß ich zeit meines Lebens und bis zum heutigen Tage nicht umhin konnte, immer schwer zu arbeiten. Aber wenn mir auch mein Handeln vom Gewissen vorgeschrieben war, so hat sich doch in meinen Ansichten eine Revolution vollzogen. Ich glaube nämlich, daß in der Welt viel zuviel gearbeitet wird, daß die Überzeugung, Arbeiten sei an sich schon vortrefflich und eine Tugend, ungeheuren Schaden anrichtet, und daß es not täte, den modernen Industrieländern etwas ganz anderes zu predigen, als man ihnen bisher immer gepredigt hat. Allgemein bekannt ist ja die Geschichte von dem Reisenden, der in Neapel zwölf Bettler in der Sonne liegen sah (vor Mussolinis Zeit natürlich) und der dem Faulsten eine Lira schenken wollte. Elf sprangen auf und streckten die Hand nach dem Geld aus, weshalb er es dem zwölften gab. Dieser Reisende hatte das Wesentliche erfaßt. Aber in Ländern, denen nicht die Sonne des Südens lacht, ist es schwieriger, müßig sein zu können, und es wird umfassender allgemeiner Propaganda bedürfen, um damit einen Anfang zu machen. […] Zunächst: was ist eigentlich Arbeit? Es gibt zweierlei Arten: einmal, Verlagern der Materie auf oder nahe der Erdoberfläche in bezug auf andere derartige Materien; zweitens, andere Leute anweisen, es zu tun. Arbeit der ersten Art ist unangenehm und schlecht bezahlt, der zweiten angenehm und hoch bezahlt. Außerdem läßt sich die zweite Art unbegrenzt erweitern: es gibt nicht nur Leute, die befehlen, sondern auch welche, die Ratschläge geben, was zu befehlen sei. Gewöhnlich werden zwei gegensätzliche Arten von Ratschlägen von zwei organisierten Gruppen von Menschen gleichzeitig erteilt; das nennt man Politik. Die Befähigung für diese Art von Arbeit braucht nicht auf Kenntnis der Personen, denen der Rat erteilt wird, zu beruhen, vielmehr nur auf der Beherrschung der Kunst, durch Wort und Schrift zu überzeugen, das heißt, auf Beherrschung der Werbung und Propaganda. In ganz Europa, wenn auch nicht in Amerika, gibt es noch eine dritte Gesellschaftsklasse, die höher geachtet wird als beide arbeitenden Klassen. Es sind Menschen, denen ihr Grundbesitz erlaubt, andere Leute für das Vorrecht, existieren und arbeiten zu dürfen, zahlen

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zu lassen. Diese Grundbesitzer tun nichts, und man könnte daher vielleicht annehmen, ich würde ihr Loblied singen. Unglücklicherweise wird ihnen dieses Nichtstun aber nur durch den Fleiß anderer ermöglicht; und tatsächlich ist ihr Streben nach angenehmem Müßiggang der historische Ursprung des ganzen Evangeliums der Arbeit. Und daß andere Menschen ihrem Beispiel folgen könnten, wäre das letzte, was sie sich jemals wünschen würden. […] Dank der modernen Technik läßt sich der Arbeitsaufwand, der zum Erstellen des Lebensbedarfs für jedermann erforderlich ist, ungeheuer herabsetzen. Das zeigte sich besonders klar während des Krieges. Damals fielen alle zum Militär eingezogenen Männer, alle in Rüstungsbetrieben arbeitenden Männer und Frauen und alle mit Spionage, Kriegspropaganda oder in kriegsbedingten Behörden beschäftigten Personen für jede produktive Tätigkeit aus. Dessen ungeachtet war der durchschnittliche Gesundheitszustand der ungelernten Arbeiter auf seiten der Alliierten besser als je zuvor oder seither. Die Bedeutung dieser Tatsache wurde von der Finanzwissenschaft verschleiert: Anleihen geben der Sache den Anschein, als ernähre sich die Gegenwart von der Zukunft. Aber das war natürlich ein Ding der Unmöglichkeit; niemand kann von einem Brot satt werden, das es noch gar nicht gibt. Der Krieg hat zwingend bewiesen, daß sich moderne Völker durch wissenschaftlich organisierte Produktion auf der Basis eines geringen Teils der tatsächlichen Arbeitskapazität der neuzeitlichen Welt angemessen versorgen lassen. Hätte man nach Kriegsende die wissenschaftliche Organisation, die geschaffen worden war, um die Menschen für die Front und die Rüstungsarbeiten freizustellen, beibehalten und die Arbeitszeit auf vier Stunden herabgesetzt, dann wäre alles gut und schön gewesen. Stattdessen wurde das alte Chaos wiederhergestellt; diejenigen, deren Leistungen gefragt waren, mußten viele Stunden arbeiten und der Rest durfte unbeschäftigt bleiben und verhungern. Warum? Weil Arbeit Ehrensache und Pflicht ist und der Mensch nicht gemäß dem Wert dessen, was er produziert hat, bezahlt werden soll, sondern entsprechend seiner tugendhaften Tüchtigkeit, die in rastlosem Fleiß ihren Ausdruck findet. […] Wir wollen einen Augenblick die Ethik der Arbeit offen und ohne Aberglauben betrachten. Jeder Mensch verbraucht im Laufe seines Lebens zwangsläufig einen bestimmten Anteil des Arbeitsprodukts aller Menschen. Wenn Arbeit, wie man wohl als gegeben voraussetzen darf, im großen und ganzen etwas Unangenehmes ist, muß man es als ungerecht bezeichnen, daß ein Mensch mehr verbrauchen darf, als er produziert. Selbstverständlich kann diese Arbeit, wie beispielsweise beim Arzt, in Dienstleistungen statt im Produzieren von Waren bestehen; doch sollte jeder Mensch etwas zum

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Ausgleich für Kost und Wohnung leisten. Insoweit muß man die Verpflichtung zu arbeiten anerkennen, aber auch nur insoweit. […] Wenn der normale Lohnempfänger vier Stunden täglich arbeitete, hätte jedermann genug zum Leben und es gäbe keine Arbeitslosigkeit – unter der Voraussetzung einer gewissen, sehr maßvollen und vernünftigen Organisation. Dieser Gedanke stößt bei den Wohlhabenden auf entrüstete Ablehnung, weil sie davon überzeugt sind, die Armen wüßten nichts Rechtes mit soviel Freizeit anzufangen. In Amerika arbeiten selbst Leute, die schon vermögend sind, viele Stunden lang; solche Leute sind natürlich ungehalten, wenn von Muße für Arbeiter die Rede ist, es sei denn in Form der harten Strafe der Arbeitslosigkeit; tatsächlich mißbilligen sie sogar die Freizeit ihrer eigenen Söhne. Aber während sie ihre Söhne so schwer arbeiten sehen möchten, daß ihnen keine Zeit für ihre kulturelle Entwicklung bleibt, sind sie seltsamerweise durchaus damit einverstanden, daß ihre Frauen und Töchter überhaupt nichts zu tun haben. Die versnobte Bewunderung für alles Nutzlose, die sich in einer aristokratischen Gesellschaft auf beide Geschlechter verteilt, ist in der Plutokratie auf die Frauen beschränkt; aber auch so läßt sich diese Einstellung noch nicht leichter mit gesundem Menschenverstand vereinbaren. […] Meinen Vorschlag, die tägliche Arbeitszeit auf vier Stunden herabzusetzen, möchte ich aber nicht dahin verstanden wissen, daß die übrige Zeit unbedingt leichtsinnig vertan werden sollte. Ich meine, mit vierstündiger täglicher Arbeitszeit sollte sich der Mensch das Anrecht auf seinen Unterhalt und den elementaren Lebenskomfort erwerben können, während er den Rest seiner Zeit verwenden sollte, wie es ihm paßt. Wesentlichen Anteil an jedem derartigen Gesellschaftssystem würde eine fortgeschrittenere Erziehung und Bildung als die heute übliche haben; sie sollte unter anderem anstreben, Neigungen und Interessen zu wecken, die dem Menschen eine gescheite Verwendung seiner Mußezeit ermöglichen. Ich denke dabei nicht in erster Linie an Dinge, die, man als „anspruchsvoll“ bezeichnen könnte. Bauerntänze kennt man heute nur noch in entlegenen ländlichen Gebieten, aber die Impulse, die zur Entstehung und Pflege dieser Tänze führten, können in der menschlichen Natur noch nicht erstorben sein. Die Unterhaltung der Stadtbewohner ist überwiegend passiv geworden: man sieht sich Filme an, geht zu Fußballspielen, hört Radio, und so fort. Das ergibt sich aus der Tatsache, daß ihre aktiven Kräfte völlig von der Arbeit absorbiert werden; bei mehr Muße würden sie auch wieder an Unterhaltungen Vergnügen finden, bei denen sie aktiv mitwirken. In der Vergangenheit gab es eine kleine Klasse von Müßigen und eine größere arbeitende Klasse. Die Klasse der Müßigen genoß Vorteile, die auf

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sozialer Ungerechtigkeit beruhten; dadurch wurde sie zwangsläufig tyrannisch und gefühlsarm und mußte Theorien zur Rechtfertigung ihrer Vorrechte erfinden. Das alles schmälerte stark ihre Verdienste, aber trotz dieser Schattenseiten hat sie fast alles geschaffen, was wir Zivilisation nennen. Sie förderte die Künste und entdeckte die Wissenschaften; sie schrieb Bücher, entwickelte Philosophien und vervollkommnete die gesellschaftlichen Beziehungen. Selbst die Befreiung der Unterdrückten wurde gewöhnlich von oben her eingeleitet. Ohne die Klasse der Müßiggänger wären die Menschen heute noch Barbaren. Es war jedoch eine außerordentlich verschwenderische Methode, daß sich in einer Klasse das Nichtstun, bar aller Pflichten, vererbte. Kein Mitglied dieser Klasse hatte je gelernt, fleißig zu sein, und im Ganzen gesehen war sie nicht ungewöhnlich intelligent. Jene Gesellschaftsklasse mochte wohl einmal einen Darwin hervorbringen, aber diesem einen standen ja Zehntausende von Landedelleuten gegenüber, die nie etwas Gescheiteres im Kopf hatten als Fuchsjagden und Strafen für Wilddiebe. Gegenwärtig, nimmt man an, versorgen uns die Universitäten, auf systematischere Weise, mit allem, was die müßige Gesellschaftsklasse früher zufällig und nebenbei bewirkte. Das ist ein großer Fortschritt, hat aber auch gewisse Nachteile. Das Universitätsleben unterscheidet sich so sehr vom allgemeinen Leben draußen in der Welt, daß die Menschen, die in einem akademischen Milieu leben, meist keine Ahnung haben von den eigentlichen Vorurteilen und Problemen der normalen Männer und Frauen; außerdem haben sie gewöhnlich eine Ausdrucksweise, die ihre Ansichten jedes Einflusses auf das durchschnittliche Publikum beraubt. Ein anderer Nachteil ist, daß man an den Universitäten nur organisierte und vorgeschriebene Studienarbeit kennt, so daß jemand, der auf eigenen Wegen forschend vorgehen möchte, wahrscheinlich entmutigt werden wird. Akademische Einrichtungen können daher, so nützlich sie auch sind, nicht als angemessene Wahrer der zivilisatorischen Interessen gelten in dieser Welt, wo alle Menschen jenseits ihrer Mauern nur allzu eifrig dem reinen Nützlichkeitsprinzip huldigen. Wenn auf Erden niemand mehr gezwungen wäre, mehr als vier Stunden täglich zu arbeiten, würde jeder Wißbegierige seinen wissenschaftlichen Neigungen nachgehen können und jeder Maler könnte malen, ohne dabei zu verhungern, und wenn seine Bilder noch so gut wären. Junge Schriftsteller brauchten nicht durch sensationelle Reißer auf sich aufmerksam zu machen, um wirtschaftlich so unabhängig zu werden, daß sie die monumentalen Werke schaffen können, für die sie heute, wenn sie endlich so weit gekommen sind, gar keinen Sinn und keine Kraft mehr haben. Menschen, die sich als Fachleute für eine besondere wirtschafts-oder staatspolitische Phase interessieren, werden ihre Ideen entwickeln können, ohne dabei im luftleeren akademischen Raum

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zu schweben, was der Arbeit der Volkswirtschaftler an den Universitäten so häufig einen wirklichkeitsfremden Anstrich gibt. Die Ärzte werden Zeit haben, sich mit den Fortschritten auf medizinischem Gebiet vertraut zu machen, die Lehrer werden sich nicht mehr erbittert bemühen müssen, mit routinemäßigen Methoden Dinge zu lehren, die sie in ihrer Jugend gelernt und die sich in der Zwischenzeit vielleicht als falsch erwiesen haben. Vor allem aber wird es wieder Glück und Lebensfreude geben, statt der nervösen Gereiztheit, Übermüdung und schlechten Verdauung. Man wird genug arbeiten, um die Muße genießen zu können, und doch nicht bis zur Erschöpfung arbeiten müssen. Wenn die Menschen nicht mehr müde in ihre Freizeit hineingehen, dann wird es sie auch bald nicht mehr nach passiver und geistloser Unterhaltung verlangen. Mindestens ein Prozent wird sich wahrscheinlich in der Zeit, die nicht mit berufstätiger Arbeit ausgefüllt ist, Aufgaben von allgemeinem Interesse widmen, und da ihr Lebensunterhalt nicht von dieser Beschäftigung abhängt, werden sie dabei ungehindert eigene Wege beschreiten können und nicht gezwungen sein, sich nach den Maßstäben zu richten, die ältere Pseudowissenschaftler aufgestellt haben. Aber die Vorteile der Muße werden nicht nur an diesen Ausnahmefällen zu erkennen sein. Die normalen Männer und Frauen werden, da sie die Möglichkeit haben, ein glückliches Leben zu führen, gütiger und toleranter und anderen gegenüber weniger mißtrauisch sein. Die Lust am Kriegführen wird aussterben, teils aus diesem Grunde und teils, weil Krieg für alle langdauernde, harte Arbeit bedeuten würde. Guten Mutes zu sein, ist die sittliche Eigenschaft, deren die Welt vor allem und am meisten bedarf, und Gutmütigkeit ist das Ergebnis von Wohlbehagen und Sicherheit, nicht von anstrengendem Lebenskampf. Mit den modernen Produktionsmethoden ist die Möglichkeit gegeben, daß alle Menschen behaglich und sicher leben können; wir haben es stattdessen vorgezogen, daß sich manche überanstrengen und die andern verhungern. Bisher sind wir noch immer so energiegeladen arbeitsam wie zur Zeit, da es noch keine Maschinen gab; das war sehr töricht von uns, aber sollten wir nicht auch irgendwann einmal gescheit werden?

Zum Begriff der parasitären Bevölkerung (1949) Antonio Gramsci Verteilung der menschlichen Kräfte von Arbeit und Konsum. Man kann beobachten, wie die Konsumtionskräfte im Vergleich zu denen der Produktion immer mehr anwachsen. Die ökonomisch passive und parasitäre Bevölkerung. Aber der Begriff des „Parasitären“ muß sorgfältig präzisiert werden. Es kann passieren, daß eine parasitäre Funktion sich angesichts der bestehenden Bedingungen als zuinnerst notwendig erweist: das macht dieses Parasitentum noch schlimmer. Gerade wenn ein Parasitentum „notwendig“ ist, ist das System, das solche Notwendigkeiten hervorbringt, von sich aus verurteilt. Doch wächst nicht nur die Zahl der bloßen Konsumenten, es wächst auch ihr Lebensstandard, das heißt, es wächst die Quote von Gütern, die von diesen konsumiert (oder zerstört) werden. Wenn man genau hinsieht, muß man zu der Schlußfolgerung gelangen, daß es das Ideal eines jeden Elements der führenden Klasse ist, die Bedingungen zu schaffen, unter denen seine Erben leben können, ohne zu arbeiten, von Rendite: wie kann eine Gesellschaft gesund sein, wenn gearbeitet wird, um in der Lage zu sein, nicht mehr zu arbeiten? Da dieses Ideal unmöglich und ungesund ist, bedeutet es, daß der gesamte Organismus verdorben und krank ist. Eine Gesellschaft, die erklärt, sie arbeite, um Parasiten zu schaffen, um von der sogenannten vergangenen Arbeit zu leben (die eine Metapher zur Bezeichnung der gegenwärtigen Arbeit der anderen ist), zerstört sich in Wirklichkeit selbst.

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Sur l’eau (1951) Theodor W. Adorno Auf die Frage nach dem Ziel der emanzipierten Gesellschaft erhält man Antworten wie die Erfüllung der menschlichen Möglichkeiten oder den Reichtum des Lebens. So illegitim die unvermeidliche Frage, so unvermeidlich das Abstoßende, Auftrumpfende der Antwort, welche die Erinnerung an das sozialdemokratische Persönlichkeitsideal vollbärtiger Naturalisten der neunziger Jahre aufruft, die sich ausleben wollten. Zart wäre einzig das Gröbste: daß keiner mehr hungern soll. Alles andere setzt für einen Zustand, der nach menschlichen Bedürfnissen zu bestimmen wäre, ein menschliches Verhalten an, das am Modell der Produktion als Selbstzweck gebildet ist. In das Wunschbild des ungehemmten, kraftstrotzenden, schöpferischen Menschen ist eben der Fetischismus der Ware eingesickert, der in der bürgerlichen Gesellschaft Hemmung, Ohnmacht, die Sterilität des Immergleichen mit sich führt. Der Begriff der Dynamik, der zu der bürgerlichen „Geschichtslosigkeit“ komplementär gehört, wird zum Absoluten erhöht, während er doch, als anthropologischer Reflex der Produktionsgesetze, in der emanzipierten Gesellschaft selber dem Bedürfnis kritisch konfrontiert werden müßte. Die Vorstellung vom fessellosen Tun, dem ununterbrochenen Zeugen, der pausbäckigen Unersättlichkeit, der Freiheit als Hochbetrieb zehrt von jenem bürgerlichen Naturbegriff, der von je einzig dazu getaugt hat, die gesellschaftliche Gewalt als unabänderliche, als ein Stück gesunder Ewigkeit zu proklamieren. Darin und nicht in der vorgeblichen Gleichmacherei verharrten die positiven Entwürfe des Sozialismus, gegen die Marx sich sträubte, in der Barbarei. Nicht das Erschlaffen der Menschheit im Wohlleben ist zu fürchten, sondern die wüste Erweiterung des in Allnatur vermummten Gesellschaftlichen, Kollektivität als blinde Wut des Machens. Die naiv unterstellte Eindeutigkeit der Entwicklungstendenz auf Steigerung der Produktion ist selber ein Stück jener Bürgerlichkeit, die Entwicklung nach einer Richtung nur zuläßt, weil sie, als Totalität zusammengeschlossen, von Quantifizierung beherrscht, der qualitativen Differenz feindlich ist. Denkt man die emanzipierte Gesellschaft als Emanzipation gerade von solcher Totalität, dann werden Fluchtlinien sichtbar, die mit der Steigerung der Produktion und ihren menschlichen Spiegelungen wenig gemein haben. Wenn hemmungslose Leute keineswegs die angenehmsten und nicht einmal die freiesten sind, so könnte wohl die

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Gesellschaft, deren Fessel gefallen ist, darauf sich besinnen, daß auch die Produktivkräfte nicht das letzte Substrat des Menschen, sondern dessen auf die Warenproduktion historisch zugeschnittene Gestalt abgeben. Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und läßt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen. Einer Menschheit, welche Not nicht mehr kennt, dämmert gar etwas von dem Wahnhaften, Vergeblichen all der Veranstaltungen, welche bis dahin getroffen wurden, um der Not zu entgehen, und welche die Not mit dem Reichtum erweitert reproduzierten. Genuß selber würde davon berührt, so wie sein gegenwärtiges Schema von der Betriebsamkeit, dem Planen, seinen Willen Haben, Unterjochen nicht getrennt werden kann. Rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, „sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung“ könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten und so wahrhaft das Versprechen der dialektischen Logik einlösen, in ihren Ursprung zu münden. Keiner unter den abstrakten Begriffen kommt der erfüllten Utopie näher als der vom ewigen Frieden. Zaungäste des Fortschritts wie Maupassant und Sternheim haben dieser Intention zum Ausdruck verholfen, so schüchtern, wie es deren Zerbrechlichkeit einzig verstattet ist.

Die Gesellschaft von Konsumenten (1958) Hannah Arendt Wir hören oft, daß die moderne Gesellschaft eine Konsumgesellschaft sei, und da […] das Arbeiten und das Konsumieren eigentlich nur zwei Stadien des gleichen, dem Menschen von der Lebensnotwendigkeit aufgezwungenen Prozesses sind, sagt dies nur mit anderen Worten, daß die moderne Gesellschaft eine Arbeitsgesellschaft ist. Diese Arbeits- oder Konsumgesellschaft nun ist nicht durch die Emanzipation der Arbeiterklasse entstanden, sondern vielmehr durch die Befreiung der Arbeitstätigkeit selbst, die einige Jahrhunderte älter ist als die Arbeiteremanzipation. Von Belang für die Gesellschaftsordnung, in der wir leben, ist nicht so sehr, daß zum ersten Mal in der Geschichte die arbeitende Bevölkerung mit gleichen Rechten in den öffentlichen Bereich zugelassen ist, als daß in diesem Bereich alle Tätigkeiten als Arbeiten verstanden werden, daß also, was immer wir tun, auf das unterste Niveau menschlichen Tätigseins überhaupt, die Sicherung der Lebensnotwendigkeiten und eines ausreichenden Lebensstandards, heruntergedrückt ist. Was das öffentliche Urteil der Gesellschaft betrifft, so ist die Hauptaufgabe eines jeden Berufs, ein angemessenes Einkommen zu sichern, und die Anzahl derer, besonders in den freien Berufen, deren Berufswahl von einem anderen Ziel geleitet ist, ist rapide im Abnehmen begriffen. Die künstlerischen Berufe – genau gesprochen die einzigen „Werktätigen“, welche die Arbeitsgesellschaft übriggelassen hat – bilden die einzige Ausnahme, die diese Gesellschaft zu machen bereit ist. Die gleiche Tendenz, alle ernstzunehmenden Tätigkeiten als Formen des Erwerbs der Lebensnahrung, als eine Art, sein „Leben zu machen“ (to make a living) zu verstehen, äußert sich in den in dieser Gesellschaft gängigen Arbeitstheorien, die nahezu einstimmig die Arbeit im Gegensatz zum Spiel definieren. Die einzig ernstzunehmende Tätigkeit, der Ernst des Lebens im wörtlichsten Sinne, ist die Arbeit, und was übrig bleibt, wenn man von der Arbeit absieht, ist das Spielen. Das Kriterion der Unterscheidung selbst ist natürlich das Leben, das Leben des Einzelnen oder der Gesellschaft im Ganzen: als frei gilt, wie seit eh und je, was immer seiner Notdurft nicht untertan ist; aber von solchen freien Tätigkeiten – den artes liberales – ist nur das Spielen übriggeblieben. Und im Spiel äußert sich in der Tat so etwas wie die Freiheit des Lebens selbst, nämlich der „freie“ Kräfteüberschuß, der spielen darf, wenn der Stand der

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gesellschaftlichen Produktivkräfte den Punkt erreicht hat, an dem er seiner nicht mehr bedarf. Diese Theorien, welche die in einer Arbeitsgesellschaft selbstverständlichen Einschätzungen von Tätigkeiten begrifflich klären, haben ihrerseits zur Folge, daß sie die gesellschaftlichen Urteile und Vorurteile auf eine Ebene heben, wo sie konsequent in das ihnen inhärente Extrem getrieben werden können. Dafür ist charakteristisch, daß nun nicht einmal mehr die „Werktätigkeit“ und das Werkschaffen des Künstlers unangetastet bleibt, sondern in den der Arbeit angemessenen Gegensatz des Spieles aufgelöst und damit seiner weltlichen Bedeutung beraubt wird. Innerhalb des arbeitenden Lebensprozesses der Gesellschaft im Ganzen erfüllt das „Spielen“ des Künstlers die gleiche Funktion wie das Tennisspielen oder der Zeitvertreib des Hobbys im Leben des Individuums. Kurz, die Befreiung der Arbeit hat nicht zur Folge gehabt, daß man die Arbeitstätigkeit als gleichwertig und gleichberechtigt mit allen anderen menschlichen Tätigkeiten der Vita activa ansetzt, sondern hat zu ihrer unbestrittenen Vorherrschaft geführt. Vom Standpunkt des „Ernstes des Lebens“, der darin besteht, das Leben in der Arbeit zu reproduzieren und „to make a living“, werden alle nicht-arbeitenden Tätigkeiten zum Hobby. […] Schon Marx hat gewußt, daß die Emanzipation der Arbeit in der Moderne keineswegs damit zu enden braucht, das Zeitalter der Freiheit für alle heraufzuführen, und daß sie ganz genausogut die gegenteilige Folge haben kann, nun zum ersten Mal alle Menschen unter das Joch der Notwendigkeit zu zwingen. Deshalb betonte er, das Ziel einer Revolution könne nicht in der Emanzipation der Arbeiterklasse bestehen – schon darum nicht, weil diese Emanzipation ja bereits erfolgt sei –, sondern nur in der Befreiung des Menschen von der Arbeit. Dies Ziel scheint auf den ersten Blick utopisch, es mutet sogar als das einzig wirklich utopische Element des Marxismus an und ist als solches von Simone Weil diagnostiziert worden*. Für Marx gerade war die Befreiung von der Arbeit identisch mit der Befreiung von der Notwendigkeit, und eine solche endgültige Befreiung kann schließlich nur heißen, daß der Mensch sich auch von der Notwendigkeit des Konsumierens, also von dem Stoffwechsel des Menschen mit der Natur überhaupt befreit, der ja doch die Vorbedingung des Lebens selbst ist. Betrachten wir jedoch die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, vor allem den Beginn und die phantastischen Möglichkeiten der Automation, so könnten uns wohl Zweifel daran kommen, ob nicht die Utopie von gestern sich als die Wirklichkeit von morgen entpuppen wird, so daß schließlich wirklich * Vgl. Simone Weils La Condition ouvrière von 1935. In deutscher Sprache erschien das Werk 1978 unter dem Titel Fabriktagebuch und andere Schriften zum Industriesystem (Anm. d. Herausgebers).

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nichts von der Mühe und Arbeit, in deren biologischen Kreislauf menschliches Leben gebunden schien, übrigbleiben wird als die „Anstrengung“, den Mund aufzumachen, um das Essen zu verzehren. Indessen würde selbst solch eine Verwirklichung des „Utopischen“ nichts an der wesentlich weltlichen Vergeblichkeit des Lebensprozesses ändern. Die beiden Stadien, welche der immer wiederkehrende Kreislauf biologischen Lebens durchlaufen muß, das Arbeiten und das Verzehren, mögen ihre Proportionen so verändern, daß nahezu die gesamte menschliche Arbeitskraft im Verzehren und Konsumieren verbraucht wird; aber das würde nicht besagen, daß wir dann „nur“ noch das, allerdings heute unlösbar scheinende, soziale Problem zu lösen hätten, wie wir genügend Anlässe für die tägliche Erschöpfung schaffen, um das Leben und seine Konsumfähigkeit überhaupt instand zu halten. Ein von aller Beschwer befreites Konsumieren würde den verzehrenden Charakter des biologischen Lebensprozesses nicht ändern, sondern ihn sogar verstärken, bis schließlich ein von allen Ketten befreites Menschengeschlecht täglich die ganze Welt verzehren kann, da sie imstande ist, sie täglich neu zu reproduzieren. Für die Welt wäre es bestenfalls belanglos, wie viele Dinge täglich und stündlich für den Lebensprozeß einer solchen Gesellschaft in ihr zum Erscheinen und Verschwinden gebracht würden, sofern die Welt und ihre Dinghaftigkeit der rücksichtslosen Dynamik eines voll mechanisierten Lebensprozesses überhaupt widerstehen könnten. Bei der Gefahr der bevorstehenden Automation handelt es sich sehr viel weniger um die Bedrohungen des natürlichen Lebens durch Mechanisierung und Technisierung als vielmehr darum, daß gerade die „Künste“ des Menschen, und damit seine wirkliche Produktivität, in einem ungeheuer intensivierten Lebensprozeß einfach untergehen könnten, wobei dann dieser Prozeß automatisch, nämlich ohne der Mühe und Anstrengung der Menschen noch zu bedürfen, in dem natürlichen, immer wiederkehrenden Kreislauf des Lebens mitschwingen würde. Der natürliche Lebensrhythmus würde dabei zwar ungeheuer intensiviert und dementsprechend außerordentlich viel „fruchtbarer“ werden, weil er ständig von dem Rhythmus der Maschinen zusätzlich angetrieben und beschleunigt werden würde; aber auch dieses maschinisierte und motorisierte Leben würde seinen Grundcharakter in bezug auf die Welt nicht ändern, es würde nur ungeheuer schneller und intensiver die Dinge der Welt verzehren und damit die der Welt eigene Beständigkeit zerstören. Von der stufenweisen Verringerung der Arbeitszeit, wie wir sie nun über fast hundert Jahre beobachten können, bis zu der Vollendung dieser „Utopie“, die vermutlich keine ist, ist es ein langer Weg. Außerdem überschätzt man gewöhnlich gerade in dieser Hinsicht den Fortschritt beträchtlich, da man ihn immer nur an der in der Tat ganz ungewöhnlichen und ungewöhnlich

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unmenschlichen Ausbeutung der Arbeitskraft mißt, die charakteristisch für die Frühstadien der kapitalistischen Entwicklung war. Wenn wir unseren Betrachtungen darüber, wie herrlich weit wir es gebracht haben, etwas längere Zeiträume zugrunde legen, so kommen wir zu der überraschenden Feststellung, daß wir es bisher, was die jährliche Gesamtsumme der auf jeden entfallenden Freizeit anlangt, noch nicht sehr viel weiter gebracht haben, als uns wieder einem halbwegs normalen und erträglichen Maß zu nähern. In dieser wie in anderer Hinsicht ist das Ideal der Konsumentengesellschaft, wie es der gegenwärtigen Gesellschaft zweifellos vorschwebt, beunruhigender als die Wirklichkeit, die wir bereits erreicht haben. Das Ideal ist nicht neu; es ist enthalten in der Grundannahme, auf der die klassische politische Ökonomie beruht und an der sie nie gezweifelt hat, daß nämlich Ziel und Zweck der Vita activa einzig und allein in wachsendem Reichtum, Überfluß und dem „Glück für die größte Anzahl“ bestehe. Und was anderes ist schließlich dies moderne Gesellschaftsideal als der uralte Traum, den Armut und Elend träumen und der, wie wir aus der Märchenwelt wissen, einen großen Charme besitzt – so lange nämlich, als der Wunsch nach dem Tischlein-deck-dich nicht in Erfüllung gegangen ist und in einem Narrenparadies geendet hat. Denn die große Hoffnung, die Marx und die Besten der Arbeiterbewegung in allen Ländern beseelte: daß Freizeit schließlich den Menschen von der Notwendigkeit befreien und das Animal laborans produktiv machen würde, beruht auf den Illusionen einer mechanistischen Weltanschauung, die annimmt, daß Arbeitskraft, gleich jeder anderen Energie, niemals verlorengehen kann und daher, wenn sie nicht in der Plage des Lebens verbraucht und erschöpft ist, automatisch frei wird für „das Höhere“. Bei dieser Hoffnung hat Marx zweifellos das Athen des Perikles als Modell vor Augen gestanden, von dem er meinte, daß es heute auf Grund der ungeheuer in intensivierten Produktivität menschlicher Arbeit ohne Sklaven auskommen und eine Wirklichkeit für alle Menschen werden könne. Hundert Jahre nach Marx wissen wir um den Trugschluß dieses Arguments nur zu gut Bescheid; die überschüssige Zeit des Animal laborans wird niemals für etwas anderes verbraucht als Konsumieren, und je mehr Zeit ihm gelassen wird, desto begehrlicher und bedrohlicher werden seine Wünsche und sein Appetit. Zwar verfeinern sich die Begehrlichkeiten, so daß der Konsum nicht mehr auf die Lebensnotwendigkeiten beschränkt bleibt, sondern im Gegenteil sich gerade des Überflüssigen bemächtigt; aber dies ändert nicht den Charakter dieser Gesellschaft, sondern birgt im Gegenteil die schwere Gefahr in sich, daß schließlich alle Gegenstände der Welt, die sogenannten Kulturgegenstände wie die Gebrauchsobjekte, dem Verzehr und der Vernichtung anheimfallen.

