Rechenschaft und Ausblick. Reden und Aufsätze [First ed.]

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of Theology at Claremont

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KARL JASPERS RECHENSCHAFT UND AUSBLICK

KARL JASPERS

RECHENSCHAFT UND AUSBLICK REDEN

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UNDAUFSÄTZE

& CO, VERLAG

MÜNCHEN

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SCHOOL OF THEOLOGY AT CLAREMONT California

Einband und Umschlag von Emil Preetorius. Satz und Druck: J.P. Himmer Copyright

KG., Augsburg.

1951 by R. Piper & Co. Verlag, München, Printed in Germany

INHALTSÜBERSICHT

I Max Weber: 190°

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Unsere Zukunft und Goethe. 7 947 ER

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II Erneuerung der Universität. 1945

Geleitwort für die Zeitschrift „Die Wandlung“. 1945 RS enwort an Sigrid Undset. 1945... Vom lebendigen Geist der Universität.

W..2 1946 .

Die Wissenschaft im Hitlerstaat. 146 . nd Varversieät. 1947 2 5.4 Philosophie und Wissenschaft. 1948. .

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Eieksrıtik der Psychoanalyse. 1950.

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III Ben europäischen Gewt. 1946.

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Über Bedingungen und Möglichkeiten eines neuen Humanismus.

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Über Gefahren und Chancen der Dreibein 1950 . AS 293 Das Gewissen vor der Bedrohung durch die Atombombe. 195 0 314 IV Man Weg zur Philosophie. 1951. Ber meine Philosophie. 1941. »

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MAX

WEBER 1920

Beim Tode Max Webers ein Wort zu sagen, ist eigentlich ein nichtiges Tun. Einen großen Mann ehrt man, indem man seine Werke

‚sich zu eigen macht und in seiner Idee zu arbeiten versucht, um die Verwirklichung, die er möglich gemacht hat, ein jeder zu seinem kleinen Teile fortzusetzen. Das kann nur in langen Zeiten geschehen, aber jetzt sollen wir uns in abstrakten Worten sagen und bewußt machen, was wir verloren haben und was unser Besitz war.

Vielen von uns ist Max Weber als Philosoph erschienen. Es ist diesem großen Manne nicht gemäß, für einen besonderen Beruf oder eine einzelne Wissenschaft in Anspruch genommen zu werden. Wenn

er aber ein Philosoph war, so war er es vielleicht als einziger ın unserer Zeit und in einem anderen Sinne, als irgend jemand sonst

heute Philosoph sein mag. Seine philosophische Existenz ist mehr als wir im Augenblick zu fassen vermögen. Ihren Sinn müssen wir erst sehen lernen, ihn uns erst erwerben. Von ihr zu sprechen, mache

ich den unzureichenden Versuch. Über den Menschen aber in seiner Besonderheit, den wir geliebt haben, spreche ich nicht. Sieht man sein Werk an, wie es vorliegt, so findet man eine Fülle

einzelner Arbeiten. Aber eigentlich sind alle Fragmente. Früher kam es vor, daß eine Arbeit mit dem Vermerk endete: Ein weiterer Arti-

kel folgt. Doch blieb es der letzte zu dem Problem. Arbeiten, die in sich geschlossen schienen, wiesen über sich hinaus, forderten Weiter-

arbeit, niemals war etwas fertig im Sinne der Vollendung. Es ist kaum je ein Buch von ihm erschienen, früher einmal die Römische Agrargeschichte, eine Broschüre über die Börse, in den letzten Jahren

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einige Vorträge als Hefte, sonst nichts. Alles andere steckt in Zeitschriften, Archiven, Zeitungen. Seit weniger als einem Jahre hatte

Max Weber begonnen, gleichsam die Ernte seines wissenschaftlichen Lebens einzubringen. Er bereitete zwei mehrbändige Werke vor. Seine Arbeitskraft war im Gegensatz zu langen Dezennien außerordentlich. „Ich arbeite wie vor dreißig Jahren“, sagte er im April 1920. Einmal schrieb er an einem Tage einen ganzen Druckbogen.

Es strömte ihm zu. In dieser Arbeit hat ihn der Tod getroffen. Unermeßliches hat die Fachwissenschaft verloren. Aber Fragmente wären diese Arbeiten wohl auch sonst geblieben. Denn angelegt waren sie in so ungeheuren Dimensionen, daß sie anmuteten wie ein mittelalterlicher Münsterbau, und wie ein Münster konnten sie ihrer Natur

nach nicht fertig werden. Fragmentarisch war auch sein Leben in der Welt. Er war zum Handeln bereit, wo etwas an ihn herantrat. Seine ganze Energie

legte er in eine Aufgabe, die der Tag forderte, in einen gerichtlichen

Prozeß, eine Testamentsvollstreckung, in seine Lazarettverwaltung

in den ersten Kriegsjahren. In der politischen Welt ergriff er das Wort, wenn er es für möglich hielt, daß eine für die Nation er-

wünschte Wirkung erzielt werden könnte. Aber was er auch getan hat, es bleiben eine Reihe einzelner Akte, die, gemessen an seiner menschlichen Größe und an dem, was Weltgestalter haben tun können, wenig, ja nichts scheinen mögen.

Ist es möglich, angesichts dieses fragmentarischen Charakters Max

Weber als den geistigen Gipfel der Zeit zu empfinden? Nur dann, wenn man im fragmentarischen Wesen selbst einen positiven Sinn zu

sehen vermag, wenn man glaubt, daß das Größte, sofern es sich verwirklicht, notwendig Fragmentcharakter hat.

Sehen wir zunächst den Inhalt seiner wissenscha fllichen Arbeit an, soweit sie veröffentlicht ist. Dieser Inhalt erstreckt sich auf die verschiedensten Gebiete: Römische Agrargeschichte, Börse, ostelbische Landarbeiter, mittelalterliche Handelsgesellschaften, Untergang der antiken Welt, logisch-methodologische Studien, russische Revolution, Psychophysik der industriellen Arbeit, protestantisch e Ethik und 10

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Geist des Kapitalismus, religionssoziologische Arbeiten, die sich auf

China, Indien, das Judentum beziehen, politische Arbeiten über das Problem der Auswahl der Führer und das Problem der politischen

Willensbildung, Vorträge über Politik und über Wissenschaft als Beruf. Diese Universalität ist aber nicht eine zufällige Anhäufung von

verschiedenartigen Untersuchungen, sondern alles hat zunächst ein Zentrum: die Soziologie, die in einem letzten Werk zur systemati-

schen Darstellung kommen sollte. Was aber ist Soziologie? Das ist so wenig klar als was Philosophie ist. Man hat Philosophie immer wieder als die Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes erfaßt, vom yv@dı oavı6v der Griechen an bis zu Hegel. Diese Selbsterkenntnis will in hohem Maße auch die Soziologie. Sie ist die wissenschaftliche Gestalt, die die Selbsterkenntnis in der gegenwärtigen Welt anzunehmen tendiert. Max Webers zentrale Frage, auf die man alle seine religionssoziologischen Untersuchungen beziehen kann, ist: Warum haben wir bei uns im Abendlande Kapitalismus? Das ist eine Frage,

die in eminentem Sinne die gegenwärtige Existenz begreifen will. Marx’ materialistische Geschichtsauffassung, die der erste Schritt in der Selbsterkenntnis des Kapitalismus war, hat Max Weber als wis-

senschaftliche Entdeckung bewundert und von ihr entscheidend gelernt, aber das darin Erkannte zugleich zu einem bloßen Faktor unter anderen herabgedrückt. Im November 1918 las er an der Wie-

ner Universität: Positive Kritik der materialistischen Geschichtsauffassung, worin er jene anderen Faktoren in ihrer Wirkung zeigte. Vor allem das Religiöse als einen gestaltenden und bewegenden Faktor auch des Wirtschaftlichen hat er zum Gegenstand seiner Analyse

gemacht; aber weiter suchte er alle nur erkennbaren Beziehungen, ohne eine von ihnen zu verabsolutieren. Seine Soziologie sollte die-

ses ganze verwickelte System kausaler Beziehungen hinstellen. So wurde er auf die Gesamtheit menschlicher Existenz gewiesen, ganz von selbst universal in seiner Betrachtung. Diese Betrachtung ist eine so noch nicht dagewesene Vereinigung von Historie und Systematik. Ganz empirisch hielt er sich an das endlose Material und ist doch in 11

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jedem Augenblick konstruktiv unter systematischen Gesichtspunkten, unter denen alles Historische zum bloßen „Falle“ wird. Das Syste-

matische aber erstarrt nirgends zum System. Vielmehr betonte Max Weber überall geflissentlich, daß seine Unterscheidungen und Begriffsbildungen für diesen besonderen Erkenntniszweck gebildet seien, darüber hinaus keine Geltung beanspruchten. Selbst die Unterscheidung der Wertsphären wurde bei ihm zur zweckmäßigen Begriffsbildung für bestimmte Erkenntnisse, allerdings von sehr vielfacher Anwendbarkeit, aber auch diese Unterscheidung bedeutete ihm nichts Absolutes.

Ist nun diese Soziologie vielleicht Philosophie unter einem anderen Namen? Max Weber wollte Fachwissenschaftler sein und hielt seine Soziologie für eine Fachwissenschaft. Es ist aber eine wunderliche Fachwissenschaft: sie ist ohne eigenes Stoffgebiet, denn all ihren Stoff bearbeiten schon vorher andere Wissenschaften, die wirklich bloß fachlich sind; und eine Fachwissenschaft, die faktisch universal wird, indem sie, wie früher die große Philosophie, alle Wissenschaften

für sich arbeiten läßt und alle Wissenschaften befruchtet — sofern sie irgend etwas mit dem Menschen als Objekt zu tun haben. Eine äußere Ähnlichkeit mit der Philosophie hat die Soziologie darin, daß es kein allgemein anerkanntes Niveau gibt, daß kein objektives Kriterium für den wissenschaftlichen Wert, wie in den Fachwissenschaf-

ten, gilt. Die nahe Beziehung zur Philosophie scheint auch darin äußerlich sichtbar, daß offizielle Philosophen sich ihr zugewandt haben, daß sie ebensosehr eine philosophische Disziplin ist, als eine solche, die von Nationalökonomen gepflegt wird. Unter den zeitgenössischen Philosophen sind dafür Beispiele Simmel, Troeltsch; und Troeltsch bekennt, wie viel er von Max Weber gelernt hat. Die Philosophie hat, wo sie lebendig ist, immer einen konkreten wurzel-

haften Grund. Sie wächst aus einzelnen Lebens- und Erkenntnisgebieten, aus der ethisch-politischen Welt, aus der mathematischen

Naturwissenschaft, aus der Logik, aus der Geschichte usw. In dem philosophischen Prozeß entsteht jeweils ein Ganzes, aus dem vielleicht nachher eine neue Fachwissenschaft sich isoliert. Die Sozio12

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logie ist noch nicht so weit, bloße Fachwissenschaft zu sein. Sie ist noch in dem Urzustand, in dem alle Wissenschaften mit der Philosophie zusammenfließen. Darum ist sie eine so lebendige und er-

regende Wissenschaft; sie hat noch einen philosophischen Charakter. Da sie aber doch nur Wurzelgebiet der Philosophie, nur Erkenntnis und innerhalb der Erkenntnis nur ein Teil ist, so kann sie nicht

Philosophie sein wollen. Und aus philosophischer Gesinnung betonte Max Weber das Fachwissenschaftliche seiner Arbeit, aus wis-

senschaftlicher Gesinnung bemühte er sich, die Soziologie zur Fachwissenschaft zu machen. Denn so groß und universal sie ist, sie war ihm nur ein Einzelnes. Der Philosoph ist umfassender. Nur eine

Auswirkung fand er im soziologischen Erkennen. Ein Philosoph ist mehr als bloß Erkennender. Ihn charakterisiert das Material, das er erkennt, und dessen Herkunft. In seiner Persön-

lichkeit ist die Zeit, ihre Bewegung, ihre Problematik gegenwärtig, in ihr sind die Kräfte der Zeit von entschiedenstem Leben in ungewöhnlicher Helligkeit. Er ist repräsentativ, was die Zeit ist, er ist es in substantiellster Weise, während andere nur Teile, Abartungen, Entleerungen, Verzerrungen der zeitlichen Kräfte verwirklichen. Der

Philosoph ist das Herz im Leben der Zeit, aber er ist es nicht nur, sondern vermag die Zeit auszusagen, ihr den Spiegel vorzuhalten, und indem er sie ausspricht, sie geistig zu bestimmen. Darum ist der

Philosoph ein Mensch, der immer mit seiner Persönlichkeit haftet, sie ganz einsetzt, wenn er sich überhaupt irgendwo einsetzt. Täte er es nicht, so würde ihm das Material fehlen, er würde nur intellektuelle würden jene Erkenntnisse entstehen, gleichsam in einem luftleeren Raum

für seine originalste Erkenntnis Bewegungen ausführen. Dann die losgelöst von aller Existenz eine entleerte Betätigung dar-

stellen mit einem gleichgültigen Stoffe, der keine Existenz voraussetzt, sondern als abgegriffenes Münzmaterial in jedermanns Hand ist. Einen existentiellen Philosophen aber haben wir in Max Weber leibhaftig gesehen. Während andere Menschen wesentlich nur ihr persönliches Schicksal kennen, wirkte in seiner weiten Seele das Schick-

sal der Zeit. Wenn er auch mit der Gewalt seines menschlichen Her13

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zens und seiner Liebe das Persönliche erfuhr und gestaltete, so war

doch das alles überwölbt von einem Größeren. Der Makroanthropos unserer Welt stand in ihm gleichsam persönlich vor uns. Es faszinierten uns seine schlagenden Formulierungen für die von ihm tief erlebten Ereignisse und Entscheidungen unserer Zeit, wir kamen durch ihn zum klarsten Bewußtsein der Gegenwart und des Augenblicks. Es faszinierte sein hellsichtiger Blick in die Zukunft, seine Einord-

nung des Gegenwärtigen in die Totalität einer historischen Perspektive und zugleich sein starkes Bewußtsein von der Lebendigkeit allein

der gegenwärtigen, existentiellen Aufgaben, unter deren Anforderungen ihm die Werke der Vergangenheit, selbst die großen, wie

„alte Scharteken“ erscheinen konnten. Er hatte ein gegenwärtiges Welt- und Selbstbewußstsein. Aber er stellte es nicht als Totalität vor uns hin. Mit unerbittlicher Konsequenz schien er nur zu trennen, statt zum vollendeten Bilde zu vereinen. Allbekannt ist, mit welchem Pathos er z. B. Erkennen und

Werten schied. Wertfreie Erkenntnis war ihm das Ziel der Wissenschaft. Sein intellektuelles Gewissen vermochte ihm den Blick unendlich zu weiten, indem er unablässig die eigenen Wertungen ins deutliche Bewußtsein zu rücken suchte, die Wertungen überhaupt zum Gegenstand der Erkenntnis machte. Illusionsloses Sehen, was

wirklich ist und was in rationalen Konsequenzen gilt, was kausaler Faktor ist und was unter gegebenen Bedingungen unvermeidlich eintritt, war ihm die Forderung für das Erkennen. Aber diese Forderung der Trennung von Wertung und sachlicher Einsicht bedeutete nicht Gleichgültigkeit gegen das Leben und Abschließung in einem zeitlosen Subjekt, nicht den „Tod mit wachem Auge“, nicht ein Ruhe-

kissen kontemplativen Zusehens. Sondern das illusionslose, wahr-

haftige Sehen war ihm zugleich ein Stachel zu intensivster Wertung.

Die Einheit und Vollendung war nicht da als objektives Gebilde für

ihn, auch nicht als persönliche, empirische, vollendete Gestalt Max Webers für uns, sondern als lebendige Bewegung in seiner Existenz, die zu augenblicklichen, vollendeten Synthesen kam, in der er beim Werten nicht die Sachlichkeit, bei der sachlichen Erörterung nicht die 14

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möglichen Wertungen vergaß, und immerfort aufeinander bezog, was getrennt war und in der Beziehung zugleich getrennt blieb. So vereinte sich in ihm das Entgegengesetzte in einer unendlichen Bewegtheit! Seine grenzenlose Sachlichkeit war die Ursache, daß er, wie kaum ein Mensch unserer Zeit, vermochte auf Gründe zu hören, daß er zugänglich war für jede Tatsache und jedes sachliche Argument. Wenn die Griechen sich von den Barbaren dadurch unterschieden, daß sie im Gegensatz zu den Barbaren Menschen seien, die auf Gründe hören, so war Max Weber ein Grieche hohen Ranges, dessen Hören-

wollen, dessen Fragen keine Grenzen kannte. Aber dieser Mensch war gleichzeitig von einer Vehemenz der Wertung, einer Entschie-

denheit der Stellungnahme zu den konkreten Ereignissen des Daseins, die manchem als erschreckend, gewalttätig, unterdrückend erschien. Aber er war dies immer auf der Basis der Einsicht, die er nie beiseite schieben wollte, auch darin mit seiner Person haftend, daß er nicht nur für eine begrenzte Sphäre wissenschaftlicher Arbeit, sondern überhaupt sachlich war. Sein unbändiges Temperament, sein Zorn angesichts von Unehrlichkeit, Anmaßung, Selbstbetrug durchbrach wohl manchmal seine maßvolle geistige Haltung und viele haben gemeint, man könne mit ihm nicht umgehen, er schreie alles nieder,

er reiße die ganze Diskussion an sich, er sei von anmaßendem Radikalismus. Tatsache war zunächst, daß die Fülle seiner Einsicht und seines materiellen Wissens manchmal niederschmetterte, es gab keine Gegengründe mehr, oder wenigstens niemand wußte solche. Tatsache war, daß sein moralisches Fordern nicht bequem wirkte; er war für jeden, der sich nicht ganz absperrte, das lebendige Gewissen. Tatsache ist aber auch, daß sein Temperament ihn zum Übermaß im

Aftekt, zu augenblicklichen Ungerechtigkeiten führte,—aber wunderbar, wie dieser Mann das bekannte, und für große Aufgaben, die

häufige, augenblickliche Entscheidungen verlangen, seine Fähigkeit bezweifelte: „ich mache Fehler“. Was so geschah, war nur der korrigierbare Affekt des Augenblicks. Seine grenzenlose Belehrbarkeit

erwies sich auf die Dauer unfehlbar jedem, der wirklich Gründe und 15

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Sachlichkeit hatte. Darum durfte jeder, solange er ein reines Gewissen besaß, zu ihm ein unbedingtes Vertrauen haben. Max Weber lehnte es ab, Philosoph zu sein, wenn man ihn für einen solchen halten wollte. Das Ganze und Absolute war ihm nicht Gegenstand, er sträubte sich intensiv gegen das philosophische System, um so energischer dachte er überall systematisch und konstruktiv. All seine Systematik galt ihm für begrenzte Erkenntniszwecke und

war darum von begrenzter relativer Bedeutung. Er war sich des abgründigen Unterschiedes bewußt, der ihn von der Philosophie trennte, die mit dem Endziel des Systems existierte und in der histo-

rischen Auffassung (von Hegel bis Windelband) aus dieser Perspektive die ganze Geschichte der Philosophie eigentümlich verzerrt sah. An dieser Geschichtsauffassung war groß und von Max Weber anerkannt das Sehen der sachlichen Zusammengehörigkeit der logischen Fragen, die einen fortschreitenden Sinn, eine sachliche Problement-

wicklung in der Geschichte hervortreten ließen. Aber das Logische, das für Max Weber eigentlich die einzige Aufgabe dieser Philosophie hätte sein sollen, war ihm im Grunde eine Fachwissenschaft, die auch

er studierte. Die Philosophie war ihm Logik, als System aber war sie ihm fremd. Mit sokratischer Ironie pflegte er zu sagen: davon verstehe ich nichts. Oder er erklärte in aller Ruhe, das seien ganz „andere“ Probleme, mit denen er sich nicht beschäftige, er benutze diese Begriffe nur in dieser und jener ganz bestimmten Bedeutung für die Analyse dieser besonderen Realität. Den letzten Sinn des Daseins erklärte er nicht zu kennen. In seiner philosophischen Existenz gab es also weder einen prophetischen Glauben, der zu verkünden wäre, noch ein philosophisches System, das einen Weltbegriff als Gehäuse, Trost, Überblick und Unterschlupf gibt. Darum mußte das Fragmentarische bei ihm, ohne geradezu gewollt zu sein, einen tiefen symbolischen Sinn bekommen. Was bedeutet das Fragmentarische? Zum Teil ist es ein äußeres Schicksal. Wie der Tod die Arbeit abgebrochen hat, so hat früher

Erkrankung vieles verstümmelt bleiben lassen, hat die politische Struktur Deutschlands in all ihren Gestalten bis zuletzt ihn nicht 16

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zur Wirksamkeit kommen lassen. Zum Teil unterbrach er Arbeiten,

die ihm zwar wichtig waren, aber doch dem Zentrum ferner lagen, wie rein logisch-methodologische Untersuchungen, Untersuchungen

über die Psychophysik der industriellen Arbeit, die Analyse der ersten russischen Revolution. In diesen mehr peripheren Arbeiten

fühlte er sich jeweils von anderen abhängig und betonte mit fast übertreibender Entschiedenheit diese Abhängigkeiten, die tatsächlich da waren, von Rickert, Kraepelin usw. Hier ergriff Max Weber jeweils ein Gebiet, das ihm nötig war, aber seine stürmisch voranschrei-

tende Forschung ließ sie liegen, wenn er sie überblickte und das ihm Notwendige getan war. Das Zentrale war ihm die Soziologie. Aber

auch hier hatte alles fragmentarischen Charakter, fragmentarisch noch in der unendlichen Ausbreitung und Weite seiner Studien. Das hat einen tiefen Grund in seiner philosophischen Existenz. Er ist Fragmentarier aus einem Bewußtsein der Totalität und des Absoluten heraus, das sich auf keine andere Weise aussprechen kann. Der Mensch als endliches Wesen kann nur Einzelnes zum Gegenstand seines Wollens machen, das Ganze und Absolute nie direkt angreifen, sondern nur indirekt durch klarstes Scheiden, reinliches Erfassen des Besonderen. Verfährt er dabei mit dem ganz irrationalen Gewissen, mit dem Enthusiasmus, der das ganze Wesen jeweils in das Einzelne legt, so wird in ihm die philosophische Existenz, die selbst nie Ziel seines Willens sein kann, für andere sichtbar, nie fertig, sondern

immer in einem bewegten Voranschreiten, dessen Dokumente jene großen Fragmente sind. Das Absolute, Unbedingte war ihm zwar existentiell mit einer ungewöhnlichen Kraft gegenwärtig, aber nicht als Gegenstand, als Formel, als Inhalt, sondern sich auswirkend allein

in der konkreten Handlung in zeitlicher Situation, und im begrenzten, das Fachmäßige betonenden Erkennen. Man darf sagen, das Ganze war ihm im Endlichen, so daß das Endliche von einem unend-

lichen Gehalt zu werden schien. Kein System, kein Werk suchte dieser Mann in seiner dämonisch ruhelosen Bewegung als Vollendung,

die ihn eingeengt, getäuscht, geblendet hätte. Dafür war jedes Einzelne, das er ergriff, durchglüht, so daß es als direkte Ausstrahlung 17

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eines selbst im Hintergrunde bleibenden Absoluten wirken mußte.

n die Es war nicht die Vehemenz bloß eines Temperaments, sonder

Vehemenz einer Idee, die den Mann bewegte und von einer fragmentarischen Verwirklichung zur nächsten stürmen ließ. Der Geist

war in ihm, was er bei voller Lebendigkeit in zeitlicher Existenz allein sein kann: nie befriedigte, tätige, unaufhaltsame Bewegung. Diese Synthese ist etwas Unglaubwürdiges, weil Widerspruchsvolles:

Nirgends schien er das Absolute als Inhalt zu besitzen und doch ergriff er jeden Gegenstand, den er überhaupt ergriff, mit dem Pathos,

als ob er das Absolute sei. Er konnte als der vollendete Relativist erscheinen - und doch war er der Mensch von stärkstem Glauben in

unserer Zeit. Denn dieser Glaube ertrug die Relativierung von allem, was uns Gegenstand wird und damit ein nur Einzelnes ist.

Wenn man die Menschen charakterisiert durch Zuordnung zutypischen Berufen, so pflegt die Frage bei Max Weber zu lauten: War er

Gelehrter oder Politiker? Er war Patriot, er glaubte an Deutschland unter allen Umständen.

Illusionslos sah er allerdings die Wirklichkeiten, machte sich kein Traumbild zurecht. Seine rücksichtslos wahrhaftige Kritik dem Vater-

land gegenüber war eine Kritik aus Liebe. Niemals konnte man stärker empfinden, was unbedingter Patriotismus sei, als wenn Max Weber nach kritischen Betrachtungen zum Positiven kam und schloß: Ich danke Gott, daß ich als Deutscher geboren bin. Dieser Patriotis-

mus war ihm letzter Maßstab auch für seinen politischen Willen. Deutschlands Wohl fiel ihm nicht zusammen mit dem Wohl irgendeiner Klasse oder mit der Bejahung irgendeiner Weltanschauung,

irgendeiner besonderen politischen Gestalt. Ob katholisch oder protestantisch, ob konservativ oder sozialistisch, ob monarchistisch oder

demokratisch, das hatte in zweite Linie zu treten, wenn es sich um Deutschland nötig schien, den größten Erwägungen 18

handelte. Darum war er bereit, wenn es außenpolitisch mit jeder Partei, jeder Weltanschauung zu gehen, die Erfolg für das Vaterland versprach. Alle politischen waren ihm daher technische Erwägungen über die sach-

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lich geeigneten Mittel, nicht weltanschaulich-prinzipielle. Politik war ihm nicht Glaubenssache - Glaubenskämpfer sind nur mit Gewalt zu schlagen -, sondern Frage von Sachkunde, Sachlichkeit, Verantwortung, Kompromiß. Während des Krieges hat er unerhört gelit-

ten — seine Wut und seine Verzweiflung waren elementare Ausbrüche seiner großen Natur —, wenn er immer wieder die politische Dummheit sah, die zu unserem Nachteil ausschlug. Als es möglich war, ergriff er das Wort: zur Parlamentsreform, zur Demokratisierung und in den Revolutionszeiten. Sein Mut, offen zu sagen, was er sah und

glaubte, war gleich groß, ob er den oberen Gewalten des alten Staats oder ob er den Arbeitern gegenüberstand. Wenn er den Arbeitern in der Volksversammlung unbequeme Dinge sagte und die Wut gegen ihn tobte, so sah man, wie ein großer Mann wirken kann: Trotz

Gegnerschaft vermochte seine ehrfurchtgebietende Gestalt, der man nicht nur die Wahrhaftigkeit, sondern auch den tiefen Ernst und die Liebe zum Menschen glauben mußte, sich durchzusetzen. Die Hörer

fühlten sich in einer Tiefe angesprochen, die sonst keiner erreichte. Er steckte so voll von politischen Gedanken, war sich seiner Sachkunde bewußt, war jederzeit bereit, seine Fähigkeiten und sein Wissen poli-

tisch zu verwenden, wenn er gerufen würde, daß man leicht auf den Gedanken kommen konnte: er sei ein Politiker, der durch ungünstige Umstände nicht zur Geltung gelangte. Doch unterschied ihn vom

echten geborenen Politiker etwas ganz Wesentliches. Max Weber war nicht bereit, zur Macht von sich aus zu greifen, die Mittel zu benutzen, die man heute, wie zu allen Zeiten, braucht - so verschieden sie

sein mochten —, um zur Macht zu gelangen. Er war bereit, wenn man ihn rief und brauchte, etwas zu übernehmen, nicht bereit, aus eigener Initiative und dem Bewußtsein des Berufs die Führung zu suchen

und sein Vaterland zu gestalten. Kein wirklicher Politiker und Staatsmann kann so fühlen. Der will die Macht, sie ist ihm Existenzfrage. Max Weber konnte ohne sie leben (wie der platonische Philosoph, der nur aus Pflicht bereit ist, den Staat zu regieren). Wenn er nicht eigentlich Politiker war, so hört man wohl, war Max Weber seinem Wesen nach Gelehrter. Er hat aus reinstem, un19

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interessiertem Erkenntnistrieb geforscht, er hatte das stärkste Be-

wußtsein der Methoden, der Arten, wie die Geltung von Erkenntnissen begründet wird, innerhalb welcher Grenzen sie gelten. Er be-

" herrschte den technischen Apparat des wissenschaftlichen Handwerks. Er war unbestechlich in der kritischen Auffassung wissenschaftlicher

Leistungen. So oft er sich vielleicht in Menschen getäuscht hat, wenn er wissenschaftliche Arbeiten von ihnen sah, so hat er seine Illusion wohl nie auf die Beurteilung des wissenschaftlichen Wertes übertragen. Wenn aber Max Weber Gelehrter ersten Ranges war, so war er

es doch nicht anders, als wie er sachkundiger Politiker war. Er war beides, aber beides war nicht sein letztes Wesen. Um wesentlich Gelehrter zu sein, dazu fehlte ihm die fachwissenschaftliche Begrenzung, die in unendlicher Geduld mit absoluter Beherrschung eines Gebiets

hier ein Leben lang in großartiger Selbstbeschränkung Schritt für . Schritt voranschreitet. Er war seiner Lebensgesinnung nach weder Philologe noch experimentierender Naturforscher, obgleich er für

beide lebhaften Sinn besaß und gelegentlich nicht bloß deren Resultate nutzte, sondern selbst für einen Augenblick sich darin versuchte. Sein Erkenntniswille war universaler gerichtet, hatte bei aller Sorgfalt und aller Stoffbeherrschung etwas Stürmendes. Er hat viel mehr die Resultate einzelner Wissenschaften in seinen neuen soziologischen Fragestellungen verwertet, als selbst eine Fachwissenschaft angebaut. Wohl arbeitete er überall mit den Quellen, lernte z. B. in erstaunlicher Schnelligkeit Russisch, um die Zeitungen und Schriften der ersten russischen Revolution zu verfolgen. Aber das waren nur Augenblicke, die Ansatz gaben zu weiteren schnellen Schritten, die ihn letzthin zur Selbsterkenntnis der Gegenwart führen sollten. Er hat sich dabei nicht immer wohl gefühlt, weil er das fachwissenschaft-

liche Arbeiten für die Erkenntnis als das allein solide ansah; darum sind seine Schriften durchsetzt von der Betonung seiner Abhängigkeiten, der relativen Geltung, des Versuchscharakters seiner Arbeiten. Er hatte wohl eine instinktive Abneigung dagegen, daß man seine Art der Untersuchungen mit unzureichenden Mitteln nachmachen könnte. Denn er war sich bewußt, selbst die fachwissenschaft20

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liche Basis zu haben, und trotzdem doch noch Problematisches zu

leisten. Das meiste, was unter dem Namen Soziologie geht, erschien ihm als Schwindel. Weder Politik noch Gelehrtentätigkeit war für Max Weber von

zentraler, allein absoluter Bedeutung. Es war erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit er das eine aufgab, um sich dem anderen zuzuwenden, und umgekehrt. Mit Leidenschaft ergriff er in der Revolutionszeit aus nationalem Interesse das Wort. Wie im letzten Augenblick seine Kandidatur für die Wahl zur Nationalversammlung innerhalb der demokratischen Parteien verhindert wurde, verzichtete er ohne jedes Ressentiment, ohne Erbitterung; und als dann in der Volksversammlung stürmisch doch seine Kandidatur gegen den Willen

der Führer verlangt wurde, mahnte er zur Parteidisziplin und erklärte, daß er nicht unersetzlich sei. Als man ihm seine Lazarettver-

waltung im zweiten Kriegsjahr nahm, war er einen Augenblick etwas traurig, daß er dem Vaterland nun gar keinen Dienst mehr leiste. Aber am nächsten Tag saß er wieder mit Eifer an seinen religions-

soziologischen Studien. Diese gab er wieder auf, als er hoffte, durch eine Denkschrift über den unbeschränkten U-Bootkrieg zu dessen

Verhinderung beitragen zu können. Die Schnelligkeit, mit der er von einem zum anderen überging, war überraschend. Bei allem war er mit gleicher Intensität. Alles, konnte man jeweils meinen, sei sein eigentlicher Beruf; und doch war er fähig, auf jedes Einzelne zu verzichten. Man würde ihn ganz verkennen, wenn man nun meinte, ihm

sei im Grunde alles gleichgültig gewesen. Das war das Wunderbare, daß dieser Mann zwar mit vollem Ernst, mit einem unbedingten

Pathos ergriff, was er überhaupt ergriff; daß er aber irgendwie mit seinem tiefsten Wesen doch noch dahinterstand. Man könnte sagen:

seine Tätigkeit überall begleitete ein Bewußtsein: vor Gott ist alles nichts, aber unser Wesen ist es, Sinn zu schaffen, Aufgaben zu erfüllen, sonst sind wir nichtig. Heroisch, unbekümmert um das, was

schließlich daraus werden mag, beherrscht von dem Wissen der wieder eintretenden Zerstörung aller Werte, die wir in dieser Welt ver-

wirklichen, wurde seine Aktivität nur um so mehr gesteigert. 21

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Mit seiner Person machte er dabei gar keine Wichtigkeit, von ihr auch nur zu reden, war ihm nicht recht. Wenn sie durch feindliche

Bomben oder durch Bolschewismus oder durch Krankheit in Gefahr war, zerstört zu werden, so „interessierte ihn das nicht“, weil es

außerhalb seiner sinnerzeugenden Willenstätigkeit lag. Der Tod schreckte ihn nicht, aber im Grunde auch kein anderes Schicksal. Er

war durch die Ereignisse tief bewegt, war bei Deutschlands Zusammenbruch verzweifelt bis zur Neigung, nun auch selber untergehen zu wollen. Und doch, bei all diesem leidenschaftlichen Erleben und

Miterleben war etwas in ihm unerschütterlich. Er war durch nichts mehr in wirklich vollendete Verzweiflung zu bringen, aber nicht vermöge einer bloß vitalen Kraft oder vermöge einer schwächlichen Resignation. Sondern unter Erhaltung aller natürlichen, lebendigen Gemütsbewegungen mit hellsichtigem Blick für die Realitäten, stand er zugleich wie in einer anderen, zeitlosen Welt. Was war er denn? Darauf hat er selbst keine Antwort gegeben und keine gewußt. Er war kein Stoiker, denn die Leidenschafts- und Aftektlosigkeit und die formale Seelenruhe war ihm so wenig eigen, daß vielmehr das Gegenteil davon in ihm lebte; und sie war auch nicht von ihm erstrebt. Aber er hatte etwas an den Stoiker Erinnerndes in seiner Selbstgenugsamkeit und einsamen Unerschütterlichkeit. Er war auch kein Christ. Christ sein hieß ihm, das Gebot der Bergpredigt annehmen: widerstehe nicht dem Übel. DiesGebot wollte er nicht erfüllen, da es mit einem Wirken in der Welt unvereinbar

ist. Er hatte Respekt vor der echten Verwirklichung dieser Gesinnung, aber man fühlte sein Abrücken, wenn er von der Würdelosig-

keit sprach, die dieses Gebot im Gefolge habe. Wenn er über die Selbsttäuschungen bei den Versuchen einer Theodizee redete, so wurde, was er sagte, oft beißende Ironie. Manchmal konnten seine Worte wie Gotteslästerung klingen. Es war eine aus der tiefen Wahr-

haftigkeit entsprungene Ablehnung des über Wirklichkeiten hinweg-

täuschenden, beruhigenden inhaltlichen Glaubens. Diese Ablehnung kam nicht aus Zynismus, nicht aus gleichgültigem Skeptizismus, sondern aus einem furchtbar ernsten Bewußtsein eines unaussagbaren, 22

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unbegreifbaren Absoluten. Seine Arbeit über protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus, so „wertfrei“, ganz sachlich und

objektiv sie ist, sagt uns in gleichsam indirekter Mitteilung, wie Max Weber zum Christentum stand. In dieser Arbeit steckt eine unerhörte Spannung

entgegengesetzter, unausgesprochener Wertungs-

möglichkeiten. Keine Religiosität auf der Erde stand seinem Herzen so nahe wie diese puritanische Sektenreligiosität. Der unerforschliche Ratschluß Gottes, die Prädestination lag seinem strengen Sinn und

seiner Wahrhaftigkeit, die das Unerforschliche unerforscht läßt. Aber er war fern davon, sich dieser religiösen Welt innerlich anzuschließen. Diese großartige Erscheinung sah er Wirkungen haben unter Entleerung von der anfänglich wirksamen religiösen Kraft, die ihm als eine furchtbare Antinomie erscheinen mußten. Sollen denn die größten, ernstesten, heroischsten menschlichen Erscheinungen selbst das Unheil, die Leere, den geistigen Tod herbeiführen? Was war Max Weber, wenn er im besonderen Beruf weder bloß Politiker noch bloß Gelehrter, im Weltanschaulichen weder Stoiker noch Christ war? Wenn man darauf antwortet, er sei ein Philosoph gewesen, so war er nicht ein Philosoph in einem schon vor ihm ver-

wirklichten Sinn. Er hat der Idee des Philosophen eine neue Erfüllung gegeben. Denn was ein Philosoph sei, ist nicht abstrakt und all-

gemein bestimmbar. Er hat der philosophischen Existenz gegenwärtigen Charakter verschafft. In ihm konnten wir sehen, was jetzt ein Philosoph sei, wenn wir zweifelten, ob es heute überhaupt noch Philosophen gebe. Wesen einer philosophischen Existenz ist jedenfalls das Bewußtsein des Absoluten und ein Handeln und Verhalten,

das getragen ist in seiner Unbedingtheit von dem lebendigen Ernst des Absoluten. Das war bei Max Weber das Einzigartige, daß dieses Wesen von ihm ausstrahlte, ohne daß er das Absolute gegenständ-

lich erkannte und zeigte. Will man unrechterweise doch Formeln suchen, um den Inhalt

solcher philosophischen Existenz im Zentrum zu fassen, so kann man nur solche von vorwiegend negativem Charakter finden.

Max Weber

glaubte an die Möglichkeit der Freiheit und forderte vom anderen, 23

MAX

WEBER

frei sein zu wollen. Er lehnte es ab, Prophet und Führer zu sein; ja,

er war in diesem Punkte überempfindlich, da er sich seiner außerordentlichen persönlichen Wirkung als einer Gefahr bewußt war. Er fühlte sich als Mensch und Vernunftwesen und wollte, daß auch

die anderen auf ihre eigene Verantwortung Mensch und Vernunftwesen seien. Darum mochte er - diese Herrschernatur, die bereit war zu herrschen, wenn für eine Sache, einen Zweck die Menschen sich

zusammenfinden — keine Unterordnung im Geistigen und Weltanschaulichen, darum liebte er jede noch so geringe Selbständigkeit,

liebte er Widerspruch und Kampf, verlangte er, daß man ihm auf gleichem Niveau entgegentrat. Allerdings meinte er dabei nie die

besondere empirische Individualität; diese war ihm bei sich selbst nebensächlich, und er ertrug es schwer, wenn er sah, wie andere ihre besondere Individualität ausleben, etwas ganz Einzigartiges, nur

ihnen Mögliches sagen wollten. Die Freiheit war ihm das Medium für das Wachsen von etwas Überpersönlichem, der Idee, des Geistes,

der Sache, welch letztes Wort er bevorzugte. Er vermied, soviel er konnte, bei seinem Tun und Sagen die Sensation, suchte beim Begrenzten, bei den besonderen Aufgaben zu bleiben und über das Letzte sich nicht zu äußern, wohl wissend, daß es sofort als Schlagwort und Formel verwertet und er zum Propheten gemacht würde. Prophet wollte er nicht sein und Propheten lehnte er überall ab. Wenn ihm auch der Geist allein in Persönlichkeiten existentiell war, so hat er selbst doch niemals einen einzelnen Menschen, sei es einen Toten oder Lebenden, als seinen Führer, als seinen einzigen Heros empfunden, weder in seiner Jugend noch später. Dafür besaß er die

lebendigste Anschauung

menschlicher Persönlichkeiten.

Einzelne

Menschen besaßen seine besondere Zuneigung, wie Cromwell und Kant, andere bei allem Respekt und aller Bewunderung seine Ab-

neigung, wie Bismarck und Fichte. —

Was Max Weber sei, ist nicht zu sehen, wenn man eine seiner Arbeiten, noch weniger, wenn man einige Formeln über ihn liest; es ist zu sehen, wenn die Gesamtheit der Fragmente, die wissenschaft24

MAX

WEBER

lichen Arbeiten, Artikel, die Zeitungsaufsätze, Notizen, die Briefe

und der Nachlaß vorliegen und dazu schlichte, ungeformte Berichte über sein Leben, seine Handlungen, seine Verhaltungsweisen. In dieser Gesamtheit von lauter Fragmenten wird unzweifelhaft eine Einheit, nicht formuliert und rational, aber anschaulich vorhanden sein:

die Idee dieser philosophischen Existenz. Diese Idee, absolut und allgemein und zeitlos, wie sie in letzter Tiefe sein mag, hat er doch

in gegenwärtiger Welt in besonderer, originaler Erscheinung gezeigt. In ihm war der Geist zur hellen Flamme geworden. Jetzt bleibt nur, die glimmenden Funken zu hüten, die in uns, in jedem Menschen schlummern. In der Anschauung des Wesens von Max Weber

vermag dieses Glimmen ein wenig heller aufzuleuchten. Die Idee seiner philosophischen Existenz ist wie alles Große letzt-

hin ein Geheimnis. Aber sie ist für uns Lebende Quelle und Aufgabe einer Philosophie, die nicht reproduktiv, nicht romantisch, nicht von

leerer Zeitlosigkeit, sondern gegenwärtig sein will, und allein in gegenwärtiger zeitlicher Gestalt sich des Ewigen bewußt wird. Un-

sere Zeit gilt vielen als bloß zerfahren, relativistisch, glaubenlos, intellektualistisch, betriebsam. Und manche finden keinen Ausweg, als romantische Flucht in Vergangenes oder als selbst betriebsame

Wiederherstellung vergangener Gestalten des Lebens. Wer es aber für möglich hält, daß alles, was an der heutigen Welt kritisiert wird,

periphere Erscheinung, Entleerung und Entartung eines Substantiellen sei, und wer glaubt, daß jede Epoche die Gegenwart des Ewigen

enthält, der vermag in Max ‘Weber eine substantielle Erscheinung unserer Zeit zu sehen. Wir erkennen ihn an dem lebenschaffenden Impuls, der von ihm auf uns ausgeht. Seine Gegenwart gab uns das Bewußtsein, daß auch heute der Geist in Gestalten höchsten Maßes existieren konnte. Weil wir ihn sahen, glaubten wir erst recht das

Maß der großen Toten, die uns nur als geschichtliche Menschen bekannt werden. In ihrem Reiche sehen wir ihn nun als einen Ebenbürtigen.

25

UNSERE

ZUKUNFT

UND

GOETHE

1947

Eine Katastrophe des Abendlandes, ja der Menschheit, wurde geahnt vom alten Goethe, — mit wachsender Klarheit gesehen von Niebuhr, Stendhal, Tocqueville, Burckhardt, - in ganzer Tiefe erfaßt von Kierkegaard und Nietzsche — als Weg zum endgültigen Heil erwartet von Marx. Solche Gedanken erhalten ihr ganzes Gewicht als Element geschichtlicher Totalanschauung. Jederzeit machen wir uns Gesamtbilder, in denen die Zukunft der unerfüllte Raum ist, auf den doch

alles, was war, zugeht. Die Vorgeschichte, sich nur spärlich erhellend, dehnt sich nachweis-

lich in Hunderttausende von Jahren. Die Menschwerdung ist voller Antinomien, für unser gegenwärtiges Erkenntnisvermögen schlechthin unbegreiflich, ja unmöglich. In dieser langen Vorgeschichte wurde der Grund unseres angeborenen Wesens gelegt.

Die hellere Geschichte der letzten drei Jahrtausende bringt uns heute zum Bewußtsein, daß wir als Menschheit geschichtlich gerade erst anfangen. Zwar stehen wir am Ende dieser wunderbaren, in sich zerteilten Geschichte mit drei selbständigen Ursprüngen in China,

Indien und dem Abendland, die allen Gehalt unserer Überlieferungen in sich bergen, und ohne die wir uns ins Nichts gleiten fühlen. Aber

mit dieser Überlieferung, die heute der radikalsten Verwandlung ausgeliefert ist, stehen wir doch jetzt eigentlich erst wie am Anfang. Denn wir können mit Gewißheit feststellen, daß das technische Zeitalter, dem wir angehören, den tiefsten Einschnitt aller bisherigen Geschichte bedeutet. Außerlich ist es handgreiflich: Von nun an

ist der Planet ein Ganzes und alles Leben des Menschen in Abhän26

UNSERE

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UND

GOETHE

gigkeit von der durch ihn selbst ohne Plan hervorgebrachten Welt. Auf dem Wege über die Produktionsweise, die Arbeitsorganisation und Gesellschaft wird unser gesamtes Dasein revolutioniert wie nie

vorher. Das fließende Leben der Vergangenheit ist mit einem Ruck beendigt. Nur ein Symptom dessen: Der Planet ist vergeben; der Mensch kann nicht mehr wie in allen früheren Zeiten auswandern;

das Ventil ist geschlossen; die Spannung wächst. Was durch die moderne Technik und mit ihr gleichzeitig aber im Menschen innerlich geschieht, ist noch völlig unklar. Die erste, aber gewiß nicht letzte Erscheinung ist der seit Nietzsche erblickte totale Nihilismus.

Was nach diesem tiefsten Einschnitt aus dem Menschen werden wird, weiß niemand. Sicher sind alle Zukunfsbilder falsch. Es kommt immer anders, als irgend jemand vorher gedacht hat. Denn

der Mensch vermag innere Revolutionen und Wiedergeburten zu vollziehen in Sprüngen, die kein Verstand vorher konstruieren kann. Eine Phantasie, die solche Wirklichkeit vorwegnehmen würde, hätte sie schon hervorgebracht. Im Schatten der geschichtlich bezeugten und erwarteten Menschenwirklichkeit im Ganzen sehen wir nun unsere eigene. Wir Deutschen stehen, innerhalb des Gesamtprozesses der Menschheit, in einer besonderen weltpolitischen Situation: Wir sind in dem Übergang der

Geschichte von den europäischen Nationalstaaten auf die Weltmächte als politische Großmacht abgetreten, und zwar endgültig, weil un-

sere militärische Vernichtung in diesem einmaligen Augenblick geschehen ist. Wir sind darüber hinaus in einer verzweifelten Lage, vielleicht nur zu vergleichen mit der der Juden nach der Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar und der Deportation eines Teils

ihrer Bevölkerung nach Babylonien. Aber wir haben nicht wie sie ein heiliges uns zusammenhaltendes Buch. Was wird aus uns? Entweder werden wir als eine amorphe Bevölkerungsmasse, uns selber verhaßt, weiter abgleiten, als Material von anderen verbraucht werden und schließlich verschwinden, ehrlos, verachtet in der Erin-

nerung der Welt.

27.

UNSERE

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UND

GOETHE

Oder wir kommen zu einer inneren Revolution unserer Seele und damit zu einem Leben des Geistes, das auch in der Ohnmacht und

selbst unter schweren Daseinsbedingungen möglich ist. Von dieser inneren Revolution, die über unseren Wert in der Zukunft entschei-

den muß, läßt sich sagen: 1. Sie wird nicht im Ganzen durch Maßnahmen und nicht durch Umerziehung zustande gebracht, kann überhaupt nicht gewollt und

nicht geplant werden, sondern sie ist zunächst Sache des Einzelnen, jedes Einzelnen. Wir sind im Grunde nur noch Einzelne, abhängig

wie noch nie, aber zugleich zurückgeworfen auf uns selbst als Ursprung, ein Jeder auf sich. Jeder muß wissen, daß es auf ihn an-

kommt. Verlassen von objektiver Geborgenheit in verläßlichen Zuständen von Sitte, Gesetz und Ordnung, statt dessen oft angeschrien mit weltanschaulichen Phrasen, kann jeder nur selbst sich Wert verleihen durch den Ernst seines Menschseins. Geschieht das, so wird

aus den sich gegenseitig erkennenden Einzelnen auch Gemeinschaft sich bilden als Wiedergeburt der Substanz des auf Gott bezogenen Menschseins.

2. Es kommt auf das Hier und Jetzt an. Der Mensch will Gegenwärtigkeit. Er darf nicht warten (außer in äußeren Dingen), son-

dern muß, was eigentlich ist, sogleich ergreifen. Er will durch sein Jun in der Zeit gleichsam quer zur Zeit leben. Er will sich nicht durch Verheißung einer Zukunft betrügen lassen um das einzig Wirkliche, die Gegenwart. Allein durch gegenwärtige Verwirklichung des

Menschseins dient er auch der Zukunft. 3. Bedingung für die innere Revolution ist die Klarheit des Wissens um unsere geschichtlich entstandene Situation, der der Menschheit und darin unserer deutschen. Wir dürfen nicht sagen: Lassen wir

das Vergangene auf sich beruhen, richten wir den Blick nicht zurück, sondern vorwärts! Denn das Vorwärts hat eine Chance nur in dem Maße der Durchdringung, Aneignung und Überwindung des Gewesenen. Die Besinnung auf das Vergangene ist eine doppelte: Das Durchschauen der Idole, denen wir verfallen waren, - und das Leben mit 28

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GOETHE

unseren hohen Ahnen, unter deren Ansprüchen wir zu uns selber kommen.

In der Katastrophe aber gibt es auch aus der Vergangenheit nichts Festes. Jede Beziehung, auch zu den Besten unserer Ahnen, auch zu den gültigsten Überlieferungen, bedarf der Nachprüfung und der neuen Aneignung. Ein Teil unter solchen positiven Besinnungen ist heute mein

Thema: Unter den Deutschen steht Goethe voran. Wie wird Goethe uns in unsere Zukunft helfen? Vielleicht ist die Bildung durch Goethe so wie sie geschehen ist nicht zu wiederholen, vielleicht ist sie gar zum Teil ein Verhängnis gewesen. Vielleicht ist eine neue Aneignung Goethes gefordert. Mir scheint, daß sie schon begonnen hat. Obgleich der größte deutsche Lyriker und trotz der Weltgeltung seines Faust steht Goethe nicht durch einen Werktypus als Gleichgroßer neben Homer, Dante, Shakespeare. Wohl aber ist er unver-

gleichlich und ohne Nebenbuhler als dieses Ganze von Mensch und Werk, in dem Dichtung, Forschung, Kunst und Praxis nur Momente sind. Vielleicht ist er der einzige Mensch der Geschichte, der in sol-

cher Vollständigkeit sich verwirklicht hat, und der zugleich in den Dokumenten real sichtbar und dazu durch Selbstdarstellung zum Bilde geworden ist. Wir lesen seine Werke, Briefe und Gespräche, die

Berichte der Augenzeugen. Der Mensch steht so leibhaftig vor uns, vom Kinde bis zum Greise, als ob wir ihm in allen seinen Lebensphasen persönlich begegnet wären. Er verträgt es, in nächster Nähe gekannt zu sein; er wächst, je besser wir ihn kennen. Es ist, als ob einmal ein Mensch so gründlich kennbar sein sollte, daß nichts mehr verborgen scheint. Und doch, je mehr wir ihn in

den Dokumenten kennen, um so größer wird das Geheimnis. Das ständige Sichmitteilen dieses unendlich reichen Geistes verbirgt ein

tiefes Schweigen. Wir versuchen vergeblich, Goethes Charakter zu bestimmen. Er scheint unendlich wie die Natur selber. Sein Wesen ist voller Spannungen, Polaritäten und Gegensätze. Sein Werk ist fast wie die Bibel, in der wir uns nicht zurechtfinden, wenn wir den 29

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UND

GOETHE

Maßstab anlegen von logischer Konsequenz und Widerspruchslosigkeit, und wenn wir einen definierbaren festen Standpunkt erwarten. Das. wesentliche Geheimnis aber hat nicht den Charakter einer Lösbarkeit durch etwa neu bekannt werdende Realitäten. Erst recht ist es nicht durch Dichtung zu erhellen. Die so ungewöhnlich breite dokumentarische Faßlichkeit Goethes hat eine großartige Folge: Goethe ist kein Mythus, sein Leben keine Legende, er ist nachweisbare Realität, von einem hellen, aufgeklärten Zeitalter und gemäß seinem eigenen Willen in allen Einzelheiten bewahrt, Gegenstand

grenzenloser Erforschbarkeit. Darum sträuben wir uns gegen eine Phantasie, die Goethe’sche Realitäten vergessen möchte, oder die gar in Goethes Leben etwas hinzuimaginiert. Der Realitäten sind, wenn auch nie genug, doch vollauf genug, um der Ausmalung der

Erfindung Einhalt zu gebieten. Statt als Mythus oder in Erfindungen aber ist Goethe bildhaft für uns geworden durch seine Selbstdarstellung. Wir sehen ihn, wie er

zuerst in seinem Leben sich gleichsam zum Kunstwerk geformt, dann in der Darstellung seines Lebens dieses wirklich als Kunstwerk gestaltet hat. Aber auch diese Selbstdarstellung ist wieder aufgehoben in das umfassende Ganze der Wirklichkeit selber, die, auch wenn sie sich in sich spiegelte, doch im Spiegel nicht das reale Ganze zeigt.

Es ist Goethe gemäß, jedes Jahr in ihm zu lesen, in Werken, Briefen und Gesprächen teilzunehmen an seinem Leben. Er wird unser Begleiter, hilfreich durch alle unsere Lebensphasen. Mit Goethe zu leben, vielleicht macht uns das erst eigentlich zum Deutschen und im Deutschen zum Menschen. Aber es ist nicht leicht. Goethes Welt ist vergangen. Ein Goethe war nur in solcher Welt möglich. Wir dürfen ihn mit seiner Welt

lieben und in ihr uns bewegen nur, wenn wir keinen Augenblick

vergessen, daß sie nicht unsere Welt ist, und daß sie nie wiederkehrt. Goethes Welt ist der Abschluß von Jahrtausenden des Abendlandes, eine letzte, noch erfüllte, und überall doch schon in Erinnerung und

Abschied übergehende Verwirklichung. Es ist die Welt, aus der zwar 30

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UND

GOETHE

die unsrige hervorgegangen ist, von der sich aber die unsrige schon so weit entfernt hat, daß Goethe Homer näher zu stehen scheint als

uns. Obgleich die eigenen, von uns fast noch leibhaftig gekannten Ahnen dabei waren, kann uns zumute sein, als ob wir von Märchen

hörten aus einem uns real schon fremd gewordenen, innerlich doch so tief verwandt gefühlten Bereich. In dieser schlechthin vergangenen Welt mitzuleben, das bringt uns zwar Maßstäbe des Menschseins,

aber zeigt nicht L.ebenswege, die wir identisch wiederholen könnten. Es kommt darauf an, Goethes Welt anzueignen durch Übersetzung

seiner Wahrheit in die eigene Welt. Goethe würde uns erst verlorengehen, wenn wir nicht nur in die so radikal anderen modernen Weltzustände übergegangen wären, sondern auch die menschlichen Grund-

erfahrungen nicht mehr machten, die dort Gestalt gewonnen haben, — wenn wir nicht mehr kennten den Ernst der Liebe, die überwin-

dende Güte, die Forderung, sich selbst zu durchdringen in einem nicht aufhörenden Bildungsprozeß. Goethe kann uns in der Tat noch gegenwärtig sein: Er hilft uns, uns zu befreien von unserer unmittelbaren Natur,

um uns wieder zu gewinnen in der menschgeborenen und geistig gegründeten Natürlichkeit. Herzensträgheit kann in Goethes Nähe nicht standhalten. Er lehrt uns, den anderen Menschen in seinem eigenen Wesen zu sehen, ihn gelten zu lassen, uns an ihm zu freuen, nicht ihn zu messen an frem-

den Maßstäben. Er hilft uns, uns nicht zu verlieren in der Schwärmerei, nicht in den Illusionen eines Fernen, eines Jenseitigen, eines Zukünftigen, sondern real zu werden. Goethe lehrt uns, daß wir nicht versäumen das einzige für uns Greifbare, das Wirkliche, das für uns gegenwärtig ist. Er bringt uns zur Besinnung, wenn wir verworren sind. Dann

lehrt er uns Distanz zu uns zu gewinnen. Tätigkeit wird uns selbstverständlich für das, was der Tag fordert. Er lehrt uns Maß und Entsagung. Dadurch bringt er uns zur Konzentration auf das für uns Wesentliche. 31

UNSERE

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UND

GOETHE

Wir lernen heller sehen, was ist, werden offener für Menschen und Dinge:

„Ihr glücklichen Augen, Was je ihr gesehn, Es sei, wie es wolle,

Es war doch so schön!“ Ein letztes Nein ist unmöglich: „Wie es auch sei, das Leben, es ist gut“. Wir fühlen durch Goethe alle guten Keime in uns gefördert. Wir atmen die Atmosphäre der Liebe zum Seienden, zu Mensch und

Welt. Wir werden hellhöriger im Horchen auf die Sprache der Gottbeit in allen Dingen.

Aber besinnen wir uns! Übersteigern wir nicht Goethe? Kein Mensch ist vollendet. Kein einzelner Mensch ist der Weg oder zeigt den Weg.

Wir kennen die Empörung gegen Goethe. Zwar brauchen wir kaum zu berühren jene subalternen Ablehnungen des Fürstenknechts, des antirevolutionären Reaktionärs, des illiberalen Konservativen,

des leichtsinnigen Lebensgenießers mit boshafter Medisance, des unpatriotischen Mannes. Mit solchen Angriffen wird Goethe auf Ebenen gezogen, auf denen man sein Wesen nicht mehr schen kann. Die dabei vorgebrachten Tatsachen sind von vornherein in anderer Höhenlage zu ver-

stehen: Wie großartig ist in der Welt absolutistischer Kleinstaaten

sein Verhältnis zu Karl August, menschlich, erziehend, würdig dienend, ringend, dankbar sich bescheidend, — wie durchschaut er die Wirklichkeit der französischen Revolution, erkennt ihre Notwendigkeit, ohne sie in dem Irrsal menschlichen Tuns als Ganzes endgültig zu bewerten — wie ist sein Konservatismus der Wille zur Rettung der Freiheit in der Welt, - wie fern steht er dem Leichtsinn in dem Ernst

seiner, wenn auch nicht in der Erfüllung mit einer Einzigen sich vollendenden, Liebe, - wie ist sein Lebensgenuß geistdurchdrungen unter moralischen Gesetzen, — wie ist seine Härte, seine Ironie fern von 32

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UND

GOETHE

Bosheit, sei es in den Amtsgeschäften oder in der Ordnung seines Haushalts und noch im Unwillen und Mißvergnügen. Ihm eignet nicht schwache Milde, sondern echte Güte. Der Taktlosigkeit zudringlicher Wendungen kann er mit eisiger Zurückhaltung begegnen. Mannigfache Formen von Schutz und Abwehr baut er auf und läßt

sie doch alle durchbrechen. Goethe ist kein Heiliger und kein Übermensch, noch weniger ein Unmensch, und er läßt sich nicht in ein Ideal zwingen, dem er dann etwa Genüge tun sollte. Daß so manchmal ein Wort oder eine Handlung von ihm befremden kann, ist jedesmal eine Aufforderung, die Sinnzusammenhänge besser zu suchen. Wenn wir schnell ablehnen, haben wir uns meist geirrt. Einfach überzeugend wirkt oft, was wir zuerst nicht verstanden hatten,

wie etwa - ein Fall unter hunderten — der Brief an Voigt 1816 gegen die Berufung Schellings nach Jena, der wie ein intriganter, unverantwortlicher Eingriff erscheinen kann und schließlich als tiefe Weisheit nicht nur der Universitätsverwaltung, sondern des eigentlich freien

Geistes angesichts der herrscherlichen Gelüste des Freundes Schelling sich zeigt. Ebenso wahr ist sein Verhalten gegen Fichte. Das vorschnelle Aburteilen Goethe’scher Sätze und Handlungen

ist aufzuhellen. Aber gibt es vielleicht ein Recht zu einer tieferen Auflehnung gegen Goethe?

Es bleibt - wenn kein Mensch vollendet sein kann — die Aufgabe, Goethes Grenzen zu sehen. Die Erfüllung dieser Aufgabe ist unerläßlich für die Aneignung Goethes in unserer Welt, in der wir uns nicht mehr täuschen dürfen, wenn wir nicht völlig ins Nichtige ver-

sinken sollen. Heute sind Wahrheit und Wahrhaftigkeit alles, das einzige gewiß Mögliche. Wagen wir es, nach Goethes Grenzen zu fragen, auf die Gefahr hin, wieder eigenen Beschränktheiten zu ver-

fallen. 1. Goethes schöpferische Gestaltung der Naturanschanung ist unbestritten. Durch seine Morphologie, durch seine Farbenlehre, durch sein Erschauen dessen, was er die Urphänomene nennt, hat er Un-

verlierbares geleistet. Die Wahrheit seiner Aufstellungen hat sich heute durchgesetzt. 33

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UND

GOETHE

Aber diese gesamte Erkenntnis hat nichts zu tun mit der eigentümlichen modernen Naturwissenschafl. Diese, für Goethe in dem Namen und der’Schöpfung Newtons repräsentiert, fand in ihm einen Gegner. Goethe hat nicht nur nicht verstanden, sondern abgelehnt.

Es ist erstaunlich und keine Zufälligkeit, daß Goethe hier mit einer erbitterten Hartnäckigkeit kämpfte und mit einer Leidenschaft, die bis zur moralischen Verdächtigung Newtons ging. Goethe war im Irrtum. Wie ist es möglich, daß Goethe, dieser Mann, der wie kaum einer alles verstand, der grenzenlos aufgeschlossen war, der liebend in allem auch ein Wahres fand, hier wie besessen scheint? Dieser Irr-

tum war die Erscheinung von Goethes Entsetzen vor der heraufkommenden Welt der technischen Naturbeherrschung und vor der

von ihr vorausgesetzten Erkenntnisart. Wir dürfen uns nicht täuschen lassen durch Goethes freundliche Äußerungen über Panamakanal, Suezkanal, Weltverkehr der Zukunft, durch seine Entwürfe

der Kolonisation auf dem dem Meere abgerungenen Boden (am Ende des Faust), der sozialistischen geistigen Kadettenerziehung (in den Wanderjahren) und vieles andere, das als Voraussicht und Bejahung der Zukunft des technischen Zeitalters gedeutet wird. Hier handelt es sich in der Denkungsart Goethes einerseits nur um quantitativ gesteigertes Handwerk, um Massenorganisation, die, seit der Regulierung der Stromtäler am Beginn der Geschichte, schon immer geschehen ist, andererseits um konstruierend spielende Entwürfe ohne

Programmcharakter. Ganz abgesehen davon, daß alle diese Entwürfe Goethes am Ende zweideutig in seiner Wertschätzung bleiben, es ist in ihnen gerade nicht die moderne Welt getroffen oder voraus-

gesagt. Denn die Grundlage dieser modernen Naturbeherrschung ist jene gewaltige Abstraktion von der unmittelbaren Menschen- und Naturwelt (die Goethe so einzig in den Gestalten und Farben begriffen hat, besser als Aristoteles), eine Abstraktion, die von Goethe

schon verworfen wird, wenn er Abneigung gegen Mikroskop und Fernrohr hat. Diese Abstraktion

hat bis in die Gegenwart ihre

Schritte unaufhaltsam voran getan. In Goethes Entsetzen steckte die Wahrheit, daß hier in der Tat heraufkam, was zum Bruch mit der

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UND

GOETHE

gesamten bisherigen Menschheitsgeschichte führen mußte. Goethe, hellsichtiger fühlend als seine Zeitgenossen, erkannte zwar nicht mit

Klarheit diesen Weg, sah weder die Wahrheit noch die Unausweichlichkeit dieses Weges, aber er spürte, daß alles bedroht war, was ihm und was bisher wesentlich und wertvoll war. Die Grenze Goethes ist, daß er sich vor dieser heraufkommenden Welt verschloß, ohne

sie begriffen zu haben, daß er nur Unheil sah, wo der Grund der Zukunft des Menschen gelegt wurde. Die Aufgabe, in dieser neuen Welt den Weg des Menschen zu finden, erkannte er nicht. Daher ist Goethe nach dieser Seite uns in unserer heutigen Welt so fremd. Hier hilft er uns gar nicht. Er kann nur fälschlich von romantisch unwilli-

gen Zeitgenossen beschworen werden gegen das, was längst wirklich geworden und als wahr erkannt ist. Goethes Unverständnis und seine ahnungsvoll schaudernde Verwerfung gegenüber der eigentümlich modernen- wenn auch heute immer noch nur wenigen eigenen — Denkungsart, aus der die Natur-

wissenschaft und Technik großen Stils, anders als alle frühere Teechnik, hervorgegangen sind, das bannt ihn für uns in eine zwar wunderbar geschlossene, aber vergangene Welt. Diese Welt ist verloren

vor dem, was jetzt jedenfalls unser Schicksal ist und was eine Größe des Menschen bedeutet und eine neue unerhörte Aufgabe, die wir ergreifen müssen, wenn wir leben wollen. 2. Es gibt eine Empörung gegen das, was man wohl die barmonische Grundanffassung Goethes nennt, seine heidnische Welt-

bejahung. Denn die Anklage gegen das Leid der Welt, gegen die Herrschaft des Bösen verlangt den Schrei des Entsetzens und erträgt nicht das liebende Einverständnis mit der Welt im Ganzen. Wir haben Situationen kennengelernt, in denen wir keine Neigung mehr hatten, Goethe zu lesen, in denen wir zu Shakespeare, der Bibel, Aschylus griffen, wenn wir überhaupt noch lesen konnten.

Es gibt Grenzen des Menschen, um die Goethe weiß, vor denen er aber zurückweicht. Vor der Tragödie des Aschylus oder vor dem Hamlet steht er mit Bewunderung und Ehrfurcht, aber auch mit Abwehr oder gar mit erleichternder Deutung (wie bei Hamlet). Er be35

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GOETHE

freit sich von Shakespeare. Er verwehrt das Zunahekommen der großen tragischen Gestalten. Er meidet ihren Weg. Es wäre falsch zu sagen, Goethe habe der tragische Sinn gefehlt. Im Gegenteil, aber er fühlte sich zerbrechen, wenn er sich zu nah an diese Grenze wagte. Er weiß um den Abgrund, aber er selbst will nicht scheitern, will Lebensverwirklichung, will den Kosmos. Und auch das weiß er. Er kann die weisen und doch schlimmen Sätze sprechen: was gegen seine

Daseinsbedingungen gehe, das brauche und dürfe ein Mensch nicht als wahr anerkennen, oder er von sich: eher könne er Ungerechtig-

keit als Unordnung ertragen. Bei Goethes Abwehr hat es sich nicht um die Bequemlichkeit eines

die Abgründe verschleiernden harmonischen Glückes gehandelt. Er hat es bezeugt. Gegen den Ätna, der in ihm rast, hat er sich das Maß

erobern müssen. Was er unter Bildung verstand, was ihm die schlichten Worte eingab, er habe es sich sauer werden lassen, und dann die Entsagungen seines Lebens sind ein einziges, nie aufhörendes inneres Handeln, mit dem er doch nicht erreichte, was man Glück nennt. Nicht vier Wochen - alle Stunden zusammennehmend -, sei er in seinem Leben glücklich gewesen, sagt der Greis.

Goethe ist des Entsetzens vor der Welterscheinung Herr geworden nicht durch Selbsttäuschung, sondern durch Fernhalten. Er sieht und berührt das Furchtbare. Aber je näher er diesem Unergründlichen kommt, desto zögernder werden seine Worte. Am Ende verbirgt er im Schweigen. Aber auf dem Wege dahin sagt er hier und da verzweifelte Sätze. Andererseits verwirft er, wenn der Riß im Dasein mit philosophischer Entschiedenheit von einem Denker offen behauptet wird. So lehnt er Kants Wissen vom radikal Bösen un-

willig ab: mit dieser Lehre habe Kant seinen Philosophenmantel beschlabbert. 3. Damit komme ich zu einer Grenze Goethes, deren Erörterung am bedenklichsten ist. Klingt hier in meinen Sätzen ein falscher Ton, so wird alles unwahr.

Es ist die Frage, ob mit Goethes umfassender Menschlichkeit als solcher ein Mangel verknüpft sein muß. Argerlich zwar ist der alte 36

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GOETHE

Vorwurf gegen Goethes Wankelmut in der Liebe: jeder Frau sei er irgendwann treulos geworden -, ärgerlich, weil jede Liebe Goethes so wesentlich und unersetzlich ist —, weil in den Goethe’schen Worten andere Liebende sich verstehen und wiedererkennen wie kaum in den Worten eines Dichters, — weil jede seiner Trennungen unter dem Druck seines Gewissens stand in einem für uns nicht kritisch auflösbaren Geschehen. Und welche Treue gegen jede seiner Geliebten! Welche großartige Treue durch sein Leben hindurch gegen Frau von Stein trotz deren kränkendem Verhalten! Welche Sorge um jeden der geliebten Menschen, welche Unruhe um ihr Unglück!

Es gibt eine wenig beachtete Kritik. Kierkegaard sagt: Gegenüber dem Entschlusse des Verführers und dem Entschluß zur Ehe gibt es noch ein drittes Verhalten in der Liebe: „der Mann faßtgar keinen Entschluß, er verliebt sich, dann hört die Liebe auf, dann vergißt er“. Ein Beispiel für solche Zwitterexistenz sei Goethe, wie er sich

in Dichtung und Wahrheit dargestellt habe. Der Bruch mit der Geliebten sei nicht nur ihr, sondern auch ihm ein Schmerz. Aber Kränkendste sei gerade dieser Bruch, der kein Bruch sei: diese liche und liebenswürdige Verständigung darüber, daß man nun einandergehen müsse. Kierkegaard stellt dann die grundsätzliche Frage, wie weit die

das höfausExi-

stenz des Dichters selbst zur Dichtung werden solle. Goethes Mangel sei, daß er kein Pathos habe. So oft für den Dichter die Situation kritisch werde, springe er ab. So in der Liebe, so überall. So oft ihm ein Lebensverhältnis übermächtig werde, entferne er es von sich, indem er es „dichtet“.

Ist die den Ernst der Existenz beschwörende Konstruktion Kierkegaards absurd oder liegt darin eine Wahrheit? Eine Antwort ist der Natur der Sache nach unmöglich. Man kann nur fragend erörtern,

etwa so: Mit neuen Lebensphasen, Situationen, Aufgaben im Gang des Goethe’schen Lebens, das sich selber als Ganzes zum Kunstwerk wird, muß verlassen werden, was für eine Weile erfüllte. Es gibt nur die Treue der Erinnerung in der Treulosigkeit des Weitergehens. 7%

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GOETHE

Goethe selbst hat das Unbedingte, das notwendig irgendwo gewaltsam und „unnatürlich“ wird, ergriffen — so scheint es — in

seiner Liebe zu Frau von Stein. In diesem Jahrzehnt voller Geheimnisse, dieser Phase der Unerbittlichkeit des Forderns von sich, hat

Goethe vielleicht anders wie vorher und nachher gelebt. Es ist die Zeit der tiefsten Offenbarungen seiner Gesichte und Impulse, der Ursprung seiner Schöpfungen, damals fand er den Glauben an den Adel des Menschen, den Ton der Iphigenie, des „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut . . .“, und eine so geheimnisvolle, unvergeßliche Gestalt wie Mignon. Es ist aber auch die Zeit schließlich wachsender Unerträglichkeit. Indem Goethe das „Unmögliche“ aufgibt - seit der italienischen Reise — verschwindet ihm auch die Eingebung neuer Gesichte von

wirklich gegenwärtiger übersinnlicher Bedeutung, verschwindet der reine unvergleichliche Adel jener Jahre. Es bleibt die Schöpferkraft, die, genährt von jenem Ursprung, in Dichtung und Wissenschaft weiter Unersetzliches in größtem Reichtum hervorbringt, und die in der Altersweisheit sich vollendet, diese wunderbare allumfassende Menschlichkeit, die doch gemessen an dem Vorhergehenden, an Goe-

thes höchster Möglichkeit, auch wie ein Absinken erscheinen kann. Im Sichbewahren seiner Natur unter Verwerfung des Unmöglichen erwächst der ganze, vollendete Goethe. Seit 1787 vollzieht Goethe den endgültigen Eintritt in die gegebenen Formen des Daseins. Er will Boden, er will zu Hause sein,

er will Glück - und findet es im Hausstand mit Christiane. Er verzichtet auf das Unmögliche, aber vollzieht zugleich auch die endgültige Einkehr in die Einsamkeit, in verborgene Verzweiflungen,

in die sich schützende Abkehr von der Welt, die ihm ständig Mißvergnügen bereitet. Es bleibt die Entsagung. Der Schwung des Unbe-

dingten scheint im Vergleich zu vorher auf dem Grunde solcher Erfahrungen tende Menschlichkeit des Verstehens wissenschaft, der späteren Romane, der Selbstdarstellung, der Weisheit. 38

erlahmt. Aber es wächst die sich unvergleichlich ausbreiin den Werken der Naturnie versiegenden Lyrik, der

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GOETHE

Wie es in Goethes Existenz war, wird niemals jemand ergründen. Aber die Erscheinung seines Lebens kann auf den Nachfolger, der mißverstehend Goethe sich zum Vorbild nimmt, so wirken, daß diesem gegenüber Kierkegaards Kritik wahr wird. Sie trifft wohl nicht Goethe, aber gewiß eine Weise der Goethe-Aneignung. Goethe ist unerschöpflich. Er kann nicht klassifiziert werden, weder als Dichter, noch als Naturforscher, noch als Künstler, noch als Schriftsteller, weder als Verwaltungsbeamter, noch als Hofmann,

noch als Politiker. Er war alles und noch mehr. Für unsere Frage nach der Weise unserer Aneignung dürfen wir ihn einen Augenblick

als Philosophen ansprechen. Goethe verwandelt seine Erfahrung nicht nur in Gestalt, sondern auch in Gedanken. Er ist geführt von Reflexion, getragen von einem Unbewußstsein, das unablässig ins Helle des Bewußtseins drängt. Ein

solches Menschsein heißt Philosoph sein. Denn der im Ganzen denkende und sich vergewissernde Mensch ist als solcher Philosoph. Goethe ist dies im höchsten Maße. Goethe kann auf uns wirken wie der Mensch schlechthin. Unendlich bewegt in seinem liebenden Herzen, ständig mit hineingenommen in das Leben, dem er sich nicht verschließt, aber in dem er sich

behauptet, und in dem er durch die Weise des Schweigens oder der Abwehr noch das berührt, dem er keinen Eintritt verstattet, — so ist er wie die Vernunft selbst. Er ist eine Monade, die zwar nur zuläßt,

was ihr gemäß ist, aber als universale Monade sich auch allem Fremden aussetzt, an das er sich doch nie preisgibt. Die Frage nach Goethe als Philosophen ist etwas anderes als die Frage nach Goethes Philosophie. Von Philosophie sprechen wir, in einem engeren Sinne, als von einem besonderen Felde menschlicher

Erkenntnis. Solcher Philosophie gegenüber hat Goethe sich abwehrend verhalten. Entweder ist sie ihm überflüssig: „Ich behauptete, eine abgeson-

derte Philosophie sei nicht nötig, indem sie schon in der Religion und Poesie vollkommen enthalten sei“. 39

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GOETHE

Oder sie ist ihm fremd: „Für Philosophie im eigentlichen Sinne hatte ich kein Organ“ - „Kants Kritik der reinen Vernunft lag völlig außerhalb meines Kreises“ — „Ich mag nichts von der Hegelschen Philosophie wissen . . .“. Oder sie interessiert ihn als dieses Fremde, dann wählt er eine

„Methode, durch die ich die Meinungen der Philosophen eben auch als wären es Gegenstände, zu fassen und mich daran auszubilden suchte“,

Oder er ist ausnahmsweise selbst ergriffen, wenn er sagt: Kants Kritik der Urteilskraft

„bin ich eine höchst frohe Lebensepoche

schuldig... die großen Hauptgedanken des Werks waren meinem bisherigen Schaffen, Tun und Denken ganz analog...“ Die Philosophie im engeren Sinne entdeckt Begriffe und Kategorien, entwirft Seinsbilder, vollzieht Gedankenbewegungen und Vergewisserungen, und dies alles methodisch, mit logischem Bewußtsein, und systematisch, wenn auch nicht immer in Systemen. Hat

Goethe trotz seiner Ablehnung auch an solcher Philosophie teil? Original ist Goethe in der Geschichte der Philosophie durch die von ihm geschaffenen oder geklärten Begriffe des anschaulichen Naturwissens: der Urphänomene, der Metamorphose, der Polari-

tät, der Steigerung. Gestalt und Farbe in der Welt hat er für immer erleuchtet in seiner Morphologie und seiner Farbenlehre. Er ver-

wirklichte die Aufgabe, „jede Bedingung, unter welcher ein Phänomen erscheint, genau aufzusuchen und nach möglichster Vollständigkeit der Phänomene zu trachten, weil sie doch zuletzt sich aneinan-

derreihen.... und vor dem Anschauen des Forschers auch eine Art Organisation bilden, ihr inneres Gesamtleben manifestieren müssen“. Diese die Naturanschauung erfassende Begriffswelt ist ungemein charakteristisch für Goethe. Sie durchdringt sein gesamtes späteres Denken. Er erweiterte sie auf alles Lebendige, auch das geistig Lebendige, ohne daß doch darin eine philosophische Ontologie erblickt werden dürfte. Denn sie ist nur ein Teil seiner Philosophie.

