RANDSPRÜNGE - Medien Kunst Denken: Ein prospektiver Katalog 9783110460889, 9783110440430

An Exhibition Book The book project Crossing the Edge – Media, Art, and Thought embodies the idea of “artist-based res

158 49 25MB

German Pages 168 Year 2015

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

RANDSPRÜNGE - Medien Kunst Denken: Ein prospektiver Katalog
 9783110460889, 9783110440430

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Startbedingungen → Auto-Interview (Audioguide)
Vom Rand Aus → Drei Künstlergespräche
Wandtext
Gespräch mit D&S (Gustav Deutsch und Hanna Schimek)
Gespräch mit Hofstetter Kurt
Gespräch mit Gangart (Simonetta Ferfoglia und Heinrich Pichler)
Im Schnittprozess → Arbeitsprotokoll
Wandtext
Videomontage Ein Heimatfilm (Protokolltabelle)
Modell Medienzentrum → Radio-Feature mit Pinnwand
Wandtext
Skript für Radio-Feature Teil 1
Skript für Radio-Feature Teil 2
Pinnwand Medienwerkstatt Wien
Pinnwand die thede
Videothek → Sechs Videostillmontagen mit Auto-Interviews (Audioguide)
Wandtext
Der Geflüsterte Film
Lubitsch Junior
Mai Tape
WOSSEA MTOTOM – Die Wiese ist grün im Garten von Wiltz
Paranormal
Küchengespräche mit Rebellinnen
Medien Kunst Denken → Partitur für eine Performance Lecture
Wandtext
Original-Collagen (Faksimiles)
Über die Autorin
Impressum

Citation preview

RANDSPRÜNGE

Edition Angewandte

Buchreihe der Universität für angewandte Kunst Wien

Herausgegeben von Gerald Bast, Rektor

Gerda Lampalzer

RANDSPRÜNGE

Medien Kunst Denken

Ein prospektiver Katalog

Inhaltsverzeichnis Startbedingungen

T Auto-Interview (Audioguide)

6

Vom Rand aus T Drei Künstlergespräche Wandtext Gespräch mit D&S (Gustav Deutsch und Hanna Schimek) Gespräch mit Hofstetter Kurt Gespräch mit Gangart (Simonetta Ferfoglia und Heinrich Pichler)

12 14 24 34

Im Schnittprozess T Arbeitsprotokoll Wandtext Videomontage Ein Heimatfilm (Protokolltabelle)

46 48

Modell Medienzentrum T Radio-Feature mit Pinnwand Wandtext 70 Skript für Radio-Feature Teil 1 72 Skript für Radio-Feature Teil 2 86 Pinnwand Medienwerkstatt Wien 100 Pinnwand die thede 102 Videothek T Sechs Videostillmontagen mit Auto-Interviews (Audioguide) Wandtext 106 Der Geflüsterte Film 108 Lubitsch Junior 116 Mai Tape 124 WOSSEA MTOTOM – Die Wiese ist grün im Garten von Wiltz 132 Paranormal 140 Küchengespräche mit Rebellinnen 148 Medien Kunst Denken T Partitur für eine Performance Lecture Wandtext Original-Collagen (Faksimiles)