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Unumgänglich, wenn auch nicht gerade tröstlich, ist es, sich das Dilemma zu vergegenwärtigen, in das uns die moderne Entwicklung gestellt hat, und das leider in der Natur der Sache selbst liegt. Einerseits ist unbestreitbar, daß nur die Emanzipation der Arbeit, und das heißt die Besitzergreifung des öffentlichen Bereiches durch das Animal laborans, die ungeheuere Steigerung der Arbeitsproduktivität hat erzielen können, die das moderne Leben in so weitgehendem Maße von der Notwendigkeit, die auf dem Leben als solchen lastet, befreit hat. Andererseits ist ebenso unbestreitbar, daß es so lange keinen im eigentlichen Sinne öffentlichen Bereich, sondern nur öffentlich zur Schau gestelltes Privates geben kann, als das Animal laborans die Öffentlichkeit beherrscht und ihr seine Maßstäbe vorschreibt. Vielleicht, hoffentlich, befinden wir uns vorerst nur im ersten Stadium dieser Entwicklung. Aber was wir bisher an Resultaten aufzuweisen haben, ist, was man euphemistisch Massenkultur nennt und was in Wahrheit ein Gesellschaftszustand ist, in dem die Kultur zum Zwecke der Unterhaltung der Massen, denen man die leere Zeit vertreiben muß, benutzt, mißbraucht und aufgebraucht wird. Daß diese Massengesellschaft zudem weit davon entfernt ist, den Zustand des „Glücks für die größte Anzahl“ zu verwirklichen, hat sich inzwischen herumgesprochen; gerade ein dem akuten, virulenten Unglücklichsein schon sehr nahekommendes, allgemeines Unbehagen ist die Stimmung, von der moderne Massen im Überfluß ergriffen werden. Woran sie leiden, ist einfach das zutiefst gestörte Gleichgewicht zwischen Arbeit und Verzehr, zwischen Tätigsein und Ruhe, und dies Leiden verschärft sich dadurch, daß gerade das Animal laborans auf dem besteht, was es „Glück“ nennt und was in Wahrheit der Segen ist, der im Leben selbst liegt, in dem natürlichen Wechsel von Erschöpfung und Ruhe, von Mühsal und Erholung, in der man das Abklingen der Mühsal genießen kann, kurz in dem sich immer erneuernden Gleichgewicht von Unlust und Lust, das nur dem Kreislauf der Natur eigen ist, Daß in unserer Gesellschaft nahezu jedermann glaubt, ein Recht auf Glücklichsein zu haben, und gleichzeitig an seinem Unglücklichsein leidet, ist das beredteste Zeichen dafür, daß wir wirklich angefangen haben, in einer Arbeitsgesellschaft zu leben, die als eine Gesellschaft von Konsumenten nicht mehr genug Arbeit hat, um das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Konsum herzustellen und damit den arbeitenden und konsumierenden Massen das zu geben, was sie Glück nennen, und worauf sie, jedenfalls so lange, als sie sich nur in diesem natürlichen Kreise bewegen, in gewissem Sinne sogar einen Anspruch haben. Denn was das sogenannte Glück betrifft, so sollten wir nicht vergessen, daß nur das Animal laborans die Eigenschaft hat, es zu beanspruchen; weder dem herstellend Werktätigen noch dem handelnd politischen Menschen ist es je in

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den Sinn gekommen, glücklich sein zu wollen oder zu glauben, daß sterbliche Menschen glücklich sein können. Nichts vielleicht ist geeigneter, unsere Aufmerksamkeit auf dies unselige Glücksideal des Animal laborans und die Gefahr seiner Verwirklichung zu lenken, als das Tempo, mit dem die moderne Wirtschaft notwendigerweise sich in Richtung einer „waste economy“, einer auf Vergeudung beruhenden Wirtschaft, entwickelt, die jeden Gegenstand als Ausschußware behandelt und die Dinge fast so schnell, wie sie in der Welt erscheinen, auch wieder aufbraucht und wegwirft, weil sonst der ganze komplizierte Prozeß mit einer plötzlichen Katastrophe enden würde. Aber auch zu der Verwirklichung dieses Ideals, zu der Etablierung einer in sich konsequenten Gesellschaft von Konsumenten, ist es noch ein langer Weg. Denn lebten wir wirklich in einer solchen Konsumgesellschaft, so würden wir überhaupt nicht mehr in einer Welt wohnen, sondern weltlos getrieben werden von einem Prozeß, in dessen Kreisen Dinge zwar erscheinen und verschwinden, gleichsam auf- und niedergehen, aber niemals lange genug bei und um uns verweilten, um für den Lebensprozeß in ihrer Mitte auch nur eine Umgebung abzugeben. […] Je leichter das Leben in einer Arbeits- und Konsumentengesellschaft wird, desto schwerer ist es, den Druck und Zwang des Notwendigen, die das gesellschaftliche Leben treiben und antreiben, auch nur wahrzunehmen, weil die äußeren Kennzeichen der Notwendigkeit, die Mühe und Plage, fast verschwunden sind. Die Gefahr einer solchen Gesellschaft ist, daß sie, geblendet von dem Überfluß ihrer wachsenden Fruchtbarkeit und gefangen in dem reibungslosen Funktionieren eines endlosen Prozesses, vergißt, was Vergeblichkeit ist – nämlich die Flüchtigkeit eines Lebens, das, wie Adam Smith meinte, „keine feste Form mehr annehmen oder in keinem bleibenden Gegenstand mehr sich verdinglichen kann, der die Mühe der Arbeit überdauert“.

Muße als unerläßliches, erst halb erforschtes Ziel (1959) Ernst Bloch Der Weg dahin ist ein wirtschaftlicher, Herren wie Knechte müssen weg. Die soziale Ordnung hebt beide auf, im gleichen Vollzug, und viel mehr dazu. Bisherige wirtschaftliche Widersprüche verschwinden, Unstimmiges, das bleibt, erzeugt kein äußeres und schmutziges Elend mehr. Die Unterschiede zwischen Hand- und Kopfarbeit, zwischen Land und Stadt verschwinden, vor allem aber, soweit möglich, die zwischen Arbeit und Muße. Sie sind ohnehin erst durch den Kapitalismus zu dieser Härte gelangt; vorkapitalistische Produktion kannte Arbeit mit mehr Anteil am Werk der Hände und Freude mit weniger Öde. Der Sozialismus hat, indem er von einer Arbeit die Fron für andere entfernte, bereits weitgehend die Entfremdung von ihr genommen. Aber erst eine klassenlose Gesellschaft enthält den Boden, um die Arbeit, die zum Minimum herabgesetzte, vom Fluch der Entfremdung ganz zu befreien und die Muße vom Teufelssegen der „Grande Jatte“. Sie hebt die Entäußerung der Arbeit vom Menschen auf, jene, worin sich der Arbeiter selbst als entäußerter, entfremdeter, als verdinglichte Ware fühlt und deshalb in seiner Arbeit unglücklich ist. Die klassenlose Gesellschaft entfernt mittels der gleichen Rück-Entäußerung aus der Muße die ungelebte Leere, den der Öde der Arbeit durchaus korrespondierenden (und nicht kontrastierenden) Sonntag. Sie entfernt der Muße vor allem die falsche, genährt von jener Art Ideologie, welche zum Schein gehört, folglich in Phrase und vollem Schwindel endet. Diese Ideologie begann erst mit der Erscheinung von Herr und Knecht, ist einzig mit der arbeitsteiligen Klassengesellschaft gesetzt und verschwindet mit ihr, als Trennung von sozialem Sein und Bewußtsein. Der Ursprung dieser Ideologie, wie Marx ihn aufzeigt, erläutert gerade ihr Ende ohne Auferstehung: „Die Teilung der Arbeit wird erst wirklich Teilung von dem Augenblick an, wo eine Teilung der materiellen und geistigen Arbeit eintritt. Von diesem Augenblick an kann sich das Bewußtsein wirklich einbilden, etwas anderes als das Bewußtsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen – von diesem Augenblick an ist das Bewußtsein imstande, sich von der Welt zu emanzipieren und zur Bildung der ‚reinen‘ Theorie, Theologie, Philosophie, Moral überzugehen. Aber selbst wenn diese Theorie, Theologie, Philosophie, Moral etc. in Widerspruch mit den bestehenden Verhältnissen treten, so kann dies nur dadurch geschehen,

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daß die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse mit der bestehenden Produktionskraft in Widerspruch getreten sind“ (Deutsche Ideologie, Dietz, 1953, S. 28). Marx gibt mit diesen Sätzen unzweideutig die Klassenscheidung als Ursprung, die Klassengesellschaft als Halt der Ideologie an, freilich, – und dies Motiv wird nun entscheidend wichtig: „Theologie, Philosophie, Moral et cetera“, also Ideologie, konnte auch „in Widerspruch mit den bestehenden Verhältnissen treten“; Ideologie bleibt also übrig, die nicht bloßer Schein, bloße Lüge ist. Sie ist letzteres als falsches, besonders als ausgenutzt falsches Bewußtsein der bestehenden Praxis, doch nicht als der von Marx zuletzt angegebene Widerspruch der Theorie mit den bestehenden Verhältnissen. Das heißt als Ausdruck eines Widerspruchs, in den die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse mit der bestehenden Produktivkraft getreten sind, und vor allem umgekehrt. Gegebenenfalls also ist hier der Ort für jene Ideologie ganz anderen Sinns: für keine vernebelnd-rechtfertigende, sondern für eine revolutionär-kontrastierende. Sie taucht gerade in der Wende zwischen Klassengesellschaften auf und wie sehr erst in der Aufhebung von Klassengesellschaft insgesamt. Diese Art Ideologie ist ihrer kämpferischen Absicht und zu großem Teil ihren Inhalten nach lediglich als kontrastierende auf die gesellschaftliche Basis bezogen, auf der, das heißt: gegen die sie entstanden ist. Sie spiegelt und rechtfertigt diese Basis nicht, sie bringt umgekehrt die noch nicht voll entwickelten, noch nicht zum politischen Durchbruch gekommenen Elemente der neuen Gesellschaft zu Bewußtsein, die im Schoß der alten herangereift sind. Das vollzog sie in der Vergangenheit, wegen der damals noch unerkannten Triebkräfte der Geschichte, mit mancherlei Illusionen, doch niemals mit irgendeiner Zweckabsicht von Vernebelung. Konträr, diese Art Ideologie wurde auf Grund eines grundehrlichen, revolutionär progressiven Auftrags erzeugt, und noch ihre Illusion trägt heroisch-utopische Züge. Wobei ihr produktives Amt ist, die noch gar nicht recht vorhandene Basis der neuen, vom Eis befreiten Gesellschaft mit der Gewalt der Theorie zu aktivieren; sonst käme es viel schwerer, viel unaufgeräumter zur Erscheinung dieser Basis. Und darum: diese Art Ideologie, die des ehedem revolutionären „Widerspruchs mit den bestehenden Verhältnissen“, bleibt mit dem Feuer und den Zielbildern ihres Widerspruchs weiter lebendig, nämlich als eines antizipierend-humanen. So arbeitet die französische Revolutionsideologie minus Illusionen, minus des in ihnen idealisierten Reichs der Bourgeoisie, im Raum des progressiven Bewußtseins fort; so hat erst recht die Ideologie des deutschen Bauernkriegs, minus ihrer mythologischen Bestandteile, ein Zielfeuer in sich, das unveraltet ins revolutionäre Gewissen schlägt, vorzüglich auch in die Phantasie dieses Gewissens. Und hin zur Muße, so ist die so bezeichnete, die schwer befriedigte Ideologie nicht nur der aufscheuchende Hecht in einem möglichen

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Karpfenteich der Muße, sondern sie verhindert, daß diese überhaupt ein Karpfenteich sein kann, soll heißen: ein Glück als Faulbett statt als Expedition und Lebensfülle. Die Widersprüche in der sozialistischen Gesellschaft, wie gar in der künftigen klassenlosen, sind keine antagonistischen mehr, aber wie sie als nicht antagonistische nicht aufhören, so auch nicht das Amt der Ideologie, innerhalb der allgemein ermöglichten Muße für Unstimmigkeiten Sorge zu tragen und über ihre Lösung antizipierende Verfügungen zu treffen. Auch wenn diese Unstimmigkeiten endlich rein menschliche, menschenwürdige geworden sind, also die einzig wahren Existenzsorgen betreffen. Keine Aktivierung einer neuen Basis ist dann mehr nötig, diese Aufgabe wurde durch die Vergesellschaftung der Produktionsmittel gelöst, wohl aber hat die kommunistisch gewordene Ideologie das Amt, die immer reichere und tiefere Gestaltung der menschlichen Beziehungen zu aktivieren. Denn es gibt gerade in der Muße noch eine mächtige Karriere der Solidarität, ja sie fängt erst an zu beginnen. So fährt die Ideologie des Scheins gänzlich dahin, hingegen nicht, in keiner Weise, die der sozialmoralischen Bewußtseinsbildung. Diese Art Ideologie wird in allen ihren Hauptzügen, auch in den überwiegend auf Natur bezogenen Gebieten der Kunst und des ferneren Überbaus, eine Ethik sein. Die neue Bedürftigkeit der Muße selber produziert derart einen neuen Überbau über einer neuen Plan-Nichtwirtschaft. Sie produziert eine immer wesenhaftere Ideologie der zwischenmenschlichen Beleuchtung – und das eben im rein gewordenen Dienst der Muße, zur Beförderung ihrer humanen Inhalte. […] Eine bedeutende Einheit mit der gesellschaftlichen Erhellungs-Ideologie allerdings besteht: nämlich die Antizipation. Dergestalt, daß beide Arten Ideologie über die Hälfte Utopie mitenthalten, sowohl als antizipierende Formulierung einer neuen, mit den Produktionskräften übereinstimmenden Gesellschaft wie vor allem auch als Bedenkung der radikal-totalen menschlichen Zweckreihen und ihrer Stellung in einem vermittelten Universum. „Nur derart ist das an sich Nutzlose, Anarchische und allzu Literaturhafte der geistigen Gebilde überhaupt in den Rahmen, ins Relief zu bringen, vermittelst eines geschichtlich-teleologischen Hintergrunds, der allem, was die Menschen über sich an Werken erschaffen, Fluß, Strom, Richtung, Heilswert und metaphysischen Ort zuweisen läßt, den Ort der echten sozialistischen Ideologie, den Ort des großen Feldzugplans der Zivilisation und Kultur“ (Geist der Utopie, 1918, S. 433). Das hier Gemeinte, das man also die Ideologie des Überhaupt nennen könnte, führt nun allsogleich wieder zur Muße hin, gemäß ihren letzten, doch unablässig in ihr verteilten Inhalten. Der Stachel des übermächtigen und wohl gar schmerzhaften Erstaunens über eine Welt, die

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so viel Tod und so ungeheure Disparatheit enthält, der Motor der kenntnisreichen Hoffnung auf den im Prozeß befindlichen Charakter der gleichen Welt, als einer der heliotropen Materie, die die Menschen sind und von der sie umgeben sind: beides, Erstaunen wie Hoffnung, beschäftigt und substanziiert die Muße desto reiner und genauer, je freier vom Erwerb und schließlich von Arbeit sie in der Ordnung eine solche geworden ist. Die kulturelle Produktion verhielt sich bisher, trotz aller ihrer Bedeutungsländer, nur sporadisch zum Grundrißproblem einer besseren Welt. Dies Problem und sein Inhalt wird aber sogleich systematisch werden, sobald das schöne und große Werk nicht nur wieder sozialen Lebensgrund findet, sondern sobald, in einem sozial endlich ungeteilten Lebensgrund, der Anteil der Betrugs- und Ablenkungs-Ideologie, samt dem ihr entsprechenden Flachgenuß der Freizeit, ja der Kultur als bloßer Schönillusion, erledigt ist. Sind der Staat und jede Regierung über Menschen verschwunden, dann werden die Regierung und Leitung durch Lehrer auch genug Freiheit und Muße antreffen, um nach den totalen Inhalten der Freiheit begierig zu machen. Um menschliche Antwort an die äußerst nackte Frage der Muße zu setzen, an das so endlich klar erscheinende Problem wie Wesen ihrer immer konkreteren Inhalte. Das Einschlagen der rechten Richtung führt in die Terra incognita Muße als in eine Terra utopica. Es wird dieses Einschlagen aber dasselbe wie ein Einschlag, nämlich in das ausstehende Bedenken dessen, was die Menschen überhaupt wollen und wie die Welt als Antwort sich dazu verhält. Dahin läuft, nach dem Ablauf ihrer bisherigen Vorgeschichte, das Interesse der tätigen Muße und ihrer beginnenden Hauptgeschichte, als der vermenschlichten Geschichte selbst. Wirkliche Muße lebt einzig vom jederzeit gewärtigten, zu guter Zeit vergegenwärtigten Selberseins- oder Freiheits-Inhalt in einer gleichfalls unentfremdeten Welt; erst darin kommt Land.

Das Ende der Utopie (1968) Herbert Marcuse Ich muß zunächst mit einer Binsenwahrheit anfangen, ich meine damit, daß heute jede Form der Lebenswelt, jede Verwandlung der technischen und der natürlichen Umwelt eine reale Möglichkeit ist und daß ihr Topos ein geschichtlicher ist. Wir können heute die Welt zur Hölle machen, wir sind auf dem besten Wege dazu, wie Sie wissen. Wir können sie auch in das Gegenteil verwandeln. Dieses Ende der Utopie, das heißt die Widerlegung jener Ideen und Theorien, denen der Begriff der Utopie zur Denunziation von geschichtlichgesellschaftlichen Möglichkeiten gedient hat, kann nun auch in einem sehr bestimmten Sinn als „Ende der Geschichte“ gefaßt werden, nämlich in dem Sinne, daß die neuen Möglichkeiten einer menschlichen Gesellschaft und ihrer Umwelt, daß diese neuen Möglichkeiten nicht mehr als Fortsetzung der alten, nicht mehr im selben historischen Kontinuum vorgestellt werden können, daß sie vielmehr einen Bruch mit dem geschichtlichen Kontinuum voraussetzen, jene qualitative Differenzen zwischen einer freien Gesellschaft und den noch unfreien Gesellschaften, die nach Marx in der Tat alle bisherige Geschichte zur Vorgeschichte der Menschheit macht. Aber ich glaube, daß auch Marx noch zu sehr dem Begriff des Kontinuums des Fortschritts verhaftet war, daß auch seine Idee des Sozialismus vielleicht noch nicht oder nicht mehr jene bestimmte Negation des Kapitalismus darstellt, die sie darstellen sollte. Das heißt, der Begriff des Endes der Utopie impliziert die Notwendigkeit, eine neue Definition des Sozialismus wenigstens zu diskutieren, und zwar auf dem Boden der Frage, ob nicht Entscheidendes im Marxschen Begriff des Sozialismus einer heute überholten Entwicklungsstufe der Produktivkräfte angehört. Das kommt meiner Meinung nach am klarsten in jener Unterscheidung zwischen dem Reich der Freiheit und dem Reich der Notwendigkeit zum Ausdruck, nach der das Reich der Freiheit nur jenseits des Reiches der Notwendigkeit gedacht werden und bestehen kann. Diese Teilung impliziert, daß das Reich der Notwendigkeit wirklich noch ein * Mit Genehmigung des literarischen Nachlasses von Herbert Marcuse, Peter und Harold Marcuse, Testamentsvollstrecker, deren Zustimmung für jede weitere Veröffentlichung erforderlich ist. Alle Rechte zur weiteren Veröffentlichung liegen beim Nachlass. Wir danken Peter-Erwin Jansen, Vertreter der Rechteeigentümer, für seine Unterstützung.

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Reich der Notwendigkeit im Sinne der entfremdeten Arbeit bleibt, und das heißt, wie Marx sagt, daß alles, was in diesem Reich geschehen kann, ist, daß die Arbeit so rational wie möglich organisiert wird, so sehr wie möglich reduziert wird – aber sie bleibt Arbeit in und am Reich der Notwendigkeit und damit unfrei. Ich glaube, daß eine der neuen Möglichkeiten, die die qualitative Differenz der freien von der unfreien Gesellschaft anzeigt, genau darin besteht, das Reich der Freiheit im Reich der Notwendigkeit erscheinen zu lassen, in der Arbeit und nicht nur jenseits der (notwendigen) Arbeit. In einer provokativen Formulierung dieser spekulativen Idee würde ich sagen, wir müssen auch die Möglichkeit eines Weges des Sozialismus von der Wissenschaft zur Utopie und nicht nur von der Utopie zur Wissenschaft ins Auge fassen. […] Alle materiellen und intellektuellen Kräfte, die für die Realisierung einer freien Gesellschaft eingesetzt werden können, sind da. Daß sie nicht für sie eingesetzt werden, ist der totalen Mobilisierung der bestehenden Gesellschaft gegen ihre eigene Möglichkeit der Befreiung zuzuschreiben. Aber dieser Zustand macht in keiner Weise die Idee der Umwälzung selbst zu einer Utopie. Möglich in dem angedeuteten Sinn ist die Abschaffung der Armut und des Elends, möglich in dem angedeuteten Sinn ist die Abschaffung der entfremdeten Arbeit, möglich ist die Abschaffung dessen, was ich „surplus repression“ genannt habe. Ich glaube, darin sind wir relativ einig, schlimmer noch, darin sind wir, glaube ich, auch mit unseren Gegnern einig. Es gibt heute kaum, selbst in der bürgerlichen Ökonomie, einen ernst zu nehmenden Wissenschaftler oder Forscher, der leugnen würde, daß mit den technisch bereits vorhandenen Produktivkräften, materiell sowohl wie intellektuell, die Abschaffung des Hungers und des Elends möglich ist und daß das, was heute geschieht, der globalen Politik einer repressiven Gesellschaft zuzuschreiben ist. Aber obwohl wir darin einig sind, sind wir uns noch nicht genügend klar darüber, was die technisch mögliche Abschaffung der Armut, des Elends und der Arbeit impliziert, nämlich, daß diese geschichtlichen Möglichkeiten in Formen gedacht werden müssen, die in der Tat den Bruch eher als die Kontinuität mit der bisherigen Geschichte, die Negation eher als das Positive, die Differenz eher als den Fortschritt anzeigen, nämlich die Transformation, die Befreiung einer Dimension der menschlichen Existenz diesseits der materiellen Basis, die Transformation der Bedürfnisse. Was auf dem Spiel steht, ist die Idee einer neuen Anthropologie, nicht nur als Theorie, sondern auch als Existenzweise, die Entstehung und Entwicklung eines vitalen Bedürfnisses nach Freiheit, und von vitalen Bedürfnissen der Freiheit – und zwar einer Freiheit, die nicht mehr in Kargheit und der Notwendigkeit entfremdeter Arbeit begründet und begrenzt ist. Die Entwicklung

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qualitativ neuer menschlicher Bedürfnisse erscheint als biologische Notwendigkeit, Bedürfnisse in einem sehr biologischen Sinne. Denn als vitales, notwendiges Bedürfnis besteht das Bedürfnis nach Freiheit in einem großen Teil der gleichgeschalteten Bevölkerung in den entwickelten Ländern des Kapitalismus nicht oder nicht mehr. Im Sinne dieser vitalen Bedürfnisse impliziert die neue Anthropologie auch die Entstehung einer neuen Moral als Erbe und Negation der judäo-christlichen Moral, die bisher die Geschichte der westlichen Zivilisation charakterisiert hat. Es ist gerade die Kontinuität der in einer repressiven Gesellschaft entwickelten und befriedigten Bedürfnisse, die diese repressive Gesellschaft in den Individuen selbst immer wieder reproduziert. Die Individuen reproduzieren in ihren eigenen Bedürfnissen die repressive Gesellschaft, selbst durch die Revolution hindurch, und es ist genau diese Kontinuität, die den Sprung von der Quantität in die Qualität einer freien Gesellschaft bisher verhindert hat. Diese Idee impliziert, daß die menschlichen Bedürfnisse historischen Charakter haben. Jenseits der Animalität sind alle menschlichen Bedürfnisse, einschließlich der Sexualität, historisch bestimmt, historisch transformierbar. Und der Bruch mit der Kontinuität der Bedürfnisse, die die Repression schon in sich tragen, der Sprung in die qualitative Differenz ist nicht etwas Ausgedachtes, sondern etwas, das in der Entwicklung der Produktivkräfte selbst angelegt ist. Sie hat heute einen Stand erreicht, wo sie tatsächlich neue vitale Bedürfnisse fordert, um ihren eigenen Möglichkeiten gerecht zu werden. Welches sind diese Tendenzen der Produktivkräfte, die diesen Sprung von der Quantität in die Qualität möglich machen? Vor allem die Technologisierung der Herrschaft, die den Boden der Herrschaft selbst untergräbt. Die progressive Reduktion physischer Arbeitskraft im Produktionsprozeß (im materiellen Produktionsprozeß), die immer mehr durch mentale Nervenarbeit ersetzt wird, konzentriert gesellschaftlich notwendige Arbeit in der Klasse der Techniker, Wissenschaftler, Ingenieure usw. – mögliche Befreiung von entfremdeter Arbeit. Sie sehen, es handelt sich hier selbstverständlich nur um Tendenzen, aber Tendenzen, die in der Entwicklung und im Fortbestand der kapitalistischen Gesellschaft begründet sind. Wenn es dem Kapitalismus nicht gelingt, diese neuen Möglichkeiten der Produktivkräfte und ihrer Organisation auszunützen, fällt die Produktivität der Arbeit unter das von der Profitrate geforderte Niveau. Und wenn der Kapitalismus dieser Forderung folgt und die Automation rücksichtslos weitertreibt, stößt er auf seine innere Grenze: die Quellen des Mehrwerts für die Aufrechterhaltung der Tauschgesellschaft versickern. Marx hat in den „Grundrissen“ dargelegt, daß vollendete Automation der gesellschaftlich notwendigen Arbeit mit der Erhaltung des Kapitalismus

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unvereinbar ist. Diese Tendenz, für die Automation nur ein abkürzendes Schlagwort ist, und durch die die notwendige physische Arbeit, entfremdete Arbeit, immer mehr aus dem materiellen Produktionsprozeß herausgezogen wird: diese Tendenz führt nun – und nun komme ich in der Tat zu „utopischen“ Möglichkeiten; wir müssen ihnen standhalten, um zu sehen, was hier wirklich auf dem Spiel steht – diese Tendenz führt zum totalen Experiment im gesellschaftlichen Rahmen und auf gesellschaftlichem Niveau. Mit der Abschaffung der Armut würde diese Tendenz zum Spiel mit den Möglichkeiten der menschlichen und außermenschlichen Natur als Inhalt gesellschaftlicher Arbeit; in ihr würde die produktive Einbildungskraft zur geformten Produktivkraft, die die Möglichkeiten einer freien menschlichen Existenz auf der Grundlage der ihr entsprechenden Entwicklung der materiellen Produktivkräfte frei entwirft. Damit diese technischen Möglichkeiten nicht solche der Repression werden, damit sie ihre befreiende Funktion erfüllen können, müssen sie aber von befreienden und befriedenden Bedürfnissen getragen und erzwungen werden. Wenn das vitale Bedürfnis nach Abschaffung der (entfremdeten) Arbeit nicht besteht, wenn im Gegenteil das Bedürfnis nach Fortsetzung der Arbeit besteht, selbst wenn diese gesellschaftlich nicht mehr notwendig ist; wenn das vitale Bedürfnis nach Freude, nach dem Glück mit gutem Gewissen nicht besteht, sondern vielmehr das Bedürfnis, daß man alles nur verdienen muß in einem Leben, das so miserabel wie nur möglich ist, wenn diese vitalen Bedürfnisse nicht bestehen oder von den repressiven erstickt werden, was dann zu erwarten ist, ist nur, daß die neuen technischen Möglichkeiten in der Tat zu neuen Möglichkeiten der Repression der Herrschaft werden. Was die Kybernetik und Computer zur totalen Kontrolle einer menschlichen Existenz beitragen können, das wissen wir bereits. Die neuen Bedürfnisse, die wirklich die bestimmte Negation der bestehenden Bedürfnisse wären, zeigen sich zunächst als die Negation der das heutige Herrschaftssystem tragenden Bedürfnisse und der sie tragenden Werte: zum Beispiel die Negation des Bedürfnisses nach dem Existenzkampf (dieser ist angeblich etwas Notwendiges, und alle jene Ideen oder Phantasien, die von der möglichen Abschaffung des Existenzkampfes sprechen, widersprechen damit den angeblichen natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen der menschlichen Existenz), die Negation des Bedürfnisses, das Leben zu verdienen, Negation des Leistungsprinzips, der Konkurrenz, Negation des Bedürfnisses nach einer verschwendenden, zerstörenden Produktivität, die mit Destruktion untrennbar verbunden ist, Negation des vitalen Bedürfnisses nach verlogener Triebunterdrückung. Diese Bedürfnisse wären negiert in dem vitalen, biologischen Bedürfnis nach Frieden, das heute, wie Sie nur zu gut wissen, kein

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vitales Bedürfnis der Majorität ist, dem Bedürfnis nach Ruhe, dem Bedürfnis nach Alleinsein, mit sich selbst oder mit dem selbstgewählten anderen, Bedürfnis nach dem Schönen, dem Bedürfnis nach „unverdientem“ Glück – alles dies nicht nur als individuelle Bedürfnisse, sondern als gesellschaftliche Produktivkraft, als gesellschaftliche Bedürfnisse, die in der Leitung und Verwendung der Produktivkräfte bestimmend zur Wirkung gebracht werden. Diese neuen vitalen Bedürfnisse würden dann als gesellschaftliche Produktivkraft eine totale technische Umgestaltung der Lebenswelt möglich machen, und ich glaube, daß erst in einer so umgestalteten Lebenswelt neue menschliche Verhältnisse, neue Beziehungen zwischen den Menschen möglich werden. Technische Umgestaltung – wiederum spreche ich im Hinblick auf die technisch höchst entwickelten kapitalistischen Länder, wo eine solche Umgestaltung die Beseitigung der Schrecken der kapitalistischen Industrialisierung und Kommerzialisierung meint, die totale Rekonstruktion der Städte und die Wiederherstellung der Natur nach der Beseitigung der Schrecken der kapitalistischen Industrialisierung. Ich hoffe, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß, wenn ich von der Beseitigung der Schrecken der kapitalistischen Industrialisierung spreche, ich nicht einer romantischen Regression hinter die Technik das Wort rede, sondern im Gegenteil glaube, daß die möglichen und befreienden Segnungen der Technik und der Industrialisierung überhaupt erst sichtbar und wirklich werden können, wenn die kapitalistische Industrialisierung und die kapitalistische Technik beseitigt sind. Die Qualitäten der Freiheit, die ich hier angedeutet habe, sind meiner Meinung nach Qualitäten, die bisher – und ich komme damit auf das zurück, was ich am Anfang gesagt habe – in der Besinnung auf den Begriff des Sozialismus nicht adäquat zum Ausdruck gekommen sind. Der Begriff des Sozialismus ist selbst bei uns zu sehr noch im Rahmen der Entwicklung der Produktivkräfte gefaßt worden, zu sehr noch im Rahmen der Steigerung der Produktivität der Arbeit, was auf der Stufe der Produktivität, auf der die Idee des wissenschaftlichen Sozialismus entwickelt wurde, nicht nur berechtigt, sondern notwendig war, aber heute zumindest diskutiert werden muß. Wir müssen heute versuchen, die qualitative Differenz der sozialistischen Gesellschaft als freier Gesellschaft von den bestehenden Gesellschaften ohne jede Hemmung, selbst wenn es lächerlich erscheinen mag, zu diskutieren und zu bestimmen. Und es ist genau hier, wo, wenn wir nach einem Begriff suchen, der vielleicht die qualitative Differenz der sozialistischen Gesellschaft andeuten kann, die ästhetisch-erotische Dimension gleichsam spontan, jedenfalls mir, zum Bewußtsein kommt. Hier ist der Begriff „ästhetisch“ im ursprünglichen Sinn genommen, nämlich als Form der Sensitivität der Sinne und als Form

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der Lebenswelt. In dieser Fassung projiziert der Begriff die Konvergenz von Technik und Kunst und die Konvergenz von Arbeit und Spiel. Es ist kein Zufall, daß heute in der avantgardistischen linken Intelligenz das Werk von Fourier wieder aktuell wird. Es war Fourier, der, wie Marx und Engels selbst anerkannt haben, zum erstenmal und als einziger diese qualitative Differenz zwischen der freien und der unfreien Gesellschaft sichtbar gemacht hat und nicht zurückgeschreckt ist, wo Marx noch zurückgeschreckt ist, von einer möglichen Gesellschaft zu sprechen, in der die Arbeit zum Spiel wird, einer Gesellschaft, in der selbst die gesellschaftlich notwendige Arbeit im Einklang mit den befreiten, eigenen Bedürfnissen der Menschen organisiert werden kann.

Die Verleumdung der Leistung (1975) Helmut Schelsky In den Mittelpunkt der Beurteilung des modernen Gesellschafts- und Wirtschaftssystems ist der Begriff und die Wertung der „Leistung“ getreten, wobei auf der einen Seite der Leistungsverfall beklagt wird und man die Polemik bestimmter Kreise gegen das „Leistungsprinzip“ als eine Zerstörung der Grundlagen unseres Gesellschaftssystems ansieht; auf der anderen Seite werden in der Tat die Leistungsanforderungen unseres gesellschaftlich-wirtschaftlichen Systems als die eigentümliche Form der modernen Inhumanität angeprangert und wird die „große Verweigerung“ (H. Marcuse) gegen die „Leistungsgesellschaft“ gepredigt. Die sehr verschieden argumentierenden Verteidiger der Leistungshochwertung stimmen in einem Einwand gegen die Leistungsverdammung überein: Sie weisen der Polemik gegen das Leistungsprinzip einen politischen und logischen Widerspruch insofern nach, als diese auf der einen Seite das Individuum vor der Leistungsausbeutung beschützen will und den einzelnen auffordert, sich dem Leistungszwang zu entziehen, auf der anderen Seite aber die gleichen Leute mehr Sozialleistungen fordern und mehr Sozialprodukt verteilen wollen, der „öffentlichen Armut“ im nationalen und internationalen Rahmen abhelfen und überhaupt allen Menschen mehr „freie Zeit“ und Muße zur Entwicklung ihrer Subjektivität bescheren möchten. Wer die Mehrleistung bei gefordertem Leistungsabbau erbringt, darüber schweigen diese Progressiven sich meistens aus. Nur die Naiven unter ihnen wiederholen den alten kapitalistischen und zugleich sozialistischen Wunderglauben, daß dies der „Fortschritt der Technik“ zustande bringen werde, da sich inzwischen herumgesprochen hat, daß „Technik“ von Menschen gemacht und geleistet werden muß und zudem eben die Kritiker der Leistungsanforderungen im gleichen Zuge Kritiker der „technischen Rationalität“, des „technischen Fortschritts“ und der damit verbundenen Geltung und Vorherrschaft der „Technokraten“ sind. Und trotzdem verhallen diese logischen und politischen Argumente bei den Leistungskritikern ungehört, bestätigen und verallgemeinern eigentlich nur die Haltung derer, die „für Leistung“ und gegen Leistungsabbau sind, d. h., die Argumentation hat auf beiden Seiten nur noch die Aufgabe einer ideologischen Bestätigung der hinter den vorgetragenen Beweisgründen verborgenen Gruppeninteressen.