Diese zeigt kein beherrschendes originales Seinsbild, sondern nur eine philosophische Gesamthaltung, ein Sichzurechtfinden im Zu40

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sehen, durch anschauendes Hervorbringen dessen, was im Objekt entgegenkommt. Was immer Goethe erfährt und erblickt, er findet

ein bedeutendes Wort dafür. Es ist, als ob er für jede Lebenslage eine erhellende Außerung hätte, in einer Haltung, die auf das Ganze gerichtet ist, aber nicht als Gegenstand, sondern im Gegenständli-

chen, geführt vom Umgreifenden. Für große Zusammenhänge kehren Grundanschauungen wieder in reichen Abwandlungen für die immer konkreten Erörterungen. Goethe nützt alle Denkweisen, alle Systeme und Schemata, um Sprache zu gewinnen für das jeweils von ihm Erhellte. Er hat bezeugt, was ihm Spinoza bedeutete, er hat Kant, Plotin, Plato gele-

sen. Schelling hat ihm gefallen. Er hat sich angeeignet, was an Gedanken ihm zusagte. Man würde ihn darum mit Unrecht einen Eklektiker nennen. Goethe sammelte nicht miteinander kombinierbare

Gedanken, sondern ließ sie als selbstgedachte neu geboren werden. Sein Neuplatonismus, sein Spinozismus, sein Kantianismus sind freie Verwandlungen. Goethe ist in höchstem Maße Herr seiner Gedanken. Weil Goethe sich an keinen im Satz fixierten Gedanken bindet, sondern stets wieder seinem ursprünglichen Blick vertraut, überläßt er sich unbefangen den Widersprüchen. Beispiele sind zahllos. 1774 spricht er im „Prometheus“ den Trotz gegen Gott aus: „Ich dich ehren? Wofür? Hier sitz ich, forme Menschen nach meinem Bilde, zu genießen und zu freuen sich, und dein nicht zu achten, wie ich!“ 1778 aber heißt es in den „Grenzen der Menschheit“:

„Denn mit

Göttern soll sich nicht messen irgendein Mensch“. -Oder ein anderes

Beispiel, dessen sich Goethe ausdrücklich als einer Palinodie bewußt ist:1821 (in „Eins und Alles“): „Denn allesmuß in Nichts zerfallen“, und 1829 (in „Vermächtnis“): „Kein Wesen kann zu nichts zerfallen“.

Goethe ist nicht zu bekämpfen, sofern er keinen Standpunkt einnimmt. Der Kampf mit ihm ist am Ende vielleicht nur Teilnahme an dem Kampfe, den sein Geist in sich selber führte, nicht anders,

wie unsere Teilnahme an den wenigen großen Philosophen sich vollzieht, denen gegenüber wir nicht besser wissen, sondern durch die wir zu uns selbst kommen. Goethes umfassendes Seinsbewußtsein 41

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GOETHE

scheint, in seiner Offenheit für alles, nichts ausschließen zu wollen,

— wenn er auch Außerordentliches vielleicht faktisch ausschließen muß, worin er sich bescheidet mit dem Satz: „Die himmlischen und

irdischen Dinge sind ein so weites Reich, daß die Organe aller Wesen zusammen es nur erfassen mögen.“

Damit ist wieder die Frage da nach der Grenze Goethes, nun in seinem Philosophieren. Goethe will das Unerforschliche ruhig verehren. Wir dürfen fragen, ob seine Abwehr an den Grenzen dieses Unerforschlichen nicht zu früh ansetzt, ob seine wunderbaren erhellenden Äußerungen an konsequentem Durchdenken gehindert werden durch die Neigung,

das Unbegreifliche als unbegreiflich auszusprechen und damit beiseite zu drängen. Sein Sprechen vom „Dämonischen“ ist ein Beispiel dieser zwar tiefsinnigen, aber im Ganzen durchaus unklar bleibenden Denkungsweise, die zur Folge hat, daß ihm vielleicht mehr als notwendig die Antwort auf letzte Fragen ausbleibt und zu früh durch ein ungefähres, wenn auch ungemein eindrucksvolles, andeutendes oder symbolisches Sprechen ersetzt wird. Es ist eine großartige Unentschiedenheit des undogmatischen Menschen, die weder

die Klarheit seiner praktischen Entschlüsse trübt, noch das ahnungsvolle Berühren der Grenzen verhindert. Er berührt sie intuitiv und staunend, nicht in bestimmter, vorantreibender Begrifflichkeit, nicht in bewußter Klarheit allseitigen Denkens. In dem Brief an Jacobi (1813), in dem Goethe bekennt, daß er an

einer Denkweise nicht genug habe, als Dichter Polytheist,als Naturforscher Pantheist sei, fügt er hinzu: „bedarf ich eines Gottes für

meine Persönlichkeit als sittlicher Mensch, so ist dafür auch schon gesorgt“. Dieser Satz scheint wie beiläufig zuzulassen, aber nicht weiter zu betonen, was in Goethe, soweit sein Leben und Werk sichtbar sind, in der Tat keine beherrschende Macht gewann. Man möchte sagen: Goethe weiß um alles, aber seine Grenze ist

die Abwehr gegen das, was er nicht zur Geltung bei sich kommen läßt, weil es ihn an der vollen Entfaltung seiner Möglichkeiten ver-

hindern würde. Seine Grenze ist die Grenzenlosigkeit des mensch42

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lich Möglichen, die es ihm verbietet, in die Unbedingtheit als endliche Erscheinung anders als vorübergehend einzutreten. Goethes Grenze ist daher nicht ein beiläufiger Mangel, sondern gehört zu der Lebensverwirklichung, die er im Willen zu vollständigem Menschsein wählte. Sein Irren ist ein Zug seiner eigentlichen Wahrheit. So muß er verwerfen, was nicht zu ihm gehört: die moderne Naturwissenschaft, das radikal Böse Kants, das von ihm sogenannte Transzendieren und all das, was er krank nennt. Es ist immer die Grenze, wo Goethe zurückweicht, aber es weiß, -— wo er vielleicht noch

respektiert, aber sich fernhält. Goethes Geschlossenheit aber ist die seines Daseins in der sich entfaltenden Welt seiner Tätigkeit und Bildung, nicht die Geschlossenheit einer gedanklichen Welt. Er gewinnt die schönste Vollendung jeder Phase seines Lebens, jeder Erscheinung, jeder Anschauung und

verläßt sie in der Vollendung. Er kehrt, wo das Gewaltsame, Zerstörende, Unnatürliche droht, zurück in seine Daseinsgeschlossenheit, aber mit der Erinnerung jener Möglichkeiten, die ein wundersames Licht über diese im Grunde doch nicht geschlossene, weil unabschließbare Lebenswirklichkeit Goethes werfen, ihr ungesagte Bedeutungen verleihen.

Fasse ich zusammen, wie eine Goethe-Aneignung, wenn sie unter

der Bedingung uneingeschränkter Wahrhaftigkeit steht, heute aussehen kann. Wir dürfen keinen Menschen vergöttern. Die Zeit des Goethe-

Kultus ist vorbei. Um echte Nachfolge zu ermöglichen, dürfen wir den Blick in den brüchigen Grund des Menschseins nicht verlieren. Unsere freie Freude am Großen, unser Mitgenommenwerden von der Liebeskraft Goethes, unser Atmen in seiner Lebensluft darf uns

nicht hindern, gerade das zu tun, was er selbst verbarg, den Blick _ auf die Abgründe zu werfen. Wir finden bei Goethe gleichsam Er-

holung und Ermunterung, nicht aber die Befreiung von der Last, die uns auferlegt ist, nicht die Führung durch die Welt, die die unsere ist, und die Goethe nicht kannte. 43

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GOETHE

Goethe ist nicht Vorbild zur Nachahmung. Er ist wie andere Große Orientierung für uns, — aber er ist mehr als sie durch sein menschliches Medium, in dem wir reiner werden, klarer werden,

mehr und tiefer lieben. Goethe ist wie eine Vertretung des Menschseins, ohne doch der Weg für uns zu werden, dem wir folgen können. Er ist exemplarisch ohne Vorbild zu sein. Von Goethe gehen Gefahren aus, denen er selbst nicht erlegen ist.

Es ist nur ein Schritt vom Ernst des sich zum vollständigen Menschen bildenden Mannes zur egozentrischen Abschließung von der

Welt, - von der befreienden Übersetzung der Erfahrung in Dichtung zur ästhetischen Unverbindlichkeit, - von der Hingabe an den hohen Augenblick zur verantwortungslosen Lebendigkeit des bloßen folgenden Momentes, — von der Tiefe Goethe’scher Gedanken zur Unschärfe verschwimmenden Denkens, — vom echten Schweben Goethe’scher Weisheit zur Unentschiedenheit des Wesenlosen, — von

der Alloffenheit zur Charakterlosigkeit. Es ist das Verhängnis der deutschen Bildung nach Goethe, daß diese Wege gegangen wurden. So viele wollten jeder ein kleiner Goethe sein. Durch Goethe ließ sich alles entschuldigen. Aber es darf keine Rechtfertigung durch Berufung auf Goethe geben: „Das sagte Goethe“... „Das tat Goethe“... Goethe ist nicht das Ideal. Goethe als Philosoph läßt vielmehr mit seinen Grenzen fühlbar werden, was eine Voraussetzung all unseren Selbstbewußtseins ist: Das Ideal des Menschen ist unmöglich. Die

Endlichkeit des Menschen ist zugleich seine Unvollendbarkeit. —

Für ein Philosophieren der Bescheidung und Redlichkeit, wie wir

es heute versuchen, gibt es die Orientierung nach zwei Seiten des Menschseins, beide unerläßlich für das Offenbarwerden der Wahrheit: Auf der einen Seite sehen wir die Ausnahmen, die als Opfer ihres Zeitalters vor den Abgründen die Möglichkeit des Unbedingten in menschlicher Existenz zeigen, — auf der anderen Seite Goethe,

diese Erscheinung und Selbstdarstellung des Menschseins in einem .

einzigen Ausmaße -gleichsam als ideale Normalität-auf dem Wege

einer sich ständig verwandelnden Lebenswirklichkeit. Die Ausnahme scheitert, sie scheint beschränkt in einem Unbedingten, mit

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GOETHE

dem identisch geworden sie als Dasein zugrunde geht. Goethe findet den Weg des „Stirb und werde“ bis in die tiefsten Erschütterungen und Gewissensbelastungen; er ist nach dem Bruch, nach dem Gestorbensein wieder da zu neuer sich wandelnder Verwirklichung. Goethe entschied sich für die Verwirklichung eines vollen Menschenlebens,

er ist kein Opfer wie Kierkegaard und Nietzsche. Wir aber können weder Nietzsche noch Goethe entbehren. Beide

bringen als Philosophen kein System. Beide scheinen sich in unendlichen Aphorismen ihrer Äußerungen zu zerstreuen, beide scheinen sich ständig zu widersprechen, beide wirken im Element des Den-

kens und der Phantasie, der Begriffe und der Bilder, der Wissenschaft und Dichtung, beide lassen ein verborgenes Band des Ganzen

ahnen, ohne daß man es objektivieren kann. Beide lockern uns auf, bringen uns in Bewegung und Frage, lassen in uns bis dahin unbewußte Keime wachsen. Aber Nietzsche und Goethe sind unendlich verschieden. Nietzsche zwingt ständig zur Verneinung, durchschreitet alle Nihilismen, drängt gewaltsam zu seinen jeweiligen Positionen, lebt in einer Atmosphäre der Aggressivität, der Verzweiflung, der Lieblosigkeit, des wahnhaften Glaubens, er erregt Kampf. Er quält uns, und wir lassen uns quälen, weil wir uns auf dem Wege zur Wahrheit uner-

setzlich durch ihn gefördert sehen. Goethe dagegen lebt aus der Bejahung, er liebt die Welt, das Leben, die Dinge und die Menschen,

er drängt zur Versöhnung gen; die Atmosphäre des alles, was er sagt. Daher Goethe zu greifen, um die

und zum Ausgleich, fördert VermittlunWohlwollens und der Güte durchdringt ist es so wohltuend, immer wieder zu eigenen Impulse zur liebenden Anschau-

ung, zum versöhnlichen Bejahen, zur Vernunft und Nüchternheit, zur Aufgeschlossenheit für den Reichtum der Welt und des Menschen zu kräftigen, wenn sie in uns zu erlahmen drohen.

Die Frage ist: Wollen wir Goethes Grenzen als unsere eigenen, um darin nach Kräften den ganzen Reichtum Goethes zu erneuern?

Treffliche Menschen glauben noch heute, mit dieser Humanitas sich identifizieren zu dürfen und nichts Besseres erstreben zu können, 45

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GOETHE

als darin im Umgang mit Goethe zu wachsen. Wir glauben es nicht. Obgleich wir so unendlich viel weniger sind als Goethe, gerade die

Goethe’schen Grenzen haben wir durchbrochen, gerade da liegt in unserem Zeitalter für uns als die je Einzelnen eine unumgängliche

Aufgabe. Hier liegen die Fragen, die uns vorantreiben. Vor uns steht, wenn wir geistig leben werden, eine Revolution der Goethe- Aneignung. Der früheren Aneignung verdanken wir Außerordentliches in der Bewahrung und Reinigung der Dokumente, der

Sicherung der Überlieferung, der bequemen Zugänglichkeit alles dessen, was von Goethe kommt, darin ist sie vorbildlich und fortzu-

setzen, — aber ihre Goethebilder sind bei allem Respekt nicht zu übernehmen, und ihr Goethekult ist nicht fortzusetzen.

Hier nun zeigt sich ein wunderliches Problem. Wie kann uns nahe sein und unserem Leben unentbehrlich, was wir selbst nicht sind

und nicht werden können? Wie können wir in der Anschauung von etwas leben, uns durch es bilden und erziehen lassen, ohne daß wir ihm nachstreben?

Mit dem immertiefer werdenden Abgrund zwischen uns und.aller früheren Geschichte wird dies allgemein eine Grundfrage unseres Lebens: Wie kann etwas, das ganz und gar vergangen und unwiederholbar ist, das wir nicht hervorbringen und nicht fortsetzen können, uns doch in der Erinnerung zu eigen sein, ja uns Raum, dann

Maßstab, schließlich Bewegungsantrieb werden? Wie kann, was an Kunst, Dichtung und Philosophie einst war, von uns aufgenommen werden weder in traditionalistischer Dogmatik noch in relativisti-

scher Indifferenz noch in ästhetisch unverbindlicher Ergriffenheit, sondern als Anspruch an uns, der Folgen hat für unser ganzes Wesen?

Wir wollen nicht mehr verwechseln. Auch unsere Philosophie ist heute keine originale große Philosophie, aber erst recht nicht die rationale Wiederholung vergangener Lehrstücke. Vielmehr ist sie das Organ der Aneignung des Vergangenen, darum zwar karg, aber gegenwärtiges Leben, zwar bescheiden, aber mit dem empfindlichen

Gewissen der Wahrhaftigkeit.

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Solche Philosophie aber geschieht nur im inneren Handeln und dieses immer nur im je einzelnen Menschen. Im einzelnen Menschen liegt Ursprung und Entscheidung. Nur der Einzelne vollzieht die Aneignung Goethes. Der alte Goethe sagte: „Meine Sachen können nicht popular werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, — nur für einzelne Menschen, die

etwas Ähnliches wollen und suchen.“ In der Tat, nicht popular in Massenpropaganda, — wohl aber für unbegrenzt viele Einzelne, für einen immer größeren Teil der Bevöl-

kerung, deren doch jeder ein Einzelner ist. Ich bin am Ende. Erlauben Sie mir zuletzt noch eine Nutzanwendung. Der seit kurzem in Gang befindliche, für uns so notwendige Wiederaufbau des Goethehauses ist, so scheint es, voller Entsprechungen zu unserer künftigen Goethe-Aneignung. Es wird nicht mehr das alte Haus sein. Die alte Welt ist endgültig

verloren, wir müssen über einen Abgrund hinüber die Erinnerung festzuhalten versuchen. Es wird eine Imitation sein mit der Richtigkeit der Raumverhältnisse, der Durchblicke, soweit möglich auch der Profile, Tapeten, Stukkaturen, Schnitzereien, alles neu und rechter Weise als neu und frisch erkennbar. Das Fluidum des Alten war etwas ganz anderes.

Wir leben nicht mehr in der alten Welt. Unsere Erinnerung wird durch die Zeit getragen wie in einem Modell, das als Kostbarkeit hergestellt wird, um es mitzunehmen im schmalen Gepäck bei unserer Fahrt durch die Sintflut in eine neu zu gründende Welt. Das Haus wird allein stehen in einer Wüste von Ruinen, vielleicht mit anderen darum erbauten musealen Gebäuden, vielleicht bald inmitten moderner Stadtwohnungen ganz anderer Bauart. Das uns Ferne des Alten wird in seiner Absonderung klar. Um so entschie-

dener zeigt sich der Wille, in unserer von ihrem Grunde gelösten Welt festzuhalten an dieser hohen Überlieferung, um einer neuen Goethe-Aneignung zu dienen. 47

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GOETHE

Aber der Neubau wird nicht nur ein Modell sein. Es werden Reste des alten Hauses eingebaut werden, ein Fenstergitter vielleicht und Bohlen und mariche Steine. Der Eckstein wird noch liegen, vor dem der Knabe Goethe, neben seinem Vater stehend, die Formel sprach: „Ich gedenke und wünsche, daß der Stein nicht eher als mit Ende

der Welt verrucket werde.“ Das Haus wird auf denselben Grundmauern stehen,an dem Orte,an dem Goethe geboren und aufwuchs,

uns vertraut aus „Dichtung und Wahrheit“. Wir haben also doch auch einen Rest realer Erinnerung, etwa wie ein Steinpflaster in Syrakus uns ansprechen kann, weil Plato wahrscheinlich darüber geschritten ist oder Äschylus. So ist der Ort des Goethehauses eine elementare Realität, die in jedem Falle, ob in Ruinen oder im Neubau, bleibt. Dieser Ort darf weder eine Reliquie noch eine Kult-

stätte sein — beides wäre Goethe so völlig unangemessen —, wohl aber ist er ein mit Ehrfurcht zu betretender Boden. Das Wesentliche aber ist die auf solchem Boden bereitete Stätte von Anschauung und Forschung. Die Überlieferung von Goethe und das Verständnis seiner Werke bedarf des Studiums. Den Nachkommenden ist ein Maximum von Anschauung zu retten, daß sie Bescheid wissen können in dem, was das Goetheverständnis erleichtert, wenn nicht überhaupt erst möglich macht. Das ist, ob wir es

beklagen oder nicht, das heute Unumgängliche im Verhältnis zum Alten. Wer heute mit Goethe lebt, vollzieht unwillkürlich auch alsbald einen Ansatz zur Goetheforschung.

Goethe lebt für uns im Wort. Weil dies RER: ist, müßten vor allem Goethes Werke, Briefe, Gespräche jedermann zugänglich sein und sei es in den vergänglichsten Ausgaben. Alles andere ist nur Hilfsmittel, auch das Goethehaus und die Goetheforschung. Das wiedererbaute Goethehaus wird daher sinngemäß den Charakter

haben eines Museums und eines Werkzeuges der Goethephilologie, die für das Goetheverständnis um so unerläßlicher wird, je weiter

sich die Zeit von Goethe entfernt. Hier dient der die Sache liebende Architekt der Philologie. Längst war dieser Weg zum Musealen beschritten, längst daher beim Besuch der Goethehäuser in Frankfurt 48

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und Weimar auch ein Gefühl der Unlust nicht zu entfernen. Jetzt ist die letzte Konsequenz da. Dem entspricht aber die heutige Goethe-Aneignung, die zur reinen und vollen Erfassung erst kommt auf dem Umweg über Goethe als Forschungsgegenstand. Der nüchterne museale Charakter ist das allein noch Mögliche. Würde unter den Hunderttausenden von Trümmerhaufen Europas dieser mit einer Tafel versehen: „Hier stand Goethes Geburtshaus“,

das schiene wie eine Aufforderung zur Ruinensentimentalität, die uns im furchtbaren Ernst der Ruinen fremder als je und Goethe ganz ungemäß ist, — oder es wäre wie eine Anklage, die wir in der Grundstimmung, zu der uns Goethe bringt, nicht dulden. Wo Goethes Geist atmet, ist Freiheit des Wortes, gibt es Gründe und Gegengründe. Ein schönes Symbol auf dem Weg unserer Goethe-Aneignung ist es daher, daß die Frage des Wiederaufbaus mit rücksichtsloser Kritik im Für und Wider erörtert wurde. Es ergibt sich: Der Wiederaufbau ist eine Ausnahme. Die Einzigkeit Goe-

thes tritt in ihrer Bedeutung hervor auch noch durch Verletzung von Regeln, wenn wir ihm dienen. In der Situation der Verwüstung unserer realen Überlieferung wird eine Chance für das Wissen von Goethe ergriffen. Die Kritik hat dafür gesorgt, daß dies redlich und offen mit vollem Bewußtsein geschieht. Man weiß, was man tut. Dies Tun aber kann nur gelingen, wenn der Wiederaufbau erwächst aus der Liebe, der Kenntnis, dem Können in der Gemein-

samkeit von Philologe und Architekt. Wo Goethe gilt, da gilt die Persönlichkeit. Daran wird in Frankfurt kein Zweifel sein. Ich hoffe verständlich gemacht zu haben: Daß die Stadt, die sich an Goethe als ihren größten Sohn immer wieder erinnert, mir den Goethepreis verliehen hat, — keine Ehre konnte mir erwünschter und zugleich verpflichtender sein. Mit Goethe verknüpft zu werden, unter seinen Anspruch gestellt zu werden, aufgerufen zu sein, Goethe zu rühmen, das trifft den Deutschen auf eigene Weise: er fühlt sich gleichsam zu Hause, wird ermutigt und glaubt sich in seinen

guten Kräften gesteigert. Ich danke Ihnen. 49

GOETHES

MENSCHLICHKEIT 1949

Die Welt feiert Goethe. An ihm richten sich auf die Deutschen. In weiterem Umkreis wird die deutsche Sprachgemeinschaft sich in

Goethe ihrer Zusammengehörigkeit bewußt. Auf ihn blicken verehrend alle gebildeten Völker der Erde. Unerschöpflich ist von Goethe zu reden, dem Lyriker, dem Dichter des Faust, dem Naturforscher, dem Philosophen und so fort. In unserer Situation der Völkerzerrissenheit fragt man, was in Goethe

alle Menschen gemeinsam angehen könne. Für diese Frage ist vielleicht ein angemessenes Thema seine Menschlichkeit, das heißt die Weise, wie er eigentliches Menschsein sah und war. Es liegt vor Augen in der Wirklichkeit seines Daseins und in seinen Werken, die er selbst „Bruchstücke einer großen Konfession“ genannt hat. Er

ermächtigt uns, ihn so zu sehen: „Wenn man der Nachwelt etwas Brauchbares hinterlassen will, so müssen es Konfessionen sein; man muß sich als Individuum hinstellen, . . . und die Folgenden mögen sich heraussuchen, was ihnen gemäß ist.“ Es ist, als ob in Goethe einmal ein Mensch ganz wirklich werden, „weite Welt und breites Leben“ gewinnen sollte. Er entfaltete sich durch alle Altersstufen und ließ damit zugleich die Welt in ihren Erscheinungen, in Höhen und Tiefen sichtbar werden. Es ist, als ob

sie einmal von einem Menschen ohne Einschränkung wahrgenommen und geliebt worden sei. Als Goethes Augen sich öffneten, da gewannen Welt und Mensch im Deutschen ihre Sprache, wurde, was ist, Schönheit und Gestalt. Aber man zweifelt, ob Goethe heute noch etwas bedeuten könne. Er selbst hat eine Welt vorausgesehen, in der Menschen wie er 50

GOETHES

MENSCHLICHKEIT

keinen Raum mehr haben. Seit den Freiheitskriegen ist er endgültig der weltgeschichtlichen Wende gewiß. Es wächst sein Gefühl von der gänzlichen Wertlosigkeit der Gegenwart. „Niebuhr hat ganz recht gehabt, wenn er eine barbarische Zeit kommen sah. Sie ist schon da“, heißt es. Von dem vor ihm liegenden 19. Jahrhundert erwartet er: „Eigentlich ist es das Jahrhundert für die fähigen Köpfe, die leicht fassenden praktischen Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit

ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich nicht zum Höchsten begabt sind . . . wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die letzten sein einer Epoche, die so bald nicht

wiederkehrt.“ Schlimmer noch, die Zeit ist hoffnungslos: „man mag es ein Glück heißen — sagt er -, wenn junge Leute nicht einsehen, daß jetzt eigentlich niemand geboren werden kann, der dem Tag und der Stunde gewachsen wäre.“ Goethes spielende, politisch-pädagogische und technische Entwürfe — darin auch das Lob des Despotismus und der Diktatur -

sind keine Programme, sondern teils Maßstäbe, teils Ironien, teils Schreckensbilder. Er sieht in Kürze die Zeit kommen, wo Gott keine Freude mehr haben wird an der Welt und „sie zusammenschlagen wird zu einer

neuen Schöpfung“. Wir leben in der von Goethe geahnten Katastrophe, unendlich fern von seinem Zeitalter. Müssen wir darum Goethe selber verlieren? Oder gibt es in uns heute noch Möglichkeiten, denen Goethe zu Hilfe kommt? Die Fülle des in Werken, Briefen, Gesprächen, Berichten Überlieferten läßt Goethe gegenwärtig werden, als ob man

mit ihm

sprechen, ihn fragen könnte und Antwort erhielte. Immer neue Entdeckungen macht, wer mit Goethe lebt. Aber es ist unmöglich, ihn zu überblicken. Er ist in Wirklichkeit ‘ immer noch mehr und anders. Er läßt sich nicht einfangen. Es bleibt 51

GOETHES

MENSCHLICHKEIT

seine unendliche Interpretierbarkeit mit den neuen Augen, die aus anderen Zeitaltern ihn zu erblicken vermögen. Versuchen wir, uns wesentlich erscheinende Grundzüge herauszuheben. Goethe ist der reichste Mensch der neueren Zeit. Was er erfuhr und umfaßte, scheint grenzenlos. Seine empfindliche Reizbarkeit ließ kaum etwas gleichgültig an ihm vorübergehen. Der Jüngling wie der Mann und der Greis gerieten an die Grenze des Nichtmehrertragenkönnens. Und dazu: von allen Verbrechen - bekennt er - könne er sich denken, daß er sie begangen habe, alle Laster sehe er als möglich in sich selber.

Aber schon der Knabe stand diesem Drängen in sich beobachtend gegenüber. Ein heller Blick begleitete seine Leidenschaften. Seine Bewußtheit zerstörte Illusionen, konnte ihm das Glück verderben. Und sie wurde zur unerbittlichen Kontrolle seiner selbst,

zur Herrschaft über sich. Diese Spaltung hat einen vielfachen Sinn: von Erleben und Reflexion, von Unmittelbarkeit und Vermittlung, von Bejahen und Verneinen, von Trieb und Selbstbeherrschung. Sie hat eine ihrer dichterischen Gestalten in Faust und Mephisto. Faust ist die Fülle des Drängens und der höchsten Ziele, Mephisto die Selbstreflexion und

das Desillusionierende. Ruft Faust in seinem Aufschwung: „Was bin ich denn, wenn es nicht möglich ist, Der Menschheit Krone zu erringen“,

folgt gleich Mephistos kalte Feststellung: „Du bleibst doch immer, was du bist.“ Goethe erkannte Amperes Deutung an, der „nichtbloß das düstere

unbefriedigte Streben der Hauptfigur, sondern auch den Hohn und die Ironie des Mephistopheles als Teile meines eigenen Wesens bezeichnet“. Goethes Leben ist der Entwicklungsprozeß, in dem alle Gegensätze, Polaritäten, Widersprüche beschritten, aber auch zur Ein52

GOETHES

MENSCHLICHKEIT

heit zurückbezogen werden. Der Reichtum Goethes bedeutet, daß er der in Gegensätze gespannteste Mensch ist.

Er will nichts versäumen — und er beschränkt sich. Er will allem Raum geben — und er entsagt. Er stürzt sich in Sturm und Drang -

und er gewinnt Ordnung und Disziplin. Aus den Gegensätzen heraus steigert er sich. Daher ist sein Leben ein ständiges Sichnichtgenügen. Der dunkle

Drang hört nicht auf, die völlig helle Bewußtheit wird nicht für immer erreicht. Die Einheit der Gegensätze findet keine Vollendung.

Immer muß es weiter gehen. „Ich habe es mir ein halbes Jahrhundert lang sauer genug werden lassen. . . immer gestrebt und geforscht und getan, so gut und

so viel ich konnte.“ Dieses Menschsein ist nicht ein eindeutiges Gutsein, ist nicht In-

ordnungsein und nicht Harmonischsein, sondern ist Suchen und Sichwiederherstellen. Daher die Forderung Goethes: Der Mensch „muß sich kontrollieren; der bloße nackte Instinkt geziemt nicht dem Menschen“. Auf dem Grunde zerreißender Möglichkeiten rettet er sich die Einheit. Auf dem Vulkan der Leidenschaften bändigt er sich durch selbsterworbenes Maß. Was immer ihm begegnet, sucht er in

Menschlichkeit zu übersetzen. Solch Menschsein in dem ganzen Reichtum seiner Erfüllung durch eine Welt zu sehen, ist außerordentlich.

Es ist eine Lust, Goe-

the zu begegnen bis in seinen Alltag, sich zu vergewissern, daß solch ein Mensch wirklich da war, seine Lebensstufen hindurch gleichsam mitzuerleben. Wir begegnen dem Jüngling, der bezaubert und entflammt, dem Manne, dessen Ernst in Arbeit und Tätig-

keit ermutigt, dem Greise, dessen Weisheit und Ruhe Ehrfurcht erweckt und unerschöpflich belehrt. Der Umgang mit Goethe aber vertieft sich, wenn wir mit ihm

eintreten in die Verstrickungen des Menschseins, wenn wir Goethes ‘ Antworten in uns von neuem zu Fragen werden lassen. Sehen wir

an Beispielen, wie das geschehen kann. 53

GOETHES

MENSCHLICHKEIT

Das rechte Leben des Menschen, der auf dem Wege ist, der sucht und nicht hat, ist Tätigkeit. Unzählige Stellen sprechen es aus: „Mir ist alles verhaßt, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren.“

„Auch in den Wissenschaften kann man eigentlich nichts wissen; es will immer getan sein.“ » Wie kann man sich selbst kennenlernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln.“ Aber, was so einfach klingt, ist gar nicht eindeutig. Faust ist die Tragödie der unbedingten Tätigkeit: mit der Verherrlichung des unendlichen Begehrens, Strebens und Handelns zeigt Goethe zugleich das Unheil, das in ihnen liegt.

Mephisto sieht die Seite der Leerheit schon gleich zu Anfang: „Den schlepp ich durch das wilde Leben... . Er soll mir zappeln, starren, kleben In seiner Unersättlichkeit“ und am Ende:

„Ihn sättigt keine Lust, ihm gnügt kein Glük ... . Den letzten, schlechten, leeren Augenblick, Der Arme wünscht ihn festzuhalten.“ Faust dagegen ist sich des hohen Zieles gewiß: „War eines Menschen Geist in seinem hohen Streben Von deinesgleichen je gefaßt? . . . Grenzenlos soll seine Tätigkeit sein: Sie steigert in der Folge ihren Li3

Sinn. Sagt Faust am Anfang: „Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit,

Ins Rollen der Begebenheit . . .“, so gilt später viel mehr, nämlich: „Zum höchsten Dasein immer

fortzustreben“.

Aber die Tätigkeit jeder Art und jeden Ranges wird in fragwür-

diges Licht gestellt: Fausts Unternehmungen scheitern ohne Ausnahme. Mit der Tätigkeit verbinden sich schuldvolle Wirkungen. Der Zerstörung von Gretchens Leben entspricht die Vernichtung der 54

GOETHES

MENSCHLICHKEIT

Philemon und Baucis am Ende. Fausts Tun ist unverändert ruinös geblieben, als der Schauplatz seiner Tätigkeit sich zur Welt erweitert hat. Angesichts des Unheils,

das in der so hingerissen ergriffenen

Tätigkeit liegt, läßt Goethe drei Möglichkeiten des Heils fühlbar werden: Erstens: Goethe weiß:

„Unbedingte Tätigkeit, von welcher Art

sie sei, macht zuletzt bankerott.“ Soweit im Faust solche unbedingte Tätigkeit ist, endet sie in Vernichtung, Mord, Raub, Versklavung, Anzünden des Gotteshauses. Wahre Tätigkeit muß bedingte Tätig-

keit bleiben. Deren Charakter ist Kontinuität, Reifen, „Folge haben“, Sie bleibt „Mittelglied einer produktiv aufsteigenden Kette“,

Zweitens: Heilsame Tätigkeit ist überwölbt von Kontemplation. Wahrnehmen können - das, was ist, in einem „poetischen Zustand“ sich offenbar werden

lassen — durch die Dichtung frei geworden

sein — das bringt das Umgreifende, worin das Tun geborgen und bedingt sein kann. Diese Kontemplation Goethes ist nicht mystische Versenkung außerhalb der Welt, ist nicht das ihm so verhaßte spekulative Transzendieren, sondern ist das Erfassen der Gegenwart Gottes in der

Wirklichkeit selber. Drittens: Die Erlösung ist möglich von oben durch die ewige Liebe, Es ist wunderlich, wenn

Hermann

Grimm

angesichts der

technischen Landgewinnung „die höchste Verherrlichung menschlicher schaffender Tätigkeit in Fausts Lebensausgang“ sieht. Noch wunderlicher, wenn die totalitäre Rücksichtslosigkeit des Diktators Faust für die bejahende Prophetie unserer Welt angesprochen wurde. Falsch ist die Formel von Faust als dem „Evangelium der Erlö-

sung des Menschen durch Tätigkeit“. Nein, nicht durch Tätigkeit wird er erlöst, vielmehr sagen die Engel: „Wer immer strebend sich bemüht,

Den können wir erlösen.“ 55

GOETHESIMENSCHLICHKEIT

Nicht die Tätigkeit als solche also, sondern jener Zug ın ihr, der

nicht unbedingte Tätigkeit, sondern strebendes Sichbemühen, Suchen des eigentlichen Seins oder der Gottheit ist, ist die Voraussetzung

der Erlösung, die unbegreiflich von oben erfolgt. Die Frage nach der Bedeutung der Tätigkeit wurde also zur Frage nach dem Bösen. Als was sieht es Goethe? Versuchen wir eine Antwort durch Faust-Interpretation, obgleich wir wissen, daß solche Interpretation keinen endgültigen Abschluß finden kann. „Der Welt- und Menschengeschichte gleich“ — sagt Goethe von seiner Dichtung - „bietet das zuletzt aufgelöste Problem immer wieder ein neues, aufzulösendes dar“, und weist den Leser darauf, „aus

Miene, Wink und leiser Hindeutung“ zu verstehen. „Er wird sogar mehr finden, als ich geben konnte.“ Goethe zeigt das Böse durch die Zweideutigkeit in Fausts Handeln. War nicht von Anbeginn die fälschende Übersetzung „im An-

fang war die Tat“ statt: „im Anfang war das Wort“ schon Ausdruck der ersten Schuld, in die sich Faust immer von neuem verstricken wird, oder war sie ein Symbol der menschlichen Aufgabe,

Aufschwung aus passiver Betrachtung zu fruchtbarem Tun zu gewinnen? Faust verbindet sich mit dem Teufel, aber er behält sich vor, sei-

nerseits ihn zu lenken und ihm nicht zu verfallen. So vermessen wie dies Zutrauen zu sich selbst ist, war schon die Zuwendung zur Magie, die zusammenbrach und jetzt mit Mephisto in neuer Gestalt

ergriffen wird. In beiden Fällen gibt Faust die „Kontrolle“ preis, um so mehr, als in der Folge sein ungezügeltes Begehren, sein Eigenund Machtwille, seine Selbsttäuschungen, seine übereilte Unbeson-

nenheit immer wieder der entscheidenden Mitwirkung des Teufels Raum läßt. Faust will nie geradezu das Böse. Aber er läßt es geschehen. Er wollte weder Gretchen vernichten, noch ihre Mutter vergiften, noch Philemon und Baucis töten, noch die Kapelle anzünden. Das Nichteinstehen ist die Zweideutigkeit. Er hat es nicht beabsichtigt, er hat 56

GOETHES

MENSCHLICHKEIT

es nicht gewußt. Aber er war es, der es bewirkte, weil er die Kon-

trolle verlor, die Magie und den Teufel zur Hilfe aufrief, sich nicht an Menschenmaß hielt. Goethe steigert die Zweideutigkeit im Schluß des Faust. Unmittelbar bevor die Sorge ihn erblinden macht, kommt Faust zu der sein ganzes unheilvolles Leben durchhellenden Einsicht: „Noch hab ich mich ins Freie nicht gekämpft. Könnt ich Magie von meinem Pfad entfernen, Die Zaubersprüche ganz und gar verlernen, Stünd ich, Natur, vor dir ein Mann allein, Da wärs der Mühe wert, ein Mensch zu sein! Das war ich sonst, eh ichs im Düstern suchte .. .“ Ein Mensch zu sein, das hieße in den Maßen des Endlichen Mög-

liches mit wirklichen Kräften zu ergreifen. Aber Faust kann es nicht mehr. Zwar angesichts der Gefahr durch die „Sorge“ sagt er zu sich: „Nimm dich in acht und sprich kein Zauberwort!“ und besteht dann das aktive Erdulden des natürlichen Menschseins im Erblinden. Aber er verwandelt sich nicht mehr. Vielmehr läßt Goethe mit einer Erbarmungslosigkeit, die wie Hohn anmuten kann, seinen Faust zum Schluß demütigen in den Grenzen des endlichen Menschseins. Dem blinden Faust läßt er noch die Illusion seines Schaffens, seines Be-

fehlens, seines Übermuts: „Daß sich das größte Werk vollende, Genügt ein Geist für tausend Hände“, während, was Faust als Arbeit an Kanälen und Deichen zu hören

meint, in der Tat das Schaufeln seines eigenen Grabes durch die Lemuren ist.

Während er in gegenstandsloser Vision davon redet: „auf freiem Grund mit freiem Volke stehn“ — „nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen“,

läßt ihn Goethe gerade das Gegenteil tun, nämlich frohlocken: „Es ist die Menge, die mir frönet“,

und dem Mephisto befehlen, Arbeiter zu schaften: „Bezahle, locke, presse bei.“ 57

GOETHES

MENSCHLICHKEIT

Goethe sieht das Böse ohne Konzession und enthüllt es in den immer andern Zweideutigkeiten des faustischen Handelns. Den Ernst der Alternative aber zwischen Gut und Böse läßt er durch das schlichte Gemüt offenbar werden: einzig ergreifend in Gretchen, die ihre Rettung durch Faust verweigert, weil Mephisto bei ihm ist - eindrucksvoll in Baucis, die die Teufelei der technisch-

magischen Landgründung Faustens durchschaut. Die Wahrheit liegt bei diesen einfachen Menschen. Und nun der große Sprung zur metaphysischen Aufhebung des Bösen. Was bedeutet Fausts Rettung?

Die Gnade trifft ihn schon in der Welt. Das unbewußte Gute in ihm wendet sich ständig gegen Mephisto, behauptet gegen ihn den

Gehalt seiner Liebe, seines hohen Sinnes, revoltiert — immer zu spät — gegen dessen unheilvolle Taten. Das Böse in Faust heißt zuletzt der „Erdenrest“. In der geeinten

Zwienatur des Menschen ist er zwar unablösbar. Aber Gott und nur Gott selbst kann ihn ausscheiden. Erst nach dem Tode erfolgt die Reinigung.

Faust wird dem Teufel entwunden. Aber seine Erlösung ist nun von Goethe selbst zweideutig begründet: ist das immer strebende

Sichbemühen der Erlösung würdig als ein reines Ethos oder als eine Kraft der monadischen Entelechie jenseits von Gut und Böse? Fausts Verbrechen scheinen plötzlich wie nichts zu verschwinden. Man kann denken an Goethes Verse über Napoleon: „Am jüngsten Tag, vor Gottes Thron Stand endlich Held Napoleon...“ Der Teufel hält das Sündenregister bereit, Napoleons Verbrechen, die Tatsachen sind unwiderleglich. Aber der Herrgott: „Wiederhols nicht vor göttlichen Ohren! Du sprichst wie die deutschen Professoren.“ Das Böse ist aufgehoben durch Gottes Willen, weil es in einem

Höheren gar nicht mehr böse ist. Ein merkwürdiges Wort von Goethe über seinen Faust ist überliefert. „Das Böse steht dem Guten gegenüber, mithin darf nie der 58

GOETHES

MENSCHLICHKEIT

Gegensatz zum Bösen, nämlich das Gute fehlen... . Faust, ein Destil-

lator des unsichtbar Dämonischen in jeglichem Leben und Treiben, ein Aufdecker schlimmer Zukunft und gut scheinender Gegenwart, und so umgekehrt! - ein gewaltiger Prediger des ‚Richtet nicht‘.“ Das Böse verliert seine Schärfe, es wird ein notwendiges Element

des Guten selber. Es hat keine selbständige Macht. Dem entsprechen viele Goethe-Worte: „Die Welt ist eine Orgel, deren Bälge der Teufel tritt.“ „Das Dä-

monische ist als ein Werkzeug einer höheren Weltregierung zu betrachten.“ Das Böse gehört zum Menschen und hat immer sein Gutes. Es ist nur das Negative, unumgänglich als Stachel des Positiven. Der Teu-

fel ist nicht ein Gegner, sondern ein Diener Gottes. Des Menschen Tätigkeit, allzu leicht erschlaffend, braucht den Reiz dieses Gesellen.

Gott sagt zu Mephisto: Ich habe deinesgleichen nie gehaßt. Mancher hat sich gegen Goethe empört, der den Teufel so gutmütig, so harmlos, so ohnmächtig erscheinen lasse. Goethe steht gegen Kant - in der Reihe der Denker Plotin, Nicolaus von Kues, Spinoza, Hegel, denen das Böse nichtig geworden ist.

Er möchte uns befreien von der furchtbaren Alternative desGuten oder Bösen, von dem ständigen Urteilen und Verurteilen, möchte uns befreien zur Weite der liebenden Vernunft. Billig zwar wäre es

und ein Mißbrauch der metaphysischen Anschauung, allen Dingen zwei Seiten zu geben und mit dem lässigen Sowohl-als-auch alles zu nivellieren. Schwer vielmehr und über menschliche Möglichkeit hin-

ausgehend ist der Anspruch Goethes: liebend, ohne Antasten der gültigen Normen, das Wirkliche, es in seiner Ganzheit als Eines, es

schon mit göttlichen Augen zu sehen. Kein Böses und kein Unheil der Welt kann Goethe die Daseinsfreude nehmen. Unerschütterlich ist sein Vertrauen zum Sein. „Wie es auch sei, das Leben, es ist gut.“

„Am Sein erhalte dich beglückt.* „Ihr glücklichen Augen,

Was je ihr gesehen, 59

GOETHES

MENSCHLICHKEIT

Es sei, wie es wolle, Es war doch so schön.“ Das ist der Goethesche Blick. Seiner Liebe scheint sich das Wesen

der Dinge zu öffnen. Ein wunderbares Licht breitet sich über alles. Frei geworden von Widerwillen und Haß, vermag Goethes Auge hell und gütig alles Seiende in seiner Reinheit zu entdecken. Es macht den Menschen besser, da dieser ins Unendliche zu dem werden kann, als was Goethe ihn sieht. Darum die Goethesche Gewißheit, daß alles sich wiederherstellen

muß, auch aus den schrecklichsten Irrungen: „Alle menschlichen Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit.“

Wie Goethe den Menschen sieht, des Menschen Tätigkeit und das Böse, das ist Philosophie. Aber dieses Philosophieren Goethes schließt sich nicht in einem rationalen System, scheint vielmehr jeden

möglichen Standpunkt einnehmen zu können. Für alles scheint man Zitate aus Goethe zur Verfügung zu haben. Fähig zur Vielfachheit von Anschauungen und Symbolen, wahrt er sich die Freiheit, je nach Situation zu denken, etwa Pantheist als Naturforscher, Polytheist als Dichter, Monotheist als sittlicher Mensch zu sein.

Aber es geht durch sein Denken von früh an eine Vorliebe für die Systeme, die die Gegensätze auflösen und Harmonien stiften. Das neuplatonische Ineinanderweben der Stufen des Seins ist ihm die natürlichste Anschauung. Einheit von Natur und Geist, Natur und Kunst, Notwendigkeit und Freiheit, Individuellem und Allgemei-

nem, von Theorie und Praxis gilt ihm als das Wahre, Trennung als unwahr und vorübergehend. Ein- und Ausatmen ist das Gleichnis

für die Einheit der Gegensätze. Sein Denken wirbt um die große Ordnung, in der alles seinen Sinn und sein Recht hat und selbst das Verwerfliche noch wieder aufgenommen wird als das negative Moment des guten Ganzen.

Dieses Bild des Seins entspricht Goethes Denkungsart in der Praxis. Weil er das Wirkliche in der Einheit der Gegensätze faßt, will er nicht grundsätzlich, nicht parteiisch, nicht moralisch denken, 60

GOETHES

MENSCHLICHKEIT

sondern aus dem je Gegenwärtigen. Das erste ist die Spontaneität und nicht die Regel, ist das Ganze und nicht das durch den Verstand Getrennte. „Man lernt nichts kennen, als was man liebt.“ Diese Liebe bedeutet jedoch nicht das Hinnehmen alles Menschlichen, so wie es ist. Goethesche Freiheit ist der Wille zur Norm. Er

selbst rechtfertigt sich nicht, wenn er sie verletzt hat, sondern nimmt die Schuld auf sich. Gehorsam gegen Ordnung und Überlieferung bleibt ihm unantastbare Forderung in der Gesellschaft. Der Dichter des Faust bejaht als Minister das Todesurteil gegen eine Kindsmörderin. Wie Goethe sich gegen Fichte und dessen respektlos pathetische Provokationen

oder gegen Schellings philosophisch-diktatorische Ansprüche wendet, das sind Beispiele eines Ordnungswillens, der sich so sehr den Vorrang gibt, daß er sagt, er könne eher eine Ungerechtigkeit als Unordnung ertragen, eher die Ungerechtigkeit als ungerechte Auf-

hebung der Ungerechtigkeit. Nirgends duldet er das Extreme, weder das Radikale noch das Verstiegene. Doch darf harmonisches Totalwissen und Leben der Ordnung

keineswegs als das letzte Wort Goethes gelten. Wenn er sagt: „die vernünftige Welt ist als ein großes unsterbliches Individuum zu betrachten, das unaufhaltsam das Notwendige bewirkt und dadurch sich sogar über das Zufällige zum Herrn macht“, so sagt er doch, sie ist „zu betrachten“, nicht „sie ist“. Wenn Carlyle Goethe die Fähigkeit zuschreibt, „ein tolles, von

Zweifelsucht, Uneinigkeit und Verzweiflung erfülltes Universum in ein weises Universum des Glaubens, des Wohlklangs und der

Ehrfurcht zu verwandeln“, so darf man nicht vergessen, daß Goethe alle Schrecken bekannt sind, und daß seine Lösung doch nicht durch das philosophische Totalbild, sondern auch bei ihm durch einen Sprung - zur Gnade der „ewigen Liebe“, zur Gottheit, in der die „ewige Ruhe“ ist — erreicht wird.

In seiner Lebenspraxis wächst mit den Jahren der Wille zur in sich geschlossenen Einheit seiner Ordnung, aber unter Preisgabe der universalen Kommunikation. Daher nimmt zu seine Neigung, aus61

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zuschließen, wo er nicht einig ist, abzubrechen, wo Wesensfremdheit ihm fühlbar wird. Der Satz „Was fruchtbar ist, allein ist wahr“ erfährt seine Anwendung in diesem Sinne: „Ich habe bemerkt, daß ich den Gedanken für wahr halte, der für mich fruchtbar ist, sich an mein übriges Denken anschließt und zugleich mich fördert; nun ist es nicht allein möglich, sondern natürlich, daß sich ein solcher Gedanke dem Sinn des anderen nicht anschließe, ihn nicht fördere, wohl gar hindere, und so wird er ihn für falsch halten. Ist man hiervon recht gründlich überzeugt, so wird man nie kontroversieren.“ Zweideutig solchen Abbruch und innere Reinigung vereinend sprechen die Engel: „Was euch nicht angehört,

Müsset ihr meiden; Was euch das Innere stört, Dürft ihr nicht leiden.“

Die Unlösbarkeiten menschlichen Daseins führen irgendwo ins Ausweglose. Die Unbereitschaft, Dauerlasten zu übernehmen, wo Hilfe unmöglich scheint, ist die Grenze der nur menschlich begründeten Hilfe. Goethe verleugnet sie nicht, er leidet, verstummt und ergreift alsbald das Mögliche. Sieht man Goethe in seiner ungemeinen Empfindlichkeit, die des Schutzes bedarf, sieht man ihn, wie er in die Stille sich zurückzieht, weil er nicht ertragen kann, so scheint er hart und Egoist. Aber es ist auch hier wie Ein- und Ausatmen. Goethe drängt aus seiner Einsamkeit zu den Menschen, lebt mit ihnen und gibt sich hin, wo er liebt. Er bedarf beim Schaffen „der Teilnahme und Anregung, wenn

etwas gelingen soll“. Und in alle Kreise des Volkes geht seine Aufgeschlossenheit. Unter ein Bild seines Hauses, vor dem die Leute stehen und schauen, schreibt er: » Warum stehet ihr davor - ist nicht Türe da und Tor?

Tretet nur getrost herein, werdet wohl empfangen sein.“ In dieser Stimmung des Wohlwollens, dem Vordergrund seiner alles bergenden Tiefe, hat Goethe das Ungeheure, absolut Ruinöse

nicht vergessen. Aber er neigt dazu, es nur in der Ferne, entzogen 62

GOETHES

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dem täglichen Blick, gelten zu lassen. Die Schüler der pädagogischen Provinz erfahren von der Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist, in

der Gestalt der christlichen Religion des Kreuzes, erst zuletzt vor dem Abschied aus der Anstalt, um für alle Fälle gerüstet zu sein. Mit unserer Vergegenwärtigung des Goetheschen Menschseins rundet sich kein Bild. Auch das ist ein Zeichen seiner Größe. Er ist kein Typus. Vielmehr ist es, als ob sein Geist die Summe des abendländischen Dichtens und Denkens zöge, im Widerhall noch einmal verwirkliche und ganz umfasse.

Er ist in einer vollen Entfaltung Mensch, der in kein charakteristisch Besonderes sich verliert und der im Reichtum jederzeit ganz Mensch bleibt, nichts Übermenschliches oder Unmenschliches wird oder beansprucht. Erst recht dürfen wir uns kein Bild von ihm machen, das ihn vergöttert. Denn das wäre gegen sein Wesen. Eher noch wäre es zuzulassen, mit Nietzsche in Goethe den modernen Menschen zu sehen, den „vielfachen Menschen, das interessanteste Chaos, das es bisher gegeben hat: aber nicht das Chaos vor der Schöpfung der Welt, sondern hinter ihr“. Nietzsche begreift die Stärke dieses Wesens darin, „unbedenklich zwischen Gegensätzen zu leben, voll jener geschmeidigen Stärke, welche sich vor Über-

zeugungen und Doktrinen hütet, indem sie eine gegen die andere benutzt und nur sich selber die Freiheit vorbehält“. Aber in solcher

Charakteristik klingt ein gewaltsamer, für Goethe falscher Ton. Die Einheit Goethes ist da in seiner Selbstauffassung, wie er sich

rückblickend zum Bilde wird und in unvergeßlichen Schriften sich darstellt. Aber dieses Bild ist weder aus einem Prinzip konstruierbar noch umfaßt es alles, sondern ist selber nur ein Element im offenen Ganzen.

Der Greis kann 1831 schreiben: „Je älter ich werde,

seh’ ich mein Leben immer lückenhafter, indem es andere als ein

Ganzes behandeln und sich daran ergötzen.“ Was Goethe sei, wird vielleicht deutlicher durch die, die ihm feindlich gesinnt sind, nämlich die Fanatiker, die das Maßlose und 63

GOETHES

MENSCHLICHKEIT

Extreme begehren, die Parteiischen, die Nationalisten, die Mora-

listen, die Hasser des Daseins. Aber auch sie schlagen gelegentlich um zur Bewunderung des großen Dichters. Deutlich scheint Goethe andererseits zu werden durch das, was er ablehnt: das Kranke, das Romantische, das Transzendieren, den mechanischen Materialismus — wenn er sich einen dezidierten Nicht-

christen nennt - wenn er das Tragische nicht in sich einlassen möchte. Aber alles, was er verwirft, berührt er, indem er es im Verwerfen doch irgendwie anerkennt, es in sich selber überwindet. Weil - so scheint es — alles, was ein Mensch sein kann, als Möglichkeit in ihm lag, konnte Goethe ihm Sprache verleihen. Es ist, als ob er alles wisse.

Wie verhalten wir uns zu Goethe? Es ist unersetzlich, solchen Begleiter zu haben, der zu fragen ist, fast für jede Lebenssituation erhellende Worte bringt, an dem man sich orientiert, der Maßstäbe zeigt, der uns lehrt, unserem Tag seine

Form zu geben, die uns gewährte Lebenszeit nicht zu vergeuden, Folge in unser inneres Tun zu bringen. Weil das Vertrauen zu Goethe wächst, je mehr man ihm zuhört und zusieht, ist er uns wichtig auch da, wo er zu irren scheint. Denn es ist Goethe, der irrt. Noch in seinem Irrtum wird eine Wahrheit

sich bergen, noch in seiner Schranke sich Größe zeigen. In diesem Sinne sei die Frage erlaubt: Ist Goethes Werk von der Art, daß er auch in höchster Not, an der Grenze des Menschlichen noch spricht? Manchem gab er das letzte Wort. Vielleicht haben

andere eine Erfahrung, in der Goethe nicht mehr den gesuchten Impuls gab. Aber sein Bild und das Wissen, daß solch ein Mensch da war, bleiben auch dann wie ein Strahl aus der Lichtwelt.

Goethe will das radikal Böse nicht anerkennen, er vermag es ein-

zubeziehen, an ihm sogleich die Seite des Guten zu erblicken. Dies ist das Zeichen einer Schranke, wenigstens für den seinerseits beschränkten Blick des total Bedrohten und Gequälten und Schuldbeladenen. 64

GOETHES

MENSCHLICHKEIT

Goethe hat unermeßlich gelitten. Darum konnte er sagen:

„Denn Trost ist ein absurdes Wort: Wer nicht verzweifeln kann, der muß nicht leben.“

Der Greis, als er die glücklichen Stunden seines Lebens bedenkt, meint, wenn

er alle zusammennehme,

sei er kaum vier Wochen

wirklich glücklich gewesen. Aber all sein Leid blieb innerhalb der Grenze des Menschlichen. Er hat wohl das Entsetzlichste in seiner Möglichkeit erblickt, doch nicht an sich herangelassen. Er selbst ging behütet durch das Leben. Die furchtbaren Zukunftsahnungen sind ihm nicht eigentlich Realität, sie bleiben in seinem Munde vergleichsweise maßvoll und

durch die Unbestimmtheit fast harmlos. Schon denkt er an die neue Schöpfung. Sollte aber Goethe nicht jedem in jedem Augenblick genug tun, so gerade durch das, was zugleich seine liebenswerte Größe ausmacht. Er hat sein Wesen verwirklichen können, weil er nicht herausgezerrt wurde über die Grenzen des menschlich Möglichen durch

eine in Vernichtung begriffene Welt. Für unsere Zeit, der alle Schleier rissen, ist ein Leben mit Goethe zwar nicht die Lösung unserer Aufgabe, aber es ist beschwingend und ermutigend, um neu zu ergreifen, was noch möglich ist an Menschlichkeit.

Wir leben mit ihm in der Stille und Dankbarkeit des natürlichen Glücks und Leids. Wir bleiben durch ihn im Zusammenhang mit der

abendländischen Überlieferung in ihrer menschlichsten und unbefangensten und wundersamsten Gestalt. Wir kehren zu ihm zurück und treten bei ihm ein - aber wir müssen wieder hinaus in diese, in unsere gegenwärtige Welt.

Zum Abschluß ein Wort über den Sinn der Goethefeiern, die in diesen Monaten über den Erdball hin stattfinden. Wir möchten wünschen, sie würden völkerverbindend wirken. Es gibt eine Stufe, schrieb Goethe, „wo der Nationalhaß ganz verschwindet, und wo man ein Glück oder ein Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem

eigenen begegnet. Diese Kulturstufe war meiner Natur gemäß“. 65

GOETHES

MENSCHLICHKEIT

Goethe wollte dem Menschen und Mißverstandenwerden, an Aber in seiner Unabhängigkeit schen sich für seine Nation und

dienen. Er litt am Nichtverstandender Trennung von seiner Nation. rettete er durch Wahrheit des Menfür die Menschheit.

Die drei Kreise, denen Goethe gegenwärtig ist, die Deutschen,

die deutsche Sprachgemeinschaft, die Welt, sie werden je auf ihre Weise ihn suchen. Für die Deutschen kann die Erinnerung an Goethe mithelfen zur Wiedergeburt in dem Ursprung, aus dem sie leben möchten. Goethe hat das hohe sittliche Ziel aufgerichtet, als er seine Absicht bekannte,

„das allgemein Menschliche, das über den ganzen Erdboden verbreitet und verteilt ist, unter den verschiedensten Formen kennenzulernen und solches in meinem Vaterlande wiederzufinden, anzuerkennen, zu fördern“.

Als im März 1832 die Nachricht von Goethes Tod nach München gelangte, schloß Schelling seine am gleichen Tage gehaltene Ansprache in der Akademie mit den Worten: „Es gibt Zeiten, in welchen Männer von großartiger Erfahrung, unerschütterlich gesunder Vernunft und einer über alle Zweifel erhabenen Reinheit der Ge-

sinnung schon durch ihr bloßes Dasein erhaltend und bekräftigend wirken... Deutschland war nicht verwaist, nicht verarmt, es war

in aller Schwäche und innerer Zerrüttung groß, reich und mächtig von Geist, solange — Goethe - lebte.“ Erinnerung bewirkt, was einst leibhafte Gegenwart vermochte. „Jugend ohne Goethe“ hieß zwar vor zwei Jahrzehnten in Deutsch-

land ein warnender Ruf. Aber nicht nur sein Name klingt noch. Heute wachsen in manchen deutschen Schulen Kinder mit Goethe

auf. In diesem Jahre wollen Deutsche Goethe feiern, als ob man sich sammle in der Not um einen unantastbaren Menschen. Ich hoffe mit meinen Landsleuten, daß diese Feiern etwas Wahres bedeuten, und

daß wir noch durch Wirklichkeit das Wort Nietzsches widerlegen, das lautete: „Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen.“

In einem weiteren Umkreis gilt Goethe für die deutsche Sprach66

GOETHES

MENSCHLICHKEIT

gemeinschaft. Er erst hat die deutsche Sprache eigentlich frei gemacht. Seit ihm hat sie aufgehört, im Abendland ein abseitiges Idiom zu sein. Weil der Geist im Sinne abendländischer Humanitas zu ihrem Träger wurde, ist die deutsche Sprachgemeinschaft vorwiegend durch ihn gestiftet als geistiger Raum, als die Sprache Goethes, Lessings, Kants. Dieses Deutsche ist in seinem Wesen nicht durch gesellschaftlich-politische Momente fixiert, nicht durch die großen Bezüge

zu Kirche und Reich geformt. Es ist wesentlich frei, geistig und in persönlicher Spontaneität gegründet und kann daher durch politi-

sche und soziale Verderbnis nicht in dieser Wurzel ruiniert werden. Diesem Anspruch zu folgen, steht jedem deutsch Sprechenden offen. Und diesen Anspruch anzuerkennen, verbindet unabhängig von politischen Realitäten durch einen im Chor der Kulturvölker mitklingenden, in seiner Eigentümlichkeit zugleich weltgültigen Geist.

Im weitesten Umkreis können Menschen überall sich in Goethe ihrer eigenen Menschlichkeit vergewissern. Sie ist das Allverbindende. In ihr vermögen die Völker der Erde sich zu finden. Goethe hat das Wort „Weltliteratur“ geprägt. Er hat die Heraufkunft des geistigen Verkehrs der Völker gesehen, den Dichtern, Kritikern, Schriftstellern, Forschern und Philosophen die Aufgabe gezeigt, sich zu kennen und aufeinander zu hören. Man soll sich dul-

den, wenn man sich fremd fühlt, sich lieben als dem einen geistigen Raum angehörend, in dem überall die allgemein menschliche Volksdichtung erwächst, und in dem die seltenen großen Werke Einzelner gültig für alle dastehen. Er ergriff mit dem Gedanken der Weltliteratur die Einheit der Menschheit. Wir können nicht enden, ohne die Frage zu wiederholen, mit der wir begannen: Gehört nicht alles, was Goethe bedeutet, einer geschichtlichen Situation an, die unwiederbringlich vergangen ist, einer

anderen Welt mit ihren geschichtlichen Gestalten, die heute wie aus einer märchenhaften Ferne noch sichtbar sind im Übergang, wo wir

das Entschwindende eben noch bemerken? Wird er bald auch nur ' noch verstanden werden können? Hat die Welt heute ein Mensch67

GOETHES

MENSCHLICHKEIT

sein zu verwirklichen, bei dem Goethe nicht mehr helfen kann?

Bleibt bis zu Goethes vielleicht völligem Vergessenwerden nicht sein eigener Ruf an die Wenigen: „Geselle dich zur kleinsten Schar“? Niemand weiß es. Aber warum heute die Ergriffenheit von Goethe? Es scheint etwas auf der Welt zu sein, das ihn sucht.

In dem Entsetzen vor der Gewalt, in der Angst, in dieser Welt der zermalmenden Bürokratisierung, der Verwandlung in atomisierte, als Material dirigierte Menschenmassen — Verwandlungen,

die sich in die täuschenden Worte von Gemeinschaft, Opfer und Heil der Menschheit kleiden - in dieser Welt noch Raum wiederzugewin-

nen für den Menschen als Einzelnen, seine innere Unabhängigkeit und Selbstbildung, und für den Menschen in wirklicher Gemein-

schaft, in Liebe, Freundschaft und Weltbürgertum — dazu vermag Goethe mitzuhelfen durch das, was er war, was er dichtete, was er dachte - er ist noch da für uns alle,

„Und im wüstesten Gedränge Dankts die stille, beßre Welt.“

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SOLON 1948

Plato, der Staatsmänner wie Perikles und Themistokles zu ver-

werfen wagte, hat nur einen gelten lassen: Solon, „den größten der sieben Weisen“ (Timäus 20. St), den Gesetzgeber. Wenn ein Staatsmann noch nicht der Mann ist, der mit dem über-

legenen Geschick des Schachspielers diplomatisch eine Macht erbaut und verteidigt, noch nicht, wer, jeden Augenblick geistig gegenwärtig, tigerhaft wartend und zupackend, Reiche erobert und ordnet, noch nicht, wer in Zuständen, die sich eine Weile halten, unter den

Funktionären dieser Zustände sich zur Geltung bringt und den Ton angibt, sondern erst der Mann, der durch seine Handlungen, ihren

Reflex, ihre Folgen, ihren vorbildlichen Charakter einen sittlichen Geist des Ganzen erzeugt oder befestigt, dann ist Solon ein großer Staatsmann, während vielleicht die Staatsmänner, die als die größ-

ten Helden der politischen Geschichte gelten, schon durch die Weise ihres Ruhmes zumeist ein sittlich verhängnisvolles Gesicht haben, von Alexander und Caesar bis zu Napoleon. Solon aber kann im Abendland als der Ahn gelten aller stilleren politischen Arbeit derer,

die den tatsächlichen Zusammenhang im Miteinander bewirken, die den sittlichen Geist eines Ganzen erzeugen.

Ich wage eine Wiedergabe der an sich bekannten Tatsachen aus Solons Leben und Denken in einer Ordnung und Charakteristik, die aus Liebe und Verehrung für den Geist dieses Mannes erwachsen ist.

Solon ist nicht Legende, sondern geschichtlich anschaulich uns vor Augen. Sein politisches Werk ist in großen Zügen klar. Beträchtliche Reste seiner Dichtungen lehren uns zuverlässig, welche Motive und ' Ziele er hatte. 69

SOLON

Wie bei allen Gestalten vor Plato verführen die erhaltenen Trümmer wohl zur Ergänzung und zur Ausmalung durch unsere Phantasie. Diese frühe griechische Welt ist wie eine in’der Ferne erblickte Landschaft, zwar ganz wirklich, aber doch überall erst durch unsere

Auffassung leibhaftig für uns da, erst durch das, was in uns mitschwingt, eigentlich sichtbar. Solon gehört dem Zeitalter der sieben Weisen an. Diese Persön-

lichkeiten — durchweg Staatsmänner — kannten den Lauf der Dinge in der Welt. Sie wußten um die Gefahren und wußten, worauf allein der Bestand der Dinge sich gründen kann: auf einen sittlichen, gemeinsamen Geist, der verläßlich aus dem Einzelnen spricht. Daher

ihre Weisheitssprüche. Diese lehren einprägsam die Forderung einer eigentümlich griechischen und darin zugleich allgemein menschlichen Sittlichkeit. Sie sagen Ja zur Welt trotz der tiefen Schatten des Lebens, die in der Lyrik jener Zeit ihren unvergeßlichen Ausdruck

gefunden haben. Sie widmen sich dem tätigen Leben in dem, was ihnen nah ist, mit einem unerschütterlichen Vertrauen. Fern vom

Moralismus und fern vom bloßen Genuß ergreifen sie ihre Verantwortung mit größtem Ernst, aber ohne ihre gelassene Heiterkeit zu verlieren. Das menschliche Dasein gründet sich ihnen in der Gemeinschaft der Polis. Das Leben als solches ist politisch. Politik ist nicht

eine besondere Sphäre. Sie denken nicht daran, für immer in die Einsamkeit zu gehen, aber sie können persönlich auf Macht verzichten. Es ist ihnen kein Vergnügen, über Sklaven zu herrschen. Sie leben

in der Freiheit, die den Anspruch an jeden Menschen macht, sein Leben selbst zu verantworten in Gemeinschaft mit denanderen.Gemeinschaft, das heißt nach einem Spruch jener Weisen: Unrecht, das andere erleiden, so empfinden, als wäre es mir selber angetan. Sie lehren ver-

nünftig zu sein — und dies in einer Welt der leidenschaftlichsten, zur Maß8losigkeit geneigten Menschen voll wilder Eigensucht. Es ist ein Wunder, daß unter diesen Menschen von innen heraus eine alles

durchdringende Ordnung durch Freiheit wirklich werden konnte, daß der Sinn des Maßes in ganzer Tiefe sich ihnen offenbarte. Solons Leben ist in großen Zügen bekannt. Er stammt aus dem 70

SOLON

Adel.* In seiner Jugend gelang ihm die Eroberung der Insel Salamis. Diese Megara gehörende Insel sperrte die Ausfahrt aus dem Hafen. Ihr Besitz war für Athen eine Lebensnotwendigkeit, wenn es unab-

hängig leben wollte. Aber die Athener hatten im Kampf um Megara soviel Mißgeschick gehabt, daß sie beschlossen, es sollte jeder, der zum Kampf um Salamis rate, mit dem Tode bestraft werden. Solon wagte es trotzdem. Er stellte sich wahnsinnig, stürzte, mit einem

Kranze geschmückt, auf den Markt. Dort las er seine Elegie auf Salamis vor. Sein Auftreten wählte also eine Symbolik, analog dem

Gebaren der alten Propheten. Einige Verse sind erhalten, zum Beispiel „Laßt uns nach Salamis gehen, um die ersehnte Insel zu kämpfen, von uns werfend die drückende Schmach!“ Es gelang ihm, die Athener mitzureißen. Der Erfolg begründete die Freiheit der athenischen Seefahrt. Noch war nicht die Rede von einem Recht der Macht, wie später

in den Zeiten des Thukydides. Vielmehr galt noch das Recht als solches und galt Eroberung als Unrecht. Solon begründete die Erobe-

rung als Wiederherstellung. Die Weise der Anlage der Gräber auf Salamis, Verse aus Homer und die Mythen erweisen, daß die Insel

von altersher Athen gehört hat. Dieser Erfolg Solons muß sein Ansehen begründet haben. 594 wurde er vom Volke mit unbeschränkter Vollmacht beauftragt, durch Verfassung und Gesetz die soziale Krisis zu lösen: die Feindschaft der Parteien stand am Rande des Bürgerkriegs, die verarmten Bauern standen vor der Revolution. Solon übernahm die Aufgabe. Sein Werk ist klar. Der Bauernstand wurde gerettet. Die nach dem bisherigen harten Recht als Schuldsklaven Dienenden wurden frei, die Verkauften zurückgekauft. Durch Schuldenerlaß (Seisachtheia)

wurde der Bauernstand wieder lebensfähig. Es folgte die politische Gleichstellung der Landbevölkerung, alle wurden athenische Bürger. Die Bevölkerung wurde neu gegliedert in Besitzlose und in die Stufen der Besitzenden. Die neue Gesetzgebung stand unter dem Ge: * Hauptquellen: Plutarch und Diogenes Laertius. 71

SOLON

danken des Rechtsstaates. Die Freiheit aller Bürger fand ihre Beschränkung durch Gesetze. Alle waren mit dem Ergebnis unzufrieden, aber nahmen es an. Dieses Werk wandte sich zugleich gegen den Übermut des besitzenden Adels und gegen die maßlosen Ansprüche der Besitzlosen. Es

gelang, durch Ausgleich den Frieden zu erhalten. Nach Erfüllung seiner Aufgabe ließ Solon die Athener einen Eid schwören, innerhalb von 10 Jahren diese Gesetze nicht zu ändern.

Er legte sein Amt nieder. Reisen führten ihn nach Ägypten und Lydien. Als er zurückkehrte, war Pisistratus auf dem Wege zur

Macht der T'yrannis. Solon warnte. Dann rief er zum Kampfe auf, aber niemand wagte es, sich zu erheben. Der Rat erklärte ihn vielmehr für wahnsinnig. Pisistratus ließ Solon unangetastet. Bald darauf starb Solon, bis ins höchste Alter lebensfrisch.