158 160

Über die Autorin 166 Impressum 168

STARTBEDINGUNGEN Was waren die Ausgangspunkte für dieses Buch? Im letzten Jahrzehnt hat sich die Aufmerksamkeit der Kunstöffentlichkeit verstärkt in Richtung der sogenannten „artistic research“ oder „künstlerischen Forschung“ gewandt. Dieses Labeling inklusive zugehöriger Ausstellungspraxis ist weder unumstritten noch gibt es ein einheitliches Verständnis darüber, was künstlerische Forschung eigentlich genau ist. Trotzdem kam es in diesem Bereich zu einer Institutionalisierung, sowohl in Form von spezifischen Förderprogrammen (1) als auch in Form von Studienangeboten an Kunstuniversitäten. (2) Mittlerweile wird davon ausgegangen, dass es spätestens seit den 1960er Jahren mit dem Aufkommen von Konzept- und Medienkunst so etwas wie ein forschungsbasiertes Selbstverständnis von KünstlerInnen gibt. Für mich stellt sich die Frage, ob sich diese damals im Kunstmarkt als marginal angesehenen Arbeitsweisen als richtungsweisend herausstellen könnten und wie das gegenwärtige Verständnis von künstlerischer Forschung daran anknüpfen kann. Das interessiert mich deshalb, weil sich meine eigene Arbeitsbiografie ebenfalls im Spannungsfeld zwischen theoretischem und praktischem Zugang zur Kunst entwickelt hat. Ich habe Kommunikationswissenschaften studiert und arbeite seit Mitte der 1980er Jahre als freischaffende Medienkünstlerin. Ich bin Teil der Medienwerkstatt Wien, eines KünstlerInnenkollektivs, das seit 1978 als selbstverwaltetes Medienzentrum im Bereich Produktion, Forschung und Vermittlung tätig ist. Ich nehme also genau diese Mehrfachposition zwischen künstlerischer Produktion, struktureller Tätigkeit und Forschung/Lehre ein, die sich einerseits – wie es so schön heißt – zwischen die Stühle setzt, anderseits eine enorme Erweiterung des Handlungsfelds ermöglicht. Ein ganz konkreter Ausgangspunkt zu meiner Frage „Was kann künstlerische Forschung sein?“ war dann die Idee, mich selbst bei der künstlerischen Arbeit zu beobachten. Ich habe während der Montage eines Videos (3) ein Protokoll angelegt, in dem ich alle Arbeitsschritte und meine eigene Verfassung während der Arbeit festgehalten habe. Das war ein erster Versuch, einem Erkenntnisweg zu folgen, der aus rein künstlerischen Überlegungen kommt. Daraus ist dann die Motivation erwachsen, die Recherchen zu erweitern.

Wie eng haben Sie Ihre weiteren Recherchen an Ihre persönlichen Erfahrungen geknüpft? Ich habe eigentlich an zwei Vermutungen angeknüpft. Erstens, dass forschungsbasierte Kunst ein strukturelles Umfeld braucht, in der sie unabhängig und ohne fixe Erwartung an ein Ergebnis experimentieren kann, und zweitens, dass sich interessante und neue Prozesse meist an den Rändern etablierter Formen abspielen. Arbeiten, die sich an die Grenzen eines Genres, einer Kunstrichtung, einer Technologie, einer Produktionsform begeben, sagen oft mehr über das jeweilig befragte Gebiet aus als traditionelle Herangehensweisen. Sie helfen einerseits, sich über gegebene Definitionsgrenzen klar zu werden, anderseits gelingt es ihnen auch oft, diese auszuweiten. Von daher hatte ich zwei Rechercheschwerpunkte: Erstens die persönlichen Erfahrungen von Künstlern und Künstlerinnen, die schon seit den 1980er Jahren kunstbasierte Forschungen betreiben und eine differenzierte Einschätzung der sich verändernden Bedingungen vornehmen können. Zweitens das Modell „selbstverwaltetes

6

Medienzentrum“ als autonomer Freiraum für medienpolitische und -künstlerische Experimente und seine mögliche Bedeutung als Teil der künstlerischen Forschungsgeschichte. Von meinen eigenen Erfahrungen bin ich dann insofern ausgegangen, als ich selbst in so einem Medienzentrum begonnen habe und außerdem zu allen GesprächspartnerInnen und beschriebenen Projekten in irgendeiner Form eine persönliche Beziehung habe. Sei es in Form von konkreter Zusammenarbeit, von Interesse an den Produkten, von freundschaftlicher Beziehung oder aus kuratorischer Sicht.