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[…] Die Auflösung dieses sogenannten „Widerspruchs“ ist verhältnismäßig einfach, wenn man darin kein argumentatives Verhältnis, sondern einen gruppenhaften Machtwettbewerb erkennt, bei dem Argumente nur vordergründig sind. Die Kritiker des „Leistungsprinzips“ und der „Leistungsgesellschaft“ wollen ja gar nicht die Leistung „der anderen“ bremsen oder vermindern, sie wollen sie nur abwerten; es würde ein trauriges Realitätserwachen für sie geben, wenn „die anderen“ ihren Anweisungen folgten und das Sozialprodukt in dem Maße absinken würde, daß sie nicht nur ihre weltbeglückenden Sozialpläne und damit den Wirklichkeitsschein ihrer Heilsverheißungen aufgeben müßten, sondern vielleicht sogar ihre eigene Existenz – die ja fast ausschließlich auf öffentlichen Steuerleistungen (Staatsbeamte) oder aus sonstigen öffentlichen Geldern (Rundfunkanstalten, Studierende, staatlich eingetriebene Kirchensteuern usw.) beruht – in Gefahr geriete. Die funktionale Absicht der Antileistungspolemik zielt keineswegs auf die Leistungsbeschränkung der produktiv Arbeitenden, sondern auf die soziale Rechtfertigung und Wertüberlegenheit der eigenen, gruppenhaften Leistungsverweigerung und Luxusexistenz. Es geht um Klassenvorteile, nicht um Humanitäten. Damit wird ein Zug des Klassenkampfes deutlich, der in Marx’ Lehre zwar erkennbar, genauer aber erst von Veblen herausgearbeitet worden ist: Klassenherrschaft zielt vor allem auf die Verfügung über die soziale Wertesetzung, über die von den Unterworfenen dann ebenfalls anerkannten Bestimmungen, was gut und böse, was edel und gemein ist, oder – moderner benannt – was als progressiv und reaktionär, als human und inhuman, als frei und als entfremdet, als sinnvoll oder sinnlos zu gelten hat. Man könnte gut marxistisch sagen: Diejenige Klasse herrscht, die den „Überbau“ errichtet und verwaltet. Aus dieser Herrschaft über das Wertebewußtsein als Kern der Klassenherrschaft und d. h. der Ausbeutung der zu den „Wertminderen“ gestempelten Klasse – es ist immer die der güterproduzierenden Arbeit – erklärt sich dann auch das „gute Gewissen“ der jeweils herrschenden Klasse, sich keiner Ausbeutung anderer bewußt zu sein: Wer die Standards, die Maßstäbe dessen errichtet und beherrscht, was als Ausbeutung und was als Freiheit zu gelten hat, ist wie jeder Machtsouverän immer „ex lege“, d. h., er kann es ja so einrichten, daß die Normen, nach denen „Ausbeutung“ gemessen wird, ihn nicht treffen. Deshalb ist es keineswegs heuchlerische Machtverstellung, daß die herrschende „Überbau“-Klasse der Sinn-Produzenten ihre „objektive“, d. h. an der Produktion des Lebens gemessene Ausbeutung der anderen nicht bemerkt, denn ihre Herrschaft beruht ja auf der Werte-Produktion ihres guten Gewissens, also der Absolutheit ihrer Normen und Ideale. Sie ist nur in ihrem Klassendenken befangen, wenn sie selbst daran glaubt. Deshalb kann sie ihre

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Klassenherrschaft oder Ausbeutung mit dem ganzen Pathos und der einer allgemeinen Zustimmung gewissen Idealität und Moralität umgeben, die einen Zweifel an ihrer Selbstlosigkeit und sozialen Verantwortung fast zur sozialen Gotteslästerung macht. In gleicher Weise war die kapitalistische Bourgeoisie von ihrer Sendung als Vertreter des „Fortschritts“ und der bürgerlichen „Freiheit“ oder die „Leisure Class“ Veblens von ihrer Vertretung der „Kultur“ und des „Geistes“ überzeugt, da sie diese Wertmaßstäbe in der gesamten Gesellschaft durchgesetzt hatten. […] Weil aber die Abwertung der „Leistung“ im wesentlichen eine Funktion des neuen Klassenkampfes darstellt, stoßen alle Versuche, den in ihr behaupteten Tatbeständen sachlich und empirisch zu begegnen, völlig ins Leere. Sicherlich kann man nachweisen, daß „Leistung“ – wenn man über sie überhaupt so abstrakt reden darf – im wesentlichen ein Element der Freiheit ist, weil der „Leistende“, der Produktive, in allen Gesellschaftsordnungen der Unentbehrliche ist, was sich in der jeweiligen gesellschaftlichen „Honorierung“ auszahlt. Man kann nachweisen, daß Leistung das Grundelement der Selbstbestätigung und Selbstsicherheit des modernen Menschen, also das Gegenteil von Entfremdung, darstellt, eine Einsicht, die alle Ärzte, Therapeuten, mit Erfahrung vorgehenden Sozialarbeiter usw. kennen, die Arbeit im Sinne der selbstbestätigenden Leistung als Heilmittel einsetzen. Man kann nachweisen, daß der demokratische Gleichheitsgedanke im Sinne der Chancengleichheit sich eben auf die Chance der Leistung bezieht, eine Auslegung des Gleichheitsprinzips, die nirgendwo härter gehandhabt wird als in den sozialistischen Staaten. Ja, man kann nachweisen, daß selbst die einfachen und repetitiven Arbeiten, wo sie noch vorhanden sind, von vielen in ihnen Beschäftigten bejaht werden, weil sie Freiheitsgrade in sich haben und weil sie die Eingliederung von Menschen in produktive Arbeit ermöglichen, die sonst als unfähig oder gar krank außerhalb des Produktionsprozesses blieben. Vor allem aber wäre darauf hinzuweisen, daß die Haupteinwände der Leistungsgegner sehr oft gar nicht der Leistung, sondern der Leistungsbemessung gelten, eine Frage, die von Fall zu Fall durchaus der empirisch-kritischen Überprüfung bedarf. Demgegenüber betreffen die empirischen Tatbestände, die von den Leistungsgegnern als Beweismittel angeboten werden, Randerscheinungen des Produktionssystems oder Schwächen, die arbeitspolitisch durchaus reformierbar, d. h. behebbar sind, zum Teil aber Beurteilungen von Arbeitsformen, die nicht den in ihnen Tätigen, wohl aber den Sinn-Produzenten belastend erscheinen. Damit ist die Frage aufgeworfen, welche Arbeits- oder Tätigkeitsgruppe ihre Interessen in der Leistungsabwertung eigentlich als werthöher behaupten will. Dazu folgende Einsicht in den Wandel der Arbeitsstrukturen in modernen

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Industriegesellschaften: Die technische Entwicklung hat vor allem die schweren körperlichen Arbeiten durch Maschinenkraft, die einförmig und schematisch wiederholten Tätigkeiten, auch in der Büroarbeit, durch Automation ersetzt; und wo dies noch nicht der Fall ist, sind zumindest hohe technische Erleichterungen eingeführt und ist die Entwicklung in gleicher Richtung abzusehen. Damit ist eine Umverlagerung der entscheidenden produktiven Leistungen der Lebenserhaltung und -förderung der Gesellschaften in intellektuellere Tätigkeiten, in wissenschaftliche Forschung, Planung, Organisation, Beobachtung und Kontrolle, Ausbildung und Information, selbständige Regulationsfähigkeit und Improvisation in Krisenfällen, in Beurteilungsfähigkeit von komplexen Situationen, moralische Zuverlässigkeit, Geistesgegenwart und menschliches Umgangsgeschick usw., und zwar immer bezogen auf güterschaffende Leistung, umgeschlagen. Diese Einsicht gehört zu den Gemeinplätzen der modernen Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftswissenschaften. Damit sind zwei sozial-gruppenhafte Veränderungen in Gang gesetzt worden: Auf der einen Seite sind die Kennzeichen der frühen Hochleistungstätigkeit einer sozialen Führungsgruppe, die daran ihr Sozialprestige, ihr Einkommen, ihre Ausbildung, ihre spezielle Berufsethik, ihre Sozialauslese, ihre Umgangsformen und vieles mehr orientiert hatte, in hohem Maße „sozialisiert“, d. h. für breite Kreise als Rechte und Pflichten zugänglich geworden. Dadurch werden von der Produktionsform her die alten Klassenunterscheidungen (etwa in Kopf- und Handarbeiter, in „geistige“ und „materielle“ Arbeit usw.) immer unhaltbarer, und damit entfällt die realistischste Grundlage des „Bürgertums“ als herrschender Klasse immer mehr. Auf der anderen Seite wird der Anspruch an „intellektuellen“ Hochleistungen als Produktionsbeitrag zur Erhaltung des Lebensstandards der ganzen Gesellschaft so umfangreich, daß hier ein Engpaß an „Leistungen“ überall aufbricht, weil weder die an diese Leistungen gewöhnte, für sie ausgebildete und darauf dienend eingestellte Gruppe noch ihre Anpassungskraft ausreicht, in geeigneter Menge dafür Personal bereitzustellen. Damit wird aus notwendigen Produktionsgründen immer stärker auf diejenigen zurückgegriffen, die im Schutze der dem Allgemeinwohl dienend verpflichteten intellektuellen Oberschicht der „Gebildeten“ eine nur an subjektiv willkürlichen Eigenmaßstäben gemessene geisteswissenschaftlich-literarisch-ästhetische Tätigkeit ausübten und sich bereits als „freischwebende Intellektuelle“ von der gesellschaftlichen und staatlichen Pflicht- und Dienstgesinnung der „Gebildeten“ trennten. Diese ideologische Kerngruppe der intellektuell-freischwebenden Arbeitsauffassung zieht natürlich die „Aufsteiger“ in hohem Maße an, weil sie die Entlastung von der Dienst- und Hochleistungsverpflichtung verspricht, die ihre Väter noch für

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selbstverständlich hielten. Die geisteswissenschaftlich-literarisch-ästhetische Gruppe verteidigt mit der Leistungsdiffamierung ihr eigenes Unproduktivitätsprivileg und macht daraus einen Klassenherrschaftsanspruch. […] Es zeigt sich also bei diesen Gruppen, die heute die Wortführer der Kritik an der „Leistungsgesellschaft“ stellen, immer der gleiche Interessenmechanismus: Sie wollen die Vorteile, ja Privilegien, die das jeweilige „Leistungssystem“ in ihrem Tätigkeitsbereich hervorgebracht hat, selbstverständlich bewahren (den beamteten Produktionsstatus als Forscher, die Einkommenschancen des freien Bücher- und Publikationsmarktes), aber sie wollen die dafür erforderliche Konkurrenz, den Leistungssteigerungsnachweis und das Risiko des Scheiterns dabei ausschalten, d. h., sie fordern die Vorteile der jeweiligen sozialen Leistungspositionen, ohne die Leistungen weiter erbringen zu wollen. Das ist nur möglich, wenn man den „Leistungsanspruch“ als solchen diffamiert und diese Abwertung mindestens in den eigenen beruflichen Tätigkeitsfeldern weitgehend durchsetzt. Wo man aber den Leistungsanspruch nicht umgehen kann, zielt die dementsprechende Praxis auf Veränderungen, Senkung oder sonstige Minimalisierung der Leistungsmaßstäbe. Dies wird durch den öffentlich durchgesetzten Argumentationstrick begründet, daß die ökonomischen Leistungsanforderungen für diese Berufe nicht zutreffen (was bis zu einem bestimmten Ausmaß durchaus der Fall ist) und daß, da alle Leistungsanforderungen auf das „kapitalistische System“ zurückgehen, diese also für die eigene Tätigkeit auf jeden Fall abzulehnen sind, mithin das „Leistungssystem“ für die eigene Tätigkeit überhaupt außer Kraft zu setzen ist. Da aber nur die weiterhin erbrachten, ja gesteigerten Leistungen „der anderen“ diese Leistungsunabhängigkeit der Sinn-Produzenten ermöglichen und sichern können – sie besteht im allgemeinen in einer Ausbeutung der öffentlichen Einrichtungen, d. h. der Steuergelder der produktiven Bevölkerung –, geht es in dieser Argumentation also um die Rechtfertigung einer „nicht-leistenden“ Klasse, auf Kosten der produktiven Arbeit ihre Lebensform im Sinne der sozialen Hochwertung beherrschend durchzusetzen, d. h., es handelt sich um eine wertsetzende Ausbeutungsideologie. Der größte Schaden dieser gruppeninteressenhaften Polemik gegen das als „kapitalistisch“ oder rein ökonomisch verstandene „Leistungsprinzip“ besteht darin, daß die eigentliche, den sozialen Fortschritt verbürgende Ebene der „praktischen Vernunft“, nämlich die je sachangemessene und daher sehr berufsverschiedene Veränderung der Leistungsmaßstäbe damit aller erfahrungsbezogenen und empirisch überprüfbaren Politik entzogen wird. Daß „Maßstäbe der Leistung“, und zwar je verschiedene in den jeweiligen Tätigkeitsbereichen der Handarbeit, der Maschinenbedienung, der Verwaltung,

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der Organisation und des Managements, aber auch der künstlerischen Leistungen, der Wissenschaft, der Lehre oder der politischen Führung usw. veralten und daß sie verändert und reformiert werden müssen, gehört zu den Selbstbehauptungsleistungen jeder Institution, also jedes organisierten und gesellschaftlich anerkannten Tätigkeitsbereiches. Es ist übrigens fast genau die Definition, die die technisch-industriell bestimmte Wettbewerbsgesellschaft, aber etwa auch das westliche Wissenschaftssystem unter „Fortschritt“ versteht: So mangelt es z. B. an den heutigen westdeutschen Universitäten keineswegs an „Leistungen“, sondern an anerkannten und einheitlich vertretenen „Maßstäben“ der Leistung, was auf der einen Seite zu schwerwiegenden Leistungsunterschreitungen bei akademischen Ausweisanforderungen führt, auf der anderen Seite aber die Leistungswilligen durch ihre subjektive Unorientiertheit in Überleistungsansprüche treibt, die verständlicherweise Ressentiment gegen das „System“ – was leider gar keins ist – begründen. Das Umschlagen von legitimen Reformbemühungen der praktischen Vernunft in einen ausbeutenden und ideologischen Klassenkampf der Sinn-Produzenten über die güterprodu­ zierende Arbeit gehört zu den entscheidenden sozialen Veränderungen der westlichen Gesellschaften, die sich, wenn sie die Abwertung und Verleumdung des „Leistungsprinzips“ hinnehmen, in einer Selbstentmachtung zugunsten der neuen Sinn-Theologen verfangen.

Wie wird man Anarchist? Gespräch mit Peter Jay (1976) Noam Chomsky Peter Jay Sie haben in einem Ihrer Essays geschrieben: „In einer leidlich vernünftig organisierten Gesellschaft hätte jedermann die Möglichkeit zu interessanter Arbeit, und jedem würde der größtmögliche Spielraum für seine Talente gewährt“.* Und Sie fragten dann weiter: „Würde man noch mehr verlangen, insbesondere etwa äußere Belohnung in Form von Reichtum und Macht? Wohl nur dann, wenn wir annehmen, daß die Entfaltung der Talente eines Menschen in interessanter und gesellschaftlich nützlicher Arbeit nicht ihren Lohn in sich selbst findet“. Ich denke, dass diese Argumentation sicherlich zu den Dingen gehört, die viele Menschen ansprechen. Aber meiner Meinung nach ist damit noch nicht die Frage geklärt, warum sich die Art von Arbeit, die Menschen interessant und attraktiv und erfüllend finden, im entferntesten mit derjenigen decken sollte, die wirklich getan werden muss, wenn wir auch nur annähernd den Lebensstandard erhalten wollen, den die Menschen erwarten und an den sie gewöhnt sind. Noam Chomsky Nun, es gibt eine bestimmte Menge an Arbeiten, die einfach getan werden müssen, wenn wir diesen Lebensstandard erhalten wollen. Wie beschwerlich diese Arbeit zu sein hat, ist eine offene Frage. Lassen Sie mich daran erinnern, dass sich Wissenschaft und Technik und Verstand noch nicht der Untersuchung dieser Frage oder der Beseitigung des beschwerlichen und selbstzerstörerischen Charakters der gesellschaftlich notwendigen Arbeit gewidmet haben. Denn bisher wurde immer davon ausgegangen, dass es eine große Masse an Lohnsklaven gibt, die sie schlicht deswegen macht, weil sie andernfalls verhungern würden. Aber wenn sich die menschliche Intelligenz einmal der Frage zuwendet, wie man die gesellschaftlich notwendige Arbeit an sich sinnstiftend gestalten kann, wissen wir nicht, wie die Antwort ausfallen wird. Meine Vermutung ist, dass ein Gutteil davon durchaus erträglich gestaltet werden kann. Selbst im Falle von schwerer körperlicher Arbeit ist es ein Fehler * Das Zitat stammt aus dem Text Psychology and Ideology, der in dieser Form erstmals als Kapitel 7 in Chomskys For Reasons of State von 1973 erschien und eine erweiterte Fassung bzw. Kombination vorangegangener Arbeiten des Autors zum Thema darstellt. Hier zitiert nach Noam Chomsky: Aus Staatsraison. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Burkhart Kroeber. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 86 (Anm. d. Herausgebers).

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anzunehmen, dass diese notwendigerweise lästig sein muss. Viele Menschen – mich selbst eingeschlossen – erledigen sie zur Erholung. Erst vor kurzem habe ich es mir beispielsweise in den Kopf gesetzt, für den staatlichen Umweltausschuss von Massachusetts  34 Bäume in einer Wiese hinter dem Haus zu pflanzen, was bedeutete, dass ich 34 Erdlöcher ausheben musste. Wissen Sie, für mich und gemessen an dem, was ich die meiste Zeit tue, ist das ziemlich harte Arbeit, aber ich muss gestehen, dass sie mir Spaß gemacht hat. Sie hätte mir keinen Spaß gemacht, wenn man mir Arbeitsnormen vorgegeben hätte, wenn ich einen Vorarbeiter gehabt hätte und wenn man mich angewiesen hätte, sie zu einem bestimmten Zeitpunkt zu machen und so weiter. Wenn es sich dagegen um eine Tätigkeit handelt, die man nur aus Interesse übernimmt, kein Problem, das lässt sich machen. Und das ganz ohne Technologie, ohne irgendeinen Gedanken, den man auf die Planung der Arbeit verwenden müsste, und so weiter. Peter Jay Ich möchte Ihnen entgegenhalten, dass die Gefahr bestehen könnte, dass diese Sicht der Dinge eine recht romantische Illusion ist, die nur von einer kleinen Elite von Menschen gehegt wird, die – wie Professoren, vielleicht auch Journalisten und so weiter – zufällig in der äußerst privilegierten Position sind, dafür bezahlt zu werden, was sie ohnehin gerne tun. Noam Chomsky Aus diesem Grund habe ich mit einem großen „Aber“ begonnen. Ich sagte, dass wir zuerst fragen müssen, inwieweit die gesellschaftlich notwendige Arbeit – also diejenige Arbeit, die zum Erhalt des von uns gewünschten Lebensstandards erforderlich ist – beschwerlich und lästig sein muss. Ich denke, die Antwort lautet: viel weniger als sie es heute ist; aber nehmen wir an, sie bleibt bis zu einem gewissen Grad lästig. Nun, in diesem Fall ist die Antwort ganz einfach: diese Arbeit muss zu gleichen Teilen unter denjenigen Menschen aufgeteilt werden, die sie zu leisten imstande sind. Peter Jay Und jeder verbringt eine bestimmte Anzahl von Monaten pro Jahr in der Automobilherstellung am Fließband und eine bestimmte Anzahl von Monaten bei der Müllabfuhr und … Noam Chomsky Wenn sich herausstellt, dass dies wirklich Arbeiten sind, bei denen die Menschen keine Erfüllung finden. Ich glaube das übrigens nicht recht. Wenn ich Menschen arbeiten sehe, Handwerker, etwa Automechaniker zum Beispiel, begegnet man meines Erachtens häufig jeder Menge Stolz auf die Arbeit. Ich denke, dass diese Art von Stolz auf gut gemachte Arbeit, auf gut gemachte Arbeit, die kompliziert ist, weil man Überlegung und Intelligenz benötigt, um sie zu machen, besonders wenn man auch in die Leitung des Unternehmens eingebunden ist, in die Entscheidung, wie die Arbeit organisiert werden soll, wozu sie dient, welchen Zweck die Arbeit hat, was mit ihren Erzeugnissen geschehen wird und so weiter – ich denke,

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all das kann eine befriedigende und erfüllende Tätigkeit sein, die in der Tat bestimmte Fertigkeiten verlangt, Fertigkeiten, die Menschen gerne ausüben. Aber das sind jetzt theoretische Überlegungen meinerseits. Angenommen, es stellt sich heraus, dass es einen Rest an Arbeiten gibt, die wirklich niemand machen will, was auch immer dies sein mag – gut, dann würde ich sagen, dass der Rest an Arbeiten gleich verteilt werden muss, und jenseits dessen werden die Menschen die Freiheit haben, ihren Begabungen gemäß tätig zu sein, wie es ihnen passt. Peter Jay Ich möchte Ihnen, Herr Professor, folgendes entgegenhalten: Wenn dieser Rest sehr groß wäre, und einige Menschen würden dies sicher so sehen, wenn er diejenige Arbeit ausmachte, die für die Herstellung von neunzig Prozent der von uns allen benötigten Konsumgüter aufgewendet wird – dann würde diese Organisationsform der Arbeitsteilung auf der Grundlage, dass jeder einen kleinen Teil all der unangenehmen Tätigkeiten übernimmt, extrem ineffizient. Denn schließlich muss man selbst für die Ausübung der unangenehmen Tätigkeiten ausgebildet und ausgerüstet werden, und die Effizienz der gesamten Volkswirtschaft würde leiden und in der Folge würde sich der von ihr getragene Lebensstandard vermindern. Noam Chomsky Naja, zum einen ist dies wirklich recht hypothetisch, denn ich glaube nicht, dass die Zahlenverhältnisse auch nur annähernd so sind. Meine Einschätzung, wie gesagt, ist: Wenn sich die menschliche Intelligenz der Frage widmete, wie Technologie entwickelt werden kann, die sich den Bedürfnissen der menschlichen Produzenten anpasst, anstatt umgekehrt – das heißt momentan stellen wir uns die Frage, wie der Mensch mit seinen spezifischen Eigenschaften in ein technologisches System eingepasst werden kann, das für andere Zwecke entwickelt wurde, nämlich die Produktion um des Profits willen – wenn man dies täte, dann, so mein Gefühl, fände man heraus, dass die richtig ungeliebten Arbeiten weitaus geringer sind als von Ihnen angedeutet. Aber unabhängig davon sollte man zur Kenntnis nehmen, dass wir zwei Möglichkeiten haben. Die eine Möglichkeit ist, sie gleich verteilen zu lassen, die andere ist, die gesellschaftlichen Einrichtungen so zu gestalten, dass manche Personengruppen unter Androhung des Hungertodes schlicht gezwungen werden, diese Arbeiten zu machen. Dies sind die zwei Alternativen. Peter Jay Nicht durch Zwang, aber sie könnten sich bereit erklären, sie freiwillig zu tun, weil sie einen Betrag bezahlt bekämen, der ihnen die Arbeit erstrebenswert erscheinen lässt. Noam Chomsky Naja, aber sehen Sie, ich gehe davon aus, dass jeder im wesentlichen den gleichen Lohn erhält. Vergessen Sie nicht, dass wir jetzt nicht von einer Gesellschaft sprechen, in der die Menschen, die die beschwerliche

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Arbeit machen, erheblich höher bezahlt werden als die Menschen, die die Arbeit machen, die sie sich ausgesucht haben – ganz im Gegenteil. Unsere Gesellschaft, wie jede andere Klassengesellschaft, funktioniert so, dass die Menschen, die die ungeliebten Arbeiten machen, diejenigen sind, die am wenigsten bezahlt bekommen. Diese Arbeiten werden erledigt und wir verdrängen sie mehr oder weniger aus unserem Bewusstsein, weil davon ausgegangen wird, dass eine große Klasse von Menschen existiert, die nur über einen Produktionsfaktor verfügen, nämlich ihre Arbeitskraft, und sie verkaufen müssen und diese Arbeiten zu machen haben, weil ihnen nichts anderes übrigbleibt, und sie sehr wenig dafür bezahlt bekommen. Aber ich akzeptiere Ihren Einwand. Stellen wir uns drei Gesellschaftsformen vor: eine, die derzeitige, in der die unbeliebte Arbeit an Lohnsklaven delegiert wird. Stellen wir uns ein zweites System vor, in dem die unbeliebte Arbeit, nachdem die größtmöglichen Anstrengungen unternommen wurden, sie erfüllend zu gestalten, aufgeteilt wird; und stellen wir uns ein drittes System vor, wo die unbeliebte Arbeit mit hohen Zulagen belohnt wird, so dass sich die Individuen freiwillig dafür entscheiden, sie zu machen. Nun, mir scheint, dass die beiden letzteren Systeme – grob gesprochen – mit anarchistischen Prinzipien vereinbar ist. Ich selbst würde eher für das zweite als das dritte plädieren, aber alle beide sind weit entfernt von jeder gegenwärtigen Gesellschaftsordnung oder jeglichen Tendenzen innerhalb der zeitgenössischen Gesellschaftsordnung. Peter Jay Lassen Sie mich meine Entgegnung anders formulieren. Mir scheint, dass, wie auch immer man dies zu bemänteln sucht, eine grundsätzliche Entscheidung zu treffen ist: ob man Arbeit so organisiert, dass sie den Menschen, die sie machen, Befriedigung gibt, oder ob man sie auf den Wert gründet, den das, was produziert wird, für die Menschen hat, die das Produzierte benutzen oder konsumieren werden. Und dass eine Gesellschaft, die darauf ausgerichtet ist, jedem die größtmögliche Gelegenheit zu bieten, seinen Hobbys nachzugehen, was im wesentlichen der Vorstellung von der Arbeit um ihrer selbst willen gleichkommt, folgerichtig auf ein Kloster hinausläuft, wo diejenige Arbeit, die gemacht wird, nämlich Beten, Arbeit zur inneren Bereicherung des Arbeitenden ist und wo nichts hergestellt wird, das für irgendjemand irgendeinen Nutzen besitzt, und man lebt entweder auf einem geringen Lebensstandard oder man verhungert sogar. Noam Chomsky Nun ja, hier werden einige Tatsachenbehauptungen angestellt, und ich stimme mit Ihnen hinsichtlich dieser Tatsachenbehauptungen nicht überein. Meinem Empfinden nach wird ein Teil des Sinns von Arbeit dadurch gestiftet, dass sie wirklich einen Nutzen hat, dass ihre Produkte wirklich einen Nutzen haben. Die Arbeit des Handwerkers ist sinnstiftend für diesen Handwerker teils aufgrund der Intelligenz und Geschicklichkeit, die er darauf

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verwendet, teils aber auch, weil die Arbeit nützlich ist, und man könnte sagen, dasselbe gilt für Wissenschaftler. Ich meine, die Tatsache, dass diejenige Arbeit, die man macht, zu etwas neuem führen kann – das ist die Bedeutung wissenschaftlicher Arbeit, wie Sie wissen –, zu etwas neuem beitragen kann, das ist von erheblicher Wichtigkeit, ganz abgesehen von der Eleganz und Schönheit dessen, was man zustandezubringen vermag. Und ich denke, das betrifft jedes Gebiet menschlicher Bestrebungen. Wenn wir einen Gutteil der Menschheitsgeschichte betrachten, werden wir meiner Meinung nach darüber hinaus feststellen, dass Menschen in erheblichem Umfang ein gewisses Maß an Befriedigung – häufig sehr viel Befriedigung – aus der produktiven und schöpferischen Arbeit erlangt haben, die sie gemacht haben. Und ich denke, dass die Möglichkeiten hierfür durch die Industrialisierung enorm verbessert wurden. Warum? Eben weil der größte Teil der sinnlosesten Plackerei von Maschinen übernommen werden kann, was bedeutet, dass sich der menschliche Spielraum für wirklich schöpferische Arbeit erheblich erweitert hat. Nun bezeichnen Sie aus freien Stücken übernommene Arbeit als Hobby. Aber ich glaube das nicht. Ich denke, aus freien Stücken übernommene Arbeit kann nützlich sein, sinnvolle, gut gemachte Arbeit. Außerdem werfen Sie ein Problem auf, das viele Menschen aufwerfen, das Dilemma zwischen dem Bedürfnis nach befriedigender Arbeit und einem Bedürfnis, Dinge von Wert für die Gemeinschaft zu schaffen. Aber es versteht sich keineswegs von selbst, dass hier irgendein Dilemma, irgendein Widerspruch existiert. So ist es beileibe nicht klar – ich glaube vielmehr, dass dem nicht so ist –, dass sich die Erhöhung des Vergnügens und der Befriedigung in der Arbeit indirekt proportional zum Wert der Produktion verhält. Peter Jay Nicht indirekt proportional, aber es könnte kein Zusammenhang bestehen. Ich meine, nehmen Sie eine sehr einfache Sache wie das Verkaufen von Eis am Strand an einem Feiertag. Es ist ein Dienst an der Gesellschaft; zweifellos wollen die Menschen Eis, ihnen ist heiß. Andererseits ist schwer zu erkennen, inwiefern in der Erfüllung dieser Aufgabe entweder das Glück eines Handwerkers oder ein großartiges Gefühl von gesellschaftlicher Tugend oder Adel liegt. Warum würde irgendjemand diese Aufgabe erfüllen, wenn er nicht dafür belohnt wird? Noam Chomsky Ich muss gestehen, ich habe schon einige sehr fröhlich dreinschauende Eisverkäufer gesehen … Peter Jay Sicher, sie verdienen viel Geld. Noam Chomsky  … denen vielleicht zufälligerweise der Gedanke gefällt, dass sie Kindern zu einem Eis verhelfen, was mir verglichen mit tausenden anderer Berufe, die mir in den Sinn kommen, eine absolut sinnvolle Art und Weise zu sein scheint, seine Zeit zu verbringen.

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Bedenken Sie, dass ein Mensch nun einmal einen Beruf hat, und mir scheint, dass die meisten der existierenden Berufe – besonders diejenigen, die sogenannte Dienstleistungen beinhalten – eine intrinsische Befriedigung und mit ihnen einhergehende Belohnungen besitzen, die im Umgang mit den beteiligten Personen bestehen. Das gilt für Lehrtätigkeiten, und es gilt für das Verkaufen von Eis. Ich stimme Ihnen zu, dass Eisverkaufen nicht das Engagement oder die Intelligenz einer Lehrtätigkeit erfordert und vielleicht wird es aus diesem Grund zu den weniger begehrten Beschäftigungen gehören. Aber wenn dem so ist, wird es gemeinschaftlich verteilt werden müssen. Ich will damit sagen, dass sich unsere spezifische Annahme, dass Spaß an der Arbeit, Stolz auf die Arbeit entweder in keiner oder in umgekehrter Beziehung zum Wert des Produkts stehen, auf eine bestimmte Phase der Gesellschaftsgeschichte bezieht, nämlich den Kapitalismus, in dem die Menschen Werkzeuge im Produktionsprozess sind. Sie ist keinesfalls zwangsläufig gültig. Wenn man sich beispielsweise die vielen Interviews mit Fließbandarbeitern ansieht, die beispielsweise von Arbeitspsychologen geführt wurden, wird man feststellen, dass eines der Dinge, über die sie sich immer wieder beklagen, der Tatbestand ist, dass ihre Arbeit einfach nicht sorgfältig verrichtet werden kann, der Tatbestand, dass das Fließband so schnell weiterläuft, dass sie ihre Arbeit nicht anständig machen können. Gerade neulich habe ich mir zufällig eine Studie über Langlebigkeit in irgendeiner gerontologischen Zeitschrift angesehen, die die Faktoren zu bestimmen versuchte, die zur Prognose von Langlebigkeit verwendet werden können – wissen Sie, Zigarettenrauchen und Trinken, genetische Faktoren – alles wurde untersucht. Es stellte sich tatsächlich heraus, dass der höchste Prädiktor, der erfolgreichste Prädiktor die Zufriedenheit im Beruf war. Peter Jay Menschen, die angenehme Berufe haben, leben länger. Noam Chomsky Menschen, die mit ihren Berufen zufrieden sind. Und ich denke, das leuchtet sehr ein, denn dort verbringen Sie bekanntlich Ihr Leben, dort spielen sich Ihre kreativen Aktivitäten ab. Was führt nun zu Zufriedenheit im Beruf? Naja, ich denke, viele Dinge tragen dazu bei, und das Bewusstsein, dass man etwas Nützliches für die Gemeinschaft tut, ist ein wichtiger Bestandteil. Viele Menschen, die mit ihrer Arbeit zufrieden sind, sind Menschen, die das Gefühl haben, dass das, was sie tun, eine wichtige Aufgabe ist. Sie mögen Lehrer sein, sie mögen Ärzte sein; sie mögen Wissenschaftler sein, sie mögen Handwerker sein, sie mögen Bauern sein. Ich meine, das Gefühl, dass das, was man macht, wichtig ist, der Mühe wert ist, einen Beitrag für diejenigen leistet, mit denen man soziale Beziehungen unterhält, ist meiner Ansicht nach ein sehr bedeutsamer Einflussfaktor auf die eigene persönliche Zufriedenheit.