Die Handlungen Solons gewinnen für uns nun erst Sinn und Gewicht durch die von ihm selbst mitgeteilten Motive und durch die

Lebensanschauung, die aus seinen Gedichten zu uns spricht.* Aus der Zeit vor der großen Reform müssen seine Anklagen gegen die Bürger, vor allem gegen den Adel, stammen. Er wendet sich gegen ihre Geldgier und ihren Übermut. Ungerecht ist ihre Gesinnung. Reichtümer häufen sie, aber achten nicht das Recht. Sie

stehlen heiligen Besitz und Staatsbesitz. Er droht: „Bringt das mächtige Herz in der Brust zur Ruhe... . legt in Fesseln den großen Sinn. Denn weder werden wir euch gehorchen, noch wird euch alles glatt gehen.“

Solon sagt voraus: Solches Verhalten bringt Unheil für alle. Elender Knechtschaft wird die Polis verfallen, die in den Bürgerkrieg geht. Vieler Leben wird zerstört werden.

Sein im Auftrag des Volkes vollbrachtes Werk hat zunächst diesem Unheil gewehrt. Solon gibt Rechenschaft. Er ruft vor dem „Richterthron der Zeit“ die Erde als Zeuge an, die vorher geknechtet, nun * Ich benütze die Ausgabe von Eduard Preime, Solon, griechisch und deutsch, Ernst Heimeran Verlag, München 1940. - Ich verwende auch einige Übersetzun-

gen Jaegers. - Nur wenige Stellen habe ich selbst übersetzt.

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SOLON

wieder frei sei: Aus der Sklaverei hat er viele nach Athen ins gottgeschenkte Vaterland zurückgeführt. Flüchtlinge ließ er heimkehren. Das schuf er, indem er Gewalt und Recht miteinander verband. Er schrieb Gesetze, welche bestimmen, was dem Guten und was dem

Bösen zukommt. Das gelang ihm, weil er beiden, dem Volke und den Mächtigen, ihr Recht wahrte. „Ansehn, so viel als ihm zukommt, gewährte ich willig dem Volke, / nahm seiner Würde nichts weg, fügte auch nichts ihr hin-

zu. / Wiederum duldet’ ich’s nicht, daß die reichen und mächtigen Oberen / mehr besäßen als was rechtens ihnen gebührt.“

Dabei mußte er nicht nur die Reichen zum Verzicht bringen, sondern auch den radikalen Forderungen der Massen widerstehen:

„Aber all das Raubgesindel wiegte sich, von Gier berauscht, / kühn in Hoffnung, Reichtum zu gewinnen, ... jetzt / werfen scheele Blicke sie und zürnen mir wie einem Feind; / freilich grundlos.... Es ist nicht / meines Amts, Gewalt zu brauchen wie Tyrannen, unrecht wärs, / gleich zu teilen zwischen Herr und Knecht der Heimat fettes Land.“

Solon sieht seine Stellung als Zwischenstellung: er steht zwar allein, aber für alle: „So bewehrte mit starkem Schilde ich beide Parteien, / daß nicht

mit unrechter Macht einer den andern bedrückt.“ Oder: „Doch ich stand wie ein Grenzpfahl auf umkämpftem Feld in ihrer Mitte.“ Oder: „Nach allen Seiten mußt ich wehren, schützen, drohn / und wie ein Wolf, den Hunde hetzen, wandt’ ich mich.“ Das war nur möglich durch eine ungewöhnliche, ihrem Sinne

nach neue, damals vielleicht einzigartige Selbstüberwindung: Er verließ sich auf das Recht und damit auf die Einsicht der anderen, die

sie aus eigener Überzeugung gewinnen; er verschmähte Gewalt. Das nächste war es in jener Zeit — und unter den sieben Weisen waren solche, die es taten, — Tyrann zu werden und mit Gewalt zu erzwin-

gen, was für richtig oder zweckmäßig erachtet wurde. 73

SOLON

„Wäre, daß mein Vaterland / stets ich schonte und auch der T'yrannenherrschaft süße Macht / von mir wies, entehrend oder schimpflich gar für meinen Ruhm, / reuen tut’s mich nicht; ich mein’ vielmehr, grad dadurch überwinde / alle Menschen ich.“ Solons Bewußtsein solcher Wirkungsmöglichkeit durch das Wahre und das Gerechte - sein Vertrauen auf die Überwindung aller Menschen durch die Vernunft - steht seitdem in der Erinnerung der

Menschheit da als ein unverlierbarer Anspruch. Nur Gerechtigkeit, davon ist Solon überzeugt, vermag solche Wirkung zu haben, daß das Volk aus freiem Willen folgt: „Denn hätt’ ein andrer Mann, ein Lump, der Frevel sinnt / und giert nach Gut, statt meiner euch geführt, der hätte / das Volk im

Zaum nicht halten können.“ Ein Tyrann hätte anders gewirkt:

„Gebändigt hätt’ er nicht das Volk und nicht geruht, / bevor er selbst den fetten Rahm der Milch geschöpft.“

Weil schließlich das Volk entscheidet, muß der Einsichtige sich ständig an das Volk wenden. Das heißt: der Staatsmann ist Erzieher,

indem er alle teilnehmen läßt an seinen Gedanken, die er ganz ernst, nicht als Mittel meint. So wendet sich Solon auch nach seinem Werk in steter Sorge an das Volk. Er sieht die Tyrannenherrschaft heraufkommen. Von vornherein mahnt er: das Volk selbst hat Schuld, nicht der Tyrann und nicht die Gottheit. Als es noch bevorsteht, als das Volk mächtigen Männern zu viel Spielraum gibt, da sagt er: „Aus der Wolke kommt Schnee und Hagel, nach dem Blitze folgt

notwendig der Donner, und durch zu mächtige Männer geht eine Polis zugrunde, und der Demos kommt in die Hände eines Alleinherrschers.“

Als es geschehen ist: „Wenn ihr Schlimmes erfahren habt wegen eurer Schlechtigkeit,

so legt nicht den Göttern die Schuld daran zur Last. Denn ihr selbst habt diese Leute groß werden lassen, indem ihr ihnen die 74

SOLON

Macht gegeben habt, und deshalb seid ihr schimpflicher Knechtschaft verfallen. Ein jeder von euch schreitet auf den Spuren des

Fuchses, euch allen ist eigen ein schwammiger Sinn. Denn ihr seht aufs Gerede und die Worte des Schmeichlers, aber auf das, was

wirklich geschieht, seht ihr nicht.“ Als Solons Warnungen, seine Sorge, sein eindringliches Wecken

den Athenern als Wahnsinn gelten, antwortet er: „Zeigen wird meinen Wahnsinn in Kürze die Zeit den Bürgern, zeigen wird sie ihn, wenn es zum Offenbarwerden kommt.“ Dabei waltet eine Grundanschauung vom Gang der menschlichen Dinge. Sie geschehen nach einer Notwendigkeit. Dike bestimmt den Lauf der Dinge. Was die Menschen tun, hat Folgen, die durch Dike

bewirkt werden. Der Mensch selber ist schuldig, er haftet. Das Unheil, das die Folge bösen Verhaltens ist, kann zwar lange auf sich warten lassen. Es kommt aber gewiß:

„Unsere Stadt wird nicht durch die Schickung des Zeus zugrunde gehen... , sondern die Bürger selbst wollen in ihrer Geldgier aus Unverstand die Stadt ruinieren.“ „Die Dike weiß um Vergangenes und Künftiges auch dann, wenn

sie schweigt, rächend tritt sie zu ihrer Zeit hervor.“ „Die Rache entspringt oft kleiner Ursache, gleich wie ein Brand, winzig mag sie im Anfang erscheinen, doch endet sie schrecklich. Werke aus Frevel geboren, nie sind sie Sterblichen treu.“ Das Unheil aber trifft das Ganze, trifft die Stadt und die Zu-

stände. Es gibt kein Entweichen, auch keinen Schutz im eigenen Hause: „So wandelt von Haus zu Haus das gemeinsame Übel, / auch das

verrammelte Tor hält’s deiner Wohnung nicht fern, / über die hohe Mauer klettert’s und dringt ins Innere, / magst du auch selber voll Angst flüchten ins tiefste Versteck.“

Der gerechte Zustand, die Haltung der Seele, die Ordnung der Dinge heißt Eunomia. Sie

„gebiert heilsames Wirken, / und dem Gerechtlosen legt zügelnde Fesseln sie an, / Trotziges mildert, Gelüste beschwichtigt und Hy75

SOLON

bris vertreibt sie; / eh noch es aufwächst, vertilgt sie das Verhängnis im Keim. / Recht, das gebeugt wird, richtet sie grad und von Leidenschaft tolle / Herzen besänftigt sie rasch, Aufruhr zwingt sie ins Knie, / Streites unreine Gluten erstickt sie. Auf das Gesetz

nur / gründet das Gute der Mensch, baut er Beständiges auf.“ Zur Eunomia gehört die Preisgabe des Eigenwillens, wenn er gesetzwidrig ist. Wer Einsicht nicht oder nicht genügend besitzt, muß vertrauen. Die Eunomia fordert beides, das ständige Bemühen um Einsicht und dieses Vertrauen: „Den Führern folge uneracht deines Bedünkens,“ und: „Dann folgt das Volk am willigsten stets seinen Führern, / wenn

man ihm Freiheit und Zwang maßvoll und richtig bestimmt.“ Die Anschauung Solons ist ernst, aber nicht düster, sie ist getragen von einer heiteren Lust am Leben. Dies Lebensglück ist schlicht und unbefangen: „Glücklich, wer liebe Kinder besitzt und stampfende Rosse, /

Hunde zu fröhlicher Jagd und aus der Fern einen Gast.“ Kypris und Dionysos und den Musen will er seinen Dienst weihen, „der dem Mann Heiterkeit schafft in der Brust.“ Und denkt er an seinen Tod, so wünscht er, daß er von Freunden beweint werde,

denen sein Tod ein Schmerz ist. Er möchte alt werden. Jedes Lebensjahrzehnt hat seinen eigenen Charakter und Wert. Wenn Mimnermos wenigstens mit sechzig Jahren sterben möchte, um von der Bürde des Alters befreit zu sein, antwortet Solon: „Möge mich erst im achtzigsten Jahr die Moira des Todes ereilen.“ Denn jedes Alter, auch das höchste, ist kostbar.

„ITrag ich auch silbernes Haar, lern ich doch immer noch gern.“ Aber das Lebensglück hat seine Grenzen. Auch Solon durchschaut, wie die Lyriker seiner Zeit, das Trügerische unseres Daseins, sieht das

wunderlich

vielfache

Trachten

der

Menschen.

„Gute

und

Schlechte, sie denken all ihren Zweck zu vollenden, all zu erreichen

ihr Ziel.“ Sie alle ergeben sich gaukelnder Hoffnung und bei Mißlingen jammern sie kläglich. 76

SOLON

Der Mensch kann nicht verfügen über Götterwillen und Schicksal: „Glücklich wandelt kein Sterblicher jemals die irdischen Pfade / ach, auf ein duldend Geschlecht schauet die Sonne herab.“ Keiner entflieht dem Tod und schwerer Krankheit, keiner im Alter der Pein. Keiner entflieht dem, was der Himmel verhängt: „Alles Wirken steckt voller Gefahren; niemand weiß, / wenn mit dem Werk er beginnt, ob’s bis zum Ende ihm glückt; / dieser fängt’s unter glücklichen Zeichen an, doch gerät er, / weil er’s

nicht sorglich bedacht, später in qualvolle Pein; / jenem, der glücklos begann, dem räumt ein Gott aus dem Wege / Fährnisse fort, und er nimmt ihm seine Torheit hinweg.“ Dieser Pessimismus vernichtet bei Solon nicht den Lebenswillen,

das Glück und die Heiterkeit. Immer ist das Trotzdem. Im Trotzdem bleibt die Vernunft und das Vertrauen auf die Dike des Zeus. Grenzen hat aber auch die vernünftige Einsicht. Diese Grenze liegt in ihrer eigenen Tiefe, aus der uneingeschränkt das Wahre hervorgehen, aber nicht verstandesmäßig errechnet werden kann. Vielleicht erreicht hier Solon den Gipfel seines vernünftigen Bewußtseins. Alles Richtige ist abhängig von der Führung aus einer Tiefe der Vernunft: „Aber es ist das Schwerste von allem, der Einsicht unsichtbares Maß (yrwuooörns ägparts ueroov) wahrzunehmen, das allein aller

Dinge Grenzen in sich trägt.“ Das ist der schlichte Ausdruck dafür, daß die konkrete Entscheidung, im Verhalten zu Menschen, im Han-

deln aus der Situation, beim Tun des Gesetzgebers, überall eines Mehr bedarf, als der Verstand allein leisten kann. Aus Regeln, Grundsätzen, in Geleisen der Denkgewohnheiten ist niemals das

konkrete Wahre zu erreichen. Wenn Solon die Grenzen des Lebensglückes und die Grenze des

Verstandes durchschaut, so liegt in der Unbefangenheit seiner hohen Vernunft doch etwas gleichsam Kindliches, das verehrungswürdig ist, Er tritt noch nicht ein in das tragische Bewußtsein, geschweige denn daß er dieses in die Tiefe führte. In ihm lebt der gute Geist der

Verwirklichung der Freiheit im Dasein, ohne von den Grenzen her 7

SOLON

die Antriebe zu erfahren, die seelisch steigern und zugleich zerstören können. Uns wäre es nicht möglich, in seinen Bewußtseinszustand zurückzukehren, aber wir können doch den Sinn seiner Ver-

nunft aufnehmen. Blicken wir auf Solon in seiner Gesamterscheinung: er ist, wie die alten Propheten, Erzieher seines Volkes, Künder der Wahrheit. Aber radikal ist er von ihnen vor allem durch eines unterschieden: er be-

ruft sich nicht auf die Gottheit, er beansprucht keine nähere Beziehung zu ihr, er gibt sich nicht Autorität durch sie, sondern: „Dies befahl mir mein Herz (Vvuös), die Athener zu lehren.“ Nur von einem kleinen Teil der Fragmente Solons ist hier berich-

tet. Man muß alle lesen. Obgleich es nur Fragmente sind, steht Solon klar vor uns, wie ein Wunder, zu dem man immer wieder staunend

und liebend zurückkehrt: ein wirklich vernünftiger Mensch von unverletzlichem Adel. Sein Ethos der menschlichen Freiheit und Würde, in ihm zuerst zu vollem Bewußtsein kommend, scheint unerschütterlich. Er ist Staatsmann. Er lebt nicht ein philosophisches Privat-

leben, einsam mit einigen Freunden, sondern ist erfüllt von einem selbstverständlichen Gemeinsinn. Sein Ethos läßt ihn sich selbst überwinden in dem Verzicht auf Macht, die als Tyrannenmacht ihm

zu Griff lag. Nichts Extremes und nichts Verstiegenes ist ihm eigen. Vielleicht wollte er Unmögliches. Aber daß er an der Möglichkeit nicht zweifelte, ist seine Größe. Denn es handelt sich hier um die

Sache der menschlichen Freiheit, die am Menschen selber liegt, und die nicht aus einem Naturgeschehen oder aus einer historischen Notwendigkeit erwächst, die es im Ganzen ohnehin nicht gibt. Solon er-

kannte Zusammenhänge der Schicksale des Menschen mit dem, was der Mensch selber aus Freiheit und Vernunft tut oder nicht tut. Grade darum ließ er sich nicht durch vermeintliche Erfahrung lähmen zum

Verzicht auf das gemeinhin für unmöglich Gehaltene. Wenn Kant sagt, es sei pöbelhaft, sich auf Erfahrung zu berufen, wo das, was

Gegenstand solcher Erfahrung ist, erst durch die Freiheit des Menschen hervorgebracht werden soll, wo also die Wirklichkeit am Men-

schen liegt, der so handelt, daß der Gegenstand der Erfahrung erst 78

SOLON

entsteht, so ist Solon der Mann, der diese Kantische Grundhaltung

unbezweifelt vollzieht. Bei Solon ist zum ersten Mal anschaulich, was der abendländische

Freiheitsgedanke sei. Das Erstmalige scheint gleich das Höchste. Die Einfachheit ist das Hinreißende. Darin aber liegt zugleich die unermeßliche Schwierigkeit. Zunächst scheint es, Solon sei gescheitert. Er erlebt noch die Tyrannis des Pisistratus. Also, so liegt es nahe zu denken, er hat nur verzichtet, um einem anderen zu überlassen, was an der Zeit war.

Daß aber Solon nicht gesagt hat: wenn ich’s nicht tue, dann tuts ein anderer, sondern daß er für immer das Vorbild hingestellt hat, das

macht ihn wirksam sogar in der Zeit der Tyyrannis und dann über diese Zeit hinaus. Der Geist der athenischen Demokratie, für die kurze Zeit, die sie bestanden hat, hat durch ihn sein Leben. Und wo immer im Abendland Demokratie versucht wurde, ist gegenwärtig

der Geist des Maßes, der Gemeinsinn, das Zurücktreten des eigenen Machtwillens und der geltungsbedürftigen Eitelkeit, ist gegenwär-

tig die Vernunft und über sie hinaus ihre eigene Tiefe des konkreten Sehens des jetzt Wahren, der Sinn für Gesetz und Gerechtigkeit,

von der her die Gesetze immer wieder korrigierbar werden, der Geist, der, in der Solidarität aller äber den Parteien, jeweils in einer

Partei sich am Kampf um das Rechte beteiligen muß, das Miteinanderreden, um sich zu überzeugen, und das Wissen um die Teufelei,

die in endlosen Gestalten jederzeit droht, wenn sie nicht durch die Formen der Gesetzlichkeit gebändigt bleibt.

79

DER PROPHET

EZECHIEL

Eine pathographische Studie 1947

Über Verfasser und Deutung des Buches Ezechiel sind die Alttestamentler nicht einig. Viele halten das Buch für die wohldispo-

nierte Sammlung und Redaktion der Aufzeichnungen des Propheten durch diesen selbst. Andere meinen, daß eine Reihe, etwa zwanzig, Dichtungen des Propheten aus dem Anfang des 6. Jahrhunderts, später, im 5. Jahrhundert, von einem anderen Verfasser in

seine theologischen Erörterungen eingebaut sind. Wieder andere halten das ganze Werk für ein Produkt der alexandrinischen Zeit. Alle sind einig, daß zahlreiche Glossen in den wie immer entstandenen Text hineingeraten sind, und daß der Text ungewöhnlich schlecht überliefert ist. - Auch die geistesgeschichtlichen Deutungen widersprechen sich. Ezechiel ist der erste Apokalyptiker-oder dieses Buch ist in der Zeit apokalyptischen Denkens von dort beeinflußt

worden. Er ist der erste Schriftprophet -, oder er ist noch echter Prophet in gegenwärtiger mündlicher Aktion, aber hat seine Aktion selber schriftstellerisch berichtet. Er ist der erste, der auf dem Wege

verabsolutierenden gesetzlichen und kultischen Denkens geht — oder ein Grundbestand echter Prophetie ist durch breite Texte aus dem schon entwickelten Gesetzesjudentum umkleidet. So sieht sich der Nichtfachmann vor einem Gegenstand, der ihm, wenn er ihn als festes Dokument untersuchen möchte, ins Bodenlose gleitet. Bei den kritischen Erörterungen der Alttestamentler spielt eine

große Rolle der Geist der Texte, der einheitlich oder nicht zueinander passend ist. Es ist die Frage, ob hier ein psychopathologisches 80

DER

PROPHET

EZECHIEL

Gutachten den Alttestamentlern etwas sagen kann. Das wäre dann der Fall, wenn außer den sinnhaften Zusammengehörigkeiten, die der Geisteshistoriker aufdeckt, ein Zugleichsein von Phänomenen aufgewiesen werden könnte, die nicht sinnhaft, sondern als Symptome einer durch Erfahrung gekannten typischen Erkrankung zu-

sammengehören. Das ist vielleicht der Fall. Eine Gewißheit ist bei der Art der vorliegenden Dokumentation nicht zu erreichen. Jedenfalls ist aber das Buch Ezechiel das einzige im Alten Testament, das durch die Menge der Angaben eine solche Betrachtung immerhin nicht ganz unsinnig erscheinen läßt. Vergegenwärtigen wir zunächst die psychopathologisch in Be-

tracht kommenden Tatbestände: Ezechiel hatte Visionen in abnormen Zuständen. Die Hauptbeispiele sind (zitiert unter Auslassung psychologisch nichtssagender Sätze): 1. „Es ereignete sich. ... am fünften des Monats

. . . (man er-

rechnet das Jahr 593), da tat sich der Himmel auf, und ich sah ein göttliches Gesicht. . . Es kam dort über ihn die Hand Jahwes. . . Ich sah aber, wie ein Sturmwind vom Norden her kam und eine große Wolke und zusammengeballtes Feuer, und rings um jene her waren Strahlen, und aus diesen heraus blinkte es wie Glanzerz. Und

zwar schienen aus ihm die Gestalten von vier Wesen hervor... . Und zwischen den Wesen sah es aus, wie wenn feurige Kohlen glüh-

ten... und von dem Feuer gingen Blitze aus. Und die Tiere liefen hin und her wie der Schein des Blitzes. . . Und weiter sah ich, daß auf der Erde neben den vier Wesen je ein Rad war... .undals ich ihre Felgen ansah, — da waren ihre Felgen ringsum voll Augen... .

Und ich hörte das Rauschen ihrer Flügel, wie das Rauschen gewaltiger Wasser, wenn sie gingen... . Es war aber ein Getöse oberhalb der Veste, die sich über ihrem Haupte befand. . . Oben über der

Veste aber war es anzusehen wie ein Saphirstein ... . ein Gebilde wie ein Thron... . auf dem Throngebilde war ein Gebilde anzusehen wie ein Mensch. . . Ich sehe es leuchten wie Glanzerz ... . ' So war die Erscheinung der Herrlichkeit Jahwes anzusehen. 81

DER PROPHET

EZECHIEL

Und als ich sie erblickte, da fiel ich auf mein Angesicht. . . Da kam der Geist inmich.. . . der stellte mich auf meine Füße, und ich

hörte die Stimme. ... Und er sprach zu mir: Menschensohn, if diese Buchrolle . . . Da öffnete ich meinen Mund, ... . und ich aß, und sie ward in meinem Munde so süß wie Honig... . Und der Geist Jahwes hob mich empor, und ich vernahm hinter

mir das Getöse eines starken Erdbebens . ... und das Getöse der Flügel der Tiere... . und das Getöse der Räder...

. Und ich ging

traurig in der Erregung meines Geistes dahin, indem die Hand Jahwes auf mir lastete. Und so gelangte ich zu den Verbannten an dem Fluß Kebar. . . und ich saß daselbst sieben Tage vor mich hinstarrend unter ihnen“ (1,1 ff). 2. „Im sechsten Jahr aber... . am fünften des Monats (man errechnet das Jahr 592), als ich in meinem Hause saß, und die Vor-

nehmen von Juda vor mir saßen, fiel daselbst die Hand des Herrn Jahwe auf mich. Und ich sah hin, da war ein Gebilde, das sah aus wie ein Mann; von seinen Hüften an abwärts war Feuer. . . aufwärts war es wie Lichtglanz anzusehen... Und er reckte etwas

wie eine Hand aus und erfaßte mich bei den Locken meines Hauptes, und der Geist hob mich empor zwischen Himmel und Erde und brachte mich nach Jerusalem in einem göttlichen Gesicht . . . (es

folgt der dramatische Bericht der Wahrnehmung der Greuel im Tempel und in der Stadt, dann der Vernichtung von Stadt und Tempel und Menschen dort, durchsetzt mit pedantisch kleinlichen Schilderungen und mit Weissagungen durch die Stimme Jahwes, zum Abschluß): Und der Geist hob mich empor und brachte mich im Ge-

sicht, durch den göttlichen Geist, ins Chaldäerland zu den Verbannten. Und das Gesicht, das ich geschaut hatte, hob sich hinweg von

mir“ (8, 1-11, 24).

3. „Es kam über mich die Hand Jahwes, und er führte mich hin-

aus im Geiste Jahwes und ließ mich Halt machen mitten in der Thalebene: die war voller Gebeine . . .*“ (es folgt die Schilderung der Wiederbelebung des Leichenfeldes) (37, 1 ff.).

4. „Im fünfundzwanzigsten Jahre... kam die Hand Jahwes 82

DER

PROPHET

EZECHIEL

über mich und brachte mich ins Land Israel und ließ mich auf einem Schr hohen Berge nieder; auf diesem befand sich mir gegenüber etwas wie der Aufbau einer Stadt. . . zeigte sich ein Mann, der sah aus wie aus Erz... und redete mich an: Menschensohn, siehe mit deinen Augen und höre mit deinen Ohren und richte deine Aufmerksam-

keit auf alles, was ich dir zeigen werde...“ (es folgt dann in Kapitel 40-48 die genaue Schilderung von Tempel, Verfassung, Gesetzen und Ordnungen, Landverteilungen usw., ohne daß von dem visionären Zustand oder seinem Abschluß noch die Rede wäre)

(40, 1 #.).

Der dritte und vierte Bericht sind offenbar psychologisch nichtssagend, weil mit nur wiederholten Formeln etwas T'ypisches gesagt wird. Der erste und zweite Bericht aber bringen Phänomene, die die

Veränderung des Bewußtseinszustandes charakterisieren: Die elementaren optischen, akustischen und haptischen Phänomene, — die länger hingestreckte Bewußtseinsveränderung mit dem

Vorsichhinstarren, — das plötzliche Überfallenwerden im Kreise unter den Juden, — das Fernsehen Jerusalems (analog Erlebnissen bei Swedenborg), — die szenenhaften Wahrnehmungen, — das Erwachen. Vielleicht treten auch körperliche Erscheinungen, wie Hinfallen, auf: „ich fiel auf mein Angesicht“ (1, 28. 9, 8. 11, 13. 43, 3). Dazu kommen Hinweise auf ein Symptom, das, wenn es klar nachweisbar wäre, diagnostisch große Bedeutung hätte, die „Rata-

plektischen Anfälle“ von Bewegungslosigkeit und Stummbheit: 1. „Man wird dir Stricke anlegen und dich damit binden... und ich werde deine Zunge an deinem Gaumen kleben lassen, daß du verstummest.. . . Wenn ich aber mit dir rede, will ich deinen Mund auftun, und du sollst zu ihnen sprechen“ (3, 25 ff. vgl. 24, 27). 2. „Und zwar werde ich dir Stricke anlegen, daß du dich nicht

von einer Seite auf die andere umwenden kannst“ (4, 8). 3. „Nun war am Abend vor dem Eintreffen des Flüchtlings die

Hand Jahwes über mich gekommen, und er hatte mir den Mund aufgetan, ehe jener am Morgen zu mir kam, und mein Mund blieb aufgetan und ich war nicht länger stumm“ (33, 22). 83

DER

PROPHET

EZECHIEL

Das Auftreten Ezechiels wird nicht selten in starker Erregung stattgefunden haben, ohne daß darin an sich ein Symptom zu sehen

wäre. Aber für sein Bild ist es charakteristisch. Hinweise sind: „Schlag in deine Hand und stampfe mit dem Fuß und rufe Wehe über alle die Greuel des Hauses Israel . . .“ (6, 11). „Du aber, Menschensohn, . . . mit zusammengebrochenen Lenden und in bitterem Schmerze seufze vor ihren Augen!“ ... (21,11).

Ezechiel braucht, wie auch andere Propheten, sexuelle Gleichnisse für den Abfall von Jahwe und die Preisgabe an andere Götter. Aber

Ezechiel malt die sexuellen Elemente mit einer Breite und Direktheit aus, die trotz der Unbefangenheit der ganzen Antike gegenüber

dem Sexuellen doch ungewöhnlich sind. Dies nun istein Tatbestand, der bei Schizophrenen nicht selten ist. Die Hauptstellen sind Kapi-

tel 16 und 23. Auffallend ist weiter die Art der sinnbildlichen Handlungen des Propheten. Solche Handlungen (wie etwa die des Jeremias, der ein Joch trägt, das dann von seinem Gegner Hananja zerbrochen wird, worauf Jeremias mit einem eisernen Joche wie-

derkehrt) sind eine Methode prophetischer Mitteilung. Aber bei Ezechiel sind solche Handlungen erstens besonders zahlreich und zweitens wunderlich verzwickt, umständlich und ausgedacht. Es kann sein, daß einzelne dieser Handlungen, wie das Unbeweglichliegen auf einer Seite (wie mit Stricken gefesselt), schizophrenen Zuständen erwachsen und erst sekundär sinnvoll gedeutet sind.

Hauptbeispiele solcher Handlungen sind: Spiel mit einem Belagerungsmodell auf einem Ziegelstein, gegen den eine Pfanne als Belagerungswand dient (4, 1-3). Liegen auf der linken und auf der rechten Seite (4, 4-8). Genuß rationierter und unreiner Speisen (4, 9-17). Verbrennen und Zerstreuen abgeschnittener Haare (5, 1-4). Ostentatives Wandern von Ort zu Ort; ein Loch durch die Wand schlagen (12, 3-7). Kochen im Topf, an dem der Rost sitzt

(24, 3-14). Unterlassen aller Trauerzeremonien nach dem plötzlichen Tod seiner Frau - so werden die Juden nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem nicht klagen und nicht weinen (24, 15-25). Schließlich lassen sich im Stil und der Stimmung vieler Teile des «

84

DER

PROPHET

EZECHIEL

Ezechiel-Buches Züge aufweisen, die man charakterisieren kann als grelle Deutlichkeit, oder als pedantische, kleinliche Durchführung von Entwürfen (besonders des Tempels und der Verfassung, Kap. 40-48), oder als Monotonie und Neigung zum Wiederholen, oder als eine Weise von Versinnlichung des Geistigen, die nicht nur derb,

sondern gefühllos und schamlos wirkt, oder als Abwechslung von abstraktem Verstandesrationalismus und von Willkür. Es ist bei ihm in aller Leidenschaft oft eine Kälte, eine unmenschliche Fremd-

heit spürbar. Aber wie in schizophrener Kunst kommen eigentümliche, unvergeßliche, großartig-grausige Bilder vor. Es ist eine Frage, ob es durch alle geistesgeschichtliche Interpretation hindurch ein ungeschichtlich Identisches gibt in diesem schizophrenen Geist. Er würde nie rein an sich da sein können, denn immer bewegt er sich notwendig im geschichtlichen Material des Geistes. Aber

es müßte etwas Gleichbleibendes fühlbar sein - wie etwa zwischen der grotesken schizophrenen Kunst der Villa Palagonia auf Sizilien aus dem 18. Jahrhundert und entsprechend modernen Gebilden. Ezechiel ist voll von großartigen Zügen. Sein Ernst ist bezwingend, aber bitter. Er gerät an die Grenze des Lächerlichen. Geistige Grundgedanken des Prophetismus gewinnen bei ihm eine äußerste Gestalt. Aber ihm fehlt doch die Erhabenheit des Jesaias, das in der

schlichten Begrenzung einfach Große, oder die Tiefe und die Herzenskraft des Jeremias. Es könnte sein, daß sowohl der Mangel wie das Eindrucksvolle, zum Erschauern Bringende durch den schizo-

phrenen Einschlag bedingt wären. — Bei einem schizophrenen Prozeß fragt man nach dem Beginn und nach der chronologisch feststellbaren Reihe der Phasen bis zum End-

zustand. Da im Ezechiel-Buch ungewöhnlich häufig Datierungen vorkommen, könnte man in dieser Beziehung eine Hoffnung haben. Die Berichte liegen von 593-571. Als Wendepunkt des Verhaltens

wird die Zerstörung des Tempels in Jerusalem 586 deutlich. 597 ist Ezechiel als Angehöriger eines vornehmen Priestergeschlechts unter den nach Babylon Deportierten. Vier Jahre liegen also zwischen der (Die Übersetzungen nach Kautzsch, 4. Auflage.) 85

DER

PROPHET.EZECHIEL

Deportation und der ersten berichteten Vision, der Berufungsvision. Der Umschlag vom Unheils- zum Heilspropheten liegt sieben Jahre nachher, gebunden an den Augenblick der endgültigen Zerstörung

Jerusalems. Noch fünfzehn Jahre liegen von da bis zur letzten berichteten Vision, die aber als erlebte Vision mehr als zweifelhaft ist.

Die Daten sind also sinnvoll durch Bezug auf die Zeitgeschichte, nicht faßbar als Daten in der Entwicklung eines Prozesses. Aber es

steht hier ebenso wie bei allen diesen Berichten. Nicht als Dokumente einer Krankengeschichte, sondern als Sinn einer geistigen Wirkung sind sie berichtet. Darum kann überall eine Identifizierung von Sinn mit einem brutalen psychopathologischen Faktum stattgefunden haben — nur können wir es nirgends beweisen.

Was die Zeitfolge angeht, so läßt sich immerhin einiges sagen: Die Visionen liegen besonders in den ersten Jahren seiner Wirksamkeit (die Berufungsvision 593, die Vision, von der er im Kreise der:

Altesten ergriffen wird, 592). - Die Dichtungen liegen zu einem Teil vor der Zerstörung des Tempels, zum größten Teil sind es die

Vernichtungsdichtungen gegen die Völker und diese liegen unmittelbar nach der Zerstörung (eine ist in das Zerstörungsjahr datiert). Es ist wahrscheinlich, daß auch die Dichtungen in den früheren Jahren entstanden sind. — Dagegen stammen die breiten Entwürfe über den kommenden Tempel und die Verfassung aus den letzten Jahren. — Diese, wenn auch nur im groben Ganzen geltenden chronologischen Angaben sind ein Hinweis auf die Entwicklung des schizophrenen Prozesses bis zum Endzustand. —

Man hat angesichts des außerordentlich verschiedenen Geistes, der im Ezechiel-Buch etwa zwischen den Dichtungen einerseits, den Tempel- und Verfassungsentwürfen andererseits, oder zwischen dem dichterisch sich mitteilenden Propheten und dem theokratisch-gesetz-

lich-kultisch denkenden Theologen offensichtlich zu sein scheint, zwei Verfasser des Buches angenommen. Es ist die Frage, ob es sich

um zwei Lebensphasen des Verfassers handle, die dramatisch mit dem Zeitpunkt der Tempelzerstörung 586 sich scheiden, oder um zwei Krankheitsphasen. Diese wären die Stadien im Krankbheits86

DER

PROPHET

EZECHIEL

prozeß — lebendig bewegte Anfangsjahre, ruhiger Endzustand und wären erst bei der Redaktion um jenen Zeitpunkt 586 gruppiert. Das letztere ist nicht überzeugend aufzuzeigen. Wir haben

ferner nur Aufzeichnungen nach der Berufungsvision, die selber schon schizophrene Züge trägt, haben also nichts aus der gesunden Zeit. Und wir haben nur grobe Hinweise durch den Gesamtaspekt

auf Phasen innerhalb der Krankheit. Bei der pathographischen Analyse Ezechiels wird man sich auf hypothetische Versuche beschränken müssen. Mit einem so geringen Material sind keine zwingend gewissen Antworten möglich. Was uns von Ezechiel vorliegt, ist an Umfang und Sicherheit der Dokumentation nicht zu vergleichen mit Fällen aus neueren Zeiten, die diagnostisch zu Ezechiel in eine gewisse Nähe rücken würden, etwa

mit Swedenborg oder Strindberg, über die wir entschiedene und fraglose psychiatrische Erkenntnis besitzen. Aber es liegt auch so, daß Ezechiel der einzige Prophet ist, bei dessen Texten die psycho-

pathologischen Gesichtspunkte anzuwenden überhaupt möglich ist. Und man muß sich eher verwundern, daß aus so früher Zeit überhaupt ein so weitgehend zur psychopathologischen Betrachtung auffordernder Bericht vorliegt. Der Fall steht durch seine Zugehörig-

keit zur Frühzeit einzig da in der Weltliteratur. Daher der Reiz, sich trotz allem auch unter psychopathologischen Gesichtspunkten mit ihm zu beschäftigen. Dabei wäre es uninteressant, gewisse Erscheinungen als hysterische zu klassifizieren. Denn damit würden sie nur unter allgemeine

menschliche Möglichkeiten gebracht. Wesentlich wird die Frage nur, wenn die Diagnose eines Krankheitsprozesses, hier des schizophrenen, naheliegt. Man hat Ezechiel den ersten Apokalyptiker genannt, oder man hat das Buch, wenn man es als ein späteres Werk auffaßte, unter dem Einfluß der apokalyptischen Literatur gesehen. Diese Literatur ebenso wie die der Gnosis bietet so viele Inhalte und Erlebnisse, die wir bei Schizophrenen kennen, daß man immer wieder versucht ist,

nach der Schizophrenie zu suchen. Durchweg vergeblich. Sobald 87

DER

PROPHET'EZECHIEL

solche Literatur da ist, setzt sie sich fort und wird bereichert durch

die Gesunden. Daß irgendwo - vielleicht selten, aber entscheidend Schizophrene den ersten Stoff in reicher Fülle geliefert haben, möchte man vermuten, kann es aber nicht beweisen. Denn zum Nachweis

der Krankheit genügt nie ein typischer Inhalt, den man einfach krank nennen könnte, sondern dazu gehört das Auftreten einer Reihe erfahrungsgemäß zusammengehörender Symptome. Diese müssen dann aber so klar psychologisch berichtet sein, daß an ihrem Dasein nicht zu zweifeln ist. Dann kann wohl einmal ein einziges Symptom zum Nachweis genügen. Dieser Fall liegt bei Ezechiel nicht vor, und meines Wissens ist aus der apokalyptischen und gnostischen Literatur kein solcher Fall aufzeigbar. Das ist verständlich, weil man sich dort nie für Psychopathologie, sondern allein für die

sachlichen Inhalte der Erlebnisse und Gedanken interessiert. In die-

ser Literatur wird ein Erlebnisinhalt zum Typus, der, wenn er bei

einem Autor begegnet, fälschlich für individuelle Erfahrung und nicht für Überlieferung gehalten wird. — Es bedarf keiner neuen Auseinandersetzung über die Selbstver-

ständlichkeit, daß psychopathologische Analyse nichts über den sach-

lichen und geschichtlichen Wert der geistigen Gehalte aussagt. Eze-

chiel hat seinen anerkannten Platz in der Prophetie auf dem Wege vom Deuteronomisten zum Gesetzesjudentum des Tempelstaates.

Er ist unter den Exulanten in Babylon als Zeitgenosse des Jeremias,

der in Jerusalem geblieben war und von so völlig anderem Geiste ist,

ein Wendepunkt in der Entwicklung des Judentums. All das ist kein Problem der Psychopathologie. Wohl aber ist die Frage möglich, ob dieser neue Gehalt sich in dem individuellen, vielleicht psy-

chopathologisch zu charakterisierenden Material eines Menschen mitteilt, der dadurch der geistigen Erscheinung eine Farbe und Stim-

mung gibt, die ihm ohne die Schizophrenie nicht zugekommen wäre. Diese wäre dann mit dem Gehalt nicht notwendig verknüpft, könnte

ihn sogar verschleiern und in ihm an sich fremde Irrwege führen. Weiter noch führt die Frage, ob der durch die Schiz ophrenie bestimmte Geisteszustand förderlich gewesen sein könne für Entwick88

DER

PROPHET

EZECHIEL

lungen, die zwar in der Natur der Sache liegen und auch ohne jenen psychopathologischen Grund bei anderen denselben Verlauf genommen hätten, die aber erleichtert wurden durch die eigentümliche Kälte und durch die äußerlichen Rationalisierungstendenzen im

schizophrenen Endzustand. Dazu könnten gehören: a) In der Hiob-Frage wird von Ezechiel das ungeheure Problem durch eine bloße Behauptung erledigt (Kap. 18). Den Vers, der die persönliche Schuldlosigkeit vieler Menschen für das sie treffende

Unheil spottend aussprach: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern werden die Zähne stumpf“, diesen Vers soll niemand mehr hersagen. Jeden Menschen trifft das Glück und Un-

glück nach dem Maße seines persönlichen Verdienstes und seiner persönlichen Schuld.

b) Die Gottesvorstellung des Ezechiel ist von einer Erhabenheit, die als Willkür Gottes erscheint. Es ist ein Gott ohne Liebe. c) Das priesterlich-hierokratische Denken ergeht sich in pedantischen Umständlichkeiten, im Ausdenken von Kleinigkeiten, von Rituellem, bei denen Frömmigkeit und Gott verloren zu gehen scheinen in der Endlosigkeit von Vorschriften.

Beim Studium des Ezechiel ist es möglich, im Endergebnis ein Absinken des Geistes zu sehen, der in der prophetischen Religion

erwachsen war. Die Herausarbeitung aus der Naturreligion und aus dem Kultus zur reinen Gottesidee und damit zum reinen Ethos, zur

Tiefe der Gottesanschauung und zum Ursprung des Menschseins, aus dem Rausch zur Klarheit, aus der verwirrenden Leidenschaft des irdischen Lebens zur hinreißenden Leidenschaft des Lebens im Dienste der Gottheit, das ist bei Ezechiel ins Außerste und Maßlose getrieben durch das Absinken in die Rationalisierung des bloß ord-

nenden Verstandes und in die sinnliche Vergegenwärtigung, beides durch Hineingeraten in beschränkende Endlichkeit und damit neuer

wilder Leidenschaft. Es ist jedenfalls ein Gesichtspunkt unter anderen, aus dem man nach dem Grund dieses Absinkens bei Ezechiel in einer Krankheit fragen darf. 89

DAS

RADIKAL

BOSE

BEI

KANT

1935

Gegen die christliche Denkungsart, den Menschen als durch Adams Fall in der Wurzel verderbt anzusehen, wandten sich weltzugewandte Geister, die meinten und wollten, er sei von Natur auch heute gut. Gegeneinander standen Christlichkeit und eine Weise der

FHumanitas. Schon das Wort „radikal böse“ konnte Abscheu erwek-

ken bei Goethe. Als 1793 Kants „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ erschien — diese Schrift, in welcher der bei ihm neue Begriff des radikal Bösen der Angelpunkt war -, schrieb

Goethe an Herder die bekannten Worte, Kant habe „seinen philo-

sophischen Mantel freventlich mit dem Schandfleck des radikal Bösen beschlabbert.. . .“ Es kann nicht verwundern, wenn aus der-

selben Gesinnung Schiller Kants Annahme eines Hanges zum radi-

kal Bösen „empörend“ nannte.

Was an den neuen Gedanken Kants christlich Gläubige wohl fes-

selte, die scheinbar engen Beziehungen zu den Glaubensinhalten von Erbsünde, Gnade, Wiedergeburt, das machte sie für unsere der Humanität ergebenen Dichter gerade abstoßend. Kant aber stand weder auf der christlichen Seite, denn er dachte

unabhängig von allem Offenbarungsglauben; noch stand er ohne

weiteres auf der Seite der Humanität, denn er warf den Blick in einen Abgrund, an dem die Denkungsart wenigstens des ästhetischen

Humanismus vorbeizugehen pflegt, oder den der Dichter in einer ästhetischen Großartigkeit unter den menschlichen Möglichkeite n

wohl darstellt, aber damit eigentlich verschleiert, weil er aller „Dar-

stellung“ unzugänglich ist. Kant stellte die Aufgabe dem Philosophieren als solche m. Daß 90

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dies Philosophieren in den Gegensatz von Christlichkeit und Humanitas nicht hineinzuzwingen ist, das zeigt sich in der Weise, wie rückhaltlos das radikal Böse erdacht wird aus dem Antrieb, die Möglichkeit zu suchen, uns aus seiner Verstrickung zu lösen.

Wir wollen im Sinne dieser philosophischen Aufgabe, geführt durch die Interpretation Kants, drei Fragen zu beantworten versuchen:

1. Was ist das radikal Böse? 2. Wie geschieht eine mögliche Befreiung aus diesem Bösen? 3. Was bedeutet das radikal Böse für die zweideutig so genannte

philosophische Religion? Um das Wesen des radikal Bösen zu denken, vergegenwärtigen

wir in Kürze den Grundzug des Kantischen Gedankengangs: Unser sittliches Handeln wird uns klar nur im Bewußtsein des Gesetzes, dem wir folgen. Dies Gesetz bringt in unser Tun die Notwendigkeit, welche wir nicht erleiden (weder von außen noch durch

unser angeborenes Nun-einmal-so-sein), sondern die wir eigentlich selbst sind. Der Inhalt des Gesetzes ist bestimmt nach der je besonderen Lage durch das Material unserer Welt. Nicht diese Inhalte will Kant deutlich machen, sondern die Form des Gesetzes überhaupt, in die die

Unendlichkeit der möglichen Inhalte unseres Handelns jederzeit treten muß, um sittlich zu sein. Diese Form ist der kategorische Im-

perativ: Handle so, daß der letzte Grundsatz deines Handelns jederzeit Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung werden kann. Da diese

Form nur das Gesetz der Gesetzlichkeit überhaupt ausspricht, so ist die Frage: wie finde ich den jeweiligen bestimmten sittlich rechten Inhalt meines Handelns? Ich soll mich fragen, ob ich die Handlung, die ich vorhabe, wollen kann, wenn sie nicht einmal, sondern immer so geschehen würde,

wie als ob sie nach einem Naturgesetze so geschehe, das ich durch mein Handeln erst hervorbringe. D. h. ich soll mich fragen: Welche Welt ich wohl durch mein Handeln schaffen würde, wenn es in 91

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Vermögen stände. Mit anderen Worten: was die Welt

eigentlich ist, erfahre ich nicht durch ein Beurteilen der anderen

Menschen und des nie gekannten Ganzen der Welt, nicht allein durch die Wirkung meines Tuns, sondern eigentlich und einzig durch mein Jun selbst; es ist, als ob die Welt noch nicht entschieden sei, was sie ist, sondern ich durch mein Tun mit der Wirklichkeit meines Tuns noch mit-entscheide, was sie sei: durch das, was ich bin und

tue, überzeuge ich mich, was in der Welt möglich und wirklich ist; klage ich über die Welt, so weiche ich aus; an dem Punkt, wo ich stehe, liegt allein an mir und meinem Sein im Tun, was sie ist; und hier ist gegenüber allem nur von außen sichtbaren und erkennbaren Weltsein der tiefste Grund des Seins erreicht, der mir überhaupt erreichbar ist, aber nicht im Wissen, sondern im Handeln. Dieses Handeln, das wir sollen, geschieht also keineswegs wie ein

unausweichliches Naturgeschehen. Vielmehr kann das gesollte Han-

deln ausbleiben oder ins Gegenteil verkehrt werden. Damit erst entsteht die Frage, was das Böse sei. Um Kants Formel für das Böse

zu verstehen, ist folgende Voraussetzung notwendig:

Der Mensch hat zwei Triebfedern: aus seinem Vernunftursprung

— den Kant intelligibel nennt - folgt er dem Gesetz; aus seinem

Zeitursprung als psychologisch erkennbarem Naturwesen folgt er seinen Neigungen, Leidenschaften, will er sein Glück in der Welt, oder vielmehr, was er dafür hält.

Die Triebfeder vermöge des moralischen Gesetzes, das sich seiner

Vernunftanlage (seiner intelligiblen Natur) unwide rstehlich aufdrängt, würde ihn beherrschen, wenn gar keine andere Triebfeder dagegen wirkte; er würde ohne Kampf moralisch gut sein. Die Triebfeder vermöge seiner Neigungen ist seine natürliche An-

lage (seine empirische Natur); er würde ihr kampflos folgen, ohne

böse zu sein, wie die Tiere, wenn nicht auch jene andere Triebfeder in ihm wirkte.

Da nun der Mensch beide Triebfedern (die durch das moralische

Gesetz und die durch das Glücksbegehren) in die Bestimmung seines

Willens aufnimmt, und da er auch jede für sich, wenn sie allein 232

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wäre, zur Willensbestimmung hinreichend finden würde, so würde er zugleich gut und böse sein, das eine durch die eine, das andere durch die andere Triebfeder, wenn das Gut- oder Böse-sein in den

Triebfedern als solchen läge. Das widerspruchsvolle Zugleichsein ist unmöglich. Der Mensch steht vor der Frage: gut oder böse zu sein. Das Zugleichsein würde beides auslöschen. Der Ernst würde ver-

schwunden sein: das Entweder-Oder. Gut und böse liegt daher nicht in dem Unterschied der Trieb-

federn, sondern in der Weise ihrer Unterordnung untereinander. Gut ist der Wille, der die Befolgung des Gesetzes zur Bedingung

der Erfüllung der Triebfedern des Glücksverlangens macht. Böse aber wird er, wenn er die Befriedigung seines Glücksverlangens „zur

Bedingung der Befolgung des Gesetzes macht“. Das Böse also liegt nicht in den Neigungen, Antrieben, Glücksbedürfnissen als solchen — diese sind Naturgegebenheiten und als

solche sittlich indifferent. Das Böse liegt allein im Willen (d. h. in der Möglichkeit unserer Willkür, zuzustimmen oder zu verwerfen), in der Unterordnung des einen unter die Bedingung des anderen. Dieser Wille aber ist nur schwach, noch nicht eigentlich böse, so-

fern er seinem Vorsatz in der Beherrschung der Antriebe nicht folgt; er ist ferner nur unlauter, noch nicht eigentlich böse, sofern er nicht allein von dem Gebot der sittlichen Gesetze sich führen, sondern andere Triebfedern sich mit einmischen läßt, vielmehr sogar meist ihrer bedarf, um das, was Pflicht an sich ist, zu erfüllen; es

werden pflichtmäßige Handlungen nicht rein aus Pflicht getan. Böse ist der Wille erst dann, wenn er alle Pflichterfüllung, d. h. das Handeln nach dem Gesetz, abhängig macht von der Erfüllung

der natürlichen Triebfedern und ihres Glücksbegehrens. Er vollzieht die Verkehrung (Perversion) des Bedingungsverhältnisses: Dieser Wille heißt böse, weil er die Umkehrung zu seinem heim-

lichen oder sich selbst offenbaren Grundsatz gemacht hat. Er kann sehr wohl gesetzlich gute Handlungen vollziehen, aber nur vermöge des günstigen Zufalls, daß in seiner Situation kein Widerstreit zwi93

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schen Sittengesetz und Glückserfüllung eintritt. Er ist dann doch noch böse, weil seine Denkungsart die Verkehrung des Bedingungsverhältnisses in sich aufgenommen hat für den Fall des Konflikts. So ist z. B. die Denkungsart, sich die Abwesenheit des Lasters bei sich ohne weiteres auszulegen als Angemessenheit der eigenen Gesin-

nung zum Gesetz, selbst schon eine radikale Verkehrtheit im menschlichen Herzen zu nennen. Dieser Wille heißt ferner radikal böse, weil in ihm der Grund

aller Grundsätze verderbt ist. Es ist nicht ein einzelner böser Wille,

der etwa als solcher vereinzelter wieder gut gemacht werden könnte, weil doch das Ganze des Wollens gut wäre; sondern er ist ein totaler böser Wille, der jedes Handeln in seinem Grunde verdorben hat, auch wenn es ein objektiv gutes Handeln ist.

Diese Verkehrung des Bedingungsverhältnisses nennt Kant den

Hang zum Bösen. Er ist nicht eine Anlage unserer empirischen, sondern unserer intelligiblen Natur, d. h. gehört unserer Vernün ftigkeit selbst, unserer Freiheit an. Er ist selbst eine Tat, die jeder bestimmten Tat vorhergeht. Kant nennt ihn „intelligible Tat, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar“,

Der Hang zum Bösen gehört zum Menschen als Mensc hen, ist,

wie Kant sagt, „mit der menschlichen Natur verwe bt“. Obgleich nicht empirische Naturanlage, gehört er zur Natur seiner Freiheit. Das ist Kants Gedankengang. -

Was ist nun der Sinn dieses „radikal Bösen“?

Ich höre vom Gesetz überhaupt und von Umke hrung des Bedingungsverhältnisses zwischen Gesetz und Glück sverlangen, höre aber nichts von dem bestimmten Inhalt meines gebotenen Tuns, und von

keinem greifbaren Dasein des Bösen, das als solches zu bekämpfen wäre, In der Tat liegt das radikal Böse in einer Tiefe meiner Vernunft, die alle bestimmten Weisen des Bösen erst hervo rbringt, selbst aber

in gegenständlicher Bestimmtheit nicht ein für allemal zu wissen ist.

Der entscheidende Grundzug des radikal Bösen ist, daß ich es nicht

als einen Gegenstand vor Augen haben kann. — 94

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Unser Denken zwar will es sich ständig erleichtern. Scheint doch das Böse in der Welt da zu sein, sei es als das, was unser Glück verhindert, sei es als das rücksichtslose Glücksverlangen Einzelner, die

das Glück aller stören. Aber es handelt sich in der Erhellung des Bösen und Guten nicht zuerst um die technische Unterwerfung der Natur unter die Zwecke des Menschen und nicht um die richtigen Einrichtungen der menschlichen Verhältnisse. Diese sind in ihrem gesamten Sinn erst von dem

„Endzweck“ bedingt, der nicht mehr als ein bestimmter in derselben Weise gewußt wird, wie jeder der in der Welt erreichbaren Zwecke -, und den doch jeder Mensch als Einzelner in seinem inner-

sten Grunde wiedererkennen muß. Daß dieser Endzweck als „Glück“ gedacht unmöglich ist, zeigt

Kant dadurch, daß jede Vorstellung von Glück im Sinne eines sich selbst Genügenden sich als brüchig erweist. Das Glück ist in jeder vermeintlich endgültigen Gestalt nicht nur faktisch in der Welt unerfüllbar, sondern nicht einmal widerspruchslos erdenkbar: will man es verwirklichen, so erreicht man immer auch das Gegenteil. Will man das Glück schlechthin, so weiß man im

Grunde nie, was man eigentlich will. In der Gesamtheit des natürlichen Geschehens der menschlichen Dinge, soweit ich sie empirisch erforschen kann, knüpft sich das endlose Gewebe des immer anders sich zeigenden Glücks und Leids, aber

zeigt sich nicht das Böse. Das Böse ist, wie das Gute, nichts erforschbar Daseiendes, ist keine Naturmacht als Gegenstand empirisch zwingender Untersuchung mit allgemeingültigen Ergebnissen. So ist auch in psychologischer Erörterung — etwa über die Be-

kämpfung der Affekte und Leidenschaften, über das Bewußstmachen des Unbewußten, über die Selbsterziehung vermöge bestimmter Veranstaltungen, in all den nützlichen Bemühungen um die Diätetik der Seele — der Gegenstand nicht das Böse. Für die psychologische Er-

fahrung gibt es das Böse gar nicht. Aber alle psychische Wirklichkeit steht gleichsam im Bodenlosen, wenn sie nicht getragen wird von

jenem Selbstsein, das nur erwächst in Überwindung des Bösen. 95

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Unser Denken will sich das Böse ferner dadurch erleichtern, daß

es ein spekulativ-metaphysisches Begreifen des Bösen versucht. Aber das radikal Böse kann kein bestehendes Sein haben, sei dieses als

eine eigene Substanz gedacht, sei es als eine Abwesenheit des Seins (modus deficiens). Daher sind verwehrt die Deutungen des Bösen aus der in alles Werden eingeschlossenen Negativität (Hegel) oder aus dem eigentlichen Nichtsein der doch alles Dasein erst ermöglichenden Materie (Plotin). Verwehrt ist ebenso die Deutung einer

Notwendigkeit des Bösen in der Harmonie des Ganzen, in dem das

Gute durch das Böse erst recht zur Geltung käme (Stoa) und ebenso

die Deutung aus dem Urgrund des Seins, der dualistisch in sich zwei

Mächte berge (Zarathustra), deren eine als böse Weltseele, als abge-

fallener Engel, als böser Gott, als Zorn Gottes usw. vorgestellt wird. Verwehrt ist schließlich auch die Herabsetzung des Bösen zu einem bloßen Schein menschlicher Meinung, sei es, daß der Mensch wegen der Endlichkeit seines Verstandes nur als böse zu sehen vermag, was

an sich gut oder weder gut noch böse ist (Spinoza), sei es, daß er in

bestimmten Typen seines Daseins aus der ohnmächtigen Schwäche und Mißratenheit im Ressentiment Wertschätzungen erzeugt, die

das Wohlgeratene, Mächtige, Überlegene böse nennen (Nietzsche). Jedesmal ist das Böse gleichsam übersprungen, indem es zu einem Gegenstand der Betrachtung — und sei es in einem noch so großart igen Anschein — verharmlost wird. — Warum nun diese Hartnäckigkeit, in allen Richtungen möglichen

Objektwerdens das Böse noch nicht zu finden? Weil jedesmal die

Möglichkeit versäumt würde, durch Fühlbarwer den des Bösen in

mir selbst den Aufschwung zu finden. Darum handelt es sich - noch einmal mit anderen Worte n wiederholt - bei Kant nicht um die Daseinsordnungen zur Sicherung von

Weisen des Glücks in der Welt - ohne diese zu mißachten -, auch nicht um die Klage, daß „die Welt im argen liege“, nicht um den

ihm wohlbekannten erbarmungslosen Gang der Weltgeschichte, nicht um eine empörte Aufzeigung, wie überall das Schlec hte zutage

trete (was hülfen alle guten Einrichtungen, und was schadete alles

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Leid, wenn der Mensch ausbliebe, der erst in der Überwindung des Bösen möglich wird!). Vielmehr soll der tiefste Ausgangspunkt für das Seinsbewußtsein des Menschen getroffen werden, wie er sich seiner selbst handelnd innewerden kann. Es handelt sich auch nicht um die Selbsterziehung nach angebbaren Methoden (was hülfe sie, wenn darin am Ende gar nur der

böse Mensch in gesteigerter Daseinsmächtigkeit hervorginge, die sich doch am Ende wie ein bloßes Naturgeschehen nur selber ruiniert,

weilkein umgreifender Sinn des Einen alles in der Transzendenz zusammenhält!). Vielmehr wird der Blick in einen Grund geworfen, von dem aus alle Weise des sich hervorbringenden Tuns erst beseelt wird. Es ist ein Denken, das den Punkt erhellen will, an dem der Mensch die

Verwandlung vollziehen muß, ohne die alle besondere Weise der Selbsterziehung und des sogenannten moralischen Handelns hinfällig werden. Es handelt sich auch nicht um eine metaphysisch-spekulative Deu-

tung desBösen, die das Böse hinnehmen läßt in einer ästhetisch werdenden Gesamtanschauung beschwichtigender, tröstender, versöhnender Art. Vielmehr wird das Böse, indem es nur in mir selbst erhellt wird, zum Stachel, der keine Ruhe läßt und ständig den Menschen auf

seine Wurzel zurückwirft, daß er sich nicht in Vordergründen verliere. Alle Betrachtungen des Bösen in der Welt, in psychologischen Erörterungen, in metaphysischer Spekulation sind wie Ablenkungen. Liegt also für Kant das Böse weder in einer naturalistischen, noch

in einer psychologischen, noch in einer metaphysisch-spekulativen Dimension, wo liegt es dann? In der intelligiblen Dimension meines Selbstseins. Es gehört der Freiheit an. Jede Verwandlung des Bösen in ein Dasein nimmt ihm sein Wesen und läßt den Anspruch an das, was an mir selbst liegt, erlahmen. Wüßte ich, was das Böse ist, wie

ich von einem Gegenstand weiß, so könnte ich es gleichsam ins Auge fassen, es als sichtbaren Gegner bekämpfen. "Tue ich das aber, als ob 97

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- damit alles getan sei, so erleichtere ich mir durch kämpfendes Anfassen eines bloßen Gegenübers das Hervorgehen dessen, das allein im Ursprung meiner selbst den Weg findet. Alles bestimmte Bekämpfen braucht diesen Grund im Selbstsein, ohne den es trotz aller Leidenschaft des bloßen Kämpfens doch wie verloren wäre. — Das Wissen vom Bösen muß tiefer und wirksamer sein als irgend-

ein gegenständliches Wissen. Aber das radikal Böse schien von Kant doch gegenständlich bestimmt gefaßt zu sein. Es war die Umkeh-

rung des Bedingungsverhältnisses zwischen Gesetzesgehorsam und Glücksverlangen, so daß in den Grundsatz des Handelns das Unbedingte unter die Bedingung des Bedingten gesetzt wird. Um aber diese Formel zu verstehen, muß dem Verstehenden das

Unbedingte gegenwärtig sein. Dieses jedoch geradezu selbst als Zweck gemeint, wäre schon bestimmt geworden und damit wieder

ein Bedingtes. Ja, durch direktes Meinen und Wollen des Unbedingten würde man es gerade zerstören, indem man ihm unvermeidlich ein in der Tat Bedingtes in der Welt unterschöbe. Das Unbedingte als das Gesetz der Gesetzlichkeit überhaupt müßte sich als identisch mit bestimmten Gesetzen zeigen. Der Sprung jedoch vom allgemeinen

Gesetz zum bestimmten Gesetz ist das große Fragezeichen: Wie soll er geschehen? Das Unbedingte braucht nicht notwendig nur als Gesetz formuliert zu werden. Das ist daran zu erkennen, daß Kants Satz von der

Umkehrung — der Form nach - alt ist: Bei Augustin wird er formu-

liert, aber so, daß das Unbedingte die Liebe zu Gott heißt, die im

frui deo sich vollendet, das Bedingte die Freude an den Dingen und

Wesen dieser Welt, die im uti nur in bezug auf Gott geliebt, an sich

selbst aber gleichsam nur gebraucht werden sollen. Übersetzen wir

uti mit gebrauchen, frui mit lieben, so formuliert Augustin: wir sollen

die Welt gebrauchen, Gott zu lieben seiner selbst wegen (omnis itaque humana perversio est, quod etiam vitium vocatur, fruendis

uti velle, atque utendis frui). Kant dagegen formuliert: wir sollen

in der Welt unser Dasein verwirklichen und unser Glück finden unter der Bedingung, darin jederzeit das Gesetz der Gesetzlichkeit 98

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unseres Handelns — aus Gesinnung für das Gesetz seiner selbst wegen — zu befolgen. Das Entscheidende ist die Umkehrung und diese in jenem Grunde vollzogen, über den hinaus es nichts mehr für uns gibt, — wo wir wir selbst sind. Das unbedingte Gesetz Kants und die Liebe zum unbedingten Gott Augustins sind aber beide gegenstandslos bleibende Anweisungen. Aus sich muß entgegenbringen, wer sie versteht. Das Unbe-

dingte als Gesetz kann ich nicht durch endgültiges Wissen eines einzelnen starren Gesetzes erreichen, sondern nur, wenn ich im Ganzen

des Gesetzes überhaupt aus der rechten Ordnung der Triebfedern lebe, von der das einzelne Gesetz eine Erscheinung wird. Das Unbe-

dingte als Liebe zur Gottheit kann ich nicht in einer angebbaren Liebe zu einem Dasein in der Welt finden, sondern nur aus dem

Ganzen meiner Liebe, aus deren Möglichkeit alles wahre Sein geliebt wird und in der rechten Rangordnung nichts verloren ist. Aber dieses Ganze, den Ursprung, wie soll ich ihn erreichen?

Weil mit dem Gedanken des „radikal Bösen“ der Feind nicht als sichtbarer Gegner vor Augen ist, weil keine technische, psycholo-

gische, inhaltliche Angabe erfolgen kann, wie er zu bekämpfen wäre, und weil - in der Aufgabe der Wieder-Umkehrung des Bedingungsverhältnisses zum rechten - das Unbedingte sich dem gegenständlichen Wissen und zweckhaften Vor-Augen-haben entzieht, ist um

so dringender die zweite Grundfrage gestellt: Vermögen wir uns aus der Verstrickung des Bösen, aus der „Umkehrung“, zu lösen?

Hören wir zunächst wieder, wie Kants Gedankengang hier führt: Der Hang zum Bösen ist nicht angeboren wie Naturanlagen, son-

dern in dem Bewußtwerden unserer Grundsätze getan als zur „Natur“ unserer an sinnliches Dasein gebundenen Vernünftigkeit gehörend. Daher ist dieser Hang zum Bösen - obgleich Freiheit, daher Tat und zurechenbar — wie Kant sagt „als natürlicher Hang durch menschliche Kräfte nicht zu vertilgen“, weil dieses nur durch gute Grundsätze geschehen könnte, welches, wenn der oberste sub-

jektive Grund aller Grundsätze als verderbt vorausgesetzt wird, 99

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nicht stattfinden kann. So muß es „alle unsere Begriffe übersteigen“, „wie es möglich sei, daß ein natürlicherweise böser Mensch sich selbst zum guten Menschen mache“. Trotzdem, sagt Kant, kann nicht bestritten werden, daß es möglich sei; „denn ungeachtet jenes Abfalls

erscheint doch das Gebot: wir sollen bessere Menschen werden ... folglich müssen wir es auch können, sollte auch das, was wir tun können, für sich allein unzureichend sein.“ Wenn wir tun, was wir können, werden wir uns für den „unerforschlichen höheren Beistand

empfänglich machen“. Wenn aber der Weg vom radikal Bösen zum guten Willen gefunden wird, so kann es „nicht durch allmähliche Reform“ geschehen, sondern muß „durch eine Revolution der Gesinnung . . . bewirkt werden ..... gleich als durch eine neue Schöpfung und Änderung des Herzens“. Es gelingt nur „durch eine einzige unwandelbare Ent-

schließung.“ Das ist das Wort, mit dem Kant den Ursprung treffen will: es ist nicht der Beschluß von Etwas, sondern die Verwandlung

des Wollens selbst, Kant vergleicht diese „einzige unwandelbare Entschließung“ mit der christlichen Wiedergeburt. Was können wir denn tun? Wir können dem jeweils bestimmten moralischen Gesetz entsprechend - Kant sagt legal - handeln. Aber das Gute wie das Böse liegt in der Gesinnung, aus der gehandelt wird. Wir müssen mehr tun als objektiv nach dem Gesetz zu han-

deln. Wir müssen ständig erhellen, wie wir handeln. Wenn ich mir meine Gesinnung rational deutlich mache in den Grundsätzen der Handlungen, die ich vorhabe oder getan habe, so kann ich mir doch durch nichts beweisen, daß ich auch in meiner wirklichen Gesinnung nach diesen Grundsätzen gehandelt habe. Jedesmal ist die Objektvität des Grundsatzes und die Objektivität des Gesetzes - obwohl

ohne sie weder gute noch böse die Wißbarkeit dessen, ob ich Dieses ist vielmehr niemals zu lität meiner Handlungen, nie

Handlungen möglich sind-noch nicht selbst im Handeln gut oder böse bin. wissen. Ich kann immer nur die Legadie Moralität meiner Gesinnung wis-

sen. Ich kann nie wissen, was ich eigentlich bin: ob ich, weil ich gut

gehandelt habe, mich für gut halten darf. 100

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Das ist der Grundtatbestand, der uns zwingt, den eigentlichen Weg im Medium aller Wißbarkeiten zuletzt aus dem Ursprung eines Nichtwissens zu finden, und hier nicht nur für die einzelne Handlung, sondern für uns selbst verantwortlich zu werden.

Die Auffassung dieses Tatbestandes kann verdeckt werden, wie in der Deutung der Stoiker. Der Stoiker traut sich alles zu: er kann durch sich selbst weise und gut werden. Die Vernunft: meint sich

selbst zu tragen und hat nichts außer sich. Oder die Auffassung dieses Tatbestandes kann in christlicher Deutung bis zur Verzweiflung der Unmöglichkeit des Gutwerdens durch sich selbst gesteigert werden. Augustin hat dieses Grundverhältnis

unseres intelligiblen Wesens, das sich im empirischen Dasein nie erreichen zu können scheint, bis zum Bewußtsein völliger Ohnmacht radikalisiert: Die Reflexion, ohne die keine gute Tat geschieht, da der Handelnde wissen muß, was gut ist, hat als solche schon den Keim des Verderbens in sich. Denn sie hat zur Folge, daß der Handelnde sein eigenes Tun als getan für gut hält. Dann aber ist er schon hochmütig, indem er sich an sich freut, (cum seipso sibi quasi suo bono animus gaudet, superbus est.) Hochmut aber - superbia — ist als solcher das Böse der Selbstliebe im Eigenwillen, während unse-

rem Wesen gemäß wäre die Demut — humilitas —, welche nichts sich selbst, alles Gott verdankt und zuschreibt. Und selbst wenn

der

Mensch auf allen Eigenwillen verzichtet, so hat er in der Selbstgewißheit des Verzichts ihn schon wieder in neuer Gestalt einer Selbstzufriedenheit mit seiner Demut sich zugezogen. Wie ich mich

auch wende: mit dem scheinbar wahrsten Guten ist schon das Böse getan. Denn keine gute Tat bleibt bestehen, wenn ich mich selbst in ihr liebe. Kants Denken nun - das eigentliche Philosophieren — unterscheidet sich wesentlich sowohl von dieser christlichen Demut wie von dem selbstgewissen Hochmut des Stoikers.

Indem Kant den intelligiblen Ursprung gegen alle Übersetzung in objektive Wißbarkeiten festhält, ist bei ihm nicht schon die Möglichkeit des liebenden Zustimmens als Hochmut verboten. Kant ver101

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mag — gegen die christlich-augustinische Position - das Bewußtsein des Menschen von seiner Würde auszusprechen, von der Erhabenheit unserer vernünftigen Natur zu reden, von dem Werte, den der Mensch allein sich selbst geben kann, von der Achtung vor uns selbst, die wir durch unsittliches Handeln nicht verlieren wollen, von der

„inneren Beruhigung“, ja, von der „Selbstzufriedenheit“ als einem »Wohlgefallen an seiner Existenz“, ja, von dem „Genusse“, dessen

die Freiheit fähig ist, und der „seinem Ursprung nach der Selbstgenügsamkeit analogisch ist, die man nur dem höchsten Wesen beilegen kann.“

Jederzeit aber bringen bei Kant alle diese Formeln sogleich ihre Einschränkung mit sich und zwar erstens in Folge der Endlichkeit

unseres Wesens, das stets auf Anderes angewiesen bleibt: Die Erhabenheit unserer Natur ist nur unsere Bestimmung und bewirkt, daß

der Mangel der Angemessenheit unseres Verhaltens zu ihr vielmehr

unseren Eigendünkel niederschlägt; die innere Beruhigung ist „bloß negativ“, die „Selbstzufriedenheit“ ist ein „nur negatives Wohlgefallen an meiner Existenz“, beides infolge Abwesenheit eines als solchen wahrgenommenen Bösen. Die Selbstgenügsamkeit ist nur ana-

logisch zur Selbstgenügsamkeit der Gottheit, ist nur „Unabhängigkeit von Neigungen und Bedürfnissen“, nicht positive Erfüllung.

Kant wendet sich daher entschieden gegen die stoische Idee des Weisen, insofern mit ihr etwas in diesem Leben als erreichbar vorgestellt wurde, was nicht erreichbar ist, zumal die Stoiker — die End-

lichkeit unseres immer beschränkten Wesens verkennend — „die Glückseligkeit gar nicht für einen besonderen Gegenstand des menschlichen Begehrungsvermögens wollen gelten lassen, sondern ihren Weisen gleich einer Gottheit im Bewußtsein der Vortreff lich-

keit seiner Person von der Natur ganz unabhängig machten“, was unmöglich ist.

Zweitens aber ist Ruhe und Zufriedenheit mit sich unmöglich wegen des ständig bleibenden Nichtwissens, Hier ist es für Kant nicht genug, daß er die Unlauterkeit der Gewissensruhe „so vieler (ihrer Meinung nach gewissenhaften) Menschen“ charak terisiert, 102

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„wenn sie. . . keiner solcher Vergehungen sich schuldig fühlen, mit denen sie andere behaftet sehen, ohne doch nachzuforschen, ob es nicht bloß etwa Verdienst des Glücks sei, und ob nach der Denkungsart, die sie in ihrem Inneren wohl aufdecken könnten, wenn

sie nur wollten, nicht gleiche Laster von ihnen verübt worden wären, wenn nicht Unvermögen, Temperament, Erziehung, Umstände der Zeit und des Orts, die in Versuchung führen (lauter Dinge, die uns nicht zugerechnet werden können), davon entferntgehalten hätten“.

Vielmehr ist über diese Unlauterkeit hinaus das Nichtwissen entscheidend erst in bezug auf die eigentliche Quelle des radikal Bösen. Es käme darauf an, den intelligiblen Ursprung sowohl des Guten

wie des Bösen zu erreichen. Aber wird er im endlichen Zeitdasein im Wissen von sich vermeintlich erreicht, so ist er gerade verloren. Hier ist die Unruhe unaufhebbar und der Anspruch immer von neuem an

den ganzen Menschen. Denn jeder Ansatz des bestimmten rechten Handelns vor dem erkannten Gesetz gelingt nur in ständiger Er-

neuerung jenes unwandelbaren „Entschlusses“, durch den die Unbedingtheit im rechten Bedingungsverhältnis der Grundsätze ergriffen wird. Die Tiefe dieses Grundes, in dem der Mensch die Revolution seiner Denkungsart immer neu bestätigen muß — im Ganzen

seines Wesens, ohne es anders als in der Bestimmtheit konkreten Tuns verwirklichen zu können -, ist nur zu bewahren, wenn die Ver-

festigung zu einem Gewußten im Ganzen ausbleibt. Ob die Revolution der Denkungsart ihm wirklich gelungen ist, kann kein Mensch wissen: „Zur Überzeugung. . . hiervon... .kann.. . der Mensch natürlicherweise nicht gelangen, weder durch unmittelbares Bewußtsein noch durch den Beweis seines bis dahin geführten Lebenswandels; weil die Tiefe des Herzens (der subjektive erste Grund seiner Maxime) ihm selbst unerforschlich ist.“ Mit solchen Gedankengängen wird in uns, die wir ständig in der Bewegung unseres möglichen Aufschwungs oder Abfalls bleiben, die wir unserer Unbedingtheit nie als eines Besitzes sicher werden, die wir unabgeschlossen sind, vielleicht erweckt, daß es immer noch

an uns liegt, wie wir im Ganzen unseres Wesens über uns entscheiden. 103

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Wir möchten wohl gern ausweichen, möchten entweder in der Reue uns finden — jedoch Reue ist eine zwar unausweichliche, aber als

solche unfruchtbare Folge, in der nur allzu schnell eine Befriedigung an der Reue, als ob mit ihr schon etwas getan sei, entsteht, oder ein Schwelgen im Sichverneinen, um ein Nichtkönnen zu begründen,

das grade die mögliche Aktivität versäumen läßt — oder möchten in guten Vorsätzen uns gewinnen — jedoch gute Vorsätze sind wohl

trefflich in bezug auf bestimmte Inhalte, aber für sich allein wirkungslos: „mit guten Vorsätzen ist der Weg zur Hölle gepflastert“ -; wir möchten immer gern argumentieren und das Argumentieren nicht abreißen lassen, um, statt selbst einzutreten, immer über etwas und über alles und auch über unser Selbstsein zu reden; wir möchten, statt selbst wollen zu müssen, nur etwas Bestimmtes zu tun brauchen; wir möchten, statt im inneren Handeln unser Wesen

hervorzubringen, mit der Oberfläche einer bloßen Selbstbeherr-

schung auskommen. Wir möchten den Ursprung verdunkeln, das Schweigen nicht hören. Kant zwingt im Denken an den Punkt, wo der Ursprung selbst in uns sprechen muß, den der Gedanke zu berühren, aber nicht in Gewißheit zu verwandeln vermag, den Punkt, wo allein die Revolution der Denkungsart

entspringen kann. Hier aber können wir wohl ratlos werden, sofern wir nichts mehr

tun zu können scheinen, wo uns nicht in Bestimmtheit gesagt werden kann, was wir tun sollen.