Sie haben eine spezielle Form für das Buch gewählt, nämlich einen prospektiven Katalog, also einen Katalog zu einer Ausstellung, die – wenn überhaupt – nur nachgereicht werden kann. Wie kam es zu dieser Idee? Ich habe diese Publikation von Anfang an als einen Katalog zu einer gedachten Ausstellung konzipiert. Der Aufbau orientiert sich an einer Vorstellung von Räumen, die mit Materialien gefüllt sind, die ich gewissermaßen kuratiere und nach bestimmten Kriterien aufarbeite. Grundsätzlich kann man sich das vielleicht so vorstellen wie die inneren Orte, die in der Gedächtniskunst ihre Anwendung finden.(4) Da ich von der Medienkunst komme, habe ich für jeden Raum beziehungsweise jedes Kapitel eine gedachte mediale Umsetzung gewählt. Eine Interviewserie ist zum Beispiel als Skript für ein Radio-Feature aufbereitet, meine eigenen Aussagen sind als fiktive Interviews für einen Audioguide gestaltet, es gibt eine Videothek, in der ausgewählte Medienarbeiten in Form von Bildatlanten mit Audioguide vorgestellt werden, es gibt auch eine Partitur für eine Performance Lecture. Dieser Einsatz von unterschiedlichen Textsorten geht bis zu den bei Ausstellungen üblichen Wandtexten, die in jeden Raum einführen. Obwohl es für mein Konzept nicht zwingend ist, dass eine Ausstellung nachgereicht wird, könnte sie aus diesen Materialien umgesetzt werden. Der Grund für dieses Konzept liegt darin, dass ich nach einer Form gesucht habe, die sich selbst erklärt. Die spezielle Qualität künstlerischer Arbeit ist ja, dass sie zum Beispiel malerische Fragen mittels Malerei stellt, zu Medien mittels Medien arbeitet oder zum Sozialen mittels Handlungen. Reine Theorie ist auf eine relativ normierte Textsorte beschränkt und betrachtet ihre Objekte eher von außen. Mich spricht das Konzept „artistic research“ ja deshalb an, weil es anbietet, verschiedene Wissensformen zu verbinden und – was noch wichtiger ist – der Kunst einen ebenbürtigen Platz in der Forschung einzuräumen. Was ja bisher in der Praxis noch nicht erreicht wurde.

Wie hat sich Ihr Interesse an einer künstlerischen Forschungspraxis konkret entwickelt? Ich habe an der Universität Wien Kommunikationswissenschaften studiert und war anfänglich von den Möglichkeiten der eindeutigen Fragestellung, der präzisen Formulierung zugehöriger Methoden und der geforderten Nachvollziehbarkeit aller gedanklichen Zugänge begeistert. Für mich war es eine Offenbarung, dass die „weichen Fakten“ einer Sozial- bzw. Geisteswissenschaft so zu einer beweisbaren Sache werden. Allerdings hat mich schon damals die teilweise sehr steife und

7

verkomplizierende Ausdruckweise gestört und auch der Zwang, sich theoretisch so ausführlich abzusichern, dass – überspitzt formuliert – das eigene Anliegen in einer wissenschaftlichen Arbeit erst in den letzten Kapiteln ausführlich formuliert werden kann. Das macht das theoretische Arbeiten sehr langsam und schwerfällig. Als ich mich für Videokunst zu interessieren begann, wurde mir klar, dass Kunst ein ebenbürtiges Instrumentarium hat, Wissen über – in diesem Fall – Medien zu generieren. (5) Und zwar ebenso systematisch und nachvollziehbar, aber auf andere Weise. Das Referenzfeld ist die materielle Praxis, der Ausgangspunkt die persönliche Wahrnehmung, die Ausdrucksweise muss immer wieder neu gefunden werden. Obwohl künstlerische Forschung – wie gesagt – im akademischen Feld schon institutionell festgezurrt wird, scheint es mir lohnenswert, sich für ihre möglichst offene Definition einzusetzen. Ich verstehe dieses Buch selbst als künstlerische Forschungsarbeit und eine Suche danach, was dieser Begriff für mich sein könnte. Valie EXPORT hat das Suchen als Voraussetzung für eine künstlerische Weiterentwicklung in einem öffentlichen Gespräch einmal sehr klar formuliert. Auf die Frage, wie man als junge Medienkünstlerin denn heute – wo schon so viel vorliegt – überhaupt noch Neues machen kann, meinte sie: „Es ist viel da, das ist ganz klar, aber da muss auch der Schritt gemacht werden von dem ‚viel da‘ weg und dorthin, wo nicht viel da ist.“ (6) Das gilt für mich auch für kunstbasierte Forschung.