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Und zusätzlich ist da der Stolz und die Erfüllung, die aus einer gut gemachten Arbeit resultieren – daraus, einfach die eigenen Fertigkeiten zu nehmen und sie anzuwenden. Ich kann nun nicht erkennen, warum das in irgendeiner Form dem Wert dessen, was produziert wird, schaden sollte, vielmehr würde ich meinen, dass es ihn erhöht. Aber stellen wir uns weiter vor, dass dies auf irgendeiner Ebene Schaden anrichtet. Nun gut, an diesem Punkt muss die Gesellschaft, die Gemeinschaft festlegen, wie man zu einem Kompromiss gelangt. Jedes Individuum ist schließlich gleichermaßen Produzent und Konsument und das heißt, dass sich jedes Individuum an diesen gemeinschaftlich beschlossenen Kompromissen beteiligen muss – falls Kompromisse wirklich nötig sind. Und noch einmal: Ich habe das Gefühl, dass dieser Kompromiss durch den Zerrspiegel des ausgesprochen autoritären und die Persönlichkeit zerstörenden Systems, in dem wir leben, übermäßig groß erscheint. Peter Jay Nun gut, Sie sagen, die Gemeinschaft muss Richtlinien für Kompromisse entwerfen, und natürlich bietet dies die kommunistische Theorie mit ihrer gesamten Denkweise hinsichtlich staatlicher Planung, Investitionsentscheidungen, der Ausrichtung von Investitionen und so weiter. In einer anarchistischen Gesellschaft wird man wahrscheinlich nicht bereit sein, für einen so großen staatlichen Überbau zu sorgen, der für die Planung, die Investitionsentscheidungen und den Beschluss nötig wäre, ob man den Konsumbedürfnissen der Menschen oder ihren Wunschvorstellungen hinsichtlich der Arbeit Priorität einräumt. Noam Chomsky Da bin ich anderer Meinung. Mir scheint, dass anarchistische, oder, was das betrifft, linksmarxistische Strukturen, die auf der Grundlage von Arbeiterräten und föderalen Zusammenschlüssen aufgebaut sind, genau das Arrangement von Entscheidungsebenen bieten, auf denen Entscheidungen über nationale Planung gefällt werden können. In ähnlicher Weise ist auch in staatssozialistischen Gesellschaften eine Entscheidungsebene vorgesehen – zum Beispiel der Staat –, auf der Pläne von nationaler Tragweite konzipiert werden können. In dieser Hinsicht besteht da kein Unterschied. Der Unterschied besteht in der Teilhabe an diesen Entscheidungen und der Kontrolle über diese Entscheidungen. Nach der Auffassung von Anarchisten und linken Marxisten – wie den Arbeiterräten oder den Rätekommunisten, die linke Marxisten waren – sollen diese Entscheidungen von einer gutunterrichteten Arbeiterklasse durch deren Versammlungen und deren direkte Repräsentanten getroffen werden, die unter ihnen leben und arbeiten. In den staatssozialistischen Systemen wird die nationale Planung durch eine staatliche Bürokratie gemacht, die bei sich selbst alle relevanten Informationen

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akkumuliert, die Entscheidungen trifft, sie der Öffentlichkeit unterbreitet und mitunter alle paar Jahre vor die Öffentlichkeit tritt und sagt: „Ihr könnt mich wählen oder Ihr könnt ihn wählen, aber wir sind alle Teil dieser entrückten Bürokratie“. Dies sind die beiden Pole, dies sind die diametralen Gegensätze innerhalb der sozialistischen Tradition. Peter Jay Also spielen in Wirklichkeit der Staat und möglicherweise sogar die Verwaltungsangestellten, der Beamtenapparat eine äußerst erhebliche Rolle, aber es ist die Kontrolle darüber, die den Unterschied macht. Noam Chomsky Nun ja, sehen Sie, ich glaube nicht recht, dass wir einen abgesonderten Beamtenapparat brauchen, um Regierungsentscheidungen auszuführen. Peter Jay Man benötigt verschiedene Formen von Expertenwissen. Noam Chomsky Oh ja, aber entscheiden wir uns für das Expertenwissen im Hinblick auf die Wirtschaftsplanung, denn sicherlich sollte es in jeder komplexen Industriegesellschaft eine Gruppe von Technikern geben, deren Aufgabe es ist, Pläne anzufertigen und die Folgen von Entscheidungen zu erläutern, den Menschen, die die Entscheidungen zu treffen haben, zu erklären, dass man wahrscheinlich jenes Ergebnis bekommen wird, wenn man jene Entscheidung fällt, weil das unser Optimierungsmodell zeigt und so weiter. Aber der springende Punkt ist, dass jene Planungseinheiten selbst industrieller Natur sind, und sie werden ihre Arbeiterräte besitzen und sie werden Teil des Rätesystems sein, und die Besonderheit besteht darin, dass diese Planungseinheiten keine Entscheidungen treffen. Sie fertigen Pläne auf genau dieselbe Weise an wie Autohersteller Autos anfertigen. Die Pläne können dann von Arbeiterräten und Räteversammlungen auf dieselbe Weise genutzt werden wie Autos zum Fahren genutzt werden können. Nun ist hierzu natürlich eine gut informierte und gebildete Arbeiterklasse erforderlich. Aber genau das können wir in einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft erreichen.

Die Antiquiertheit der Arbeit (1977) Günther Anders Wenn heute Demagogen wie Hitler oder Goebbels aufträten, dann würden sie ihren Völkern in einem Atem Rationalisierung und Vollbeschäftigung versprechen, nein, die Rationalisierung geradezu als die Vorbedingung der Vollbeschäftigung propagieren. – Aber warum „würden“? Und wenn ihre Völker so betrügbar wären, wie das deutsche Volk im Jahre 33 war, dann würden sie diesem Doppelversprechen zujubeln und sich jubelnd in den Abgrund stürzen. – Aber noch einmal: Warum „würden“?

§I Die Privationen des Arbeiters. „Chaplinitis“ Die Frage, ob der heutige Arbeiter noch Proletarier sei oder nicht, ist nicht durch Feststellung seines niedrigen oder hohen Lebensstandards zu beantworten – so gesehen, sind tatsächlich Hunderte von Millionen von Arbeitern keine Proletarier mehr –, sondern durch die Feststellung seines Freiheitsstandards. Und dieser ist in der Tat so tief, daß die Frage hundertprozentig bejaht werden muß. Unfrei ist er nicht etwa nur deshalb, weil er vom Eigentum an „seinen“ Produktionsmitteln oder Produkten ausgeschlossen ist, sondern weil er das Ganze des Produktionszusammenhanges, in das er integriert ist, nicht übersieht; und ebensowenig das Endprodukt und dessen Bewandtnis kennt – diese bleiben gewissermaßen „transzendent“; ebensowenig die moralischen oder unmoralischen Qualitäten „seines“ Produkts; ebensowenig dessen Nutznießer, Verwender oder dessen Opfer. All das – und damit auch sein eigenes Arbeiten – findet gewissermaßen hinter seinem eigenen Rücken statt. So ist es mir und der Belegschaft, innerhalb derer ich arbeitete, vor schon mehr als 35 Jahren in einer kalifornischen Fabrik gegangen. Das Einzige, was wir „vor uns sahen“, war das auf uns zu- und dann sofort wieder von uns fortwandernde Produktstück, für dessen Bearbeitung wir eingesetzt waren – wir wünschten auch nicht mehr, mehr zu wissen oder zu sehen, die Neugierde war uns fortmanipuliert worden; uns fehlte jedes Interesse an unserem Tun – warum hätten wir auch mehr wissen oder sehen sollen, was hätten wir davon schon gehabt? Vor allem: Wir sollten an dem, was wir

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verrichteten, kein Interesse haben, wir sollten ohne Bewandtnis arbeiten. Hätte einer von uns den Vorarbeiter oder sonstwen nach der Bewandtnis unseres Tuns gefragt, er wäre im besten Falle als Kauz abgefertigt worden, „that’s none of your damned business“, und ein paar Jahre später, in der McCarthyPeriode, hätte er als „security risk“ gegolten. In der Tat wäre es auch falsch und zuviel Ehre für unser damaliges Tun gewesen, dieses „Arbeiten“ zu nennen. Da es zielblind vor sich ging, war es eher eine Art von Gymnastik, die wir täglich 8 Stunden lang zu treiben gezwungen waren; eine Gymnastik, die aus sich immer gleich bleibenden Freiübungen bestand, oder richtiger: aus „UnfreiÜbungen“, denn was an diesen, vom Fließband diktierten, Bewegungen wäre denn noch „frei“ gewesen? Schon vor Jahrzehnten hatte Chaplin diese „UnfreiÜbungen“ vorgeführt, in seinem Film „Modern Times“, der einen Mann zeigt, der abends, von seiner Fließbandarbeit heimkehrend, nicht mehr frei genug ist, sich von diesen unfreien Bewegungen freizumachen; und der nun fassungslos dem Tanz seiner, fremden Tieren gleichenden, Hände zuschaut: „Chaplinitis“. Wahrhaftig, angst und bange kann einem werden, wenn man es sich klarmacht, daß auch jetzt, in diesem Moment, Hunderte von Millionen mit solcher Gymnastik beschäftigt sind, und daß diese Hunderte von Millionen sogar noch dankbar dafür sind, daß es ihnen, im Unterschied zu Millionen weniger Glücklichen: den Arbeitslosen, noch vergönnt ist, diese Gymnastik zu treiben; und daß sie verbissen das Recht auf diese Gymnastik als politisches Grundrecht proklamieren, in der Tat proklamieren müssen, weil sie ohne derart nichtige Gymnastik im Nichts stehen, oder – aber dieses „Tun“ ist nur eine Verbrämung von Nichtstun – vor dem Bildschirm sitzen würden; und weil sie gezwungen wären, sich täglich durch den sich immer neu vor ihnen aufstauenden Zeitbrei durchzufressen. Und noch banger muß einem werden, wenn man bedenkt, daß diese Gymnastik durch keine bestimmte Art von Revolution zum Stillstand gebracht oder auch nur korrigiert werden kann; daß unsere Darstellung auf die Arbeit in sozialistischen Ländern genau so zutrifft wie auf die in kapitalistischen Ländern; daß sich also mit der Veränderung der Eigentumsverhältnisse die Folgen der Technik überhaupt nicht mitverändert haben oder mitverändern werden; daß die Rede von der „Humanisierung der Arbeit“ und die von der „Aufhebung der Entfremdung“ so lange, als wir in einer durchtechnisierten und sich weiter durchtechnisierenden Welt leben, mithin endgültig, bloßes Gewäsch ist. Und damit bin ich bei der leichtsinnigen, heute so oft geschwätzten und nachgeschwätzten Behauptung, daß es keine Proletarier mehr gebe. In Wahrheit gibt es heute mehr als je. Denn wenn diejenigen, die die Hauptzeit ihres wachen Lebens mit „Unfrei-Übungen“ verbringen – und das sind nahezu alle Lohnarbeiter – und am Feierabend nur noch für „frei“ ins Haus gelieferte

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Amüsierprodukte Kraft haben; oder wenn diejenigen, die sogar von dieser Chance, unfrei zu arbeiten, ausgeschlossen sind, also die Arbeitslosen – wenn die keine Proletarier sind, dann weiß ich nicht mehr, was das Wort überhaupt noch anzeigen soll. Dazu kommt, daß es gar nicht so gewiß ist, daß Fließbandarbeit wirklich noch „Arbeit“ im klassischen Sinne darstellt. Denn was wir als Fließbandarbeiter „leisten“, ist ja keine gestische Entität, keine in sich gerundete Aktion, in die wir uns so hineinlegen können, wie sich der Schreiner in die Herstellung eines Tisches oder der Geiger in die Melodie oder selbst noch der Holzfäller in sein Fällen hineinlegen können. Vielmehr besteht die Leistung ja immer nur aus Fragmenten einer Tätigkeit, mit denen wir uns niemals zu identifizieren vermögen, die wir aber tausend Male ohne Identifizierung wiederholen müssen. Und morgen wieder. Da sie uns weder die Freude am werdenden noch am fertigen Produkt gewährt, ist die Fließbandarbeit etwas viel Schlimmeres, um nicht zu sagen: viel Verfluchteres als jede frühere Arbeit gewesen war. Erst sie macht uns zu Proletariern. §2 Automation – Die zweite Arbeitslosigkeit Und trotzdem. Obwohl diese entfremdete Arbeit wahrhaftig schon unmenschlich ist; obwohl es unmöglich ist, auf diese zu verzichten; obwohl kein politisches System Interesse daran haben kann, auf sie zu verzichten; und obwohl keine politische Revolution imstande wäre, auf sie zu verzichten – die schlimmste Arbeit ist auch sie noch nicht. Damit meine ich freilich nicht, daß es Arbeiten gebe, die physisch oder geistig schwerer wären als die geschilderte Arbeit. Im Gegenteil: was ich meine, ist eine, oberflächlich gesehen, sehr leichte Arbeit; eine, die in der Tat so leicht ist, daß sie dem, was wir, seit wir keine Hirten mehr sind, unter „Arbeit“ verstanden haben, noch weniger ähnelt, als es die tayloristische Arbeit tut. Die schlimmste ist sie vielmehr deshalb, weil sie uns der Freiheit total beraubt. In der Tat ist ihre Einführung selbst eine Revolution; und zwar eine, die, nur um ein weniges asynchron, im Osten und Westen gleichzeitig stattfindet. Ich spreche von der Automation. Nun, die Mehrzahl der heute Arbeitenden gehören noch nicht zur Kategorie der Automationsdiener. Aber der Trend ist unaufhaltsam: im Jahre 2000 werden, so sagt man voraus, die meisten Arbeiter Automationsarbeiter sein. Das bedeutet natürlich nicht, daß dann alle „Arbeitswilligen“ an oder in Automationen arbeiten werden. Denn es gibt eine eiserne Regel der Umkehrung der Proportion, die besagt, daß mit der steigenden Zahl der Automationen die

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Zahl der erforderlichen Arbeiter sinkt. Anders ausgedrückt: Es ist unvermeidlich, daß, gewissermaßen als „zweites Produkt“, aus den Automationen ein Millionenhaufen von Arbeitslosen, und damit von Proletariern, herausfällt. Aber, so sollte man meinen, wenn wir von dieser ominösen Wahrscheinlichkeit absehen und uns auf jene wenigen Begünstigten beschränken, die nicht im Brei ihrer unerwünschten Freizeit ersticken, sondern einen Automationsplatz effektiv einnehmen werden – mindestens die werden doch eine Chance haben, wenn auch nur die kümmerliche, blindlings weiter „Freiübungen“ zu machen. Nein, auch diese Annahme ist noch zu optimistisch. Auch diese „Glücklichen“ werden zur Arbeitslosigkeit verurteilt sein bzw. sind das schon. Das klingt absurd, ist es aber deshalb nicht, weil die Arbeitslosigkeit, von der hier die Rede ist, eine ganz neuartige ist: sie ist nämlich eine, deren Dauer sich mit der Dauer des Arbeitens deckt; oder sagen wir ruhig: die sich mit der Arbeit deckt. Was ich damit meine, ist, daß die in Automationsbetrieben Beschäftigten – ob wir sie „Arbeiter“ nennen oder „Angestellte“, ist gleichgültig, die Unterscheidung gilt hier nicht mehr – während ihres Arbeitens noch nicht einmal dazu gezwungen sein werden, jene „Gymnastik“ zu betreiben, die wir vorhin als Inbegriff der heutigen Inhumanität kennengelernt hatten; nein, daß sie noch nicht einmal die Freiheit dazu haben werden. Vielmehr wird ihre Pflicht darin bestehen, von Radiomusik süß umspült, gewissermaßen nichts zu tun – freilich nur gewissermaßen: denn sie werden damit beschäftigt sein, zu warten, ob vielleicht (dies nur ein Beispiel) ein gewöhnlich grünes Licht durch Rotwerden (was eigentlich niemals vorkommen sollte und in der Tat nur alle Jubeljahre vorkommt) eine Störung anzeigt. Dies „Warten“ haben sie freilich – und dies ist etwas psychologisch Einmaliges – aufs konzentrierteste durchzuführen. Sie sind die „Lynkeusse“ des Industriezeitalters. Das Wort „warten“ wird deshalb so gerne verwendet, weil es eine Doppelbedeutung hat: nicht nur „warten auf“ oder „warten ob“, sondern in seiner Transitivform „etwas warten“, die angeblich aktive Behütung von etwas anzeigt. Diese zweite Bedeutung wird dem Wartenden tatsächlich eingeredet. Der Warter soll sich als Wärter vorkommen. Aber „Wärter“ ist er nur in einem ganz geringen Prozentsatz der Fälle. „Objekthirte“ wäre die am genauesten treffende Bezeichnung für den Automationsarbeiter. Die Bukolik von heute. In der Tat hat es in der Geschichte menschlicher Aktivitäten seit dem uralten Hirtenberuf keine gegeben, die sich, obwohl wahrhaftig ein Fluch, von der „verfluchten Arbeit“ (I Mose 4) so fundamental unterschieden hätte wie die Situation des Automationsarbeiters. Selbst der Schweiß bleibt ihm mißgönnt. Ob man das Recht hat, dessen Nichtstun und das Sich-Abrackern des pflügenden Bauern unter den Oberbegriff „arbeiten“ zu subsumieren, dessen bin ich mir gar nicht sicher. Tatsächlich ist, verglichen mit der Frustration des in einer Automation „Tätigen“ die vorhin

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geschilderte, heute noch überwiegende Fließbandarbeit trotz ihrer Bewandtnisblindheit noch immer eine unterhaltsame – beinahe ist man versucht, zu sagen: eine menschenwürdige – Beschäftigung. Denn immerhin hält sie den Arbeitenden ja noch in Bewegung. Mindestens scheint sie ja noch ein Tun. Dazu kommt als zweites Negativum, daß der „Wärter“ darauf wartet, daß etwas nicht eintrete. Ich bezweifle, daß der Mensch fähig ist, diese zweite Negativität durchzuhalten. Wahrscheinlich ersehnt der Wartende das ominöse Aufflammen des Rotlichtes ebenso ungeduldig, wie der stundenlang frustriert herumstreunende Polizist das Auftauchen eines Verbrechers, weil ihm das beweist, daß seine Beschäftigung nicht ganz nutz- und gegenstandslos ist. Das dritte Negativum schließlich – und dieser dritte Punkt kann gar nicht eindringlich genug betont werden – besteht in der erzwungenen Asozialität des „Wartens“. Während sich die Fließbandarbeiter noch irgendwie nebeneinander spüren, noch in Kontakt (wenn auch nur in einem Galeerensträflingskontakt) miteinander bleiben, haben die Automationsarbeiter solistisch Wache zu schieben, nein, noch nicht einmal zu „schieben“, denn sie haben ihre Pflicht ja sitzend zu erfüllen. Der Eremitenhaftigkeit der heutigen (z. B.  Fernseh-) Konsumenten, die ich im ersten Bande* dargestellt hatte, entspricht nun die Eremitenhaftigkeit der heutigen (Automations-)Arbeiter. In der Tat finden diese keine Kameraden mehr neben sich: wenn sie von Sozialdurst geplagt sind, dann können sie sich, statt an den Nebenmann, höchstens an den Betrieb selbst, also an ein Ding, wenden. Wer weiß, ob nicht der Gedanke, mit dem wir heute Siebzig- oder Achtzigjährigen noch groß geworden sind, und der den sozialistischen Bewegungen über hundert Jahre lang ihre Stoßkraft verliehen hatte: daß sich die Arbeiter als „Arbeitermassen“ fühlen sollten, und daß sie nur dann, wenn sie das täten, also solidarisch empfänden und handelten, politisches Gewicht und ihre Freiheit gewinnen könnten – wer weiß, ob nicht dieser Gedanke den nächsten Generationen unbegreiflich sein wird, weil die Arbeitssituation keine Hinweise auf ein Team, geschweige denn auf eine Masse oder Klasse, enthalten wird? Ein bloßer Zufall ist es gewiß nicht, daß die einstmals zu Recht berühmten, Revolutionsmassen darstellenden, Lithos der Käthe Kollwitz, nachdem sie im Jahre 33 eiligst von den Wänden genommen worden waren, nach dem Jahre 45 nicht wieder aufgehängt worden sind. Die auf diesen Bildern dargestellte Zukunft ist, ehe sie zur Gegenwart hatte werden können, zur Vergangenheit geworden, Ihre „Wahrheit“ haben diese Bilder verloren, niemand erkennt sich mehr in ihnen wieder. Und wer weiß, ob nicht morgen viele Arbeiter ebenso eremitisch mit ihrer Mitwelt verbunden „arbeiten“ werden wie die Raumfahrer heute in ihren Raketen? Und ob nicht übermorgen * Gemeint ist der erste Teil der Antiquiertheit des Menschen von 1956 (Anm. d. Herausgebers).

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schon die Vokabeln „Klassenbewußtsein“ und „Genosse“, und vielleicht selbst das Wort „Arbeit“, ebenso veraltet und unbekannt sein werden, wie es heute schon die (durch den irreführenden Terminus „Arbeitnehmer“ ersetzte) Vokabel „Arbeiter“ geworden ist? Und doch werden morgen die so „nichtstuenden“ Warter oder Wärter die Favorisierten sein. Denn es kann ja kein Zweifel daran bestehen, daß die Automationsbetriebe sich beinahe selbständig machen, das heißt: auf Arbeiter möglichst verzichten werden. In Japan gibt es bereits „unmanned factories“. Die wird es bald auch anderswo geben, ebenso „unmanned offices“, da heutige Computer beinahe 1 000 000, jawohl millionenfach, so schnell rechnen wie ihre Konstrukteure, wenn man diesen die gleichen Aufgaben zumutete, und die nun hinter ihren Konstruktionen aufs jämmerlichste zurückbleiben. Zahllose Spezialleistungen, die noch vor 25 Jahren, als ich über dem ersten Bande dieses Werkes saß, von Menschen durchgeführt werden mußten, können heute, und zwar sehr viel genauer und in vertausendfachtem Arbeitstempo, automatisch erledigt werden. Der Arbeiter wird gar nicht mehr die dort geschilderte „prometheische Scham“, die, Scham vor dem (von ihm bedienten) Gerät, weniger perfekt zu sein als dieses, empfinden. In der Tat wird dieser in der Kabine seines Gerätekosmos sitzende Lynkeus von morgen weder die Gelegenheit finden noch sich dazu veranlaßt sehen, seine „eigene Leistung“ mit der der Maschine zu vergleichen. Diese arbeitet ja nicht an seiner, des Individuums, statt, sondern anstelle der gesamten Belegschaft, und das bedeutet: die Leistungsdifferenz ist viel zu groß geworden – manche Maschinenkomplexe ersetzen bereits 50 000 Arbeiter – als daß sie für Vergleichungen noch in Betracht kommen könnten. Und doch, trotz der entwürdigenden Situation, in der sich diese zum „Warten“ Verdammten befinden, werden diese doch die Elite der Arbeiter und Angestellten bilden, denn – man mache sich keine Illusionen – die meisten Proletarier werden, wie „arbeitswillig“ immer sie auch sein mögen, vergeblich darauf warten, als Warter eingesetzt zu werden. Wird sich nicht die Menschheit in ein einziges kolossales Lumpenproletariat verwandeln? Und selbst wenn es – was ganz unwahrscheinlich ist – gelingen sollte, durch einen totalen Umbau des Gesellschaftssystems die heutige Wohlstandsgesellschaft aufrechtzuerhalten – womit sollen sich denn die Millionen von früh bis spät beschäftigen? Lächerlich, zu glauben, man könnte diese Frage mit Volksbildungsvorschlägen beantworten. Werden sie nicht hilflos dem Ozean der freien Zeit exponiert sein? Die Frage „Was sollen wir tun?“, die die besten Männer des vorigen und angehenden 20. Jahrhunderts zu beantworten versuchten, wird abgelöst werden durch die „Womit sollen wir uns und die Mitmenschen beschäftigen?“. Daß die Millionen die ozeanische Leerzeit mit Unterhaltung oder „Bildung“ oder Sport oder

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Sex werden ausfüllen können, das bezweifle und bestreite ich. Und das nicht etwa deshalb, weil ich ein sturer und mißgünstiger Zelot der Arbeitsethik wäre. Nichts liegt mir ferner, als mit erhobenem Zeigefinger zu monieren, daß nur diejenigen, die sich ihr Leben mit Arbeit verdienen, zu leben verdienen. Aber was ich glaube, ist, daß der Mensch ohne die Arbeit, zu der er nun einmal verflucht ist, nicht leben kann, daß er unfähig ist, around the clock Unterhaltung auszuhalten. Die Ratschläge derer, die die Misere der Menschheit nicht mehr mitansehen konnten, ob sie nun Tolstoi oder Lenin geheißen haben, sind angesichts der völlig neuen Situation der Menschheit antiquiert, auch sie sind bereits antiquiert. Die Frage ist nicht mehr die, wie man die Früchte der Arbeit gerecht verteilt, sondern wie man die Konsequenzen der Nichtarbeit erträglich macht. Wie widerwärtig auch das Wort „Freizeitgestaltung“ klingt – ich mißtraue dem Wort „gestalten“, es gehört auf die schwarze Liste, die Liste der proskribierten Wörter – das Wort „Freizeit“ zeigt mindestens an, worum es heute geht. Eine Antwort weiß auch ich natürlich nicht. Gute Zeiten waren das noch gewesen, als die „Arbeitnehmer“ genannten Arbeiter (die freilich niemals die Freiheit hatten, sich Arbeit zu nehmen) als Arbeiter noch genommen und angenommen wurden. Denn die Arbeitslosigkeit, die nunmehr bevorsteht, wird die, die vor 50 Jahren geherrscht hatte, als harmlos erscheinen lassen. Wenn man bedenkt, daß schon die damalige eine der Hauptursachen des Nationalsozialismus gewesen war, dann kann einem der Mut vergehen, sich vorzustellen, was die bevorstehende hervorbringen wird. Gar nicht unmöglich, daß die (damals wirtschaftlich widersinnigen) Auschwitzer Gasöfen die Modelle für die „Bewältigung“ der Tatsache, daß es, verglichen mit Arbeitsgelegenheiten, „zuviele Menschen gibt“, abgeben werden. Aber die Umwälzung, die das Arbeiten heute durchmacht, ist durch den Hinweis auf die Rationalisierung nicht erschöpfend bezeichnet. Mindestens ebenso fundamental wie die durch die Automation verursachte Revolution ist diejenige, die darin besteht, daß heute Mittel und Zweck ausgetauscht sind. Daß die zwei Umwälzungen nur Faktoren einer einzigen sind, wird sich schnell herausstellen. Zwar trifft es auch heute natürlich noch zu, daß jeder Einzelne sein Arbeiten als Mittel (zum Kauf von Lebensmitteln im weitesten Sinne) einsetzt. Aber während früher das Ziel der Arbeit darin bestanden hatte, Bedürfnisse durch Erzeugung von Produkten zu befriedigen, zielt heute das Bedürfnis auf Arbeitsplätze; Arbeitsbeschaffung wird zur Aufgabe, Arbeit selbst wird zum herzustellenden Produkt. Zum Ziel, das allein dadurch erreicht werden kann, daß Zwischenprodukte erzeugt werden. Diese neuen Produkte heißen „neue Bedürfnisse“, die vermittels einer Arbeit, die „Werbung“ heißt, hergestellt

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werden. Sind diese neuen Bedürfnisse erzeugt, dann ist auch neue Arbeit als Endprodukt erfordert und ermöglicht. Freilich nicht ad libitum. Nicht nur deshalb nicht, weil unser „Bedürfen können“ nicht unbegrenzt ist (was sollten wir uns nach Kauf einer „unter Wasser operablen Schreibmaschine“ noch wünschen können?); sondern vor allem deshalb, weil durch den unaufhaltsamen Aufstieg der Technik: durch die unaufhaltsame Vervollkommnung der Rationalisierung und der Automatisierung die Zahl der jeweils für eine Leistung  L benötigten Arbeiter kontinuierlich zurückgeht. Das Postulat der Vollbeschäftigung wird also um so weniger erfüllbar sein, je höher der technologische Status einer Gesellschaft ist. Wenn gewisse mitteleuropäische Politiker vorgeben, den technologischen Stand ihrer Länder deshalb steigern zu wollen, weil sie nur dadurch Vollbeschäftigung gewährleisten könnten, dann sind sie entweder denkunfähig oder Volksbetrüger. Man kann nicht höchste Rationalisierung, die die Zahl der erforderten Arbeiter senkt, und Vollbeschäftigung zugleich auf Programm setzen. Nirgends außer in der Politik dürfte man sich einen derartigen logischen Schnitzer erlauben. Die Dialektik von heute besteht in diesem Widerspruch zwischen Rationalisierung und Vollbeschäftigung. Dies offen zuzugeben, das bringt kein Politiker über sein Parteiherz. §3 Der WQ Man sollte einen dem IQ entsprechenden WQ (workers quotient) einführen, dessen Höhe die Prozentzahl derer, deren Arbeit unentbehrlich ist, um Hundert am Leben zu erhalten, bezeichnen würde. WQ 100 würde besagen: 100 Menschen sind nötig, um 100 zu erhalten –was ideal klingt, weil jedermann einen Arbeitsplatz haben müßte, also hätte. Aber im kapitalistischen System kann aus drei Gründen keine Rede davon sein, daß diese „Deckung“ als Ideal gelte. Erstens deshalb nicht, weil durch Aufrechterhaltung der Herstellung einer gewissen Zahl von Arbeitslosen jeder Arbeitsplatz zum Desiderandum gemacht und dadurch die Arbeiterschaft geschwächt wird. Zweitens weil Rationalisierung, also die Verringerung der Arbeitsplätze, zwecks Erhöhung des Profits erwünscht ist. Drittens, weil es erwünschter ist, wenn 10% genügen, um „100%“ zu erhalten, das heißt: weil jeder Einzelbetrieb darauf hinarbeitet, daß sein Haben sein Soll übersteige.

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Gleichzeitig wird allerdings die Schlaraffenland-Utopie WQ = Null angestrebt, nämlich der Zustand, in dem niemand zu arbeiten braucht, weil alle Arbeit auf die Geräte abgewälzt ist. – Gleichviel, WQ  4 bedeutet: Vier sind nötig, um Hundert zu sichern. Je höher der technologische Status eines Landes, desto tiefer dessen WQ. – Da freilich das Quantum dessen, was als unentbehrlich gilt, selbst relativ ist – das in Los Angeles Unentbehrliche ist in Calcutta durchaus entbehrlich – und selbst von dem bereits erreichten technologischen Status abhängt, ist die Angabe des WQ immer nur mit Reserve zu verwenden. Als Regel darf in der kapitalistischen hochindustrialisierten Gesellschaft gelten: Niemals sind n Menschen erforderlich, um n Menschen zu erhalten. Immer sind n minus x Menschen zur Erhaltung von n Menschen benötigt. Wer versucht, Arbeitslosigkeit durch Umerziehung der aus einer Arbeit (wie es heute so schön heißt, nun weiß ich, was Freiheit ist) „Freigesetzten“ (z. B.  von  Setzern) für andere Berufe zu bekämpfen, ist ein Salamitaktiker, da er an der Tatsache vorbeidenkt, daß der WQ durch die Rationalisierung nicht nur in einer einzigen Sparte, sondern in der gesamten Industrie sinkt, das heißt: daß Rationalisierung die Zahl der Arbeitsplätze absolut vermindert. Wenn diese Regel in den sozialistischen Staaten nicht gilt und wenn diese mit ihrer fehlenden Arbeitslosigkeit prahlen, dann prahlen sie indirekt damit, daß die Regel bei ihnen noch nicht gilt, also mit einem Zeichen ihrer technischen Rückständigkeit. Dem WQ entspricht der HQ (H = hour), der anzeigt, wieviel Stunden jemand arbeiten muß, um leben zu können. HQ 24 würde bedeuten: um leben zu können, hat man pausenlos zu arbeiten. HQ  4: man hat nur 4 Stunden seiner Zeit mit Arbeit zu verbringen. WQ und HQ nehmen gleichzeitig ab. Und das gilt nicht nur in der (eng verstandenen) Industrie, sondern durchweg, z. B. von dem selbständigen Eigentümer eines Betriebs. Dessen Arbeitszeit ist (durch elektronische Geräte) derart verkürzt, daß er sich in einen Kurz-, nein Kürzestarbeiter, beinahe in einen „Arbeitslosen“ (HQ = 0) verwandeln kann. Diese Arbeitslosigkeit ist eine vollkommen neuartige, nämlich eine, die man sich leisten kann. Arbeitslosigkeit ist in diesem Falle also ein Stadium des Aufstiegs. „Fleiß“, der Jahrtausende lang und auch noch in meiner Jugend als Tugend selbstverständlich anerkannt worden war – er wurde ja sogar in den Schulzeugnissen als Sonderleistung erwähnt –, ist nun antiquiert. Eigentlich gilt er nur noch als Zeichen unrationellen Arbeitens und als Mittel der Zeitverschwendung. Wer für eine Leistung, die man in einer Stunde erledigen könnte, zwei Stunden benötigt, der blamiert sich als schwerfällig.