Der Ursprung des radikal Bösen liegt in der Natur unserer Vernünftigkeit; die Revolution der Denkungsart liegt in derselben Vernünfligkeit; es muß aber etwas hinzukommen, etwas, das diese Ver-

nunft erst ermöglicht und begründet. Denn das radikal Böse macht die Grenze unseres sittlichen Kön-

nens fühlbar. Unsere Vernünftigkeit ist nicht sich selbst genug. An der Grenze aber entspringt, was unser Seinsbewußtsein im Ganzen

hervorbringt. Daher die dritte Frage: Was bedeutet das Wissen um die Grenze? 104

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Zunächst ist der Umfang dessen, was Kant Vernunft nennt, zu vergegenwärtigen. Kant hat den Begriff der Vernunft in ungewohnter Weise gefaßt. Vernunft ist nicht nur der Verstand, der vermöge der Kategorien gegenständlich denkt. Vernunft ist auch die dem Besonderen in einem Ganzen erst systematische Einheit gebende Idee,

Vernunft ist der Grund des sittlichen Handelns. Vernunft ist das Anschauen des Schönen. Während wir im vernünftigen Erkennen Wirklichkeit erfassen, aber nur in der Bestimmtheit des einzelnen Gegen-

stands auf dem unendlichen Wege der immer weiter sich erhellenden, aber nie in der Zeit erreichten Einheit des Ganzen; während wir im Handeln verwirklichen, aber in der Endlichkeit der Welt, und darum

immer auch in Diskrepanzen bleiben — zwischen gemeintem Zweck und Erfolg, zwischen sittlicher Würdigkeit und faktischer Glückseligkeit -, werden wir im Schauen des Schönen des Ganzen des Seins und unserer Vernunft ineins inne, aber nur im Spiel. Alles das ist

Vernunft; und soweit Vernunft reicht, gilt die Form. Kants Philosophieren ist seinem Sinne nach eine einzige Erhellung der Vernunft in allen ihren Gestalten: im Erkennen, im Handeln, im Anschauen des Schönen. Aber in jeder Erhellung stößt er auch auf die Grenze, wo die Vernunft angewiesen ist auf ein Anderes, oder in ihrem Ursprung unbegreiflich ist. Daher ist Kants Philosophieren stets begleitet von dem „Rätsel“, das er jeweils erst ver-

möge seiner Erhellung der Vernunft klar auszusprechen vermag. Das radikal Böse ist eines der im Kantischen Philosophieren wesentlich-

sten Rätsel: Denn unbegreiflich ist erstens die Herkunft des radikal Bösen: „Warum in uns das Böse gerade den obersten Grundsatz verderbt habe, obgleich dieses gerade unsere eigene Tat ist“, davon können

wir keine Ursache angeben, „sowenig als von irgendeiner Grundeigenschaft, die zu unserer Natur gehört“. Es ließe sich nur sagen, worin der Grund des Bösen nicht liegt: nicht in unserer Sinnlichkeit und unseren natürlichen Neigungen, die als anerschaffen wir nicht zu verantworten haben, — und nicht in einer Verderbnis der moralisch-gesetzgebenden Vernunft selbst: diese 105

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würde in uns die Folge haben müssen, daß wir in uns den Willen hätten, das Gesetz selbst zu vertilgen. Als Grund des MoralischBösen im Menschen enthält die Sinnlichkeit zu wenig; durch sie würde der Mensch nur tierisch. Die boshaflte Vernunft, ein schlecht-

hin böser Wille dagegen enthält zu viel, weil dadurch der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder erhoben und so das Subjekt zu einem teuflischen Wesen gemacht würde. Der Mensch aber ist weder Tier noch Teufel. Unbegreiflich ist zweitens die Möglichkeit der Revolution der Denkungsart, durch die allein wir aus dem Bösen zum Guten kommen. Daß sie möglich sein muß, ist einzusehen aus dem Sollen, das

nur Sinn hat, wenn ihm ein Können entspricht. Wie sie aber möglich ist, ist schlechthin undurchsichtig.

Die Grenze des Begreifenkönnens bedeutet hier zugleich eine mögliche Grenze der Freiheit selbst. Denn der vernünftige Wille aus dem Selbstsein in der Einsicht des Gesetzes ist, obgleich dieser Wille sich in seinem Sinn ganz auf sich allein stützt, doch vielleicht, ohne es zu

wissen, angewiesen auf eine Hilfe.

Angesichts der Situation der Verstrickung in das radikal Böse muß der Mensch hoffen - aber auch nur „hoffen“ — können, „durch eigene Kraftanwendung“ zum Guten zu gelangen. Jedoch darüber hinaus muß „er hoffen können, was nicht in seinem Vermögen ist, werde durch höhere Mitwirkung ergänzt werden“. Jedoch „ist es nicht schlechterdings notwendig, daß der Mensch wisse, worin diese bestehe“,

Wir stehen vor dem der christlichen Theologie geläufigen Begrif f

der Gnade. Obgleich der theologische Gehalt des Gnadenbegriffs

für das Philosophieren nicht verstehbar, weil nicht zugäng lich ist

ohne den Ursprung selbstvollzogenen, wahrhaftigen Offenbarungs-

glaubens, zu dem der Philosoph unfähig ist -, und obglei ch der Be-

griff der Gnade wie der der Wiedergeburt, der Heilig keit u. a. im

Philosophieren vermieden werden sollen, weil sie ein falsches Zwie-

licht verbreiten, soist doch vielleicht ein Moment innerhalb des theo-

logischen Begriffs, das im Philosophieren erreicht wird. Kant jeden106

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falls hat ein solches Moment im Begriff der Gnade philosophisch interpretiert. Diese Gnade lehnt Kant nicht ab, denkt sie als Möglichkeit, aber verwehrt es, mit ihr gleichsam zu rechnen. Es gilt ihm „der Grundsatz: Es ist nicht wesentlich und also auch nicht jeder-

mann notwendig zu wissen, was Gott zu seiner Seligkeit tue oder getan habe; — aber wohl, was er selbst zu tun habe, um dieses Bei-

standes würdig zu werden“. Gnade als ein Wißbares, Gnade gar als irgendeine zeitliche Erfahrung, auf die ich mich berufen oder verlassen würde, würde den Anspruch schwächen an die Freiheit des Menschen, zu tun, was ihm möglich ist, und jedem Sollen mit einem Bewußtsein seines Könnens zu antworten.

Aber so entschieden der Mensch in diesem Denken zurückgeworfen wird auf seinen eigenen Willen und seine Kraft, so entschieden bleibt in ihm das Grenzbewußtsein gegenwärtig. Diese Grenze ist im Kantischen Philosophieren das Allgegenwärtige. Es ist die Paradoxie dieses Philosophierens, daß es die Erhellung der Vernunft in allen ihren Gestalten vollzieht mit einer Leidenschaft der Vernünftigkeit, die sich doch grade durch Vernunft ihrer eigenen Grenzen vergewissert. Diese Grenze der Vernunft ist für Kant der Ursprung dessen, was

bei ihm noch Religion heißen könnte, Religion ist bei Kant nicht ein Ursprung neben dem andern, daher kein „Gebiet“ in der Systematik der Vernunftfunktionen. Ihm ist noch fremd die spätere Weise, Religion als eine Kultursphäre anzusehen. Religion ist ihm noch allumgreifend oder gar nicht. Sie ist in der gesamten Vernünftigkeit an allen Grenzen das, worin die sich auf sich selbst stellende

Vernunft sich findet. Die geschichtliche Religion - die christliche Offenbarungsreligion — hat daher für Kant nicht die Bedeutung einer Wahrheit an sich. Er verachtet sie nicht; sie ist ihm nicht gleichgültig; sie hat eine geschichtliche Bedeutung für die Erziehung der Menschen und entsprechend eine gegenwärtige Bedeutung. Aber sie ist für Kant nur ein Gegenstand der Deutung „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“. Er prüft ihre Wirkung: in der Erziehung der Menschen, 107

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in dem vernünftigen Gehalt der Dogmen, und auch in der statutari-

schen Religion der Kirchen mit ihren teilweisen Verirrungen. Das Umgreifende des Philosophierens, das an allen Grenzen der Vernunft auftaucht — das, wenn auch mißverständlich, selbst religiös genannt werden kann - ist dagegen die faktisch beherrschende Macht des Kantischen Denkens. Es ist für ihn kennzeichnend, daß er

kritisch nicht nur die Grenzen der Vernunftfunktionen gegeneinander bestimmt, sondern nicht minder die Grenzen der Vernunft gegen das sie Umgreifende erhellt. Es ist dies der radıkale Unterschied

zwischen einer Philosophie, die das Absolute erkennen, alles wissen, alldurchdringend Gottes Gedanken selbst nachdenken will — daher auch das Böse begreift — und dem Kantischen Philosophieren, das, als Inhalt nie Genüge leistend, seinen ganzen Sinn erst in dem Menschen hat, der es denkt und erfüllt. Wir fragen bei Kant, welche Motive an den Grenzen als die

gesamte Philosophie bewegend religiös genannt werden können, darum, weil sie nicht neben anderen, sondern umgreifend sind, und

die doch ihre gedankliche Entfaltung durch die Philosophie selbst, nicht in einer besonderen Religion und deren Theologie erreichen. Auf drei Stufen ist dies Umgreifende anzutreffen: Es ist erstens in der Erhellung unseres Wissenkönnens das Bewußstsein der Erscheinungshaftigkeit allen Daseins (davon haben wir heute nicht gesprochen).

Es ist zweitens in der Erhellung des Sinnes unseres sittlichen Handelns der Gedanke des höchsten Gutes als der Einheit von sittlichem Handeln und Glück in der Weltverwirklichung, die — bei der völli-

gen Indifferenz beider gegeneinander in der empirischen Welt —

nicht möglich ist ohne die Postulate Gott und Unsterblichkeit (auch davon war heute nicht die Rede). Es ist drittens in der Erhellung des radikal Bösen der Stoß auf

den Ursprung unserer Freiheit. Das radikal Böse wird der Punkt, an dem sich Kants Religion in eigentlicher Tiefe entzündet. Denn

die „Erscheinungshaftigkeit“ als Ergebnis der theoretischen Vernunft 108

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bringt nur in die Schwebe; das höchste Gut ist nur als Dependenz des Sinns sittlichen Tuns als Postulat gedacht, während dieses Tun

auch ohne Gott und Unsterblichkeit ein Gewicht behalten würde. Das radikal Böse aber erzwingt gleichsam die religiöse Ergriffenheit, von der die beiden früheren Stufen erst ihren eigentlichen Antrieb erhalten.

Ist Kants Philosophieren also ein Philosophieren der Vernunft, in dem die Vernunft sich umgriffen weiß von dem Andern, so doch

nicht so, daß die Vernunft in ihrem Vollzuge eingeschränkt würde,

sondern so, daß dieses Andere selbst nur durch die Vernünftigkeit,

die sich auf sich stützt und verläßt, überhaupt erreichbar ist. Es ist nicht nur eine Sache der Wahrheit der Vernunft, die Grenzen ihrer

selbst zu erkennen, sondern eine Sache des die Vernunft Umgreifenden, daß die Vernunft sich nicht vorzeitig an ein Unvernünftiges

und nicht in falscher Richtung an ein Widervernünfliges preisgibt; denn dann würde mit der Vernunft auch das die Vernunft Umgreifende selbst verloren. Daraus erwächst die Scheu des Kantischen Philosophierens, sich der Transzendenz anders zu nähern als auf dem Wege der Vernunft

und als durch sittliche Verwirklichung in der Welt. Nur dadurch,

daß „der Mensch seinem Dasein einen absoluten Wert“ gibt, kann

er auch der Transzendenz innewerden. Die Transzendenz unmittelbar schauend, wissend, sich erbauend zu ergreifen, kann dem Menschen in seinem endlichen Zeitdasein nicht die Form seiner Wahrheit sein. „Zum Genießen oder zum Anschauen, Betrachten oder Bewundern ... als dem letzten Endzweck, warum die Welt und der Mensch selbst da ist, geschaffen zu sein,

kann die Vernunft nicht befriedigen; denn diese setzt einen persönlichen Wert, den der Mensch sich allein geben kann, als Bedingung,

unter welcher allein er und sein Dasein Endzweck sein kann, vor-

aus.“ Kant verwehrt zwar nicht das Lesen der „Chiffreschrift“ in der Natur, verwehrt nicht die Spekulation — aber diese Weisen des Vernunftverhaltens sind Schritte einer Vergewisserung, die selbst nur Sinn hat in bezug auf das zeitliche Tun der Vernunft im Dasein, 109

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die mit der Realität ihres Wirkens und durch sie allein die Transzendenz ergreift.

Daß das Sein der Transzendenz durch kein Wissen und keine direkte Erfahrung, durch keine schließende Erkenntnis, durch kein Erlebnis und durch keine Mystik zu erreichen ist, das ist selbst wie

ein Sprechen der Gottheit, aber eine indirekte Sprache. Denn würde uns hier Wissen zuteil, so würde unsere Freiheit gelähmt. Es ist, als

ob die Gottheit das uns Höchste - das aus sich selber Sein der Freiheit — schaffen wollte, aber, um es möglich zu machen, sich selbst

verbergen mußte. Die Unzulänglichkeit der Vernunft - fühlbar an den Grenzen der

Vernunft — könnte die Meinung hervorbringen, daß „die Natur uns nur stiefmütterlich versorgt“ habe. Aber was wäre die Folge, wenn unsere Vernunft Gottes Dasein und Wesen erkennen könnte? Kant fragt: Wie wäre es, wenn Gott nicht verborgen wäre? Statt des Kampfes, in dem der Mensch nach einigen Niederlagen doch eine moralische Stärke seiner Seele zu erwerben vermag, „würden Gott und Ewigkeit mit ihrer furchtbaren Majestät uns unablässig vor Augen liegen... Die Übertretung des Gesetzes würde freilich

vermieden, das Gebotene getan werden“. Aber es „würden die mehrsten gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht... geschehen, ein mora-

lischer Wert der Handlungen... würde gar nicht existieren. Das

Verhalten der Menschen... würde also in einen bloßen Mechanis-

mus verwandelt werden, wo wie im Marionettenspiel alles gut gesti-

kulieren, aber in den Figuren doch kein Leben anzutreffen sein würde. Nun, da es mit uns ganz anders beschaffen ist, da wir mit

aller Anstrengung unserer Vernunft nur eine sehr dunkle und zweideutige Aussicht in die Zukunft haben, der Weltregierer uns sein

Dasein und seine Herrlichkeit nur mutmaßen, nicht erblicken und klar beweisen läßt, dagegen das moralische Gesetz in uns, ohne uns

etwas mit Sicherheit zu verheißen oder zu drohen, von uns uneigennützige Achtung fordert, übrigens aber, wenn die Achtung tätig und herrschend geworden, allererst alsdann und nur dadurch Aussichten ins Reich des Übersinnlichen, aber auch nur mit schwachen 110

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Blicken erlaubt: so kann wahrhafte sittliche..... Gesinnung stattfinden... Also möchte es auch hier wohl damit seine Richtigkeit haben..., daß die unerforschliche Weisheit, durch die wir existieren, nicht minder verehrungswürdig ist in dem, was sie uns versagte, als in dem, was sie uns zuteil werden ließ.“

Die Unzulänglichkeit der reinen Vernunft, die sich ganz auf sich selbst allein stellen wollte, am radikal Bösen am abgründigsten fühlbar gemacht, bedeutet, sich mit ganzer Energie und ausschließlich seiner Vernünftigkeit -— Vernunft im Sinne der Kantischen Weite — anzuvertrauen, um nur durch sie an ihren Grenzen des umgreifen-

|

den Grundes inne zu werden. Werfen wir nun zuletzt einen Blick zurück: Kants Philosophie des „radikal Bösen“ muß enttäuschen, wenn man erwartete, Einsichten zu finden, die ein besseres Handeln dadurch ermöglichen, daß ich die allgemeinen Formulierungen zum Ausgangspunkte für die Entscheidung über den Inhalt meines kon-

kreten Tuns mache. Im philosophischen Denken gibt es jedoch zwei Wege, deren Sinn radikal verschieden ist. Entweder wird — jener Erwartung entspre-

chend — aus dem allgemeinen Grundsatz das Besondere abgeleitet und damit gegenständlich erkannt, was das bestimmte Gute sei. Oder es wird über alles gegenständlich Erkennbare hinaus in einen Grund geleuchtet, wo zuerst der Wille selbst und nicht ein Etwas-wollen

seine Verwandlung erfahren muß. In diesem letzteren Denken allein scheint uns die Kraft des Kantischen Philosophierens zu liegen. Wenn wir das Wesentliche des Tuns immer noch als ein Etwas erfassen, über das wir sprechen, das wir begreifen und zu rechtfertigen suchen, wenn wir das Entschiedenste, Klarste auszusprechen und zu tun scheinen, aber so, daß etwas in uns selbst nicht dabei ist, sich noch a ENEEN

in Reserve hält - womit, da diese Reserve im Grunde wieder irgendeinen Glückswillen oder eine Lebensangst, irgendein selbstsüchtiges i Daseins-, Geltungs-, Macht-Interesse deckt, grade das dezidiert sr Moralische durch die heimliche Verkehrung sophistisch und radikal

Br

Dean

111

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böse wird -, dann ist Kants Denken der Stachel, der nicht los läßt, bis der innerste Grund, aus dem ich will und den ich nicht wollen kann, erweckt ist, damit die Möglichkeit entsteht, die universale

Verkehrung durch den Entschluß rückgängig zu machen, in dem wir nicht mehr nur über etwas denken, sondern erst eigentlich selbst sind. Diese Kraft des Eindringens in meinen Ursprung haben die Ge-

danken allein durch reine Formalität. Der gegen Kant damals sogleich erhobene und bis heute wiederholte Vorwurf, daß seine Ge-

danken nur formal seien, trifft gerade das, was in ihnen die Tiefe des Philosophierens ist, und wird erst berechtigt, wenn die Form

nicht als Stachel zur Revolution der Denkungsart im Innersten meines Wollen wirkt, sondern wenn aus der gedachten Form abgeleitet werden soll, oder wenn gar unter die Formen als gewußte

Fächer schließlich beliebige Inhalte subsumiert werden dürfen. Sofern Kant selbst diesenWeg beschreitet und die reine Form des Gedankens verläßt, beginnt seine Angreifbarkeit. Kants Stärke ist, wo er in der reinen Formalität die Bewegung

der Erhellung des Ursprungs vollzieht. Diese Kraft ist es, die so rein wie bei kaum einem anderen Philosophen - außer bei Plato — ohne Verschleierung und Erleichterung durch dargebotene Inhaltlichkeit an den eigenen Ursprung des Selbstseins appelliert. ‘Wo die Formeln jedoch geben sollen, statt nur anzuweisen, hinzuweisen, abzuweisen, müssen sie falsch, weil leer werden. In diesem Philosophieren darf keine Formel zum Ausruhen im nunmehr erreichten Wissen benutzt werden. Kants Philosophie läßt im Stich, wenn man von ihr will, was grade sie nicht leistet. Kants Philosophie ist „kritisch“. Sie zeigt, wie alle Form angewiesen ist auf Erfüllung. Und diese Philosophie im Ganzen ist selbst noch angewiesen auf die zu ihr gehörige Erfüllung im Menschen, der

sie denkt, um Philosophie zu sein: Kant nennt sie Propaedeutik. Das radikal Böse zu erfassen, war für Kant der kaum mehr zu

übertreffende Anspruch an die Innerlichkeit des Menschen. An diesem Ursprung wurde ihm zugleich das Sein des Umgreifenden der +12

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Transzendenz in der Form logischer Erhellung existentiell gleichsam zwingend gegenwärtig. Das eigentliche Aufleuchten der Dinge, jedes Licht, durch welches das Dasein erhellt wird, jeder Ursprung der Liebe, in der Menschen

und Welt erst als sie selbst sichtbar werden - all dies erwächst zu verläßlicher Wahrheit allein darin, daß die bleibende Umkehrungstendenz des radikal Bösen durch den ständig erneuten Entschluß wie-

der in die rechte Ordnung gebracht wird. Philosophieren entspringt in der Stille vor dem Verborgenen. Aber es läßt den Denkenden nicht in dem Nichts der Stille versinken, sondern sieht das Sein sich zeigen im Dasein der Welt, der Gestalten

und des Gesetzes. Es spürt die Grenze, ohne sie zu überschreiten. Es vollzieht sich im Selbstsein, das, wenn es sich geschenkt wird, der

Grund aller Erfahrung des Gehalts in der Welt ist. Es zeigt nicht neue Gegenstände, aber alle Gegenstände neu. Philosophieren ist jenes alle bestimmte Gegenständlichkeit übergreifende Denken, das

als vollzogen doch das lebensnächste werden kann dadurch, daß es im Ursprung unseres Wesens angreift und unser inneres Handeln verwandelt. Es erlaubt nicht sich zu halten an einer feststehenden Objektivität, sei diese handgreifliches Dasein und zwingende Richtigkeit, sei sie offenbarte Garantie. Es denkt in dem Medium, in dem erst alles, was begegnet oder vorkommt, Sinn und Wesen erhält; es vertraut auf den Grund, durch den ich ich selbst bin.

Gegenüber der übermächtigen Kraft unmittelbarer Leidenschaft, gegenüber dem Drange, unser Denken auf das brennend Gegenwärtige zu beschränken, ist im Philosophieren diese Welt der Stille: in ihr kann die Kraft der Wahrheit ein Unzerstörbares erreichen, das

aber im Zeitdasein sogleich wieder die Gestalt der Frage — damit der Biegsamkeit trotz unerschütterlichen Grundes annehmen muß.

Es ist Aufgabe der Philosophie, durch Denkvollzüge die Orientierung der Möglichkeiten zu entfalten: damit aus logischer Verwirrung nicht existentielle Verwirrung entstehe, —- oder damit die reine Möglichkeit der Existenz sich durch logische Klarheit ihre Freiheit schaffen könne. 113

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Dagegen steht die Behauptung: der letzte Ursprung des Philoso-

phierens sei eine verzweifelte Konstruktion — da sei nichts; das Philosophieren verweise auf einen Punkt, an dem nur die furchtbare Leere erfahren werden könne. Aber so gewiß das Selbstbeobachten, das auf sich Reflektieren, das Sichumdrehen in die Bodenlosigkeit gleiten läßt, wo nichts zu sehen und nichts zu denken ist - so gewiß ist das Philosophieren ein Grundverhalten des Menschen, mit dem er entweder ermöglicht, daß er sich entgegenkommt, oder mit dem er in irrender Umkehrung diese Möglichkeit grade verschüttet. Wenn aber dieses Philosophieren ein Grundverhalten des Menschen schlechthin ist, so ist alle schulmäßige Veranstaltung, es in rationaler Klarheit zur Prägnanz zu bringen, unter das Kriterium gestellt, daß jeder innerlich philosophierende Mensch es mit dem Bewußtsein des ihm Bekannten hören und sagen muß: das wußte ich längst.

Ein Vortrag kann nur erinnern und veranlassen, nicht geben, was jedem allein im eigenen Denken mit den von den großen Philosophen her kommenden Antrieben erwachsen kann.

Diese großen Philosophen können einmal veraltet erscheinen im Schatten irrender und vergänglicher Interpretationen. Sie können jedoch, solange Abendländer leben, in der Tat niemals veralten, auch wenn man sie kaum noch zu hören scheint, und auch wenn es

vielleicht wieder einmal wie schon ofteines immer einsameren Standhaltens bedürfen wird, um die Kontinuität ihrer Erinnerung zu bewahren. Die großen Philosophen bleiben, bleiben Ursprung einer unabsehbaren, besseren Aneignung.

114

KIERKEGAARD 1951

Kierkegaard starb 1855. Noch um 1900 war er außerhalb der nordischen Länder wenigen bekannt. Zwar gab es ausgewählte Übersetzungen; 1896 war unter dem Titel „Angriff auf die Christen-

heit“ ein starker Band erschienen mit allen Dokumenten des Kierkegaardschen Kampfes gegen die Kirche. Aber breitere Kreise wurden erst durch andere Sensationen aufmerksam: 1904 erschienen im

Inselverlag Briefe und Aufzeichnungen über sein Verhältnis zu seiner Braut, 1905 das „Tagebuch des Verführers“, und im gleichen Jahr unter dem Titel „Buch des Richters“, übersetzt von Gottsched

in Basel, eine noch heute vortreffliche Auswahl aus Kierkegaards Tagebüchern, die einen wundersamen Eindruck seines Wesens vermittelten. Seit 1909 begann dann die große zwölfbändige Jenaer Ausgabe seiner Werke von Gottsched und Schrempf herauszukommen, durch die man ihn erst ganz kennenlernen konnte. Kierke-

gaard wurde in der deutschen geistigen Welt eine Gestalt ersten Ranges. Es war wie eine Entdeckung.

Aber in der Lehre der Universitätsphilosophie kam der Name vor 1914 kaum vor. Sein Name stand noch in keiner Philosophiegeschichte. Erst kurz vor dem ersten Weltkrieg wurde er ein Ereignis für einige junge Leute, die Theologen oder Philosophen wurden.

Heute gibt es Übersetzungen seiner Werke in die französische und englische Sprache. Seine Geltung ist im Wachsen in der ganzen abendländischen Welt und in Japan.

Auf Kierkegaard haben sich gegründet die dialektische Theologie und die sogenannte Existenzphilosophie aller Schattierungen. Die Herkunft ihrer Grundbegriffe ist offenbar. 115

KIERKEGAARD

Unter der studierenden Jugend ist heute das Interesse für ihn so groß wie für Nietzsche. Kollegs oder Seminare über den einen so gut wie über den anderen pflegen gefüllt zu sein. Die Frage aber, was Kierkegaard eigentlich sei, was er geschichtlich bedeute, und wie er heute wirken könne, sie ist keineswegs ein-

deutig zu beantworten. In der Kürze einer Stunde versuche ich einige Hinweise.

5

Kierkegaard ist ein christlicher Philosoph, aber von merkwürdiger Art: er bekennt sich nicht als Christ und sagt doch, daß ihm alles

an der Wahrheit des Christentums liege. Seine Werke sind auch für die Ungläubigen von größtem Interesse.

Er ist ein Dichter, ein Denker und ein Meister der Sprache. Kein Leser von Entweder-Oder, seines ersten großen Werkes, von sen-

sationellem Erfolg in Kopenhagen 1843, mußte merken, daß ein Christ es geschrieben habe. In den Pseudonymen, unter denen Kierkegaard die meisten seiner Werke veröffentlichte, dichtete er Denker, die er ihre Positionen

vortragen läßt, — den Ästhetiker in seiner souveränen Ungebundenheit beim genießenden Ergreifen aller Möglichkeiten des Lebens und des Geistes, — den Ethiker in seiner wohlgegründeten sittlichen

Verwirklichung als Ehemann und Bürger, — den Religiösen als den Erschütterten, der die Forderung Gottes hört, vor der das Asthetische suspendiert wird. Durch solche Entfaltung in Gestalten denkender Existenz möchte Kierkegaard, wie er sagt, „die Urschrift der individuellen, humanen Existenzverhältnisse, das Alte, Be-

kannte und von den Vätern Überlieferte noch einmal, womöglich auf eine innerliche Weise, lesen“.

So scheint die Sache einfach, schön und befriedigend: der Gang durch die menschlichen Möglichkeiten führt durch Aufsteigen über

die Stadien des Ästhetischen, Ethischen, human Religiösen bis zur Wahrheit, und diese Wahrheit ist das Christentum. Keineswegs aber ist Kierkegaards Haltung so geradezu. Er gibt

keine systematische Lehre und bittet, die Meinung der Pseudonyme 116

KIERKEGAARD

nicht für die seine zu halten. Er zeigt nur Möglichkeiten, um die Entscheidung dem Leser zu überlassen. Wenn dieser sie sich von Kierkegaard geben lassen möchte, ist sie ihm so sehr erschwert, daß

er in der Tat bei Kierkegaard nicht den Boden findet, den objektiven, aussagbaren, auf den er sich überzeugt stellen könnte, — daß er vielmehr in einen Wirbel gerissen wird, in dem er jeden Boden verliert. Zwar hat Kierkegaard im Rückblick auf seine Werke gesagt, sie alle seien von ihm geschrieben worden, um die Menschen gleichsam

hinein zu betrügen ins Christentum. Indem er sich auf den Boden der Welt, des für sie Interessanten stellte, wollte er die Weltmen-

schen dahin führen, wo der Absprung von diesem Boden erfolgt und die Wahrheit des Christentums aufleuchtet, oder vielmehr wo das Glaubenkönnen durch die Gnade Gottes gegeben wird.

Aber zugleich hat Kierkegaard verweigert, zu sagen, daß er Christ sei, und als Christ glaube, denn das sei etwas so Hohes, daß er es nicht wage, sich dafür zu halten, weil sein Leben dem nicht ent-

spreche. Wir fragen: was für ein Christentum ist das von Kierkegaard gedachte? Christentum heißt der Glaube, daß Gott in Jesus Christus der

Welt erschienen ist. Dieser Glaube aber ist für unseren Verstand unmöglich. Ein Mensch ist nicht Gott, und Gott ist nicht ein einzelner

Mensch. Kierkegaard lebt in unserem Zeitalter, in dem der Gottmensch in seinem ganzen Ernst, seiner Wörtlichkeit und Wirklichkeit vielleicht

von niemandem mehr in unerschütterlicher, fragloser Gewißheit geglaubt wird. Man sucht es sich für den Verstand irgendwie tragbar und begreiflich zu machen, versucht es durch Bibelforschung historisch zu begründen, möchte sich überzeugen durch spekulative Dog-

matik. Das alles aber ist nach Kierkegaard schon ein Preisgeben des christlichen Glaubens. Denn die Wahrheit dieses Glaubens kann nicht 117

KIERKEGAARD

‚eingesehen, nicht geschichtlich erforscht, nicht spekulativ gedacht werden. Sie schlummert nicht wie menschliche Wahrheit als verborgener Keim in uns, der nur erweckt werden muß. Sie wird nicht wie

menschliche Wahrheit mitgeteilt vom Lehrer zum Schüler, so, daß der Schüler nur aus Anlaß des Lehrers lernt, was er grundsätzlich

auch selber hätte finden können. Vielmehr erwächst der christliche Glaube ohne und gegen menschliche Wahrheit: Er kommt von anderswoher zu uns. Gott allein gibt uns die Bedingung, glauben zu

können. Es genügt der eine Satz der Jesus gleichzeitigen Generation: „Wir haben geglaubt, daß in diesen Jahren Gott sich in geringer

Knechtsgestalt gezeigt, unter uns gelebt hat und darauf gestorben ist“ — dieser Satz ist genug, um aufmerksam zu machen. Der Spätere

glaubt vermittels dieser Nachricht der Gleichzeitigen als wieder Gleichzeitiger kraft der Bedingung, die er selbst von Gott in Empfang nimmt. Alles Studium, alles Beweisen, alles Plausibel- oder Möglichmachen wäre vergeblich. Für den Verstand ist der Gottmensch ein Paradox. Der Glaube ist absurd, daher nur zu vollziehen durch Knechtung des Verstandes. Daß das so sein muß, meint Kierkegaard zu verstehen: Wenn Gott sich dem Menschen offenbaren will, so kann er sich nicht selbst gera-

dezu zeigen. Denn dann würde keine Verbindung von ihm zum Menschen führen, der Mensch wäre wie zerdrückt und vernichtet.

Daher muß Gott sich zeigen, indem er sich zugleich verbirgt. Er darf nicht als Gott kenntlich sein. Daher erscheint er in Knechtsgestalt, in der Würdelosigkeit des gekreuzigten Verbrechers. Diese Gottesoffenbarung ist indirekte Mitteilung. Selbst wenn Christus sagt, er sei Gottes Sohn, ist das keine direkte Aussage, denn, da sie im Widerspruch zu seinem Menschsein steht, ist sie offenbar absurd. Sie bedarf selber schon des Glaubens, um verstanden zu werden.

Kierkegaard verwehrt es, schon für christlichen Glauben zu halten, was nur die humane Religiosität ist: den Glauben an Gott, den Einen, Unveränderlichen, unendlich Liebenden - die Iotalität des menschlichen Schuldbewußtseins - das Leben aus einem unbedingten 118

KIERKEGAARD

Ziel -, die Verinnerlichung der Seele; das alles ist menschlich, aber

noch nicht christlich. Nein, das Einzige, das Ungeheure, das alles menschliche Begreifen überschreitende Faktum, das alles menschliche Denken sprengende Erscheinen Gottes selber ist nur im Sprung dank der geschenkten Gnade, nicht durch menschliche Kraft zu glauben

möglich. Wird es aber geglaubt, dann steht der Glaubende — das ewige Heil gewinnend - radikal anders zur Welt und die Welt anders zu ihm. Die Welt muß ihn verneinen, in der Welt muß er leiden und vernichtet werden, sein Kreuz auf sich nehmen. Das Kennzeichen des Christseins ist nicht nur die Preisgabe des Verstandes -, „gegen den Verstand glauben aber ist ein Martyrium“, — sondern das Mär-

tyrersein überhaupt - ob in grenzenlosem Leiden oder mit dem infolge des Glaubens erlittenen Tode. Das ist das unumgängliche Merkmal des Christseins. Es ist die Folge seiner radikalen Ungleichartigkeit mit der Welt. Christentum heißt: unheilbarer Bruch mit

der Welt. Die weitere Folge dieses Glaubens ist der Riß durch die Menschheit, der Riß zwischen christlich Glaubenden und nicht christlich Glaubenden. Den christlichen Glauben, der menschlich unverständlich ist, kann kein anderer verstehen, als nur der, der selbst glaubt. Daher wirkt dieser Glaube „absondernd, aussondernd, polemisch“.

Seine Wahrheit ist eine ausschließende. Der Glaubende erfährt „den Schmerz der Sympathie, daß er nicht mit jedem Menschen als Menschen sympathisieren kann, sondern wesentlich nur mit dem Christen“. Für den Glaubenden kann es dahin kommen, daß er „Vater und

Mutter hassen muß“. Denn „es gleicht dem Haß, wenn er seine Seligkeit an eine Bedingung geknüpft hat, von der er weiß, daß sie sie | nicht annehmen“. So sieht für Kierkegaard das Christentum aus, das er das neutestamentliche nennt. Wie aber steht es nach ihm mit dem Christentum in unserer Zeit?

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KIERKEGAARD

Kierkegaard sagt: Das neutestamentliche Christentum ist verschwunden. Heute sind wir alle Christen, d. h. niemand ist noch Christ. .

Indem Kierkegaard das sieht, stellt er sich die Aufgabe: das eigentliche Christentum ohne Täuschungen zu zeigen, das Christwerden schwer zu machen. In diesem Sinne hatte er ein Jahrzehnt lang seine Werke geschrieben. Dann aber, in seinem letzten Lebensjahr schreitet er zum öffentlichen, direkten Angriff auf die Kirche, auf die Christenheit unserer Zeit, um das echte Christentum wieder zu ermöglichen.

Heute — sagt Kierkegaard — werden wir als Christen geboren, getauft, konfirmiert und alles ist in Ordnung. Aber der Glaube kann

nie angeborene Natur werden. Der Mensch steht, wie er geboren ist, in der Unwahrheit. Keinen Weg hat er, zur Wahrheit von sich aus

zu gelangen. Nur indem Gott die Bedingung gibt, glauben zu können, wird der Mensch ein völlig anderer; nun erst tritt er in die

Wahrheit; ein Sprung führt ihn dahin. Christ wird einer durch eine Umwendung, die Wiedergeburt. Sein vorhergehender Zustand war der, nicht eigentlich zu sein. Im entscheidenden Augenblick wird er sich bewußt, daß er als er selbst geboren wurde. Das wird er nicht durch die Taufe, denn das Kind weiß nichts von der Taufe. Das wird

er nicht durch die Konfirmation, denn der Vierzehnjährige ist noch nicht reif. Das wird er allein durch die wirkliche Wiedergeburt. Der öffentliche Angriff auf die Kirche 1854-55 in Kopenhagen war wohl der rücksichtsloseste Angriff auf die christliche Kirche und der auf den tiefsten Ernst gegründete, den das 19. Jahrhundert gesehen hat. Hinweisend auf das eigentliche Christentum des Neuen

Testaments, wollte er die Christenheit entlarven. Er gipfelte in höchst drastischen Sätzen: „Dadurch, daß du nicht an dem öffentlichen Gottesdienst teil-

nimmst, wie er jetzt ist, dadurch hast du beständig eine große Schuld

weniger: du nimmst nicht daran teil, Gott dadurch zum Narren zu

halten, daß man für neutestamentliches Christentum ausgibt, was es doch nicht ist.“ 120

KIERKEGAARD

Er geht ins Gröbste: Die Verkündiger des Christentums haben ein pekuniäres Interesse daran, daß die Leute sich Christen nennen, und daß sie nicht zu wissen bekommen, was in Wahrheit Christentum ist.

Der Staat soll alle Verkündigung des Christentums zur Privatsache machen. „Christus fordert, daß man die Lehre ‚für nichts‘ ver-

kündet; daß man die Lehre in Armut, Niedrigkeit, in völliger Entsagung, in der unbedingtesten Ungleichartigkeit mit der Welt verkünde.“

Welches Motiv brachte Kierkegaard zu diesem Angriff? Er hat ihn nicht von Anfang an beabsichtigt. Jahrelang schien er bereit, Pfarrer zu werden. Der Angriff war ein letztes Ergebnis. Um die Antwort zu finden, müssen wir einige Voraussetzungen aus seinem

Leben vergegenwärtigen. In früher Jugend war der Grund gelegt. Mit 22 Jahren schreibt er in sein Tagebuch, er habe die fast unwiderstehliche Macht gefühlt,

mit der das eine Vergnügen dem anderen die Hand reicht, und er habe die Früchte vom Baume der Erkentnis geschmeckt und einen Augenblick der Freude am Wissen gekannt, aber die Erkenntnisse

hätten kein tieferes Mal in ihm selbst hinterlassen. Es kommt darauf an, „die Wahrheit zu finden, die Wahrheit für mich ist, für die ich leben und sterben will“. Er faßt den Entschluß: „Jetzt will ich innerlich zu handeln anfangen.“ Der Jüngling ist sich bewußt, „den Rubikon überschritten“ zu haben, weil der Ernst ge-

gründet war. Aber die Verwirklichung wurde im Laufe der Jahre zur Reihe _ negativer Entschlüsse. Die Last des Nein legte sich auf Kierkegaards

Leben: Seine Verlobung löste er auf, die Ehe war ihm verwehrt Kierkegaard selbst trotz zahlreicher Deutungen im Grunde unbe-

greiflich — aber der Getrennten blieb er treu auf einzige Weise. - Er ergriff keinen Beruf; jedesmal, wenn er, der die Examina längst

gemacht hatte, Pfarrer werden wollte, war etwas dagegen, das es ihm verwehrte. 121

KIERKEGAARD

Jedoch gerade aus dem Negativen erwuchs ihm der Gedanke und die Dichtung. Jedes Nein löste einen Rausch des Schaffens aus. Kierkegaard weiß es: Wer in der Liebe unglücklich war, vermag

als Dichter, wie kein anderer, das Glück der Liebe zu preisen. Der die Ehe mit Regine nicht wagte, hat über die Ehe viert das Tiefste geschrieben, das es in der Weltliteratur gibt.

Und so ist es mit dem Glauben. Wer ihn nicht wirklich gläubig auf sich nehmen kann, vermag ihn denkend zu dichten: „Wie die Schilderung jenes Dichters von der Liebe, so hat die Schilderung die-

ses Dichters vom Religiösen einen Zauber, wie ihn die Schilderung keines Ehemanns und keines hochwürdigen Herrn hat. Was er sagt, ist auch nicht unwahr, was er schildert, ist gerade sein glücklicheres,

sein besseres Ich... Er ist in seinem Verhältnis zum Religiösen ein unglücklicher Liebhaber, kein Gläubiger. Er hat nur das dem Glauben Vorangehende, die Verzweiflung, und in ihr ein brennendes Verlangen nach dem Religiösen.“

Aber dies zeigte dem Denker Kierkegaard, daß es so nicht wahr sei. Christlich ist ihm jede Dichterexistenz Sünde: daß man dichtet, anstatt zu sein, daß man sich in der Phantasie mit dem Guten und Bösen beschäftigt, anstatt zu sein, daß man den Glauben denkt, anstatt der Glaube zu sein. Dies ist der Ernst Kierkegaards, daß er im Spiel solcher Dichtung

und seiner Gedanken - so außerordentlich seine geistige Produktion auch war - nicht zufrieden sein konnte. Was er schreibt, ist diesem Ernst entsprungen, dem kein Geschriebenes genugtun kann. Daher sind seine Schriften so ergreifend. Denn niemals sind sie eine spiele-

rische Willkür. Stets blieb ihm klar: es kommt darauf an, von der Reflexion zum

Handeln zu kommen. Das aber war das Verhängnis und das Geheimnis Kierkegaards, daß dieser Schritt in seinem Leben nicht erfolgen konnte.

In den Tagebüchern sehen wir das Hin und Her zwischen Wollen und Nichtwollen, das Versuchen im Denken, das Vorbereiten, 122

KIERKEGAARD

das Zögern. Nur in zwei Richtungen wird die Entschiedenheit gewonnen: 1. in den negativen Entschlüssen, in dem bewußten Aufsichnehmen der Folgen, in der Treue zu dem, was negiert wurde, —

2. ın der Fortsetzung der literarischen Produktion, bei Wechsel ihrer Gestalt, mit dem Ziel, den Menschen, den Einzelnen aufmerk-

sam zu machen. Erst zuletzt in dem öffentlichen Handeln gegen die Kirche schien eine Tat voll Wagnis und Verantwortung dies Existenzproblem zu

lösen, aber in einer Handlung, die wieder als Handlung nur ein Negieren war. Wie konnte Kierkegaard solch Leben und Denken aushalten?

Kierkegaards persönliche Frömmigkeit im Hintergrund seiner dialektischen Interpretation des Christentums, seiner Unterscheidung von humaner und christlicher Religiosität, ist schlicht und einfach, als ob all jene raffiniert quälenden Gedanken vergessen seien. So schreibt er: „Der beste Beweis für die Unsterblichkeit der Seele, daß ein Gott ist..., ist eigentlich der Eindruck, den man in seiner

Kindheit davon bekommt, also der Hinweis: das ist ganz gewiß, denn das hat mein Vater mir gesagt.“ Und spät noch: „Von frühester Kindheit an: das ist eigentlich die Hauptsache.“

Ganz unreflektiert hat er — er bekennt es wiederholt - im Verborgenen mit Gott wie ein Kind mit seinem Vater gelebt. Er sah, wenn auch nicht aussagbar eindeutig, doch überall die Lenkung in seinem Leben.

Immer wieder spricht er einfach von der Liebe Gottes, der unendlichen Liebe, die nie aufhört: „O, während ich schlafe, wachst du; und wenn ich wachend mich irre, dann machst du selbst den

Irrtum zu dem noch Besseren als das Richtige gewesen wäre.“ Auf dem Sterbebett antwortet er auf die Frage, ob er in Frieden beten könne: „Ja, das kann ich. Dann bete ich zuerst . . ., daß

mir alles möchte vergeben werden. Dann bete ich darum, daß ich 123

KIERKEGAARD

‚der Verzweiflung im Tode ledig werden möchte... . Und dann bete ich darum, daß ich im voraus etwas davon wissen möchte, wann die letzte Stunde kommt“.

Auf seinem Grabe sollten nach seiner Anordnung die Verse des dänischen Dichters Brorson stehen: „Noch eine kurze Zeit, Dann ist’s gewonnen,

Dann ist der ganze Streit In nichts zerronnen. Dann darf ich laben mich An Lebensbächen,

Und ewig, ewiglich Mit Jesu sprechen.“ Aber diese Frömmigkeit war nicht das Motiv seines Denkens und Handelns. In seinem Werke ist sie kaum sichtbar, außer in manchen Sätzen der erbaulichen Reden. Was Kierkegaard mit seinem Angriff auf die Christenheit eigentlich wollte, das steht also auf dem Grunde des Ernstes, den er in seiner Jugend legte, und der, als er zu so vernichtenden Negationen führte, durch die Zuflucht des Lebens bei einer unbefangen-kind-

lichen Frömmigkeit möglich blieb. Aber entscheidend für den Angriff selbst war ein ganz bestimmtes Motiv. Er wollte keine Revolution, wollte nicht etwa eine neue Kirche gründen. Er wollte nichts zu tun haben weder mit den Sozialisten noch mit den Liberalen, mit all den Politikern und Agitatoren, die

Programme zur Veränderung der gesellschaftlichen Zustände entwerfen. Er wehrte jede Gemeinschaft mit ihnen ab, wenn sie ihn für einen der ihren hielten. In all jenen Bewegungen sah er nur den Weg in das Unheil des Zusammenbruchs unserer Welt.

Wollte er etwa als Christ für das Christentum kämpfen, ein neuer Märtyrer werden? Ausdrücklich erklärte er: nein, wenn ich durch

mein Tun zum Märtyrer werden sollte, so bin ich es nicht für das Christentum. Das Christentum stand ihm zu hoch, er wagte nicht, 124

KIERKEGAARD

sich als Wahrheitszeuge des Christentums zu bekennen, er wollte nicht verwechselt sein. Also was wollte er? Nur Redlichkeit. Darum rief er auf der Höhe seines öffentlichen Angriffs: „Ich will Redlichkeit.... Will unsere Zeit ehrlich, offen, geradezu sich gegen das Christentum empören und also zu Gott sagen: wir können und wollen uns unter diese Macht nicht beugen! — nun gut,

ich bin dabei. Will man Gott das Eingeständnis machen, daß das Geschlecht die

ganze Zeit her sich eine immer weiter gehende Abschwächung des Christentums erlaubte, bis wir zuletzt aus dem Christentum das Gegenteil des neutestamentlichen Christentums gemacht haben -

und daß wir doch gern haben möchten, daß dies für Christentum gelten dürfe - will man das, so bin ich dabei.

Eines aber will ich nicht... am offiziellen Christentum teilhaben, das durch Vertuschungen und Kunstgriffe sich den Schein des neutestamentlichen Christentums gibt. Für diese Redlichkeit will ich wagen, dagegen sage ich nicht, daß ich für das Christentum etwas wage...

Nimm an, ich würde ein Opfer, so würde ich doch nicht ein Opfer für das Christentum, sondern bloß dafür, daß ich Redlichkeit wollte. . . Ich darf mich nicht einen Christen nennen, aber Redlichkeit will ich, und zu dem Ende will ich wagen.“ Als Redlicher fühlt Kierkegaard sich gebraucht von der Vor-

sehung. Er ist sich - dies einzige Mal in seinem Leben - völlig gewiß, daß Gott will, was er mit seinem Angriff tut.

Ist die Redlichkeit nun für ihn der letzte Sinn? Keineswegs, aber sie ist die unerläßliche Bedingung. Darum setzt er sein eigenes Tun so bescheiden wie möglich an: nicht Wahrheitszeuge, nicht Märtyrer, nicht Kämpfer für das Christentum, - er soll nichts anderes tun als

die Unwahrhaftigkeit entlarven. Warum? Kierkegaard sieht sein Zeitalter stürzen in das Nichts der bodenlosen Reflexion, der totalen Nivellierung, des Repräsentierens, in dem nichts repräsentiert wird, der Fiktionen, der Scheine,

hinter denen keine Valuta als Deckung steht, des universalen gott125

KIERKEGAARD

losen „als ob“. Der neue Ernst — meint er einmal - sei noch nicht in

Seuchen, Hungersnöten und Kriegen zu erwarten, — erst wenn die ewigen Höllensträfen wieder da seien, würde der Mensch wieder

ernst. In dieser verzweifelten Lage stellt Kierkegaard jene Forderung auf, die Kirche solle nur redlich anerkennen, daß ihr Tun und ihre

Lehre abgeschwächtes, nicht neutestamentliches Christentum sei. Würde diese Redlichkeit wirklich, dieses letzte Minimum, dann muß

man sehen. Es steht in keines Menschen Hand, den Gang der Welt zu lenken. Die Verwirklichung jener Redlichkeit versteht er wie eine Frage an die Gottheit: „Hat die Sache diese Wendung erhalten, so wird es sich zeigen, ob das den Beifall der Vorsehung hat. Wo nicht, so muß alles brechen, damit in diesem Schrecknis wieder Individuen entstehen, die das Christentum des neuen Testaments tragen können.“ Dieser Angriff auf die Kirche scheint uns ebenso wie Kierkegaards

Deutung des Christentums schlechthin ruinös. Christentum, das Dauer in der Zeit, Bestand in der Welt haben soll, ist auf Kirche angewiesen. Daß damit Anpassung, Ermäßigung, Verkehrung verknüpft ist, weiß der Christ von den ersten Jahrhunderten an: die

Kirche ist nie vollendet. Das Christliche in ihr ist die ständige Frage, der Maßstab, der Anspruch, die Aufgabe und ist in der Welt weltlich jederzeit auch verdorben. Es würde heißen, es selber zu vernichten, wenn man seinen weltlichen Überlieferungsträger, die Kirche, vernichten wollte.

Weiter: Wenn der christliche Glaube durch eine so raffinierte Dialektik im Absurden gerettet werden soll, so wäre das Christentum, wenn es in dieser Gestalt richtig verstanden wäre, für einen

vernünftigen Menschen unmöglich, solange er weder wahnsinnig noch unredlich wird.

Kurz, wenn Kierkegaards Christentumsdeutung die wahre wäre, so hätte dieses Christentum keine Zukunft. Kierkegaards Arbeit zu seinem Schutze wäre in der Tat eine Arbeit an seiner Zerstörung, — in anderer Art, als die Täuschungen und Anpassungen es zerstören. 126

KIERKEGAARD

Ist also nicht Leben und Denken Kierkegaards als widersinnig erwiesen? Ist das Sichausschließen von Welt und Gemeinschaft, von

jeder Verwirklichung in der Welt nicht wie eine Form des Selbstmords als ein Glaube, der nur am Negativen kenntlich ist: dadurch, daß er glaubt, was für menschliche Vernunft nicht nur über die Vernunft, sondern schlechthin unmöglich ist, — dadurch, daß der Glaubende grundsätzlich nur als Leidender und als Märtyrer sich zeigt, — dadurch, daß er jeder Weltverwirklichung, der Ehe, dem Beruf

mit negativem Entschluß begegnet und ausweicht? Diese Bedeutung hat Kierkegaard selbst ausgesprochen: Er ist kein Vorbild, er ist keine Autorität, er zeigt nicht den Weg, er verkündet nicht. So muß man denn erstaunt fragen: was war eigentlich Kierkegaard, was

für ein Mensch, mit welcher Aufgabe,

mit welcher

Leistung? Wir sehen ihn zunächst in seiner persönlichen Wirklichkeit: Welch unglücklicher Mensch, dem alles versagt blieb, außer daß

er ein Genie war im Denken und Dichten und die tiefe Befriedigung des Schaffens kannte! Im Alter von fünfundzwanzig Jahren schreibt er von sich: „Wie eine einsame Tanne, egoistisch abgeschlossen und nach dem Höheren gerichtet, stehe ich, werfe keinen Schatten, und nur die Waldtaube baut ihr Nest in meinen Zweigen.“ Und dann: „Das müßte doch

entsetzlich sein am Tage des Gerichts, wenn alle Seelen wieder ins Leben treten — da ganz allein zu stehen, einsam und ungekannt von allen, allen“ Und auf dem Sterbebett, als Boesen zu ihm sagt, wie viel sich in seinem Leben wunderbar getroffen habe: „Ja, ich bin sehr froh dar-

über und sehr wehmütig, denn ich kann die Freude mit niemand

teilen.“ Er spricht von sich als einer Art Probemensch, einem Versuchskaninchen sozusagen für das Dasein, und denkt schon als Jüngling: 127

KIERKEGAARD

vielleicht würden in jeder Generation zwei oder drei geopfert, um in schrecklichen Leiden zu entdecken, was den anderen zugute kommt. Kierkegaard war sich seines Verhängnisses, dieses radikalen Ent-

behrens alles Menschlichen und weltlich Wirklichen bewußt. Eine Tagebuchnotiz — unter zahllosen entsprechenden - sagt:

„Nun da ich so ganz mich selber verstehe darin, ein einsamer Mensch zu sein, ohne Beziehung zu irgend jemand... . nur mit einem Trost: Gott, der Liebe ist, nur mit Sehnsucht nach einem Freund, daß ich ganz sein werden möchte, des Herrn Jesus Christus, mit Sehnsucht nach einem verstorbenen Vater, schlimmer als durch den Tod von dem einzigen lebenden Men-

schen getrennt, den ich in entschiedenem Sinne geliebt habe . . .

[i3

Aber nun sein Werk. Auf dem Wege seiner negativen Entschlüsse hat Kierkegaard Möglichkeiten entworfen: Es gibt keine radikaleren Entwürfe der mannigfachen Gestalten des verlorenen ästhetischen Lebens. Es gibt keine großartigeren Entwürfe der Ehe und

der humanen, nach ihm noch nicht christlichen Religiosität. Sein Werk zeigt die menschlichen Grundsituationen und Urverhältnisse in unerhörtem Reichtum. Die Gedankenwelten wiederzugeben, die

Kierkegaard hier entfaltet hat, kann uns in der Kürze nicht Gegenstand werden. Alles aber bleibt ihm in Gestalt der Möglichkeit - es ist von Pseu-

donymen gedacht, in dichterischen Gestalten dargestellt. Nirgends scheint die Wahrheit zu sein. Der Reichtum der Gestalten des ästhetischen Lebens ist überall zugleich Verlorensein. Aber auch das anscheinend Vollendete, die ethisch gebundene, metaphysisch gegründete Ehe, die humane Religion - alles hat seine Grenze. Es darf

nicht seiner selbst sicher sein. Daher werden wir vom einen zum anderen getrieben, gewinnen keinen Boden, — es sei denn jenes absurd verstandene, in negativen Entschlüssen sich zeigende Christentum, — so unbetretbar wie der 128

KIERKEGAARD

von Nietzsche vergeblich angebotene Boden von ewiger Wieder-

kehr, dionysischem Leben und Wille zur Macht. Aber Kierkegaard will nicht einmal für jenes Christentum wir-

ken, sondern nur für Redlichkeit. Er wiederholt ständig, daß er nicht Autorität sei, nur Korrektiv. Er nennt sich einen Polizeiagenten, einen Spion im Dienste des Höchsten.

In der Tat wollen Kierkegaard und Nietzsche zweideutig bleiben: Sie sind die Erhellenden und zugleich die Verführer. Sie wer-

den Läuterung für den Ernst und lassen sich als Zeugen anrufen für jeden Schwindel. Sie sind Meister der Redlichkeit und stellen Denkmethoden zur Verfügung, jede Wahrheit verschwinden zu lassen.

Sie lockern auf, daß jeder zu sich selbst komme, und sie vernichten im Strudel des Nihilismus. Daher ist es unmöglich, ihnen als Lehrern zu folgen. Aber jedes moderne Philosophieren wäre unzureichend, das nicht ihr Fegefeuer der Infragestellung erfahren hat bis in jeden Winkel, in dem man sich verbergen oder befestigen möchte.

Ich bin überzeugt, daß weder Theologie noch Philosophie sich auf Kierkegaard gründen können. Jene Gründung vor vierzig Jahren war nicht schon das Gewinnen eines neuen Bodens, — es war das Erwachen aus einem Schlafe.

Wenn wir sein Werk aneignen, und es dabei nicht verderben wollen, dürfen wir sein Wort nicht vergessen: „ich werde intellektuell ein nicht so kleines Kapital hinterlassen; ach, und ich weiß zugleich, wer mich beerben wird, er, die Gestalt, die mir so ungeheuer zuwider ist: der Dozent, der Professor. Und selbst wenn der Professor dies zu lesen bekäme, es würde doch nicht bewirken, daß das Gewissen

ihm schlüge, nein, auch dieses würde doziert werden.“ In der Tat, der Gefahr, uns bloßzustellen, wenn wir von Kierke-

gaard sprechen, müssen wir wohl fast gewiß erliegen. Sie nach Kräften zu meiden, setzt dies voraus, daß wir uns nicht nur an das intel-

lektuelle Kapital halten, sondern uns ergreifen lassen von dem Ernst.

KIERKEGAARD

Wir heute, auf der weltgeschichtlichen Fahrt im Sturm, blicken ins Dunkel. Einigen von uns wird vergönnt, eine Weile noch sich aufzuhalten wie auf einer glücklichen Insel, in einem Sonnenblick uns besinnend. Bei der Besinnung in solcher Lage wächst das Gewicht Kierkegaards und Nietzsches. Ihre Namen sind aufgestiegen zu Sternen erster Größe, vor denen die vielen Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts nach Hegel verblassen. Im weltgeschichtlichen Stil geredet, den Kierkegaard selbst so verabscheute: Mit Hegel ist etwas zu Ende gegangen, was bei allen Differenzen durch Jahrtausende ein Ganzes und in seinen heute erschütterten Fundamenten selbstverständlich war. Seit mehr als hundert Jahren verlieren wir ständig an Substanz und wissen zugleich immer mehr.

Beim Gang in die neue Welt sehen wir Kierkegaard und Nietzsche wie Sturmvögel vor einer Wertterkatastrophe: sie zeigen die

Unruhe, die Hast, - dann die Kraft und Klarheit eines augenblicklichen hohen Fluges, und wieder etwas wie Kreisen und Taumeln und Absturz.

Sie selber wissen sich als Seezeichen; an ihnen ist Orientierung möglich — aber indem man sich in Distanz von ihnen hält. Ihnen zu folgen, wird von ihnen selber verwehrt. Sie wollen wirken, aber in der Weise, daß sie den Anderen zu sich

selbst bringen, alles Entscheidende von ihm erwarten, es ihm nicht geben. Denn je mehr ein Zeitalter, die geschichtlichen Bindungen verlierend, unter die Knechtschaft der Masse gerät, desto stärker wird der

Anspruch an den Einzelnen als Einzelnen: er selbst zu sein; jeder

Mensch ist ein Einzelner, hier ist der letzte Grund, dem allein sich

wieder zeigen kann, was eigentlich ist. Für den Einzelnen aber gilt in solcher Zeit, je fragwürdiger das Leben in Kulissen und mit Fiktionen wird, zuerst: Redlichkeit.

Als Einzelner selbst und redlich zu sein, ist Kierkegaards Anspruch, wörtlich übereinstimmend mit Nietzsche. Aber dieser Anspruch ist von ihnen erst in seiner ganzen Abgründigkeit erkannt: 130

KIERKEGAARD

was ist das Selbst? was ist Redlichkeit? Beide haben es bis zum Außersten erfahren und durchdacht. Und der Anspruch ist ungemein karg. Durch ihn ist noch nicht

gegeben, was durch ihn vielleicht geweckt werden kann. Bei Kierkegaard und Nietzsche steht er zwar noch im Medium des geistigen

Reichtums der europäischen Überlieferung. Aber allein jene Forderung bleibt das Einfache und Unerbittliche, während jener Reichtum bei ihnen zu einem grandiosen Spiel des Infragegestelltseins und des Infragestellens wurde. Oder ist bei Kierkegaard mehr? Überliefert er nicht doch, wenn wir alle Absurdität des von ihm so gewaltsam verstandenen christlichen Glaubens und alle verführende Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten fallen lassen, die ewige Wahrheit der humanen Religion in einer wunderbaren Reinheit? Diese Wahrheit kündet: die Unveränderlichkeit Gottes, dies Furchtbare und dies Ruhe Gebende, daß bei ihm alles entschieden ist und sich nicht wandelt, —

daß wir vor Gott allezeit Unrecht haben, — daß all unsere Empörung scheitert an der Ewigkeit seiner unergründlichen Tiefe, — daß Gott die unendliche Liebe ist, so daß im Schrecklichsten noch das Vertrauen bleiben kann auf die Vorsehung, die wir, im ständi-

gen Horchen auf sie, nicht begreifen in ihrer bleibenden Zweideutigkeit. Aber auch diese ewigen Wahrheiten weisen in der Kargheit der Sätze nur hin auf die Möglichkeit unendlicher Erfüllung. Sie halten nicht, ihr Sinn entschwindet. Um so wundersamer, wenn sie trotz-

dem immer wieder da sind. Und auf biblischem Grunde sind zugleich die anderen Wahrheiten

in Kierkegaards Denken gegenwärtig: die Welt ist nicht in Ordnung und ist als solche nicht in Ordnung zu bringen, muß in ständiger Verwandlung, ständig scheiternd und neu versuchend, durch die Zeit gehen, — daher die Unruhe unserer Seele, die in dieser Welt keinen Ort der

Endgültigkeit findet. Wir sind der Frage fähig nach dem ewigen 131

KIERKEGAARD

Heil, damit des unbedingten Ernsts, aber wir bleiben ohne objektiv garantierte Antwort.

Wenn wir heute philosophieren im Bewußtsein des weltgeschichtlichen Augenblicks, wenn wir wissen, daß etwas

Unwiderrufliches

geschehen ist,

durch das das gesamte menschliche Dasein eine Umwälzung erfährt, —

wenn wir schen, daß diesem Ereignis noch kein Mensch und kein Volk Genüge tun kann mit einer sittlich religiösen Wirklichkeit,

durch die das Unheil aufzufangen und der Aufschwung des Menschen ermöglicht würde wenn wir meinen, in dieser immer kahler werdenden Welt so etwas wie das Ende der abendländischen Philosophie zu erblicken,

in der Gestalt, die doch von Parmenides bis Hegel ein einziger großer Zusammenhang war, — dann spüren wir in diesen Zeiten des gefährlichen Übergangs die Ursprünglichkeit der Denker wie Kierkegaard und Nietzsche, die, im Besitze der überlieferten Denkmittel, gleichsam ausbrechen, uns orientieren, aber noch nicht den Weg zeigen, —

dann erwarten wir nicht von der Fachphilosophie des ablaufenden Jahrhunderts die Grundlage und den Gehalt der kommenden Welt, so ergiebig diese Facharbeit im historischen Wissen war; vielmehr erwecken uns erst Kierkegaard und Nietzsche zum Wiedererkennen auch der Ursprünge in jenem Überlieferten.

Was nun möglich ist, ist offen. Wer alles Vertrauen verloren hat, kann in Kierkegaard und Nietzsche das Ende sehen. Für ein Vertrauen aber, das unbegründbar in eins Vertrauen zur Gottheit und

zu den Möglichkeiten des Menschen ist, wird durch jene Denker mit dem Ende zugleich ein Anfang markiert. Sie zeigen zwar nicht den ' Weg und nicht den Gehalt der Wahrheit. Aber sie erregen zu dem Ernst ohne Illusionen. Wenn heute in einer Zeit geistiger und materieller Katastrophen,

durch die wir hineingeführt werden in die kommende Welt, die 132

KIERKEGAARD

Philosophie eine verschwindende Bedeutung hat, so liegt das daran,

daß wir ihr nicht Genüge tun. Die Philosophie gehört so sehr zum

Menschsein, daß sie eine

neue Gestalt gewinnen muß. Nehmen wir ihren Ernst in der Überlieferung wahr durch eigenen Ernst, dann brauchen wir nicht hilflos im Nichts zu stehen, nicht angewiesen zu sein auf ein bodenloses Selbstsein einer leeren Existenz. Wir können den Maßstab gewinnen und die Leuchtkraft der

Philosophie sichtbar werden lassen. Kierkegaard und Nietzsche haben uns die Augen geöffnet. Wer es erfahren hat, dem war zumute, als ob ihm der Star gestochen sei. Nun ist die Frage, was mit den geöffneten Augen gesehen, und was dann gelebt und getan wird.

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VOM

EUROPÄISCHEN

GEIST

1946

Vor dem ersten Weltkrieg galt die Gemeinschaft der europäischen Nationen, die Einheit Europas als selbstverständlich. Es erscheint

uns wie eine paradiesische Zeit, als man ohne Paß aus Deutschland nach Rom fuhr und nur die Merkwürdigkeit feststellte, daß, wenn

man nach St. Petersburg fahren wolle, man einen Paß brauche. Aber in jenen Zuständen muß etwas Grundverkehrtes

gelegen haben.

Kaum jemand wurde sich dessen radikal bewußt. Aber einzelne Denker sprachen aus, was war. Im Okonomisch-sozialen hatte Marx das Unhaltbare gesehen. In der Substanz des Menschseins waren Kierkegaard und Nietzsche die Propheten des Zeitalters, die - ohne Erfolg - aus dem Schlaf der Selbsttäuschungen wecken wollten. Die Christenheit ist nur noch Schein, sagte Kierkegaard. Gott ist tot, der

Nihilismus kommt herauf, sagte Nietzsche. Die europäische Einheit war ein schwaches Bildungsphänomen der Oberschicht. Was damals noch als Europa galt, das hat offenbar nicht getragen. Wollen wir auf europäischem Grunde leben, dann müssen wir einen tieferen

Ursprung wirksam werden lassen. Die Enttäuschung zweier Weltkriege zwingtuns, alle europäischen Gebilde gleichsam zu beklopfen, wie weit sie etwa hohl geworden sind.

Wir vertrauen nicht mehr dem Humanismus. Aber wir lieben ihn und möchten alles tun, ihn zu bewahren. Wir vertrauen nicht mehr der modernen Zivilisation, der Wissen-

schaft und Technik. Aber wir begreifen deren weltgeschichtliche Bedeutung, möchten sie keineswegs preisgeben, sondern mit aller Kraft weiter entwickeln und sinnvoll gestalten. Wir vertrauen nicht mehr der Gesellschaft germanisch-romanischer 233

VOM

EUROPÄISCHEN

GEIST

Nationen in ihrem politischen Gleichgewicht. Aber wir möchten die Idee einer Einheit selbständiger, freier europäischer Nationen retten. Wir vertrauen nicht mehr bedingungslos den christlichen Kirchen. Aber wir halten an ihnen fest als den kostbaren Gefäßen unersetzlicher Überlieferung. Humanismus, Zivilisation, politisches Gleichgewicht, Kirchen, alle diese großen Dinge, scheinen zu einem Vordergrund geworden zu sein. Auf sie ist kein Verlaß. Sie sind uns unentbehrlich, aber nicht genügend.

Die Bildung des Humanismus ist heute als Lebensmacht ohne Kraft. Es gibt nicht mehr Menschen wie Thomas Morus oder Pico von Mirandola. - Der Fortschrittsgedanke der Zivilisation hat sich als ein Übermut des Menschen entschleiert; der Fortschritt beschränkt sich heute auch für unser Bewußtsein auf rationale Wissenschaft und

Technik, die zweideutig im Dienste des Guten wie des Bösen stehen. - Der Gedanke vom Gleichgewicht der Mächte verdeckte den zer-

störenden Widerspruch, der in der Forderung absoluter Souveränität einer jeden Staatsnation lag, und der ständig die Gemeinschaft die einst lebentragende geistige Macht der Kirche zerbrechen mußte-

ist heute auf besondere Bereiche zurückgedrängt, auf den Sonntag des Daseins. Sie entbehrt des hinreißenden Pneumas, das das Leben

aus dem Geiste unbedingt macht. Wir müssen tiefer zurück in unsere geschichtlichen Ursprünge, dorthin, woraus alle jene schwach gewordenen Mächte einst ihre Kraft hatten. Aus den Gewohnheiten und den konventionell

er-

regten Gefühlen drängen wir dahin, woraus und wohin wir im Ernste leben. Der uns in Genf gestellten Aufgabe entsprechend erörtere ich die

drei Fragen: Was ist Europa? Wie steht Europa in der veränderten Welt? Was können wir aus europäischem Selbstbewußtsein wollen?

234

VOM

EUROPÄISCHEN

GEIST

Was ist Europa? Etwa die kleine Halbinsel, die der eurasiatische Kontinent zum

Atlantischen Ozean vorstreckt? Oder auf diesem Boden vielmehr ein geistiges Prinzip, das Prinzip des Abendlandes? Dann umfaßt Europa in der Antike die griechisch-römische Bildungsgemeinschaft,

die um das Mittelmeer lebte. Im Mittelalter reichte es so weit wie das Christentum: die Christenheit ist Europa. In der neueren Zeit aber galt Europa geographisch als das Land bis zum Ural, geistig als die Einheit, die sich den Erdball kolonisatorisch aneignete, als der weiße Mann überall ein Vorrecht geltend machte. Innerhalb Europas war jederzeit Kampf und Krieg. Aber man wußte sich als zusammengehörende geistige Einheit gegenüber den

Barbaren,

den Ungläubigen,

den Heiden,

den Unzivilisierten.

Europa war nie allein. Es stand — gegen die Perser, den Islam, die Mongolen — die Normannen, die Ungarn, die Türken - immer wie-

der am Rande des Untergangs. Aber Europa war groß, der Erdball noch keine ständig gegenwärtige Wirklichkeit. Heute verlagern sich die Schwergewichte der abendländischen Menschheit fern von Europa in die weiten Ebenen

Amerikas und Asiens. Diese bleiben immer noch innerhalb der christlichen Welt. Europa als Abendland reicht so weit wie die biblische Religion, schließt ein Amerika und Rußland. Der kleine europäische Kontinent bleibt nur der Boden, auf dem durch Jahrtausende diese Kultur sich einst entwickelt hatte, bevor sie sich verbreitete, Nord-

asien und Amerika bevölkernd und formend. Dazu aber kommt heute geistig etwas ganz anderes. Seitdem

China und Indien für den Abendländer nicht mehr fremde Gebiete sind, die allenfalls ein Interesse haben neben Polynesien, Australien

und Afrika, sondern seitdem hier ursprüngliche Entfaltungen des Menschseins mit einzigartigen geistigen Schöpfungen erkannt und geliebt wurden, ist das europäische Selbstbewußtsein in einem Wandel. Vorbei ist der europäische Hochmut, ist die Selbstsicherheit, aus 235

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EUROPÄISCHEN

GEIST

- der einst die Geschichte des Abendlandes die Weltgeschichte hieß, fremde Kulturen in Museen für Völkerkunde gebracht, als Gegenstand der Ausbeutung und der Neugier angesehen wurden, einst, als sogar Hegel sagen konnte: „Die Welt ist umschifft und für die Europäer ein Rundes. Was noch nicht von ihnen beherrscht wird, ist entweder nicht der Mühe wert oder aber noch bestimmt, beherrscht zu

werden.“ Europa wird sich heute seines Eigentümlichen bewußst im Kontrast und verliert damit seine Absolutheit. Die technisch-militärische Überlegenheit wird weltgeschichtlich zu einer Episode. Auf die Jahrtausende gesehen wird uns das hohe Menschsein von China bis zum Abendlande gleichwertig. Die Parallele dreier selbständiger großer geistiger Entwicklungen -in China, in Indien, im Abendland - ist offenbar. Für den christlichen Glauben ist Christus die Achse der Weltgeschichte. Zu ihm

hin und von ihm her geht der Gang der Dinge bis zum Weltgericht. Für eine empirische Betrachtung - die den religiösen Glauben nicht zu beeinträchtigen braucht - liegt die Achse der Weltgeschichte in den Jahrhunderten 800 bis 200 v. Chr. Es ist die Zeit von Homer bis Archimedes, die Zeit der großen alttestamentlichen Propheten und Zarathustras — die Zeit der Upanischaden und Buddhas - die Zeit von den Liedern des Shiking über Laotse und Konfuzius bis zu Tschuang-tse. In dieser Zeit wurden alle Grundgedanken der folgenden Kulturen gewonnen. Zu ihr kehrt man mit Renaissancen in China, in Indien und im Abendland immer wieder zurück. Dieser Zeit ist gemeinsam, daß in den menschlichen Grenzsituationen die äußersten Fragen auftreten — daß der Mensch sich in seiner ganzen Brüchigkeit

' erkennt und zugleich die Bilder und Gedanken hervorbringt, mit denen er trotzdem weiter zu leben vermag — daß die Erlösungsreligionen auftreten — daß die Rationalisierung beginnt — und daß in

allen drei Gebieten am Ende ein Zusammenbruch des als kritisch empfundenen Zeitalters steht mit der Bildung despotischer Groß-

reiche. Die parallele Vergegenwärtigung dieses Jahrtausends gehört zu den ergreifendsten weltgeschichtlichen Erfahrungen, die wir 236

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EUROPÄISCHEN

GEIST

machen können. Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto ähnlicher werden wir einander. Als die drei Welten einander begegneten, konnten sie einander verstehen, denn in aller Verschiedenheit hatte es sich um das gleiche gehandelt, die Grundfragen des Mensch-

seins. Aus diesen ähnlichen geistigen Ursprüngen sind dann in den folgenden Jahrtausenden ganz verschiedene Entwicklungen erfolgt. Ein radikaler Unterschied Europas von China und Indien ist aber erst in den letzten vier Jahrhunderten zutage getreten: die univer-

sale Wissenschaft und Technik. Sie hat die Überlegenheit Europas gebracht, die vorübergehende Weltherrschaft, welche auf die Dauer in der Tat bedeutet, daß Technik und Wissenschaft mit allen ihren

Folgen zum Weltschicksal geworden sind. Die Fragen, die hier an die Weltgeschichte gestellt werden können, sind die Grundfragen, die das große Werk Max Webers beherr-

schen: Was ist das Gemeinsame in jenen drei großen Kulturen? Was ist dem Abendlande eigentümlich? Warum ist diese eigentümliche Entwicklung eingetreten? Warum haben wir im Abendland Kapitalismus? Woher die Rationalisierung und ihr Inhalt? Woher die universale Wissenschaft? Woher das Ethos, das Berechenbarkeit und

Voraussicht zum Lebensprinzip aller Arbeit macht im Gegensatz zu traditionalistischem Verhalten? Die Fragen finden keine endgültige Antwort. Aber sie führen als Forschungsaufgaben zu einer Klärung der Tatbestände, zum Bewußtsein der Größe und des Geheimnisses der Menschheitsgeschichte. Die Frage wendet sich forschend zurück

bis in die Achsenzeit - wenn wir die Zeit um die Mitte des letzten Jahrtausends v. Chr. so nennen dürfen. Liegen in der Eigenart der Bibel und der abendländischen Antike schon die Keime oder wenigstens die Ermöglichungen dessen, was als moderne Wissenschaft und Technik erst in den letzten Jahrhunderten sich gezeigt hat?