In Österreich z.B. Programm zur Entwicklung und Erschließung der Künste (PEEK) des FWF, Art(s)&Sciences Call 2008 und 2009 des WWTF. In Österreich z.B. die Abteilung „Art and Science“ der Universität für angewandte Kunst, das „Ordinariat für Kunst und Forschung“, der „PhD in Practice“ der Akademie der bildenden Künste Wien, das „PhD-Programm“ an der Kunstuniversität Linz. (3) Gerda Lampalzer: Ein Heimatfilm, Österreich 2012/2014, Video, 5:20 min (4) Vgl.: YATES Francis A. (1991): Gedächtnis und Erinnern, Weinheim 1991 (5) LAMPALZER Gerda (1992): Videokunst. Historischer Überblick und theoretische Zugänge, Wien 1992 (6) Valie EXPORT im Gespräch mit Wilbirg Brainin-Donnenberg im Rahmen von DOUBLE TAKE MedienkunstpionierInnen in Österreich, einer Veranstaltungsreihe der Medienwerkstatt Wien in Kooperation mit dem Stadtkino Wien. Filmhauskino am Spittelberg am 06.10.2010. (1) (2)

8

9

10

Vom Rand aus 11

GESPRÄCH mit Gustav Deutsch und Hanna Schimek (D&S) Gerda Lampalzer: Bezüglich der von euch schon früh als künstlerische Forschungsprojekte benannten Arbeiten ist meine erste Frage: Wie seid ihr auf diesen Begriff und diese Methode gekommen? Hanna Schimek: Der Anfang war, dass wir in den 1980er Jahren einige Male in der Oase Figuig in Marokko waren, wo wir künstlerisch gearbeitet haben. Und dass wir das „künst­ lerische Forschung“ genannt haben, ist darauf zurückgegangen, dass wir von der lokalen Bevölkerung gefragt wurden, was wir dort machen. Wir wussten, dass in Figuig Geologen und Agrarfachleute geforscht haben und allgemein bekannt war, dass das Forscher oder Wissenschaftler waren. Und um in verständlicher Weise zu erklären, was wir dort machen, haben wir dann gesagt: „Wir sind Künstler und wir machen künst­ lerische Forschungen.“ Also ich kann nicht sagen, dass wir das erfunden haben, aber für uns haben wir es. Also ich habe den Begriff „künstlerische Forschung“ vorher nicht gekannt. Gustav Deutsch: Vielleicht noch kurz prinzipiell dazu. Zu der Zeit haben wir ein anderes größeres Projekt begonnen, Die Kunst der Reise, wo es um die Auseinandersetzung mit der Fremde gegangen ist. Und wir haben 1985, als wir das erste Mal in Figuig waren, gesagt, wenn wir schon reisen, wollen wir auf dieser Reise auch künstlerisch arbeiten. Wir beschäftigen uns mit der Landschaft, mit der Kultur, mit den Menschen und setzen das in künstlerische Arbeit um. Und zwar so verstanden, dass die Begegnung mit der Fremde eine Voraussetzung ist, sie besser zu verstehen, und dezidiert auch dazu dient, die eigene Kultur zu reflektieren. Also dies auch zu nützen, um mit offenerem Blick durch die Welt zu gehen. Und unsere Werkzeuge waren damals eben Werkzeuge, die auch Wissenschaftler verwendet haben. 14

Hanna Schimek: Dazu muss man sagen, dass das für uns schon auch ein künstlerisches Spiel war. Und das gilt nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch bis in die Gegenwart, dass wir wissenschaftliche Methoden oder Werkzeuge verwenden, ohne wissenschaftliche Ziele zu verfolgen. Das Ergebnis ist ein künstlerisches und ästhetisches. Es fokussiert nie auf eine Vollständigkeit, es verfolgt künstlerische Ziele. Gustav Deutsch: Dementsprechend ist es auch subjektiv. Wir haben keine Kriterien, die darauf abzielen, dass wir unsere persönlichen Empfindungen zurückhalten. Gerda Lampalzer: Wenn ich mich richtig erinnere, habt ihr ja Teile eurer Ergebnisse auch in Figuig ausgestellt. Gab es da auch das Interesse dran, einen Horizont zu öffnen, an einer Art Grenzverschiebung? Ihr habt ja dort nicht in einem klassischen Atelier oder Kunstort ausgestellt, sondern es war ein öffentlicher Raum. Hanna Schimek: Es waren mehrere öffentliche Räume. Wir haben eine Ausstellung im Postamt gemacht, eine im Kulturzentrum und eine in einem Gymnasium. Gerda Lampalzer: Ihr habt also dort Orte geschaffen oder eigentlich Definitionen von Orten. Gustav Deutsch: Wir haben das Postamt zu einer Galerie umfunktioniert. Aber das hat auch damit zu tun gehabt, dass die Arbeiten, die wir dort präsentiert haben, mit der Post entstanden sind. Das war ein Mail-Art-Projekt. Gerda Lampalzer: Heißt das, dass ihr euch so langsam vor­ arbeitet, wenn ihr euch an einen Ort begebt und ein Kunst-