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§4 Die Verlegung der Voluptas Laborandi, der Voluptas Concurrendi und der Voluptas Solidaritatis in die Muße: Der Sport – Neue Arbeitsteilung Welchen Ausweg gibt es heute aus dieser Situation des Arbeitens und des Nichtarbeitens? Denn obwohl die Automation heute noch nicht auf ganzer Linie gesiegt hat, ist doch das Arbeiten auch heute schon um die Anstrengung des Arbeitens, und nicht nur um die Anstrengung, sondern um die Lust an der Anstrengung, um die unverzichtbare voluptas laborandi, betrogen. Der Seinsbeweis, den Arbeiten früher geliefert hatte: „Ich schwitze, also bin ich“, wird uns vorenthalten. Zwar wäre es kühn zu behaupten, daß sich die heutigen Arbeiter und Angestellten nach der anstrengenderen Arbeit vergangener Zeiten zurücksehnen, oder gar, daß eines der Motive der Maschinenstürmerei des vorigen Jahrhunderts die relative (ich betone: relative) Leichtigkeit der Maschinenarbeit gewesen sei. Aber übermorgen wird die Sehnsucht nach Anstrengung, mindestens nach Tun, überwältigend werden. Schon heute sehe ich unsere Ururenkel vor mir: Automationshirten und Arbeitslose, die sich nach der Fließband-Arbeit, obwohl diese ausschließlich aus dehumanisierenden und chaplinesken Bewegungen bestanden hatte, zurücksehnen werden, weil diese Arbeit doch noch ein Minimum an Tun, also etwas vergleichsweise Humanes, dargestellt und sie der Mühe, die Zeit selbst totschlagen zu müssen, enthoben hatte: Automationsstürmer, die natürlich genauso erfolglos bleiben werden, wie es ihre Ahnen, die Maschinenstürmer des vorigen Jahrhunderts, gewesen waren. Die Ziele der Terroristen von übermorgen werden (nicht anders als die offiziellen Ziele der kriegführenden Staaten) die industriellen Großanlagen sein, denn die Gewaltakte, die heute Individuen oder konspirative Gruppen aus Verzweiflung über die „Sinnlosigkeit“ ihres Lebens oder in der Hoffnung auf einen Seinsbeweis, auf ein „ergo sumus“, begehen, diese Terrorakte werden, so fürchte ich, je unbestreitbarer die Automationen triumphieren werden, um so rascher in die Hände der Massen hinüberwandern. Vorerst haben freilich die Arbeitenden und die Arbeitslosen mit anderen Methoden, die ihnen mißgönnten Anstrengungen nachzuholen, vorliebzunehmen. In der Tat gibt es eine, und zwar eine, die sich als phantastisch erfolgreich erwiesen hat: den Sport. Dessen Rolle würde ohne eine Analyse der heutigen Arbeit unverständlich bleiben. „Was treiben Sie denn gewöhnlich abends nach der Arbeit?“ fragte ich (schon vor 20 Jahren) einen Automationsarbeiter in Marl, der auf ein grünes Licht starrte. Seine Antwort (während derer er sein Starren nicht unterbrach): „Natürlich Fußball. Und zweimal die Woche natürlich Gewichtestemmen“

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klärt nun meine vorhin gemachte Bemerkung, die heutigen Arbeiter sehnten sich heimlich nach den Anstrengungen ihrer Vorväter zurück, auf. Das doppelte „natürlich“ in seiner Antwort war wirklich ganz natürlich, denn diese seine sportlichen Mußebeschäftigungen stellten für ihn die natürlichen Kompensierungen für die unnatürliche: nämlich zu leichte Tätigkeit dar, die seine „Arbeitszeit“ – man kommt aus den Gänsefüßchen nicht heraus – „ausfüllte“. In der Tat ist die Wurzel des heutigen Sports die zu leichte heutige Arbeit. Die Existenz und Entwicklung des Sports kann nur als Komplementär-Existenz und -Entwicklung verstanden werden. Das heißt: Je anstrengungsloser Arbeiten wird – und die Entwicklung in dieser Richtung hat schon zu Beginn des Jahrhunderts eingesetzt, um nun in der Automationsarbeit zu kulminieren – desto mehr muß der Mensch, der „wesensmäßig“ für Arbeiten gebaut ist, seine absolut unverzichtbare Anstrengung und die dazugehörige, ebenso unverzichtbare „voluptas laborandi“ nachholen; er muß diese also in seine Freizeit verlegen. Das bedeutet aber, daß sich ein ganz neuer Modus von Arbeitsteilung entwickelt. Während dieser Ausdruck bis heute angezeigt hatte, daß der für die Erzeugung eines Produktes nötige Arbeitsvollzug auf diverse (natürlich mehr oder minder anstrengende) Vollzüge mehrerer Personen aufgeteilt werde, besagt das Wort hier, daß von allen diesen Arbeitsvollzügen der Teil „Anstrengung“ abgetrennt wird. Dieser Vorgang ist höchst sonderbar, denn er bringt eine doppelte Freiheit mit sich, oder richtiger: den Schein einer doppelten Freiheit: Frei scheint 1. der Arbeitsvollzug selbst: eben befreit von Anstrengung. – Frei scheint aber ebenfalls 2. diese abgetrennte Anstrengung, weil sie als Spiel und Vergnügen und durchaus freiwillig vor sich geht. Aber das ist natürlich Unsinn. Wie schon die doppelte Verwendung des Wortes „scheint“ anzeigt, stehen wir vor einem doppelten Betrug. Denn  1. bedeutet „Freiheit von Anstrengung“ nicht eo ipso „Freiheit“; anstrengungslose Arbeit (wie z. B. Tütenkleben oder eben Arbeit in einer Automation) ist alles andere als frei. Und 2. ist Muße nicht eo ipso ein Freiheitszustand, vielmehr ist die Art der Muße durch die Art der uns aufgezwungenen Arbeit determiniert, also ebenfalls aufgezwungen. Die Hobbies, die vorgeben, freigewählte Mußebeschäftigungen zu sein, sind bestimmt durch die Hobby-Objekte, die als Waren offeriert werden, und diese sind ihrerseits bestimmt durch den Typ des heutigen Arbeitens, als Gegentypen. Warum das Selberherstellen von Minigolf-Plätzen (natürlich mit Hilfe von vorfabrizierten Teilen) eine „freie Beschäftigung“ sein soll, ist nicht einzusehen. Wenn wir unsere Ferien mit „fish spearing“ oder Windsurfing verbringen, so tun wir das alleine deshalb, weil wir unter dem Zwang der auf den Markt geworfenen Objekte stehen, den Produzenten zuliebe. Als „fish spearing“- oder Windsurfing-Feriengäste sind wir Angestellte der Fabrikanten, die uns freilich zu einer Tätigkeit verführen,

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die wir als Arbeitende niemals haben: z. B. die zu töten oder die, ein „herrliches Risiko“ einzugehen. Dazu kommt, daß wir, gewöhnt an den, wie ich ihn vor 20 Jahren genannt habe: „sanften Terror“ der Waren, gar nicht mehr dazu fähig sind, uns selbst zu beschäftigen. (Ob freilich unsere Ahnen das so viel besser gekonnt haben, dessen bin ich nicht so sicher. Vermutlich haben sie, namentlich winters, viel mehr einfach vegetiert und geschlafen als wir mit Eindrücken Oberschüttete.) Gleichviel, heute ist der TV-Schirm das Laufband der Muße. Konsumierend müssen wir mit ihrem Tempo Schritt halten. Kurz: Muße, Konsum und Sport sind uns ebenso auferlegt wie die Arbeit. Was wir in Arbeit und Muße erfahren, ist also nicht, wie es auf den ersten Blick scheint, eine doppelte Freiheit; vielmehr eine doppelte Unfreiheit, die, da sie im Kostüm einer doppelten Freiheit auftritt, die Lebenslüge der Epoche ist.

Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht (1982) Ralf Dahrendorf Friedrich von Hayek hat argumentiert, daß es in einer echten Marktwirtschaft keine Arbeitslosigkeit geben könnte; der Preis der Arbeit würde sich auf einer Höhe einpendeln, die allen Beschäftigung verschafft. Das ist allerdings, um mit Gottfried Bombach zu sprechen, „ebenso logisch wie utopisch“ und übrigens in einer Gesellschaft von Staatsbürgern, die auch soziale Rechte haben, schwer erträglich. Die Stabilisierung der Reallöhne, die heute als Einkommenspolitik, gelegentlich auch als Lohn- und Preisstop, vielfach von Parteien der linken Mitte vorgeschlagen wird, könnte vielleicht den Prozeß der steigenden Arbeitslosigkeit aufhalten (wenn eine solche Politik, was zweifelhaft ist, funktioniert). Neue Arbeitsplätze aber schafft sie nicht. Solange die Dimension der Reallöhne sich nicht verändert, erklären sie zwar die Arbeitslosigkeit, eignen sich aber nicht zu ihrer Bekämpfung. Die Reallöhne, die wir heute kennen, sind das Ergebnis einer langen und folgenschweren Entwicklung, eben der Entwicklung der Staatsbürgerrechte. Das gilt insbesondere, wenn wir Maßnahmen zur Sicherheit am Arbeitsplatz und vor allem zur Sicherheit des Arbeitsplatzes hinzunehmen, also vom Realeinkommen im umfassenden Sinn sprechen. Alle diese Entwicklungen machen Arbeit teurer. Die Arbeitslosigkeit beruht auf dem Preis der Arbeit. Der Preis der Arbeit aber beruht auf dem in die Strukturen der Arbeitsgesellschaft eingebauten Konflikt zwischen „Arbeitnehmern“ und „Arbeitgebern“ (für einmal haben die eigentümlichen Vokabeln sogar einen gewissen Sinn!). Der zunehmende Erfolg der Arbeitnehmer ist daher die treibende Kraft der Arbeitsgesellschaft, der am Ende zu ihrer Aufhebung führt. Von „friktioneller“, „struktureller“ und ähnlich qualifizierter Arbeitslosigkeit war bisher nicht die Rede. Der Grund ist einmal, daß derlei Klassifikationen viel verwirren und wenig erklären. Was die sogenannte „strukturelle“ Arbeitslosigkeit betrifft, so gibt es noch einen triftigeren Grund. Es wird ja oft gesagt, die Ursache für nicht eindeutig konjunkturell bedingte Arbeitslosigkeit läge in der technischen Entwicklung. In der Tat läßt sich nicht leugnen, daß Arbeitsplätze durch technische Prozesse ersetzt werden. Die verbreitete Angst vor dem „technischen Fortschritt“, von der uns Heinrich Popitz und andere schon vor vielen Jahren berichtet haben, scheint heute nur allzu wohlbegründet. Nur eben ist der technische Fortschritt entgegen dem Gesellschaftsbild der

© Brill Fink, 2022 | doi:10.30965/9783846766873_035

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Arbeiter kein „Naturgesetz“. Die These von der Vernichtung der Arbeitsplätze durch die Technik greift zu kurz. Die Technik ist längst eher Folge als Ursache sozialer Entwicklungen geworden, Teil der Produktionsverhältnisse und nicht Produktivkraft. Ohne steigende Reallöhne bliebe die technische Entwicklung über weite Strecken rein theoretisch. Technische Neuerungen werden eingeführt, weil sie billiger sind; und sie sind nicht an sich billiger, sondern im Vergleich zur menschlichen Arbeit. Die sogenannte „strukturelle“ oder „technologische“ Arbeitslosigkeit ist genau genommen Arbeitslosigkeit auf Grund des Preisvorteils der Technik gegenüber der Arbeit; diese ihrerseits beruht nicht nur auf der billiger werdenden Technik, sondern zumindest auch auf der teurer werdenden Arbeit. Der Preis der Arbeit ist so hoch geworden, daß bestimmte Dinge überhaupt nicht mehr getan werden können, andere in technische Prozesse übersetzt werden. Die innere Dynamik der Arbeitsgesellschaft selbst führt dazu, daß ihr die Arbeit ausgeht. Heißt das, daß die Zahl der Arbeitslosen weiter ansteigen wird, und daß Regierungen nichts, oder doch fast nichts, daran ändern können? Das letztere ist gewiß der Fall. Wer immer verspricht, ein Rezept gegen die Arbeitslosigkeit zu haben, sagt die Unwahrheit. Im übrigen aber greift noch der Begriff der Arbeitslosigkeit, von dem wir hier ausgegangen sind, zu kurz. Denn eine Lösung des Problems ist zumindest theoretisch denkbar. Sie liegt in den Betten der (relativ) kinderreichen Schichten. Schon heute gleiten ja die geburtenstarken Jahrgänge durch das Beschäftigungssystem wie der Elefant durch Saint-Exupérys Schlange; nach ihnen kann sich die Schlangenhaut wieder zusammenziehen, denn dem Berg folgt ein tiefes Lehrlings-, Schüler- und Studentental. Demographische Veränderungen könnten sogar dazu führen, daß die Arbeitslosigkeit ebenso wieder von der Bühne der Politik verschwindet wie vor ihr die Inflation. Aber das wäre auch ebenso irreführend. Das, was als Arbeitslosigkeit in den Statistiken der OECD-Länder erscheint, ist nur ein fast zufälliger Niederschlag eines viel dramatischeren Unwetters. Daß der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht, wäre auch in dem unwahrscheinlichsten Fall noch wahr, daß die offizielle Arbeitslosigkeit sich auf eine „natürliche“, will sagen politisch erträgliche Rate reduzieren ließe. Das gilt vor allem aus drei Gründen. Der erste liegt in der dramatischen Verkürzung der Lebensarbeitszeit in den letzten hundert Jahren. Der Europäische Gewerkschaftsbund hat die Vermutung ausgesprochen, daß in dieser Zeit mindestens eine Halbierung, vielleicht eine Reduktion auf ein Drittel der Lebensarbeitszeit stattgefunden hat. Die  40-Stundenwoche ist da nur ein Element; längere Ausbildung, frühere Pensionierung, längerer Urlaub, Feiertage kommen hinzu. Zweitens ist die versteckte, wenn man so will die freiwillige Arbeitslosigkeit in den letzten Jahrzehnten rasch angestiegen. Das

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gilt nicht nur für Frauen, die sich nicht als Arbeitslose registrieren lassen. Auch Studenten sind in gewisser Hinsicht freiwillig Arbeitslose; obwohl im erwerbstätigen Alter, entlasten sie die Arbeitsstatistik. Dann drittens, und am schwersten meßbar, ist da die eigentliche Geißel der späten Arbeitsgesellschaft, die Unterbeschäftigung. Bei staatlicher Beschäftigungspolitik muß man ja immer den Verdacht haben, daß sie die Stellen vermehrt, in denen nichts objektiv Sinnvolles, nichts subjektiv Befriedigendes zu tun ist. Länder wie Österreich haben den öffentlichen Sektor geradezu systematisch gepäppelt, um die Arbeitslosenzahlen niedrig zu halten, das heißt aber auch, um Menschen nutzlos zu „beschäftigen“. Die Unterbeschäftigung ist nicht nur entwürdigend, sie ist vor allem das eindringlichste Zeugnis für eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht: im Zynismus ihrer späten Jahre begnügt sie sich mit der bloßen Hülle der Arbeit, mit dem Beruf, vielmehr dem Job, dessen Bezeichnung sich in den Personalausweis eintragen läßt, der als Ankerpunkt der Versorgung dienen kann, auch wenn er sonst leer und ohne Bedeutung ist. An diesem Punkt führen die Erwägungen zur Arbeitslosigkeit zu zwei Schlüsselfragestellungen. Die Arbeitslosigkeit ist nur der sichtbare Ausdruck einer viel weitergehenden Reduktion der Arbeit in modernen Gesellschaften. Immerhin hat sie zu einer öffentlichen Diskussion Anlaß gegeben, die zeigt, daß vertraute Methoden uns nicht mehr weiterhelfen. Der Weg zurück zur Arbeitsgesellschaft ist uns verbaut. Warum ist das so? Was ist es an der Arbeitsgesellschaft, das uns in die heutige Lage geführt hat? Und dann, weit schwieriger noch: welche Alternativen gibt es denn zur Arbeitsgesellschaft? Wohin führt der Weg, der mit dem Ende der Arbeit beginnt? […] In dem Augenblick, in dem die Arbeit aus dem Gesamtzusammenhang des Lebens herausgelöst und in eine eigene Rolle, in eigene Institutionen gezwängt wird, verliert der Kampf zwischen denen, die arbeiten müssen, und denen, die nicht arbeiten müssen, seinen absoluten Charakter. Die Privilegierten haben ihn schon verloren, wenn er beginnt. Denn es wird jetzt möglich, weniger zu arbeiten. Der lakonische Satz „Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung“, mit dem Marx seine Erörterung der Reiche der Freiheit und der Notwendigkeit abschließt, ist in vormodernen Gesellschaften sinnlos. Er ist übrigens noch immer nur begrenzt sinnvoll in vormodern organisierten Wirtschaftsbereichen wie der kontinentaleuropäischen Landwirtschaft. Wo er sinnvoll wird, also in der Arbeitsgesellschaft, setzt der Kampf um die Verminderung der Arbeit ein. Lange bleibt dieser Kampf ein Positivsummenspiel. Produktivitätsstei­ gerungen durch technischen Fortschritt und Wirtschaftswachstum erlauben zugleich höhere Reallöhne für dieselbe Menge von Tätigen. Aber wie bei

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allen Widersprüchen der Modernität gibt es einen Punkt, an dem das bislang Vereinbare unvereinbar wird, also die Arbeitsgesellschaft selber zu kippen beginnt. Auf einmal stellen alle Beteiligten mit Verblüffung fest, daß die noch Beschäftigten zwar hohe Reallöhne haben, daß aber die Bereiche der Bildung, der Freizeit und des Ruhestandes die Arbeit nahezu aus dem einst von ihr geprägten System herausgedrängt haben. Der Kampf zwischen denen, die arbeiten müssen, und denen, die nicht arbeiten müssen, hat zum totalen Erfolg geführt: die, die früher nicht arbeiten mußten, sind nun zu denen geworden, die noch arbeiten dürfen, während die, die früher arbeiten mußten, nicht mehr arbeiten können. Der Klassenkampf um Arbeit hat zur vollständigen Verkehrung der Fronten geführt. Das heißt nicht, daß er alle Probleme gelöst hätte. Die Sehnsucht der Herrschenden, und sogar ihrer langjährigen Gegner, nach der Arbeitsgesellschaft, ist ja kein Zufall. Hinter ihr stecken zentrale Fragen der gesellschaftlichen Struktur. Zum Beispiel: an welchem Geländer entlang kann das Leben der Menschen geordnet werden, wenn die Disziplinierung durch die Organisation der Arbeit entfällt? Oder: wie läßt sich die Existenzgrundlage der Menschen sichern, wenn sie nicht mehr auf der Arbeitsleistung beruht? Oder: wie kann der Staat seine über die Elementaraufgaben hinausgehenden Funktionen des Gesellschaftsvertrages lösen, wenn seine wichtigste Einnahmequelle versiegt? Oder auch: wie bestimmt sich eigentlich die soziale Identität von Menschen, wenn sie sich nicht mehr durch ihren Beruf beschreiben können? […] Zwei Schlüsselfragen sollten beantwortet werden. Die erste ist die, warum uns der Weg zurück zur Arbeitsgesellschaft verbaut ist. Die Antwort ist, daß die Arbeitsgesellschaft selbst die Kräfte zu ihrer Aufhebung produziert hat. Die zweite Frage ist, welche Alternativen es gibt, und wohin der Weg führt, der mit der verängstigten Arbeitsgesellschaft beginnt. Auf diese Frage gibt es zwei Antworten, die eine eher hoffnungsvoll, die andere zweifelnd, ja in Sorge. Hoffnung muß gemäß den hier verwendeten Begriffen darin liegen, daß Arbeit in zunehmendem Maße durch Tätigkeit ersetzt, zumindest aber von Tätigkeit durchdrungen wird. Um das zu zeigen, ist eine Vorantwort nötig. Die entscheidenden Fragen der Gesellschaft von morgen sind ja nicht Fragen an Parteien oder Regierungen, noch nicht einmal an Gemeinderäte; sie sind vielmehr Fragen nach dem, was Menschen tatsächlich tun. Wie verhalten sich Menschen in einer Gesellschaft, der zunehmend die Arbeit ausgeht? Drei Beispiele müssen hier für vieles stehen. Einmal ist die „Humanisierung der Arbeit“ zwar zum Schlagwort geworden, aber sie ist darum nicht minder wichtig. Der Begriff der „Arbeitstätigkeit“ mag gerade in unserem Zusammenhang abwegig scheinen. Indes liegt seine Kraft

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eben darin, daß er die Marxsche Dichotomie von Freiheit und Notwendigkeit widerlegt: Es ist möglich, das „Arbeiten im Reich der Notwendigkeit“ mehr als nur rationell zu regeln, es vielmehr mit Tätigkeit zu erfüllen. Zu viele haben in den letzten Jahren die Gruppenarbeit in den Fabriken von Volvo verworfen; tatsächlich liefert sie ein Beispiel dafür, wie sehr Autonomie in die Heteronomie hineingetrieben werden kann. Das gilt auch sonst für viele Unternehmen. Von der Abschaffung der Stechuhr bis zur organisierten Mitbestimmung gibt es eine Fülle von Bedingungen der Tätigkeit, die die Arbeit verwandeln können und die möglich sind, weil sie irgendwo wirklich sind. Dann ist die Selbsthilfe in überschaubaren Gruppen zu erwähnen. Johano Strasser hat in seinem viel mißverstandenen Buch über die Grenzen des Sozialstaates – einem Thema, das unmittelbar mit dem der Arbeitsgesellschaft zusammenhängt – gezeigt, inwiefern noch die sozialen Dienste ergänzt werden können und vielleicht müssen durch nachbarschaftliche Hilfe, durch „kleine soziale Netze“. Die Erhaltung der Städte, die Bewahrung einer lebenswerten Umwelt, die Entfaltung schöpferischer Talente, ja die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung – das sind sämtlich Aufgaben der Eigentätigkeit von Menschen in ihren Gruppen. Es sind nicht Aufgaben des öffentlichen Dienstes, überhaupt der Arbeitsgesellschaft, auch wenn sich argumentieren läßt, daß hier und da öffentliche Mittel als Katalysatoren der Initiative notwendig sind. Die Initiative, von der hier die Rede ist, ist aber Tätigkeit, sie ist das Reich der Freiheit. Das gilt auch für den schwierigen Bereich der alternativen Lebensformen. Sie haben ja heute vielfach die Stelle der Kleinunternehmungen eingenommen. Was das bedeutet, haben die Autoren des von Frank Benseler und anderen herausgegebenen Bandes „Zukunft der Arbeit. Eigenarbeit, Alternativökonomie?“ im einzelnen beschrieben. Es ist bedauerlich, daß sich die in alternativen Unternehmungen Tätigen gelegentlich darüber beklagen, daß sie nur auf dem Wege der „Selbstausbeutung“ auf die Dauer Erfolg haben können. Das heißt nämlich nur, daß auch sie noch das Vokabular der Arbeitsgesellschaft verwenden. In Wahrheit gibt es nichts Schöneres als die Selbstausbeutung, nämlich die Verwendung der eigenen Kräfte zu selbstgewählten Zwecken, wenn es sein muß, bis zur Erschöpfung. Das eben ist menschliche Tätigkeit, Freiheit. Es könnte scheinen, als habe diese Analyse zwar mit der Realität begonnen, sich dann aber zunehmend in die Wolken der Phantasie verflüchtigt. Das ist nicht weiter beunruhigend. Bevor die Zukunft zur Gegenwart wird, scheint sie immer wolkig und phantastisch. Schwerer wiegt, daß vieles dafür spricht, daß die hier angedeutete Zukunft einer Gesellschaft der Tätigkeit eben nicht Wirklichkeit wird. Die langanhaltende Rezession, von der mehrfach die Rede war, verändert nicht nur Einstellungen, sondern auch reale Bedingungen. Zum

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Beispiel fördert sie einen Protektionismus, der die OECD-Länder leicht auf die schiefe Ebene der Länder des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe bringen könnte. Es war hier von diesen Ländern ebensowenig die Rede wie von denen der Gruppe der 77. Dennoch sind auch diese natürlich vom Niedergang der Arbeitsgesellschaft betroffen, nur eben in ihnen eigenen, mißlicheren Formen: durch Unterbeschäftigung, Herumlungern und Schlangestehen, toleriertes Verhungern und organisierte Zwangsarbeit, und natürlich durch weit niedrigere Reallöhne. Die treibende Kraft der Weltwirtschaft, wenn nicht der Gesellschaften der Welt ist nach wie vor der in der OECD versammelte Club der Reichen. Protektionismus der Reichen heißt neue Armut. Dann werden auf einmal die an sich absurden Mahnungen, wieder härter zu arbeiten (die ja nur bedeuten, daß die, die Arbeit haben und behalten, noch mehr anderen die Arbeitsplätze nehmen), plausibel. Die Reallöhne sinken und sinken. Das Umverteilungsinstrument der Inflation wendet sich gegen seine Erfinder, die Gewerkschaften. Nicht nur in der Wirtschaftspolitik kehren die entwickelten Länder langsam zu dem Punkt zurück, bei dem sie begonnen haben. Friedrich von Hayek behält am Ende doch Recht. Die Aussicht ist bedrückend. Ob sie real ist, dürfte sich am Litmuspapier eines Phänomens entscheiden, von dem bisher noch nicht die Rede war, obwohl es der Schlüssel zur Zukunft ist, nämlich der Schwarzarbeit. Schwarzarbeit ist in der offiziellen Welt der Arbeitsgesellschaft natürlich unbeliebt. Das ist einerseits verständlich. Sie vor allem dokumentiert den unbändigen Wunsch von Menschen, etwas Sinnvolles zu tun, gleichgültig darum, was Gewerkschaften, Handwerkskammern und Finanzbehörden dazu sagen. Schwarzarbeit beginnt zu Hause. Alle Hausfrauen arbeiten schwarz. Aber hier ist vor allem von der Schwarztätigkeit die Rede. Wer das Auto seines Nachbarn repariert oder vielmehr an ihm herumbastelt, wer mit Freunden sein Haus neu anstreicht, aber auch wer nebenher an einer Volkshochschule unterrichtet oder andere in Fragen ihrer Rechte und der Wege, dazu zu kommen, berät, wer also seine oder ihre Freiheit zu Tätigkeit nutzt, der setzt ein Signal für eine bessere Zukunft. Er oder sie setzt aber auch ein anderes Signal. Die Schattenwirtschaft der Schwarzarbeit ist eine Wachstumsindustrie, in vielen Ländern nahezu die einzige. Schwarzarbeit ist aber auch Tätigkeit für Entschädigungen, die weit unter den anerkannten Reallohn-Sätzen liegen. Der Geldlohn für Schwarzarbeit ist niedrig; oft wird er ergänzt oder ersetzt durch einen Reallohn in ganz anderem Sinne, durch einen Zentner Äpfel aus dem eigenen Garten oder durch eine Gegenleistung an Diensten. Und natürlich ist Schwarzarbeit weder durch Sicherheit am Arbeitsplatz noch durch Arbeitsplatzsicherheit geschützt. Wenn man bedenkt, wie beharrlich die Arbeitsgesellschaft sich

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trotz allem gehalten hat, muß man befürchten, daß die Schwarzarbeit nicht so sehr neue Möglichkeiten menschlicher Tätigkeit ankündigt als die Rückkehr zu alten Wirklichkeiten menschlicher Arbeit androht. Wenn es schon zwei verschiedene Ebenen menschlichen Tuns gibt, könnte auch die niedrigere von beiden wieder zur Norm werden. Um das zu wiederholen: von historischen Notwendigkeiten ist hier nicht die Rede. Es ist daher nötig, im Sinn zu behalten, daß der Arbeitsgesellschaft zwar die Arbeit ausgeht, ihre Herren aber alles tun, um die Arbeit wieder zurückzuholen und den Weg zu einer Gesellschaft der Tätigkeit zu verbauen.

Arbeiterkonservativismus (1983) André Gorz Das Recht auf Arbeit, das Recht auf einen Arbeitsplatz und das Recht auf Einkommen sind lange ein und dasselbe gewesen. Dabei kann es nicht mehr bleiben. Diese Tatsache wird durch die Arbeitslosenunterstützung und die vorzeitige Pensionierung sowohl anerkannt wie verschleiert. Wenn den Arbeitslosen in den nordeuropäischen Ländern für unbegrenzte Zeit  70% ihres früheren Lohns ausgezahlt werden oder wenn Arbeiter, die das 55. Lebensjahr, in einigen Krisensektoren das 50. Lebensjahr überschritten haben, mit 70 bis 90% ihres Lohns pensioniert werden, ist faktisch das Recht auf Einkommen bereits vom Besitz eines Arbeitsplatzes abgekoppelt worden. Diese Entkoppelung wird jedoch auf verschleiernde Weise durchgeführt. Sie hütet sich nämlich einzugestehen, daß es keine Vollzeitbeschäftigung für alle geben kann und nie mehr geben wird, indem sie die Arbeitslosigkeit als vorübergehendes konjunkturelles Phänomen hinstellt und ihre Entschädigung nicht als ein Recht, sondern als ein Almosen behandelt. Arbeitslosigkeit und Arbeitslose werden behandelt, als ob die ständige Vollzeitbeschäftigung die Regel und die Norm wäre und bleiben müsse: man ist entweder vollbeschäftigt oder Arbeitsloser, der als Gegenleistung für seine Unterstützung auf jede, auch unbezahlte Tätigkeit verzichten muß. Die Alternative Vollzeitarbeit oder vollständige Arbeitslosigkeit leugnet implizit die faktische Verringerung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit und verteilt diese Verringerung auf die unegalitärste Weise: sie bestraft und marginalisiert diejenigen, die dem Leistungsdruck enthoben sind (die Arbeitslosen), um die Norm der Vollzeitbeschäftigung und damit die Natur der sozialen Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu bewahren. Diese auf Unterordnung und Abhängigkeit der letzteren gegenüber den ersteren beruhenden Beziehungen können nämlich nur dann andauern, wenn die Lohnarbeit für den Erwerbstätigen die Hauptbeschäftigung ist. Dann empfindet er seine Abhängigkeit vom Arbeitgeber als eine sich auf seine ganze Existenz auswirkende Herrschaft: denn alles in seinem Leben ist im Hinblick auf die Arbeit organisiert und auf sie ausgerichtet. Würde dagegen die Arbeit nur dreißig Stunden oder weniger pro Woche in Anspruch nehmen, dann wäre sie nur noch eine Tätigkeit unter anderen möglichen, ebenso wichtigen oder wichtigeren Tätigkeiten. Damit würde das Verhältnis existentieller

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Unterwerfung gegenüber dem Arbeitgeber gebrochen: die Arbeiterschaft würde dessen Entscheidungen und Macht nicht mehr still akzeptieren. Die Erhaltung der Norm der Vollzeitbeschäftigung tendiert grundsätzlich dahin, die auf der Leistungsethik beruhenden Herrschaftsbeziehungen zu erhalten. Diese Politik, die ideologischen Grundlagen des Herrschaftsverhältnisses zu bewahren, hat hohe gesellschaftliche Kosten. Sie führt notwendig zu einer Zweiteilung der erwerbstätigen Bevölkerung: auf der einen Seite steht eine Elite von geschützten und ständig vollbeschäftigten Arbeitern, die die traditionellen Werte des Industrialismus wahren und an ihrer Arbeit wie ihrem sozialen Status hängen; auf der anderen Seite eine Masse von Arbeitslosen und unqualifizierten Arbeitern ohne Status, die unregelmäßig und ungeschützt zur Verrichtung wechselnder, aber immer uninteressanterer Aufgaben herangezogen werden. Alle Industriegesellschaften entwickeln sich zu dieser „Dualisierung“ (die in Japan immer besonders ausgeprägt war), durch die der Klasse der regelmäßig Arbeitenden die konservative Rolle der Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung zukommt. Dagegen ist die Masse der „gegen die Arbeit Gleichgültigen“ das mögliche gesellschaftliche Subjekt des Kampfes um die Aufteilung der Arbeit, die allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit, die tendenzielle Abschaffung der Lohnabhängigkeit durch Ausweitung der Eigenproduktion sowie ein allen garantiertes Lebenseinkommen. Die Grenze zwischen Linken und Rechten verläuft offenkundig mitten durch die Welt der Arbeit – was im übrigen schon immer der Fall war.