Die geistigen Welten Chinas und Indiens sind uns unersetzlich geworden aber nicht nur als Kontrast zu uns selbst. Wer davon einen Hauch verspürt, kann sie nie vergessen und nicht ersetzen durch etwas, das wir im Abendlande besitzen. Aber jede Rückkehr aus der

Beschäftigung mit asiatischen Werken zur Bibel und zu unseren klas237

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EUROPÄISCHEN

GEIST

sischen Texten bringt uns das Gefühl des Heimatlichen, nicht nur der einzigen Erinnerungen eigener Herkunft, nicht nur des unvergleichlichen Reichtums, sondern der Freiheit des Geistes in seiner

fortschreitenden Erfahrung und seiner erfüllten Dialektik. Wir werden bei längerem Verweilen in Asien müde infolge der vielen Wiederholungen, des Ausbleibens breiterer Entfaltung in der Weltverwirklichung, des Mangels an unablässig umwälzenden geistigen Bewegungen — es sei denn, daß wir aufhörten, Abendländer zu sein.

Aber wir spüren dort die große endgültige Überwindung, eine unüberschreitbare Wahrheit und die Quelle einer tieferen Ruhe, als sie je ein Abendländer gewonnen hätte. Lassen wir nunmehr alle Vergleiche. Fragen wir nach Europa! Wollen wir mit Namen nennen: Europa, das ist die Bibel und die Antike. Europa ist Homer, Aschylus, Sophokles, Euripides, ist Phidias, ist Plato und Aristoteles und Plotin, ist Virgil und Horaz, ist Dante, Shakespeare, Goethe, ist Cervantes und Racine und Moliere, ist Lionardo, Raffael, Michelangelo, Rembrandt, Velasquez, ist Bach, Mozart, Beethoven, ist Augustin, Anselm, Thomas, Nicolaus Cusanus, Spinoza, Pascal, Kant, Hegel, ist Cicero, Erasmus, Voltaire. Europa ist in Domen und Palästen und Ruinen, ist Jerusalem, Athen, Rom, Paris, Oxford, Genf, Weimar. Europa ist die Demokratie Athens, des republikanischen Roms, der Schweizer und Hol-

länder, der Angelsachsen. Wir fänden kein Ende, wollten wir alles aufzählen, was unseren Herzen teuer ist, einen unermeßlichen Reich-

tum des Geistes, der Sittlichkeit, des Glaubens. Solche Namen sprechen für den, der gelebt hat in dem, was sie benennen, dem geschichtlich Einmaligen. Der Sinn solcher Vergewisserung würde zur

Darstellung führen und zu den Quellen, zu den Städten und Landschaften und Werken, zu den Monumenten und Büchern, zu den

Dokumenten der großen Menschen. Er ist der beste, der im Grunde einzige Weg zum Wissen um das, was Europa ist. Auf ihm entzündet sich unsere Liebe und verbindet uns. Ein anderer Weg sucht aus den dort gemachten Erfahrungen die Abstraktionen. Wir möchten das Prinzip in jener Fülle kennen und 238

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es im Gedanken umschreiben, möchten wissen, was wir sind und sein können. Jeder Versuch dieser Art ist ein Spiel.

Wir wählen drei Worte, um das Eigentümlichste Europas zu konstruieren: Freiheit, Geschichte, Wissenschaft. Freiheit

Freiheit hält den Europäer in Unruhe und Bewegung. Denn er will die Freiheit und weiß zugleich, daß er sie nicht hat. Wo er ihrer

sicher im Besitz zu sein glaubt, ist sie schon verloren. Freiheitkommt dem Menschen als Menschen zu. Aber der Europäer ist sich dessen

bewußt geworden. Was ist Freiheit? Freiheit ist Überwindung der Willkür. Denn Freiheit fällt zusammen mit der Notwendigkeit des Wahren. Bin ich frei, so will ich nicht, weil ich so will, sondern weil ich mich vom Rechten überzeugt habe. Der Anspruch der Freiheit ist daher, nicht aus Willkür, nicht aus blindem Gehorsam, nicht aus äußerem Zwang zu handeln, sondern aus eigener Vergewisserung, aus Einsicht. Daher der Anspruch,

selbst zu erfahren, gegenwärtig zu verwirklichen, aus eigenem Ursprung zu wollen durch Suchen des Ankers im Ursprungaller Dinge.

Aber leicht täusche ich mich. Bloße Meinung ist noch keine Einsicht. Die Willkür stellt sich wieder her als Anspruch, seine eigene Meinung haben zu wollen mit der Voraussetzung, jede Meinung habe ihr Recht, weil einer sie vertrete. Der Gewinn der Einsicht, die

Freiheit, fordert Überwindung der bloßen Meinungen. Diese Überwindung geschieht durch die Bindung, die wir als einzelne uns auferlegen im Zusammenhang mit den anderen. Freiheit verwirklicht sich nur in Gemeinschaft. Ich kann nur frei sein in dem Maße, als die anderen frei sind.

Zugunsten gegründeter Einsicht schmilzt die bloße Meinung ein im liebenden Kampf zwischen den Nächsten. Zum Bewußtsein ob-

jektiver Wahrheit verwandelt sie sich im gemeinsamen gesellschaftlich-politischen Zustand. Europäisch scheint uns dieses beides: Die Tiefe menschlicher Kommunikation selbstseiender Einzelner und die 239

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nde durch die bewußte Arbeit an der Freiheit der öffentlichen Zustä absolute WahrFormen gemeinschaftlicher Willensbildung. Aber die dem Wege. heit und damit Freiheit ist nie erreicht, Wahrheit ist auf der Seelen, Wir leben nicht in der Ewigkeit vollendeten Einklangs ten Anderswersondern in der Zeit, das heißt dem stets unvollende

zwei denmüssen. Daher offenbart sich der Inhalt der Freiheit durch

europäische Grunderscheinungen:

Das Leben in Polaritäten. Das Leben vor dem Äußersten.

n Erstens: Das Leben in Polaritäten: Europa hat zu jeder Positio

selber die Gegenposition entwickelt. Es ist eigen vielleicht nur da-

was durch, daß es der Möglichkeit nach alles ist. Daher ist es bereit, in sondern von außen kommt, nicht nur als Gegensatz zu nehmen, sich selbst hineinzubilden als Element seines eigenen Wesens.

Europa kennt die großartigen, umfassenden Ordnungen und die Unruhe der Revolutionen. Es ist konservativ und es vollzieht die radikalsten Durchbrüche. Es kennt die Versöhnung religiöser Innigkeit und den Abbruch in nihilistischer Verneinung. Es huldigt der

christlich-universalen Autoritätsidee und nicht weniger der Idee der Aufklärung. Es erbaut in der Philosophie die großen Systeme und

läßt sie wieder zerschlagen von wahrheitskündenden Propheten. Es lebt im Bewußtsein des umfassenden öffentlichen Ganzen und zu-

gleich im Intimsten des Persönlichen und Privaten. Dieses von Grund auf dialektische Dasein findet Europa von An-

fang an in seiner Überlieferung begründet: Schon die Bibel, die Grundlage europäischen Lebens, birgt auf eine einzige Weise in sich die Polaritäten. Sie ist das heilige Buch, das allen entgegengesetzten Möglichkeiten in der Folge der Jahrtausende Raum ließ und Weihe gab. - An der Wurzel Europas steht weiter die große Antithese von Antike und Christentum; beide bekämpfen sich und vereinigen sich bis heute. — Europäisch sind die fruchtbaren Gegensätze von Kirche und Staat, von Nationen und Reich, von romanischen und germanischen Nationen, von Katholizismus und Protestantismus, von Theo-

logie und Philosophie, heute vielleicht von Rußland und Amerika 240

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als der neuen Inkarnation der fruchtbaren Polarität, in der die eine Seite ohne die andere verderben würde. Europa bindet aneinander, was es zugleich in die letzte Gegensätzlichkeittreibt: Welt und Transzendenz, Wissenschaft und Glaube, Weltgestaltung und Religion.

Europa wird seiner Freiheit untreu, wo es die Polaritäten verliert und sich beruhigt, sei es in einer Ordnung, welche ihre Grenzen vergißt, sei es in Extremen, die die Ordnung parteiisch verneinen, sei es in einem der Pole, wenn er zum Ganzen wird. Dagegen ist Europa wieder da, wo es aufgeschlossen, frei in der Spannung der Gegen-

sätze, seine Möglichkeiten bewahrt und im Wandel der Situationen aus seinem Ursprung von neuem unberechenbar schöpferisch wird. Zweitens: Das Leben vor dem Äußersten: Wenn die Freiheit zusammenfällt mit der Notwendigkeit des Wahren, so ist unsere Freiheit jederzeit brüchig, weil wir des Wahren nicht im Ganzen und endgültig gewiß sind. Unsere Freiheit bleibt angewiesen auf anderes, ist nicht causa sui. Wäre sie das, so wäre der Mensch Gott. Hier steht der Europäer an seiner äußersten Grenze.

In der Subjektivität als einzelner kennt er die Erfahrung des Ursprungs: daß ich nicht frei bin durch mich selbst, sondern daß ich gerade dort, wo ich mich eigentlich frei weiß, zugleich mich mir ge-

schenkt weiß aus transzendentem Grunde. Ich kann mir ausbleiben — dieses ist die rätselvolle Grenze, der die mögliche Erfahrung des Sichgeschenktwerdens entspricht. Existenz, die wir sein können, ist nur ineins mit der Transzendenz, durch die wir sind. Wo Existenz

sich ihrer gewiß wird, wird sie sich mit gleichem Schlag der Transzendenz gewiß.

In der Objektivität aber der Freiheit gilt: Freiheit ist angewiesen auf die Freiheitalleranderen; daher gelingt die politische Freiheitnicht als sichere Dauer der Zustände. -Freiheit ist angewiesen auf Vollendbarkeit des Wahren, Wahrheit aber ist vielfach und in jeder ihrer Gestalten in Bewegung: die wissenschaftliche Erkenntnis strandet an unüberwindbaren Antinomien und bleibt beschränkt auf Endliches, Er-

scheinendes. — Jede Vollendung in der Welt bringt alsbald ein Ungenügen hervor. Was in der Zeit zur Erscheinung kommt, muß scheitern. 241

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Dies Scheitern selber aber ist in einer europäischen Polarität Sym-

bol geworden: in dem griechischen tragischen Bewußtsein, das den

Sinn im Scheitern und den Drang zum echten Scheitern kennt - im christlichen Kreuz, durch welches das tragische Bewußtsein überwun-

den oder von vornherein gar nicht betreten ist, das den Sinn des Lei-

dens in einer asahdehen Versöhnung kennt. Die Freiheit des Europäers sucht die Extreme, die Tiefe der Zerrissenheit. Der Europäer geht durch Verzweiflung zum wiedergeborenen Zutrauen, durch den Nihilismus zum gegründeten Seinsbewußtsein; er lebt in der Angst als dem Stachel seines Ernstes. In der Freiheit wurzeln nun zwei weitere europäische Phänomene: das Bewußtsein der Geschichte und der Wille zur Wissenschaft.

Geschichte

Aus der Freiheit wächst der Wille zur Geschichte. Denn der Europäer will konkrete Freiheit, das heißt die Freiheit der Menschen im

Einklang miteinander und mit der sie erfüllenden Welt. Einzig im Abendlande ist im Bewußtsein des Einzelnen die Freiheit gebunden an die Freiheit der Zustände. Da aber die Freiheit niemals für alle und darum im abendländischen Sinne für keinen erreicht ist, ist Geschichte notwendig, um Freiheit zu erringen, oder

bringt der Drang zur Freiheit die Geschichte hervor. Unsere Geschichte ist nicht bloßes Anderswerden, nicht bloß Ab-

fall und Wiederherstellung einer zeitlosen Idee, nicht lichung eines als bleibend gedachten Totalzustandes, sinnhafte Folge des Auseinanderhervorgehens, das sich als Ringen um die Freiheit. Solche Geschichte gibt es

die Verwirksondern eine bewußt wird jedenfalls in

Europa, wenn auch die Masse des europäischen Geschehens wie über-

all in der Welt ist: das Forttreiben des Unheils von einer Gestalt in die andere. Der Schmerz wird zur Geburtsstätte des Menschen, der Geschichte will. Nur der Mensch, der sich innerlich dem Unheil aussetzt, kann 242

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erfahren, was ist, und den Antrieb gewinnen, es zu ändern. Daß er sich nicht abkapselt, nicht nur blind sich vernichten läßt oder wartet,

bis es vorbei ist, und dann lebt, als ob es gar nicht gewesen sei, das

ist Bedingung der Geburt seiner konkreten Freiheit. Hierin können die Juden als für das Europäertum beispielhaft

gelten. Das einzigartige Unheil der Juden im Altertum und dessen Wirkung auf sie hat Hegel in folgenden Sätzen getroffen: „Das Elend ist hier nicht Stumpfheit in einem blinden Fatum, sondern unendliche Energie der Sehnsucht. Der Stoizismus lehrte nur: Das Negative ist nicht und es gibt keinen Schmerz; aber die jüdische Empfindung beharrt vielmehr in der Realität und verlangt darin

die Versöhnung.“ Die Juden haben die Verlorenheit des Menschen erfahren und zum Bewußtsein gebracht im Mythus vom Sündenfall.

Sie haben den Weg beschritten zur Wiederherstellung, aber nicht in einem Jenseits der Welt, sondern in der Welt. In diesem biblischen

Gedanken wurzelt eine Grundkraft abendländischer Geschichte. Nur im Abendland hat der Anspruch der Freiheit zur Geschichte

auch als Bewegung zur politischen Freiheit geführt. Weil der Mensch nur frei sein kann, wenn seine Mitmenschen frei sind, muß er die sich isolierende, kommunikationslose Freiheit verwerfen. Überall,

und auch in Europa, gab es das Ausbrechen der einzelnen als Eremiten, Philosophen, Heilige, die, von der Welt nicht mehr betroffen, eine hohe, bewunderungswürdige persönliche Souveränität erran-

gen. Aber konkrete Freiheit erwächst nur im Miteinander als Verwandlung des Menschen mit seiner Welt. Die Größe unserer abendländischen Geschichte sind die Freiheitsbewegungen im Miteinanderreden: in Athen, im republikanischen Rom, im frühen Island, in den Städten des späten Mittelalters, in den Konstituierungen der Schweiz und der Niederlande, in der Idee

der Französischen Revolution trotz ihres Abfalls und ihres Übergangs in Diktatur, in der klassischen politischen Geschichte der Engländer und Amerikaner. Wo die Freiheit in einer Abstraktion zum

Ziel gemacht wird, da wird sie eine Phrase auf dem Weg zu irgendeiner neuen Gewaltsamkeit. Wo in Freiheit redliche Selbstbezwin243

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gung aller, die miteinander handeln, stattfindet, da geschehen konkrete Schritte zur Verwirklichung der Freiheit der Zustände. Der weitere Gang wird mitbestimmt durch das geschichtliche Bewußtsein. Eigentliche Geschichte kann nie ohne ein Wissen um die Geschichte sein. Daher gibt es nur in Europa universale Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie. Weil es sich aber zeigt, daß der Gang der Dinge so läuft, wie es vorher niemand, kein Forscher und kein Geschichtsphilosoph, weiß und will, weil hinter dem Bewußtsein des Menschen etwas Entscheidendes geschieht, das er doch durch sein Bewußtsein bewirkt, so bleibt unsere Geschichtsauffassung offen und fragend. Je klarer wir geschichtlich erkennen, desto mehr verschwinden die vorwegnehmenden Totalauffassungen. Die Geschichte ist nicht am Ende. Zur Freiheit gehört es, daß wir uns geschichtlich einsenken und dabei doch keiner totalen Geschichtsdeutung uns unterwerfen. Aber die weltgeschichtlichen Perspektiven, das unablässige Bewußtmachen des Wirklichen und Möglichen, die Steigerung des geschichtlichen Bewußtseins ist mit der Geschichte selber ein Grundzug unseres euro-

päischen Geistes. Wissenschaft Freiheit fordert Wissenschaft, Wissenschaft nicht nur als unverbindliche Beschäftigung in der Muße, nicht nur als praktische Technik für Daseinszwecke, nicht nur als Spiel des zwingenden Gedankens, sondern als unbedingtes, universales Wissenwollen des Wißbaren, Die Leidenschaft der Wissenschaft ist ebenso Europa eigen,

wie das gewaltige Ergebnis der Wissenschaften in der modernen Forschung.

Europäische Wissenschaft ist schrankenlos allem zugewandt, was ist und denkbar ist. Nichts gibt es, das sich ihr nicht lohne; sie scheint sich ins Endlose zu zerstreuen. Aber, was immer sie erkennt, nimmt sie hinein in Zusammenhänge. Universale Weite vereint sie mit der

Konzentration allen Erkennens im Kosmos der Wissenschaften.

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Sie duldet kein Verschleiern; sie erlaubt nicht die Ruhe fixierter

Meinungen. Ihre erbarmungslose Kritik bringt Tatbestände und Möglichkeiten an den Tag. Ihre kritische Unbefangenheit aber kehrt sie jederzeit auch gegen sich selber. Sie erhellt ihre Methoden, erkennt die Weisen ihres Wissens, den Sinn und die Grenzen ihres Er-

kennens. Solche Wissenschaft brachte weit hinaus über die chinesischen, in-

dischen und auch über die alten griechischen Ansätze; die griechische Wissenschaft ist nur eine Voraussetzung und ein Erziehungsmittel. Woher kommt diese neue Wissenschaft, welche Antriebe haben sie hervorgebracht? Sie wäre nicht entstanden ohne die biblische Religion. Der Sinn dieser These ist: Die Welt als Schöpfung Gottes muß ihrem Wesen nach gut sein.

Daher ist alles, was ist, weil Schöpfung, auch wissenswert. Aber das Erkannte widerspricht nicht selten den bis dahin als selbstverständ-

lich gültigen Ordnungen. Wenn diese im umfassenden Logos geschlossen schienen — wie im griechischen Weltbild und Seinsbewußtsein - so durchbricht Wissenschaft als Logos den Logos. Geschlossenheit der Erkenntnis ist preisgegeben zugunsten unendlicher For-

schung, die Ruhe der geordneten Einsicht zugunsten nicht aufhörender Fragwürdigkeit. Der Logos der Wissenschaft schließt sich dem Alogon auf und dringt in dieses ein, indem er sich unterwirft. Es ist die Wechselwirkung gedachter Entwürfe und daraufhin gemachter Erfahrungen, die in einem ständigen Ringen um die Wirklichkeit vorantreibt. Dabei ist aber ein noch tieferer Antrieb wirksam als dieser Kampf mit der Erscheinung um die Enthüllung des Seins. Daß Gott die Welt geschaffen hat, scheint ihn haftbar zu machen für das, wie sie ist. Erkenntnis wird zu einem Angriff auf Gott. Weil aber

solche Erkenntnis sich ihrerseits gründet auf die Forderung Gottes zu unbedingter Wahrhaftigkeit, so entfaltet sich im Ursprung der Wissenschaft ein Antrieb, bei Gott gegen Gott zu fragen. Das ist ein Antrieb, der von Hiob her durch das europäische Denken geht. Diese Leidenschaft beschwörend verhaltenen Anklagens in Verbindung mit der Liebe zu allem, was Gottes Schöpfung ist, hat die euro245

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päische Wissenschaft hervorgebracht — die dann auch ohne solche Antriebe noch eine Zeitlang weitergeht. Wissen macht frei. Geistig ist nicht entscheidend die äußere Freiheit, welche auf begrenzten Gebieten das Wissen zur Herrschaft über Naturkräfte bringt. Entscheidend ist vielmehr die innere Freiheit. Diese liegt schon darin, daß ich, wo ich durchschaue, nicht mehr

nur abhängig bin von einem Fremden. Aber sie vollendet sich erst in der liebenden Einigung mit der Wirklichkeit. Diese ist das Ziel des Wissens. Aber auf dem Wege dahin geht das Wissen nicht nur aus von dem Häßlichen, Verderblichen, Unerträglichen; es steigert auch das Bewußtsein davon. Nicht nur Liebe, auch Haß führt zum Wissen. Wo Wissen sich entfaltet, sind unsere Leidenschaften wirksam; wo es gelingt, haben wir unsere Leidenschaften suspendiert. Wo aber die Freiheit des Wissens sich vollenden könnte, da wäre

das Sein dem liebenden Erkennen bis in den Grund offenbar. — Was Europa ist als Drang zur Freiheit, als eigentliche Geschichte, als Quelle universaler Wissenschaft, das bedeutet seine grundsätzliche Unvollendbarkeit. Denn Freiheit, Geschichte, Wissenschaft errei-

chen nie ihr Ziel. Daher ist Europa nicht fertig und daher muß, was wir aus unserem Grunde sein können, sich immer noch zeigen. Jene

Wesenszüge müssen, gerade weil sie kein Besitz werden können, uns stets neue Chancen eröffnen. Die Zeitlichkeit ist in Europa ernst. Das geistige Prinzip des Abendlandes kann sich nur verwirklichen in der je gegenwärtigen Welt. Wir können unseren weiteren ‘Weg nur finden, wenn wir um dieses Zeitalter wissen, um den Augenblick und die Lage in ihm.

Wie steht Europa

in der veränderten

Welt?

Europas Lage in der Welt ist heute äußerlich und innerlich mit einer unerhörten Geschwindigkeit anders geworden. Zunächst äußerlich: man muß leben mit dem Globus vor Augen. Europa ist klein geworden. Das Schwergewicht der Industrie bringt 246

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die Überlegenheit der großen Kontinente Amerika und Asien. Raum, Rohstoffe und Menschenmassen sind unumgängliche Realität der Macht. Was einst Kolonie war, wird Herr über Europa. Die

beiden großen neuen und letzten Gebilde des Abendlandes, Amerika und Rußland, werden die Herren der Welt. Würde es heute die vereinigten Staaten des kleinen Europa geben, so wären sie vielleicht noch eine gegenüber Amerika und Rußland gleichwertige Macht. Aber abgesehen von dem Zweifelan der Wünschbarkeit dieser Macht würde auch dann die Entwicklung Europa diese Stellung bald nehmen, weil das natürliche Wachsen der Kräfte der kontinentalen

. Weltmächte das kleine Europa immer kleiner werden läßt. Vorläufig noch wird die politische Entwicklung der Welt von den Abendländern, das heißt von Amerika und Rußland bestimmt. Mit

Japans Vernichtung ist die ostasiatische Welt ohne eigene technisch begründete Macht. Aber das wird einmal anders. Schon sieht es so

aus, als ob China ein entscheidender Angelpunkt der weltpolitischen Entwicklung werden könnte. Wie stehen nun Amerika und Rußland zu unserem klein werdenden Europa? Beide sind besiedelt von europäischen Menschen. Russen ergossen sich in den Osten und bevölkerten ganz Nordasien. Europäer aller Nationen wanderten aus nach Amerika und bevöl-

kerten den ganzen Kontinent. Diese Analogie sah Dostojewski, als er in den siebziger Jahren schrieb: „Durch die Wendung nach Asien kann mit uns dasselbe geschehen, was mit Europa geschah, als Amerika entdeckt wurde... Mit der Strömung nach Asien wird sich

unser Geist wieder erheben und werden sich unsere Kräfte wieder stärken.“

Aber der Unterschied ist: Rußland blieb eine Einheit seines europäischen und asiatischen Gebietes und seiner Bevölkerung. Amerika, obgleich seine Bevölkerung aus europäischen Völkern stammt, wurde politisch von Europa getrennt. Rußland ist uns räumlich nah und

geistig fern, aber für unsere Seele eine durch die Fremdheit und die Tiefe russischen Geistes gesteigerte Anziehungskraft. Amerika ist

uns räumlich fern und geistig so nah, daß wir uns fast selber darin 247

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_ wiedererkennen, als ob es uns die eigenen Möglichkeiten zurückbrächte. Rußland ist gewiß unendlich mehr, als die bei uns landläufigen Vorstellungen von Bolschewismus und Diktatur zeigen, Amerika unendlich mehr als Kapitalismus und Massenkonformismus.

Von beiden wird nun Europa von außen gesehen, wird von Bewunderung und Verachtung, von Liebe und Haß getroffen. Die Lage des klein werdenden Europa wird zur Zwischenlage

zwischen großen Mächten, gegen die es politisch sich nicht halten kann, für die es vielmehr einer der Räume der politischen Ausein-

andersetzungen wird, wenn es Europa nicht gelingt, sich mit einer Föderation seiner Mächte zu bescheiden in der Kraft der Aufrechterhaltung seiner Neutralität in etwa entstehenden politisch-militärischen Weltkämpfen. Wie im Altertum Palästina zwischen Mesopotamien und Ägypten, wie Deutschland zwischen Ost und West, so wird vielleicht bald Europa zwischen den großen Mächten liegen. Dies Schicksal der Zwischenlage ist vergebliches Kämpfen aus zu geringer Macht, ist dann Ohnmacht, Leiden und Demütigung. Dies

Schicksal wird entweder zum Verderben oder erzwingt das eigentliche Leben aus einem ganz anderen Ursprung als dem der Macht. — Der äußeren Verwandlung der Welt geht eine innere parallel. Der

Horizont, in dem wir uns bewußt werden, ist nicht nur weiter geworden, sondern hat seinen Sinn verwandelt durch das Erlahmen

der christlichen Welteroberung und der früher selbstverständlichen absoluten Gewißheit des Christentums. China und Indien stehen als eigenständige geistige Welten vor uns. Sie haben mit uns das gleiche Problem: wie sie und wie wir aus unserer Überlieferung in

der technischen Welt unsere neue geistige Gestalt finden. Das europäische Selbstbewußtsein ist nicht mehr das alte. Europa ist nur

noch eine Gestaltung unter anderen. Zugleich ist Europa aus seiner eigenen inneren Entwicklung zu einem Bewußtsein seiner geistigen Einschmelzung und damit zu einer gefährlichen Infragestellung seines Selbstbewußtseins gekommen.

Der Verfall des Christentums, der Glaubensverlust, zufolge des-

sen das Überkommene 248

ernstlichen Angriffen keinen Widerstand

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mehr leisten konnte, ging fort bis zum Nihilismus. Die Unruhe der Propheten dieses Zeitalters, Kierkegaards und Nietzsches, wurde vor einem halben Jahrhundert noch nicht verstanden. Ihnen selber war es unfaßlich, wie die Menschen, mit denen sie lebten, so un-

betroffen sein konnten und nicht merkten, wie die Europäer des 19. Jahrhunderts mit steigender Schnelligkeit in den Abgrund rasten.

Diese lebten in Selbstgewißheit, in zweckhaft rationaler Arbeit, in ästhetisch befriedigter Anschauung der Bildung, aber ohne existentiellen Grund. Sie begriffen nicht ihre großen Warner, verwarfen vielmehr die Unruhe als Zersetzung und ließen eine Entwicklung zu,

die zu den Weltkriegen und zu den entsetzlichen Erscheinungen verlorenen Menschseins führte. Andere genossen jene Propheten als Sensation, bewunderten ihre sprachliche Genialität, überließen sich

dem literarischen Machen von Dichtung und Schrift, die von daher ihre Nahrung hatten. Es entstand eine Stimmung des Durcheinanderredens, wie in der babylonischen Sprachverwirrung, des verant-

wortungslosen Behauptens und Verneinens, des Fanatismus und der achselzuckenden Gleichgültigkeit. Diese Verwandlung der Intellektuellen wurde immer unwirksamer und unwichtiger gegenüber den großen Massenerscheinungen, die ihrerseits an Schlagwörter und Dogmen sich banden, aber in ihrem elementaren, eigentlich bewußtlosen Charakter immer leichter dem Zugriff von Despoten sich zur

Verfügung stellten. — Sah man alle diese materiellen, politischen, geistigen Verwandlungen zusammen, so war das Wort vom „Untergang des Abendlandes“, das in Deutschland 1918 fiel, für viele überzeugend. Nicht

kraftvoll strahlend, vielmehr in jedem Sinne brüchig und sich selbst in Frage stellend, steht Europa heute in der Welt. Das ist die große Frage: ist es wirklich der Untergang, oder ist es die Krise, deren Geburtswehen zu einer neuen Gestaltung des uralten europäischen Wesens führen? Ist es Versinken im Bewußstseins-

verlust nach dem letzten Feuerwerk schon gehaltloser Intellektualität, oder ist schon die Springfeder europäischen Geistes am Werk, unser Leben neu emporschnellen zu lassen? 249

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Uns ist nicht erlaubt der Enthusiasmus im Zugehen auf schon greifbare Verwirklichungen, nicht der Jubel des fühlbaren Aufschwungs.

j

Beklommen ist uns zumute. Was uns gelingen wird, kann nur gelingen aus der Entschlossenheit, die aus unserem Ursprung getragen ist, in unbeirrbarer Geduld, in der Unbefangenheit vor den neuen Realitäten, in illusionsloser Bescheidung, damit wir im Hier und Jetzt ergreifen, was möglich ist, und dadurch die substantielle

Grundlage der Zukunft gewinnen.

Was können wir aus europäischem Selbstbewußtsein wollen? Was geschehen wird, kann niemand wissen. In den unbestimmten

Horizonten der europäischen Zukunft aber kann jeder sich fragen, wo er steht und was er will. Niemand sieht das Ganze. Wir sind immer nur darin, nicht außerhalb und nicht über ihm. Wenn wir leben in dem Bewußtsein, wie wenig oder nichts der einzelne am Gang der Dinge ändert, so weiß gerade auch das niemand. Niemand braucht zu wissen, wozu die Transzendenz ihn als

Werkzeug benutzt. Es ist schon überheblich, danach zu fragen. Unsere menschliche Sache ist es, im Umgreifenden, das wir nie übersehen, das Mögliche zu ergreifen.

Dabei darf folgender Gedanke für uns Europäer eine Ermutigung sein: Was Europa hervorgebracht hat, das muß geistig von Europa selber überwunden werden. Aus dem jahrtausendealten Wesen Europas folgt die Chance, in der gegenwärtigen Weltsituation diese Bewegung zu neuer Schöpfung fortzusetzen. Aus dem Europa der letzten Jahrhunderte ist das Verhängnis der gegenwärtigen Weltlage erwachsen. Ohne es beständen die großen Kulturwelten noch ruhig nebeneinander wie vor tausend Jahren,

gäbe es keine Einheit des Erdballs, keine Weltgeschichte, keine Weltkriege und nicht die Frage nach der Bedrohung und den Möglichkei250

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ten der Menschheit im ganzen. Der Geist, der Wissenschaft und Technik hervorgebracht hat, muß in sich bergen, was das Geschaffene wieder in seine Ordnung bringt.

Denn all unser Wollen steht heute unter der äußeren Voraussetzung, uns in der technischen Welt einrichten zu müssen. Durch die Technik wurde die Arbeitsweise, die Wirtschaft, die soziale Struktur, die Bürokratie bestimmt. Der Einschnitt der Weltgeschichte, der seit hundert Jahren vollzogen wird, ist so tief, daß er mit keinem frühe-

ren vergleichbar ist. Nur die Erfindung der Feuerentzündung und der Werkzeuge ist eine entsprechende Parallele. Die gesamte bisherige Geschichte schließt sich. Sie wird zur Erinnerung und ihre

Kenntnis zum geistigen Erziehungsmittel. Gleich bleiben nur die endgültigen Grundzüge des Menschen. Alle Bedingungen des Le-

bens sind derart verwandelt, daß die Geschichte im ganzen einen neuen Charakter gewinnt. Jedes Volk muß mit der Technik und

deren Folgen zurechtkommen oder aussterben. Ausweichen gibt es nicht. Was wir wollen müssen, ist daher in erster Linie wirtschaftlich

und politisch. Wirtschaftlich soll Plan und Ordnung die Gerechtigkeit schaffen in der materiellen Grundlage unseres technisch-bedingten Daseins; das ist eine unendliche Aufgabe in dem Kampf um das Werden des Rechten. Politisch wird die Sicherung der friedlichen

Form dieser Verwandlung und der Ordnung der Staaten zur Bedingung alles anderen, das wir wollen können. Gewalt und Terror dagegen, heute in entsetzlichen Realitäten, die in dieser besonderen Gestalt besiegt sind, der Schrecken der Menschheit, führen am Ende ins Nichts. Aber wenn sie Verbrechen sind, deren Täter unschädlich gemacht werden müssen, so können sie doch in aller Welt zweideu-

tig zugleich der Ausbruch der Verzweiflung sein, wenn unter den Formen des Rechts das Recht durch Gewalt unerträglich und hoffnungslos vorenthalten wird. Was in der ständigen Bewegung der Dinge hier getan und unterlassen wird, trägt die Verantwortung für die Zukunft Europas. Aber das alles ist das Feld der Politik und

nicht unser Thema. 251

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Wir fragen nach dem, was im Menschsein zu den Voraussetzungen auch des politischen Handelns gehört, nach dem Geiste. Der Geist hat seine Möglichkeiten zwar stets unter Bedingungen des Daseins, aber er ist eigener unabhängiger Ursprung. Er ist durch Freiheit. Daher lebt er aus dem Selbstbewußtsein des einzelnen. Über den einzelnen, jeden einzelnen führt der Weg in die Zukunft. Dabei gilt, was dem Europäer zum vollen Bewußtsein gekommen ist: Jeder Mensch ist der Möglichkeit nach er selber. Menschen sind nie nur Material, daher nicht verwandelbar in Maschinenteile oder in Zuchttiere. Massen sind nie nur Masse, sondern in ihnen jeder

ein Einzelner, ein Mensch, er selbst. Dagegen steht die Menschenverachtung mit der vernichtenden Überzeugung, daß der Mensch nicht frei sein könne. Versuchen wir nun zu klären, was wir geistig aus europäischem Selbstbewußtsein im technischen Zeitalter wollen können, so sehen wir erstens aus der Erweiterung der europäischen Idee zur Mensch-

heitsidee Wege zur Weltordnung, finden wir zweitens aus der Beschränkung auf lokaleuropäische Aufgaben Wege zum Humanismus eines europäischen Museums, suchen wir drittens in unserem geschichtlichen Ursprung die Möglichkeit unserer Existenz aus der Ver-

wandlung der biblischen Religion.

Zur Weltordnung

Nirgends ist der Menschheitsgedanke mit der Energie wie in Europa aufgetreten. Die Bibel sieht einen einzigen Ursprung aller Menschen. Jeder, der Mensch ist, ist als Mensch anzuerkennen. Obgleich Europäer sich der größten Schandtaten schuldig ge-

macht haben, haben doch auch Europäer am unbefangensten verstehen können, was die anderen sind. Der frühere Drang nach drau-

ßen ist umgewandelt in ein Verstehenwollen des anderen und in die Kommunikation mit dem Menschen in universaler Aufgeschlossenheit. 252

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Die Befreiung der Welt liegt in diesem Gedanken. Wir können als Europäer nur eine Welt wollen, in der Europa seinen Platz hat, aber in der weder Europa noch eine andere Kultur über alle herrscht,

eine Welt, in der die Menschen sich gegenseitig frei lassen und in gegenseitiger Betroffenheit aneinander teilnehmen. Wir leben nicht aus einer europäischen, sondern abendländischen Idee, denn sie schließt Amerika und Rußland ein. Es ist eine Idee,

die zur Menschheitsidee werden will. Dazu sagen uns alle Staatsmänner, daß machtpolitisch für Europa kein Sinn mehr zu fassen ist als nur in der Weltordnung, die allen

den Frieden und Europa seine Aufgabe und Chance gibt. Die Kriegsgefahr, die heute mit der Zerstörung der abendländischen Menschheit droht, steigert die Leidenschaft, eine Weltordnung zu finden, durch die ein Krieg nicht nur für jetzt, sondern auf lange Zeiten,

wenn nicht für immer, ausgeschaltet würde. Ist nun das Mühen um eine Weltordnung nichts anderes, als was die früheren Bemühungen um den ewigen Frieden im Zeitalter der europäischen nationalen Großmächte und ihrer Kriege waren? Ist die Weltordnung auch heute nur eine nicht ernst genommene Phrase als Beschwichtigungsmittel? Vielleicht müssen wir leben mit der Bereitschaft zum Außersten,

aber wir brauchen es nicht für unentrinnbar zu halten. Wie es kommt, das bleibt eine Sache der Freiheit des Menschen. Wer die Unentrinnbarkeit behauptet, sagt mehr, als er wissen kann, und leistet Vorschub der Leidenschaft des Nihilisten, der nur wartet auf

den Augenblick der Katastrophe, die für ihn entweder den erwünschten indirekten Selbstmord oder die absolute Macht durch Gewalt bedeutet. Wir haben es wiederum nicht mit der politischen Frage zu tun: Wie werden die bedingungslosen Souveränitäten überwunden zu-

gunsten einer übergreifenden Ordnung? Wie die dunklen Eigenschaften des Affentigers (wie Chinesen den Menschen nannten) zugunsten der Verwirklichung menschlicher Vernunft? Nicht mit der sozialwissenschaftlichen Frage: wie wird die Gruppeneigensucht der 253

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Interessenten überwunden zugunsten des Anspruchs aller auf Gerechtigkeit? - sondern allein mit der geistigen Frage: Welche Mög-

lichkeiten liegen vor uns und wo liegt der Ansatz im Ethos des Einzelnen?

Im Schema heißt die Alternative:

Weltimperium

oder Welt-

ordnung. Weltimperium, das wäre der Weltfriede durch eine einzige Gewalt, die von einem Orte der Erde her alle bezwingt. Weltordnung,

das wäre Einheit ohne Einheitsgewalt außer der, die aus dem Verhandeln in gemeinsamem Beschluß hervorgeht. Der Knechtung aller von einer Stelle her steht gegenüber die Ordnung aller unter Verzicht eines jeden auf Souveränität. Frühere Reiche — die vorgriechischen des Orients und Ägyptens, die Reiche Chinas und Indiens, das römische Imperium — waren zwar in ihrer Weise großartige Ordnungen, aber gewaltsame, dik-

tatorische, unfreie. Nur in begrenzten Gebieten, vorübergehend in Athen und Rom, in den spätmittelalterlichen Städten, dann bis heute

dauernd in der Schweiz, den Niederlanden, in Frankreich, in England und Amerika erwuchsen aus eigener Kraft mit der Selbsterziehung dieser Völker unter glücklichen Bedingungen, aber unter Ein-

satz des Lebens, freie Zustände: bisher nur im Abendland, auch hier nie vollkommen, vielmehr mit Mängeln und Widersprüchen, und in ständiger Gefahr. Der Sinn ist: sich unterwerfen unter gemeinsame Gesetze, die nur auf dem Weg der Ordnung geändert werden; sich fügen gegenüber der Mehrheit und Bewahrung der Rechte der

Minoritäten; Solidarität aller gegen die Gewalt einzelner. Wo eine

Souveränität bleibt, die nicht die der Ordnung der Menschheit im ganzen ist, da bleibt auch die Quelle der Unfreiheit. Denn sie muß sich behaupten gegen Gewalt durch Gewalt. Gewaltorganisationen aber, Eroberung und Reichsgründung durch Eroberung, führen auch dann zur Diktatur, wenn der Ausgangspunkt eine freie Demokratie

war. So geschah es im Übergang der römischen Republik zum

Cäsarentum, so im Übergang der Französischen Revolution zur

Diktatur Napoleons. Demokratie, die erobert, gibt sich selbst auf. 254

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Demokratie, die sich verträgt, begründet die gleichberechtigte Vereinigung aller. Der Anspruch voller Souveränität erwächst der Energie kommunikationsloser Selbstbehauptung, deren Konsequenzen im Zeitalter des Absolutismus, als der Begriff der Souveränität bestimmt wurde, rücksichtslos bewußt gemacht sind.

Der Weg zur Weltordnung führt über den Selbstverzicht Mächtiger, sei es, weil sie ihrer Menschlichkeit folgen, sei es, weil sie in

kluger Voraussicht die eigene Macht scheitern schen ohne Vereinigung mit allen anderen. Europa kann vorangehen in diesem Ver-

zicht,in der Bescheidung durch Unterwerfung unter die Vernunft des Miteinanderredens mit bedingungsloser Geltung der Rechtsidee. Was aber im großen geschieht, das hat seinen Grund im kleinsten. Der Geist des Ganzen erwächst dem, was jeder einzelne tut. Die

Anschauungen des weltgeschichtlichen Ganges werden zum Betrug um das dem einzelnen Mögliche, wenn sie ihm suggerieren, er könne ja doch nichts daran ändern; so wenig seine Stimme bei der Ab-

stimmung von Millionen bedeute, so wenig auch sein Leben für das Ganze. Diese Lähmung liefert den Menschen der Gewaltsamkeit despotischer Minoritäten aus. Wenn nicht der einzelne sich bewußt ist, daß es gerade auf ihn ankomme, und wenn er nicht handelt, als

ob die Grundsätze seines Handelns die Grundsätze einer noch hervorzubringenden Welt sein sollten, dann ist die Freiheit aller verloren. Daher ist die Aufgabe jedes einzelnen, weder abzugleiten in das Dogma einer soziologischen, psychologischen, rassischen Not-

wendigkeit noch in die Verwirrung des Lebens. Sowohl als bloßer Zuschauer und gehorsamer Mitläufer wie hineingerissen in den Wirbel bin ich verantwortungslos geworden. Ich wirke dann nicht mit am Gang der Dinge, durch das, was ich bin und tue. Ein Beispiel (für den Zusammenhang des Kleinsten mit dem Größten) ist das Miteinanderreden. So wie wir als einzelne miteinander umgehen, so die Organisationen, Parteien, Staaten im großen.

Da alles darin begründet liegt, daß und wie wir uns vertragen, vom zunächst noch äußerlichen Kompromiß in Daseinsfragen bis zum inneren Vertrauen, und da die Weltordnung nur möglich ist, wenn 255

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.das Grundverhalten des sinnvollen, das heißt durch Solidarität und Liebe geführten Miteinanderredens zur Herrschaftkommt und unter

keinen Umständen abgebrochen wird, so ist unser Alltagsverhalten im eigenen Hause in der Tat die Quelle der Weltordnung. Was im Ganzen geschieht, wird ermöglicht durch das, was jeder einzelne tut.

Der einzelne muß von sich fordern: sich auf den Standpunkt eines jeden anderen versetzen, Wahrheit in Kommunikation an den Tag bringen, sein Herz nicht verhärten, sondern offen bleiben im Hören,

in der Bereitschaft zu tätiger Hilfe und zum Revidieren der eigenen

Ansichten. Die Möglichkeiten der Kommunikation Grundfrage des zu sich selbst kommenden Menschen.

werden zur

Auf dem Wege zur Weltordnung würden zwei geistige Verwandlungen geschehen: erstens die Reinigung der Politik. Die Politik beschränkt sich auf Daseinsaufgaben, sie läßt alles frei in seinem geistigen Kampfe sich entfalten, was diese Daseinsordnungen, das heißt die gesetzliche Ordnung der materiellen Lebensvoraussetzungen nicht stört. Es ist befreiend, daß der Mensch

im Politischen seine Daseinsbedingungen sowohl gesichert wie beschränkt sieht, nicht aber seinen Geist. Die Reinigung der Politik durch Scheidung ihrer Aufgaben von allen anderen hebt ihren Totalitätsanspruch auf und damit den Fanatismus. Sie läßt weltanschauliche Parteien verschwinden, die im Glaubenskampf miteinander

stehen, zugunsten von Parteien, die bei Gegnerschaft zugleich untereinander solidarisch bleiben. Mit Glaubenskämpfern läßt sich nicht

reden. Die Bescheidung der Politik auf ihr Wesen kommt selber aus

einem Glauben, dem einzigen, der nicht zum Glaubenskampfe wird, nämlich dem Glauben an Kommunikation selbstseiender Wesen, das heißt, daß zwischen Menschen das echte Miteinanderreden zur Wahr-

heit und damit zur Einmütigkeit führt. Daher versucht sie in grenzenloser Geduld auch noch mit dem Glaubenskämpfer zu reden, ob-

gleich es nicht möglich scheint. Denn sie setzt voraus, daß kein Mensch nur Glaubenskämpfer, sondern auch Mensch mit Menschen ist.

Die Größe der Bescheidung macht den Beruf des Politikers sitt-

lich nur um so höher. Er weiß, daß er sich um das bemüht, was Be256

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EUROPÄISCHEN

GEIST

dingung alles anderen menschlichen Lebens ist. Aber er weiß auch, daß er dieses nicht geradezu hervorrufen kann. Das Wesen der Politik, so oft nur gesehen in der Macht, die aller Mittel sich bedient, wird verwandelt in das geistige Miteinanderringen um die Daseins-

ordnung innerhalb der alle Menschen umspannenden Rechtsordnung. Das aber wird nur gelingen, wenn ihr früheres Wesen, die

Machtpragmatik, als ständignoch gegenwärtig erkannt, durchschaut, aber nicht verabsolutiert wird. Reinheit und Offenheit beherrschen den sich bescheidenden Politiker, der doch den realen Gang der Dinge trägt und bestimmt. Man

könnte von einer Subalternisierung der Politik reden, sofern sie bewußt auf den Unterbau aller menschlichen Dinge beschränkt wird.

Aber diese Subalternisierung der Sache bedeutet persönliche Steigerung des Politikers, der als Charakter und Vernunft mehr sein muß, als er je war. Die zweite Verwandlung ist die Entzauberung der Staatengeschichte. Das Geschichtsbild, das bezwingt durch die Größe der

Staaten, die gewaltigen Ereignisse, und seien es Katastrophen, die Sensation unerhörter Taten, den Mythus von Heerführern und Staatsmännern, den Ruhm, der durch die Jahrhunderte und Jahr-

tausende trägt, wird verblassen. Der Glanz fällt auf die Aufschwünge des Menschseins.

Zum

Humanismus

eines europäischen Museums

Wenn die europäische Idee sich weitet zur Menschheitsidee, so würde sie in der Weltordnung Wirklichkeit. Wenn sie sich aber auf sich konzentriert, so möchte sie ihr Eigenstes bewahren. Dann handelt es sich um Europa im engeren Sinne, um diese Lokalität einer

jahrtausendelangen Entwicklung des abendländischen Geistes, um dieses kleine Gebiet, das als solches auf dem Wege ist, einen muse-

alen Charakter anzunehmen. Der europäische Mensch ruht auf sei257

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EUROPÄISCHEN

GEIST

‚ner Vergangenheit. Aber er kann sie nicht bewahren als Wirklichkeit, denn sie ist unwiederholbar.

Museum und museales Dasein, das bedeutet Bildung durch das Gewesene, Gegenwart im Wissen und Schauen des Vergangenen, be-

deutet Pflege und Wiederherstellung der Werke. Es liegt darin der Zauber des Geistes als solchen in seiner Losgelöstheit vom Leben, vielleicht mit dem Grauen vor der Realität

und mit dem Unwillen gegen den Gang der Dinge. Ist aber solches Sichabschließen von der Welt überhaupt möglich? Zeigen uns nicht Amerika und Rußland den realen Weg in die Zukunft, den unumgänglichen und darum bejahungswürdigen? Bewegen wir uns nicht in romantischen Illusionen, wenn wir es anders wollen, wenn wir einen Naturschutzpark alter Kenntnisse, Sprachen, Werke, Gebärden in Europa konservieren? Ist das nicht in der Tat etwas leblos Museales? Wir hören solche Verachtung: Europa ein Museum! Sie

läßt uns übrig ein Dasein als Museumsverwalter und Fremdenführer für die Welt. Dies zu sein, wäre, sofern es sich ergibt, noch immer ein Beruf. Wir wollen nicht gering schätzen, was hier bleibt: eine Welt der Erinnerung, die für alle Menschen kostbar ist. Das Leben als Deuter, der liebend pflegt, was dem Bewußtsein der Menschheit nie verlorengehen soll, ist nicht schlecht. Die Verwirklichung eines humanistischen Lebens trägt zwar nicht sich selbst, sondern muß'von anderen gewollt werden. Aber sie wird von der gesamten abendländischen Welt in Ost und West gewollt.

Die Museen in Amerika und Rußland sind ein Hinweis. Europa ist auf dem Wege, einen Ort einzunehmen, wie Griechenland im orbis terrarum der Antike. Es birgt die heiligen Stätten des Abendlandes, wie es andere heilige Stätten in China und Indien für die asiatische Welt gibt. Noch in wachsender Ohnmacht bewahren wir dieseKleinodien, noch in Ruinen den Ursprung des Abendlandes. Das Museale wird zum Leben einer geschichtlichen Seele. Wie im Gestühl desHauses von Urväterzeiten her eine Seele uns anspricht, so in der geistigen Überlieferung. Solche Umwelt erfüllt uns mit Liebe. 258

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EUROPÄISCHEN

GEIST

Aber es ist dies nur ein Leben der Pietät, nicht ein ursprüngliches Leben eigener Größe. Dürfen wir mehr wollen? Steckt in dem Zorn gegen den musealen Charakter nicht ein Antrieb zu tieferen Möglichkeiten? Das museale Leben kann nie genügen.

Unser europäisches Selbstbewußtsein erwächst zwar dem Bild dessen, was war. Aber entscheidend bestimmt ist es durch unsere

gegenwärtige Existenz. Daher drängen wir dorthin, wo wir nicht mehr nur historisch betrachten, nicht nur ästhetisch anschauen, nicht nur liebend erinnern, nicht nur wünschen und sehnen, sondern wo wir wirklich sind, weil wir identisch mit uns selbst werden. Dort werden wir dessen inne, was auch gegenwärtig unser Leben trägt. Wir dürfen nicht in Masken der Vergangenheit, nicht als Gespen-

ster des Gewesenen operieren. Wir können die Wahrheit des Vergangenen nur ergreifen, wenn wir sie in der Erscheinung verwandeln. Dann erst bindet sich die Tiefe der Überlieferung an die Zukunft. Während wir verläßlich gegründet sind im abendländischen

Ursprung, bedürfen wir der Unbefangenheit, um die große Wandlung zu vollziehen, die vor uns liegt. Wagen wir sie auf einen Blick!

Zur Verwandlung

der biblischen Religion

Der europäische Humanismus ist von- jeher charakterisiert durch seinen Gegenpol. Dieser ist das Ungenügen an der Geborgenheit in einer abgeleiteten Welt, ist die Unruhe, über das Glück der Welt das

Wesentliche im Zeitdasein zu versäumen. Der antihumanistische Antrieb ist nicht nur zerstörend, sobald der Humanismus als Bildungs-

welt im Genusse seines geistigen Reichtums existentiell unwahr wird, sondern ist selber Ursprung. Der stärkste Gegenschlag ist das Christentum. Wenn dieses sich als christlicher Humanismus auch immer wieder weltlich mögliche Formen schafft, so liegt doch im Christentum, was als Durchbruch

sich gegen alles richtet, was zur beruhigten, den Menschen geistig

bergenden Welteinrichtung führt. 259

VOM

EUROPÄISCHEN

GEIST

Heute aber steht Europa nicht nur in einer Phase antihumanistischer Forderungen, die aus den Grenzsituationen der gegenwärtigen

Katastrophen entspringen. Auch das Christentum und die biblische Religion werden von vielen bewußt, von anderen in der Tat verneint. Die ganze Polarität von Humanismus und Christentum droht

zu versinken. Stellt man aber die Frage, ob und was Europa ohne Bibel aus seinem vorbiblischen und vorgriechischen Ursprung sein könnte, so zeigt sich immer wieder: was wir sind, sind wir durch biblische Religion und durch die Säkularisierungen, die aus dieser Religion her-

vorgegangen sind, von den Grundlagen der Humanität bis zu den Motiven der modernen Wissenschaft und zu den Antrieben unserer großen Philosophien. Es ist in der Tat so: ohne Bibel gleiten wir ins Nichts. Wir können unseren geschichtlichen Ursprung nicht preisgeben. Der Weg des Nihilismus als Ergebnis christlicher Entwicklung, also als selber noch christlich bedingt, war das große Thema

Nietzsches. Aber Nihilismus kann nur Übergang eines Augenblicks sein. Denn er ist nichts aus sich, sondern nur gegen anderes. Europa scheint in dem kritischen Augenblick der Vorbereitung zu stehen. Im Zusammenbrechen alles bis dahin Festen wird der Europäer frei für Wege, die wir spüren, ohne sie zu kennen. Es ist die große Freiheit vor dem noch Leeren, die uns Angst macht. Wir leben, als ob wir pochend vor den Toren ständen, die noch geschlossen sind. Bis heute geschieht vielleicht im ganz Intimen, was so noch keine Welt begründet, sondern nur dem einzelnen sich schenkt, was aber vielleicht eine Welt begründen wird, wenn es aus der Zerstreuung sich begegnet. Niemand kann sich ausdenken, was sein wird. Es zu entwerfen, würde bedeuten, es zu schaffen. Nur unbestimmt läßt sich sagen: Bibel und Antike in der Gestalt, wie sie bisher für uns sind, genügen nicht. Beide müssen in neuer Aneignung verwandelt werden. Die Metamorphose der biblischen Religion ist die Lebensfrage der kommenden Zeit. Woraus kann die Verwandlung geschehen? Nur aus dem ursprüng260

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GEIST

lichen Glauben, aus dem schon die Bibel hervorgegangen ist, aus dem Ursprung, der zu keiner Zeit war, sondern immer ist, dem ewig Wahren: Mensch und Gott, Existenz und Transzendenz. Alles andere scheint wie Vordergrund gegenüber diesem, was in der biblischen Religion seinen Grund hat für Juden und Christen und noch für den Islam.

Die biblische Religion war in der 'Tat in ständiger Verwandlung ihrer Erscheinung, gleichsam ihres Kleides. Was ist das im Grunde immer gleiche? Es läßt sich nur abstrakt aussprechen: Der eine Gott. Die Transzendenz des Schöpfergottes. Die Begegnung des Menschen

mit Gott. Gottes Gebot: Die Entscheidung zwischen gut und böse ist schlechthin gültig für den Menschen. Das Bewußtsein der Geschichtlichkeit. Der Sinn und die Würde des Leidens. Die Offenheit für die Unlösbarkeiten.

In der Bibel herrschen Polaritäten bis zu sich ausschließenden Gegensätzen: Kultusreligion und die den Kultus verwerfende prophetische Religion; Gesetzesreligion und Liebesreligion; Religion des auserwählten Volkes und Menschheitsreligion; Christusreligion

und Religion Jesu, der sagt: was nennst du mich gut, niemand ist gut als der eine Gott. Der wahre Glaube entzieht sich der Fixierung

in einem der Pole. Die Verwandlung seines Kleides wird von jedem neuen Zeitalter verlangt, um die Wahrheit der Glaubenssubstanz zu retten. Durch die Bibel geht eine Leidenschaft, die einzig ist, weil sie auf Gott bezogen ist. Sie ist das Depositum eines Jahrtausends mensch-

licher Grenzerfahrungen. Was in neuer Aneignung aus der biblischen Religion in den Kirchen und in der Philosophie wird, das kann dem Sinn dieses Glaubens entsprechend jederzeit nur an der Grenze des Äußersten geschehen. Die Verwandlung wird daher nicht gelingen, wenn wir nicht das Äußerste in unserer Seele rückhaltlos zur Wirkung bringen. Heute ist eine große Sorge: Es geht durch die Welt ein schreckliches Vergessen. Die ungeheuren Leiden sind ausgestanden. Wer lebt, freut sich des Daseins. Er streicht aus, was war, es sei denn, daß es 261

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EUROPÄISCHEN

GEIST

‚ihn noch in die Nerven verfolgt. Die Seele hat das Ungeheure nicht in sich aufgenommen. Die Toten sind nicht mehr. Der Reigen des Lebens drängt sich wieder zu schließen und wird fortgetanzt. Aber wir versagen, wenn wir die Leiden nur stumpf oder angst-

voll erdulden. Ist die Angst vorbei, bemächtigt sich eine falsche Selbstgewißheit dieses zufällig geretteten Daseins. Sie verschleiert, was unerwünscht zu wissen ist. Aus dem Menschen, der sich nicht innerlich dem Leiden aussetzt, wird nichts.

Wir dürfen die Toten nicht vergessen, die Millionen Getöteter, und wie sie den Tod erleiden mußten oder gesucht haben. Wir müssen alles Leid, auch das uns nicht selbst traf, ansehen als etwas, das

uns treffen sollte, und vor dem wir nur gerettet sind ohne unser Verdienst. Die Gleichgültigkeit wird um so unwahrer angesichts des furchtbaren Unheils, das uns allen bevorstehen kann und von dem man zwar redet, aber so, daß es nicht in den Seelen Wirklichkeit

wird. Sollte Kierkegaard recht gehabt haben, als er sagte: Alle Greuel der Kriege werden nicht ausreichen: erst wenn die ewigen Höllenstrafen wieder Wirklichkeit sind, wird der Mensch aufgerüttelt zum Ernst?

Ich wage zu glauben: Nein, die Höllenstrafen sind nicht der einzige Weg, der Mensch kann menschlich und wahr zu seinem Ernst kommen.

Neben den Religionen in kirchlicher Gestalt und in Polarität zu ihnen wird wie im Altertum die Philosophie eine Form sein, in der Menschen ihren unbedingten Ernst finden, still und ohne Lärm. In mehreren Ländern Europas ist heute unter dem Namen Existenzphilosophie das Denken einer gemeinsamen Lebenspraxis im Werden, zwar verschiedenartig bis zur gegenseitigen Fremdheit, aber

vielleicht aus verwandten Antrieben. Hier erwächst seit dem späten Schelling, durch Kierkegaard entschieden in Gang gebracht, durch pragmatistische Antriebe gefördert, in der Not bewährt, ein Denken, das sich zwar wiedererkennt in dem alten Philosophieren, welches immer Existenzphilosophie war, aber das doch heute sich schicksalsbestimmt weiß durch das 262

VOM

EUROPÄISCHEN

GEIST

Aufgebrochensein des Außersten im Durchbruch aller früherer Ord-

nungen. Der philosophisch ernste Europäer steht heute vor der Entscheidung zwischen entgegengesetzten

philosophischen

Möglichkeiten.

Will er in die Beschränkung fixierter Wahrheit, der am Ende nur zu gehorchen ist - oder will er in die grenzenlos offene Wahrheit? Das heißt: will er einer Gestalt dogmatischen 'Totalwissens sich unterwerfen — oder will er alle Möglichkeiten des Denkens und Erkennens als Werkzeug seiner Existenz in der Schwebe halten? Will er

seine Selbständigkeit verfestigen zur Starre, wie in der stoischen Philosophie als einem refugium beim Versagen der Welt, zufrieden

in der Ruhe der Apathie und in der Einsamkeit einer, sei es dogmatisch, sei es skeptisch rationalen Haltung — oder will er diese innere Selbständigkeit in der Gefahr der Offenheit gewinnen, wie

in der Existenzphilosophie, der Philosophie der Kommunikation, in der der einzelne er selbst wird unter der Bedingung, daß die andern sie selbst werden, in der es nicht einsame Ruhe, sondern ständiges Ungenügen gibt, und in der der Mensch dem Leid sich innerlich aussetzt? Nicht ein gültiges Menschenbild steht vor uns, wie im trügerischen Ideal des Stoikers, sondern der Menschenweg. Wir trauen der Richtung, wenn wir drei Ansprüche festhalten: 1. Grenzenlose Kommunikation von Mensch zu Mensch, von der Tiefe existentiellen, lie-

benden Kampfes, in dem Wahrheit hervorgeht, bis hinab zum redlichen Sichvertragen in Kompromissen des Daseins. — 2. Herr unserer Gedanken werden, uns keiner Gestalt abschließenden Wissens

unterwerfen, an keinen Standpunkt und keinen -ismus uns binden. — 3. Die Liebe als letzte Führung anerkennen, den unumgänglichen Haß aber unter Bedingungen halten und sobald als möglich wieder verdampfen lassen. Ob man sagt: die Existenzphilosophie sei Traum und Schwärmerei? Wenn das Traum ist, so wage ich zu antworten,

vielleicht

einer der Träume, aus denen von jeher geboren wurde, was menschlich war und worum zu leben es sich lohnt. 263

VOM

EUROPÄISCHEN

GEIST

Wenn uns aber die Bodenlosigkeit schwindlig werden läßt — und das Außerste scheint uns noch bevorzustehen - so gilt: Wenn alles versinkt, Gott bleibt. Es ist genug, daß Transzendenz ist. Auch Europa ist nicht das Letzte für uns. Wir werden Europäer

unter der Bedingung, daß wir eigentlich Menschen werden — das heißt Menschen aus der Tiefe des Ursprungs und des Zieles, welche beide in Gott liegen.

264

ÜBER

BEDINGUNGEN EINES

NEUEN

UND

MÖGLICHKEITEN

HUMANISMUS 1949

Was Humanismus genannt wird, hat einen sehr verzweigten Sinn. Gemeint ist ein Bildungsideal als Aneignung der klassischen Überlieferung, dann die Wiederherstellung des gegenwärtigen Menschen aus dem Ursprung, schließlich die Humanität als Anerkennung der Menschenwürde in jedem Menschen. Man fragt in Antithesen:

Gilt im Humanismus die Bindung an die Überlieferung oder vielmehr eine ungebundene, neue, nur gegenwärtige Idee?

Geht er auf einzelne große Ausnahmen oder auf die Lebensform ganzer Bevölkerungen?

Meint der Humanismus eine bestimmte Wirklichkeit des Menschen oder die unbestimmte Chance dessen, was als Menschsein nie

vollendbar ist? Suchen wir den kommenden Humanismus, so orientieren wir uns

an solchen Gegensätzen, in denen offenbar je auf beiden Seiten Wahrheit getroffen wird. Wir suchen unseren kommenden Humanismus aus der Sorge um uns selbst, um den gegenwärtigen Menschen. Die seit einem halben

Jahrhundert gegebenen Beschreibungen des modernen Menschen lassen das Erschreckende sehen: Der Mensch bricht die Brücken ab zum Vergangenen. In bloßer Augenblicklichkeit gibt er sich hin an die Situation und den Zufall. Er lebt zwar noch zwischen Kulissen, die aus der Vergangenheit stehen. Aber sie bilden nicht mehr die Szene seines Lebens, sondern 265

MÖGLICHKEITEN

EINES

NEUEN

HUMANISMUS

sehen aus wie ein Haufen von Gerümpel. Er durchschaut sie als Fiktionen.

Der Mensch scheint ins Nichts zu gehen. Er ergreift das Nichts in Verzweiflung oder im Triumph des Zerstörens. Seit Nietzsche wird es immer lauter: Gott ist tot. Menschliches Dasein wird Massendasein. Der Einzelne verliert sich an T'ypen, die sich aufzwingen aus Propaganda und Kino und

aus dem nivellierenden Alltag aller. In seiner Verlorenheit drängt er zu einem Selbstgefühl im Wir durch Teilnahme an einer gewaltigen

Macht. Andere aber, in einer Kontinuität ihres geschichtlichen Lebens, glauben an Gott. Sie fühlen sich gemeinschaftlich sicher in der Wahrheit, die geoffenbart ist, werde sie nun geglaubt in ursprünglicher

Ergriffenheit oder im gewaltsamen Glaubenwollen, im Protest gegen das Nichts. Und es gibt die großen Macher, die an die Weltgeschichte denken,

sie im bloßen Gedanken total zu übersehen oder mit einer faktischen despotischen Macht total in die Hand zu nehmen meinen, sich dabei

wähnen am Hebel der Geschichte, wo der Mensch geformt wird für die Zukunft. Und es gibt die Gehorchenden, die ihr Dasein opfern, in unge-

klärtem Fanatismus des Glaubens einem Führer oder einer Partei

dienen, es aushalten, in einer Atmosphäre der Unwahrhaftigkeit zu

leben, auf Befehl gar zu jedem Verbrechen bereit sind.

Heute meint man im Menschen das Chaos zu erblicken, sieht das

Triebhafte fessellos hervorbrechen. Das nur scheinbar Gebändigte

zerreißßt die Decke der geschichtlich erworbenen Zivilisation. Die moderne Psychologie begreift die Hölle dieses Untergrundes, indem sie sie Öffnet. Sie vollzieht, indem sie sie zu erkennen meint, unwill-

kürlich eine Art von Rechtfertigung.

Über den Fluten dieser Niederungen aber wird der Mensch sich bewußt in dem, was nie ganz zu vernichten ist, in dem Menschsein,

das über sich hinausdrängt, das nur Ruhe findet in etwas, das es

sucht, aber nicht ist. 266

MÖGLICHKEITEN

EINES

NEUEN

HUMANISMUS

Doch aus diesem Über-sich-hinaus-drängen

des Menschen

er-

wächst auch die tiefe Friedlosigkeit, wird zur Empörung und zum

Haß, sinkt in die Verachtung von allem, ist gequält in der Langeweile, wird fortgetrieben von der Angst, ist Verzweiflung, welche Rettung sucht. Nur scheinbar erlischt sie in dem gedankenlosen Vergessen bloß vitalen Dahinlebens.

Es gibt die Schweigenden, wirkliche Menschen, Unzeitgemäße, von denen man nur erfährt, wenn man ihnen persönlich begegnet. Wie man aber die heute lebenden Menschen auch schildert, sie bleiben vieldeutig, und sind nicht auf einen Typus zu bringen. Große

Massen liegen noch wie im Schlaf. — Soweit eine Reihe von Aspekten modernen Menschseins. Die Frage nach unserem Wege in diesem Chaos zu einem kommenden Humanismus versuchen wir nun auf dreifache Weise zu beantworten. Erstens fragen wir: was ist der Mensch überhaupt? Zweitens:

unter

welchen

faktischen

Bedingungen

steht

das

Menschsein heute? Drittens fragen wir nach unserem Wege des Humanismus, wohl wissend, daß er nicht der einzige ist.

Erste Frage: Was ist der Mensch überhaupt? Nicht ein Bild des Menschen ist die Frage, sondern wie wir uns seiner weitesten, noch bildlosen Möglichkeiten bewußt werden. Nur

die Weite dieses Rahmens läßt alle möglichen Erfüllungen offen. Jedes Bild des Menschen beschränkt ihn schon. a) Zunächst ist die Frage: ob der Mensch grundsätzlich erschöpfbar ist im Gewußtsein, oder ob er Freiheit ist, die sich gegenständ-

licher Wißbarkeit entzieht. Der Mensch wird Gegenstand der Forschung als Leib in der Phy-

siologie, als Seele in der Psychologie, als Gesellschaftswesen in der Soziologie. Wir wissen von ihm als Natur und als Geschichte. Aber der Mensch kann sich seiner selbst bewußt werden vor aller

Natur im Ursprung seiner Herkunft, quer zur Geschichte in der 267

MÖGLICHKEITEN

EINES

NEUEN

HUMANISMUS

. Ewigkeit, - und er wird sich dann gewiß, als Produkt der Natur und der Geschichte nicht erschöpft zu sein. Der Mensch ist mehr als er von sich wissen kann. Daher machen wir den Unterschied zwischen dem Wissen vom Menschen als Gegenstand, der ins Unendliche in seinem Objektwerden erforschbar ist, und dem Innewerden des Menschen im Umgreifenden, das wir sind und sein können auf dem unendlichen Wege

unserer Freiheit. Nur wenn wir diesen Unterschied festhalten, bleibt unserem Menschsein der Raum, unserer Freiheit der Atem, unserem Bewußtsein die Weite. Der Sinn der Aussagen über den Menschen ist dann grundsätzlich von zweierlei Art: In einem Falle sage ich über einen Gegenstand aus, was er ist und was mit ihm notwendig geschieht. Im anderen Falle spreche ich von dem, was kein Gegenstand wird und was nicht erkennbar notwendige Geschehnisse zeigt. Aber von dieser ungegenständlichen Freiheit des Menschen kann ich sprechen, indem ich für sie gültige

Normen zur Klarheit bringe, indem ich erinnere, aufmerksam mache. Was der Mensch sei, ist nicht abzuschieben auf ein Gewußstes, son-

dern ist, durch alles von ihm Wißbare hindurch, allein im Ursprung ungegenständlich zu erfahren. Schließe ich den Menschen ein in das Gewußtsein von ihm, so verfüge ich in meinem Planen über ihn, ob vermeintlich von ihm Bescheid wissend oder unmenschlich ihn vergewaltigend. Lasse ich ihn dagegen offen in seinen Möglichkeiten aus dem Ursprung, so

bleibt er mir als er selbst durchaus unverfügbar. Sehe ich den Menschen nur als gegenständlich erkennbare Natur, so verzichte ich auf den Humanismus zugunsten eines Hominismus

(Windelband). Ich sche ihn nur als natürliches Gattungswesen. Alle Einzelnen sind nur endlos viele, an sich gleichgültige Exemplare dieser Gattung. Sehe ich ihn aber in seiner Freiheit, so sehe ich ihn in seiner Würde. Jeder Einzelne und ich selber sind unersetzbar, stehen gemeinschaft-

lich unter hohen Ansprüchen. 268

MÖGLICHKEITEN

EINES

NEUEN

HUMANISMUS

b) Dann ist die andere Frage: ob der Mensch im Ursprung sich

selbst hervorbringt durch seine Freiheit, Selbstschöpfer aus Nichts, oder ob er im Ursprung sich durch Transzendenz gegeben wird als das, was er sein kann.

Es ist unabweislich: Erstens: Wir haben uns nicht selbst geschaffen, sondern sind in der Welt durch etwas, das nicht wir sind. Das wird uns bewußt

durch den einfachen Gedanken, daß es möglich wäre, wir wären gar nicht. Zweitens: Wir sind nicht frei durch uns selbst, sondern im Grunde der Freiheit durch das, worin wir uns geschenkt werden. Das wird uns erfahrbar, wenn wir uns ausbleiben, und nicht schon frei sein können allein dadurch, daß wir es wollen. Auf der Höhe der Frei-

heit ist das Bewußtsein des Sichgeschenktwerdens in unserer Freiheit, aus der wir leben, die wir aber nicht selbst erzwingen können. Was wir nicht aus uns selbst gewinnen können, — weder im „prometheischen Trotz“, noch in der Absonderung des eigenen Ichs zur Mitte des Seins, noch im Heraufziehen aus dem Sumpf an dem

eigenen Schopf wie Münchhausen — woher soll uns das zukommen, woher die Hilfe? Wir merken sie nicht als einen Vorgang in der Welt. Sie kommt nicht von außen. Denn wir selbst sind es, aus deren tiefstem Grund wir spüren, wenn wir zu uns selbst kommen. Die Transzendenz

spricht nirgends direkt, sie ist nicht da, ist nicht greifbar. Gott spricht nur durch unsere eigene Freiheit. Hier liegt die Grundentscheidung in der Weise, wie wir uns als Menschen bewußt werden. Wir sind uns als Menschen nie selbst ge-

nug, sind uns nicht das einzige Ziel, sondern bezogen auf die TIranszendenz. Durch sie werden wir selbst gesteigert und werden wir zugleich uns durchsichtig im Bewußtsein unserer Nichtigkeit.

Freiheit und Transzendenz bewirken ein Grundbewußtsein: Kant hat es in folgender Form ausgesprochen. Ich müsse auf eine unbegreifliche Hilfe rechnen für die Umwandlung aus dem radikal bösen 269

MÖGLICHKEITEN

EINES

NEUEN

HUMANISMUS

in den guten Willen, sofern ich alles tue, was ich kann. Das Verdienst

des Menschen fällt ganz dahin, wo er gutartig ist aus angeborener Neigung. Aber auch da, wo er, alles Angeborenen Herr, aus Frei-

heit den rechten Weg ergreift, da ist doch das, was er sich selbst verdankt, im Ganzen gerade wieder nicht in der Kraft des Menschen allein gelegen. Ist etwa ein jeder so, wie er nun einmal ist? Nein, die Freiheit erlaubt jeden Augenblick die Umkehr zum guten Willen. Es ist nie zu spät. Und umgekehrt: wer auf rechtem Wege ist, ist jeden Augenblick in Gefahr des Abfalls und kann alles zunichte werden lassen,

wenn er sich sicher fühlt. Aber gegen solches Denken hören wir den Einwand: ist dieses ganze Erdenken der Freiheit nicht nur der Versuch der Legitimierung guter angeborener Anlagen und günstiger soziologischer Situationen, so daß Menschen zu ihrer guten Mitgift auch noch das Verdienst dafür in Anspruch nehmen?