projekt macht? Einmal schaut, was könnte man dort entwickeln, ein prozesshaftes Arbeiten? Hanna Schimek: Es ist genau so, wie du sagst. Vom Ansatz her sind wir sicher nicht schon mit einer Projektidee nach Figuig gekommen. Wir haben uns im wahrsten Sinne vorgetastet, weil die Oase an einer Grenze liegt und auch politisch nicht so ganz klar war, wie weit man dort wirklich buchstäblich gehen konnte. Wir haben uns mit der Gegend und auch mit den Leuten angefreundet und darauf reagiert. Und wir haben eher beobachtet und die Beobachtungen künstlerisch verarbeitet. Wir haben nicht eingegriffen, etwa dass wir dort eine Intervention in der Landschaft gemacht hätten.

Gustav Deutsch: Und die Ausstellung war wieder eine Möglichkeit, in Kontakt zu kommen, in dieser Ausstellung ist es nämlich um landwirtschaftlich genutzte Wasserreservoirs gegangen. Wir haben 133 dieser Wasserbecken von Figuig vermessen und gezeichnet. An dem Tag, wo wir dort waren, haben wir den Wasserstand festgestellt und jeweils ein Foto gemacht. Die Zeichnungen und Fotos haben wir dann ausgestellt mit der Bitte an die Bevölkerung, uns diese Becken zu benennen. Und die Leute haben dann auf den Zeichnungen und Fotos ihre Becken gesucht und den Namen und teilweise die Geschichte dieser Becken dazugeschrieben. Und das war wahnsinnig erfolgreich, also da waren in einer Woche über tausend Leute in der Ausstellung. Hanna Schimek: Aber man muss eben dazu sagen, für uns war diese Aufforderung, die Namen der Wasserbecken aufzuschreiben, als eine Möglichkeit der Kommunikation gedacht, weil wir, soweit ich mich erinnere, die Namen nie verwendet haben.

Gustav Deutsch: Und wenn wir es gemacht haben, dann zum Beispiel um einen Weg zu vermessen. Es gab einen Weg, den wir jeden zweiten Tag in die Wüste gegangen sind. Nach einer bestimmten Zeit haben wir gesagt, es wäre eigentlich interessant zu schauen, wie sich dieser Weg zeichnerisch abbilden lässt. Und dann haben wir angefangen Vermessungspunkte festzulegen und dort, wo der Weg die Richtung geändert hat, Steinmännchen zu bauen. Das war aber etwas, das schon sehr viele Leute vor uns gemacht haben. Einfach um Markierungen zu schaffen. Das heißt also, wenn wir uns erlaubt haben Eingriffe zu machen, dann haben sie direkt mit dem Ort und mit dem Zweck zu tun gehabt, den wir verfolgt haben.

Gerda Lampalzer: Ihr habt ja diese Dinge, die du erst mit Werkzeugen bezeichnet hast, später immer wieder aufgegriffen. Also Zeichnen, Messen, Zählen, Sammeln. Ich kann mich erinnern, dass in anderen Projekten auch noch so etwas wie Ordnen, Archivieren, Stempeln, dazugekommen ist, also eine bestimmte Ästhetik, die eine ganz eigene Poesie entwickelt hat. Wissenschaft ist ja nicht unpoetisch, wenn man sie formal betrachtet.

Hanna Schimek: Ja, vorsichtig, fast immer als Reaktion. Auch den Ausstellungsort haben wir durch unsere Freundschaften entdeckt, jemand hat uns gesagt, dass es da ein Kulturzentrum gibt.

Gustav Deutsch: Genau. Und uns war in Figuig auch immer wichtig, dass wir nichts machen, was nicht dem Zweck der Recherche dient. Also wenn wir gezeichnet haben oder Hanna Aquarelle gemalt hat, dann hat das einen Grund gehabt. 15