Arbeit heute. Ein Gespräch mit Hans-Ulrich Reck (1984) Jürgen Habermas Hans-Ulrich Reck Die Arbeitsgesellschaft hat vorrangig die Arbeit als technisches System herausgebildet. Die aus gemeinsamen Erfahrungen gewonnene Solidarität verschwindet darin immer mehr und wird durch andere, technikähnlich organisierte Bereiche gesättigt (Konsum z. B., Medien). Und doch ist es immer noch so, daß das Problem des Fortschritts entweder durch die Eigenzwänge der Technik erklärt wird oder durch bloß mangelhafte Kontrolle, wobei die Technik dann als eine neutrale Kraft erscheint, die bloß vernünftig einzusetzen wäre, um befreiend zu wirken. Was Sie sagen, zielt auf ein unerforschtes und unbewußt funktionierendes Feld: daß Fortschritt immer mit Erinnerungstilgung durchsetzt ist und durch sie hindurch sich festsetzt. Es gäbe also keine in diesem Sinne „neutrale“ Technik. Jürgen Habermas Ja, Erinnerungstilgung ist ein gutes Wort. Sie haben in dem Fragenkatalog, den Sie mir geschickt haben, von dem „Defizit an glücklichen Bildern“ gesprochen und behauptet: „ikonographisch sind die glücklichen Bilder der Arbeit nicht im industriellen, sondern einzig, nach wie vor, im handwerklichen und familiären Bereich zu finden“. Das ist vielleicht ein Schlüssel für die Erinnerungstilgung, die in die industrielle Arbeitsgesellschaft überhaupt eingebaut ist. Der Industriearbeit wohnt das Telos ihrer eigenen Abschaffung inne. Wenn Sie heute in die Montagehalle einer Fabrik gehen, die Fernsehgeräte herstellt, dann sehen Sie in diesem hochautomatisierten Zweig der Produktion, daß die wenigen Arbeitsplätze, die noch mit (weiblichen) Arbeitskräften besetzt sind, schon moribund sind – ein Überbleibsel eines stürmischen Vorgangs technischer Rationalisierung. Und Sie können auch schon die Arbeitsplätze identifizieren, die in wenigen Jahren nicht mehr mit lebendiger Arbeit ausgefüllt werden müssen. Wo die körperlichen Bewegungen des menschlichen Organismus zum Zubehör von elektronisch gesteuerten Anlagen werden, stehen die Arbeitsvollzüge unter der Antizipation, daß sie spurlos verschwinden werden. Vielleicht ist die menschliche Arbeit schon mit der ersten manufakturellen Zerlegung von Arbeitsprozessen unter diesen Aspekt der Selbstvertilgung getreten. Wahrscheinlich kommt aber dieses objektive Verhältnis breitenwirksam erst zu Bewußtsein, seitdem sich nicht nur Soziologentage, sondern auch die Massenmedien mit der Tatsache befassen, die Dahrendorf auf die einprägsame Formel gebracht hat,

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daß der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht. Auf dem letzten deutschen Soziologentag in Bamberg hat Claus Offe diese Frage aufgegriffen. Er hat sehr überzeugend gezeigt, daß die Tatbestände von Arbeit, Produktion und Erwerb immer weniger die Verfassung der Gesellschaft im ganzen prägen. Hans-Ulrich Reck Verliert die Produktions- und Arbeitssphäre ihre strukturbildende Kraft? Kann man, trotz der fortbestehenden Tatsache der Erwerbsabhängigkeit des ganz überwiegenden Teils der Bevölkerung, davon sprechen, daß Arbeit individuell und im ganzen gesehen ihre zentrale Bedeutung verliert? Jürgen Habermas Wenn man, wie Offe, diese Fragen positiv beantwortet, ergeben sich Konsequenzen für die Gesellschaftstheorie, die ja seit Marx um Begriffe wie Praxis und Arbeit zentriert ist. Deshalb habe ich vorgeschlagen, den Begriff des kommunikativen Handelns als einen Schlüssel zur Theoriebildung zu benützen, damit wir die eigensinnigen Strukturen der Lebenswelt besser in den Griff bekommen, vor allem auch die Bedrohung dieser Lebenswelt durch bürokratische und wirtschaftliche Imperative, Gefahren, die dadurch entstehen, daß immer mehr persönliche Beziehungen, Dienste und Lebenszeiten in Objekte der Verwaltung oder in Waren verwandelt werden. Selbst das, was die griechischen Philosophen einmal als die tragenden Elemente der Natur verehrt haben, muß man sich heute, als Tourist, scheibchenweise kaufen – Wasser, Erde, Luft, Sonne und Schatten. Das Ende der Arbeitsgesellschaft, wenn ich mich dieses Schlagworts bedienen darf, wirft Probleme auf, die bisher noch nicht gut analysiert worden sind. Aber als Probleme werden sie von allen empfunden. Das erste Problem habe ich schon genannt. Zwei Kollegen, Herr Esser und Herr Fach, haben auf Entwicklungen hingewiesen, die dafür sprechen, daß die Bundesrepublik auf dem Weg zu einer „gespaltenen“ Gesellschaft ist – mit einem produktiven Kern von Beschäftigten und einem breiter werdenden, nur noch notdürftig alimentierten, vernachlässigten Rand der in Subkulturen und Ghettos Abgedrängten. Die entscheidende politische Frage der nächsten Jahre wird es sein, ob dieses Thema aus der Öffentlichkeit herausgehalten oder zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen gemacht wird – und welche Seite, wenn das Problem thematisiert wird, sich durchsetzt: der Interessenego­ ismus einer Mehrheit, die ihren Besitzstand mit Klauen und Zähnen verteidigt – einen Vorgeschmack gibt ja der Kampf um die Erhaltung des dreigliedrigen Schulsystems in den letzten Jahren, oder der Medizinerprotest in Paris; oder aber die Solidarität derer, die noch drin sind, mit denen draußen. Das wird auch, und vielleicht in erster Linie davon abhängen, ob sich die Gewerkschaften nach amerikanischem Muster auf eine „closed shop policy“ verlegen, oder ob sie an die Solidartradition der Arbeiterbewegung anknüpfen. Auch hier wiederum

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könnte die politische Kultur wichtiger sein als die politische Ökonomie. Will unsere Gesellschaft auf dem Strukturkonservativismus beharren und lieber, wie André Gorz sagt, eine „Nicht-Klasse von Nicht-Arbeitern“ aushalten – und, wie Marx sagte, „sich wohl fühlen in der Entfremdung“? Oder hat die Ellbogengesellschaft, hat der Kapitalismus mit der Freisetzung von Konkurrenzstreben, Leistungsorientierung, Selbstbehauptungsenergien seine historische Mission erfüllt – nämlich ein Ensemble von Produktivkräften geschaffen, das ja die utopischen Vorstellungen vergangener Jahrhunderte längst überholt hat? Es kommt gewiß darauf an, wie man diese Fragestellung analysiert. Das zweite Problem ist deshalb eher theoretischer Natur. Ist – in den entwickelten westlichen Industriegesellschaften – das Entwicklungspotential der Arbeitsgesellschaft auch in dem Sinne erschöpft, daß der jahrhundertelang fortschreitende Prozeß der Umwandlung von gewachsenen Tätigkeitsbereichen in monetär entschädigte, organisierte Beschäftigungsverhältnisse an eine kritische Grenze stößt? Bisher gibt es ja kurioserweise immer wieder Bereiche, wo der Kapitalismus noch nicht zugeschlagen hat –, so könnte zum Beispiel die Professionalisierung der Mutter oder der Hausfrau den riesigen Bereich der familiären Erziehungs- und Hausarbeit monetarisieren. Und doch hat man jetzt eher den Eindruck, daß der Mechanismus des Arbeitsmarktes vor dem gesellschaftlichen Bedarf eines bestimmten Typus von Tätigkeiten versagt. Im Augenblick haben wir z. B. nicht zu wenig Lehrer, auch nicht zu viele überflüssige Lehrer, sondern zu wenig bezahlte Lehrer, die die Arbeit, die sie tun wollen und die auch nötig wäre, tun können. Dieses Bild kann sich im Zuge demographischer Entwicklungen schnell ändern. Aber das Problem bleibt. Der Bedarf an gesellschaftlich notwendiger Arbeit scheint sich zum einen in Bereiche zu verlagern, die Tätigkeiten nach dem Muster der Industriearbeit gar nicht kennen, sondern eher einen kommunikativen Umgang mit Personen erfordern; zum anderen verlagert sich der Bedarf in Tätigkeitsbereiche, die in die Organisationsform von Industrie- und Verwaltungsbetrieben nicht passen. Dabei denke ich an soziale und erzieherische, auch an politische Aufgaben, die gar nicht erst in formelle Beschäftigungsverhältnisse überführt werden, weil sie keinen Gewinn abwerfen; die aber auch nicht als Dienstleistungen organisiert werden sollten, weil das die Lebenswelt dem Zugriff von Experten nur noch weiter ausliefern würde. Wir sprechen heute beispielsweise von „Beziehungsarbeit“, auch von „politischer Arbeit“ – denken Sie an die zeitaufwendigen, sehr intensiven Willensbildungsprozesse, die in Wohngemeinschaften, in der Nachbarschaft, in den Kommunen nötig wären, um z. B.  das  Zusammenleben der verschiedenen Generationen auf eine Weise zu ordnen, die die negativen Auswirkungen der Struktur von Kleinfamilien, auf deren Vorzüge wir nicht verzichten möchten, ausgleichen könnte – im

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Hinblick auf die Alten, die Kinder, die Behinderten und Gebrechlichen, die Vereinsamten usw. Das meine ich ganz unsentimental: Ich bezweifle, daß der Mechanismus des Marktes noch geeignet ist, den tatsächlichen Bedarf an Arbeit zu identifizieren und innerhalb von Formen gesellschaftlich anerkannter Arbeit zu befriedigen. Die im kapitalistischen Sinne bis jetzt produktive Arbeit steht demnach im Gegensatz nicht nur zu einer sozialen Anerkennung, sondern auch zum Wert gesellschaftlicher Tätigkeiten, die nicht mehr in die vorhandenen Formen der Anerkennung und der Wertschätzung passen. Das hängt mit dem dritten Problem, der Umwertung von Tätigkeiten, zusammen. Die sogenannte arbeitsfreie Zeit wächst, nicht nur wöchentlich, sondern auch über die Spanne der Lebensgeschichte, und trotzdem werden die außerhalb der formellen Beschäftigung liegenden Lebensbereiche immer nur negativ, wie das Wort „arbeitsfreie Zeit“ schon sagt, immer nur privativ mit Bezugnahme auf eine mehr und mehr obsolet werdende Sphäre der Arbeit definiert. Wie kann die Gesellschaft in ihren Grundlagen so umgebaut werden, daß nicht nur aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive, sondern auch aus der Sicht der individuellen Lebensgeschichte eine Gewichtsverlagerung zustande kommt? Als produktive Arbeit gilt, wie Offe sagt, vor allem das, was betriebswirtschaftlich gewinnbringend ist, der Bearbeitung von Dingen ähnlich sieht und in abstrakte Arbeitsvollzüge zerlegt werden kann. Demgegenüber sollte man sich einmal den Typus von „Arbeiten“ vor Augen führen, in denen jene kaum wahrgenommenen, aber beträchtlichen Energien sinnvoll Gestalt annehmen könnten, die heute beispielsweise in einer Frauengruppe oder in einem sozialdemokratischen Ortsverein zusammenkommen, wo sie bei allem guten Willen eher stillgelegt, d. h. zugleich kanalisiert und neutralisiert werden. Hans-Ulrich Reck Es wären also auch andere und anders qualifizierte Formen der Verteilung nötig, eine andere Grundlage für die gesellschaftliche Anerkennung notwendiger und vernachlässigter Tätigkeiten. Was heißt nun „Sozialismus“, wenn seine Strategie nicht mehr an der Produktion ansetzen kann, wie das früher offensichtlich notwendig war? Jürgen Habermas Ich habe den Eindruck, daß, gemessen an den realen Bedürfnissen und Fähigkeiten, die Allokationsmechanismen für die Verteilung gesellschaftlich anerkannter Arbeit nicht mehr funktionieren. Auch ich habe keine Antworten, die man als Rezepte handeln könnte. Ich denke nur, daß man zu einer klareren Vorstellung von Sozialismus unter gegenwärtigen Bedingungen nur dann wird gelangen können, wenn man solche Fragen durchdenkt. Sozialismus hat bedeutet, daß man einen nach Möglichkeit fallibilistischen, auf Selbstkorrekturen angelegten Versuch unternimmt, in kollektiver Anstrengung identifizierbares Leid, identifizierbare

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Ungerechtigkeit, vermeidbare Repressionen wenigstens zu verringern, d. h. Probleme, die sowieso laufend bearbeitet und so oder so gelöst werden, in einer bestimmten Perspektive zu lösen. Diese Perspektive läßt sich abstrakt bezeichnen: nämlich die Zerstörung solidarischer Lebensformen aufzuhalten und neue Formen solidarischen Zusammenlebens zu schaffen – also Lebensformen mit expressiven Ausdrucksmöglichkeiten, mit einem Spielraum für moralisch-praktische Orientierungen, also Lebensformen, die einen Kontext bieten, in dem sich die eigene Identität und die der anderen unproblematischer, unbeschädigter entwickeln kann. Das ist eine Perspektive, die aus der Selbstkritik der heute vorherrschenden, mit der kapitalistischen Modernisierung durchgesetzten Lebensform hervorgegangen ist. Deshalb heißt Sozialismus vor allem, zu wissen, was man nicht will, wovon man sich befreien will: von einer Lebensform, in der alle Lebensfragen solange umdefiniert werden, bis sie in das Muster abstrakter Arbeit industrieller und gewinnorientierter, bürokratischer und herrschaftsorientierter Prägung hineinpassen. Das sagt sich leicht dahin; schwieriger sind die konkreten Analysen, mit denen wir uns und andere von alternativen Entwicklungsmöglichkeiten überzeugen können.

Das postmarktwirtschaftliche Zeitalter (1995) Jeremy Rifkin Die High-Tech-Weltwirtschaft wird bald ohne massenhafte Erwerbsarbeit auskommen. Während Unternehmer, Manager, Techniker und andere hochqualifizierte Angehörige der neuen Eliten die Wirtschaft am Laufen halten, werden weniger und weniger Mitarbeiter für die Erstellung von Gütern und Dienstleistungen gebraucht. Der Marktwert der menschlichen Arbeit sinkt und wird weiter sinken. Jahrhundertelang wurde der Mensch nach seiner „Produktivität“ bemessen, jetzt, da überall Maschinen die menschliche Arbeitskraft ersetzen, sieht sich die Arbeitnehmerschaft ihrer gesellschaftlichen Funktion und ihres Selbstverständnisses beraubt. Im selben Maße wie die menschliche Arbeit verliert auch die staatliche Politik an Bedeutung. Multinationale Unternehmen eignen sich die Macht der einzelnen Länder an. Sie übernehmen in steigendem Maße die traditionelle Funktion des Staates und kontrollieren globale Ressourcen, Absatz- und Arbeitsmärkte. Die Vermögenswerte der größten Weltunternehmen übersteigen das Bruttosozialprodukt so manchen Landes. Der Übergang von einer Wirtschaft, die auf der Nutzung von Rohstoffen, Energie und Arbeit basiert, zu einer, die auf Information und Kommunikation beruht, schmälert auch die Rolle des Nationalstaates als des Garanten der Marktstabilität. Die Basis des modernen Nationalstaates war seine militärische Macht, durch die er sich lebenswichtige Rohstoffe aneignen und sich arbeitsfähiger Bevölkerungen bemächtigen konnte. Jetzt aber, da Energie, natürliche Ressourcen und Arbeitskräfte gegenüber Information, Kommunikation und intellektuellen Leistungen an Bedeutung für die Produktion verlieren, hat auch die militärische Macht ihre Bedeutung verloren. Information und Kommunikation, die Rohstoffe der globalen High-Tech-Ökonomie, machen nicht an Ländergrenzen halt, sie durchdringen das Leben einer jeden Nation und können von stehenden Armeen nicht aufgehalten werden. Der Nationalstaat in seiner räumlichen Begrenztheit ist viel zu langsam, um mit der Geschwindigkeit globaler Märkte mithalten zu können. Multinationale Unternehmen dagegen sind ihrem Wesen nach eher zeitliche, denn räumliche Gebilde. Sie gründen sich nicht auf eine bestimmte politische Gemeinschaft, sie sind an keinen Standort gebunden. Sie stellen quasipolitische Institutionen dar, die über Informationen und Kommunikationskanäle verfügen und dadurch

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eine enorme Macht über Menschen und Orte ausüben. Ihre Handlungsfähigkeit, ihre Flexibilität und vor allem ihre Mobilität erlauben es ihnen, ganze Produktionen und Märkte schnell und ohne große Anstrengung zu verlagern und so die Wirtschaft eines jeden Landes zu kontrollieren. Die veränderten Beziehungen zwischen Staat und Wirtschaft schlagen sich nieder in umfassenden internationalen Handelsvereinbarungen, durch die immer mehr politische Gestaltungsmöglichkeiten an die Weltunternehmen übergehen. Das GATT-Abkommen, der Vertrag von Maastricht und die Schaffung der NAFTA, der nordamerikanischen Freihandelszone, sind deutliche Anzeichen dafür, daß sich die globalen Machtverhältnisse verändern. Hunderte von nationalen Gesetzen, die den freien Handel der transnationalen Firmen beeinträchtigen, werden durch diese Vereinbarungen null und nichtig. In Dutzenden von Staaten haben Wähler und Wählergruppen massiven öffentlichen Protest gegen diese Abkommen vorgebracht. Sie fürchten, daß harterkämpfte Gesetze, die etwa die Rechte der Arbeitnehmer, den Umweltschutz oder das Gesundheitswesen regeln, beiseite geschoben werden, um den Weg freizumachen für die nahezu unbegrenzte Macht der Multis über die wirtschaftlichen Geschicke unseres Planeten. Wie aus der internationalen Politik, so zieht sich der Staat auch aus dem Arbeitsmarkt zurück. Angesichts wachsender Staatsschulden und großer Haushaltsdefizite ist keine Regierung mehr bereit, staatliche Programme aufzulegen, um Arbeitsplätze zu schaffen und die Kaufkraft zu heben. In nahezu allen Industrieländern der Welt fühlt der Staat sich nicht mehr dafür zuständig, die Marktstabilität zu garantieren; er läßt die multinationalen Unternehmen gewähren und sorgt sich nicht mehr um das Wohlergehen seiner Bürger. Der Niedergang der Massenbeschäftigung wie der staatlichen Einflußnahme auf das Wirtschaftsleben erfordert eine grundsätzliche Neubestimmung der Grundlagen unserer Gesellschaft. Denken wir nur daran, daß während des gesamten Industriezeitalters die formalen Marktbeziehungen die Oberhand über die traditionellen sozialen Beziehungen behielten und daß sich der Wert eines Menschen fast nur nach seinem Marktwert bemaß. Da es nun nur noch wenig einbringt, seine Arbeitszeit zu verkaufen, droht das ganze Gerüst ökonomischer Beziehungen einzustürzen, das auf dieser Struktur aufruht. In ähnlicher Weise verlieren mit dem Rückzug des Staates aus dem Wirtschaftsleben Teile des Regierungsapparates ihre Grundlage und müssen ihre Aufgaben neu bestimmen. Die Orientierung des Staates auf den Markt durch eine andere Perspektive zu ersetzen, dies wird zur vordringlichen Aufgabe aller Nationen. Den meisten Menschen dürfte es schwerfallen, sich eine Gesellschaft vorzustellen, in der nicht mehr der Markt und der Staat das Alltagsleben bestimmen. Diese beiden Institutionen dominieren unser Leben in allen seinen Aspekten,

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und niemand weiß mehr, daß sie noch vor hundert Jahren eine wesentlich geringere Rolle in unserer Gesellschaft spielten. Wirtschaftsunternehmen und Nationalstaaten sind Geschöpfe des Industriezeitalters. Im Verlauf dieses Jahrhunderts haben sie mehr und mehr Aufgaben an sich gezogen, die zuvor von Tausenden lokaler Gemeinschaften erfüllt wurden. Jetzt aber, da Wirtschaft und Staat nicht mehr in der Lage sind, die wichtigsten Bedürfnisse der Bevölkerung zu erfüllen, müssen die Menschen sich notgedrungen wieder selbst umtun und neue lebensfähige Gemeinschaften bilden – als Puffer gegen die unpersönlichen Kräfte des Weltmarkts und gegen das Unvermögen des Regierungsapparates. In zweifacher Weise wird sich die schwindende Bedeutung von Markt und Staat in den kommenden Jahrzehnten auf das Leben der arbeitenden Menschen auswirken. Wer seinen Arbeitsplatz behält, wird wahrscheinlich weniger Stunden arbeiten müssen und mehr Freizeit haben. Die Marktkräfte werden ihn oder sie dazu drängen, sich mehr der Massenunterhaltung und dem Konsum zu widmen. Die wachsende Zahl der Arbeitslosen und Unterbeschäftigten wird dagegen unweigerlich und auf Dauer in die Unterschicht abrutschen. In ihrer Verzweiflung werden viele dieser Menschen ihre Rettung in der Schattenwirtschaft suchen. Manche werden Gelegenheitsarbeiten annehmen, um ihre Miete und das Nötigste bezahlen zu können, andere werden zu Kleinkriminellen werden. Drogenhandel und Prostitution werden weiter zunehmen, wenn Millionen arbeitsfähiger Menschen von einer Gesellschaft, die ihrer Arbeitskraft nicht mehr bedarf, auf die Seite geschoben werden und sich ihren Unterhalt auf anderen Wegen sichern müssen. Ihre Hilferufe werden ungehört verhallen. Der Staat wird seine wenigen Mittel nicht für die Wohlfahrt und für Arbeitsbeschaffungsprogramme, sondern für die Aufrüstung der Polizei und für neue Gefängnisse ausgeben. Dies ist der Weg, den viele Industriestaaten eingeschlagen haben. Aber es gibt noch einen anderen gangbaren Weg, der vielleicht die zunehmend verheerender werdenden Auswirkungen der Dritten Industriellen Revolution abmildern könnte. Wenn die noch arbeitende Bevölkerung mehr freie Zeit zur Verfügung hat als früher und die Arbeitslosen gezwungenermaßen dem Müßiggang frönen, dann könnte man diese brachliegende Arbeitskraft ja genauso in sinnvoller Weise für gemeinnützige Aufgaben einsetzen. Vielleicht könnte daraus ein Bereich entstehen, der unabhängig von Markt und Staat funktioniert. In den USA existieren die Grundlagen für einen dritten gesellschaftlichen Bereich schon seit langem. Neben dem privaten und dem öffentlichen Sektor, auf die sich in der Moderne stets die ganze Aufmerksamkeit gerichtet hat, gibt es hier einen Bereich, der als Geburtshelfer der Nation von besonderer

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historischer Bedeutung war und der heute zur Grundlage eines neuen Gesellschaftsvertrages für das 21. Jahrhundert werden könnte. In diesem „Dritten Sektor“, der auch als unabhängiger oder freiwilliger Sektor bezeichnet wird, herrschen nicht treuhänderische Strukturen, sondern gemeinschaftliche Bindungen vor. Man widmet seinen Mitmenschen Zeit, statt künstliche Marktbeziehungen mit ihnen einzugehen und sich und seine Dienste zu verkaufen. […] Gemeinnützige Tätigkeiten sind eine grundsätzliche Alternative zu traditionellen Arbeitsverhältnissen. Anders als Sklavenarbeit, Leibeigenschaft oder Lohnarbeit sind sie weder erzwungen, noch auf eine treuhänderische Beziehung reduziert. Eine gemeinnützige Tätigkeit ist eine Hilfeleistung, eine ausgestreckte Hand. Sie ist ein willentlicher Akt, für den man meist keine Belohnung erwartet. In diesem Sinne gleicht sie dem archaischen Gabentausch. Gemeinnützige Leistungen resultieren aus dem Wissen, daß im Leben alles mit allem zusammenhängt, und sie sind durch das sehr persönliche Gefühl einer Verpflichtung motiviert. In erster Linie geht es um einen sozialen Austausch, auch wenn er oft ökonomische Konsequenzen für den Wohltäter wie für den Nutznießer hat. In dieser Hinsicht unterscheidet sich eine gemeinnützige Tätigkeit grundlegend von einer privatwirtschaftlichen, bei der es stets um einen materiellen und finanziellen Austausch geht und bei der die sozialen Folgen weniger wichtig sind als die Gewinne und Verluste. […] Die Organisationen des Dritten Sektors erfüllen eine ganze Reihe von Funktionen. Sie sind Brutkästen für neue Ideen und bieten Foren, auf denen soziale Mißstände angeprangert werden können. Sie haben zur Integration der Einwandererströme beigetragen. Sie reichen den Armen und Hilflosen eine helfende Hand. Museen, Büchereien und historische Gesellschaften bewahren Traditionen und ermöglichen neue geistige Erfahrungen. Viele Menschen lernen im Dritten Sektor die Spielregeln der Demokratie kennen und handhaben. Hier sucht man Gesellschaft und findet Freunde. Hier gibt es Raum und Zeit für spirituelle Erfahrungen. Religiöse und therapeutische Organisationen bieten Millionen Menschen die Gelegenheit, die weltlichen Belange des Alltagslebens hinter sich zu lassen. Und schließlich ist der Dritte Sektor ein Platz, wo die Menschen sich entspannen und spielen können. Viele dieser Elemente des Dritten Sektors könnten zu Bausteinen eines Weltbildes werden, das sich vom Nützlichkeitsdenken des Marktsektors grundlegend unterscheidet. Noch hat allerdings der Geist der Gemeinnützigkeit keine feste Form angenommen, noch ist er nicht als Programm für ein ganzes Land geeignet. Dies hat auch und vor allem damit zu tun, daß die Werte der Marktwirtschaft uns noch immer fest im Griff haben.

Das postmarktwirtschaftliche Zeitalter

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Das marktwirtschaftliche Weltbild hat viel mit der Vorstellung von einem materialistischen Schlaraffenland gemein. Im Zentrum stehen die Prinzipien von Produktivität und Effizienz; auf sie gestützt, macht der Mensch sein Glück. Solange wir uns mit diesem Bild identifizieren können, werden die Werte der stetig wachsenden Produktion und des unbegrenzten Konsums weiterhin unser persönliches Verhalten bestimmen. Das materialistische Weltbild hat zu einem Raubbau geführt, der die Biosphäre unseres Planeten durch die Erschöpfung der Rohstoffe einerseits, durch die Verschmutzung der Umwelt andererseits gefährdet. […] Die USA, die ein Fünftel der Weltbevölkerung umfassen, verbrauchen alleine mehr als 30% aller auf der Erde produzierten Energie und aller geförderten Rohstoffe. Die rasche Umwandlung der natürlichen Rohstoffe in ein Füllhorn von Gütern und Dienstleistungen hat zu einer Erwärmung der Erde, zu einer Abnahme der Ozonschicht, zur Rodung riesiger Wälder, zur Ausbreitung der Wüsten, zur Ausrottung ganzer Arten und zur Destabilisierung der Biosphäre geführt. Die übermäßige Ausbeutung der mineralischen und biologischen Reichtümer der Erde hat außerdem die Entwicklungsländer ihrer Ressourcen beraubt und ihnen die Mittel zur Ernährung ihrer wachsenden Bevölkerung genommen. Das Weltbild des Dritten Sektors bietet uns ein bitter notwendiges Gegenmittel gegen den Materialismus des industriellen Denkens, von welchem das 20. Jahrhundert beherrscht war. Im privaten Sektor arbeitet man der Aussicht auf materiellen Gewinn wegen, und je mehr man konsumiert, desto sicherer fühlt man sich. Im Dritten Sektor arbeitet man, um anderen zu helfen, und Sicherheit gewinnt man durch persönliche Beziehungen und durch das Gefühl der Verbundenheit mit der ganzen Welt. Allein die Vorstellung, daß wir unsere Solidarität über die Grenzen von Markt und Nationalstaat hinaus auf die ganze Menschheit und unseren Planeten ausdehnen, deutet auf revolutionäre Veränderungen unserer Gesellschaftsstrukturen hin. Die Visionäre von heute betrachten die Welt als ein unteilbares Ganzes, als eine lebende Einheit von unzähligen Lebensformen. Sich nicht nur für den eigenen materiellen Vorteil einzusetzen, sondern für die Gesamtheit irdischen Lebens, das ist es, was aus dem Weltbild des Dritten Sektors eine ernsthafte Konkurrenz für das konsumorientierte Paradigma der noch immer dominierenden Marktwirtschaft macht. Die Vorstellung, wir könnten die unzähligen Beziehungen, die uns mit den Menschen unserer Umgebung, mit der Menschheit als ganzer und schließlich mit allen Geschöpfen der Erde verbinden, neu gestalten, mag unwahrscheinlich klingen. Aber wir müssen uns nur vor Augen halten, daß auch die technischen Utopien von einer Welt, in der Maschinen alle Arbeit übernehmen, in der eine Flut von materiellen Gütern sich über die Menschen ergießt und in der die

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Jeremy Rifkin

Freizeit immer länger wird, noch vor hundert Jahren völlig unwahrscheinlich und unerreichbar schienen. Wir dürfen mit gutem Grund hoffen, daß sich schließlich ein neues Weltbild, ein verändertes Bewußtsein und eine stärkere Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft durchsetzen werden. Wenn Millionen Menschen immer weniger Zeit auf die Erwerbstätigkeit verwenden, wird diese auch für ihr Leben – und für ihr Selbstwertgefühl – an Bedeutung verlieren. Alle Werte und Zukunftsvorstellungen, die mit der Marktwirtschaft verbunden sind, werden an Einfluß verlieren. Wenn statt dessen ein anderes Weltbild an Verbreitung gewinnen würde, das vom Ethos der persönlichen Veränderung, der Wiederherstellung der Gemeinschaft und der Rücksichtnahme auf die Umwelt erfüllt wäre, dann könnten damit die geistigen Grundlagen des postmarktwirtschaftlichen Zeitalters gelegt werden. In Zukunft werden die Menschen immer weniger Zeit am Arbeitsplatz verbringen und über immer mehr freie Zeit verfügen. Ob diese „Frei-Zeit“ eine durch unfreiwillige Teilzeitarbeit, Entlassung oder Arbeitslosigkeit erzwungene sein wird, oder ob sie aus der Verteilung der Produktivitätszuwächse resultiert und mit kürzerer Wochenarbeitszeit und höherem Einkommen einhergehen wird, dies ist eine noch ungelöste, politische Frage. Wenn die weitgehende Ersetzung von menschlichen Arbeitskräften durch Maschinen tatsächlich zu einer Massenarbeitslosigkeit bisher ungekannten Ausmaßes führen sollte, dann wird sich keine mitfühlende und fürsorgliche Gesellschaft entwickeln können, dann wird sich der menschliche Geist nicht verändern. Vielmehr hätten wir es dann mit um sich greifenden sozialen Unruhen, mit massiver Gewalt und offenem Krieg zu tun. Die Armen würden aufeinander und auf die reichen Eliten losgehen, die die Weltwirtschaft bestimmen. Wenn wir aber den anderen, den aufgeklärteren Weg nehmen und die Arbeitnehmer in Form von kürzeren Arbeitszeiten bei fairer Entlohnung an den Produktivitätszuwächsen beteiligen, dann werden wir über soviel freie Zeit wie nie zuvor verfügen, und wir können sie darauf verwenden, die Bande der Gemeinschaft und unser demokratisches Erbe zu erneuern. Die Generationen nach uns könnten die engen Grenzen des Nationalismus überwinden und sich als Angehörige einer Spezies begreifen, deren Mitglieder sich gegenseitig genauso verpflichtet wären wie allen anderen Lebewesen.

Die glücklichen Arbeitslosen (2000) Ulrich Beck Arbeitslose – so lautet die gesellschaftliche Stereotype – haben todunglücklich und vor allem ohne jede Form von Arbeit zu sein. Daß viele von ihnen aber zugleich überbeschäftigt und glücklich sind, weil sie Zeit haben, das zu tun, was sie immer schon tun wollten, ist der herrschenden Meinung ein Skandalon. „Sozialbetrüger!“ lautet die Anklage gegen diejenigen, die das Fröhlichkeitsmonopol des Dienstboten-Proletariats brechen und Arbeitslosigkeitsperioden als persönliche „Auszeit“ genießen. In Berlin hat sich die Initiative der „Glücklichen Arbeitslosen“ zu Wort gemeldet. In ihrem Manifest schreibt sie: „Noch vor 20 Jahren konnten die Arbeiter die Arbeit an sich in Frage stellen. Heute müssen sie, nur weil sie nicht arbeitslos sind, Zufriedenheit heucheln, und die Arbeitslosen müssen, nur weil sie keine Arbeit haben, Unzufriedenheit heucheln. Die Kritik der Arbeit hat sich in Wohlgefallen aufgelöst. Der Glückliche Arbeitslose ist über diese infantile Erpressung erhaben.“* „Arbeit macht froh“ ist die Pflichtideologie der späten Arbeitsgesellschaft, in der attraktive Erwerbsarbeit, die Reichtum, Sicherheit, Anerkennung und Persönlichkeitsentfaltung in einem ermöglicht, zur Mangelware geworden ist. Je mehr die Arbeit die Attribute ihrer heilsgeschichtlichen Attraktivität einbüßt, desto nachdrücklicher pochen die Herren der Arbeitsgesellschaft darauf, daß nur Erwerbsarbeit nicht nur frei, sondern auch froh macht. Eine Vollbeschäftigungsgesellschaft, in der zeitlich, räumlich und vertraglich flexible Nicht-Normarbeit zur Norm wird, setzt neue Standards für Zumutbarkeit, um die Menschen zu dem zu zwingen, was sie immer weniger haben: Arbeit. Mit dieser öffentlich verordneten Heuchelei brechen die „Glücklichen Arbeitslosen“. Sie haben Hannah Arendt auf ihrer Seite, die schon vor 30 Jahren in ihrem Buch Vita Activa von der „Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft“ sprach, „der die Arbeit ausgegangen ist, also die Tätigkeit, auf die sie sich noch versteht“, und sie fügt hinzu: „Was könnte verhängnisvoller sein?“ Die bittere Ironie dieser Tage ist heute, da dieser Zustand Wirklichkeit geworden ist, kaum noch wahrzunehmen. Die „Glücklichen Arbeitslosen“ wecken die Erinnerung an die Kritik der „entfremdeten Arbeit“, die im Zwangsjubel „Arbeit macht froh“ vergessen werden * Das Manifest der Glücklichen Arbeitslosen, in: die tageszeitung vom 30. 3. 1998, S. 12.