Wir scheinen vor der Alternative zu stehen: ist der Mensch durchaus nur in der Welt nichts als Welt, ist er so, wie er geboren ist und seine Umwelt ihn prägt, und ist er als solcher durch psychologische Naturnotwendigkeit beherrscht von ihm wünschenswerten Illusionen, wie der der Freiheit, und ist das alles? — oder ist er selbst aus anderem Ursprung, der ganzen Welt gegenüber stehend und nicht aus ihr begreiflich? Der Mensch ist in der Tat beides, das eine für sein gegenständ-

liches Wissen von sich, das andere für sein philosophierend gewon-

nenes Selbstbewußtsein. Und da er beides ist, ist es möglich, daß er philosophische Gedanken aus ihrem ursprünglichen Sinne verdreht,

zu Illusionen der Glücklichen oder zu Fiktionen der Schlechtweggekommenen macht, die Philosophie sich spalten und entarten läßt in eine Philosophie des Glücks und des Unheils. Aber mit dieser Verkehrung im Zusammenhang psychologisch-soziologischer Vorgänge

hört die ursprüngliche Wahrheit nicht auf. Als erforschbares Dasein und als Freiheit, in beiden Fällen ist

der Mensch endlich. Aber Freiheit und Transzendenz machen die 270

MÖGLICHKEITEN

EINES

NEUEN

HUMANISMUS

Endlichkeit des Menschen im Vergleich zu den anderen endlichen Dingen in der Welt zu einer einzigartigen: Der Mensch findet sich bestimmt in seiner konkreten Umwelt, in seinem Volk, in der Menschheit, im Erdleben, im Weltall. Wäh-

rend er sich seiner Endlichkeit bewußt wird, gewinnt er im Endlichen Teil an der Unendlichkeit. Er ist das einzige Wesen, das um-

fassend auf alles gerichtet ist, und das in seiner verschwindenden Winzigkeit alles, was ist, auf irgendeine Weise sich zur Gegenwärtigkeit bringen kann. Er ist so in seiner Endlichkeit gleichsam alles. Er vermag seine Endlichkeit zu überschreiten, indem er sie ins Un-

endliche hinein mit neuen Inhalten erfüllt. Der Mensch kann sich im Ernst nie dessen erwehren, daß etwas an ihm selber liegt, daß er mit seinen Entscheidungen über sich selbst entscheidet, über dieses Selbst, das keiner Forschung zugänglich ist.

Daraus ergibt sich, was die Zukunft des Menschen bedeutet. Niemand übersieht die Möglichkeiten des Menschseins, immer ist

dem Menschen noch mehr und anderes möglich, als irgend jemand erwartet hatte. Der Mensch ist unvollendet und unvollendbar und immer noch offen in die Zukunft. Es gibt keinen totalen Menschen und wird ihn nie geben. Daher gibt es zwei Weisen, an die Zukunft des Menschseins zu denken. Entweder sehe ich es als ein Geschehen, wie das eines Naturobjekts, und entwerfe Wahrscheinlichkeiten. Oder ich entwerfe Situationen, die sich ergeben werden, ohne zu wissen, wie der Mensch auf sie antworten, wie er in ihnen aus seiner Spontaneität zu sich kommen wird. Im ersten Falle erwarte ich ein zwingend Notwendiges, das ich grundsätzlich wissen könnte, wenn auch nicht weiß. Im zweiten

Falle kommt die Zukunft nicht kausalnotwendig als das Geschehen des Seienden, sondern durch das, was jetzt aus Freiheit getan und

gelebt wird. Die Bedeutung der zahllosen kleinen Handlungen, jedes freien Entschlusses und jeder Verwirklichung der einzelnen Menschen ist unabsehbar. 271

MÖGLICHKEITEN

EINES

NEUEN

HUMANISMUS

Im ersten Fall nehme ich hin, was nicht in meiner Macht steht.

Im zweiten Fall frage ich nach dem Ursprung in menschlicher Freiheit. Ich appelliere an unser Wollen. Wir gehen in eine unwißbare, als Ganzes nicht entschiedene Zu-

kunft. Was wir uns von ihr die Erfahrung. Ein Wissen reichbar. Unser Wissen von Unser Bewußtsein ist stets gültig haltende Bewußtsein

vorstellen, wird ständig korrigiert durch vom Sein im Ganzen ist für uns unerder Fülle des Seienden ist nie am Ende. auf dem Wege. Gegen das sich für endsteht die Wirklichkeit des Seins, das un-

aufhaltsam in den herankommenden Erscheinungen sich neu, sich anders zeigt und unser Bewußtsein in seine Verwandlung zwingt. Was aus dem Menschen werden wird, wahrhaft vorauszusagen,

das würde es auch schon verwirklichen. Voraussagen heißt hier Hervorbringen.

Gelingt uns die Vergewisserung des Menschseins im umgreifenden Rahmen seiner Möglichkeiten, so können wir nie endgültigam Menschen verzweifeln. Im Symbol: der Mensch ist von Gott geschaffen nach seinem Bilde, - das kann in aller Verlorenheit nicht ganz verschwinden. on Zweite Frage: Unter welchen faktischen Bedingungen

steht das Menschsein heute? Die Frage, durch welche faktisch gegebenen Bedingungen das Menschsein heute bestimmt werde, erhält die Antwort: durch Technik, durch Politik, durch den Zerfall des verbindenden abendländischen Geistes.

a) Das technische Zeitalter und dessen Folgen für Arbeitsweise, Arbeitsorganisation und soziologische Ordnung ist im einzelnen immer klarer, im Ganzen seines Sinns ein immer größeres Rätsel ge-

worden. Technik ermöglichte die gewaltige Vermehrung der Menschenmassen, und für diese solche Lebensbedingungen, daß Lesen 272

MÖGLICHKEITEN

EINES

NEUEN

HUMANISMUS

und Schreiben, Lernen und Können allgemeiner Besitz und zugleich Bedingung des Fortbestandes der technischen Welt werden konnten.

Aber mit der Technik ist verknüpft eine unnatürliche Arbeitsweise, gemessen an Handwerk und Bauernwirtschaft und an den alten humanistisch durchdrungenen Berufen. Nur wer Spezialist wird, kann heute etwas Rechtes leisten, zumal auch in den moder-

nen Wissenschaften. Die Zwangsläufigkeit des sich nur identisch wiederholenden Arbeitens bis tion in der Maschine ist, Grundzug des Zeitalters. Beschäftigung bis zur Art

zu der Grenze, wo der Mensch eine Funkauswechselbar wie Maschinenteile, ist ein Dieser überträgt sich auf jede Weise der des Vergnügens. Eine Selbstvergessenheit

des Menschen scheint möglich zu werden: das Sichverlieren und Zufriedensein im Unpersönlichen. Wir sind auf dem Wege zur Funktionalisierung aller im Apparat.

Die Technik ist unumgänglich. Ihr vorher ging der Schlaf der Welt, aus dem sie die Massen grausam erweckt. In der Zukunft würde bei ihrem Versagen unerhörtes Unheil die Folge sein, zuerst das Massensterben, der Zerfall der planetarischen Verkehrseinheit, die Verwüstung des Planeten, dann neue Zerstreuung der Menschen, die noch überleben, schließlich wieder Bodenständigkeit dieser Wenigen, die mit ihrem fast aller Gehalte beraubten Bewußtsein noch unter der Nachwirkung des technischen Zeitalters leben würden, aber ohne den uralten, geschichtlich in unvordenklicher Überliefe-

rung gegründeten Glauben. Das Sträuben gegen diese Entwicklung des technischen Zeitalters

kam zum Ausdruck in dem schlechten Gewissen mancher Forscher in vergangenen Jahrhunderten, im Zögern vor dem Unheimlichen.

Goethes Abwehr ist ein verehrungswürdiges Zeugnis. Heute ist die Frage: Sehen wir im technischen Zeitalter zwar ein Verhängnis, aber zugleich eine Chance des Menschseins, — sehen wir

in der größten Gefahr doch die Ermöglichung einer neuen Höhe der Menschheit, — oder sehen wir in ihm nur das Unheil, in dem die

Menschheit zugrunde gehen wird, verwerfen wir es daher grundsätzlich, ganz und endgültig, uns gleichsam zum Richter der Ge273

MÖGLICHKEITEN

EINES

NEUEN

HUMANISMUS

- schichte aufwerfend, und leben in trotziger Hoffnungslosigkeit, für die Menschen nach uns nichts als Verderben sehend? — Ein kommender Humanismus kann hier nicht unentschieden bleiben. Es scheint dem redlichen Menschen angemessen, das Gewordene und das darin Mögliche zu übernehmen, — heute das Schicksal der Menschheit in der Technik zu sehen, das zum Heil oder Unheil werden kann und noch nicht entschieden ist, — dieses Schicksal als Auf-

gabe zu ergreifen. Bedingung eines kommenden Humanismus ist

das unendliche Mühen um Aneignung und Beherrschung der Technik, ein unabsehbares Feld menschlichen Ringens. Es ist die Frage, wie die Unersetzlichkeit des einzelnen Menschen doch wieder durchbricht und fordert, und der Mensch wieder er selbst wird, statt nur in den Geleisen der Funktionen zu laufen.

Nicht aufhören dürfen die schon erfolgreichen Bemühungen um die Gestaltung der technischen Arbeit, ihre Verteilung und ihre Begrenzung, die teilweise Überwindung der schrecklichen Prinzipien des Taylor-Systems, des Stachanow-Systems und ähnlicher Methoden der rücksichtslosen Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft unter

verschleiernden Rechtfertigungen. | Weiter aber ist die innere Haltung zu allem Technischen, die Erweiterung des Bewußtseins im Umgang mit der Natur unerläßlich. Die Aufgabe ist, durch die Möglichkeiten der Technik das Leben in der Natur nicht verkümmern, sondern sich vertiefen zu lassen. b) Technik ist heute ein Hauptelement des politischen Zustandes. In der Welt, in der Gott als totgalt und der Nihilismus triumphierte,

konnten bedenkenlose Menschen gerade durch ihren faktischen Nihilismus zur Führung gelangen, „Neandertaler mit Technik“. Durch sie wurden ungezählte Menschen, dem Anspruch der Gewalt mit rätselhaftem Unterwerfungsdrang entgegenkommend, unter uneingeschränkte Vergewaltigung gebracht. Terror, Foltern, Deportationen, Ausrottungen, das gab es zwar seit Assyrern und Mongolen,

aber ohne das Ausmaß der heutigen technischen Möglichkeiten. Die Staatenlosen, Internierten, die Herumgewirbelten, 274

die von heute

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auf morgen leben müssen, ohne Horizont eines Lebensplans und ohne Kontinuität eines Lebensgehalts, die sich einen Augenblick an-

schließen und dann wieder losgerissen werden, die auf der ganzen Welt und nirgends zu Hause sind, sie alle scheinen ein Symbol für den Weg der Menschenwelt in die Bodenlosigkeit. Sie sind preisgegeben an die politischen Apparate, die etwa so aussehen: Es operieren Funktionäre einer erbarmungslosen Bürokratie; der Mensch ist das Papier, das als Ausweis, Legitimierung, Verurteilung, Klassifikation

ihm seine Chancen

gibt, ihn beschränkt,

ihn auslöscht:

Widerstände häufen sich bis zur Sinnlosigkeit und lösen sich einmal

plötzlich; unberechenbare Eingriffe verfügen über Dasein, Arbeit und Lebensweise der Menschen. Will man wissen, wer es befiehlt, so ist keine Stelle zu erreichen. Es scheint niemand da zu sein, der

die Verantwortung trägt. Vor der Drohung für alle, in solchem Apparat zermahlen zu werden, gibt es kein Entrinnen. Es ist heute nicht nur sittlich, sondern faktisch unmöglich, in die Einsamkeit zu gehen, in die Wälder, in die Wüste, man kann nicht auswandern in andere Länder, um eine

neue, bessere Gemeinschaft zu begründen. Was aus dem Menschen wird, das hängt von ihm selber ab in der ihn umgebenden Wirklichkeit, aus der er nicht heraus kann und aus der durch sein Handeln der kommende politische Zustand stabilisiert wird. Man kann nicht . mehr gleichgültig gegen Politik sein. Jeder, der wirklich mitlebt, muß sich entscheiden im Ringen um die kommende politische Wirklichkeit. | Denn Freiheit ist nie wirklich als Freiheit bloß Einzelner. Jeder Einzelne ist frei in dem Maße, als die Andern frei sind.

Darum wird der lebendige Humanismus im Bunde sein mit den Kräften, die wahrhaftig das Schicksal und die Chancen Aller fördern wollen. Die Menschenrechte sind Voraussetzung der menschlichen, nicht bestialischen Politik. Denn Politik ist das Handeln, das orientiert ist an der Macht und an der Möglichkeit der Gewalt. Menschsein aber ist gebunden an

die Selbstbegrenzung der Macht durch Gesetz, Recht und Vertrag. 275

MÖGLICHKEITEN

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Wo die Macht keine Einschränkung mehr zuläßt, da ist ihr nur zu begegnen durch ebenso restlosen Einsatz aller eigenen Kräfte. Daß man im Kampf mit dem Drachen nicht selber zum Drachen werde und doch nicht an Kraft verliere, den Drachen zu bändigen, das ist die Schicksalsfrage der Menschheit heute.

Denn heute wird Politik für viele Menschen absolut. Wenn sie hineingerissen werden in den Drang zur Gewalt, so gelten sie sich selbst nur, wenn sie einer großen Macht angehören, und achten sie andere nur nach dem, was als Macht hinter diesen steht. Alles andere

gilt als Geschwätz. Sprache kennen sie wesentlich als Mittel, Macht über andere zu gewinnen oder zu bestätigen, ihr Denken ist advokatorisch, sophistisch, selber immer nur eines der Mittel im Kampf um Macht. Ihr Lebensschwung ist bis in Gebärde und Ton hinein mit dem Bewußtsein der Macht verbunden.

Beflügelnde Kräfte

dieses Machtwillens

in den Massen sind

Schwärmereien, die in ihrer Unwahrheit nur durch nüchternen Humanismus aufzulösen sind, zum Beispiel eine furchtbare Illusion: Seit Marx gibt es in geistigem Zusammenhang mit früheren Chiliasmen einen Glauben: Wenn nur erst alles Bestehende zerstört sei, dann werde aus der Vernichtung mit einem Schlage die neue Schöp-

fung hervorgehen. Diese Erwartung rechnet auf eine Magie: wenn nur erst das Nichts erreicht sei, dann werde sogleich die Herrlichkeit wahren Menschseins erwachsen, — oder wenn erst die Diktatur des Proletariats errichtet sei, so werde die klassenlose Gesellschaft alsbald mit dem neuen Menschen den freien und gerechten Zustand hervorbringen. Dieser absurde Glaube, durch Zerstörung die Schöpfung zu vollbringen, aus der aktiven Vernichtung das Heil, aus dem Nichts die Wiedergeburt hervorzutreiben, ist ein unheimlicher Fak-

tor heutigen Geschehens, zumal er aller Wildheit und Wütigkeit, allem Haß und dem Triumph der Grausamkeit ein gutes Gewissen gibt. Er hat zum faktischen Ergebnis nur die vollendete Sklaverei

aller im Namen eines Götzen — nämlich des immer zukünftig bleibenden endgültigen Heils der Menschheit in der Welt -, unter Ver-

kehrung des Sinns der Worte, in vollendetem Betrug. 276

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Die große Alternative scheint zu liegen zwischen despotischen Zuständen und der Freiheit offener Chancen - zwischen terroristi-

scher Scheinstabilität chaotischen Fortwälzens unveränderter Sklaverei und den Wegen, auf denen durch verwandelnde Reform Schritte zur Freiheit möglich bleiben, — zwischen der Preisgegebenheit an Willkür und der Sicherheit rechtlicher Zustände. Aber keine richtige endgültige Einrichtung der Welt steht vor Augen, denn es gibt sie nicht. Der Weg ist zu finden, auf dem immer neu in neuen

Situationen Freiheit und Ordnung sich einen, um Willkür und Anarchie einzuschränken.

Der Humanismus wird nicht mehr abseits sich entfalten können. Er sieht sich unter die politische Bedingung gesetzt und vor allem

unter diese eine Alternative: Freiheit des öffentlich ringenden Geistes oder gelenkter Geist. Er lebt nur auf der einen Seite und ist ver-

loren auf der anderen. Macht und Gewalt waren jederzeit ungeheure Realitäten, heute sind sie wie losgelassen in ihrer Nacktheit. In dieser politischen Lage haben Menschen, die im Humanismus leben, für die Zukunft ihres Menschseins nur eine Chance, wenn sie auch zu kämpfen und zu

sterben bereit sind. c) Technik und Politik haben den bisher durch Jahrtausende bestehenden geistigen Zustand fast ausgelöscht. Es gibt nicht mehr die gemeinsame

abendländische

Welt, keinen gemeinsam

geglaubten

Gott, kein gültiges Menschenbild, nicht mehr das in allen Gegnerschaften, noch im Kampf auf Leben und Tod eine Solidarität Stiftende. Das heute gemeinsame Bewußtsein läßt sich nur durch Negationen charakterisieren: den Zerfall der geschichtlichen Erinnerung,

den Mangel eines herrschenden Grundwissens, die Ratlosigkeit in bezug auf die ungewisse Zukunft. Der Zerfall der geschichtlichen Erinnerung ist die Folge der gegengeschichtlichen Tendenzen moderner Technik und Politik. Zwar bleiben Überlieferungsfetzen, schon allein durch die Sprache. Mit 271

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der Preisgabe der geschichtlichen Kontinuität wird das Bewußtsein des Abendlandes, wird Heimat, Herkunft, Familie gleichgültig, wird selbst in Freundschaften die Verläßlichkeit des Lebenwährenden sinnlos, wird das je eigene Leben gelebt ohne Erinnerung. Durch Ausbleiben der Überlieferung, durch Beschränkung der Erziehung

auf das Nützliche und die propagandistisch geformten Auffassungsschemata scheint die Geschichte gleichsam abzureißen. Aber kann der Mensch die Geschichte abbrechen, seine Wurzeln abschneiden? Kann er aus dem geschichtlichen Nichts, aus seiner nur

noch biologisch eingeborenen Natur sich entfalten, ein Menschsein verwirklichen, das allein auf dieses Geborensein, dieses Sosein, diesen Augenblick pocht und das nichts weiter sieht und will als eine

imaginäre Zukunft des Heils? Nein, der Mensch muß sich erkennen in dem, was er war, um gegen-

wärtig zu sich zu kommen. Was er geschichtlich gewesen ist, bleibt ein unumgänglicher und gründender Faktor dessen, was er sein wird. Menschlicher Wille hat die Entscheidung. Es graut uns vor der

Möglichkeit, daß furchtbare Despoten die Geschichte auslöschen wollen als unerwünschte Quelle menschlicher Selbständigkeit, und

daß sie sie ersetzen durch ein dogmatisches Schema, das, unwahr und sakrosankt zugleich, allen eingeprägt wird, und daß ihnen dabei eine Neigung der Massen zur Legende zu Hilfe kommt. Zu den Bedingungen des Menschseins gehört die Gestalt des ge-

meinschaftlichen Grundwissens als eine geordnete Totalität von Begriffen und Symbolen.

Das größte Beispiel eines durchgearbeiteten, von sublimster Fülle bis zur einfachen Form einheitlichen Geistes ist der Katholizismus,

diese in Jahrtausenden gewachsene Synthese der geschichtlichen Lebenskräfte von Urzeiten her, die selbst das Widersprechende zu

vereinen vermag. Von ihm sind die in ihm Geborenen getragen. In ihm wird der Mensch, der ganz zu verkommen scheint, nie ganz fallen gelassen. Er bleibt der Hafen für die Gescheiterten und mutlos Gewordenen. Er bleibt noch da als wieder auftauchender Felsen, 278

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wenn die Fluten schöpferischen Lebens sich verlaufen. Aber diese Bedingung des Menschseins steht ihrerseits unter der Bedingung der verläßlich funktionierenden Autorität der Kirche, ihrer Herrschaft

über die Geister. Diese Welt befriedigt heute nur noch einen Teil der in ihr geborenen Menschen. Für die Mehrheit der Menschen ist sie unannehmbar. Sie hat keine solche Autorität mehr über die Massen, daß ihr im Ernstfall eine entscheidende Macht bliebe. Heute gibt es nichts anderes ihr Entsprechendes und sie Ersetzendes. Das Bewußtsein ist zerstreut und zerkrümelt, verwandelt sich kaleidoskopisch und bleibt darin doch gleich als ordnungslose Man-

nigfaltigkeit. Innerhalb dieser Zerstreuung sind zwar gewaltsame Formen eines simplifizierten Bewußtseins möglich, die in Verbindung mit politischer Macht einen Augenblick Geltung gewinnen können, aber kein geistiges Menschsein zu prägen vermögen.

Ein neues herrschendes Grundwissen wird nicht schnell entworfen. Es muß zusammenwachsen aus Schauen, Denken, Sprechen der Zeit-

genossen. Heute ist das Erregende, daß zwar niemand es hinstellen kann, daß es aber doch fühlbar in aller Zerstreutheit sich herandrängt. Das kommende Menschsein wird geprägt durch die Gestalt dieses Grundwissens, die es gewinnt aus den Kräften der Einsam-

keit in der freien Form öffentlichen Miteinanderdenkens. Noch aber läßt heute das zerfallende Bewußtsein unser Menschsein chaotisch erscheinen, sich pulverisieren in immer leerere Atome der Einzelnen, die als Massen wohl Funktion der Gewalt, aber nicht

Inkarnation eines Geistes sind. Der Anspruch der Massen aber wird in Zukunft noch mehr als heute gelten. Keine geistige Wirklichkeit bleibt, die nicht von Mas-

sen getragen ist. Die Verwirklichung hohen Ranges wird zwar immer die Sache Einzelner, Weniger, und Sache sich selbst erziehender Eliten sein. Der kommende Humanismus wird jedoch mit dem Erringen der Gipfel zugleich die einfachsten Formen finden müssen,

die für jedermann zugänglich und überzeugend werden. Ein wirksamer Humanismus wäre ein Humanismus grundsätzlich für alle.

Aber die Verwirklichung wird um so wahrer sein, je höher Ein279

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- zelne steigen, deren Gesichte, Gedanken, Symbole die Maßstäbe errichten. Und in den Massen wendet sich der kommende Humanis-

mus doch wieder an den Einzelnen, an alle Einzelnen, weil jeder Mensch eine Seele und kein Atom, er selbst und nur als solcher ein menschlich wirkendes Glied der Gemeinschaft ist. Die Ratlosigkeit in bezug auf die Zukunft entspringt dem Be-

wußtsein der totalen Bedrohung. Es ist, als ob wir uns immer wieder vergeblich ansiedeln auf einem Vulkan, dessen Ausbrüche sicher sind, nur unbestimmt wann und wie und wo. Kulturen sind versunken. Heute ist aber das Neue, daß die

euge nn Sy

Menschheit im Ganzen in der Bedrohung steht, daß diese Bedrohung akuter und zugleich bewußter ist als je, daß sie nicht nur Gut und Leben, sondern das Menschsein selbst in ihre Gewalt zieht. Wem das Kurzfristige aller Unternehmen vor Augen steht, der Zustand der Galgenfrist, in dem wir leben, dem scheint vor der Zukunft alles sinnlos zu werden, was er jetzt tut. Man hält es für möglich, daß der Mensch verloren geht oder als Lebewesen so sehr anders wird, daß keine Brücke mehr ist zu dem, was wir sind, was wir wollen, lieben und hervorgebracht haben. Die Hoffnungslosigkeit des Elends von Millionen, das Nachden-

ken über das nach unseren Maßstäben Wahrscheinliche haben eine Stimmung erzeugt, die nur Verwüstung und Ende sieht. Dichtungen

der Verzweiflung haben den stärksten Wer möchte wagen, angesichts der einen Optimismus zu entwickeln! Es was vom Unheil der Gegenwart und Erwartenden gesagt wird.

Widerhall. Tatsachen unseres Zeitalters ist alles so entsetzlich richtig, von dem möglicherweise zu

Aber entscheidend ist dagegen zu setzen: Es gibt kein Bescheidwissen um die Zukunft im Ganzen. Gegen die uns durch unser vermeintliches Wissen drohende innere Lähmung setzen wir zwei Einsichten:

1. Die gegebenen Bedingungen des Menschseins — heute die Technik, Politik und das zerfallende gemeinschaftliche Bewußtsein — be280

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deuten zwar Einschränkungen, aber zugleich Chancen. Sie haben nicht nur zwanghafte Folgen, sondern erwecken zugleich die Spontaneität. Die Möglichkeiten des kommenden Menschseins sind nicht

abzuleiten aus den Bedingungen, unter denen es heute steht, wenn sie auch niemals ohne diese Bedingungen und nur in ihrer Aneignung zu verwirklichen sind. ' 2. Es gibt heute nicht nur das Furchtbare, sondern auch große Wirklichkeiten des Menschseins, zumeist in der Verborgenheit: Liebeskraft, Heldentum, Tiefe des Glaubens. Wenn Voraussehen des Kommenden Wahrnehmen von schon Gegenwärtigem ist, darf uns

das ermutigen. Nie ist ein Wissen um den Ruin gewiß. Sich aufraffen vor dem schrecklichen Wahrscheinlichen, um für das Unwahrscheinliche zu wagen, das wird zu einem Grundzug menschlichen Schaffens.

Dritte Frage:

Welchen Weg unseres

Humanismus halten wir für möglich?

Bei jeder unserer bisherigen Erörterungen haben wir die Forde-

rungen formuliert, die sich für einen kommenden Humanismus ergaben: den Blick im weitesten Rahmen der menschlichen Möglich-

keiten, die Durchdringung der technischen Welt, die politische Entscheidung für die öffentliche Freiheit des Geistes, den Willen zum Festhalten der Überlieferung, die Arbeit am gemeinsamen Grundwissen, die Erfüllung des Anspruchs der Massen, das Standhalten in der Ungewißheit.

Jetzt versuchen wir, die zwei Wege ins Auge zu fassen, die untrennbar scheinen: das Leben in der Aneignung des abendländischen Humanismus als unersetzlichen Ausgang, und das Ringen um die Unabhängigkeit des Menschen als die Voraussetzung aller kommenden Möglichkeiten. a) Eigentliches Menschsein ist jederzeit ursprünglich, aber wird um so tiefer, je entschiedener es aneignet, woher es kommt. Unser 281

MÖGLICHKEITEN

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- Humanismus ist abendländischer Humanismus. Er enthält zwei Momente: den Bezug auf die griechisch-römische Antike und den Willen zum eigentlichen Menschsein, und zwar das eine durch das

andere. Der Humanismus hat die ehrwürdigste Überlieferung. Ohne ihn sind Dante, Michelangelo, Shakespeare und Goethe undenkbar, — in seinem Boden wuchsen auch Hölderlin, Kierkegaard und Nietzsche, - ohne ihn wären nicht einmal seine radikalen Gegner, wie Karl Marx, geistig möglich gewesen. Wie sollten wir diesen Namen des

Humanismus verleugnen! In Nähe zu den abendländischen Menschen, zu ihnen aufblickend, können wir unseren eigenen Weg suchen. Zu keiner erlauchteren Schar von Geistern können wir uns gesellen. Lassen wir uns nicht einschüchtern durch die übermütigen Behauptungen, daß unser Zeitalter den Humanismus überwunden habe, daß er zu den Resten dekadenten Bürgertums gehöre. Solche Schein-

erkenntnis gewinnt nur dann Geltung, wenn eine despotische Gewalt gegen die wirklichen geistigen Ansprüche des Menschen ausmerzt,

was ihr nicht gefällt. Der Humanismus ist wesentlich eine Erziehungsfrage. Er bringt der Jugend die tiefsten menschlichen Gehalte in reinster Form und in einfachster Fassung. Es ist gar nicht unzeitgemäß, die humanisti-

schen Gymnasien zu pflegen und den dazu begabten Kindern das Beste durch die alten Sprachen zukommen zu lassen, was auch heute nur auf diesem Wege zu geben möglich ist. Alle Kinder des Abend-

landes aber sollten außer mit der Bibel auch mit der Geschichte des Altertums und mit Schriften der Antike in Übersetzungen und mit der Kunst jener einzigen Zeiten vertraut werden. Doch die Propaganda für den Humanismus ist heute nicht selten irreführend: Wird der römische Humanismus, diese Aneignung des späten Griechentums aus der Kraft des römischen Ethos, zum Vorbild für

allen Humanismus, so wird dieser eng. Der erste Humanismus ist nicht der römische, sondern die griechische Paideia selbst. Gilt das Wissen von der Antike, die Kenntnis ihrer Sprachen und 282

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die Beherrschung der philologischen Methoden schon als Humanismus, so wird er hochmütig und inhuman, schätzenswert nur noch durch seine philologischen Leistungen. Will ein kulturkonservativer Humanismus das geistige Leben sehen in den überlieferten 70poi, so kann er auch zur Rechtfertigung mancher Niedertracht werden durch Beispiele humanistischer Überlieferung. Das ist dann der Humanismus der Literaten, die leben in der Entscheidungslosigkeit, vielmehr aus der Entscheidung gegen den

Ernst für den Reichtum des kaleidoskopischen geistigen Spiels, ob sie nun den Gelehrten, den Journalisten, den Konvertiten, den Nihilisten, den Philosophen oder andere Rollen ergreifen, hinter denen sie Verwirrungen ungeordneten Menschseins verbergen. Sie sind die

neue Gestalt der immer lebendigen Sophistik, dieses bedeutenden Faktors des geistigen Lebens, den man beklagen muß und doch nicht missen möchte. Das bodenlose Literatentum wurde möglich, weil der Anspruch erhoben wurde, den Menschen allein durch den Geist zu führen, im

Humanismus seine Erfüllung zu sehen. Dann wurde vergessen: Der Geist ist in die materiellen Notwendigkeiten des Daseins gebunden, um real zu sein, und der Geist muß von der auf Gott bezogenen Existenz des Menschen getragen sein, um eigentlich wirklich zu sein. Der Humanismus ist nur das Medium, aber nicht die Vollendung des Menschseins. Wird er zum Endziel, so entfaltet sich eine abgesonderte Pflege von Vergangenem in einem sowohl irreal wie existenzlos werdenden Dasein. Gegen diese Abgleitungen wenden sich nicht nur die Kräfte der

Philosophie, um den echten Humanismus zu bewahren, — sondern auch die antihumanistischen Kräfte, um ihn ganz und gar zu vernichten. Wird von diesen ein „realer Humanismus“ (Marx) gefordert als ungeschichtliche Gegenwärtigkeit des Menschen und seine Verwirk-

lichung durch vermeintliche Freiheit, Gerechtigkeit und Glück in Gemeinschaft aller, so gilt der Name für das Gegenteil allen Humanismus, für die Verleugnung der Überlieferung und der griechischen Ur283

MÖGLICHKEITEN

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“ sprünge. Das wäre kein Humanismus mehr, vielmehr die Vernichtung des abendländischen Menschen. Zudem ist dieser reale Humanimus eine Fiktion, die aus anfänglicher Schwärmerei schließlich zur

Täuschung durch politische Propaganda wird. Ein neuer Humanismus aus einer leeren Idee des Menschen als solchen ohne Geschichtlichkeit ist unmöglich. Wohl aber ist ein kommender Humanismus denkbar, der die chine-

sischen und indischen Grundlagen des Humanen abendländisch aneignet und zu einem gemeinschaftlichen menschlichen Humanismus aller Erdbewohner

in der Mannigfaltigkeit seiner geschichtlichen

Erscheinungen wird, die besser sie selbst sind, weil sie um einander wissen.

b) Nun aber das Entscheidende. Der Humanismus ist nicht das Endziel. Er schafft nur den geistigen Raum, in dem jeder um seine Unabhängigkeit ringen kann und muß. Die innere Unabhängigkeit des Menschen ist, solange es Geschichte

gibt, erwachsen gegen die Verlorenheit an das Ganze. Vor allem immer dann, wenn sich dieses Ganze als brüchig erwies, wollte der Mensch in dessen Sturz sich nicht hineinreißen lassen. Dann wurde die Grundfrage des Humanen, äußerstenfalls auch als Einzelner auf sich stehen zu können.

Aber als Einzelner kommt der Mensch zu sich nur in unmittelbarem Bezug auf die Gottheit. Von Jesaias und Jeremias, von Sokrates, Jesus, den Stoikern über Giordano Bruno, Spinoza, Kant gehen die großen unabhängigen Gestalten durch die Geschichte, die es aushalten, durch keine Gemeinschaft gestützt zu sein, und es vermögen, selber der Keim neuer Gemeinschaft unabhängiger Menschen zu werden, gehalten von der Gottheit, so wie sie sich ihnen zeigte. Nach den neueren Jahrhunderten, deren Freiheit durch unabhängige Menschen begründet wurde, aber so, daß in der Folge das Zeitalter im vermeintlichen Besitz der Unabhängigkeit als Liberalismus ständig unwahrer wurde, haben Millionen von Menschen die errungene Freiheit preisgegeben, ohne es zu wissen. 284

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Wo die äußere Freiheit durch den politischen Zustand gesichert scheint, ist doch diese nur zu halten, wenn ihr Sinn durch die innere

Freiheit erfüllt wird, die jeder Einzelne sich in seinem inneren Handeln ständig neu erwerben muß. Und wo die äußere Freiheit verloren ist, da ist in der politischen Vergewaltigung und der Funktionalisierung durch den Apparat das

Ringen um die innere Unabhängigkeit vielleicht schwerer als je, aber auch redlicher, klarer, bewährter.

Wir können durch die Autorität der Macht dazu gebracht werden, das Unsinnige für wahr, das offenbar Irreale für Tatsache zu halten. Der Unterwerfungswille, im trügenden Bewußtsein, einer dämonischen oder göttlichen Macht ausgeliefert zu sein, verwandelt den Menschen. „Ich glaube es nicht, aber man muß es glauben“, das Wort

haben wir gehört von Menschen, in denen diese Verwandlung begann. Die Bußfertigkeit in den Schauprozessen, die Bekenntnisse zu Handlungen, die man gar nicht begangen hat, aber’ vielleicht einmal versuchsweise spielend im Inneren erwogen hatte, sind das Zeichen des schließlich völligen Verlustes der Unabhängigkeit. Die Aufgabe des Menschen, um seine Unabhängigkeit zu ringen,

hört nicht auf. Das Ringen bleibt unter allen Bedingungen möglich, vielleicht in völliger Verborgenheit. Der weite geistige Raum des

Humanismus hilft zwar im Kampfe um die Unabhängigkeit, aber bewirkt sie nicht. Der Humanismus seinerseits lebt nur auf dem Grunde menschlicher Unabhängigkeit.

Die Unabhängigkeit ist nun gar nicht einfach faßlich und selbstverständlich. Sie ist voll Gefahr. Oft versteht sie sich selber falsch. Sie ist nie vollendet. Zunächst: Die Unabhängigkeit ist als solche nie mit sich zufrieden. Denn sie ist wirklich freie Unabhängigkeit erst, wo ihre Leerheit sich erfüllt. Wenn ihm eine „Welt“ verloren geht, kann sich der Mensch vielleicht aufrecht halten als Einzelner in seiner Unabhängigkeit, aber die Frage ist: wie kann er, statt im Punktuellen seines Ichseins zu 285

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verschwinden, den Ursprung der Gehalte, wie kann er statt der leeren Weite eine neue Welt gewinnen?

Wenn in einer versinkenden Welt, in der Überflutung durch selbstvergessene Massen Menschen sich retten gleichsam in eine Arche Noah, in diese Unabhängigkeit, die auf den Fluten einzelnen anderen zu begegnen hofft, wie finden sie aus der wie gewinnen sie eine Offentlichkeit, die dern gemeinsame Ziele des gemeinsamen Wie gewinnen sie nach der Sintflut den

Arche heraus zu einander, nicht leerer Lärm ist, sonLebens trägt und steigert? Boden echter menschlicher

Gemeinschaft? — Weiter kann die Unabhängigkeit sich mißverstehen im Stolz der Kraft, der Vitalität eines blühenden Soseins eines Menschen, der sich durch nichts bedroht fühlt, - oder im vermeintlichen Sichselbstschaffen aus nichts, — oder im Zusehen von einem vermeintlichen archime-

dischen Punkt, außerhalb im verantwortungslosen Betrachten. Immer ist dann verloren der Sinn von Freiheit, die nur in ihrem Sichgeschenktwerden in bezug auf Transzendenz gehaltvolle Erfüllung in der Welt findet und damit wirklich frei wird, sonst aber faktisch

an die Zufälligkeiten des materiellen und psychischen Daseins bewußtlos ausgeliefert ist und außerdem nichts bewahrt als die Starrheit eines leeren Ichpunkts. Tiefer aber als das Wissen um solche Entgleisungen dringt: das Bewußtsein der Verlorenheit durch eine Unwahrheit im Menschsein als solchem. Sie erwächst zugleich mit dem Sichselbsthervorbringen des Menschen durch eigene Arbeit. Mythisch wurde sie angeschaut im Sündenfall. Hegel zeigte die

Selbstentfremdung des Menschen. Kierkegaard zeigte die Grundverkehrung des Menschen bis zur dämonischen Verschlossenheit. Nietzsche durchschaute die unübersehbare Fülle der Selbsttäuschungen. Illusionen wurden als ausschlaggebender Faktor im Völkerleben begriffen. Solche Anschauungen sind als Ideologienlehre in der Soziologie und als psychoanalytische Lehren Allgemeingut geworden. Sartre’s existentielle Psychoanalyse wiederholt die Einsicht in die Grundtäuschungen des Menschseins. 286

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Es handelt sich um die Phänomene des Verdeckens und Verhüllens, des Verdrängens und Vergessens, der Verkehrung, und um die Grundaufgabe, zu enthüllen, zu entlarven, aufzudecken, die Wahrheit und Wirklichkeit wiederherzustellen.

So klingt alles noch wie die Erkenntnis einer Krankheit, die zu heilen ist. Aber der moderne Mensch, der sich in das Außerste hineingewagt hat, ist in einen Wirbel der Falschheit geraten, in das Unheimliche eines Verdrehtseins bis in den Grund, derart, daß Wahrheit und Wirklichkeit überhaupt ihm verschwinden. Nietzsche erfuhr es: „Zwischen hundert Spiegeln vor dir selber falsch... in eigenen Stricken gewürgt, Selbstkenner, Selbsthenker.“

Die Gefahren der Unabhängigkeit sind so groß, daß der Zweifel an ihrer Möglichkeit auftritt. Die moderne Unabhängigkeit, in der liberalistischen nun zu Ende gehenden Welt nicht mehr gegen Widerstand zu erobern, sondern

als Scheinfreiheit jedem mitgegeben, hat in dem letzten Jahrhundert zu der meist verschleierten These geführt: die Freiheit führt ins

Nichts, mit ihr geht es überhaupt nicht. Es sieht in der Tat so aus, als ob viele Menschen nicht frei sein könnten oder wollten. Von da hat die Unzufriedenheit, das Ungenügen und dumpfe Drängen in den Massen vielleicht einen Einschlag.

Das Nichtfreiseinkönnen zusammen mit der Not läßt eine gegenwärtige psychologische Realität verständlich erscheinen: Alle Bewegungen, die enthüllen, die die Unwahrheit der Zustände brandmarken, die aggressiv auf Vernichtung des zur Zeit Gültigen gehen,

haben eine gewaltige Zugkraft. Sie fangen alle Unzufriedenheit und alle Ratlosigkeit auf, die mit sich und der Welt nichts anfangen kann. Hier liegen die Bahnen für wilde Lust am Zerstören, für den Macht-

willen der Ohnmacht. Zugleich damit erwächst die Energie eines fanatischen Glaubens an Erlösung, die bevorsteht, der Drang zur

Rettung im blinden Gehorsam. So wird gerade mit der enthüllenden Wahrhaftigkeit heute eine Fülle neuer Verschleierungen vollzogen (in Marxismus und Psycho287

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. analyse), werden mit der Zerstörung von Fiktionen neue Fiktionen geschaffen, — ähnlich wie durch die Gewalt einer Befreiungsaktion vielmehr die größte Vergewaltigung aller eingeleitet wird. Aber alle Interpretationen, erstens von der Leerheit der bloßen Unabhängigkeit, zweitens von den mannigfachen Entgleisungen in falsche Unabhängigkeiten, drittens von einer Grundverkehrung im Menschsein können nur steigern den Anspruch an die echte Unabhängigkeit: Die Aufgabe des Menschseins ist das Sichherausziehen

aus der radikalen Unwahrheit. Doch wenn selbst aus dem Willen zum Heil gesteigertes Unheil erwächst, und mit der Einsicht in die Verkehrungen der Ruin doch nur immer größer geworden scheint, wie ist dann noch Hilfe möglich, wie eine Wegleitung zum eigentlichen Menschsein durch Bezug auf das Sein selbst, auf die Transzendenz? Zur Hilfe stehen heute bereit die Offenbarungsreligionen und die Philosophie. Der Naturalismus, oder besser die Denkungsart, die im Objektsein alles Sein, den Menschen als ein solches Objekt unter anderen sieht, erklärt das Denken der Transzendenz für eine falsche Aus-

legung von etwas, das in Wahrheit nur Weltsein ist. Er kennt keinen Ursprung der Freiheit, nichts, was „von außerhalb der Welt“, „von oben“, „aus der Lichtwelt“, von „Gott“ zu uns käme. Offenbarungsreligion und Philosophie, beide stehen gegen diese Denkungsart. Die große Frage aber ist: wo spricht Gott zu uns?

Die Religion antwortet: nur vermittelt durch Offenbarung, die schon geschehen ist, und die in menschlichen Institutionen, wie der Kirche, in Kult und Sakramenten und in Sätzen menschlicher Sprachen, immer also durch Realitäten in der Welt, uns erreicht, durch Autorität und Gehorsam.

Die Philosophie antwortet: die Transzendenz spricht unmittelbar zu einzelnen Menschen in der Wahrheit, welche zu hören uns alles

Überlieferte nur erwecken und bereit machen kann; sie spricht in der Freiheit des Selbstseins als dem Organ, in dem der Mensch, jeder 288

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Mensch, ohne Ausnahme unmittelbar vor Gott sich geschenkt werden muß, um eigentlich Mensch zu werden. Die Religion vermittelt durch Garantien gestützte Glaubensgewißheit. Wer in ihr von Gott spricht, kann als Organ einer in der

Welt sichtbaren Autorität von Gott zu sprechen meinen, durch das Amt, das ihm kirchlich gegeben oder bestätigt wird. Dagegen in der Philosophie bleibt der unmittelbare Bezug auf die Transzendenz Gottes zweideutig, ein Hören in der Gefahr, ihn

nicht zu verstehen, eine Spannung im Gewahrwerden, eine Gewißheit in bleibender Unsicherheit- Wer von Gott spricht, tut es ohne Amt, auf gleicher Ebene mit jedem anderen Menschen, ohne Anspruch einer Autorität, allein auf die Kraft menschlichen Überzeugens rechnend. Wer sich etwa philosophierend im Dienste eines Auftrages fühlen sollte, wird sich nie darauf berufen. Sokrates wagte es erst am Ende, vor dem Gericht der Polis und vor dem Tode, zu sagen. Die Offenbarungsreligion will transzendente Wirklichkeit ver-

mitteln, — die Philosophie zeigt Gedankenvollzüge, mit deren Erfüllung der Denkende je seinen Weg sucht. Philosophierend vergewis-

sern wir uns entweder Gottes oder des Nichts. Die Alternative: „entweder Gott oder das Nichts“ wird aber durch die Theologie umge-

setzt in die ganz andere: „Christus oder das Nichts“. Wobei alsbald Christus verstanden wird in Gestalt der Lehren einer bestimmten Kirche, der Gehorsam gegen Gott als Gehorsam gegen Kirche und Glaubenssätze.

Die Philosophierenden sehen sich wunderlichen Angriffen gegenüber. Es kommt vor, daß man uns die Gottheit versagt, als ob wir

usurpierten, was den "Theologen gehöre. Man gesteht die Möglichkeit nicht zu, unmittelbar zu Gott zu leben, erweckt von der Tiefe

der Überlieferung derer, die einst Gott zu hören glaubten. Man wirft uns vor den Hochmut des Menschen, der meint, sich selbst helfen zu können, und bezichtigt uns des faktischen Nihilismus, in den man

alles zusammenwirft, was nicht einstimmt in den Gehorsam gegen den Offenbarungsglauben. 289

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Angegriffen ist damit nicht nur die große Philosophie, die älter ist als das Christentum und die nicht beschränkt ist auf das Abendland, sondern ihre Tiefe hat auch in China und Indien. Angegriffen ist auch die Chance des heutigen Menschen, sein Weg durch den Humanismus zur Wahrheit seines metaphysisch gegründe-

ten Ethos. Der Unglaube von ungezählten Millionen ist Tatsache. Die verbreitete Aufklärung macht es fast unmöglich, daß sie zum Offenbarungsglauben zurückkehren. Wenn sie das Absurde — wie Kierkegaard es nannte — auf sich nehmen wollen, ist es ihnen er-

träglicher in den platten Absurditäten welt-immanenter Heilslehren. Wer die Menschen, wie sie heute geworden sind, zur Wiederherstellung ihres Wesens zunächst in die Knechtschaft eines Gehorsams, und

sei es eines Glaubensgehorsams, stürzen möchte, der liefert vielleicht die Meisten eher dem Totalitarismus aus als einem konfessionell bestimmten Christentum. Man hegt fragwürdige Erwartungen, solches Christentum politisch zur Ordnung der Geister zu verwenden.

Der unabhängig denkende Mensch will sich herausziehen aus der Unwahrhaftigkeit, um eigentlicher Mensch zu werden. Er sucht in der Kraft der Liebe, in der Offenheit der Vernunft und in der Bereitschaft zum Lesen der Chifferschrift der Transzendenz.

Dieser lebenwährende Prozeß bedarf nicht für alle der Hilfe der Kirchen. Aber er ist nur möglich mit Hilfe der Transzendenz. Wenn ich mir wiedergeschenkt werde im unablässigen Bemühen, das allein

doch das Wesentliche nicht herbeizwingt, erfahre ich diese Hilfe, ohne sie als Tatbestand objektivieren und beweisen zu können. Was leistet uns dabei die Philosophie? Die große Sache Entfaltung philosophischer Lehre mag angedeutet sein in Sätzen: 1. Philosophie kann die Wahrheit nicht geben, aber sie kann hellen, gleichsam den Star stechen, aufmerksam machen. Sehen

der drei erund

vollziehen muß ein jeder selbst. 2. Sie kann die Denkungsarten bewußt machen, das heißt durch Kategorien-, Methoden- und Wissenschaftslehre uns zu Herren 290

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HUMANISMUS

unserer Gedanken machen, statt uns an gewohnten Gedankenformen ungewußt gängeln zu lassen. 3. Die Philosophie leitet hin zu den gedanklichen Grundoperationen, mit denen wir uns befreien von dem bloßen Objekt eines vermeintlich gewußten Absoluten, zu den Grundoperationen, in denen in Formen des Verstandes unser Denken zugleich Vollzug unseres Wesens wird und wie das Gebet der Offenbarungsgläubigen uns verwandelt und hineinhebt in den Aufschwung.

Wenn wir aber in diesem Sinne philosophieren - und uns vor dem tötenden philosophischen Dogmatismus bewahren -, so kommen wir in folgende Situation: Da wir das Ganze nicht wissen können, kann unser Leben nur Versuch sein. Zuerst das Ganze wissen wollen, das lähmt alles Tun. Man muß hineingehen, es wagen, die Erfahrung seiner selbst und der Dinge zu machen, bei maximalem Wissen entscheidend im Nichtwissen seiner Liebe folgen, mit Zögern zwar und in ständiger Ungewißheit, aber darüber hinaus mit dem erfüllenden Entschluß. In die Zukunft schreiten bedeutet, wenn es nicht ein passives Geschehen-

lassen ist, Bindung an einen Stern, der uns führt, aber nur durch die Klarheit unserer eigenen Entschlüsse, nicht durch Zeichen oder durch irgend etwas, aus dem als einem Anderen wir berechnend ableiten könnten, was zu tun ist. Wenn Nietzsche das Leben „ein Experiment des Erkennenden“ nannte, so schien sich das Leben aufzulösen in den Versuch. Aber der wahre Versuch ist selber der Ernst der Wirklichkeit, die sich ihrer

nicht objektiv gewiß ist. Das ist die moderne Tapferkeit: fortfahren im versuchenden Leben, wenn auch keine Gewißheit ist, — nicht das Ergebnis verlangen, sondern das Scheitern wagen, — das Ja zum Leben

vollziehen, als werde in der Tiefe eine Hilfe sich zeigen, welche jedenfalls das bedeutet, daß das gut Gewollte nicht nichts sei, daß es am Ende einströme in das Sein. So ist die eigentliche Unabhängigkeit nicht ein fester Punkt des Freiseins, sondern dieses Sichgewinnen, das nie am Ziele ist. 291

MOGLICHKEITEN

EINES

NEUEN

HUMANISMUS

Unsere Erörterung des Ringens um die innere Unabhängigkeit hatte zuletzt nur den Menschen als Einzelnen im Auge. Klingt das

nicht, als ob der Einzelne alles sei? Das Gegenteil ist wahr: der Einzelne ist im Gang der Dinge das verschwindende Individuum, und der Einzelne ist er selbst nur in dem Maße, als er es in Kommuni-

kation mit anderem Selbstsein und mit der Welt ist. Aber zugleich ist wahr, daß alles auf dieses verschwindende Ich

ankommt. Denn erst auf dem Grunde persönlicher Wirklichkeitkann ich für das sonst imaginär bleibende Ganze, für die Gemeinschaft im engsten Kreise, in Staat und Menschheit mitleben. Denn der Geist dieses Ganzen ist gegründet auf die Wahrheit der Einzelnen, auf die

Unbedingtheit geschichtlicher Entschlüsse in der Verwirklichung des täglichen Lebens ungezählter Einzelner. Wohl scheint der Einzelne ohnmächtig. Aber wie bei Wahlen zwar jeder sagen kann, daß, wenn er nicht wähle, das Wahlresultat sich nicht ändere, er aber doch wählt, weil er weiß, daß alle Einzelnen zu-

sammen das Ergebnis bringen, - so ist die sittliche Kraft des scheinbar verschwindenden Einzelnen die einzige Substanz und der wirkliche

Faktor für das, was aus dem Menschen wird, — diese Substanz liegt nicht in einem objektiven Heilsprozeß oder einem metaphysischen Totalgeschehen des Seins oder in dämonischen Kräften oder in einem dialektisch-zwingenden Gang der Geschichte, nicht in Fiktionen hilflos von sich selbst und ihrer Aufgabe weglaufender Menschen. Wer etwa, was aus dem Menschen werden kann, mit größtem Pes-

simismus ansieht, der hat doch den Hebel, es zu bessern, an sich selbst, wenn er sich sagt: was ich im Blick auf Transzendenz selbst bin und tue, soll mir zeigen, was der Mensch sein kann, und läßt

vielleicht mein Auge heller werden, zu sehen, was ist. Die Zukunft liegt in der Gegenwärtigkeit jedes Einzelnen.

Die Probleme dieses Vortrags sind eingehender erörtert in meinen Schriften: Die geistige Situation der Zeit, 1931, 7. Auflage 1949 Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, 1949 Der philosophische Glaube, 1948

292

ÜBER UND

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CHANCEN

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1950

Unter Freiheit des einzelnen Menschen verstehen wir das Selbstdenken und das Handeln aus eigener Einsicht und damit die Führung des Lebens in der Kontinuität des eigenen Wesens. Der freie

Mensch wird sich geschichtlich hell in den ihm gegebenen Situationen seines Schicksals, das sich durch seine Entschlüsse und deren Folgen erfüllt.

Unter politischer Freiheitverstehen wir den Zustand der Gemeinschaft, in dem die Freiheit aller Einzelnen die größte Chance hat.

I. Tendenzen zur Vernichtung der Freiheit

1. Die These, Freiheit sei nicht möglich Gegen die Möglichkeit der Freiheit sprechen niederschlagende Erfahrungen: Der Alltag scheint zu lehren, daß viele Menschen nicht wissen, was sie eigentlich wollen, wenn es ihnen nicht gesagt wird. Die meisten scheinen nicht aus sich selbst zu leben, sondern durch Nachahmungen, aus augenblicklicher Lust, aus unerhellten Gewohnheiten und gelenkt von Suggestionen. Es ist, als ob sie in sich selbst gleichsam einen leeren Abgrund fänden, vor dem sie nach außen fliehen, entweder

in eine Geltung für andere durch Gebärden und Veranstaltungen oder in den Gehorsam gleich welcher Art, wenn sie nur gehorchen können im Bewußtsein, Teil zu sein einer unwiderstehlichen Macht. Freiheit bedeutet ihnen die Gewaltsamkeit, an der sie teilnehmen, sie 293

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FREIHEIT

erleidend und weitergebend. Besonnenheit und Urteilskraft zeigen sich selten. Dazu kommt ein Drang, die eigene Freiheit preiszugeben an ein sie im Wesen Vernichtendes, an das Absurde, das nicht nur undenk-

bar, sondern Zerstörung des Denkens selber ist. Die Geschichte scheint zu lehren, daß alle wirksamen Religionen und religionsartigen Mächte irgendwo das schlechthin Absurde in sich schließen, das nicht abstößt, sondern gerade anzieht, ja unerläßlich scheint für den

wirksamen Glauben. Es fragt sich nur, welche Weise des Absurden jeweils die wirkungskräftigste ist, die dann alle anderen Weisen in

ihrer Absonderlichkeit verachtet und ausschließt. Die Unmöglichkeit der Freiheit scheint weiter aus folgender Erfahrung sich zu ergeben. Freiheit fordert Gemeinschaft im Wahren. Diese Gemeinschaft fordert die Kommunikation des schaffenden und prüfenden Denkens, das nicht in der Verborgenheit wirkungslos ver-

schwinden, sondern sich öffentlich treffen soll. Daher will auch jede auf Wahrheit gegründete politische Macht die unbeschränkte öffentliche Diskussion. Sie ist der einzige unumgängliche Weg, wenn Wahr-

heit wachsen soll. Was aber dann als öffentliche Diskussion verwirklicht wird, kann wie eine ungeheure Täuschung aussehen, in der der Versuch der Freiheit gescheitert ist. Denn die öffentliche Diskussion

scheint zumeist nicht das Gespräch innerlich freier Menschen zu sein, die gemeinsam das Wahre suchen, nicht die Aufrichtigkeit der Sprechenden und Hörenden, sondern eine Kampfmethode für ganz andere Zwecke als die der Wahrheit. Man will gelten, will bezaubern und niederschlagen. Die freie Presse verbirgt ihre Abhängigkeit von Mächten der Wirtschaft und der politischen Gewalt und von weltanschaulichen Institutionen. Nicht Wahrheit, sondern List beherrscht das öffentliche Reden. Freie Öffentlichkeit, das scheint zu bedeuten Bestechlichkeit, zynisches Dirigieren der Massenmeinungen, Verant-

wortungslosigkeit der Redenden und Schreibenden. Diese gehorchen immer, ob die Zustände frei oder despotisch sind. Die Geschichte des Abendlandes zeigt nur einzelne Lichtinseln versuchter Freiheit. Die meisten Versuche sind gescheitert. Diese Ge294

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schichte geht ihren Gang keineswegs als Geschichte wachsender Freiheit. Die Gegenwart schließlich vollzieht den rasenden Sturz in die

Unfreiheit. Mehr noch als in der bisherigen Geschichte scheint Freiheit heute unmöglich zu werden in der Vermassung durch die technische Welt. Das Leben fast aller im bloßen Moment, ohne den weiten Horizont der Zukunft, ohne Grund in der Tiefe der eigenen Vergangenheit und in der gemeinsamen Geschichte, geordnet nur durch

Bürokratie, Arbeitszwang und organisierte Freizeit, läßt Freiheit verschwinden. Was heute menschlich echt ist, bleibt verborgen. Es

scheint wirkungslos und ungehört zu versinken im Schlammstrom der alles und sich selbst sogleich wieder vergessenden Öffentlichkeit

mit ihren Sensationen. Denken wir schließlich nicht nur an uns Abendländer, sondern an die Milliarden Menschen, die den Erdball bevölkern und die Träger

der kommenden Geschichte sind! Diese Menschen sehr verschiedener Art und Herkunft haben in ihrer Vergangenheit niemals Freiheit gekannt-im Unterschied von den seltenen Augenblicken und Orten

des Abendlandes. Sie sind heute ohne Ausnahme in den Strudel der modernen Technik und deren Folgen hineingerissen worden. Dem Blick auf diese Milliarden stellt sich die bange Frage: wie sollen diese Milliarden für ein Dasein in Freiheit geneigt sein? Sie wollen gehor-

chen im blinden Glauben. Alle diese Erfahrungen scheinen dasselbe zu sagen: Freiheit ist

nicht möglich. 2. Die Verführung zur Verwerfung der Freiheit Jeder, der mit echter Leidenschaft um Freiheit sich müht, macht

im Umgang mit Menschen persönlich Erfahrungen, in denen er Freiheit aufgeben muß. Die Verführung, auf sie zu verzichten, geht dann

aus vom Erbarmen und von der Ungeduld. Erbarmen schreckt angesichts des einzelnen Menschen, der im Grunde ratlos ist und daher in sich selbst keine Führung aus Freiheit

findet, davor zurück, Freiheit vorauszusetzen. Im Bewußtsein der 295

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Grausamkeit, sie von ihm zu verlangen, kann das Mitleid sich dazu verstehen, ihn an die Hand zu nehmen und zu führen. Ungeduld erwächst angesichts von Dummheit, Trägheit und bösem

Willen. Zum Beispiel unterbricht ein Wissender etwa ein sinnlos werdendes Gespräch durch eine autoritative Erklärung. Das Miteinanderreden hört dann auf — oder es bleibt nur ein wirkungsloses Spiel in der Muße -, der Mensch wird zum Gehorsam gezwungen durch sein eigenes Versagen, sei es durch die Situation, sei es durch Befehl. Solches Verhalten ist Symbol für den Abbruch der Verständigung

bei dem Gang der Dinge im Großen, für das Spiel der Mächte der Politik. Hier hat der Mißbrauch der Freiheit in verantwortungslosen Meinungen und trotzigem Eigenwillen vieler am Ende die Versklavung aller zur Folge. Denn wo sich nicht durch Freiheit eine Welt erbaut, sondern ursprungslose Willkür zur Anarchie führt, da findet

die Gewalt keinen Widerstand mehr. Ungeduld kann selbst einen freien Menschen verführen, angesichts des Gestrüpps unsachlicher Schwierigkeiten und der wachsenden Hliemmungen durch die eigensinnige Willkür der Einzelnen, nach der Gewalt zu greifen, um das Ganze in die Hand zu bekommen und das Wahre, wie es ihm scheint, zur Geltung zu bringen. Er kann aber

dieser Verführung erliegen nur um den Preis, mit der Vernichtung der Freiheit aller auch die eigene Freiheit zu verlieren.

Dieser Weg, die Verführung der Ungeduld des freien Menschen in bedrängender Situation, würde von ihm selbst kaum beschritten werden, sähe er voraus, wohin er führt. Wohl kann es ihm geschehen,

daß er von der ratlosen Masse mit Beifall empfangen wird. Der allgemeine Zustand der Unverläßlichkeit und der endlosen Störungen des Lebens ohne eigentliches Leben bewirkt eine Angst, die am Ende nur noch den Drang kennt: es muß anders werden. Dann unterwirft

sich den Versprechungen eines Erretters und Heilandes die Mehrzahl mit Enthusiasmus. Es geschieht, was Tacitus nannte: ruere in ser-

vitınm. Man erwartet eine magische Wirkung. Man wirft die Freiheit weg im Rausche des die Herrlichkeit erwartenden Gehorsams. Folgt dann die schreckliche Enttäuschung, ist alles zwar anders geworden, 296

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aber viel schlimmer noch als es vorher war, so ist es zu spät. Die Tore des Gefängnisses sind zugeschlagen.

Für diesen schaurigen Vorgang scheint die Geschichte mit menschlich subalternen Tyrannen vorlieb zu nehmen, denen es Freude macht, über Sklaven zu herrschen, Männern von tigerhafter Geistesgegenwärtigkeit oder eiserner Intelligenz oder hysterischer Betrügerbegabung. Vielleicht waren Julius Cäsar oder auch Cromwell

großartige Ausnahmen, Männer hoher Freiheit. In einer für die Freiheit aller hoffnungslos scheinenden Welt gibt es für den Einzelnen die umgekehrte Verführung. Er sucht wenigstens seine eigene Freiheit zu retten, d. h. sich in der Welt zu tarnen

und durchzukommen mit Rollen und Masken. Er hält sich in der Isolierung, fatalistisch im Hinnehmen, zynisch im Umgang mit den

Realitäten, anarchisch in der Gesinnung. Aber Freiheit gelingt nur als gemeinschaftliche Freiheit. Sie für sich allein zu retten, heißt

schon, sie preisgegeben zu haben. 3. Der Krieg

Wenn Freiheit das Werden des eigentlichen Menschseins bedeutet durch die Kommunikation im Wahren, so ist der Todfeind der Freiheit der Krieg. Denn der Krieg ist die Gewalt, mit der das Miteinan-

derreden aufhört und die Wahrheit als verbindendes Element endgültig verschwindet. In der Situation, töten zu müssen oder getötet

zu werden, wird dann allen einzelnen Kämpfenden durch das ihre Gewaltsteigerung erzwingende Ziel, den Krieg zu gewinnen, immer mehr von ihrer persönlichen Freiheit genommen, bis alle Freiheit zu-

gunsten wirksamster totaler Gewaltanwendung vernichtet ist. Was im Krieg als vorübergehend gilt, das wird unter Kriegsdrohung zum Dauerzustand.

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II. Möglichkeiten der Freiheit Das Versagen des Glaubens an die mögliche Verwirklichung der Freiheit auf Grund von Erfahrung - die Verführung zum Verzicht auf Freiheitdurch Erbarmen und Ungeduld, zur vermeintlichen Rettung der eigenen Freiheit ohne die Freiheit der anderen -die Realität des Krieges, der ein immer wiederkehrendes, in seiner freiheitsvernichtenden Auswirkung sich steigerndes Element aller bisherigen Ge-

schichte ist —, all diese Vergegenwärtigungen können hoffnungslos stimmen. Diese Bilder können das Unheil, das Erlöschen der Freiheit, als unausweichlich erscheinen lassen.

Trotzdem: richtig sind sie nur in bezug auf viele einzelne Zusammenhänge der Realität und als ständige Gefahr. Als vermeintliche Einsicht in das Ganze der menschlichen Möglichkeiten werden jene

Bilder falsch. Sie zeigen gleichsam die Materie als die eine Seite des Lebens, aus der der Mensch stammt, und in die er zurücksinken kann, wenn er

die andere Seite, seine Möglichkeiten und eigentlich menschlichen Aufgaben versäumt. Dieser Materie bedarf er zwar, solange er lebt, aber aus ihr ist das Menschsein weder zu begreifen noch darf es für immer ansie verloren gehen. Wir vergegenwärtigen uns unsere Chancen. 1. Die Zukunflsaussicht

Ungeheuerliches ist möglich. Infolge eines neuen Krieges können weite Länderstrecken

für lange unbewohnbar

werden, kann die

Menschheit hingemordet werden, daß nur ein Drittel oder weniger übrig bleibt, kann für diesen Rest das Leben so mühselig werden,

dafs es, aus dem Zustand unserer Zivilisation gesehen, unerträglich scheint. Aber der Rest wird leben, der Erdball weiter kraft des Sonnenlichtes gedeihen. Irgendwelche Überlieferungen, Werke, Bücher, Werkzeuge und Maschinen werden gerettet sein. Bei allem Vergessen und 298

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bei dem Abreißen der Überlieferung wird einiges Können bleiben. Vor allem der Mensch selbst, in jeder neuen Generation neu geboren,

neu versuchend, in ursprünglicher Reinheit jedes Einzelnen wieder beginnend, wird in seinen Möglichkeiten unvorhersehbar reich sein

können, Angesichts der unheilvollen Möglichkeiten in jeder Prognose muß

man der Übertreibung widerstehen. Was nicht gewußt und überhaupt nicht wißbar ist, darf nicht als Wissen behandelt werden. Ein

vermeintliches Wissen von der Weltgeschichte im Ganzen können wir stets kritisch zersetzen. Als Wissen kann es uns nur dann niederschlagen, wenn wir unkritisch unser Nichtwissen verleugnen. Das Ganze der Geschichte ist für uns ein unendlich Offenes. Die Zeit ist unabsehbar. Die 6000 Jahre bisheriger Geschichte sind nur

ein Anfang, ein Augenblick an dem Maß der wirklichen Zeit. Wir sollen die Weltgeschichte im Ganzen nicht zum Gegenstand unserer Sorge machen. Sie ist nicht unsere Aufgabe. Denn niemand steht über ihr, hätte sie zu gestalten in der Hand. Wir müssen gegenwärtig leben in Sorge um das, was wir sind und wirklich tun können im unendlichen Horizont der Möglichkeiten: klar erkennen, was in unserer Macht liegt und was nicht, das schafft uns den Raum unserer wirklichen Freiheit. Und dieser liegt immer zuerst und zuletzt in

dem, was wir als unser Leben alle Tage verwirklichen. Darin liegt das Wesentliche des Menschseins auch für die Zukunft gegründet. Wenn uns das Bewußtsein überkommt, mit allem, was uns wert

ist, nur noch eine Galgenfrist zu haben, so soll uns das nicht lähmen. Es ist stets noch ungewiß, was kommen wird. Was wahrscheinlich aussieht, braucht keineswegs — wir haben es oft erfahren - wirklich zu werden. Dann aber kann gerade die Wahrscheinlichkeit des Unheils uns kräftigen in dem Bewußtsein, daß es auf jeden einzelnen ankommt, sein Dasein durchstrahlen zu lassen von Ursprung und Ziel. Die höchste Spannung des Möglichen kann auch die ganze Kraft

des vernünftigen Menschseins in uns steigern, zu tun, was wir können, in den Anstrengungen um das Wesentliche.

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‚2. Der Kampf gegen den Krieg Die nach bisheriger historischer Erfahrung gewaltigste, die Freiheit immer einschränkende und schließlich vernichtende Realität ist der Krieg. Der Freiheitswille sucht mit unendlicher Geduld den

Krieg unmöglich zu machen. Aber es bleibt unsere Situation, daß dies Ziel nicht in sicherer Aussicht steht. Es ist unser menschliches Verhängnis, daß in uns allen jene Gewaltsamkeit liegt, die zur Folge hat, daß wir nie ohne Kriegsdrohung leben. Selbst bei einer vielleicht einst zu gewinnenden rechtlichen Weltordnung wird diese Drohung nie völlig aufhören. Wer sie irgendwann

für verschwunden halten wird, wird durch das Ver-

trauen in die Sicherheit der Weltordnung Mitursache für eine um so schrecklichere Überrumpelung werden. Den Krieg als unüberwindbare Realität anzuerkennen, ist für den frei werdenden Menschen ebenso unmöglich wie seine Realität als

eine beiläufige Teufelei zu bagatellisieren und mit pazifistischen Wendungen wegzureden. Der Krieg hat seinen Ursprung im Mensch-

sein, und zwar in einer Tiefe, die weder mit Charaktereigenschaften noch durch objektiv unlösbare Konflikte zwischen Menschen und

Menschengruppen genügend begriffen wird. Und doch bleibt der ewige Friede eine Idee der Menschheit.

Der Krieg wäre nicht möglich ohne ein allgemein verbreitetes Verhalten zwischen Menschen, das ihn vorbereitet. Daher beginnt die Gegenwirkung gegen den Krieg von der kleinsten Zelle der Ge-

meinschaft aufsteigend zu den höheren. Das alltägliche Verhalten,

in dem ein jeder durch Mitverantwortung zur Freiheit kommen soll,

verbietet trotzigen Eigenwillen und sucht ihn aufzuheben im Miteinanderreden. Daher ist das Alltagsethos die erste Bekämpfung des Krieges. Wenn nicht, dann ziehen irgendwann die am Steuer Sitzenden die Konsequenz und lassen den Krieg, der überall im kleinen vorgeübt wurde, im großen ausbrechen. Der Kampf gegen den Krieg geschieht weiter durch geduldige 300

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Staatsmänner, die, trotz Kriegsatmosphäre in der Seele so vieler gewaltsamer Menschen, wenigstens jetzt den Ausbruch des Krieges im großen verhindern wollen oder hinauszuschieben suchen. Es ist schon viel, solche Atempausen zu schaffen, von denen allein bisher die Geschichte gelebt hat. Aber heißt das: um keinen Preis Krieg? Wer Freiheit will, will einen solchen Zustand der Gemeinschaft,

in dem die Freiheit des Einzelnen die größten Chancen hat. Das ist der politische Zustand, in dem durch mögliche spontane Mitwirkung

aller in gesetzlichen Formen ständig die Korrektur des Bestehenden gesucht und dies durch öffentliche Diskussionen, Freiheit der Nach-

richten, das höchstmögliche Maß von Bildung und Selbstdenken gefördert wird. Wo diese Möglichkeit eines freien politischen Lebens,

das notwendig in sich vom Friedenswillen getragen ist, von außen her vernichtet werden soll, da ist Widerstand und ist das Rechnen mit der Möglichkeit des Krieges eine Verantwortung der Freiheit

selbst, die den Krieg als solchen nicht wollen kann. Wenn es sich darum handelt, gegen unseren Raubtiercharakter in Gestalt gewaltsamer Machtbildungen den Zustand der eigentlichen Menschheit zu retten, der Freiheit ermöglicht, so ist die Gesinnung

der Freiheit selbst das Motiv, die Waffen zur Abwehr zu ergreifen. Es bleibt für das Abendland ein ewig denkwürdiger Augenblick, als gegen den asiatischen Koloß des Perserreiches, der seine unaus-

gesetzten Eroberungen auf Griechenland auszudehnen im Begriffe stand, Athen angesichts der gewaltigen Unterschiede der Kräfte, vorbereitet durch die Voraussicht des Themistokles, selbst die eigene Stadt der feindlichen Zerstörung preisgab, um bei Salamis die griechische Freiheit und damit die abendländische Freiheit überhaupt zu

retten, Es hat noch manche solcher Kämpfe gegen erobernde freiheitslose

Imperien gegeben, die Kämpfe der Schweizer, der Holländer, den Kampf Wilhelms III. gegen Ludwig XIV., den der europäischen

Nationen gegen Napoleon, des freien Abendlandes gegen Hitler. Es liegt auf diesen Kämpfen etwas von dem Glanze jener ersten Rettung. 301

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Aber schon das erste Mal zeigte sich die Gefahr solchen Krieges auch für die Freiheit der Freiheitskämpfer. Der Kampf mit dem Drachen läßt selber zum Drachen werden. Das siegreiche Athen ging

den Weg imperialistischer Gewalt. Auch wenn wir seiner Ausbeutungspolitik die Akropolis und die Herrlichkeit Athens verdanken, so ist hier doch der Grund gelegt zu den Geschehnissen, die schon

bald hernach die griechische Freiheit zerstörten. Sie blieb nur als Erinnerung im Abendlande, die zu Auferstehungen der Freiheit ermutigte.

3. Das Entscheidende: das Unbedingte Unsere Betrachtungen, die bisher dem Willen zur Freiheit Realitäten und objektive Möglichkeiten zeigten, haben einen gemeinsamen Charakter. Sie haben die Tendenz, durch ihre unheilvollen

Perspektiven uns zu entmutigen, durch ein scheinbares Wissen uns zu lähmen und dann unmerklich mit dem Fatalismus uns in Selbstvergessenheit gleiten zu lassen. Wenn wir dagegen kritisch einsehen,

daß solche Erkenntnisse zwar einzelne Realitäten richtig sehen lassen, aber nie das Ganze zum Gegenstand des Wissens gewinnen, so ist diese Kritik doch nur negativ wirksam: sie befreit uns vom Schein-

wissen und hebt damit die lähmende Wirkung mißverstehenden Totalwissens auf. Das aber ist zu wenig. Wir suchen mehr, um der Freiheit zu vertrauen.

Zunächst erinnert uns unsere Geschichte. Die Idee der Freiheit wurde in der Tat gelebt und gedacht, nicht oft, nicht in der Menge, aber in einzelnen großen Erscheinungen. Es sind nicht nur verschwindende Lichtinseln. Wir werden durch sie erweckt und hören den Anspruch. Wer ihn gehört hat, für den ist das Leben anders geworden.

Dann aber werden wir einer Umkehr unserer Denkungsart uns bewußt. Eine Grunderfahrung des Erkennens lenkt uns auf den Weg:

wir können zwar durch keine Forschung, kein wissenschaftlich zwingendes Wissen, keine empirische Untersuchung den Nachweis er302

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bringen, daß es Freiheit gibt - aber wir können auch ihr Nichtsein nicht beweisen. Der Nachweis der Freiheit erfolgt nicht durch ein Wissen, sondern durch die Tat, aber nicht durch irgendeine einmalige Tat, sondern durch das Tun aller Tage, durch die Existenz des einzelnen Menschen, der dadurch erst mit dem anderen in eine echte, freie Gemeinschaft gelangt.