Wir haben zum Beispiel Pflanzen in der Wüste gesucht, was ja in einer Steinwüste zuerst einmal eine ganz absurde Vorstellung ist. Aber wenn es einmal wirklich einen Tag regnet, ist die Wüste grün. Und dann sind wir hinausgegangen und haben mit einem Quadratrahmen von einem mal einem Meter festgestellt, welche Pflanzen wir da drinnen entdecken. Und dann haben wir den Rahmen an einen anderen Ort verschoben und verglichen. Um aber Pflanzen vergleichen zu können, brauchst du Musterkarten, denn wenn du die Pflanzen pflückst und am nächsten Tag wieder mitnimmst, sind sie vertrocknet. Am besten geht das natürlich, wenn man sie aquarelliert oder zeichnet, denn ein Farbfoto hätten wir nicht gekriegt für den nächsten Tag, das wäre nicht gegangen. Also hat Hanna sie gemalt. Und diese Aquarell-Musterkarten – so haben wir sie genannt – haben dazu gedient, dass wir überhaupt wieder neue Pflanzen definieren konnten. Gerda Lampalzer: Interessant, heute hättest du die Digitalkamera. Gustav Deutsch: Ja, heute wäre es ein Mobiltelefon. Hanna Schimek: Nein, eben nicht. Das ist die gleiche Methode, die ich jetzt in der FILM.STADT.WIEN Recherche angewandt habe. Ich würde es auch jetzt nicht fotografieren, auch in zehn Jahren nicht, weil man im Zeichnen das, was man zeichnet, vollkommen intus kriegt. Bei der Kamera drückt man auf den Knopf, schaut noch, ob es gut kadriert ist. Die zum Zeichnen notwendige Konzentration ist dagegen ein unfehlbares Mittel, sich etwas langfristig einzuprägen. Die Technik der Zeichnung zu Studienzwecken hat ja auch eine lange Tradition. Es gibt seit der Renaissance eine ganze Reihe von Künstlern, die zeichnerisch zum Beispiel Wolken studiert haben. Das 16

Werkzeug Zeichnung musst du ja auch beherrschen, und da ich zeichnen gelernt habe, benütze ich es als künstlerisches Werkzeug. Und Gustav benützt architektonische Werkzeuge. Gerda Lampalzer: Die Frage ist für mich jetzt, ob man sagt, o.k. das ist Kunst, das ist eh altbekannt, oder ob man sagt, das muss man aufwerten. Also ich sehe künstlerische Forschung auch so, dass der Kunst offiziell eine Erkenntnisfähigkeit zugesprochen wird. Das ist gerade heute wichtig, wo man ja dauernd gegen die Abwertung der geistes- und kulturwissenschaftlichen Bereiche kämpft. Und indem man sagt, Kunst ist genauso erkenntnisreich wie Wissenschaft oder Theorie, wird sie aufgewertet. Landläufig ist das ja nicht so, dass das als Forschung oder Wissenssystem anerkannt wird. Gustav Deutsch: Ja, für die Arbeiten des Blauen Kompressors, der Künstlergruppe, der wir angehören, hat es zum Beispiel immer bestimmte Regeln oder Prinzipien gegeben. Eines davon war, dass man den „Scharfsinn des Forschers auf das Alltägliche anwendet“. Die Frage ist jetzt, ob man das transportieren kann, ob das auch jemand anderer versteht. Es liegt natürlich daran, was wir aus unseren gewonnenen Erkenntnissen machen. Wenn wir da nichts daraus machen, dann ist es mehr eine Meditation. Aber wenn wir etwas draus machen, dann muss das künstlerische Ergebnis geeignet sein, unsere Erkenntnisse mitzuteilen. Das ist auch die Aufgabe, die der Künstler hat. Gerda Lampalzer: Sehr schön daran finde ich, dass man mit „Scharfsinn im Alltag anwenden“ auch die Aufforderung macht, sich die Dinge selbst genau anzuschauen. Es ist ein emanzipatorischer Gedanke dahinter. Ich denke auch vor allem, wenn man sich aus dem klassischen Kunstrahmen hinausbewegt.