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soll. In seinen Frühschriften, den Pariser Manuskripten, entwickelt der Apologet der Arbeit, Karl Marx, seine eigene Theorie vom Ende der Arbeitsgesellschaft: „Die Produktion der menschlichen Tätigkeit als Arbeit, also als eine sich dem Menschen und der Natur, daher dem Bewußtsein und der Lebensäußerung ganz fremden Tätigkeit, die abstrakte Existenz des Menschen als eines bloßen Arbeitsmenschen, der da alltäglich aus seinem erfüllten Nichts in das absolute Nichts  … hinabstürzen kann  … – dieser Gegensatz auf die Spitze getrieben ist notwendig die Höhe und der Untergang des ganzen Verhältnisses.“ An anderer Stelle heißt es entsprechend: „Der Arbeiter fühlt sich daher erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich.“ Und gegen die Ideologie der späten Arbeitsgesellschaft, die Arbeit mit Glück, Arbeitslosigkeit mit Unglück gleichsetzt, verweisen die „Glücklichen Arbeitslosen“ darauf, daß die wesentlichen Fragen der Gesellschaft von falschen Antworten verstellt sind, also gegen die Schwerkraft des scheinbar Bekannten neu aufgeworfen werden müssen: Was verbirgt sich eigentlich hinter dem Etikett „(Voll)Beschäftigung“ und „Arbeitslosigkeit“ in einer fiktiv gewordenen Vollbeschäftigungsgesellschaft? „Wer kann von sich heute noch behaupten, er mache sich mit seiner Arbeit nützlich? Der ‚Dienstleistungs‘Sektor beschäftigt nur Dienstboten und Computer-Anhängsel, die keinen Grund haben, stolz zu sein. Selbst ein Arzt fungiert nur noch als Handelsvertreter der pharmazeutischen Konzerne. Entscheidend ist nicht mehr, wozu etwas nützt, sondern wieviel man damit verdienen kann. Gerade weil Geld das Ziel der Arbeit ist und nicht ihr gesellschaftlicher Nutzen, existiert Arbeitslosigkeit. … Immerhin verfügen alle Arbeitslosen über eine preiswerte Sache: Zeit. Das könnte ein historisches Glück sein, die Möglichkeit, ein vernünftiges, fried- und freudvolles Leben zu führen: Man kann unser Ziel als eine Zurückeroberung der Zeit kennzeichnen. Dabei ist der Glückliche Arbeitslose ein aktiver Mensch. Gerade deswegen hat er keine Zeit zu arbeiten.“ Eine nicht so abwegige Erkenntnis ist, daß nicht Arbeitslosigkeit, sondern Geldlosigkeit das eigentliche Problem ist. Da dies aber nicht offen ausgesprochen werden darf, sind alle dazu gezwungen, einen Heißhunger auf oft sinnlose Arbeit zu bekunden, um das eigentlich drohende Schicksal der Geldlosigkeit abzuwenden. In einer Arbeitsgesellschaft, in der bezahlte Arbeit, die auch Spaß macht, rar ist, werden Arbeitende dazu gezwungen, Arbeit zu simulieren. Sie werden zu fröhlichen „Arbeits-Mannequins“ (Treusch-Dieter), die ihre Zeit absitzen und Anwesenheit auf einer Stelle bekunden, so wie man früher Untertänigkeit bekundet hat. Umgekehrt sind viele Arbeitslose voll-, ja überbeschäftigt – zum Beispiel damit, sogenannte„ Resozialisierungskurse“ für

Die glücklichen Arbeitslosen

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gekündigte „Arbeitnehmer“ (Arbeitsmarkt-Jargon!) zu geben; eben dies unterscheidet sie von den Jubelarbeitern der neofeudalen Dienstbotengesellschaft. Die „Glücklichen Arbeitslosen“ besinnen sich statt dessen – in den Worten von Karl Marx gesagt – auf „menschliche Lebenstätigkeit“, „bewußte Tätigkeit“, und „freie Tätigkeit“. In ihrem Manifest heißt es: „Vor 300 Jahren guckten die Bauern neidisch das Schloß des Fürsten an. Mit Recht fühlten sie sich von seinem Reichtum, seinen Hof-Künstlern und Kurtisanen ausgeschlossen. Nun, wer möchte gern wie ein gestreßter Manager leben, wer will sich den Kopf mit seinen sinnlosen Ziffernreihen vollstopfen, seine blondgefärbten Sekretärinnen ficken, seinen gefälschten Bordeaux trinken und an seinem Herzinfarkt verrecken? Wir wünschen uns eine andere Art von Eingliederung. Wie Sie jetzt vielleicht verstanden haben, ist unsere Muße sehr anspruchsvoll, theoretisch und praktisch, ernst und spielerisch, lokal und international.“ In Leipzig hat ein Drittel der erwerbstätigen Sozialhilfeempfänger die Anträge zurückgezogen, weil ihnen eine Tätigkeit aufgezwungen werden sollte. Wie – und vor allem: wovon – leben diese Menschen? Keiner weiß es. Die herrschenden Arbeitslosigkeitsklischees verdecken, daß niemand weiß, was Arbeitslosigkeit heute jenseits der monatlichen Zahlen aus der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit(slosigkeit) im Einzelfall bedeutet. Wie frei und unfrei, froh und unfroh machen Arbeit und Arbeitslosigkeit in einer Vollbeschäftigungsgesellschaft, der die Normarbeit ausgeht? Die Provokation der „Glücklichen Arbeitslosen“ liegt darin, daß sie mit dem totalisierenden Paradigma der Erwerbsarbeit brechen, das alle Sphären menschlichen Lebens und Tuns, gerade auch die der Nicht-Arbeit – eben die Arbeitslosen! – dem Wertimperialismus der herrschenden Arbeitsmoral unterwirft, die zugleich ihre historische Grundlage verliert. An den „Arbeitslosen“, die mit der Unglücksverpflichtung der Arbeitslosigkeit brechen, wird sich die Toleranz der Vollbeschäftigungsgesellschaft ohne Vollbeschäftigung erweisen: Wie geht sie mit den „inneren Fremden“, den vielleicht gar nicht immer nur unglücklichen „Arbeitslosen“ sowie den wachsenden Zeiträumen und Lebenssphären der Nicht-Arbeit um?

Das Ende der Arbeit: Die letzte Gestalt der mondialisation? (2001) Jacques Derrida Lassen Sie uns so tun, als ob die Welt dort anfinge, wo die Arbeit endet; als ob das Verschwinden dessen, was wir Arbeit nennen, der Ursprung und zugleich der Horizont der mondialisation du monde, des Weltweit-Werdens der Welt wäre. „Arbeit“ („travail“, „work“, „labor“ etc.), jenes alte Wort, das so schmerzlich beladen ist mit Bedeutung und Geschichte und das immer die Bedeutung aktueller, effektiver und nicht virtueller Arbeit gehabt hat. Wenn wir „als ob“ sagen, so reden wir weder der Fiktion einer möglichen Zukunft noch der Wiederauferstehung einer historischen oder möglichen Vergangenheit oder gar eines sich offenbarenden Ursprungs das Wort. Die Rhetorik dieses „als ob“ gehört weder der Science-fiction einer zukünftigen Utopie an (eine Welt ohne Arbeit, in fine sine fine, „am Ende ohne Ende“, also jener von allem Zweck und Ende befreiten Welt einer ewigen Sabbatruhe, eines Sabbat ohne Abend wie im Gottesstaat des Augustinus) noch der Poetik der Sehnsucht nach einem Goldenen Zeitalter oder einem irdischen Paradies, nach jenem Moment in der Genesis, da vor dem Sündenfall der Schweiß der Arbeit noch nicht zu strömen begonnen hatte, weder beim Sichmühen und Ackern des Mannes noch beim Gebären der Frau. Science-fiction oder Eingedenken des Unvordenklichen – in beiden Deutungen des „als ob“ wäre es so, als ob tatsächlich die Anfänge der Welt die Arbeit ursprünglich ausschlössen, als ob es noch keine Arbeit gäbe oder schon keine mehr. Mit dem Sündenfall wäre die Arbeit in die Welt gekommen, und das Ende der Arbeit würde die Endphase einer Entsühnung ankündigen. Man müßte also wählen zwischen der Welt und der Arbeit, während der gesunde Menschenverstand sich schwerlich eine Welt ohne Arbeit vorstellen kann, oder eine Arbeit, die nicht von dieser Welt wäre oder nicht in dieser Welt. Die christliche Welt, die paulinische Konversion des griechischen Begriffs „kosmos“, führt in diesen, neben einer Reihe eng damit verbundener Bedeutungen, das Verdammtsein zur Arbeit als Buße ein. Der Begriff der Arbeit ist überladen mit Bedeutung, Geschichte und Zweideutigkeiten. Es fällt schwer, ihn jenseits von Gut und Böse zu denken. Denn wie sehr er auch mit der Würde, dem Leben, der Produktion, der Geschichte, dem Guten, der Freiheit assoziiert sein mag, verbinden wir mit diesem Begriff

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nicht weniger häufig das Böse, das Leiden, die Mühe, die Sünde, die Strafe, die Unterjochung. Nein. Dieses „als ob“ trägt vielmehr, in der Gegenwart, zwei Gemeinplätzen Rechnung und stellt sie auf die Probe: Zum einen ist heute häufig vom Ende der Arbeit, zum anderen ebenso häufig von einer „Globalisierung“, einer mondialisation du monde, einem Weltweit-Werden der Welt die Rede. Und stets werden beide miteinander assoziiert. Den Ausdruck „Ende der Arbeit“ entnehme ich dem wohlbekannten Buch von Jeremy Rifkin The End of Work: The Decline of the Global Labor Force and the Dawn of the PostMarket Era.* Dieses Buch bündelt eine Art weitverbreiteter doxa hinsichtlich der Wirkungen dessen, was Rifkin die „Dritte Industrielle Revolution“ nennt. Eine Revolution, die gewaltiges Potential berge, das „einen guten oder einen schlechten Ausgang, nehmen“ könne: „Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien verfügen über das Potential zur Befreiung wie zur Destabilisierung der Zivilisation.“ Ich weiß nicht, ob es zutrifft, daß wir, wie Rifkin behauptet, in eine „neue Phase der Weltgeschichte“ eintreten: „Immer weniger Arbeiter werden zur Produktion der Güter und Dienstleistungen für die Bevölkerung unseres Erdballs erforderlich sein.“ „Das Ende der Arbeit“, fügt er hinzu, „beschäftigt sich mit den technologischen Innovationen und den marktorientierten Kräften, durch die wir uns auf die Schwelle einer beinahe arbeiterlosen Welt zubewegen.“ Um festzustellen, ob diese Vorschläge buchstäblich „wahr“ sind, müßte man sich über die Bedeutung jedes dieser Wörter verständigen: Ende, Geschichte, Welt, Arbeit, Produktion, Güter, etc. Ich habe hier weder die Zeit noch die Absicht, mich mit dieser ernsten und ungeheuren Problematik und insbesondere mit den von Rifkin aufgebotenen Begriffen der Welt und der Arbeit auseinanderzusetzen. Man muß zumindest anerkennen, daß tatsächlich etwas Schwerwiegendes auf das zukommt, mit dem geschieht oder zu geschehen im Begriff ist, was wir „Arbeit“, „Tele-Arbeit“, „virtuelle Arbeit“ nennen. Und mit dem, was wir „Welt“ nennen – also auch mit dem In-der-Welt-Sein dessen, was sich noch Mensch nennt. Dies hängt in erster Linie mit einer technowissenschaftlichen Mutation zusammen, die in der Cyberwelt, der Welt des Internets, der E-Mail und des Mobiltelefons die Telearbeit, die Arbeitszeit und die Virtualisierung der Arbeit beeinflußt, während zugleich die Weitergabe des Wissens, jede Vergemeinschaftung, jede Gemeinschaft die Erfahrung des * Derrida zitiert nach der französischen Übersetzung (La fin du travail, Paris, La Decouverte 1997), die sich stark von der deutschen Ausgabe unterscheidet; bei den folgenden Zitationen wurde daher der französische Text zugrunde gelegt (Anm. d. Übersetzers).

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Ortes, des Stattfindens, des Ereignisses und des Werkes, mit einem Wort: die Erfahrung dessen, was geschieht, eintritt oder ankommt, beeinflußt. Diese Problematik des sogenannten „Endes der Arbeit“ fand sich bereits in einigen Texten von Marx oder Lenin. Letzterer hatte einen Zusammenhang zwischen der fortschreitenden Verkürzung des Arbeitstages und dem Prozeß hergestellt, der zu einem vollkommenen Verschwinden des Staates führen würde. Für Rifkin beinhaltet die Dritte Industrielle Revolution einen solchen absoluten Umbruch. Die ersten beiden Revolutionen, jene des Dampfs, der Kohle, des Stahls und der Textilindustrie im 19. Jahrhundert, die der Elektrizität, des Erdöls und des Automobils im 20. Jahrhundert, hatten zu keinem radikalen Bruch in der Geschichte der Arbeit geführt, denn beide ließen einen Freiraum übrig, einen Sektor, in den die Maschine noch nicht eingedrungen war und in dem noch menschliche, nichtmaschinelle, durch keine Maschine zu ersetzende Arbeit zur Verfügung stand. Nach diesen beiden technischen Revolutionen käme die dritte, die unsere, die Revolution des Cyberspace, der Mikroinformatik und der Robotertechnik. Hier scheint es keine vierte Zone mehr zu geben, um den Arbeitslosen noch Arbeit zu verschaffen. Eine Sättigung durch Maschinen würde also das Ende des Arbeiters ankündigen bzw. eine Art Ende der Arbeit. Rifkins Buch läßt im übrigen dem, was er den „neuentstehenden Wissenssektor“ nennt, in dieser Umwälzung eine Nische. Wo immer in der Vergangenheit in diesem oder jenem Sektor Arbeiter durch neue Technologien ersetzt wurden, taten sich neue Bereiche auf, um die Arbeiter aufzunehmen, die ihre Arbeit verloren hatten. Heute dagegen bliebe, während Landwirtschaft, Industrie und Dienstleistungsgewerbe im Zuge des technologischen Fortschritts Millionen in die Arbeitslosigkeit entlassen, nur eine einzige Kategorie von Arbeitern verschont, die des „Wissens“: „eine Elite von Unternehmen, Wissenschaftlern, Ingenieuren, Programmierern, professionellen Ausbildern“ etc. Doch bleibt dies ein enger Raum, der nicht die Masse der Arbeitslosen aufnehmen kann. Genau darin liegt für Rifkin die einzigartige Gefahr begründet, die unsere Epoche bedroht. Den Einwänden, die man gegen solche Diskurse in ihrer ganzen Allgemeinheit erheben könnte, soll hier weder im Hinblick auf das sogenannte „Ende der Arbeit“ noch im Hinblick auf die sogenannte „mondialisation“ oder die „Globalisierung“ nachgegangen werden. In beiden Fällen, die im übrigen eng miteinander verknüpft sind, würde ich, hätte ich mich geradewegs mit ihnen zu beschäftigen, zunächst zu unterscheiden versuchen zwischen den massiven und kaum zu bestreitenden Phänomenen, die diese Wörter registrieren, und dem Gebrauch, den man von diesen begrifflosen Wörtern macht. Tatsächlich wird ja niemand bestreiten, daß in diesem Jahrhundert mit der Arbeit, mit der

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Realität und dem Begriff der Arbeit etwas geschieht. Was da mit ihr geschieht, ist durchaus ein Effekt der Technowissenschaft und zugleich der Virtualisierung, Delokalisierung und des Weltweit-Werdens der Tele-Arbeit – wobei Jacques Le Goff gezeigt hat, daß diese Widersprüche hinsichtlich der Arbeitszeit schon sehr früh im christlichen Mittelalter begonnen haben. Was nun geschieht, verschärft auch in der Tat eine bestimmte Tendenz zur asymptotischen Verkürzung der Arbeitszeit, das heißt der Arbeit als der in Realzeit ablaufenden und am selben Ort wie der Körper des Arbeiters lokalisierbaren Arbeit. All das affiziert – im Zuge einer neuen Erfahrung der Grenzen, der virtuellen Kommunikation, der Geschwindigkeit und der Verbreitung von Information – die Arbeit in ihren auf uns gekommenen klassischen Formen. Diese Evolution läuft auf ein bestimmtes Weltweit-Werden hinaus, sie ist nicht zu leugnen und hinreichend bekannt. Aber diese phänomenalen Anzeichen bleiben partiell und heterogen, sie entwickeln sich unterschiedlich; sie verlangen nach einer eingehenden Analyse und zweifellos nach neuen Begriffen. Auf der anderen Seite gähnt zwischen diesen ganz offenkundigen Anzeichen und dem doxischen Gebrauch, andere würden sagen: der ideologischen Inflation dieser Wörter, dem rhetorischen Eifer, mit dem man sich ihnen bereitwillig und häufig blindlings überläßt, eine Kluft. Ich möchte diese Kluft nicht leichtfertig überbrücken, und ich glaube, daß man alle, die sie vergessen, unnachgiebig kritisieren muß. Denn was sie derart dem Vergessen preisgeben, sind jene Weltgebiete, jene Bevölkerungen, jene Nationen, jene Gruppen, jene Klassen, jene Individuen, die in massiver Weise die von ihr ausgeschlossenen Opfer jener Entwicklung sind, die da „Ende der Arbeit“ und „mondialisation“ oder „Globalisierung“ heißt. Diese Opfer leiden entweder darunter, daß es ihnen an einer Arbeit fehlt, die sie bräuchten, oder darunter, daß sie zuviel arbeiten für den Lohn, den sie auf einem Weltmarkt, auf dem eine zutiefst gewalttätige Ungleichheit herrscht, im Austausch für ihre Arbeit erhalten. Diese kapitalistische Situation (die auf die wesentliche Rolle verweist, die das Kapital zwischen dem Aktuellen und dem Virtuellen spielt) ist in absoluten Zahlen tragischer, als sie es in der Geschichte der Menschheit jemals war. Die Menschheit war vielleicht nie weiter entfernt von der eine mondialisation zeitigenden Homogenität der „Arbeit“ und des „ohne Arbeit“, die so häufig beschworen wird. Ein großer Teil der Menschheit ist „ohne Arbeit“, wo er gern mehr Arbeit hätte, ein anderer hat zuviel Arbeit, wo er gern weniger Arbeit hätte, ja sich wünschen würde, daß es ein Ende hätte mit einer Arbeit, die auf dem Markt so schlecht bezahlt wird. Jedes Lob der Menschenrechte, die diese Form der ökonomischen Ungleichheit nicht in Rechnung stellt, verkommt schnell zum formalen Geschwafel, wenn nicht zur Obszönität – man müßte an dieser Stelle daher ausführlicher

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über die WTO, den IWF oder die Auslandsschulden der Länder der Dritten Welt sprechen. Diese Geschichte hat vor langer Zeit begonnen. Und sie ist mit der realen und semantischen Geschichte des „Metiers“ und der „Profession“ oder dem „Beruf“ verflochten. Rifkin ist sich der Tragödie bewußt, die jenes „Ende der Arbeit“, das nicht den sabbatianischen oder sonntäglichen Sinn hätte, den es im Augustinischen Gottesstaat meint, auch auslösen könnte. Aber in seinen moralischen und politischen Schlußfolgerungen, in denen er die Verantwortungen zu definieren sucht, denen man sich angesichts der „am Horizont aufziehenden technologischen Gewitterwolken“ und eines „neuen Zeitalters der Globalisierung und Automatisierung“ zu stellen hat, findet er mit einem Mal – und ich glaube, daß dies weder ein Zufall ist noch daß man es ungeprüft akzeptieren kann – zur christlichen Sprache der „Brüderlichkeit“ zurück, spricht er von „Tugenden, die sich schwerlich automatisieren oder durch Maschinen ersetzen werden lassen“, von einem „neuen Sinn und Zweck des Lebens“, dem „Wiederaufleben humanen Geistes“ etc. Er faßt sogar neue Formen der Fürsorge ins Auge, etwa die „Zahlung von Schattenlöhnen für freiwillige Leistungen, die Einführung einer Mehrwertsteuer auf Produkte und Dienstleistungen des High-Tech-Zeitalters, die ausschließlich zur Sicherung eines Soziallohns für Arme im Austausch gegen gemeinnützige Arbeiten genutzt werden soll“ etc. Er nimmt also auf eine etwas predigerhafte Weise Argumente jenes Diskurses wieder auf, über den ich bereits gesagt habe, daß er eine komplexe genealogische Analyse ohne jede Selbstgefälligkeit erfordert. Ich würde hier gerne noch länger, inspiriert durch die Arbeiten von Jacques Le Goff, über die Zeit der Arbeit sprechen. In dem Kapitel „Temps et travail“ seines Buchs Un autre Moyen Âge zeigt er, daß schon im 14. Jahrhundert beides, der Ruf nach Verlängerung und der nach Verkürzung der Arbeitsdauer, nebeneinander bestanden. Wir haben es hier mit den Prämissen jenes Arbeitsrechts und jenes Rechts auf Arbeit zu tun, die später unter die Menschenrechte aufgenommen werden sollten. Die Gestalt des Humanisten ist auch eine Antwort auf die Frage der Arbeit. Innerhalb der damals vorherrschenden und in mancher Hinsicht gewiß noch heute lebendigen Theologie der Arbeit ist der Humanist einer, der die Zeit der Arbeit und den mönchischen Zeitgebrauch zu säkularisieren beginnt. Zeit, nicht länger nur eine Gottesgabe, kann berechnet und verkauft werden. In der Ikonographie des 14. Jahrhunderts ist manchmal die Uhr das Attribut des Humanisten – dieselbe Uhr, die unnachgiebig über den Laienarbeiter wacht, der ich hier bin und als der ich sie im Auge behalten muß. Le Goff zeigt, daß die Einheit einer von der Welt des Gebets und der des Krieges abgesetzten Welt der Arbeit, wenn es sie denn je gab, „rasch zerfiel“. Nach der „Geringschätzung der Handwerke … richtet sich eine neue Grenze

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der Geringschätzung auf, die sich mitten durch die neuen Klassen, mitten durch die Professionen selbst zieht.“ Obgleich er zwischen „Metier“ und „Profession“ nicht unterscheidet (und ich denke, das müßte man tun), beschreibt Le Goff auch den Prozeß, der im 12. Jahrhundert eine „Theologie der Arbeit“ ins Leben ruft und zu einer Transformation des dreigliedrigen Schemas (oratores, bellatores, latboratores) in „komplexere Schemata“ führt, einen Prozeß, der sich aus der fortschreitenden Ausdifferenzierung der ökonomischen Strukturen und aus einer stärkeren Arbeitsteilung erklärt.

Ein Gedankenexperiment (2005) Wolfgang Engler 1. Gesetzt, der Mensch hätte sich restlos von unmittelbarer Arbeit emanzipiert, Produktion und Wertschöpfung gingen ohne ihn vonstatten; was dann? Dann hätte sich der Traum des Einzelunternehmers – geringstmögliche Lohnkosten, größtmöglicher Absatz – als Albtraum der Unternehmerklasse verwirklicht. Die in Lohn ausgelegte Kapitalsumme betrüge Null, die durch Erwerbsarbeit erworbenen Ansprüche auf Anteile an der erzeugten Warenmasse beliefen sich ebenfalls auf Null. Die naheliegende Ausflucht, Produktion und Absatz seien räumlich und zeitlich entflochten, produziert würde hier und jetzt, verkauft an anderem Ort und später, verfängt nicht, denn was für einen Standort gilt, das gilt, in dem Gedankenspiel, für alle. Um eilfertigen Einwänden für einen Wimpernschlag den Boden zu entziehen, sei, noch weiter übertreibend, angenommen, es existiere ein soziales Paralleluniversum, das seine überschüssigen Kapazitäten in unser System einspeist, die Erdenbürger mit allem Notwendigen und Annehmlichen versorgt. Dann lösten sich sämtliche Dissonanzen auf. Der materielle Lebensgrund läge außerhalb des gesellschaftlichen Lebensprozesses, ökonomische Kategorien ragten nicht länger in die soziale Erfahrung hinein; alle hätten von allem genug, auch ohne eigene Mühe, und niemand konstruierte anderen einen Vorwurf aus der unverdienten materiellen Wohlfahrt. Allfällig fortbestehenden Fragen, die Paradiestauglichkeit des Menschen betreffend, dürfen wir uns getrost entziehen. Big Spender lebt allein in Träumen vom Schlaraffenland. Die Realitäten wieder aufzurufen, genügt es vollauf, das Faszinosum der unmanned factory gedanklich auszureizen. Vorausgesetzt also, der produktive Apparat käme ohne Handlanger aus, selbst ohne nennenswertes Überwachungspersonal. Dann müßte er noch immer mit Rohstoffen beliefert, mit Energie versorgt, gewartet, in Teilen oder ganzen Modulen periodisch erneuert werden. Das Endprodukt müßte die Verbraucher erreichen, die ihrerseits nicht nur essen und sich kleiden, sondern auch wohnen und sich fortbewegen wollen; all das schließt Arbeit ein. Mag vielen der Tag gleichwohl lang und daher die Praxis zur Gewohnheit werden, sich wechselseitig Dienste zu erweisen, Genüsse zu verschaffen, die sie vordem kauften; der Inanspruchnahme von kommerziellen Dienstleistungen und Spezialisten durchgehend zu entraten scheint ausgeschlossen. Bleibt

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folglich ein weiter einzuschränkender, aber niemals aufzuhebender Aufwand an elementaren Überlebenstätigkeiten, kollektiven Kraftanstrengungen, an Arbeit. Gegen den heutigen nähme er sich geringfügig aus, und eine künftige Menschheit, die darin fortführe, die individuelle Arbeitszeit als ehernes Maß des persönlichen Zugriffs auf den gemeinschaftlich erzeugten Reichtum festzusetzen, beginge die ärgste Donquichotterie seit Anbeginn der Welt. Statt den produktiven Apparat von den Fesseln des Tauschwerts zu befreien, schnürte sie ihn ängstlich ein. 2. „Es ist nicht mehr der Arbeiter, der modifizierten Naturgegenstand als Mittelglied zwischen das Objekt und sich einschiebt; sondern den Naturprozeß, den er in einen industriellen umwandelt, schiebt er als Mittel zwischen sich und die unorganische Natur, deren er sich bemeistert … In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper – in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint … Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören die Arbeitszeit das Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchswerts. Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der Wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes. Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen, und der unmittelbare materielle Produktionsprozeß erhält selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift. Die freie Entwicklung der Individualitäten, und daher nicht das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit um Surplusarbeit zu setzen, sondern überhaupt die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordne Zeit und geschaffnen Mittel entspricht.“* 3. Die kühne Hypothese, als Kontrastmittel zur Aufhellung unseres eigenen geschichtlichen Standorts eingesetzt, erzwingt die Diagnose: Wir leben in einer Zeit des Übergangs, der kulturellen Doppelherrschaft, in einer kritischen Epoche. Die Maßgaben der Lohnarbeitsgesellschaft behaupten ihre Vorherrschaft über das Denken, Handeln und Dasein der Menschen, obwohl der Produktionsprozeß sie unaufhörlich unterhöhlt, anachronistisch werden läßt; sie behaupten sie desto verzweifelter und hartnäckiger, je deutlicher dieser * Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin: Dietz 1974, S. 592f.

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Anachronismus zu Tage tritt und nach einem neuen kategorialen System verlangt. Die unmittelbare Arbeitszeit, die die einzelnen auf die Schaffung des gegenständlichen Reichtums verwenden, steht in immer groteskerem Mißverhältnis zu dessen tatsächlichem Umfang, sagt wenig über das, was das Individuum gemeinschaftlich mit anderen, auf einen hocheffizienten Apparat gestützt, während eines Tages, einer Woche, eines Monats etc. real zu leisten vermag. Dessen ungeachtet bemißt sich seine Teilhabe am Reichtum nach seiner zeitlichen Präsenz, seinem leibhaftigen Eingeschlossensein in der kollektivierten und technisierten Megamaschine. Wer Anwesenheit nicht nachweisen kann, verliert den Anspruch bis auf ein nach unten offenes Minimum, selbst dann, wenn seine Anwesenheit entbehrlich war. Das Mißverhältnis zwischen zeitlichem Aufwand pro Person und technischkooperativem Gesamtertrag bestünde fort, wenn die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit gleichmäßig auf alle Arbeitsfähigen verteilt würde. Da in diesem Fall alle Erwerbspersonen erwerbstätig wären, besäßen auch alle geldwerte Titel auf Teile des Gesamtprodukts. Nur eben inflationierte, weil ein gegebenes, tendenziell sinkendes Arbeitsvolumen nunmehr die insgesamt verfügbare workforce engagierte. Dieselbe nominelle Lohnsumme würde an eine größere Kopfzahl ausgereicht, der Gewinn der einen, bisher Abseitsstehenden, wäre der Verlust der anderen, schon „Etablierten“, die zugleich mit sinkenden nominellen Bezügen Reallohnverluste zu quittieren hätten. Das von sämtlichen Erwerbstätigen konsumtiv abschöpfbare Produkt bewegte sich innerhalb der früheren Formate. Die theoretisch denkbare Variante, derzufolge die zusätzlich in die Arbeitswelt Eintretenden dieselben Einkommen realisieren wie die „Alten“, darf unter den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen ebenso vernachlässigt werden wie die abstrakte Möglichkeit, daß alle in den Genuß wachsender Produktivität gelangen, sei es durch wieder ansteigende Löhne, durch fallende Preise oder durch eine Kombination aus beidem. Das heißt aber auch: Vollbeschäftigung, zu den herabgesetzten Konditionen, verleiht der für den Binnenmarkt bestimmten Produktion so wenig Flügel wie dem Wachstum. Vom herrschenden Verteilungsmechanismus atomisiert – „Ich und meine Arbeitszeit“ – können die zu einzelnen zurechtgestutzten vielen auch nicht annähernd konsumieren, was sie mit ihrer Arbeit produzieren. Und weil sie das nicht können, unterschreitet das effektive Produktionsvolumen das technisch-technologisch mögliche notorisch und eklatant wie nie zuvor in der Geschichte des Kapitalismus. 4. Die hier angestellten Betrachtungen bewegen sich schrittweise von der Utopie zur Wirklichkeit, auf einem Problemfeld, in dem es in letzter Konsequenz ums Essen geht. Wie löst sich für das Gesamtkapital der Widerspruch, der aus der Bewegung der vielen Einzelkapitale erwächst:

Ein Gedankenexperiment

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möglichst wenig Arbeitskräfte, möglichst viele Konsumenten? Wie verwertet der Kapitalismus den erzeugten Reichtum, wenn er die lebendige Arbeit rastlos minimiert, dieselbe Arbeit jedoch zugleich zum unverrückbaren Maß der Konsumtion erklärt? Relativ zu dem, was er seinen nationalen Bevölkerungen an materiellen Lebensmöglichkeiten einzuräumen bereit ist, produziert er scheinbar immer viel zu viel, gemessen an seinen technisch-technologischen Potenzen sowie an den von ihm selbst geweckten Bedürfnissen produziert er viel zu wenig, erweist er sich als kleinlich, geizig, zugeknöpft. In seiner Jugendperiode stand ihm diese Attitüde, indirekte Kosten, menschliche Opfer einmal ausgeklammert. „Produktion als Selbstzweck, nicht um des guten Lebens willen“, hieß die Parole, unter der das neue historische Prinzip die seinen um sich scharte und in den Kampf gegen die erschlaffte, parasitäre Welt des späten Absolutismus führte. Nachdem sein fanatischer Produktionswille den Kapitalismus Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis unmittelbar vor den Abgrund geführt hatte, besann er sich durchdachterer Methoden. Nun sollte, wer zuverlässig arbeitete, auch leben wie ungefähr ein Mensch. Das zwanzigste Jahrhundert begrüßte das zunächst abgerungene Zugeständnis an die Konsumtion der breiten Massen wie eine lange herbeigesehnte Offenbarung, bestimmt für einige auserwählte Abteilungen des weltweiten Proletariats: Laßt euch vom Konsum verführen! Arbeitet hart, aufopferungsvoll, angetrieben, begeistert von den Früchten, die euch dadurch werden! Es verwässerte die frohe Botschaft, noch ehe es zu Ende ging. Mit zunehmendem Alter vom Konsum besessen, war das Kapital doch weise genug geworden, die alte Regel einzuschränken. Für alle reicht die gute Arbeit nicht!, so hieß es jetzt und: Mindere Arbeit will verrichtet sein wie jede andere auch; nur muß das Leben, das sie gründet, kürzer treten lernen, und wenn die Menschen sich zu schade dafür sind, dann wird ihr Leben eben wieder fraglich. 5. Daß aus dem Leben wieder eine Frage wurde, läßt sich an nichts deutlicher ablesen als an der jüngsten Karriere des Wortes „Kapitalismus“. Noch vor zwei, drei Dekaden konnte man den Eindruck gewinnen, es sei aus dem Sprachgebrauch der reichen Industriegesellschaften verschwunden. Die Eliten hüteten sich, den alten Kampfbegriff wieder zu Ehren zu bringen, und selbst im Mund ausgewiesener Systemkritiker zerfiel das Wort zu Asche. Eine Gesellschaft, die auf kapitalistischer Warenproduktion beruhte, war eben nicht dasselbe wie eine kapitalistische Gesellschaft, und genau diesen Unterschied galt es hervorzuheben. So sprach man, je nach Gusto, von postindustrieller Gesellschaft, Risikogesellschaft, Erlebnisgesellschaft, Multioptionsgesellschaft, erster oder zweiter Moderne oder, falls doch einmal vom Kapitalismus, dann unter Hinzufügung relativierender Attribute: entwickelter, fortgeschrittener, moderner Kapitalismus.