Entscheidend dafür, uns des Ursprungs unserer Freiheit unverlierbar gewiß zu werden, ist die Umkehr unserer Denkungsart aus dem im Gegenständlichen verlorenen Denken in das Denken aus dem Umgreifenden. Wir beschreiten, wo es sich um Freiheit handelt, eine andere Dimension im Tun und Denken zugleich. In dieser Dimension sind wir eins mit einem Unbedingten, aus dem wir wollen. Nur scheinbar unbedingt ist der Fanatismus eines

blinden, gewaltsam lenkenden und gehorchenden Willens. Dieser ist vielmehr bedingt und Gegenstand psychologischer und soziologischer Erkenntnis, die uns seine Herkunft, seine Erzeugbarkeit und Verwandelbarkeit zeigt. Das eigentlich Unbedingte wird sich fortdauernd heller, setzt sich jedem Lichte und jeder Frage aus, hat seinen Ort in der umfassenden Vernunft und bringt uns in die Gemeinschaft des sich entfaltenden Unbedingten. Freiheit, Hellwerden des Unbedingten, Gemeinschaft selbstseien-

der Wesen - das ist dasselbe. Ist dies Umgreifende offenbar gegenwärtig geworden, dann liegt alles Erkennen innerhalb seiner. Wohl ist der Inhalt der Erkenntnis zwingend richtig, aber wir sind im Anerkennen dieser Richtigkeit nicht als ein Ganzes von ihr beherrscht, weil das Ganze selbst nie

zu ihrem Inhalt werden kann. Dann kann, nach Kants Worten, „nichts Schädlicheres und Unwürdigeres gefunden werden als die pöbelhafte Berufung auf vor-

geblich widerstreitende Erfahrung“, wo der Gegenstand der Erfahrung erst durch unsere Freiheit wirklich werden soll. Hier vermögen „rohe Begriffe, eben darum, weil sie aus Erfahrung geschöpft werden, alle gute Absicht zu vereiteln“. 303

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Freiheit ist die Führung aus dem Unbedingten. Diese Führung wird sich im Philosophieren klar, in jenem Philosophieren, das zum Menschen als Menschen gehört. 4. Erkenntnis und Philosophie

Es ist zweierlei: die betrachtende Erkenntnis soziologisch-historischer Kausalverkettungen - und das erweckende Denken, das in uns zum Bewußtsein bringt, was wir eigentlich wollen und an jedem Tage verantwortlich tun. Die Prozesse, die wir soziologisch-kausal erkennen, sind die Be-

wegungen der Unfreiheit oder zur Unfreiheit. Die Spontaneität der Freiheit dagegen ist nicht ableitbar. Sie ist nicht Gegenstand der Erkenntnis. Denn Erkenntnis erfaßt die Geschehnisse nur in ihrer gegenständlichen Objektivierung nach dem Gesichtspunkt der einsichtigen Notwendigkeit. Obgleich die Erkenntnis Bedingungen zeigen kann, unter denen Freiheit möglich ist, geht diese selber aus sol-

chen Bedingungen keineswegs hervor. Politisches Handeln gründet sich auf beides, auf Erkenntnis und Freiheit. Die Erkenntnisse soziologischer und ökonomischer Art werden -

mehr oder weniger angemessen, verstrickt im Irrtum — zu Leitfäden für die planenden Entschlüsse der Staatsmänner. Die Freiheit spricht zur Freiheit, geht auf Erweckung des Anspruchs an Menschenwürde, auf die Erhellung des Denkens des Möglichen, horcht auf die Sprache der Transzendenz. Erkenntnis ist Sache der Wissenschaften, Freiheit zu denken und an sie sich zu wenden, ist Sache des Philosophierens. Die Erkenntnis wendet sich an den allgemeinen Verstand, worin alle identisch sind, der Anspruch der Freiheit aber an jeden Einzelnen, der im inneren Handeln er selbst werden soll, um damit in sich

die Führung zu gewinnen, durch die er all sein Wissen und seine Zwecksetzungen umgreifen und unter die Bedingung stellen soll, welche ihnen den Sinn gibt. 304

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Politik empfängt von der Erkenntnis den Raum voraussehenden

Planens, vom Philosophieren den Sinn des Ursprungs aus dem Willen der menschlichen Existenz. Die große moderne Täuschung ist der Schein, durch soziologisches Wissen und pseudowissenschaftliche Mythen den Geschichtsverlauf zu übersehen und diese Übersicht zum Mittel und zugleich zum Ziel

des Handelns zu machen. Wahrheit ist, daß, solange Menschen leben, es immer noch am

Menschen selber liegt, was aus ihm wird. Seine Freiheit ist in kein Wissen einzufangen. Es ist nicht zwingend vorauszusehen, ob und wie Freiheit sein und wirken wird. 5. Erscheinung der Freiheit Von Freiheit und ihren Erscheinungen zu sprechen, ist das Feld der Philosophie und der philosophischen Interpretation der ge-

schichtlich-soziologischen Wirklichkeiten des Menschseins. Für solche Interpretationen diene ein Hinweis auf drei eng zusammenhängende Erscheinungen: Freiheit behauptet sich erstens gegen den Anspruch auf den Besitz der einen absoluten Wahrheit durch den Willen zur Kommunikation von Selbst zu Selbst; sie behauptet sich zweitens gegen Menschenvergötterung durch öffentliche Diskussion; sie be-

hauptet sich drittens gegen die Leugnung der Freiheit durch das Vertrauen zum Menschen. a) Der Anspruch auf den Besitz der einen absoluten Wahrheit hebt die Freiheit auf. Denn wenn ich die Wahrheit besitze, kann ich sie nur verkünden — der andere kann sie annehmen oder ablehnen -,

eigentlich miteinander reden können wir so nicht. Der Ausschließlichkeitsanspruch einer Wahrheit vernichtet die menschliche Grundsituation: daß wir in Kommunikation der Wahrheit uns vergewissern. Freiheit ist in dem Maße, als Kommunikation tief und auf-

richtig ist. b) Menschenvergötterung und rückhaltlose öffentliche Diskussion dulden sich gegenseitig nicht. 305

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Die Menschen, die an politisch entscheidenden Stellen den realen Gang der Dinge und das Ethos der Gemeinschaft bestimmen, sind für die Völker wie ihr Schicksal, das sie selbst hervorbringen durch ungewußte Bahnung der Wege, auf denen sie jene an die Macht gelan-

gen lassen. Von diesen Menschen geht der eigentümliche Glanz aus, der mit der Rolle der alles andere bestimmenden Entscheidungen verbunden ist.

Aber wie ausgezeichnet ihre Art, wie bedeutend ihre Leistungen, wie ernst ihr Charakter in den günstigsten Fällen auch sei, es sind immer Menschen. Mögen sie im Namen Gottes, von seinen Gnaden,

im Namen der Geschichte, in deren Auftrag sie handeln, die höchsten Ansprüche erheben, es ändert nichts an dem Faktum, daß sie Menschen sind und bleiben. Ihr hoher in jenen Formen erhobener

Anspruch macht sie verdächtig, aber kommt entgegen einem Anbetungsbedürfnis der Massen. Menschenvergötterung pflegt einen einzigen zum alleingeltenden Menschen zu erheben, den Führer oder den Dichter oder den Weisen oder den Heiligen: nur dieser und kein anderer ist der über alle anderen erhabene Mensch und mehr als Mensch. Die Vergötterung macht ihn unantastbar. Eine Kritik an ihm gilt als ein Angriff auf ein Unangreifbares und ist als solche empörend. Sobald die Macht dazu da ist, wird solche Kritik verboten. Vertraut man sich, endgültig gehorsam, Einzelnen an, so gibt man die Freiheit auf. Es ist eine fast unwiderlegliche Neigung in uns, in

ehrfürchtiger Selbsthingabe uns so statt Gott einzelnen Menschen zu unterwerfen. Die Menschenvergötterung ist eine ungeheure Tatsache. Aber es gibt die Menschen, die weder solche Neigung haben, noch Lust empfinden, über unfreie Menschenmassen zu herrschen, die vielmehr nüchtern sehen, was Menschen sind und was auch das adlige Wesen des besten Menschen noch bleiben muß. Es gibt die Menschen,

die an Gott glauben und dadurch vor Menschenvergötterung ge-

schützt sind. Die öffentliche Diskussion, in der ohne Einschränkung Tatsachen, Sinngehalte, Forderungen erörtert werden, durch die der Geist in 306

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lebendiger Bewegung bleibt, schafft dagegen eine jene Menschenvergötterung in Frage stellende Atmosphäre, macht sie zwar nicht unmöglich, drängt sie aber in Verschleierungen und zerstäubt sie in eine

Vielfachheit von Vergötterungen, so daß sie in ihren Auswirkungen an Kraft verliert. c) Die Leugnung der Freiheit bedeutet den Verlust des Vertrauens zum Menschen. Blinder Gehorsam und Tyrannis gehören zusammen. Suche ich beide — vielleicht es mir selbst verschleiernd -, so gerate

ich unfehlbar auf den Weg der Menschenverachtung, wenn ich nicht schon von ihr ausgegangen bin. Die Ausnahme des einen Vergötterten steigert nur die allgemeine Menschenverachtung. Wer nicht an den Menschen glaubt - sei es als eigenen Ursprung, sei es als Geschöpf der Gottheit —, der muß, was er auch tut, daran mitwirken, den Menschen zu vernichten. Wir zeigten drei Alternativen: Anspruch auf den Besitz der abso-

Juten ausschließlichen Wahrheit — oder Freiheit der Menschen im Suchen der Wahrheit, die im Miteinanderreden die Selbstdenkenden zugleich überzeugt und verbindet. Ferner: Menschenvergötterung oder öffentliche Diskussion. Schließlich: Leugnung der Möglichkeit .

der Freiheit, damit Drang zu Gehorsam und Tyrannis — oder Vertrauen zum Menschen.

Diese drei Momente hängen zusammen. Will ich Freiheit, so kann ich sie nicht geradezu wollen und planen. Sie ist nur zu verwirklichen im Miteinander. Niemand kann wahrhaft frei werden, wenn nicht alle frei werden. Wir sind an Gemeinschaft gebunden nicht nur für die Lebenszwecke, sondern für unser Wesen selbst. Ich bin nicht ich selbst, außer in Kommunikation mit

dem anderen Selbst. Das Wachsen der Freiheit fällt daher zusammen mit dem Wachsen des uns verbindenden Ethos, das nicht gemacht wird, aber sich ver-

wirklicht aus dem Grunde eines jeden Menschen, der er selbst ist. Dieser Grund ist immer in Gefahr. Er muß sich ständig zeigen, in-

dem er sich neu hervorbringt. Er ist die Spontaneität des guten, sich selbst durchsichtig werdenden Willens. 307

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Im Entscheidenden kann der Mensch nicht das, worauf es ankommt, abschieben auf andere, auf die Zustände, auf die Geschichte, sondern zuletzt spricht es aus dem Grunde des Selbstseins eines jeden.

Von da wird am Ende auch bestimmt, was gemeinschaftlicher Zustand und öffentliches Ereignis wird. Hört aber die Führung aus der Freiheit auf, so sinken mit dem Einzelnen die Zustände der Gemeinschaft ab in die gewaltsame Lenkung durch Tyrannen nach der Pragmatik der Macht.

III. Die Aufgabe der geistigen Menschen Wir sagten: Erkenntnis, welche methodisch sich auf partikulare Gegenstände bezieht und in der Diskussion zu zwingenden Ergebnissen führt, und Philosophie, welche methodisch an den Grund aller Dinge drängt, den Menschen an seine höchsten Ziele bindet und in

der Diskussion zur Helligkeit und zum Aufschwung führt — beide sind wesensverschieden und zugleich untrennbar aneinander gebunden, beide sind Sache aller Menschen. Aber das Wahre wird mitteilbar und wirksam erst durch die sogenannten Geistigen, das heißt die Forscher und Philosophen, die Kritiker und Dichter, die Politiker, die Literaten, die Intellektuellen und die Akademiker. 1. Einschätzung

ihrer Bedeutung

Unser Zeitalter steht ihnen nicht selten mit geheimer Verachtung gegenüber. Hohe Schätzung genießen nur solche, die direkt oder in-

direkt dem technischen Fortschritt dienen. Die anderen Geistigen erscheinen als Menschen, die nur schwatzen und nichts tun, als eine

Art Komödianten, geeignet für die ernsthaft Arbeitenden zur Belustigung mit geistigen Dingen in freien Stunden, in denen man zu

Besserem keine Frische hat. Hegel aber schrieb: „Die theoretische Arbeit bringt mehr zustande in der Welt als die praktische; ist erst 308

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FREIHEIT

das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus.“ Diesen Satz werden wir kaum mit der Hegelschen Zuversicht wiederholen. Wie von Plato bis Hegel die Denker gewirkt haben dadurch, daß sie mißverstanden wurden, wie das Reich der Vorstellungen zwar revolutioniert wurde, aber in Verkehrungen des ursprünglich Gedachten, das ist ein Feld trübsinnig stimmender Forschungen, zumal man selbst nie gewiß weiß, ob man recht versteht. Aber im Hegelschen Satz liegt eine Wahrheit, die uns ermutigt, indem sie uns die Verantwortung für unsere Wahrhaftigkeit auferlegt. Die Arbeit an wahren Vorstellungen, an nüchterner Auffassung

der Realitäten, an kritischer Scheidung, am Raum für die vernünftigen Antriebe ist unberechenbar in ihrer Wirkung. Sie schafft mit an einer Welt, die nicht durch Summierung vieler Einzelleistungen, sondern durch Integration von Wechselwirkungen entsteht, derart,

daß in ihr plötzlich aus einem bis dahin fast Verborgenen her etwas Außerordentliches für viele und alle wahr werden kann. 2. Die Öffentlichkeit Die Freiheit aller Menschen fordert die öffentliche Sprache und damit die Wirkung der Geistigen. Ihre Arbeit selber, ihr Auftrieb ist gebunden an Freiheit. Diese Arbeit ist angewiesen auf die Zündung

durch das Miteinander und Gegeneinander im begründenden Sprechen. Ohne Freiheit verliert sie ihren schaffenden Charakter, das wußten schon Tacitus und Pseudo-Longinus.

Darum ist nicht eine Erscheinung unter anderen, sondern der Lebensnerv aller Menschen die Freiheit, daß uneingeschränktes öffentliches Sprechen und Diskutieren stattfindet, eingeschränkt allein durch das für alle gültige Gesetz gegen Verleumdung und Erpres-

sung, die, falls in ordentlichen Gerichtsverfahren festgestellt, geahndet werden, niemals aber auf dem Verwaltungswege getroffen wer-

den dürfen. Alle Niedertracht der Öffentlichkeit ist gerade durch die Offentlichkeit selber und allein durch sie korrigierbar. Dirigierte Offent309

GEFAHREN

UND

CHANCEN

DER

FREIHEIT

lichkeit, und im höchsten Maße die staatlich-terroristische Weise er-

zwingt die Lüge, setzt an die Stelle korrigierbarer Entgleisungen

jeweils unkorrigierbare Absolutheit, die durch den Willen der Tyran-

nen sich ändernde Propaganda. Diese Unfreiheit lähmt das geistige Leben.

Wer Freiheit nicht will, will auch diese Öffentlichkeit uneingeschränkter Diskussion nicht, denn sein Todfeind ist Wahrheit. Wer

diese uneingeschränkte Öffentlichkeit nicht will, will die Freiheit zerstören.

Aber keineswegs ist nun diese Öffentlichkeit der Raum nur für freie Menschen. Was wir als Korruption der öffentlichen Diskussion

charakterisierten, liegt in der Natur der Sache, aber nur als ein Moment. Denn die ganze Offentlichkeit kann gerade als freie diese Korruption ständig korrigieren. Das ist der einzige mögliche Weg der Wahrheit im Dasein. Er ist zu zeigen. 3. Die Zweideutigkeit des Geistigen

Der Geist als solcher ist keineswegs schon das Wahre. Er ist richtig oder irrend, wahr oder falsch, gehaltreich oder leer. Er kann luzi-

ferisch ein Licht bringen, das in das Dunkel führt, befreiend oder verführend, gut oder böse sein. Die Geistigen sind als solche durch keine objektive Instanz in der Welt autorisiert. Sie tun auf je eigene Verantwortung, was sie sagen

und schreiben. Sie haben ein begründetes Selbstbewußtsein in dem Maße, als sie die Schärfe des Gewissens spüren, ihr Dasein in ver-

zehrender Arbeit an ihre geistige Leistung setzen und mit ihrem 'Iun ein Echo erfahren von Menschen, die sie lieben und achten können. Aber sie können verantwortungslos beliebigen Mächten dienen.

Sie können nicht nur Ursprung, sondern auch Werkzeug sein. Denn sie tragen in sich beide Möglichkeiten, sowohl die des freien Schaf-

fens auf dem Wege zur Wahrheit als auch die Bereitschaft, unter dirigierenden Mächten im Dienst jeweiliger Lügen zu stehen.

Diese letzte Alternative bleibt meist verschleiert. Der Verrat der 310

GEFAHREN

UND

CHANCEN

DER

FREIHEIT

Geistigen am Geist aber wird vorbereitet durch eine Weise geistigen Scheinlebens, welches nicht der Freiheit, sondern der gewissenlosen Willkür der Einzelnen Raum gibt. Das geschieht durch alle solche Geistigkeit, welche nur spielt und ohne innere Bindung um jeden Preis geistreich ist, welche mit Imaginationen die durch Leerheit begierigen Köpfe mystifiziert, welche den gottverlassenen ästhetischen

Lebensgenuß bewirkt, und welche mit all dem eine Atmosphäre von Gleichgültigkeit und Fatalismus schafft, im Lärm der Sensationen jeden Boden ruiniert, dann ratlos, nihilistisch und zynisch oder am

Ende bigott macht. Es entwickelt sich eine Seelenverfassung, die ein geeignetes Objekt für die hier vieles richtig treffende Psychoanalyse ist, eine Welt, in der die Zehn Gebote — hochmütig als primitiv be-

zeichnet — keine Geltung mehr haben. Mit all dem wird ein Zustand geistig lärmenden Scheinlebens geschaffen, der in seiner Nichtigkeit durch einen Diktator mit seinem Terrorapparat ohne Widerstand weggewischt wird.

4. Hoffnung und Kampf Die Aufgabe des Geistes ist es, das Wahre offenbar werden und

Sprache finden zu lassen. In der Arbeit des Geistes liegt alle Hoffnung. Der Geist, das Unrealste, das Empfindlichste, das wie ein Nichts scheinbar nur Mitschwebende birgt in sich und erwirkt viel-

leicht auf die Dauer unberechenbar das Beständigste. Aber er gewinnt zeitliche Wirklichkeit nur im Kampf. Der Geist verrät sich selbst, wenn er zum endgültigen Besitz der einen absoluten Wahrheit gelangt zu sein glaubt. Denn er schreitet auf dem Wege, ihr näherzukommen in der grenzenlosen, niemanden grundsätzlich ausschließenden Kommunikation. Seine Arbeit geschieht aus der Sorge um den Menschen, um das, was wir aus uns

selber machen, herausholen aus unserem Seinsgrunde und dadurch als das Sein selbst berühren. Das hat seinen Ursprung in der Verborgenheit liebenden Kampfes Einzelner, aus dem alles nach außen Tretende den Grund seiner Gehalte hat. 311

GEFAHREN

UND

CHANCEN

DER

FREIHEIT

Offentlich aber ist der Kampf notwendig, um die Weite des Horizonts zu gewinnen, die Erfahrung vieler zu vereinigen, am Schaffenden teilzunehmen, vor allem um die Verwirklichung des Wahren zu fördern. Denn was wahr ist, setzt sich keineswegs automatisch durch.

Notwendig ist der Kampf gegen Unwahrheit und falsche Sprache. Denn der Geist kann den Ursprung verraten haben und doch blühen kraft vitaler Begabung. Er kann bezaubern und täuschen, wenn ihm der Grund der Freiheit fehlt und die Kraft der Aufrichtigkeit.

Daher wird vom Willen zur Wahrheit die uneingeschränkte freie Offentlichkeit bedingungslos gefordert. Nur so gewinnt der Geist die vollen Chancen. Aber die in diesem Raum mitsprechen, sind als

Intellektuelle keineswegs schon auf der Seite der Freiheit. Diese Öffentlichkeit ist auch für die Gegner der freien Öffentlichkeit da. In ihrem Raum stellen sie sich schon in den Dienst totalitärer Mächte. Sie werden mit ihrem Tun wie alle Lügen entlarvt. In der freien Öffentlichkeit sind sie der Kritik ausgesetzt und grundsätzlich korrigierbar. Nur im totalitären Staat sind dirigierte Lügen unkorrigierbar, außer durch die Tyrannen selber. Der Kampf spielt sich, solange politische Freiheit ist, mit geisti-

gen Mitteln ab. Was hier sich freundlich begegnet, das wird getragen von Kräften, die mitwirken, Frieden und Freiheit zu gewinnen, aber auch von solchen, die am Ende dahin drängen, Blut fließen zu lassen. In diesem Kampfe wird die Propaganda entwickelt und mit einem technischen Raffinement ersten Ranges betrieben. Propaganda, zuerst das Mittel der List, um vorteilhaft scheinende Unwahrheit zu verbreiten, ist nun auch das unerläßliche Mittel geworden, um Wahr-

heit zur Geltung zu bringen. Wie nicht nur das Unrecht, sondern auch das Recht den Advokaten verlangt, wenn es nicht unterliegen will, so bedarf die Wahrheit der Propaganda.

Die Hauptsache aber bleibt die eigentliche Arbeit des Geistes selber. Der Gedanke muß klar und rein und einfach gedacht werden,

um die immer dringender werdende Abwehr zu ermöglichen gegen alle Bezauberungen, gegen die täuschenden Imaginationen, gegen gnostische Mystifikationen, gegen all diese Vernebelungen, und gegen 312

GEFAHREN

UND

CHANCEN

DER

FREIHEIT

die dunklen, unerhellbaren Dogmatismen. Diese heute, wie es scheint, immer noch wachsenden geistigen Verwirrungen sind das Vorspiel der Unfreiheit, sie sind schon diese selbst im Raum der Freiheit,

charakterisiert weniger durch die Inhalte als durch die Denkungsart. Sie sind geneigt, im Ernstfall sogleich mit dem Absurden und dem Terrorismus mitzumachen. Man muß wissen, wo man in diesen Kämpfen um die Freiheit und

ihre Gehalte steht. Dann wird die Arbeit an den Vorstellungen, an der Erhellung der Motive, an der Erkenntnis der Realitäten, am Seinswissen, am Entwurf von Bildern und vor allem an der Denkungsart aus der umgreifenden Vernunft mit der beschwingenden

Gewißheit vollzogen, daß wir alle ohne Ausnahme in der Möglichkeit freie Menschen bleiben, die im Grunde fähig sind und danach drängen, aus der Tiefe ihres Wesens miteinander zu reden, um sich in der Wahrheit zu verbinden.

313

DAS

GEWISSEN DURCH

VOR DIE

DER

BEDROHUNG

ATOMBOMBE 1950

Es herrscht Einmütigkeit in der Verurteilung der Atombombe ihrer ungeheuren Zerstörungskraft wegen. Zwar ist bei jedem grundsätzlich neuen Schritt in der Entwicklung der Zerstörungswaffen schon

die Empörung dagewesen. Angesichts der Kanonen soll Luther gesagt haben: Hätte Gott die Erfindung des großen Geschützes durch die Menschen bedacht, so hätte er die Schöpfung der Welt unterlassen. Die U-Boote wurden bei ihrem ersten Auftreten mit gleichem

Entsetzen und gleichem moralischen Zorn empfangen. Nach einiger Zeit wurden sie, wie alle früheren Waffen, selbstverständlich. Angesichts der Atombombe aber scheint der Wissende heute ein Verhängnis zu spüren, das einen grundsätzlich neuen Schritt in Sinn und Folgen des Krieges bringt. Tatsache ist, daß die Atombombe von denen, die ihr Geheimnis

kennen, hergestellt wird. Es ist kaum zu zweifeln, daß von Menschen, die die Befehlsgewalt im entscheidenden Augenblick in die Hand bekommen können, ihre Anwendung geplant wird.

Was tun? Empörung hilft nicht. Verwerfung der Atombombe durch bloßes Verbot ohne eine gegenseitige Kontrolle ist wirkungs-

los. Die zugestandene Kontrolle aber würde viel mehr bedeuten als bloß die Ausschaltung der Bombe. Sie würde eine Einigung aller Beteiligten bringen zu einem Miteinanderreden und Miteinander-

verhandeln. Es würde eine gegenseitige Offenheit und Aufrichtigkeit entstehen, die schon der Beginn eines dauernden Friedens sein könnte. Diese eingreifende Gegenseitigkeit wird bis heute verweigert. 314

DAS

GEWISSEN

VOR

DER

ATOMBOMBE

Ein Verbot von Forschungen und Erfindungen, die zu immer schrecklicheren Zerstörungsmitteln führen können, wäre vergeblich. Es ist vielmehr umgekehrt zu erwarten, daß die Öffentlichkeit der freien Forschung eingeschränkt wird durch die Geheimhaltungsinteressen von Staaten. Wie weit solche Einschränkungen gehen werden, ist unabsehbar. Es ist möglich, daß dies schließlich zu einer Hemmung, wenn nicht zu einer Lähmung von großen naturwissenschaftlichen Entdeckungen wird.

Bis dahin aber ist es vielleicht die Möglichkeit der freien Welt, daß vermöge des in ihr lebendigen Geistes freier Forschung immer wieder ein Vorsprung in den Kriegswaffen erreicht wird, dem eine unfreie Welt, die das Erfundene sich aneignet, jedoch nicht schafft, nachhinkt. Der Gefahr, daß die ungeheuren Menschenmassen der Welt, im Besitz der Waffen, die nicht sie, sondern die Abendländer erfunden haben, diese kleine abendländische Menschenwelt am Ende

vernichten, wurde bisher durch diese Chance begegnet. Aber diese freie Forschung steht zugleich unter der Frage der Schuld für das Unheil, das aus ihr entsprungen ist und entspringen wird. Die Waffen der europäischen Technik zeigen von Anbeginn diese Zweideutigkeit: Sie verwirklichen das neue Schreckliche, um dadurch das alte Schreckliche in den fremden Händen, die es gleich bedenkenlos an-

gewendet haben, für den Augenblick zu lähmen, um Frieden durch eigene Übermacht zu haben. Dieser Vorgang aber ist nur durch ständige Steigerung der Zerstörungswaffen zu erhalten. Denn jede Erfindung wird trotz Geheimhaltung nach einiger Zeit Allgemeinbesitz. Hier ist kein Weg außer der Steigerung bis zur Zerpulverung des Erdballs in Weltstaub. Eine Chance aber ist auch die Gefahr selbst. Es ist eine denkwürdige Tatsache, daß im letzten Weltkrieg die Giftgase nicht zur Anwendung gekommen sind. Man hörte, daß sie in Deutschland in gro-

ßen Mengen Grund gewiß fahr, die aus drohte. Wenn

fabriziert wurden. Die Nichtanwendung hat ihren nicht in einer Humanität Hitlers, sondern in der Geder Anwendung der Giftgase für die eigene Macht Waffen den Charakter gewinnen, beide Gegner glei315

DAS

GEWISSEN

VOR

DER

ATOMBOMBE

cherweise ganz und gar zu ruinieren, entsteht offenbar eine Hemmung auch für die Skrupellosesten. Das bedeutet eine Chance. Aber es ist leider keine Gewißheit, daß es wie dieses eine Mal mit den Giftgasen so auch in der Zukunft mit den Atombomben gehen werde,

wenn sie in den Händen beider Parteien sind. Vielmehr ist auf die Dauer vielleicht das Andere wahrscheinlich: die bösesten Möglichkeiten finden irgendwann einmal den Menschen, der die Macht und den Willen hat, sie zu verwirklichen, und sei es in einem wilden

Selbstmorddrang, in den er die Welt mit hineinziehen will. Solche Erwägungen bewegen sich innerhalb der greifbaren Realitäten dieser Menschenwelt, in der wir leben. Man kann die Frage

der Atombombe nicht isolieren. Im äußersten Augenblick, wo es um Sein oder Nichtsein im Kampf uneingeschränkter Gewalt geht, wo es sich um Freiheit oder Knechtschaft handelt, alle Gewalt zuzulassen, aber auf die Atombombe oder etwa noch zu erfindende noch schlimmere Waffen zu verzichten, dazu wird keine Humanität dann

mehr raten, wenn die Humanität schon längst verlassen ist. Die Atombombe wird erst dann unmöglich, wenn Gewalt unter dem Recht steht. Dies setzt die übergeordnete Menschheitsinstanz voraus, deren Entscheidung getragen wird von den Rechtsformen,

die die Souveränität jeder Staatlichkeit gebeugt haben unter eine

Weltordnung der freien Menschheit in der Gegenseitigkeit des Miteinanderredens und gesetzlich geordneten Ringens um die ständige

Besserung der immer auch noch ungerechten Zustände. Was bisher geschichtlich nur in kleinen Volksgruppen wirklich war und damit als möglich erwiesen ist, die politische Freiheit mit ständiger Verwandlung des Zustands durch rechtliche Verfahren zu besserem Recht, das müßte für die Menschheit im ganzen gelingen in noch nicht vorauszusehenden Formen, um mit anderen Schrecken auch

die Atombombe unwirksam zu machen. Das heißt: nur mit der Veränderung der menschlichen Welt, die eins ist mit der Verwandlung des Menschen, ist eine Ausschaltung der Atombombe möglich. Wer den rechten Maßstab erblickt hat, 316

DAS

GEWISSEN

VOR

DER

ATOMBOMBE

wird sich nicht mehr täuschen durch Abblendung seines Bewußtseins vor den gegenwärtigen Schändlichkeiten und durch Isolierung des

Blicks auf ein einzelnes ungeheures Entsetzen wie die Atombombe. Eine Welt, in der es Zwangsarbeit in Konzentrationslagern, Depor-

tationen ganzer Bevölkerungen, Lüge in jeder Gestalt, planmäßiges Ausrotten ganzer Menschengruppen gibt, kann nicht dies alles dulden und zugleich die Atombombe ausschließen. Wir lassen uns allzu

leicht verführen durch das Quantitative. Eine Niedertracht, durch die ein einzelner zu Tode gequält wird, ist qualitativ das gleiche, als wenn es Millionen geschieht. Solange wir die quantitativ scheinbar geringere Niedertracht vergessen oder als geringfügig behandeln, werden wir dem quantitativ Ungeheuren im Grunde widerstandslos verfallen. Mit diesen Gesichtspunkten ist ein grundsätzlich anderer Horizont eröffnet als mit der bloßen Betrachtung der Realitäten. Der

Verstand muß im Blick auf diese Realitäten das Schlimmste für das Wahrscheinlichere halten, aber er selbst schon erkennt es keineswegs als unausweichlich gewiß. Weil es nicht gewiß ist, ist jener andere Horizont offen, in dem der Mensch um das Menschsein selber ringt. Dort ist jeder Mensch aufgerufen, zu tun, was er kann, um das

Furchtbare zu verhindern. Wo aber ist der Ansatz möglich? Der Ansatz unseres Tuns liegt entweder in einem Machen, Planen unter Leitung unseres bis dahin erworbenen Wissens, oder er liegt in jenem inneren Handeln, in dem wir wir selbst werden, frei sind und diese Freiheit beweisen durch unser Tun, nicht durch ein Wissen

davon. Was wir mit diesem inneren Handeln als Vernunftwesen werden, das bringt erst die Führung für jenes Machen und Planen. Aber sprechen wir damit nicht von imaginären Dingen? Das Geschehen ist in der Natur für unser Erkennen an Notwendigkeiten gebunden, die, ohne von sich zu wissen, sich durchsetzen. Soweit wir

menschliches Tun und Geschehen erkennen, gegenständlich erkennen, unterliegt es ebenfalls solchen Notwendigkeiten. Wir erinnerten an sie. Doch das ist nicht alles. Zwar alles, was wir in der Welt außer uns 317

DAS

GEWISSEN

VOR

DER

ATOMBOMBE

erkennen, sehen wir nur unter solchen Notwendigkeiten. Wir selbst aber sind nicht nur Gegenstand der Erkenntnis für uns. Dieses „für

uns“ sind wir selbst. Wir sind unserer Freiheit gewiß, ohne Freiheit zu begreifen. Irgendetwas Entscheidendes liegt an dem, wozu wir

uns entschließen. Daher beruht unsere Hoffnung, wenn alles getan und geplant wurde, was zu planen möglich ist, zuletzt allein in einem Vertrauen zum Menschen als von Gott geschaffenem Wesen, daß er nämlich in aller Verlorenheit immer noch die Möglichkeit der Umkehr hat, einer Wiedergeburt zum guten Willen. Diese aber erfolgt in der Freiheit

jedes Einzelnen. Alle vorhergehenden Gesichtspunkte zeigen demgegenüber nur Realitäten, Vordergründe, ja Außerlichkeiten. Von der nicht objektivierbaren Freiheit sprechen wir, wenn auch unvermeidlich schief, in gleichnisweisen Objektivierungen. Vergleichen wir etwa den Vorgang der Erfindung der Atombombe, ihrer

Bemächtigung durch das Militär, ihre Einstellung in politische Erwägungen mit dem Symptom einer Krankheit, so wäre die Krank-

heit die Verwahrlosung des menschlichen Ethos durch den Machtwillen, der uneingeschränkte Gewalt zuläßt und begehrt. Eine Welt, in der die Treulosigkeiten wachsen, die Ehescheidungen sich ständig vermehren, ein in Augenblickssensationen sich zerstreuendes Leben den Vorrang hat vor dem sich konzentrierenden Leben in geschicht-

“licher Kontinuität, vieles Niederträchtige heimlich für selbstverständlich erachtet wird, die sogenannte realistische Betrachtung für

den Gipfel illusionsloser Vernunft gilt, da sind solche Schrecken wie die Atombombe nur eine Konsequenz und damit ein bloßes Symptom. Man kann aber nicht ein Symptom heilen, ohne die Krankheit

selbst zu heilen. Diese Heilung aber ist der sittliche Prozeß durch die Freiheit des Menschen selbst. Jeder Einzelne steht vor der Wahl,

welchen Weg er gehen und für welchen er wirken will. Man darf sagen, obgleich es wunderlich klingt: Wer sein persönliches Dasein

nicht in ständig wiederholtem Entschluß rein, treu, verläßlich werden läßt, verschlimmert die Krankheit und fördert die Zerstörung durch Atombomben, die nur ein Symptom jener Krankheit ist. 318

DAS

GEWISSEN

VOR

DER

ATOMBOMBE

Wir müssen den Horizont weit genug nehmen, um die Bedeutung der Atombombe zu erfassen. Die Weltgeschichte, die nach einer Vor-

stufe von drei bis sechs Jahrtausenden jetzt gerade beginnt, stellt uns vor Chancen und Bedrohungen unerhörten Ausmaßes. Wie sollen wir noch leben vor solchen Möglichkeiten? Jedenfalls so, daß wir uns nicht einbilden, zu wissen, was wir nicht wissen können. Wir haben kein Totalwissen von der Geschichte, vom Menschen, von der Welt. Wir stehen darin, orientieren uns und

leben, wenn es uns geschenkt wird, aus der Unbedingtheit des sittlichen, transzendent gegründeten Entschlusses. Wenn wir aber die Geschichte, ihren Gang und ihr Ziel nicht kennen,

so haben wir doch vor uns den unendlichen Raum der Möglichkeiten. Wenn das Schlimmste geschah, kamen wohl Propheten, die die Menschen beschworen, Menschen zu werden in Führung durch die Gottheit. Damit alle mitgehen, damit sie auch nur auf die Wege der

einfachen Sittlichkeit der zehn Gebote gelangen, bedarf es vielleicht eines ungeheuren Druckes. Kierkegaard meinte, Weltkriege, Seuchen und Hungersnöte würden uns verlorene Menschen dieser Zeit noch nicht zu uns zurückbringen, erst wenn die ewigen Höllenstrafen wieder vor Augen ständen, könne die innere Revolution des Men-

schen geschehen. Wer aber die Erfahrung von Realitäten ausspielt gegen die Möglichkeit menschlicher Wiedergeburt im Ethos, der denkt und lebt gegen den nicht oft genug zu zitierenden Satz Kants: es sei pöbel-

haft, sich auf Erfahrung zu berufen dort, wo der Gegenstand der Erfahrung erst durch unsere Freiheit wirklich werden soll. Sind wir uns dessen bewußt, dann werden wir uns nicht mehr täuschen durch Berufung auf Kultur. Der Mensch, der der Kultur dient, muß wissen, daß Kultur als geistige Welt nicht autonom aus sich allein besteht, sondern wahrhaft, erfüllt und beglückend nur dann ist, wenn sie getragen wird durch Bezug auf die Gottheit, von

dem Ernst des persönlichen Ethos in der Liebe zum Menschen. Wir können der Kultur nicht dienen, ohne in diesem Boden unsere Wur-

zeln zu haben. 319

DAS

GEWISSEN

VOR

DER

ATOMBOMBE

Noch einmal: was tun? Durch staatliche Maßnahmen oder durch kulturelle Beschwörungen ist gegen die Atombombe nichts auszurichten. Wir scheinen als Einzelne ohnmächtig vor der Bedrohung zu stehen und müssen uns auf sie einrichten, wenn wir es vermögen,

durch ein Leben, das noch Sinn behält angesichts solcher Vernichtung. Aber wir sind nicht nur ohnmächtig, weil jeder Einzelne durch eige-

nes Tun und Leben und Denken auf den Weg gehen kann zu jener Welt, in der die Atombombe unmöglich wird. Wenn der Einzelne es redlich versucht, hat er zwar keine Garantie, daß es hilft in dem greifbaren Sinn der sichtbaren Verhinderung des Unheils. Aber indem er sich gebunden sieht in das Geheimnis der Menschheitsgeschichte, weiß er, was er darin will und kann. Und er darf hoffen, daß unbekannte helfende Kräfte wach werden. Wenn aber nicht, wenn die Menschheit sich doch selber zerstört und nichts bleibt von dem, was uns lieb ist und das Leben lebenswert macht, dann beugen wir uns wie Hiob im Nichtwissen. Aber so lange er lebt, bleibt dem Menschen, der sich vernünftig bewußt wird, offen, trotzdem und unerschüttert dorthin zu leben, wohin die verborgene Gott-

heit ihm den Weg zu zeigen scheint.

320



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MEIN

WEG

ZUR

PHILOSOPHIE

1951

Eine Philosophie wird sachlich nur durch das Werk klar. Ihre

Stimmung aber und Antriebe werden vielleicht durch einen persönlichen Bericht fühlbar. Als Schüler des Oldenburger humanistischen Gymnasiums in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts geriet ich in Konflikt

mit der Schulleitung. Ich verweigerte gegenüber der unvernünftigen Anordnung eines Lehrers den blinden Gehorsam. Ich trat ferner in keine der drei Schülerverbindungen ein, weil sie ihre Mitglieder nach Standesunterschieden aufnahmen und sich gegeneinander abschlossen. Vernunft und menschliche Kommunikation begehrte ich - sie blieben ein Ziel meines Philosophierens bis heute. Der Direktor aber

sah fälschlich in beiden Handlungen den Geist einer politischen Opposition. Die Lehrer wurden angewiesen, ein wachsames Auge

auf mich zu haben. Die Klassenkameraden — staats- und militärfromm - hielten nicht mit mir. In den zwei letzten Schuljahren stand ich allein. Die Einsamkeit war nun das Problem. Mein Vater pachtete eine

Jagd, um mir außer der Schule eine andere Welt zu verschaffen. So lebte ich in der Natur, mit den Büchern, im Anschauen von Kunst-

werken. Wohl gab die Einsamkeit Kraft aus einem sich gründenden Selbstsein heraus, aber um so leidenschaftlicher drängte ich nach der entbehrten Kommunikation, und wenn ich mich über die Lage besann und in mein Inneres blickte, dann mußte mir klar werden die

verborgene Angst, die mich, ausweichend vor entschlossener aktiver Opposition, im passiven Dulden bleiben ließ. Daß ich mich zwar redlich, aber nicht heldenhaft benahm, war die früheste Erschütte323

MEIN

WEG

ZUR

PHILOSOPHIE

rung. Das Bewußtsein der Grenze des Selbstseins verwehrte den

Stolz einer trotzigen Isolierung. In mein Wesen drang die Bescheidung, die als Wissen um

die Endlichkeit und um die Schuld des

freien Menschen mein späteres Philosophieren durchdringt. Damals war mein Verhalten das erste Mal so, wie es mir eigen

blieb, nur zum Teil gerechtfertigt durch mangelnde Kraft des nie gesunden Körpers. Noch in der Zeit des Nationalsozialismus blieb das gleiche. Ich habe mich zwar innerlich frei gehalten, bin keinem Druck gewichen dadurch, daß ich eine schlechte Handlung begangen oder ein falsches öffentliches Wort gesagt hätte, habe aber nichts im Kampfe gegen das Verbrechen getan. Ich habe unterlassen, was zu

tun das Herz eingab, aber die Vorsicht verwehrte. Daher mußte ich 1945 gegenüber falschen Erzählungen in Radio und Presse, die meine vermeintlichen Taten als Vorbild verherrlichten, eine Berich-

tigung veröffentlichen mit dem Schluß: ich bin kein Held und möchte nicht als solcher gelten. In der Not der einsamen Schuljahre las ich Spinoza. Mir das

Ganze der Welt durch ihn philosophisch bewußt zu machen und das Wort caute (vorsichtig) auf seinem Siegel als von ihm befolgte Lebensregel waren ein Trost jener Jahre. Am Ende der Schulzeit besprach mein Vater mit mir das zu wählende Studium. Bei meiner Neigung für Kunst und Dichtung und

Philosophie meinte er, ich möchte vielleicht Geisteswissenschaften

studieren. Nein, sagte ich, ich will ins praktische Leben. Mit der Absicht, Rechtsanwalt zu werden, wählte ich die Jurisprudenz. Im dritten Semester, 1902, war ich in München, lernte das beschwingte

Leben Schwabings kennen, hatte Graphologieunterricht beim jungen

Ludwig Klages nach einem Lehrbuch von H. H. Busse, ging in Theater und Kunstausstellungen, spielte Schach, hörte unter allen Vorlesungen nur noch wenige Stunden Philosophie bei Theodor Lipps.

Die Welt schien damals in Glanz und Glück. Jedes Jahr las man die Statistiken des Fortschritts im Reichtum. Mir war dabei nicht wohl. Dichtung und Literatur jener Zeit öffneten uns die Augen für 324

MEIN

den verdorbenen

WEG

ZUR

Grundzustand,

PHILOSOPHIE

der nur durch Verschleierungen

sich zu halten schien. Unsere Gesellschaft lebte offenbar in Täuschungen. Der Tod schien ebenso fast vergessen zu sein wie die Realität der Geisteskranken. Viele Menschen lebten und arbeiteten in Armut und Unwissenheit. Die Dirnen waren ein Gegenstand gedankenloser Verachtung. Augenblicksweise kam die Möglichkeit einer Weltkatastrophe zum

Bewußtsein. Kaiser Wilhelm II. hatte anläßlich des chinesischen Krieges durch Knackfuß ein kitschiges Bild zeichnen lassen mit der

Unterschrift: Völker Europas, wahrt euere heiligsten Güter! Ich fand es zwar lächerlich, wie es aussah. Aber der Inhalt wies auf eine Mög-

lichkeit, die stutzig machte. In der Phantasie sah ich den Erdball in den Händen der Mongolen, die zudem keineswegs schlechtere Men-

schen als wir schienen. Durch die Fragwürdigkeit aller Dinge, die Unheimlichkeit des

Glücks, dazu durch eine ständige Anfälligkeit meines körperlichen Daseins und durch die Ziellosigkeit meiner Studien wurde ich immer

unruhiger, obgleich ich die schönsten Freuden hatte im Genuß der Herrlichkeiten der Schöpfung und des menschlichen Geistes, zumal auf einer längeren Italienreise. Es blieb nur ein Weg: die Philosophie mußte die Wahrheit, den Sinn und das Ziel unseres Lebens zeigen. Die Stimmung Spinozas

hatte mir wohlgetan, aber ohne mich zu befriedigen. An der Universität brachten die philosophischen Vorlesungen Erkenntnistheorie und Psychologie; von der Geschichte der Philosophie berichteten sie als von den Meinungen, die einmal vorgekommen sind. Aber ich suchte in der Philosophie etwas ganz anderes. Man kann, so sagte ich mir, offenbar nicht geradezu philosophieren, ohne in der Realität der Welt mitzuleben, ohne etwas zu tun.

Der Weg zur Philosophie führt nicht über das abstrakte Denken. Was sollte ich tun? In München sagte meine besorgte Schwester von mir: er kümmert sich um alles, nur nicht um die Juristerei (die doch mein Studium war). Dies Leben durfte ich nicht fortsetzen. Ich mußte mir klar 325

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WEG

ZUR

PHILOSOPHIE

werden, was ich eigentlich wolle. Im Herbst 1902, in Sils-Maria, verfaßte ich für meinen Vater eine Denkschrift zur Begründung, daß ich nach drei vergeblichen juristischen Semestern umsatteln wolle. Ich entwarf einen Lebensplan: Studium der Medizin; durch dieses Studium die größte Chance, Natur und Menschen kennenzulernen;

vielleicht zuletzt Psychiatrie bei Kraepelin in Heidelberg, - und am Ende Rückkehr als Psychologe in die geistige Welt der philosophischen Fakultät. Wenn dies aber nicht gelingt, so habe ich doch einen Beruf gelernt, der nützlich ist und von dem ich leben kann.

Am folgenden Semesterbeginn in Berlin traf ich in einem Durchgang von der Karlstraße zur Anatomie einen Studenten der Technik,

mit dem ich in München Schach gespielt und ins Blaue philosophiert hatte. Ich sagte ihm: ich studiere jetzt Medizin. Er: nun, für eine

Weile ist auch das mal ganz interessant. Noch fühle ich, wie mich das Wort traf. Ich sagte zwar nichts, aber dachte: wie, alles nur für eine Weile, alles nur ein Spiel? Der Entschluß, nunmehr mit aller

Kraft und ohne Unterbrechung Medizin zu studieren, wurde in diesem Augenblick erst ganz ernst. Den Tag über war ich beim Studium in der Anatomie, in Vorlesungen über Chemie und Zoologie. Ich fühlte mich nach der Ungebundenheit der ersten Semester, in denen ich von allen Möglichkeiten des Geistes gekostet hatte, zunächst wie in der Fremde. Den

Tag über ermunterte mich der Gedanke an den Abend. Da war ich frei, heimzukehren in den Kreis derer, die ich liebte, wenn ich Goethe las und Gottfried Keller, und wenn ich durch Reisebeschreibungen das Bewußtsein der weiten Welt bewahrte. Doch am Tage war ich ganz bei der Sache.

Der Weg zur Philosophie war es, der die Wahl meines Studiums bestimmt hatte. Ich wollte wissen, was Realität ist. Reisen und Um-

gang mit Menschen genügten nicht. Schöne Bücher lesen, Kunst sehen, das konnte sogar verführen. Man muß etwas lernen, etwas können, sonst lebt man im Schein. Was man in Laboratorien und

Krankenhäusern erfährt, das bedeutete mir damals zugleich die Realität. Sachnähe begehrte ich, mich selbst zu überzeugen und nicht 326

MEIN

WEG

ZUR

PHILOSOPHIE

nur den Lehrbüchern zu glauben. Daher besuchte ich mehr die Kurse als die Vorlesungen, lebte in den Instituten und auf der zoologischen Station in Helgoland.

Dabei wurde mir bald ein Ziel des Wissenwollens klar: sich bewußstt zu machen, was man weiß, wodurch und wie man weiß, und was man nicht weiß. Im ersten Examen fragte mich der treffliche

Anatom Merkel in Göttingen nach dem Bau des Rückenmarks. Statt diesen Bau zu schildern, referierte ich die Methoden der Unter-

suchung und was für Bilder sich auf den jeweiligen Wegen ergeben. Ich habe es in Erinnerung, weil Merkel über das Verfahren erstaunt war. Es war dasselbe Ordnungsprinzip, das ich später in meiner „Allgemeinen Psychopathologie* angewandt habe: nicht einen vermeintlich feststehenden Gegenstand darzustellen, sondern die Wege,

auf denen man seiner in bestimmten Aspekten ansichtig wird. Aber jeden Augenblick blieb mir bewußt: das alles war noch nicht die Philosophie, die ich suchte, sondern nur eine Voraussetzung des Philosophierens.

Nach langer Fesselung an die Medizin lernte ich 1909 durch Lektüre Husserl kennen. Seine Phänomenologie war als Methode ergiebig, weil ich sie für die Beschreibung der Erlebnisse von Geisteskranken anwenden konnte. Wesentlicher aber war es mir, zu sehen, wie

ungemein diszipliniert er dachte, dann daß er den Psychologismus, durch den sich alle Probleme auflösen in solche psychologischer Motivation, überwunden hatte, vor allem seine unablässige Forderung,

unbemerkte Voraussetzungen zu klären. Was in mir schon wirkte, fand ich bestätigt: den Drang zu den Sachen selbst. Das war damals in einer Welt voller Vorurteile, Schematismen, Konventionen wie

eine Befreiung. Aber Husserl als Philosoph enttäuschte mich. Er vollzog die Gebärde des Sehens; was dann gesehen wurde, war meist gleichgültig.

1910 erschien sein Aufsatz über „Philosophie als strenge Wissenschaft“ im „Logos“. Es war zwar ein Meisterwerk auch in seiner vor keiner Absurdität zurückschreckenden Konsequenz. Mir aber wurde

durch ihn die Verkehrung der Philosophie in Wissenschaft klar, die 327

MEIN

WEG

ZUR

PHILOSOPHIE

mich empörte. Es folgte eine persönliche Begegnung 1913. Als Psychiater hatte ich einige phänomenologische Arbeiten über Sinnestäuschungen und Wahnerlebnisse veröffentlicht. Husserl erfuhr, daß ich in Göttingen sei, und ließ mich auffordern, ihn zu besuchen. Ich

wurde freundlich empfangen, belobigt und — welch Befremden bei mir! — als sein Schüler behandelt. Ich fragte etwas trotzig: was eigentlich Phänomenologie sei, das sei mir unklar. Darauf Husserl: Sie treiben Phänomenologie in Ihren Schriften ausgezeichnet. Sie brauchen nicht zu wissen, was es ist, wenn Sie es richtig tun. Machen Sie nur weiter! Dann erzählte er von seinem Jahrbuch, wie ärgerlich

und für ihn herabsetzend es sei, daß man ihn mit Schelling vergleiche; Schelling sei doch gar kein ernst zu nehmender Philosoph. Ich verstummte und sagte nachher: der wunderliche Mann weiß so wenig,

was Philosophie ist, daß er es als Beleidigung empfindet, mit einem großen Philosophen verglichen zu werden. Mir wurde damals deutlich, welch radikaler Unterschied sei zwi-

schen eigentlichen Wissenschaften und Philosophie. In den Wissen-

schaften gelangen wir zu zwingendem, allgemeingültigem und faktisch anerkanntem Wissen, - aber um den Preis, immer im Parti-

kularen, mit je besonderer Methode auf besondere Gegenstände

unter bestimmten Voraussetzungen gerichtet zu sein. Die Philosophie erhellt den Lebensgrund, das was ich selbst bin und will, und was an den Grenzen fühlbar wird, - aber um den Preis, bei wesentlicher,

ja allein wesentlicher Wahrheit in den Aussagen keine zwingende,

allgemeingültige Erkenntnis zu bringen. Die Phänomenologie für Philosophie zu nehmen, schien mir aus

dem Ethos der Philosophie verwerflich. Im Philosophieren kommt

man nicht voran durch ein Blicken auf Phänomene, als ob man als Zuschauer sich verhalte wie in den Wissenschaften, sondern nur durch ein Denken, das zugleich ein inneres Handeln ist. Es hat Folgen in

meiner Lebenspraxis und zeigt darin, was seine Wahrheit ist. Auf dem Wege der Wissenschaften wurde ich vorangetrieben

durch große Forscher, denen ich begegnete. Nißl, mein Chef an der psychiatrischen Klinik in Heidelberg, zeigte uns Assistenten die 328

MEIN

WEG

ZUR

PHILOSOPHIE

Selbstkritik des produktiven Denkers und Arztes in der Freiheit der

Diskussion. Ich nahm teil an der psychopathologischen Forschung. Auf dem Wege der Philosophie war es keineswegs so klar. Zwar

war die Philosophie nicht möglich ohne mit ganzer Kraft bei den Wissenschaften zu sein. Aber wenn die wissenschaftlichen Realitätserfahrungen offenbar nie das Ziel erreichten, so war es, als ob die

Wirklichkeit selbst sich zeigen müßte. Der Raum, den die Philosophie zu erleuchten hatte, lag frei. Wie aber war er zu betreten? Wo wird die Wirklichkeit selber mir zugänglich? Wie einem Gefängnisinsassen am Strauch im Hofe eine einzige

Pfirsichblüte den ganzen Frühling zur Gegenwart bringen kann, wie ein Minimum alles wird, sotreten plötzlich Erfahrungen in unser Dasein, die ungeplant sich offenbaren dem, der sich ihnen nicht versagt. Aber dieses Minimum muß leibhaftig da sein, um in der Phantasie

die Ergänzung zur Fülle zu finden. Diese plötzlichen Erfahrungen müssen begegnen, sie begegnen immer dem, der hört. Darin aber sind die Substanz die je einzigen Menschen, die lebenwährenden. Wie bezaubert ich auch in frühen Jahren von den Mädchen war, manchmal war mir zumute, als wisse ich schon von meiner Frau, der ich bestimmt sei, und der ich treu sein müsse, auch wenn sie mich nie

treffen sollte, - immer kam von da die Hemmung. Daseinsjubel in jenen vorzeitigen Ergriffenheiten war noch nicht der Aufschwung zur

Wirklichkeit selbst. 24 Jahre war ich alt, als 1907 plötzlich alles an. ders wurde. Wir waren uns begegnet. Die Welt war verwandelt, die Arbeit gesteigert. Das Philosophieren, wie neu geboren aus der immer drohenden Skepsis, gewann seinen Ernst durch die Erfahrung des unbedingten und unbegründbaren Entschlusses, der lebenwäh-

rend die Kommunikation ermöglichte, ohne welche die bloßen Gedanken wie unwesentlich bleiben. 1909 sah ich Max Weber, den großen Soziologen. In seinem Forscherdasein von umfassender Weite war er mehr als Forscher. Seine universale Kenntnis der Realitäten war umgriffen von der Klarheit

über die Grenzen unseres Wissens. Im Strome der Ereignisse sagte er von Augenblick zu Augenblick, was das Wesentliche war. Er 329

MEIN

WEG

ZUR

PHILOSOPHIE

kannte keine feierliche Zurückhaltung und kein Raunen: der Mann stand gleichsam auf der Straße, jeder Frage sich aussetzend. Er

wurde für mich der leibhaftige Philosoph unserer Zeit. Er führte zur Orientierung in allem Wißbaren und war zugleich der wunderbar wirkende Anspruch, zu tun, was man kann. Erst 1913 lernte ich die Werke Kierkegaards kennen. Sie brachten

mir die endgültige Erweckung zur Philosophie als bewußtem, methodischem Denken eigengegründeter Art. Jetzt stellte sich die Aufgabe, die frühere Philosophie durch die referierbaren Meinungen

hindurch in ihrem wahren Gehalt zurückzugewinnen. Verkehrt durch Vermischung mit Wissenschaften, mußte sie wieder wirksam werden als eigener Ursprung, als das, woraus wir denken und leben und sogar erst den Sinn der Wissenschaften selber erfassen. Es war, als ob mit einem Mal Kant, Schelling, Plotin und die anderen Großen wieder sprechend würden.

Es kam der erste Weltkrieg, dann nach dem Kriege die Zeit des Taumelns bei vielem guten Willen und bei noch größerer Energie der

bösen und blinden Kräfte, dann die Zeit des Nationalsozialismus. Seit1914 traf jeden auch die persönliche Daseinserschütterung. Mein Philosophieren hat darin keinen Bruch erlitten. Das Äußerste, die

Grenzsituationen waren ihm von Anfang an die Quelle.

Für mich hatte ich den Weg zur Philosophie gefunden. Aber meine

Ehrfurcht vor der Philosophie von Jugend auf hatte mich nicht daran

denken lassen, sie selber zum Beruf zu machen. 1913 habiliti erte ich

mich allein für Psychologie. Zur Philosophie als Lehrberuf kam ich

erst, als ich zu sehen meinte, daß nicht getan wurde, was jederzeit getan werden muß: an das eigentliche Philosophieren zu erinnern. 1920 starb Max Weber. Der Mann, dessen Gegenwart mir das Bewußtsein der Geborgenheit des Geistes gab, war nicht mehr da.

Ich fühlte mich wie in einen leeren Raum hineingerate n. Wenn

nun andere es nicht tun, darf ich es tun. Als ich in diesem Sinne 1921 eine Professur für Philosophie annahm, hatte ich das Bewußtsein, daß ich jetzt erst mit dem planmäßigen Philosophiestud ium und mit

der Arbeit an der Philosophie als Werk beginne. 330

»

MEIN

WEG

ZUR

PHILOSOPHIE

Wenigstens darf ich, so sagte ich mir, es wagen, die Überlieferung bewahren zu helfen dessen, was Philosophie eigentlich sein kann, darf ich das Große spüren lehren und die Philosophie vor Verwechslungen schützen. Es war unausweichlich, daß ich damit in Spannung zur bewußt wissenschaftlichen Fachphilosophie der Zeit stand, daß ich in deren Kreisen als Outsider empfunden wurde und für manche bis heute geblieben bin. Aber ich selber habe die Idee

des Hochschullehrers mit Bewußtsein, ja mit Leidenschaft ergriffen. Von ihm soll die Philosophie gezeigt werden in ihrer Reinheit, in methodischen Formen, im engen Zusammenhang mit den Wissenschaften, aus unbeirrbarer wissenschaftlicher Gesinnung, ohne die

Illusion und Verkehrung einer vermeintlich wissenschaftlichen und als Wissenschaft allgemeingültigen Philosophie. Für die Idee der Universität, in der diese Philosophie zu Hause ist, habe ich nach meinen

Kräften gelebt und sie trotz ihrer immer auch versagenden Wirklichkeit geliebt. Die Frage nun, was die Philosophie lehre, zu der ich geführt bin,

läßt sich in Kürze nicht beantworten. Aber die für die Lehre erwachsenen Aufgaben lassen sich kennzeichnen.

Wir gewinnen Kräfte aus den geschichtlichen Quellen. Wir möchten Widerhall werden des Tiefen, das einmal gedacht wurde, möchten dessen Aneignung fördern. Wir möchten ursprünglich im ewig Wahren uns gründen, möchten jede Wirklichkeit hören, die eine Sprache spricht, die uns zum Auf-

schwung bringt. Wir möchten teilnehmen am Übergang in die neue noch unbekannte, schnell sich nähernde Welt, — einzelne Vögel in der Menge

der in das neue Zeitalter Fliegenden, der Spähenden, der Suchenden. Wir sind auf dem Wege vom Abendrot der europäischen Philo-

sophie durch die Dämmerung unserer Zeit zur Morgenröte der Weltphilosophie. Aber so sehr wir uns des Zwischenseins bewußt sind, wir wissen, daß alles Zwischensein zugleich erfüllte Gegenwart sein kann, daß

es für uns keine andere Wirklichkeit als die gegenwärtige gibt, daß 331

MEIN WEG ZUR PHILOSOPHIE

Flucht in Vergangenheit oder Zukunft die Wirklichkeit versäumen läßt: das mögliche unendliche Glück des Daseins, welches erfüllt ist von einem Sein quer zur Zeit, die ewige Gegenwart im verschwindenden Fluß der Dinge.

Aber dessen werden wir nie sicher angesichts des offenbar gewordenen Bösen, das Menschen Menschen antun, vor dem keine Philo-

sophie die Augen schließen, nicht erleichtern und trösten darf. In

dieser Welt, von ihr betroffen und in ihr liebend den Weg der Vernunft zu finden, den Gedanken wirken zu lassen, das ist Kriterium

der Wahrheit der Philosophie selber.

332

ÜBER

MEINE

PHILOSOPHIE 1941

1. Mein Entwicklungsgang Geboren am 23. 2. 1883 in Oldenburg, als Sohn des früheren Amtshauptmanns,

dann Bankdirektors

Karl Jaspers, und seiner

Frau Henriette, geb. Tantzen, verbrachte ich eine wohlbehütete Kindheit, oft auf dem Lande bei den Großeltern und an der Nordsee verweilend, mit den Geschwistern geborgen bei geliebten und verehrten Eltern, geführt von der Autorität des Vaters, erzogen mit

dem Anspruch an Wahrhaftigkeit und Treue, an Leistung und Verläßlichkeit, aber ohne kirchliche Religion (wenn auch mit den spärlichen Formalitäten der protestantischen Konfession). Ich besuchte das Gymnasium meiner Vaterstadt und von 1901 an die Universität. Mein Weg war nicht der normale der Philosophieprofessoren. Ich erstrebte nicht über das Studium der Philosophie den philosophischen Doktor (ich bin Dr. med.), und hatte keineswegs von vorn-

herein die Absicht, über eine Habilitation für Philosophie eine Professur zu erlangen. Der Entschluß, ein Philosoph werden zu wollen, schien mir so töricht, wie es der wäre, ein Dichter werden zu wollen.

Aber seit meiner Schülerzeit war ich durch philosophische Fragen geführt. Die Philosophie schien mir als die höchste, ja einzige Angelegenheit des Menschen. Eine Scheu jedoch verwehrte mir, sie zum Lebensberuf zu machen. Meine eigene Aufgabe schien mir vielmehr im praktischen Leben zu liegen. Ich wählte zunächst das Studium der Jurisprudenz, um

Rechtsanwalt zu werden. Dabei hörte ich auch Philosophie. Das Studium enttäuschte mich. Die philosophischen Vorlesungen brachten 333

ÜBER

MEINE

PHILOSOPHIE

nichts von dem, was ich in der Philosophie suchte: nicht Grunderfahrungen des Seins, nicht Führung des inneren Handelns und der

Selbsterziehung, sondern fragwürdige Meinungen mit dem Anspruch wissenschaftlicher Geltung. Die Jurisprudenz ließ mich unbefriedigt, da ich das Leben nicht kannte, dem sie dient; so nahm ich nur die

verzwickte Verstandesspielerei mit Fiktionen wahr, die mich nicht interessierten. Ich suchte Anschauung der Wirklichkeit. Als unzureichender Ersatz diente Beschäftigung mit Kunst und Dichtung und eine enthusiastische Reise nach Italien, um die Roma aeterna zu

sehen, Geschichte zu spüren und Schönheit zu erblicken (1902). Diese zerstreute Lebensführung nahm beim Abschluß meines dritten Semesters ein Ende. Ich ergriff das Studium der Medizin. Es drängte mich zum Wissen von Tatsachen und zur Erfahrung vom Menschen. Der Entschluß zu disziplinierter Arbeit band mich nun für lange an Laboratorium und Klinik. Als mein praktisches Ziel galt mir der Arztberuf, doch schon mit dem geheimen Gedanken, am Ende viel-

leicht eine wissenschaftliche Laufbahn an der Universität zu erstreben, nicht allerdings in der Philosophie, sondern in der Psychiatrie oder Psychologie. Nach einigen Jahren (seit 1909) trat ich mit psycho-

pathologischen Forschungen an die Öffentlichkeit. 1913 habilitierte ich mich für Psychologie. Bis dahin war mein Leben unbekümmert um die allgemeinen Ereignisse ein geistiges Bemühen in einem zwar faktisch politisch-soziologischen Raum, aber ohne politisches Bewußtsein, wenn auch augen-

blicksweise ahnungsvoll betroffen von möglichen fernen Gefahren. Aller Ernst lag im privaten Leben, in den hohen Augenblicken des intimen Daseins mit den nächsten Menschen. Anschauen der Werke des Geistes, Forschen, ein ständiger Umgang mit dem Zeitlosen war

Aufgabe und Sinn des tätigen Lebens. Da geschah 1914 mit dem Weltkrieg der große Bruch unseres europäischen Daseins. Niemals konnte jenes paradiesische, in aller sublimen Geistigkeit doch naive Leben vor dem Weltkrieg wiederkehren: Die Philosophie in ihrem Ernst wurde wichtiger als je.

Meine Psychologie hatte in weitem Umfang, mir unbewußt, den 334

ÜBER

MEINE

PHILOSOPHIE

Charakter dessen angenommen, was ich in der Folge „Existenzerhellung“ nannte. Diese Psychologie war nicht mehr nur empirische Feststellung von Tatbeständen und Regeln des Geschehens, sondern Entwurf von Möglichkeiten der Seele, die dem Menschen im Spiegel zeigen, was er sein, was ihm gelingen, und wohin er geraten kann; solche Einsichten sind als Appell an die Freiheit gemeint, um im inneren Handeln zu wählen, was ich eigentlich will. Als das Bewußtsein in mir herrschend wurde, zur Zeit gäbe es keine eigentliche

Philosophie an den Universitäten, glaubte ich, nun habe angesichts des Vakuums auch der Schwache, wenn er nicht selbst eine Philosophie hervorzubringen vermöge, doch das Recht, von der Philosophie zu künden, zu sagen, was sie war, und was sie sein könne. Damals

erst, dem 40. Lebensjahr nahe, machte ich die Philosophie zu meiner Lebensaufgabe. 2. Aneignung

der Überlieferung

Wir können zwar ursprünglich fragen, aber wir stehen nie am

Anfang. Wie wir fragen und antworten, das ist mitbestimmt durch die geschichtliche Überlieferung, in der wir zu uns kommen. Wir er-

greifen die Wahrheit aus eigenem Ursprung nur in unserer jeweiligen geschichtlichen Situation. Die Bedingung des Gehalts unserer Wahrheit ist die Aneignung

unseres geschichtlichen Grundes. Die Kraft unseres eigenen Hervorbringens liegt in der Wiedergeburt des Überkommenen. Es darf nichts vergessen werden, wenn wir nicht absinken wollen; aber es

muß aus eigenem Ursprung gedacht werden, wenn das Philosophieren echt bleiben soll. Daher geschieht alle Aneignung aus dem Ernst des eigenen Lebens. Ich höre die Sprache der Vergangenheit um so klarer, fühle die Glut ihres Lebens um so näher, je entschiedener ich

aus den Voraussetzungen des gegenwärtigen Zeitalters als ich selbst existiere,

Wie die Geschichte der Philosophie für uns da ist, das ist ein konkret zu lösendes Grundproblem unseres jeweiligen Philosophierens. 335

ÜBER

MEINE

PHILOSOPHIE

Philosophie bewährt und charakterisiert sich durch die Weise, wie sie ihre Geschichte aufnimmt. Es kann uns scheinen, daß die Wahr-

heit des gegenwärtigen Philosophierens sich vielleicht weniger in der Neubildung von Grundbegriffen zeigt (wie etwa: Grenzsituation,

das Umgreifende) als durch den neuen Klang, den es in alten Gedanken uns hörbar macht. Unzureichend ist eine bloß theoretische Betrachtung der Philosophiegeschichte.

Daß

Philosophieren

Praxis ist, bedeutet

für die

Weise der Beschäftigung mit Philosophiegeschichte eine Forderung: das theoretische Verhalten zu ihr soll wirklich werden in der lebendigen Aneignung ihrer Gehalte aus den Texten. Ein indifferentes Wissen von Gedanken verhindert die Aneignung. Solches Wissen, das den Wissenden nicht angeht, schiebt sich zwischen den Gehalt

der Gedanken und dessen Wiedererstehen. Bei der Aufnahme der Philosophie durch die nachfolgenden Zeiten geschieht aber diese ständige Abgleitung des Denkens: Gedanken, die ursprünglich Wirklichkeit waren, gehen als Lehrstücke und Wißbarkeiten durch die Geschichte. Was einmal Leben war, wird ein Haufen toter Begriffshülsen und diese werden Gegenstand einer objektiven Philosophie-

geschichte. Daher kommt alles darauf an, den Gedanken im Ursprung zu begegnen. Diese Gedanken sind die Wirklichkeit des Menschseins, das sich in ihnen zum Seinsbewußtsein und Selbstverständnis brachte.

Wenn man in der Philosophiegeschichte wohl die Begriffe kennen muß, so bleibt doch der Sinn, Teilnahme zu gewinnen an der lebendigen hohen Praxis jenes vergangenen Denkens. Es entscheidet über

das eigene Wesen, welche Tiefen mir im Aneignen dieser geschichtlichen Ursprünge zugänglich werden. Dafür gibt es kein faßliches

Kriterium in der äußeren Erscheinung. Vielmehr geht dieses eigentliche Denken als ein Geheimnis, das doch jedem Verstehenden offenbar werden kann, durch die Geschichte. Dieses verborgene Denken war einmal Wirklichkeit. Es ist, wenn es Niederschlag in schrift-

lichen Gedanken gefunden hat, der Wiederentdeckung zugänglich; es vermag jederzeit neu zu zünden. 336

ÜBER

MEINE

PHILOSOPHIE

Philosophiegeschichte ist nicht mit dem bloßen Verstand zu treiben wie die Geschichte der Wissenschaften. Was in uns hört und was uns aus der Geschichte entgegenkommt, das ist die Wirklichkeit des im Denken sich öffnenden Menschseins. Eine philosophische Philosophiegeschichte hat folgende Charaktere: 1. Der eigentliche Sinn der Geschichte ist das Große, das Einzige und Unersetzliche. Die großen Philosophen und die großen Werke sind maßgebend für die Auswahl des Wesentlichen. Alles, was wir in philosophiehistorischer Arbeit tun, dient zuletzt zu deren reinem Verständnis. Alle anderen Fragen sind sekundär, so z. B. ob das Große auch das Wirkendste sei, oder ob vielleicht grade das Mißverständnis der Größe als ein Durchschnittliches, Abgeglittenes vorwiegend öffentliche Breitenwirkung habe. Wie uns — in ständiger

Bewegung und Infragestellung — der Rang der Größe im Gesamtbilde erscheint, was und wie wir es vorziehen, das muß sich bewähren darin, wie wir das Übrige, Breite und allgemein Geltende zu

durchschauen vermögen, es gerecht beurteilen und anerkennen. Was uns fremd bleibt und unverständlich, das ist Grenze unserer eigenen Wahrheit. 2. Verständnis der Gedanken erfordert gründliches Textstudium.

Der Philosophie ist nur durch konkretestes Verstehen nahe zu kommen. Ein großer Philosoph fordert hartnäckiges Eindringen in seine Texte. Dabei ist notwendig zugleich die Vergegenwärtigung einer ganzen Philosophie in ihrem Gesamtwerk und die Bemühung um die einzelnen Sätze, um diese bis in die Nuance bewußt zu machen.

Totalanschauung und genaue Beobachtung sind die Grundlage unseres Verstehens.

3. Verständnis der Philosophie fordert universalgeschichtliche Anschauung. Die Philosophiegeschichte muß als Universalgeschichte der

Philosophie eine einzige große Einheit werden. Es ist die Einheit des Offenbarwerdens des Seins, dieser einzige ungeheure Augenblick weniger Jahrtausende, aus drei Ursprüngen (China, Indien, Abend-

land) in einem einzigen Zusammenhang des Sinns wirklich, zwar 337

ÜBER

MEINE

PHILOSOPHIE

unüberschaubar als Bild, aber uns umgreifend als Welt, in die grenzenlos einzudringen die Weise des je gegenwärtigen geschichtlichen

Philosophierens ist. Zwar ist es für den Einzelnen nicht möglich, überali jene konkrete Nähe zu gewinnen. Er kann vielmehr seine Wurzeln nur in relativ wenigen hohen Werken haben. Aber der Raum des Ganzen und der Klang jenes ständig zu sich hinziehenden Einen ist unerläßlich für das Philosophieren in universaler Kommunikation und für die Wahrheit auch jedes einzelnen konkret nahen

Verstehens. 4. Das unsichtbare Geisterreich der Philosophen. Philosophierend leben wir gleichsam in einer verborgenen, unobjektiven Gemein-

schaft, in die aufgenommen zu werden die heimliche Sehnsucht jedes philosophierenden Menschen ist. Die Philosophie hat keine institutionelle Wirklichkeit, ist keine Konkurrenz der Kirche, der Staaten,

der realen Gemeinschaften in der Welt. Jede Objektivierung, Schulund Sektenbildung, ist zugleich Verderben der Philosophie. Denn es gibt keine Überlieferung der Freiheit, die im Philosophieren errungen werden kann, durch die Doktrin einer Institution. Immer als Einzelner wird der Mensch zum Philosophen. Und er kann daraus

keinerlei Ansprüche herleiten. Er kann nicht die Torheit haben, als Philosoph anerkannt werden zu wollen. Philosophieprofessuren sind Institutionen frei lehrender Vermittlung, die nicht ausschließen, daß sie von Philosophen eingenommen werden (Kant, Hegel, Schelling). Im Geisterreich der Philosophie aber gibt es keine objektive Garan-

tie und keine Bestätigungen, hier werden Menschen für einander durch die Jahrtausende Schicksalsgefährten des Denkens, werden

einander Anlaß, aus eigenem Ursprung den Weg zum Wahren zu

finden, geben aber einander nicht geradezu und fertig, was Wahrheit ist. Es ist ein Selbstwerden des Einzelnen in Kommunikation

mit den Einzelnen. Es ist ein Hineinwachsen der Einzelnen, ohne

Bruch mit der Welt ihres geschichtlichen Lebens, in den gemeinsamen

Raum des Verbundenseins quer zur historischen Realität. Es ist das

Wagnis, auf den Grund hin und aus ihm zu leben, der ohne ob jektive Gewißßheiten (wie in der Religion) nur in Andeutungen, indirekt, 338

ÜBER

MEINE

PHILOSOPHIE

als Möglichkeit aus dem gesamten Philosophieren hörbar wird für den, der selber philosophiert. 5. Universalgeschichtliche Anschauung ist Bedingung für das entschiedenste Bewußtsein des eigenen Zeitalters. Erst angesichts der Erfahrungen der Menschheit wird ganz fühlbar, was gegenwärtig erfahrbar ist, sowohl das, was heute nicht mehr erlebt werden kann, wie das, was gerade heute erstmalig erlebbar wird. Aus den Gehalten des Gewesenen, verwandelt in Möglichkeiten, werden die gegenwärtigen Gehalte erst ganz wirklich, weil bewußt. Das wahrhaftige Leben in jenem Geisterreich entfernt den Menschen nicht aus seiner Welt, sondern verwirklicht ihn zum Dienst in seiner geschichtlichen Gegenwart. —

Diese geschichtlichen Grundanschauungen haben sich mir erst langsam ergeben. Ich machte die Erfahrung, daß das Studium frü-

herer Philosophen wenig hilft, wenn nicht eigene Wirklichkeit entgegenkommt. Erst aus ihr verstehen wir die Fragen der Denker, so daß wir ihre Texte wie gegenwärtige zu lesen vermögen, als ob alle Philosophen Zeitgenossen wären. Die Reihenfolge, in der die großen Sterne des Philosophenhimmels mir aufgingen, ist vielleicht zufällig. Spinoza war der erste, als ich noch das Gymnasium besuchte. Kant wurde mir zum Philosophen schlechthin und blieb es mir. In Plotin, Cusanus, Bruno,

Schelling ließ ich die Träume der Metaphysiker als Wahrheit zu mir sprechen. Kierkegaard begründete das Bewußtsein des für uns heute unerläßlichen Ursprungs und unserer geschichtlichen Situation.