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Heute ist der „Kapitalismus“ wieder in Mode: so wie das, was er bezeichnet. Die Eliten bedienen sich des Wortes ohne weitere Erläuterung, frei von Scham und Vorsicht, und geben dadurch zu erkennen, wie sie die Übergangsepoche deuten, in der wir uns befinden: als Passage von einem Kapitalismus, der auf sozialen Krücken ging, zu einem Kapitalismus ohne Notbehelfe. Für die kritischen Gemüter wurde das K-Wort, begrifflich aufgefaßt, was es schon einmal, zu Marx’ Zeiten war, ein Werkzeug sachbezogener Analyse. Als sei nach einer langen Zeit der Ungewißheit endlich ein klares Wort gesprochen, spannte man die einstige Reizformel wieder ins theoretische Geschirr nüchterner Gegenwartsbeschreibung ein. Nur muß es dabei schon überaus genau zugehen, wie stets, wenn es um Worte geht. Wer sie besetzt, regiert den Diskurs, wer den beherrscht, bestimmt in der sozialen Welt. „Kapitalismus“, die Verwendung dieses Terminus macht Sinn nur unter ausdrücklichem Bekenntnis zu seiner direkten Konsequenz: der Behandlung und Vergütung des menschlichen Arbeitsvermögens als einer ganz gewöhnlichen Ware, deren (Tausch-)Wert mit ihren durchschnittlichen Wiederherstellungskosten zusammenfällt. „Kapitalismus“ bedeutet Verewigung der Armut als Grundbedingung zur Schaffung steil anwachsenden Reichtums. Arbeiter im Kapitalismus sein bedeutet ein Unglück, das wußte Ricardo, der es für unabänderlich hielt, so gut wie Marx, der auf den revolutionären Zündstoff dieses kollektiven Schicksals reflektierte. Leben wir, diesen Zusammenhang im Blick, wieder im Kapitalismus? Die Antwort, noch, heißt nein und erfolgt prompter als auf die nächste Frage: Bewegen wir uns in die Richtung eines gesellschaftlichen Lebensprozesses, der vom Kapitalinteresse neuerlich überwältigt wird? Man muß sich gegen die Realitäten schon ziemlich verhärten, um die zahlreichen Analogien übersehen zu können, die zwischen unserer historischen Konstellation und jener bestehen, die sich in der Frühzeit des industriellen Kapitalismus herausbildete: Führung des ökonomischen Sektors im Vergesellschaftungsprozeß bei zeitgleichem Zurückfallen politischer und rechtlicher Koordinationen; Politik der staatlichen Entstaatlichung; Entkollektivierung der Arbeitsverhältnisse; Erosion der bürgerlichen Form der Lohnarbeit; Abkopplung der Lohnentwicklung vom Produktivitätsfortschritt für die Mehrheit der Beschäftigten; erzwungene Gratisarbeit; neue Armut.

Vermessung der Utopie. Ein Gespräch über Mythen des Kapitalismus und die kommende Gesellschaft (2009) Raul Zelik/Elmar Altvater Raul Zelik Wir haben über Wachstum gesprochen. Es gibt einen zweiten großen gesellschaftlichen Fetisch: Arbeit. Gewerkschaften, Unternehmen, Parteien, die Medien – alle stoßen in das gleiche Horn: Es muss Arbeit geschaffen werden. Jede/r, die oder der ein bisschen darüber nachdenkt, müsste dagegen einwenden, dass Ökonomie eigentlich die Verringerung von notwendiger Arbeitszeit bedeutet. Das heißt: möglichst wenig Arbeitsaufwand bei möglichst großem Wohlbefinden. In dem Zusammenhang stellt sich dann das Problem, Einkommen und unangenehme Arbeit gerechter zu verteilen. Auch das scheint mir ein interessantes Paradoxon. Das Kapital beruht letztlich auf vergegenständlichter Arbeit, das heißt, aus der Perspektive des Kapitals betrachtet sollte möglichst viel gearbeitet werden, weil es sich genau dadurch vermehrt. Trotzdem sorgt das Kapital mithilfe von Rationalisierung und Automatisierung dafür, die gesellschaftlich notwendige Arbeit ständig zu verringern … Elmar Altvater … ja, auf dieses Paradoxon hat Marx hingewiesen … Raul Zelik  … und die Gewerkschaften, die als Vertretung von Arbeitern und Angestellten eigentlich dafür sorgen sollten, dass weniger gearbeitet wird, propagieren in teuren Werbekampagnen: Arbeit! Arbeit! Arbeit! Die Forderungen müssten jedoch – gerade in Zeiten der Krise – genau in die entgegengesetzte Richtung gehen. Das Kapital erfüllt eine historische Mission, wenn es die notwendige Arbeit reduziert. Diskutiert werden muss darüber, wie die verbleibende Arbeit sinnvoll und solidarisch aufgeteilt und ein menschenwürdiges Einkommen für alle sichergestellt werden kann. Also her mit der 30-Stunden-Woche! Schon der Begriff Beschäftigung ist irrsinnig: Geht es uns denn um die sozialtherapeutische Ausgestaltung von Lebenszeit? Elmar Altvater Mir fällt in diesem Zusammenhang eine Stelle aus den Marx’schen „Grundrissen“ von 1857 ein. In der Ausgabe von 1953 findet man das auf der Seite 595 (lacht)… Das habe ich bis heute nicht vergessen. Da wird die Erzeugung von freier Zeit als zentrales Ziel nicht kapitalistischen Wirtschaftens definiert. Heute würde man vielleicht sagen: Zeitwohlstand ist die Zielsetzung einer Ökonomie des Glücks, einer Ökonomie, die den Menschen und nicht die Kapitalverwertung in den Mittelpunkt stellt.

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Das wirft aber ein grundsätzliches Problem auf: Eine solche Umdefinierung der Ökonomie würde auf eine Entmachtung des Kapitals hinauslaufen. Denn Kapital heißt Verwertung von Arbeitskraft, und wenn sich die Arbeitskraft dieser Verwertung entzieht, dann verändert sich auch die Gesellschaft auf radikale Weise. Der französische Philosoph André Gorz hat dies vor über 20 Jahren ausführlich erörtert und zwischen autonomer und heteronomer, also zwischen selbst- und fremdbestimmter Arbeit unterschieden – wobei er jene Arbeit als heteronom bezeichnete, die man nicht gerne tut, die aber unter Umständen getan werden muss. Es ist sicherlich angenehmer, im Café zu sitzen und sich mit Leuten zu unterhalten, als den Müll aufzusammeln, den diese Leute im Café produzieren. Es muss also ein Austausch zwischen autonomer und heteronomer Arbeit gefunden werden. Das ist ein zivilisatorischer Prozess, den man nicht dekretieren kann, sondern über den man sich in einer Gesellschaft verständigen muss. Voraussetzung ist aber Folgendes: Wenn ich weggehe von der Arbeit als Prinzip, dann stelle ich den Kapitalismus infrage. Denn nur durch Arbeit wird jener Mehrwert produziert, der als Profit für die Unternehmen, als Rendite für die Spekulanten und Banker usw. verteilt werden kann. Sonst geht das alles nicht. Raul Zelik Und warum sind Gewerkschaften so unfähig, dies deutlich zu machen? Elmar Altvater Wenn man zu einer anderen Organisation der Arbeit, einem anderen Verhältnis von Arbeitszeit und Nicht-Arbeitszeit übergehen will, rüttelt man an einem institutionellen Rahmen, in dem man gleichzeitig politisch agiert. Und dieser Widerspruch hat bislang immer dazu geführt, dass man den institutionellen Rahmen anerkennt und versucht, innerhalb des Rahmens das Beste herauszuholen. Es ist der typische Widerspruch zwischen revolutionärer Erkenntnis, dass die grundsätzlichen Bedingungen verändert werden müssen, und der reformistischen Praxis, die akzeptiert, dass dieser institutionelle Rahmen nicht einfach per Dekret „abgeschafft“ werden kann. […] Wir sind auf die Gorz’sche Unterscheidung zwischen autonomer und hete­ ronomer, zwischen selbstbestimmter und nicht selbstbestimmter, zwischen nichtentfremdeter und entfremdeter Arbeit bereits eingegangen. Die große Herausforderung für jede nicht kapitalistische Gesellschaft besteht darin, die Verhältnisse so zu organisieren, dass alle Menschen ihrer autonomen Tätigkeit nachgehen können, gleichzeitig aber auch solche heteronome Arbeit übernehmen, die man nicht mag, die aber trotzdem verrichtet werden muss.

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Im Kapitalismus stellt sich das Problem nicht in dieser Form. Dort ist Arbeit in erster Linie Lohnarbeit und für das individuelle Überleben notwendig. In einer nicht kapitalistischen Gesellschaft müsste Arbeit neu verteilt werden. Das wird dadurch ein wenig erleichtert, dass wir unterschiedliche Vorlieben haben. Eine Arbeit, die Sie als heteronom empfinden, wird von mir vielleicht gern getan und umgekehrt. Doch eine solche gegenseitige Ergänzung hat Grenzen. Es gibt Dinge, die niemand gerne tut, und die müssen verteilt werden. Hier müssen wir auf die Einsicht der Gesellschaftsmitglieder setzen, dass derartige Arbeiten eben verrichtet werden müssen. Dieser Aspekt findet sich schon bei der oikonomia von Aristoteles, wo der patriarchale Haushaltvorstand zu verrichtende Arbeiten verteilt. Eine ‚Haushaltsführung‘ muss nun nicht patriarchal oder autoritär sein. Die Verteilung von Tätigkeiten kann auch genossenschaftlich, demokratisch und partizipativ erfolgen. Wir alle kennen Beispiele, in denen wir aus „Einsicht in die Notwendigkeit“ Arbeiten aufteilen und übernehmen. Das ist ja auch ein literarisches Thema. Man lese Mark Twains Geschichte von Tom Sawyer, der einen Zaun streichen soll, obwohl er das hasst. Raul Zelik Eine Erfahrung ist aber auch, dass gerade an der Frage der Verteilung unangenehmer Arbeit Gemeinschaften immer wieder zerbrechen. Elmar Altvater Wenn man Alternativen hat, gibt es diese Dynamiken. Wenn man aber aus einer Gemeinschaft, in der man Verantwortung übernehmen muss, in eine andere fällt, in der man dies ebenso tun muss, wird das anders aussehen. Man wird dort bleiben, wo die Arbeitsteilung am sinnvollsten organisiert ist, und einsehen, dass unangenehme Arbeiten eben übernommen werden müssen. Konkreter: Das Abwaschen in Wohngemeinschaften ist immer ein Problem. Aber es ist immer auch lösbar. Mit ein bisschen Erfahrung pendeln sich die Dinge ein: Die einen kochen gern, die anderen kümmern sich um etwas anderes. Die einfachen Alltagsbeispiele zeigen, dass es natürlich Konflikte gibt. Aber erstens gibt es im menschlichen Leben überall Konflikte, und zweitens kann man zu Lösungen kommen. Raul Zelik Doch auch der ‚materielle Anreiz‘ hat seinen Platz: Dadurch dass man die Verrichtung von Arbeiten ‚belohnt‘, die von anderen nicht gern übernommen werden, schafft man nicht gleich ein Klima des rücksichtslosen Egoismus. Ich sage das deswegen in einem ziemlich naiven Ton, weil mir das Konzept des „neuen Menschen“, wie es sozialistische Erzieher, angefangen von Che Guevara bis zu den Maoisten verfolgt haben, zuwider ist. Ein emanzipatorisches Projekt muss unaufgeregter, gelassener daherkommen: Wir, die ganz normalen, real existierenden Menschen, sind in der Lage, anders zu leben. Wir brauchen dafür nicht umerzogen oder neu erschaffen zu werden. Das, was wir an Verstand, Empathie und Verantwortungsgefühl mitbringen,

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reicht völlig aus, um die Gesellschaft anders, besser zu organisieren. Selbstverständlich verändern wir uns auch selbst, wenn die Bedingungen andere sind. Wir lernen, demokratische Entscheidungsprozesse zu organisieren, entwickeln partizipative Fähigkeiten, schärfen unser Einfühlungsvermögen. Aber wir müssen nicht dafür erzogen werden, um einer Gesellschaftsutopie gerecht zu werden. Die Utopie ist für uns da und nicht wir für sie. Sie haben nun auch gesagt, dass hier Bewusstseinsfragen verhandelt werden. Sich mit anderen abzustimmen und Verantwortung für eine Gemeinschaft zu übernehmen, erfordert Einsicht – und also auch Bewusstsein. Elmar Altvater Ja, natürlich. Menschen sind handelnde Subjekte und handeln, so ist zu hoffen, mit Verstand. Aber noch mehr: Menschen schaffen durch ihr Handeln Umstände, die im positiven wie im negativen Sinne Restriktionen des Handelns darstellen. Diese Restriktionen muss man bewusst erkunden, um dann eventuell wieder Korrekturen des Handelns vorzunehmen. Raul Zelik Nehmen wir einmal eine dieser anthropologischen Vermutungen, die einem im Alltag immer begegnen, wenn von Sozialismus die Rede ist. Ein sehr beliebtes Argument lautet: ‚Eine schöne Idee, aber die Menschen sind egoistisch und machen nichts, ohne individuelle Vorteile davon zu haben.‘ Wir haben es schon betont: Eigentlich reicht ein Blick in die Welt der unbezahlten Arbeit, der Pflege, um zu wissen, dass das in dieser Form nicht stimmt, nicht stimmen kann. Für besonders unangenehme Tätigkeiten will man entgolten oder belohnt werden, andere Dinge macht man gern auch ohne direkte Gegenleistung. Dafür gibt es auch ‚modernere‘ Beispiele. Sehen wir uns an, wie im Internet neue Gemeingüter, sogenannte commons, entwickelt wurden. Aktivisten der Open-Source-Software – Programme, deren Quellcode offen liegt und die von allen Programmierern weiterentwickelt werden können – sprechen in diesem Zusammenhang von peer production: eine Produktion, die nicht kommerziell, ohne materielle Gegenleistung, dezentral und kooperativ vonstatten geht. Ein Beispiel dafür ist die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Jeder kann zum Wissen dieser Enzyklopädie beitragen und Artikel umschreiben. Der Prozess unterliegt gewissen Regeln und wird von Freiwilligen moderiert, die die Einträge auf ihre Qualität prüfen und sperren können. Aber die Arbeit an dem Projekt ist offen, kaum zentralisiert, vor allem aber ist sie nicht marktförmig: Man konkurriert nicht mit anderen Anbietern, hat keine materiellen Anreize, verkauft nichts – zumindest nicht, wenn man an Einträgen zu Foucault oder Quantenmechanik arbeitet. Sicherlich hat auch Wikipedia Schwächen – wie jede Enzyklopädie muss man sie kritisch lesen und Informationen überprüfen. Aber insgesamt kann sich das Ergebnis sehen lassen.

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Für das Betriebssystem Linux, das als Reaktion auf die Ineffizienz der Microsoft-Systeme MS-Dos und Windows entstand, gilt das sogar noch stärker. Mit Linux wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten ein hochwertiges Softwareprodukt entwickelt, wie es große Unternehmen gegenüber den Konsumenten abschirmen und teuer verkaufen würden. Linux hingegen ist offen: Jeder Nutzer kann nachvollziehen, was das Betriebssystem macht, und es dem eigenen Bedarf anpassen. Vor allem jedoch entstand Linux als freie Kooperation von Produzenten. Ohne dass das ein deklariertes Ziel gewesen wäre, ist man hier ganz nah an der Marx’schen Utopie der „freien Assoziation der Produzenten“. Im Fall Linux ist dieser Prozess folgendermaßen verlaufen: Softwareentwickler haben ihre Arbeit ins Netz gestellt, um sie diskutieren zu können, andere haben gesehen, was fehlt, Teile weitergeschrieben, erneut ins Netz gestellt und von anderen korrigieren lassen, und so ist – ohne dass es einen Gesamtplan gegeben hätte – ein Produkt entstanden, das seinen kommerziellen Konkurrenten in vieler Hinsicht überlegen ist. Ich finde das verblüffend: Es handelt sich um einen offenen, unhierarchischen, partizipativen, dezentralen, internationalen Produktionsprozess, für den die Produzenten keine unmittelbare Gegenleistung erwarteten – auf so etwas zielte der Begriff des ‚Kommunismus‘ ursprünglich ab. Witzigerweise hat das Umfeld, in dem Linux entstand, mit ‚Kommunismus‘ wenig zu tun. Für die Linux-Entwickler handelte es sich einfach um ein gemeinsames Vorhaben. Wir haben das schon anderer Stelle behauptet: Die gesellschaftliche Alternative – die demokratische, bewusste Kooperation in der Arbeit, die Verständigung über Produktion und Konsum – wird nicht unbedingt dort geboren, wo es Linke erwarten. Das Neue kommt unerwartet und vielleicht auch überraschend unspektakulär daher.

Über das Phänomen der Bullshit-Jobs (2013) David Graeber Im Jahr 1930 prophezeite John Maynard Keynes, die Technologie werde bis zum Ende des Jahrhunderts so weit fortgeschritten sein, dass Länder wie Großbritannien und die Vereinigten Staaten bei einer 15-StundenArbeitswoche angekommen wären. Wir haben allen Grund zu glauben, dass er recht hatte. Aus technischer Sicht wären wir dazu durchaus in der Lage. Und doch kam es nicht so. Wenn überhaupt, wurden mithilfe der Technologie neue Wege erschlossen, damit wir alle mehr arbeiten. Um das zu bewerkstelligen, musste man Jobs schaffen, die letztlich nutzlos sind. Insbesondere in Europa und Nordamerika führen Heerscharen von Menschen während ihres ganzen Berufslebens Tätigkeiten aus, von denen sie insgeheim glauben, dass sie nicht ausgeführt werden müssten. Aus dieser Situation erwächst ein weitreichender moralischer und geistiger Schaden. Er ist eine Narbe, die sich quer über unsere kollektive Seele zieht. Und doch spricht praktisch niemand darüber. Warum wurde das von Keynes versprochene Utopia – das noch in den 1960er Jahren sehnlichst erwartete wurde – niemals Wirklichkeit? Heute lautet die Standardantwort: Er sah die starke Zunahme des Konsumdenkens nicht voraus. Wenn wir die Wahl zwischen weniger Arbeitsstunden und mehr Spielzeug oder Vergnügungen haben, entscheiden wir uns kollektiv für Letzteres. Das gibt ein hübsches moralisches Märchen ab, aber schon bei kurzem Nachdenken wird klar, dass es nicht stimmen kann. Ja, wir sind seit den 1920er Jahren Zeugen geworden, wie eine endlose Vielfalt neuer Berufe und Branchen entstanden ist, aber nur die wenigsten davon haben mit dem Vertrieb von Sushi, I-Phones oder schicken Sneakers zu tun. Um was für neue Jobs handelt es sich eigentlich im Einzelnen? Ein klares Bild liefert ein kürzlich erschienener Bericht, in dem die Beschäftigung in den Vereinigten Staaten in den Jahren 1910 und 2000 verglichen wurde (und der, so muss ich feststellen, in Großbritannien seinen genauen Widerhall findet). Im Laufe des vergangenen Jahrhunderts ist die Zahl derer, die als Hausangestellte, in der Industrie und in der Landwirtschaft arbeiteten, drastisch gesunken. Gleichzeitig hat sich die Zahl der Arbeitskräfte in den Bereichen von „Gewerbe, Verwaltung, Behörden, Verkauf und

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Dienstleistungen“ verdreifacht und ist „von einem Viertel auf drei Viertel der Gesamtzahl der Beschäftigten“ gewachsen. Mit anderen Worten: Jobs in der Produktion wurden gemäß den Vorhersagen im Wesentlichen wegautomatisiert. (Selbst wenn man die Industriearbeiter auf der ganzen Welt einschließlich der schuftenden Massen in Indien und China zählt, machen solche Arbeiter bei Weitem nicht mehr einen so hohen Prozentsatz der Gesamtbevölkerung aus wie früher.) Aber statt zuzulassen, dass eine drastische Verkürzung der Arbeitszeiten der Weltbevölkerung die Freiheit verschaffte, ihren eigenen Vorhaben, Vergnügungen, Visionen und Ideen nachzugehen, wurden wir Zeugen einer Aufblähung, von der allerdings weniger der „Dienstleistungssektor“ betroffen war als vielmehr der Verwaltungsbereich. Das ging bis hin zur Schaffung ganz neuer Branchen wie Finanzdienstleistungen oder Telefonwerbung und bis zur beispiellosen Ausweitung von Sektoren wie Unternehmensrecht, Hochschulund Gesundheitsverwaltung, Personalwesen und Public Relations. Und in den Zahlen sind all diejenigen, deren Aufgabe es ist, die genannten Branchen administrativ, technisch oder im Hinblick auf die Sicherheit zu unterstützen, ebenso wenig enthalten wie die vielen ergänzenden Branchen (Hundepfleger, Rund­um-die-Uhr-Pizzaboten), die nur deshalb existieren, weil alle anderen einen so großen Teil ihrer Zeit für die Arbeit in den übrigen Branchen aufwenden. Das sind die „Bullshit-Jobs“, wie ich sie gern nennen möchte. Es ist, als würde sich irgendjemand sinnlose Tätigkeiten ausdenken, nur damit wir alle ständig arbeiten. Und genau da liegt das Rätsel. Im Kapitalismus sollte genau das eigentlich nicht eintreten. Natürlich, in den alten, ineffizienten sozialistischen Staaten wie der Sowjetunion, wo Beschäftigung sowohl ein Recht als auch eine heilige Pflicht war, schuf das System so viele Jobs, wie es schaffen musste. (Deshalb waren in den sowjetischen Kaufhäusern drei Verkäufer nötig, um ein Stück Fleisch zu verkaufen.) Aber solche Probleme sollte der marktwirtschaftliche Wettbewerb eigentlich beseitigen. Zumindest in der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie wäre es das Letzte, was ein gewinnorientiertes Unternehmen tun würde, Geld an Mitarbeiter auszuzahlen, die eigentlich nicht gebraucht werden. Und doch geschieht genau das. Konzerne nehmen zwar ständig erbarmungslose Kürzungen vor, aber von Entlassungen und Mehrarbeit sind regelmäßig diejenigen Menschengruppen betroffen, die tatsächlich Dinge herstellen, transportieren, reparieren und instand halten. Durch eine seltsame Alchemie, die niemand erklären kann, wird die Zahl der bezahlten Aktenschieber am Ende immer größer, und immer mehr Angestellte arbeiten – sowjetischen Arbeitern eigentlich nicht unähnlich – auf

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dem Papier 40 oder sogar 50 Stunden in der Woche, aber effizient arbeiten sie, wie Keynes es vorhergesagt hatte, nur 15 Stunden. Die übrige Zeit dient dazu, zu organisieren, an Motivationsseminaren teilzunehmen, Facebook-Profile zu aktualisieren oder Fernsehserien herunterzuladen. Die Antwort ist eindeutig nicht wirtschaftlicher, sondern moralischer und politischer Natur: Die herrschende Klasse hat gemerkt, dass eine glückliche, produktive Bevölkerung, der viel Freizeit zur Verfügung steht, eine tödliche Gefahr ist. (Denken wir nur daran, was in den 1960er Jahren geschah, als man dem nur ein wenig näher kam.) Und andererseits ist es für sie ein außerordentlich bequemes Gefühl, Arbeit als solche sei ein moralischer Wert und jeder, der sich nicht während des größten Teils seiner wachen Stunden einer strengen Arbeitsdisziplin unterwirft, habe nichts verdient. Als ich einmal über das scheinbar endlose Wachstum der administrativen Zuständigkeiten an britischen Hochschulinstituten nachdachte, überfiel mich eine mögliche Vision der Hölle. Die Hölle ist eine Ansammlung von Personen, die den größten Teil ihrer Zeit mit einer Tätigkeit beschäftigt sind, die sie nicht mögen und nicht besonders gut beherrschen. Angenommen, sie wurden eingestellt, weil sie ausgezeichnete Möbeltischler sind, und dann merken sie, dass sie während eines Großteils ihrer Zeit Fische braten sollen. Die Tätigkeit muss auch eigentlich nicht ausgeführt werden – schließlich gibt es nur eine sehr begrenzte Zahl von Fischen, die gebraten werden müssen. Aber irgendwie sind alle besessen von Widerwillen bei dem Gedanken, einige ihrer Kollegen könnten vielleicht mehr Zeit mit dem Bau von Möbeln zubringen und nicht ihren gerechten Anteil an der Zuständigkeit für das Fischebraten übernehmen; dann dauert es nicht lange, bis überall in der Werkstatt riesige Haufen unnützer, schlecht gebratener Fische herumliegen und das Fischebraten das Einzige ist, was alle tatsächlich tun. Das ist nach meiner Überzeugung eine ziemlich zutreffende Beschreibung für die moralische Dynamik in unserer Wirtschaft. Nun ist mir klar, dass eine solche Argumentation sofort auf Widerspruch stoßen wird: „Wer sind Sie, dass Sie beurteilen können, welche Tätigkeiten wirklich ‚notwendig‘ sind? ‚Notwendig‘ – was bedeutet das überhaupt? Sie sind Professor für Anthropologie – welche ‚Notwendigkeit‘ gibt es dafür?“ (Und tatsächlich würden viele Leser der Boulevardpresse meine Tätigkeit für den Inbegriff der Vergeudung öffentlicher Mittel halten.) Auf einer gewissen Ebene stimmt das natürlich. Ein objektives Maß für gesellschaftlichen Wert kann es nicht geben. Wenn jemand nach eigener Überzeugung eine sinnvolle Tätigkeit ausübt, würde ich mir nicht anmaßen, ihm zu sagen, dass es nicht stimmt. Aber wie steht es mit denen, die selbst überzeugt sind, dass ihre Arbeit

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sinnlos ist? Vor nicht allzu langer Zeit nahm ich wieder Kontakt mit einem Schulfreund auf, den ich nicht mehr gesehen hatte, seit ich 15 war. Zu meinem Erstaunen erfuhr ich, dass er zuerst Dichter und dann Frontmann einer lndieBand geworden war. Ich hatte einige seiner Lieder im Radio gehört, aber ich hatte keine Ahnung gehabt, dass ich den Sänger kannte. Er war offensichtlich geistreich und fantasievoll, und mit seiner Arbeit hatte er zweifellos das Leben vieler Menschen auf der ganzen Welt aufgeheitert und verbessert. Dennoch hatte man ihm nach einigen erfolglosen Alben seinen Vertrag gekündigt, und da er nun mit Schulden und einer neugeborenen Tochter belastet war, traf er am Ende, wie er selbst es formulierte, „die Wahl so vieler orientierungsloser Menschen: ein Jurastudium“. Heute arbeitet er als Firmenanwalt in einer bekannten New Yorker Kanzlei. Er räumte als Erster ein, dass seine Tätigkeit vollkommen sinnlos sei, keinen Beitrag zur Welt leiste und nach seiner eigenen Einschätzung überhaupt nicht existieren sollte. An dieser Stelle kann man eine Menge Fragen stellen. Die erste lautet: Was sagt es über unsere Gesellschaft aus, dass sie offensichtlich nur einen äußerst begrenzten Bedarf an Dichtern und Musikern hat, während anscheinend eine unbegrenzte Nachfrage nach Spezialisten für Gesellschaftsrecht besteht? (Die Antwort: Wenn ein Prozent der Bevölkerung den größten Teil des gesamten Reichtums kontrolliert, spiegelt der sogenannte Markt wider, was sie – und nicht alle anderen – für nützlich oder wichtig halten.) Vor allem aber zeigt es, dass die meisten Menschen in sinnlosen Berufen sich der Sinnlosigkeit letztlich bewusst sind. Ich bin mir nicht sicher, ob ich jemals einen Firmenanwalt kennengelernt habe, der seinen Job nicht für Bullshit hielt. Das Gleiche gilt für nahezu alle anderen zuvor genannten Branchen. Es gibt eine ganze Klasse hoch bezahlter Spezialisten, die auf einer Party jedes Gespräch über ihre Arbeitsrichtung vermeiden werden, wenn der andere erklärt, er tue etwas, das als interessant gelten könnte (beispielsweise weil er Anthropologe ist). Gibt man ihnen ein paar Drinks, brechen sie in Schimpftiraden über ihren eigentlich sinnlosen, dummen Job aus. Hier liegt eine tiefgreifende psychische Gewalt. Wie kann man auch nur ansatzweise von der Würde der Arbeit sprechen, wenn man insgeheim den Eindruck hat, dass es den eigenen Job eigentlich gar nicht geben sollte? Wie soll da nicht ein Gefühl des tiefen Zorns und Widerwillens aufkommen? Und doch ist es die eigenartige Genialität unserer Gesellschaft, dass die Herrschenden wie im Beispiel der Fischbrater einen Weg gefunden haben, um den Zorn genau gegen diejenigen zu richten, die tatsächlich sinnvolle Arbeit tun. Ein Beispiel: Offensichtlich gilt in unserer Gesellschaft die Regel, dass eine Arbeit umso schlechter bezahlt wird, je offensichtlicher sie anderen Menschen nützt.

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Auch hier ist es schwierig, ein objektives Maß zu finden, aber einen Eindruck kann man sich mit einer einfachen Frage verschaffen: Was würde geschehen, wenn diese ganze Berufsgruppe einfach verschwinden würde? Man kann über Krankenschwestern, die Mitarbeiter der Müllabfuhr oder Automechaniker sagen, was man will, aber eines liegt auf der Hand: Würden sie sich plötzlich in Luft auflösen, die Folgen wären sofort spürbar und katastrophal. Auch eine Welt ohne Lehrer oder Hafenarbeiter würde schnell in Schwierigkeiten geraten, und selbst ohne Science-Fiction-Autoren oder Ska-Musiker wäre sie sicher weniger schön. Dagegen ist nicht ganz klar, wie die Welt leiden würde, wenn alle Private-Equity-Manager, Lobbyisten, Public-Relations-Forscher, Versicherungsfachleute, Telefonverkäufer oder Rechtsberater auf ähnliche Weise verschwinden würden. (Vielfach herrscht der Verdacht, dass sie sich merklich verbessern würde.) Aber abgesehen von einer Handvoll vielfach gepriesener Ausnahmen (Ärzte!) gilt die Regel überraschend gut. Was noch perverser ist: Anscheinend herrscht allgemein der Eindruck, dass es so sein muss. Das ist eine der geheimen Stärken des Rechtspopulismus. Man erkennt sie, wenn die Boulevardpresse den Zorn gegen die U-Bahn-Mitarbeiter schürt, weil sie London während der Tarifverhandlungen lahmlegen: Schon die Tatsache, dass die U-Bahn-Angestellten London lahmlegen können, ist der Beweis, dass ihre Arbeit tatsächlich notwendig ist, aber genau das, so scheint es, ärgert die Menschen. Noch deutlicher wird das Prinzip in den Vereinigten Staaten: Dort ist es den Republikanern bemerkenswert gut gelungen, Ressentiments gegen Lehrer und die Arbeiter der Autofirmen zu wecken (aber interessanterweise nicht gegen die Schulverwaltungsbeamten oder Automanager, die eigentlich die Probleme verursachen), weil sie angeblich überhöhte Gehälter beziehen und Vorteile genießen. Es ist, als würde man zu ihnen sagen: „Aber ihr unterrichtet ja Kinder! Ihr baut Autos! Ihr habt ja richtige Arbeit! Und obendrein habt ihr noch die Stirn, Mittelklassepensionen und Krankenversicherung zu erwarten?“ Hätte jemand für die Arbeitswelt ein System entwerfen sollen, das sich ideal dazu eignet, die Macht des Finanzkapitals aufrechtzuerhalten, so ist kaum zu erkennen, wie man es hätte besser machen können. Echte, produktive Arbeiter werden erbarmungslos unter Druck gesetzt und ausgebeutet. Der Rest gliedert sich in die terrorisierte Schicht der allgemein geschmähten Arbeitslosen und eine größere Schicht derer, die im Wesentlichen fürs Nichtstun bezahlt werden; ihre Positionen sind so gestaltet, dass sie sich mit den Sichtweisen und Empfindlichkeiten der herrschenden Klasse (Manager, Beamte und so weiter) – und insbesondere ihren finanziellen Inkarnationen – identifizieren können, aber gleichzeitig nähren sie auch einen unterschwelligen Widerwillen gegen alle, deren Arbeit einen

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eindeutigen, unbezweifelbaren gesellschaftlichen Wert hat. Natürlich wurde dieses System nie bewusst so gestaltet, sondern es erwuchs aus einem Jahrhundert des Ausprobierens. Aber es ist die einzige Erklärung dafür, dass wir trotz unserer technischen Möglichkeiten nicht alle einen Arbeitstag von drei bis vier Stunden haben.

Quellenverzeichnis In eckige Klammern gesetzte Titel stammen vom Herausgeber.

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