Nietzsche gewann erst spät für mich Gewicht als die großartige Offenbarung des Nihilismus und der Aufgabe, durch ihn hindurchzukommen (in der Jugend hatte ich ihn gemieden, abgestofen vom Extremen, vom Rausch und von dem Vielerlei). Goethe brachte die

Atmosphäre der Humanitas und der Unbefangenheit. Diese Atmosphäre zu atmen, mit ihm zu lieben, was an wirklichem Wesen in der

Welt zur Erscheinung kommt, mit ihm die Grenzen unverschleiert, aber scheu zu berühren, war eine Wohltat in der Unruhe, wurde ein

Quell der Gerechtigkeit und Vernunft. Hegel blieb für lange Zeit 339

ÜBER

MEINE

PHILOSOPHIE

ein fast unerschöpflicher Stoff des Studiums, zumal als Textgrundlage für meine Lehrtätigkeit in Seminaren. Die Griechen waren zwar immer da; war ich in ihrer Kühle diszipliniert, so ging ich gern zu Augustin, von dem dann die Unlust am Rhetorischen, an dem Mangel aller Wissenschaft, an häßlichen und gewaltsamen Gefühlen, trotz der Tiefe existentieller Erhellung, zurück zu den Grie-

chen trieb. Zuletzt erst beschäftigte ich mich gründlicher mit Plato, der mir nun der vielleicht größte von allen schien. Unter den schon verstorbenen Zeitgenossen danke ich, was ich zu

denken vermag, außer den nahestehenden Menschen, vor allem dem einzigen Max Weber. Er allein hat mir durch sein Wesen leibhaflig gezeigt, was menschliche Größe sein kann. Nißl, der Hirnanatom und Psychiater, war mir in den Jahren, als er mein Chef war, das

Vorbild kritischen Forschertums und reinster Wissenschaftlichkeit. — Auch angesichts der Philosophiegeschichte erblicken wir den un-

geheuren Einschnitt, den unser Zeitalter bedeutet. Hegel ist ein

Ende von zweieinhalb Jahrtausenden. Wohl ist Plato in seiner phi-

losophischen Grundhaltung - nicht in seinen konkreten Positionen —

heute so gegenwärtig, ja vielleicht gegenwärtiger wie jemals. Wir können auch jetzt noch aus Kant philosophieren. Aber wir können

es in Wahrhaftigkeit nicht, ohne auch nur einen Augenblick zu ver-

gessen, was seitdem durch Kierkegaard und Nietzsche geschehen ist. Wir sind auf eine Weise exponiert, die uns ständig vor das Nichts bringt. Wir sind so tief verwundet, daß wir in schwachen Augenblicken nicht wissen, ob wir nicht daran sterben. Wenn die Gebor-

genheit der in sich zusammenhängenden Philosophie von Parmenides bis Hegel verloren ist, so können wir doch auch jetzt nur aus dem

einen jenes sende Weise

tiefen Grunde des Menschseins philosophieren, aus dem auch Denken der in irgendeinem Sinne abgeschlossenen Jahrtauim Abendland hervorging. Dieses Grundes noch auf andere inne zu werden, sind wir hingewiesen auf Indien und China

als die beiden andern ursprünglichen Wege philosophischen Denkens.

Statt beim Zerfall von Jahrtausenden ins Nichts zu gleiten, möchten wir einen unerschütterlichen Boden spüren. Wir möchten geschicht340

ÜBER

MEINE

PHILOSOPHIE

lich in eins fassen, was als ein einziges Gesamtphänomen die Mög-

lichkeit öffnet, daß die Nachkommenden die Substanz tiefer gründen, als es je geschehen ist. Die Alternative „nichts oder alles“ steht als geistige Schicksalsfrage des Menschseins vor unserem Zeitalter.

3. Die Antriebe zu den Grundfragen Philosophie war nicht schon das Wissen eines Weltbildes (das ergibt sich als die Summe der Wissenschaften in ständiger Ungeschlossenheit und Bewegung), nicht schon die Erkenntnistheorie (die ein

Thema der Logik ist), nicht schon die Kenntnis der Systeme und Lehrstücke der Philosophiegeschichte (mit solchen Kenntnissen werden nur die Vordergründe des Denkens unverbindlich berührt). Philosophie erwuchs mir aus der Betroffenheit im Leben selbst. Philo-

sophisches Denken ist Praxis, aber eine einzigartige Praxis. Philosophische Meditation ist ein Vollzug, in dem ich zum Sein und zu mir selbst komme, nicht ein indifferentes Denken, bei dem ich unbeteiligt mit einem Gegenstand mich beschäftige. Bloßes Zu-

schauen wäre nichtig. Auch wissenschaftliches Wissen, wenn es Gehalt hat, ist nicht beliebiges Betrachten von Beliebigem; denn die kritische Objektivität wesentlichen Wissens wird als Praxis erst philosophisch im inneren Handeln erworben.

Philosophie als Praxis bedeutet nicht ihre Einengung auf Nützlichkeit und Anwendbarkeit, etwa auf das, was der Entwicklung der Moral dient oder gelassene Seelenzustände bewirkt. Das Erdenken von Möglichkeiten für einen endlichen Zweck, für den ich Erkenntnis als Mittel anwenden will, ist technische, nicht philoso-

phische Praxis. Philosophieren ist die Praxis meines denkenden Ursprungs selbst, mit dem sich im einzelnen Menschen das Wesen des Menschen in seiner Ganzheit verwirklicht. Diese Praxis entspringt aus dem Leben in jener Tiefe, wo es die Ewigkeit in der Zeit berührt, nicht schon in den Vordergründen, wo es in endlichen Zwecken

sich bewegt, wenn jene Tiefe auch für uns nur in den Vordergründen zur Erscheinung kommt. Daher ist die philosophische Praxis allein 341

ÜBER

MEINE

PHILOSOPHIE

in den Höhepunkten des persönlichen Philosophierens ganz wirklich, im objektivierten philosophischen Denken aber ist Vorbereitung für und Erinnerung an sie. In den Höhepunkten ist die Praxis das innere Handeln, in dem ich ich selbst werde, ist sie das Offenbarwerden des Seins, ist sie die Aktivität des Selbstseins, die sich

doch zugleich ganz als die Passivität des Sichgeschenktwerdens erfährt. Das Geheimnis dieser Grenze des Philosophierens, wo allein Philosophie wirklich ist, wird in der Ausbreitung der philosophischen Gedanken im Werk immer nur umkreist. -

Weil die Grundfragen der Philosophie als Praxis dem Leben erwachsen, ist ihre Gestalt jeweils der geschichtlichen Situation ange-

messen. Aber diese Situation steht in der Kontinuität der Überlieferung. Die früher gestellten Fragen sind noch die unserigen, zum

Teil mit gegenwärtigen bis in die Worte über Jahrtausende identisch, zum Teil ferner und fremder, so daß wir sie erst durch eine

Übersetzung uns zu eigen machen. Die Grundfragen schienen mir von Kant in ergreifender Einfachheit formuliert: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? 4. Was ist der Mensch? Heute sind uns diese Fragen in verwandelter Gestalt wiedergeboren und werden uns damit auch in ihrem Ursprung neu verständlich. Die Umgestaltung der Fragen kam aus der Betroffenheit von dem Leben, wie es in unserem Zeitalter uns gegeben wurde und sein konnte: 1. Die Wissenschaft hat eine immer wachsende, überwältigende Bedeutung gewonnen, in ihren Folgen ist sie das Weltschicksal ge-

worden. Technisch bringt sie die Grundlage allen menschlichen Daseins und erzwingt die unabsehbare Verwandlung aller Zustände.

Durch ihren Inhalt bringt sie aus dem Staunen zu größerem Staunen. In ihren Verkehrungen wird sie Anlaß zum Wissenschaftsaberglauben und zum verzweifelten Wissenschaftshaß. Auszuweichen ist ihr nicht. Wissenschaft reicht weiter als zu Kants Zeiten, ist radikaler wie je, sowohl in der Klarheit ihrer Methoden, wie in den Konsequenzen, die sie bewirkt. Die Frage „was kann ich wissen?“ wird da-

her konkreter und unerbittlicher zugleich. Von uns her gesehen, 342

ÜBER

MEINE

PHILOSOPHIE

wußte Kant noch zu viel (indem er seine eigene transzendentale Philosophie fälschlich für zwingende wissenschaftliche Erkenntnis hielt statt für im TIranszendieren zu vollziehende philosophische Einsicht) und zu wenig (weil die außerordentlichen mathematischen, naturwissenschaftlichen, historischen Entdeckungen und Erkenntnis-

möglichkeiten mit ihren Folgen großenteils noch außerhalb seines Horizontes lagen). 2. Die Gemeinschaft der Massen hat eine Ordnung des Lebens in

regulierten Geleisen hervorgebracht, durch welche die Menschen zwar technisch im funktionierenden Betrieb, aber nicht innerlich aus

der Geschichtlichkeit ihrer Seele verbunden sind. Die Leere der Unbefriedigung an bloßer Leistung und die Ratlosigkeit, wenn die Geleise einmal versagen, haben eine nie dagewesene Einsamkeit der Seele erwachsen lassen, eine Einsamkeit, die sich selbst verbirgt, im

Erotischen und Irrationalen vergeblich ihre Aufhebung sucht, bis durch sie der Ernst der Aufgabe einer Kommunikation von Mensch zu Mensch in der Tiefe erfaßt wird.

Noch in der Daseinsregulierung ist dem Menschen zumute, als ob im strömenden Ozean der Geschichte ihn die Wogen aus jedem Boden gerissen hätten, und er nun im Wirbel des Herumgetriebenwerdens Halt suchen müßte. Das Feste und Bestimmte blieb nirgends

das Letzte. Moral ist nicht mehr zureichend fundiert in allgemeingültigen Gesetzen. Diese selbst bedürfen eines tieferen Ursprungs. Die Kantische Frage „was soll ich tun?“ ist nicht mehr genügend

beantwortet durch den kategorischen Imperativ (obgleich dieser Imperativ unumgehbar wahr bleibt), sondern will ergänzt sein

durch die Gründung allen sittlichen Tuns und Wissens in der Kommunikation. Denn die Bedingung der Wahrheit allgemeingültiger Gesetze für mein Handeln ist die Weise der Kommunikation, in der gehandelt wird. Was soll ich tun? das setzt voraus: Wie ist Kommunikation möglich? Wie soll ich die Tiefe möglicher Konmmunikation

erreichen? 3. Wir erfahren die Grenzen der Wissenschaft als Grenzen des Wissenkönnens und als Grenzen unserer Weltverwirklichung durch 343

ÜBER

MEINE

PHILOSOPHIE

Wissen und Können; das Wissen der Wissenschaft versagt vor allen letzten Fragen. Wir erfahren Grenzen der Kommunikation, in ihrem

Gelingen bleibt ein Mangel. Versagen des Wissens und Scheitern der Kommunikation bringt in eine Verwirrung, in der Sein und Wahrsein verschwindet. Vergeblich sucht man den Ausweg im Gehorsam gegen Regeln und Vorschriften und in der Gedankenlosigkeit. Der

Sinn von Wahrsein bekommt ein anderes Gewicht. Wahrheit ist mehr als was wir Wahrheit (vielmehr besser Richtigkeit) in den Wissenschaften nennen. Die Wahrheit selbst möchten wir ergreifen,

der Weg zu ihr wird eine neue, dringendere, erregendere Aufgabe. Unser Philosophieren läßt sich bis soweit in die drei Fragen fassen: Was können wir wissen in den Wissenschaften? Wie sollen wir die tiefste Kommunikation verwirklichen? Wie wird uns Wahrheit zugänglich? Die

drei Grundantriebe

des Wissenwollens,

des Kommunika-

tionswillens und des Wahrheitsdranges bewirken diese Fragen. Durch sie kommen wir auf den Weg des Suchens. Aber die Ziele dieses Suchens sind der Mensch und die Transzendenz (oder: die Seele und die Gottheit). Auf sie gehen die vierte und fünfte Grundfrage. 4. In der Welt ist der Mensch allein die Wirklichkeit, die mir zugänglich ist. Hier ist Gegenwärtigkeit, Nähe, Fülle, Leben. Der Mensch ist die Stätte, an der und durch die alles wirklich ist, was für uns überhaupt ist. Das Menschsein versäumen, würde für uns bedeuten, ins Nichts zu sinken. Was der Mensch sei und sein könne, ist

eine Grundfrage für den Menschen. Der Mensch ist aber nicht ein sich genügendes, in sich geschlossenes Sein, sondern, was der Mensch ist, ist er durch die Sache, die

er zur seinen macht. In jeder Gestalt seines Seins ist der Mensch auf ein Anderes bezogen, als Dasein auf seine Welt, als Bewußtsein überhaupt auf Gegenstände, als Geist auf die Idee des jeweiligen Gan-

zen, als Existenz auf Transzendenz. Immer wird der Mensch zum Menschen dadurch, daß er sich dem Anderen hingibt. Aus seinem Versenktsein in die Welt des Daseins, in den unabsehbaren Raum

344

ÜBER

MEINE

PHILOSOPHIE

der Gegenstände, in die Ideen, in die Transzendenz wird er sich erst

wirklich. Macht er sich selber unmittelbar zum Gegenstand seines Bildens, so geht er seinen letzten und gefährlichen ‘Weg, möglich ist, daß er dabei das Sein des Anderen verliert in sich nichts mehr findet. Der Mensch, der sich gradezu wollte, versteht sich selbst nicht mehr, weiß nicht, was

sofern es und dann ergreifen er ist und

eigentlich soll. Diese Verwirrung wurde gesteigert als Ergebnis des Bildungsprozesses des 19. Jahrhunderts. Im Reichtum des Wissens von allem, was war, geriet der Mensch in einen Zustand, als ob er sich alles

Seins bemächtigen könnte, ohne selbst noch etwas zu sein. Das geschah ihm, als er sich nicht mehr an die Sache an sich hingab, sondern sie zu einer Funktion seiner Bildung machte. Eine neue Erfah-

rung verwirklichte sich von der Bodenlosigkeit des sich auf sich selbst allein gründenden Menschseins. Die Frage nach dem Menschsein wird vorangetrieben. Es genügt nicht mehr, mit Kant über sich hinaus zu fragen: „was darf ich hof-

fen?“ Der Mensch drängt entschiedener als je zu einer Gewißheit, die

ihm fehlt, zu der Gewißheit, daß ist, was ewig ist, daß das Sein ist, durch das auch er selbst erst ist. Wenn die Gottheit ist, dann ist auch

alle Hoffnung möglich. 5. Daher kommt zu der Frage, was der Mensch sei, als die wesentliche Frage, ob und was Transzendenz (Gottheit) sei. Die These wird möglich: Allein die Transzendenz ist das wirkliche Sein. Daß die Gottheit ist, ist genug. Dessen gewiß zu sein, ist das Einzige, worauf es ankommt. Alles andere folgt daraus. Der Mensch ist der Beachtung nicht wert. In der Gottheit allein ist Wirklichkeit, ist Wahrheit, ist die Unerschütterlichkeit des Seins selbst, dort ist Ruhe, dort ist der Ort der Herkunft und des Ziels für den Menschen, der selbst nichts ist und das, was er ist, nur ist in bezug auf diesen Grund.

Aber es zeigt sich immer wieder: Für uns ist die Gottheit, wenn sie ist, doch nur, wie sie uns in der Welt erscheint, wie sie zu uns

spricht durch die Sprache des Menschen und der Welt. Sie ist für uns nur in der Weise, wie sie Gestalt gewinnt, die in menschlichen 345

ÜBER

MEINE

PHILOSOPHIE

Maßen und Gedanken sie immer zugleich verbirgt. Nur in Weisen, die dem Menschen faßlich sind, kommt die Gottheit zur Erscheinung. So zeigt es sich, daß es falsch ist, die Frage nach dem Menschen

und die Frage nach der Gottheit gegeneinander auszuspielen. Daß nur der Mensch für uns in der Welt Wirklichkeit ist, verhindert

nicht, daß die Frage nach dem Menschen gerade zur Transzendenz führt. Daß nur die Gottheit eigentlich Wirklichkeit sei, verhindert

nicht, daß diese Wirklichkeit für uns nur im Weltsein zugänglich ist,

aber wie im der Gottheit chen werden Wechselspiel

Spiegel der Ebenbildlichkeit des Menschen, weil von etwas in ihm sein muß, das von der Gottheit angesprokann. So wird das Thema der Philosophie im polaren nach zwei Seiten hin ausgerichtet: deum et animam

scire cupio.

Im Wiederaufgreifen der Kantischen

Grundfragen erwuchsen

mir also die fünf: nach der Wissenschaft, der Kommunikatio n und der Wahrheit, nach dem Menschen und der Transzendenz. Den Sinn

dieser Fragen, sowohl in den Antrieben, die zu ihnen führen, wie in den ersten Ansätzen einer philosophischen Antwort, vergegen-

wärtige ich nunmehr ein wenig eingehender: 1. Was ist Wissenschaft? — Ich suchte in der Jugend Philos ophie als ein Wissen. Die Lehren, die ich hörte und las, schien en diesem Anspruch entgegenzukommen. Sie begründeten, bewiesen, widerlegten,

standen in einer Reihe mit allem anderen Wissen, nur gingen sie auf

das Ganze, statt auf einzelne Gegenstände. Aber bald erfuhr ich, daß die meisten philosophi

schen und viele

wissenschaftliche Lehren keine Gewißheit brachten. Mein Zweifel wurde zwar nicht absolut und radikal. Er war nicht der Zweifel

im Stile des Descartes, den ich erst später kenne n lernte und auch

dann nicht wirklich, sondern nur als ein Spiel vollzo g. Aber mein

Zweifel stellte jeweils einzelne Behauptungen und versuchsweise eine jede in Frage, und dies zunächst in den Wisse nschaften. Es erschütterte meinen Glauben an Vertreter der Wissenschaft, nicht an die Wissenschaft selber, wenn ich erkan nte, daß berühmte

Gelehrte in ihren Lehrbüchern viel vortrugen, was sie ohne kritische 346

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Infragestellung als Ergebnis der Wissenschaft ausgaben, ohne daß es in der Tat gewiß war. Ich nahm das viele Gerede wahr, die vermeintliche Erkenntnis. Schon auf der Schule wunderte ich mich, mit Recht oder Unrecht, wenn die Antworten der Lehrer auf Einwände unzureichend blieben. Der Pfarrer bewies das Dasein Gottes daraus, daß die Sterne nicht zusammenstoßen, und hörte nicht auf den Einwand, vielleicht seien die Sterne so weit von einander entfernt,

daß die Chance eines Zusammenstoßes gering sei, oder: vielleicht geschieht es, nur beobachten wir es gerade nicht, da wir mit unserer

Erde noch unbetroffen sind. Dann hörte ich das Pathos der Historiker, wenn sie eine Reihe von Ausführungen zum Schlusse brin-

gen mit den Worten: „nun mußte es notwendig so kommen“, während doch diese Behauptung nur ex eventu suggestiv, an sich gar

nicht überzeugend war; schien doch auch anderes möglich und der Zufall immer im Spiel. Als Arzt und Psychiater sah ich den schwankenden Grund, auf dem so viele Behauptungen und Handlungen stehen, sah die Herrschaft vermeintlicher Einsichten, z. B. in die

Verursachung aller Geisteskrankheiten durch Hirnvorgänge

(ich

nannte das Reden über das Gehirn, wie es damals Mode war, Hirnmythologie, sie wurde später durch die Mythologie der PsychoanaIyse abgelöst), erfuhr mit Erschrecken, wie wir in unseren Gutachten keineswegs absolut gewisse Positionen vertraten, weil wir immer, auch wenn wir nicht wußten, zu einem Ergebnis kommen mußten,

so daß die Wissenschaft den Deckmantel hergab; um staatlich notwendige Entscheidungen zu ermöglichen, für die ein beweisbarer Grund nicht zu finden war. Und ich wunderte mich, daß eine so

große Zahl alltäglicher ärztlicher Verordnungen, ja die Masse der

Medikamente, dem Bedürfnis der Kranken nach Behandlung entspringen, nicht einem rationellen Wissen.

Aus diesen Erfahrungen ergab sich die Grundfrage: Was ist eigentlich Wissenschaft? Was kann sie? Wo liegen ihre Grenzen? Es wurde klar, daß Wissenschaft zwingend und allgemeingültig sein muß, wenn sie ihren Namen verdienen soll. Die schärfste Kritik, das hellste Bewußtsein der Methode, das Wissen, in welchem Sinne, aus 347

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welchen Gründen, in welcher Fraglichkeit ich jeweils weiß, erforderte zunächst die Selbstdisziplin des Behauptens. Weder skeptisch alles preisgeben noch dogmatisch irgend etwas als Ergebnis fixieren,

sondern in der Haltung des Forschers bleiben und alles Wissen nur auf dem Weg mit seinen Gründen und relativ auf die Gesichtspunkte und Methoden zu eigen machen, das zeigte sich als etwas, das keineswegs einfach, sondern eine Haltung ist, die nur mit einem ständig regen intellektuellen Gewissen erworben wird. Dann zeigte sich, daß es zwingende Allgemeingültigkeit in der Tat gibt, daß es ein

hoher Vorrang des Menschen ist, sie klar unterscheidend zu erfassen. Aber es zeigte sich auch, daß solche Wissenschaft immer nur partikular ist, nicht das Ganze des Seins erfaßt, daß sie nicht totale Seins-

erkenntnis, sondern jeweils spezifische Sacherkenntnis ist, daß sie dem Leben keine Ziele gibt, auf alles Wesentliche, das den Menschen

erschüttert, keine Antwort hat, ja daß sie über ihren eigenen Sinn, nämlich ob man sich ihr zuwenden solle, keine zwingende Einsicht

gibt. Die Verwechslung von Überzeugungen, aus denen ich lebe, mit

Wissen, das ich beweise, verwirrt die ganze menschliche Haltung. Wenn aber die Wissenschaft, in ihrer Begrenzung auf zwingende und allgemeingültige Erkenntnis, so wenig vermag, wenn sie im Wesentlichen, nämlich in den ewigen Fragen, im Stich läßt, warum

dann überhaupt Wissenschaft?

Es ist erstens ein unabweisbarer Drang, wissen zu wollen, was erkennbar ist, die Tatsachen rein vor Augen zu haben, das Faktisc he, das uns betroffen macht, zu erkennen: etwa die Geisteskrank heiten,

daß es sie gibt, wie sie sich zeigen in dem nahen Umgang mit gei-

steskranken Menschen, oder wie Geisteskrankheit und geistiges Schöpfertum zusammenhängen können. Die Kraft ursprü nglichen Wissenwollens verschwindet in den vorwegnehmenden großartigen Weisen scheinbaren Totalwissens, steigert sich in der Bemäch tigung

der konkreten Wißbarkeiten.

Zweitens ist die Wissenschaft von der ungeheuers ten Wirkung. Unser gesamter Weltzustand, zumal seit hundert Jahren, ist durch

Wissenschaft und ihre technischen Folgen bedingt, die innere Hal348

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tung aller Menschen durch die Weise und den Inhalt ihres Wissens bestimmt. Ich begreife das Weltschicksal nur, wenn ich Wissenschaft begreife. Es ist eine Grundfrage: Warum gibt es überall, wo Menschen sind, einen Rationalismus, eine Intellektualisierung, aber warum ist nur im Abendland Wissenschaft entstanden, welche in

ihren Folgen die früheren Welten aus ihren Angeln hebt, die Menschen zwingt, ihr zu folgen oder zugrunde zu gehen? Erst durch Wissenschaft und angesichts der Wissenschaft erwächst ein gesteiger-

tes geschichtliches Situationsbewußtsein, lebe ich wirklich in der geistigen Situation meiner Zeit. Drittens muß ich der Wissenschaft mich zuwenden, um das zu erfahren, was in aller Wissenschaft führt und antreibt, ohne selbst‘ zwingendes Wissen zu sein. Die Ideen, die der Endlosigkeit Herr werden, die Auswahl des Wesentlichen, der Zusammenhalt des Wissens im Kosmos der Wissenschaften, — das alles ist nicht wissenschaftlich einsehbar, aber kommt nur durch Wissenschaften zum hellen Bewußtsein. Nur auf dem Wege der Wissenschaften gelange ich aus der Gebundenheit durch ein beschränktes dogmatisches Weltbild zur Welt im Ganzen und in ihrer Realität.

Die Erfahrung der Unerläßlichkeit und bezwingenden Macht der Wissenschaft ließ mir für alles Philosophieren folgende Forderungen durch mein Leben hindurch gültig sein: Es muß Freiheit für alle Wissenschaften geben, damit die Freiheit vom Wissenschaftsaberglauben, d. h. von den Verabsolutierungen und von dem Scheinwissen, gewonnen werde. Durch freie Bemächtigung der Wissenschaften soll ich offen werden für das, was mehr ist als Wissenschaft, aber erst auf dem Wege über sie klar werden kann. Ich soll mich zwar einer

Wissenschaft gründlich, aber irgendwie auch allen anderen Wissenschaften zuwenden, nicht um enzyklopädische Kenntnisse anzuhäufen, sondern um in den Grundweisen der Wissensmöglichkeiten, in

den Prinzipien der Wißbarkeiten, in der Mannigfaltigkeit der Methoden zu Hause zu sein. Es ist eine Methodologie zu erarbeiten, die aus dem Grunde eines universalen Seinsbewußtseins hervorwächst,

wie sie es wiederum hervorbringt und klärt. 349

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Vor allem aber: Wissenschaften sind als Werkzeug der Philosophie zu ergreifen, nicht aber ist die Philosophie als auch noch eine Wissenschaft danebenzustellen. Denn Philosophie ist, obgleich an Wissenschaften gebunden und niemals ohne sie, etwas ganz anderes als Wissenschaft: Sie ist das Denken, in dem ich des Seins selbst inne werde durch inneres Handeln; oder: sie ist das Denken, das den Aufschwung zur Transzendenz vorbereitet, erinnert und in hohem Augen-

blick selber vollzieht als ein denkendes Tun des ganzen Menschen. 2. Wie ıst Kommunikation möglich? — Ich weiß nicht, was stärker in mir war, als ich zu denken begann: das ursprüngliche Wissen-

wollen oder der Drang zur Kommunikation mit dem Menschen. Das Wissen erhält seinen vollen Sinn doch erst durch das Band, das Men-

schen vereint. Aber der Drang nach Einstimmung mit dem anderen Menschen fand doch so schwer ein Genügen. Ich erschrak über das Nichtverstehen, und war wie gelähmt bei jeder Versöhnung, in der

nicht völlig aufgehellt schien, was vorherging. Das starre Verschlossensein und das Nichthören auf Gründe, die Unbetroffenheit von Tatbeständen, die Gleichgültigkeit, welche eine Erörterung gar nicht

will, die abwehrende Haltung der Menschen, sich nicht zu nahe treten zu lassen, welche im entscheidenden Augenblick jede Mög-

lichkeit verschüttet, dann wieder die schamlose Gleichgültigkeit, die die eigene Seele widerstandslos preisgibt, als ob niemand mehr vor einem stände, das alles machte mich schon früh und immer wieder ratlos. Wenn zustimmende Nachgiebigkeit erfolgte, mußte ich un-

befriedigt bleiben, weil keine wirkliche Einsicht verband, sondern nur ein Überredetsein, weil freundliches Mittun, nicht aber entgegen-

kommendes Selbstsein sprach. Ich kannte zwar den Jubel der Freundschaft (bei gemeinsamen Studien, bei der einträchtigen Stimmung im Haus und in der Landschaft). Dann aber kamen die Augenblicke des Fremdseins, als ob man in verschiedenen Welten lebe. Ständig wuchs in meiner Jugend das Bewußtsein der Einsamkeit, aber nichts schien

mir verderblicher als Einsamkeit, zumal die in der Vielfachheit geselligen Umgangs, in einer Menge von Freundschaften sich selbst täuschende Einsamkeit. Kein Drang in mir schien mir stärker als der 350

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zur Kommunikation mit dem Andern. Wenn nur mit einem einzigen

Menschen die nie vollendbare Bewegung der Kommunikation gelingt, so ist alles erreicht. Ein Kriterium dieses Gelingens aber ist auch die Kommunikationsbereitschaft gegenüber jedem wesentlich begegnenden Menschen und das Leiden am Ungenügen, wo immer

sie mißlingt. Nicht schon Ansprache und Austausch mit Menschen, nicht Freundlichkeit und Geselligkeit, sondern erst das unablässige Vorantreiben zum Offenbarwerden im Ganzen ist der Weg der

Kommunikation. Der philosophisch entscheidende Stachel war die Frage, wie das Ungenügen der Kommunikation von mir selbst verschuldet wird.

Das Ungenügen war unbezweifelte Wahrheit. Aber der Mangel konnte doch nicht nur von den anderen Menschen herrühren. Ich selber bin ein Mensch wie sie. In mir sind dieselben Quellen der

Kommunikationslähmung wie in den anderen. Das innere Handeln, durch das ich mich erziehe, mußte die Selbstverschleierungen, Eigen-

willigkeiten, trotzigen Motive durchleuchten und auf ein Offenbarwerden drängen, das nie fertig wird. Die philosophische Einsicht aber wurde grade durch eigenes Versagen möglich. Das Böse erkennen wir nur, soweit es in uns selbst ist. Was wir gar nicht sein können, das würden wir auch nicht verstehen.

Durch die Erfahrung des Ungenügens in der Kommunikation wurde die philosophische Stimmung bewirkt. Jede Beschäftigung mit bloßen Sachen, die nicht irgendwo zur Kommunikation führt, schien mir nicht in Ordnung. Die einsame Hingabe an die Natur,

diese tiefe Erfahrung des Alls in der Landschaft und in der leibhaftigen Nähe zu den Gestalten und Elementen, diese Quelle der Kraft für die eigene Seele, konnte mir wie eine Schuld gegen Menschen erscheinen, wenn sie ein Mittel wurde zum Ausweichen vor ihnen, und als Schuld gegen mich, wenn sie verführte zur abschließenden

Selbstgenügsamkeit in der Natur. Einsamkeit mit der Natur ist zwar ein wunderbarer Ursprung möglichen Selbstseins, aber der in ihr einsam Bleibende ist auf dem Wege, sein Selbstsein zu verarmen

und am Ende zu verlieren. Alle Naturnähe in der schönen Welt 351

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wurde mir daher fragwürdig, wenn sie nicht zur Gemeinschaft mit den Menschen zurückführt und dieser Gemeinschaft als Hintergrund und als Sprache dient. In der Folge ging durch mein Philosophieren die Frage an alle Gedanken, alle Erfahrungen, alle Gehalte: Was bedeuten sie für Kommunikation? Sind sie geeignet, Kommunika-

tion zu fördern oder zu hemmen? Sind sie Verführer zur Einsamkeit oder Erwecker zur Kommunikation? Daraus

erwuchsen

die philosophischen

Grundfragen:

Wie ist

Kommunikation möglich? Welche Weisen der Kommunikation sind vollziehbar? Wie gehören sie zueinander? In welchem Sinne ist Einsamkeit und die Kraft des Einsamseinkönnens Quelle der Kommunikation? Die Antworten wurden durch Vergegenwärtigungen konkreter Art — mit psychologischen Mitteln —, besonders im zweiten

Band meiner Philosophie gegeben und sollen in der Logik ihre grundsätzliche Form finden. These meines Philosophierens ist: Der einzelne Mensch für sich

allein kann nicht Mensch werden. Selbstsein ist nur in Kommunikation mit anderem Selbstsein wirklich. Allein versinke ich in dumpfe Verschlossenheit, nur gemeinsam mit dem Andern vermag ich offenbar zu werden in der Bewegung gegenseitigen Aufschließens. Die eigene Freiheit kann nur sein, wenn auch der andere frei ist, Isoliertes oder sich isolierendes Selbstsein bleibt bloße Möglichkeit oder verschwindet ins Nichts. Alle Veranstaltungen, die unter

unausgesprochenen Voraussetzungen und mit uneingestandenen Grenzen einen beruhigenden Kontakt zwischen Menschen bewahren, sind zwar unumgänglich für das gemeinschaftliche Dasein, darüber hinaus aber verderbliche Verschleierungen, die Wahrheit im

Offenbarwerden des Menschseins verhindern durch eine täuschende Zufriedenheit.

3. Was ist Wahrheit? -— Die Grenzen der Wissenschaft und der Antrieb zur Kommunikation, beide weisen auf Wahrheit, die mehr ist als ein Besitz des Verstandes.

Zwingende Richtigkeit der Wissenschaften ist nicht schon alle Wahrheit. Dieses Richtige in seiner Allgemeingültigkeit verbindet 332

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uns nicht im Ganzen als wirkliche Menschen, sondern nur als Verstandeswesen. Es verbindet in der Sache, die erkannt wird, partikular, nicht total. Zwar können Menschen durch wissenschaftliche Forschung vermöge der Ideen, die darin sich verwirklichen, und der Antriebe der Existenz, die darin zur Erscheinung kommen, echte

Freunde sein. Aber die Richtigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis als solche verbindet alle Verstandeswesen in ihrer Gleichheit gleichsam als vertretbare Punkte, nicht wesentlich die Menschen selbst. Dem Verstand gilt, gemessen am Richtigen, alles übrige als Gefühl, Subjektivität, Instinkt. Bei dieser Zweiteilung gibt es neben der hellen Welt des Verstandes nur das Irrationale, in dem zusammengerät, was je nachdem verachtet oder begehrt wird. Dem Ungenügen am Richtigen entspringt die Bewegung, welche denkend die eigentliche Wahrheit sucht. Jene Zweiteilung lähmt die Bewegung, läßt den Menschen hin und her gleiten zwischen dem Dogmatismus des seine Grenzen überschreitenden Verstandes und etwa dem Rausch des Vitalen, dem Ungefähr des Augenblicks, dem Leben. Die Seele wird in aller Mannigfaltigkeit disparaten Erlebens kahl. Dann ist die Wahrheit aus dem Gesichtsfeld verschwunden und ersetzt durch eine Vielfalt von Meinungen, die sich an dem Gerippe eines

vermeintlich geglaubten rationalen Schemas halten. Wahrheit ist unendlich mehr als wissenschaftliche Richtigkeit.

Auch die Kommunikation weist auf dieses Mehr. Kommunikation ist der Weg zur Wahrheit in allen ihren Gestalten. Schon der Verstand wird sich klar nur in der Diskussion. Wie der Mensch als Dasein, Geist, Existenz in Kommunikation steht oder stehen kann, das

läßt alle andere Wahrheit erst zur Erscheinung kommen. Die Wahrheit, die an der Grenze der Wissenschaft fühlbar wird, ist dieselbe,

die in dieser Bewegung der Kommunikation fühlbar wird. Es ist die Frage, was für eine Wahrheit das sei. Wir-nennen die Quelle dieser Wahrheit in Unterscheidung vom Gegenständlichen, Bestimmten und Einzelnen, als was uns das

Seiende gegenübersteht, das Umgreifende. Dieser Begriff ist gar nicht geläufig und gar nicht selbstverständlich. Das Umgreifende 353

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. vermögen wir philosophisch zu erhellen, nicht mehr gegenständlich zu erkennen. Hier liegt die Entscheidung, ob wir das Philosophieren erreichen, oder ob wir an der Grenze, wo der Sprung zum transzendierenden Denken zu vollziehen ist, wieder zurücksinken. Berufen wir uns hier auf Gefühl, Instinkt, Trieb, auf Herz und Gemüt als Ursprünge der Wahrheit, so benennen wir das im Dunkel bleibende, unser Leben Begründende mit Worten, die eine psychologische Analyse nahe legen, uns abgleiten lassen in vermeintlich faßliche Psychologie, während alles darauf ankommt, in den hellen Raum des eigentlich philosophischen Denkens zu gelangen.

Die Methoden des Transzendierens tragen die gesamte Philosophie. Was sie vollziehen, in Kürze vorwegzunehmen, ist unmöglich. Vielleicht läßt sich mit wenigen Worten andeuten, wenn auch nicht schon begreiflich machen, worum es sich handelt: Alles, was mir Gegenstand wird, tritt gleichsam aus einem dunklen Grunde des Seins an mich heran. Jeder Gegenstand ist ein bestimmtes Sein (als dieses in Subjekt-Objekt-Spaltung mir Gegenüberstehende), ist niemals alles Sein. Kein gegenständlich gewußtes

Sein ist das Sein.

Aber bildet nicht die Gesamtheit der Gegenstände das Ganze des

Seins? Nein. Wie der Horizont die Dinge in der Landschaft ein-

schließt, so sind alle Gegenstände umschlossen von dem, worin diese

Gegenstände sind. Wie wir in der räumlichen Welt auf den Horizont zugehen, ihn jedoch nie erreichen, vielmehr der Horizont mit-

geht und sich immer neu als das jeweils Einschließende wiederh erstellt, so gehen wir im gegenständlichen Forschen auf jeweilig e Ganz-

heiten zu, die sich jedoch niemals als das ganze und eigentliche Sein

erweisen, sondern durchbrochen werden müssen in neue Weiten. Nur wenn sich alle Horizonte zusammenfänden zu einem geschlo ssenen Ganzen, würden wir in der Bewegung durch alle Horizon te hin-

durch, da sie dann eine endliche Vielheit wären, das eine geschlos sene

Sein gewinnen. Aber das Sein ist für uns ungeschlossen, die Hori-

zonte unendlich. Es zieht uns nach allen Seiten ins Unbegre nzte. 354

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Wir fragen nach dem Sein, das uns mit dem Offenbarwerden aller entgegenkommenden Erscheinung in Gegenstand und Horizont doch als es selbst zurückweicht. Dieses Sein nennen wir das Umgreifende. Das Umpgreifende ist also das, was sich immer nur ankündigt, was nicht selbst, sondern woraus alles Andere uns vorkommt.

Mit diesem philosophischen Grundgedanken wollen wir über jedes bestimmte Sein hinaus denken hin zum Umgreifenden, in dem wir sind, und das wir selber sind. Es ist ein uns gleichsam umwendender, weil aus der Fessel jedes bestimmten Seins uns lösender Gedanke. Aber dieser Gedanke des Umgreifenden ist nur der erste

Ansatz. In der Kürze ist er noch ein rein formaler Gedanke. Es zeigen sich bei weiterer Vergegenwärtigung alsbald Weisen des Umgreifenden (das Sein des Umgreifenden an sich ist Welt und Transzendenz; das Sein des Umgreifenden, das wir sind, ist Dasein, Bewußtsein überhaupt, Geist, Existenz). Damit entsteht die Auf-

gabe der Erhellung aller Weisen des Umgreifenden. Wahrheit wird uns in ihren gesamten Möglichkeiten, ihrem Umfang, ihrer Weite und Tiefe erst ganz bewußt mit den Weisen des Umgreifenden. Die Erhellung alles Umgreifenden hat ihren Antrieb aus unserer Vernunft und Existenz: Die Bewegungen, in denen wir uns grenzenlos aufschließen, allem,

was ist, Sprache leihen möchten, das Fremdeste und Fernste gleichsam heranziehen, zu allem Bezug suchen, zu nichts die Kommunikation abbrechen, nennen wir Vernunft. Dieses Wort, radikal zu

unterscheiden vom Verstand, trifft die Bedingung des Wahrseins, wie es aus allen Weisen des Umgreifenden zutage treten kann. Die philosophische Logik ist das Selbstverständnis der Vernunft. Wahrheit in diesem umfassenden Sinn, in dem die Wahrheit des Verstandes (und mit ihm der Wissenschaften) nur ein Element ist,

ist gegründet in der Existenz, die wir sein können. Es kommt darauf an, daß unser Leben geführt ist von einer Unbedingtheit, welche allein dem „Entschluß“ entspringt. Durch Entschluß wird die Existenz wirklich, wird das Leben geformt und verwandelt im inneren

Handeln, das uns erhellend im Aufschwung hält. Gegründet im 355

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. Entschluß ist die Liebe nicht mehr unverläßlich bewegende Leidenschaft, sondern die Erfüllung, der allein erst das eigentliche Sein sich zeigt. Was im denkenden Leben getan werden muß, dem soll ein Philo-

sophieren dienen, das erinnernd und vorausgreifend die Wahrheit offenbar macht. Dieses Philosophieren hat nur Sinn, wenn dem Gedanken eine Wirklichkeit des Denkenden ergänzend entspricht. Diese Wirklichkeit ist nicht Folge oder Anwendung einer Lehre, sondern sie ist die Praxis des Menschseins, die im Widerhall des Gedankens

sich vorantreibt. Es ist eine Bewegung, deren Aufschwung gleichsam mit zwei Flügeln geschieht. Beide Flügel, das Denken und die Wirklichkeit, müssen schlagen, wenn der Aufschwung geschehen soll.

Das bloße Denken würde ein leeres Bewegen von Möglichkeiten, die bloße Wirklichkeit eine dumpfe Unbewußtheit ohne Entfaltung, weil ohne Selbstverständnis, bleiben.

Dieses Philosophieren ging mir zuerst aus der Psychologie hervor, die sich verwandeln mußte und zur Existenzerhellung wurde. Die Existenzerhellung wiederum wies zur philosophischen Weltorien-

tierung und zur Metaphysik. Schließlich versteht sich der Sinn dieses Denkens in einer philosophischen Logik, die nicht nur den Verstand und seine Gebilde (Urteil und Schluß) im Auge hat, sondern den

Grund des Wahrseins in seinem ganzen Umfang im Umgreifenden zeigt. Das Sein ist nicht die Summe

der Gegenstände. Vielmehr

strecken sich unserem Verstande in der Subjekt-Objekt-Spaltung die Gegenstände gleichsam entgegen aus dem Umgreifenden des Seins

selbst, das sich der gegenständlichen Erfassung entzieht, von dem her aber alle bestimmten gegenständlichen Erkenntnisse ihre Grenze und ihren Sinn haben und von dem her sie die Stimmung aus dem Ganzen erhalten, worin sie Bedeutung haben.

4. Was ist der Mensch? — Als ein Lebewesen unter anderen ist der Mensch Gegenstand der Anthropologie. In seiner Innerlichkeit ist er Gegenstand der Psychologie, in seinen objektiven Gebilden gemeinschaftlichen Lebens Gegenstand der Soziologie. Der Mensch in seiner

empirischen Wirklichkeit kann nach vielen Richtungen erforscht 356

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werden. Aber der Mensch ist immer mehr, als er von sich weiß und wissen kann.

Als Erkennbarkeit erscheint der Mensch in seinen vielfachen empirischen Aspekten. Als ein erkanntes Wesen ist er immer schon aufgeteilt in das, als was er sich jeweils bestimmten Methoden der Forschung zeigt. Er ist nie ein Eines und Ganzes, nie der Mensch selbst, wenn er zum Gegenstand einer Erkenntnis geworden ist.

Wenn ich philosophisch mich des Menschseins vergewissere, kann ich daher nicht bei den Erkennbarkeiten des empirischen Menschen in der Welt stehenbleiben. Der Mensch ist gleichsam alles (wieAristoteles von der Seele sagt). Des Menschseins innewerden, heißt des Seins in der Zeit im Ganzen innewerden. Der Mensch ist das Umgreifende, das wir sind.

Aber auch als das Umgreifende ist der Mensch zerrissen. Wir werden — wie ich schon sagte - des Umgreifenden, das wir sind, auf mehrfache Weise inne, als Dasein, Bewußtsein überhaupt, Geist, Existenz. Der Mensch lebt als Dasein in seiner Welt. Er ist als das denkende Bewußtsein überhaupt forschend auf Gegenstände gerich-

tet. Er gestaltet als Geist die Idee eines Ganzen in seinem Weltdasein. Er ist als mögliche Existenz auf Transzendenz bezogen, durch die er selbst in seiner Freiheit sich gegeben weiß. Wie der Mensch eine Einheit wird, das ist ein in der Zeit unendliches, unlösbares Pro-

blem, aber der Weg seines Suchens. Der Mensch ist sich ungewisser als je. Im Philosophieren bleibt der Mensch nicht eine Gattung eines besonderen Daseins neben anderem Dasein, sondern der Mensch wird sich hell als ein Einziges, als ein Allumschließendes, Alloffenes, als

die größte Möglichkeit und größte Gefahr in der Welt, als das Ausnahmesein des Seins, als die Kommunikation des zerstreuten Seins,

das sich in ihm offenbar wird. 5. Was ist Transzendenz? - Der Mensch ist zwar das für uns interessanteste Wesen in der Welt. Wir, die wir Menschen sind, wol-

len wissen, was wir sind und sein können. Aber eine ständige Beschäftigung mit dem Menschen erweckt Überdruß. Es ist als ob darin 357

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das Wesentliche versäumt würde. Denn der Mensch kann nicht aus sich selbst begriffen werden und im Vergegenwärtigen des Menschseins zeigt sich das Andere, wodurch er ist. Dieses ist für den Menschen als mögliche Existenz die Transzendenz. Während aber der Mensch anschauliche Wirklichkeit in der Welt ist, ist Transzendenz

wie nicht da. Sie ist auch nicht erforschbar. Ihr Sein selbst ist bezweifelbar. Und doch ist alles Philosophieren auf das Ziel gerichtet, sich der Transzendenz zu vergewissern. Dagegen ist einzuwenden, ob Philosophie nicht irrigerweise leisten wolle, was nur Religion zu leisten vermag. Religion vermittelt

im Kult die leibhaftige Gegenwart oder doch Erfahrung der Transzendenz. Sie gründet den Menschen auf die Offenbarung Gottes. Sie zeigt die Wege des Glaubens an die offenbarte Wirklichkeit, an Gnade und Erlösung, und sie gibt Garantien. Nichts davon kann Philosophie leisten. Wenn Philosophieren ein Kreisen um Transzendenz ist, so muß es daher Bezug auf Religion haben. Die Weise, wie Philosophie und Religion sich zueinander verhalten, ist in der Tat ein Ausdruck ihres

Selbstverständnisses und der Tiefe ihrer Verwirklichung. Historisch

sehen wir dieses Verhältnis in Gestalten des Kampfes, der Unterordnung, der Ausschließung. Ein endgültiges und ruhiges Verhältnis ist nicht möglich. Hier zeigt sich uns vielmehr eine Grenze. Wo die Frage durch Einsicht nicht nur begriffen, sondern gelöst scheint, da ist der Mensch beschränkt geworden. Wird die Religion von der

Philosophie ausgeschlossen oder die Philosophie von der Religion, wird von der einen Seite die Herrschaft über die andere behauptet

durch den Anspruch, die alleinige höchste Instanz zu sein, so verliert der Mensch seine Offenheit für das Sein und seine eigene Möglich-

keit zugunsten eines ihm selbst sich verschließenden Abschlusses der

Erkenntnis. Er wird - ob in Beschränkung auf Religion oder auf

Philosophie — dogmatisch und fanatisch und am Ende im Versagen

nihilistisch. Religion braucht, um wahrhaftig zu bleiben, das Gewis-

sen der Philosophie. Philosophie braucht, um gehaltvoll zu bleiben,

die Substanz der Religion. Aber auch das ist eine zu einfache Formel, 358

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in der verschleiert bleibt, daß es mehrere ursprüngliche Wahrheiten im Menschen gibt. Es ist allein möglich, Verwechslungen zu verwehren. Philosophie kann von sich aus die Religion nicht bekämpfen wollen, sondern muß sie anerkennen, aber als das ihr polar Gegenüberstehende und in der Polarität Verbundene, um das sie sich stän-

dig bemüht, weil sie ständig von daher beunruhigt, angestoßen, aufgerufen wird. Philosophie kann auch die Religion nicht ersetzen wollen, nicht mit ihr in Konkurrenz treten, keine Propaganda für sich gegen sie machen. Im Gegenteil: Philosophie wird die Religion bejahen müssen zum mindesten als die Wirklichkeit, der auch sie

selbst ihr Dasein verdankt. Wäre nicht Religion das Leben der Menschheit, so gäbe es auch keine Philosophie. Aber Philosophie als solche kann die Transzendenz nicht in der Garantie einer Offenbarung suchen, sondern muß sich dem Sein nähern in den dem Menschen als Menschen gegenwärtigen Selbstevidenzen des Umgreifenden (nicht etwa in Beweisen des Verstandes oder in Einsichten, die der Verstand als solcher gewinnen könnte) und durch die Geschichtlichkeit der Sprache der Transzendenz.

Auf die Frage, was Transzendenz sei, erfolgt darum keine Antwort durch eine Erkenntnis der Transzendenz. Die Antwort erfolgt

indirekt im Erhellen der Ungeschlossenheit der Welt, der Unvollendbarkeit des Menschen, der Unmöglichkeit einer dauernden richtigen Welteinrichtung, des universalen Scheiterns, - bei gleichzeitiger Vergegenwärtigung, daß nicht nichts ist, daß vielmehr in Natur, Geschichte, Menschsein das Herrliche so wirklich ist wie das Furcht-

bare. Das Entscheidende innerhalb des Philosophierens ist, ob ich im Denken bis dahin komme, daß mir das „von außen“ der Tran-

szendenz als Ursprung des „von innen“ gewiß wird, oder ob ich in der Immanenz bleibe mit der negativen Gewißheit: es gibt kein draußen, das Grund und Ziel von allem ist, von der Welt und dem,

was ich selbst bin. Philosophierend gelingt kein Gottesbeweis, sofern er eine zwingende Erkenntnis liefern möchte, wohl aber gelingen „Gottesbeweise“ als Wege denkenden Aufschwungs. Das rationale Denken 3939

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vermag die Kategorien aller Denkbarkeiten zu transzendieren zur Koinzidenz der Gegensätze, vermag in der einzelnen Kategorie — z. B. des zureichenden Grundes, des Zwecks — über sie hinauszuge-

hen zu dem in der Tat unhaltbaren Gedanken eines letzten Grundes und eines Endzwecks. Damit wird in der Bodenlosigkeit bloß fak-

tischen Daseins die Notwendigkeit des Suchens begriffen und unsere Seele offengehalten für den Ursprung. Die Vergegenwärtigung der Zerrissenheit des Seins in jeder Gestalt und der radikalen Widersprüchlichkeit vermag zu zeigen, daß nichts von dem, was wir zu

erkennen vermögen, aus sich besteht. Zum Draußensein der Transzendenz gehört ihre Unerkennbarkeit, ihr Drinnensein ist die Chiffreschrift aller Dinge. Weil in allem Seienden die Grenze und der Grund fühlbar zu machen ist, ist überall gleichsam der Lichtfaden zu spüren, der es mit der Transzendenz zusammenhält. Ist so die Transzendenz immanent, so doch in grenzenloser Vieldeutigkeit und in keiner Endgültigkeit faßlich. Das

Philosophieren begründet nur im Allgemeinen das Recht, sich dem

anzuvertrauen, was als Licht der Transzendenz zu mir zu sprechen

scheint. Wie aber ich diese Sprache verstehe, das ist gegründet in dem, was ich eigentlich selbst bin. Und was ich selbst bin, das ist gegründet in meinen ursprünglichen Bezügen auf Transzendenz: in Trotz und Hingabe, in Abfall und Aufschwung, in Gehorsam gegen das Gesetz

des Tages und in der Leidenschaft zur Nacht. Philosophierend er-

helle ich und erinnere ich und bereite ich vor, wie ich durch diese

Bezüge die Ewigkeit in der Zeit erfahren kann. Die Erfahrung selbst ist nicht zu erzwingen und nicht zu beweisen, sondern ist die erfüllte Geschichtlichkeit meiner Existenz. Philosophie kann weiter die Folgen zeigen, die auftreten, wenn

die Seinsauffassung in reiner Immanenz sich abschließen will. Sie kann die Verschleierungen aufheben, die mit unerweislichen Sätzen

des Verstandes, mit vermeintlichem Weltwissen im Ganzen, mit scheinbar wissenschaftlichen Ergebnissen, den Menschen jederzeit

einhüllen möchten in Unwahrheit. Aber mit dem Aufheben fälsch-

360

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lichen Wissens stellt die Philosophie kein dem wissenschaftlichen gleichartiges positives Wissen von der Transzendenz auf. Philosophie kann unser Gewissen erhellen, zeigen, wie wir die Forderung erfahren allgemeinen Gesetzes, das wir als unumgänglich

einsehen. Sie kann an der Grenze das reale Scheitern auch des Gehorsams gegen dieses Gesetz zeigen und die neue Forderung fühlbar machen, welche den Einzelnen aus seiner Geschichtlichkeit — aber ohne Allgemeinheit und Allgemeingültigkeit — anspricht und

unbedingten Gehorsam verlangt; und sie kann wiederum auch hier die Grenze und das Scheitern in der Zeit zeigen.

Es kommt auf allen Wegen darauf an, den Ursprung zu erreichen, wo in höchster Bewußtheit in der Welt die Forderung hörbar wird, welche, in der Weltverwirklichung scheiternd, doch durch Gehorsam gegen sie das eigentliche Sein gibt.

Daß solcher Ursprung möglich ist, vermag Philosophie zu erhellen. Was aber der Ursprung ist, und was er spricht, kann sie nicht vorwegnehmen. Denn die Wirklichkeit ist geschichtlich und steht jedem Einzelnen, der neu in dieser Welt erwächst, noch bevor. Alles,

was die Philosophie inhaltlich sagt und historisch erinnert, bleibt als Sagbares ein Relatives, das der Übersetzung und Aneignung bedarf, um dadurch ein Weg zum eigenen ursprünglichen Ergreifen des Unbedingten zu werden. Bei solchem Denken setzt das Philosophieren ein Doppeltes vor-

aus, das gegenständlich unerweislich, aber praktisch vollziehbar ist: Erstens die Autonomie des Menschen gegenüber allen Autoritäten in der Welt; — der einzelne Mensch, durch Autorität erzogen, entscheidet am Ende seines jeweiligen Reifungsprozesses unmittelbar vor

der Transzendenz aus eigener Verantwortung, was unbedingt wahr ist. Zweitens das Gesetztsein des Menschen durch Transzendenz; —

der Transzendenz in jener unbedingten Entscheidung zu gehorchen, bringt den einzelnen Menschen zu seinem Selbstsein. Wie es aber auch gelingt, in der Fülle des Seienden die Chiffren zu lesen, in den Bezügen zur Transzendenz konkret zu existieren,

im geschichtlich gestalteten Gehorsam gegen die Iranszendenz das 361

ÜBER

MEINE

PHILOSOPHIE

Selbstsein zu gewinnen, alles dies wird zusammengehalten durch die Grundfrage, wie in dem Vielen das Eine ist, was es ist, und wie ich

des Einen gewiß werde.

4. Meine

Werke

Dreimal habe ich bisher ein systematisches Werk versucht: meine „Allgemeine Psychopathologie“ (1913), meine „Psychologie der

Weltanschauungen“ (1919), meine „Philosophie“ (1932). In der Psychopathologie stellte ich nicht das Ganze aus einer

Theorie dar, ordnete die Befunde nicht aus einem totalen Bild der

Sache; vielmehr entwickelte ich die Methoden der Forschung, um

vorzuführen, was sich einer jeden Methode zeigt. Die Systematik

lag in der Systematik der Methoden. Der Sinn meines Lehrbuchs war: Befreiung von dogmatischem Scheinwissen, um den offenen

Blick des Forschens durch klares Bewußtsein der Methoden und ihrer Grenzen zu fördern. Zu wissen, was ich weiß, das ist in der Wirk-

lichkeit der wissenschaftlichen Praxis gar nicht selbstverständlich. In der Psychologie der Weltanschauungen versuchte ich das Ganze menschlicher Möglichkeiten des Glaubens, der Weltbilder, der Ein-

stellungen systematisch darzustellen. Eswarein übermütiges Jugend-

werk, dessen Gehalt ich zwar noch heute alsden meinigen anerkenne,

dessen Form aber unzureichend war. Ich glaubte in reiner Betrach tung vorbeiziehen zu lassen, was vorkommt, und ich entwarf doch

in der Tat die eine Wahrheit des Menschseins, die mir die gegeben e war, begriff diese als Synthesis von Polaritäten und zeigte überall

den Strom von Abgleitungen, Entleerungen, Verkehrungen. Es war verborgene Philosophie, die sich hier als objektiv feststellende Psychologie mißverstand. In der Philosophie entstand mir die Systematik aus den drei Methoden des Transzendierens. Ich komme in der Weltor ientierung

durch ein zwingendes Transzendieren zum Bewußtsein der Erschei-

nungshaftigkeit des Daseins (Band I). Auf diesem Grunde mache ich 362

ÜBER

MEINE

PHILOSOPHIE

mir in der Fxistenzerhellung transzendierend bewußt, was ich selbst eigentlich bin und sein kann (Band II). Aus beiden Voraussetzungen

wird in der Metaphysik das Transzendieren zur Transzendenz deutlich. Ich vollziehe die Gedankenwege, mit denen das Sein selbst mir gegenwärtig wird (Band III).

Die Philosophie ist, im Unterschied von den beiden vorhergehenden Werken, mit bewußter Disziplin durchgeformt. Es war nicht mehr einfach darzustellen, sondern das Transzendieren, das im Vollzuge geschieht, mußte auch als ruhiger Atemzug des Gedankens jeweils entwickelt werden. So ist jedes Kapitel ein Ganzes durch eine einzige durchgehende Bewegung. Die Kapitel können nur als ganze

in dieser Bewegung des Gedankens, aber jedes Kapitel kann für sich verstanden werden.

Der Gehalt dieser Philosophie aber liegt nicht in den systematischen Grundgedanken, sondern in dem, was durch sie geschieht. Wie meine Psychopathologie in ihrer Systematik nicht gegenständlich, sondern methodologisch war, so ist mein späteres Philosophieren nicht ontologisch, sondern eindringend: es weiß nicht, was ist, son-

dern erhellt das Umgreifende. Das Gewicht liegt in den besonderen Gehalten und Ausführungen. Um die drei Hauptwerke gruppieren sich kleinere Schriften. Zur Psychopathologie gehören eine Reihe von psychiatrischen Forschungen, die in Zeitschriften veröffentlicht wurden, zur Weltanschauungspsychologie gehört die Schrift über „Strindberg und van Gogh“.

Dann folgte eine jahrelange Pause, eine Konzentration meines Denkens, bis die Philosophie erschien, zu der die „Geistige Situation der Zeit“ gehört. Seitdem sehe ich meine Aufgabe in zwei Arbeiten, die mir als

mein abschließendes Lebenswerk erscheinen. An beiden war ich längst und bin ich seither tätig. Ich nenne sie „Philosophische Logik“ und „Universalgeschichte der Philosophie“. Durch die philosophi-

sche Logik möchte ich mitarbeiten an dem logischen Selbstbewußtsein dieses Zeitalters, das unserem neu erwachten Philosophieren so zugehört wie Hegels Logik dem Idealismus und wie die Induktive 363

ÜBER

MEINE

PHILOSOPHIE

"Logik (etwa Mill’s) dem positivistischen Zeitalter. Hier werden die

systematischen Grundgedanken selber zum Wesentlichen. In der Universalgeschichte der Philosophie möchte ich — ohne chronologische Darstellung — das geschichtlich vorliegende Philosophieren als das eine große, in sich überall zusammenhängende Phänomen des Offenbarwerdens des Seins im Menschsein vergegenwärtigen, wie es aus den Wurzeln (in China, Indien, Griechenland) in großen Rhythmen in ständiger Bedingtheit durch die soziologischen Zustände und psychologischen Gegebenheiten, in bezug zu Wissenschaft und Religion, und im Widerhall aus Kunst und Dichtung sich vollzogen hat und auf eine große gegliederte Einheit von Gegensätzen drängt, die

an der Grenze in offenen Unlösbarkeiten in der Zeit scheitern und durch Scheitern die Wahrheit des transzendenten Seins innewerden lassen. Diese Werke sind noch nicht da. Aus der Logik sind teilweise Mit-

teilungen in Vorlesungen gegeben, die ich in Groningen (Vernunft und Existenz, Groningen 1935) und Frankfurt (Existenzphilosophie, Berlin 1938) gehalten habe. Aus meinen historischen Arbeiten sind Schriften über Nietzsche (Berlin 1936) und Descartes (Berlin

1937) erschienen. Durch meinen „Nietzsche“ wollte ich einführen in die Auflockerung des Denkens, aus der die Existenzphilosophie erwachsen muß. In meinem „Descartes“ wollte ich spezifisch mo-

derne Irrungen historisch an der Wurzel vergegenwärtigen, nämlich das Mißverstehen spekulativen Denkens als rational zwingender Einsicht und das Verhängnis der Verkehrung der modernen Naturwissenschaft, das gleichzeitig mit dem Aufblühen dieser Wissenschaft auftrat und ihr Begleiter blieb. Logik und Philosophiegeschichte ergänzen einander. Das eine wird ohne das andere kaum begriffen. Die Arbeit an einer von ihnen fördert daher die Arbeit an der andern. Was dort als Welt des Gedankens entwickelt wird, wird hier geschichtlich als Wirklichkeit des

Denkens zur Anschauung gebracht. Mein Philosophieren stand von Anfang an gegen das System als ein Ganzes, in dem Sein und Wahrheit vor Augen liegt und durch 364

ÜBER

MEINE

PHILOSOPHIE

ein Buch zur Darstellung kommt. Aber zugleich war ich von Anfang an systematisch im Denken, insofern als ich Ordnung, Zusammenhang, Bezug der Gedanken aufeinander suchte. Das System will

fälschlich das Sein einfangen, die Systematik will die methodische Bereitstellung der jeweils erreichten Mittel für den weiteren Gang des Philosophierens. Der Wille gegen das System schließt den systematischen Antrieb so wenig aus, daß jener Wille vielmehr ohne diesen Antrieb ins Chaos führen müßte. Die Systematik als „Organon

der Vernunft“ in einer Logik zu entfalten, scheint mir heute das wichtigste Anliegen.

Nachwort

Was ich 1941 plante, ist nur zum Teil verwirklicht. Die folgenden Jahre nahmen in der Bedrohung und unter den hygienisch unfreund-

lichen Lebensumständen viel von der Arbeitskraft und machten schließlich die Arbeit unmöglich. Nach 1945 wurden Aufgaben des Tages vordringlich. Die Arbeit an dem philosophischen Werke blieb

im Hintergrund. Seither ist der erste Band meiner philosophischen Logik erschie-

nen unter dem Titel „Von der Wahrheit“. Es ist der vierte Versuch eines systematischen Entwurfs. Außerdem

erschien eine völlige Neubearbeitung meiner

„Allge-

meinen Psychopathologie“. Bei Erhalten der Grundauffassung ist es ein neues Buch geworden. Die Reihe kleinerer Schriften der letzten Jahre sind Versuche, für weitere Kreise in kurzer Form etwas mitteilbar zu machen von dem, was in den umfangreichen Büchern sich dem Bekanntwerden entzieht.

365

NACHWEISE

Max Weber: Rede bei der von der Heidelberger Studentenschaft veranstalteten Trauerfeier, 1920. Gedruckt: Verlag I. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen, 1921, zweite Auflage 1926

Unsere Zukunft und Goethe: Rede beim Empfang des GoethePreises der Stadt Frankfurt a. M., 1947. Gedruckt: Die Wandlung, 1947, Heft 7 - Artemis-Verlag, Zürich, 1948 — Johannes Storm-Verlag, Bremen, 1949

Goethes Menschlichkeit: Rede bei der Feier von Goethes 200. Geburtstag durch die Universität im Münster zu Basel, 1949. Ge-

druckt: Verlag Helbing und Lichtenhahn, Basel, 1949 Solon: Beitrag zur Festschrift für Alfred Weber zu dessen 80. Geburtstag. Verlag Lambert Schneider, Heidelberg, 1948 Der Prophet Ezechiel, eine pathographische Studie: Beitrag zur Festschrift für Kurt Schneider zu dessen 60. Geburtstag, 1947. „Arbeiten zur Psychiatrie“, Scherer-Verlag, Heidelberg, 1947

Das radikal Böse bei Kant: Vortrag im Lesezirkel Hottingen Zürich, 1935. Ungedruckt

Kierkegaard: Vortrag im Baseler Pen-Club, 1951

II Erneuerung der Universität: Rede bei der Wiedereröffnung der Uni-

versität Heidelberg mit medizinischen Kursen, 1945, Gedruckt:

Die Wandlung, 1945, Heft 1 366

Geleitwort für die Zeitschrift „Die Wandlung“ :Die Wandlung, 1945, Heft 1

Antwort an Sigrid Undset: „Die Neue Zeitung“, München, Oktober 1945. — Neu gedruckt: Süd-Verlag, Konstanz, 1947

Vom lebendigen Geist der Universität: Zur Eröffnung der Heidelberger Professorenvorträge,

1946. Verlag Lambert

Schneider,

Heidelberg, 1946 Die Wissenschafl im Hitlerstaat: Geschrieben auf Aufforderung von Johannes Weyl für den Süd-Verlag. Januar 1946. Gedruckt in dem Heft: Antwort an Sigrid Undset, Süd-Verlag, Konstanz, 1947

Volk und Universität: Rundfunkvortrag, Wandlung, 1947, Heft 1

1947.

Gedruckt:

Die

Philosophie und Wissenschaft: Antrittsvorlesung an der Universität Basel, 1948. Gedruckt: Die Wandlung, 1948, Heft 8 — Artemis-Verlag, Zürich, 1949 Zur Kritik der Psychoanalyse: Der Nervenarzt, 1950. Zum 70. Geburtstag Hans W. Gruhle’s

Ill Vom europäischen Geist: Vortrag, gehalten bei den „Rencontres

Internationales“ in Genf, 1946. Gedruckt: R. Piper & Co. Verlag, München, 1947 — Amandus-Verlag, Wien, 1947, unter dem Titel: Europa der Gegenwart Über Bedingungen und Möglichkeiten eines nenen Humanismus: Vortrag, gehalten bei den „Rencontres Internationales“ in Genf, 1949. Gedruckt: Die Wandlung, 1949, Heft 8 Über Gefahren und Chancen der Freiheit: Der Monat, 1950, Heft 22/23

Das Gewissen vor der Bedrohung durch die Atombombe: Zeitschrift „Comprendre“ der Societa Europea di Cultura, 1950

367

IV

Mein Weg zur Philosophie: Radiovortrag im Februar 1951 über Studio Basel im Sender Beromünster

Über meine Philosophie: Dieser Aufsatz wurde geschrieben im Som-

mer 1941. Das Thema wurde mir gestellt zur Einleitung einer Sammlung von italienischen Übersetzungen aus meinen Schriften. Der Aufsatz ist außerdem im italienischen „Logos“, 1941,

Band 24 erschienen. Ich verdanke dieses alles der Freundschaft Renato de Rosa’s

368

WERKE

VON

KARL

JASPERS

KARL

JASPERS

Von der Wahrheit Erster Teil der Philosophischen Logik. XXIV, 1103 Seiten Halbleinen DM 38.-, Leinen DM 42.-

„Ein Werk dieses Umfanges und dieses Ranges hat in der Neuzeit nicht seinesgleichen. Jaspers’ ‚Philosophische Logik‘ ist der Sturm auf die Zentralfestung aller abstrakten Philosophie, ist ein entscheidender Schlag gegen alle müde Skepsis, gegen Historismus und Relativierung. - Wenn

es den Rang eines Volkes bestimmt, welcher Art von Männern es in der Gestaltung seines Lebens folgt, so muß man dem deutschen Volke wünschen, daß es nicht später als andere begreift, was ihm mit Jaspers und seinem Werk geschenkt worden ist.“ Die Welt, Hamburg „Wenn der letzte Zweck philosophischer Weltschau Verwandlung ist, dieses

Buch wandelt Kapitel für Kapitel unseren Blick und strömt in unerhört suggestiver Weise eine Kraft der Lebensbejahung aus, die nur einem radikalen und heroischen Mut zur Wahrheit zukommt. Es ist ein Werk, das mit unbestechlichem Blick die Widersprüche, den tragischen Abgrund, die Zerrissenheit des Seins, die unauflösbaren Aporien, in denen alle Wahr-

heit endet, aufzeigt und damit das große Drama ‚Der Mensch und seine Geschichte‘ enthüllt. ‚Von der Wahrheit‘ ist ein deutsches Buch in einem europäischen Horizont, von ungewöhnlicher Weltoffenheit.“ Südwestfunk, Baden-Baden

Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit Drei Heidelberger Vorlesungen. Kartoniert DM 3.80, Leinen DM 4.80 Mit diesen Vorlesungen nimmt der Philosoph unmittelbar zu den ideologischen Problemen und Gefährdungen unserer Zeit Stellung. Nur in der

redlichen und vorurteilsfreien Suche nach Wahrheit ist der Raum rechten Philosophierens, hier trennt es sich von Ideologien und deren demagosischen Verkündern. Am Beispiel von Marxismus und Psychoanalyse entwickelt und kritisiert Jaspers die für unsere Gegenwart typischen Irrungen. Er warnt vor falschen Propheten und Zauberern und vor Glaubens-

surrogaten.

R.PIPER

& CO. VERLAG

MÜNCHEN

KARL JASPERS Vom Ursprung und Ziel der Geschichte 11. Tausend. 349 Seiten. Kartoniert DM 9.80, Leinen DM 14.80 „Hier, in der Beschreibung des schlechthin Neuen unseres Jahrhunderts, ist Jaspers ein lange bewährter Meister. Er weiß, daß die Zukunft immer un-

entschieden ist, daß die Entscheidung bei uns selbst liegt, daß es Freiheit gibt.“

Golo Mann in der „Frankfurter Rundschau“

„An diesem Buch wird der Leser viel Freude haben, denn obschon von einem Gelehrten verfaßt, ist es doch keineswegs ein wissenschaftliches Buch in dem Sinn, daß man es erst bei der siebten Lektüre verstünde. Es ist eine künstlerische Darstellung verschiedener Probleme, welche die Herkunft, die Gegenwart und das Ziel der historischen Menschheit unserer geläuterten Erkenntnis darbietet.“ Christoph Meyer in „Der Mittag“ „Jaspers vermittelt keine Geschichtsphilosophie im engeren Sinne, sondern versucht, die Erfahrungen des täglichen Lebens und das Schicksal einer ganzen Generation zu durchdenken, ins Bewußtsein zu heben und damit den Zwiespalt zwischen Geist und Leben überwinden zu helfen.“ Deutsche Zeitung und Wirtschaftszeitung

Der philosophische Glaube 13. Tausend. 136 Seiten. Leinen etwa DM 7.80

„Das Buch gibt den leichtesten Zugang zu Werk und Wesen von Karl Jaspers, der in unermüdlichem Bemühen um die Erhellung der menschlichen Existenz und in wachem, meditativem Erleben kosmischer, ewig

wechselnder Begebenheiten denkt und schafft.“

Die Neue Zeitung

„Der Ernst des fast religiösen Philosophierens von Karl Jaspers, das hohe Niveau seiner Auseinandersetzungen mit Bibel und Christentum, seine

Gedanken über den Menschen und seine Bestimmung machen das Buch zu

einem erregenden Erlebnis für alle, die denkend um Wahrheit ringen.“ Weser-Kurier

R.PIPER & CO. VERLAG

MÜNCHEN

Von

Karl

Jaspers

erschien

ferner

Allgemeine Psychopathologie. 1913. Fünfte Auflage 1948. 748 Seiten. Springer-Verlag, Heidelberg und Berlin. Psychologie der Weltanschauungen. 1919. Dritte Auflage 1925. 486 Seiten. Springer-Verlag, Heidelberg und Berlin. Strindberg und van Gogh. 1922. 131 Seiten. Dritte Auflage 1949. Joh. Storm-Verlag, Bremen. Die geistige Situation der Zeit. 1931. 191 Seiten. Siebente Auflage 1949.

Im Verlag W. de Gruyter & Co., Berlin. Max Weber, Politiker, Forscher, Philosoph. 1932. Zweite Auflage 1946. 58 Seiten. Joh. Storm-Verlag, Bremen.

Philosophie. Drei Bände. 1932. Zweite Auflage in einem Band 1948. 913 Seiten. Springer-Verlag, Heidelberg und Berlin.

Vernunft und Existenz. 1935. Neue Auflage 1947. 124 Seiten. Joh. StormVerlag, Bremen.

Nietzsche, Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. 1936. 487 Seiten. Dritte Auflage 1949. Verlag W. de Gruyter & Co., Berlin. Descartes und die Philosophie. 1937. Zweite Auflage 1948. 104 Seiten.

Verlag W. de Gruyter & Co., Berlin. Nietzsche und das Christentum. 1946. 85 Seiten. Verlag der Bücherstube Fritz Seifert, Hameln.

Die Idee der Universität. 1946. 132 Seiten. Springer-Verlag, Heidelberg und Berlin. Die Schuldfrage. 1946. 106 Seiten. Verlag Lambert Schneider, Heidelberg, und im Artemis-Verlag, Zürich, 96 Seiten.

Der philosophische Glaube. 1947. 136 Seiten. Dritte Auflage 1951. R. Piper & Co. Verlag, München, und im Artemis-Verlag, Zürich, 158 Seiten.

Einführung in die Philosophie. Zwölf Radiovorträge, 1949. Zweite Auflage 1950. Artemis-Verlag, Zürich.

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Jaspers, Karl, 1883-1969.

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Rechenschaft und Ausblick; Reden und Aufsätze.

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1. Philosophy— Addresses, esnayn, lectures.

Chicago. Univ. Libr, for Library of Congress

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