Screenshot aus: www.gustavdeutsch.net 17

Hanna Schimek: In Figuig war es genau so. Da waren insgesamt 2000 Leute bei den Ausstellungen. Dort wohnen ungefähr 5000 oder 7000 Menschen, da war fast ein Drittel der Bevölkerung dort. Und ich setze mal voraus, dass das sehr viel ausgemacht hat, dass es sehr viele Leute irgendwie beeinflusst hat. Es kann gar nicht anders sein, weil es dort vorher noch nie so eine Art von Ausstellung gegeben hat. Oder zum Beispiel das EU-Projekt Light Image in Ägina / Griechenland war auch ähnlich. Ägina ist kein Ort, der für Kunst bekannt ist. Wir haben dort zwei Mal hintereinander ein großes EUProjekt initiiert, 2003 und 2005, und jetzt gibt es dort jährlich ein Festival, das eine ganz ähnliche Struktur hat. Gerda Lampalzer: Wenn ich es richtig verstanden habe, haben bei euren Griechenland-Projekten die künstlerische und die wissenschaftliche Seite gleichwertig zum Thema beigetragen. Anders als in Figuig, wo wissenschaftliche Werk­zeuge in künstlerischer Weise verwendet wurden, war es als Dialog gedacht. Ihr habt Begriffe wie „Akademie“ oder „Konferenz“ verwendet, das legt ja auch eine multi­ disziplinäre Ausrichtung nahe. Vielleicht können wir da weiter anknüpfen. Gustav Deutsch: Light Image – The Aegina Academy war schon das zweite Projekt in Griechenland. Das erste, das wir 1995 gemacht haben, war eigentlich der Abschluss des mehrjährigen Kunst der Reise Projekts. Da haben wir gesagt, wir machen eine Konferenz, und der Titel Travel Art – The Athens Conference war Programm und Inhalt. Also auch künstlerischer Inhalt. Es ist nicht nur darum gegangen, dass sich Spezialisten zum Thema „Begegnung mit der Fremde“ treffen, sondern dass die Form, in der das stattfindet, eine künstlerische Form ist. Wir haben die Konferenz als Perfor18

mance gesehen. Jeder der Teilnehmer hat in dieser Struktur eine bestimmte Position gehabt, war Vertreter einer ganz bestimmten Haltung zum Thema. Also zum Beispiel haben Kulturgeografen oder eben Künstler aus ihrem Arbeitsumfeld berichtet. Wir waren zwei Jahre vorher in Rabat zu einem Kongress von Kulturgeografen eingeladen und haben dort zum ersten Mal überhaupt verstanden, wie so ein Kongress funktioniert. Und dann haben wir Elemente und Formen, die wir dort gesehen haben, imitiert. Jeder Teilnehmer an der Konferenz hat zum Beispiel eine Mappe gekriegt, in der ein Info-Heftchen und ein Plan von Athen eingelegt waren. Wir haben uns also angeschaut, wie das funktioniert, und haben daraus unser eigenes Kunstwerk gemacht. Das war uns extrem wichtig. Hanna Schimek: Weil du das erwähnst, das geht noch auf den Blauen Kompressor zurück. Ein Vereinsmitglied hat einmal bei einer Einreichung im Bundesministerium nicht das Formular ausgefüllt, das ausgeschickt wurde, sondern selbst ein Blaues Kompressor Formular gemacht. Hat also das Formular des Ministeriums imitiert, ausgefüllt und abgegeben. Das war für mich so ein Key-Moment, den ich nicht vergessen habe und den ich sehr wesentlich finde. Gustav Deutsch: Ich möchte zu den Kulturgeografen noch etwas sagen, was wirklich interessant war. Wir haben zu Travel Art – The Athens Conference zwei eingeladen und der eine ist gekommen und hat – wie bei Symposien oder Konferenzen üblich – seinen vorbereiteten Vortrag mitgehabt. Er hat sich unsere Konferenz zwei Tage lang angehört und dann am nächsten Morgen zu mir gesagt: „Ich halte einen ganz anderen Vortrag. Ich vergesse alles, was ich vorbereitet habe, weil ich merke, hier ist was anderes gefragt.“ Und

dann hat er einen sehr persönlichen Vortrag gehalten, den er sicher noch nie in seinem Leben gehalten hat, nämlich wie er überhaupt dazu gekommen ist, Kulturgeograf zu werden. Und angefangen hat er seinen Vortrag mit Karl May. Und das war schon ein Einfluss unserer Arbeit, dass jemand Künstlern auch zugehört und sich gedacht hat, jetzt mache ich nicht das, was ich normalerweise mache, sondern ich mache etwas anderes. Also das war schon ein Erfolg, bevor noch irgendein Ergebnis da war. Gerda Lampalzer: Und wie habt ihr das dann organisatorisch gelöst? Für so eine große Konferenz mit mehreren Veranstaltungen braucht man doch jemanden, der einen unterstützt. Gustav Deutsch: Unsere Kunst der Reise Projekte waren immer an Orten, wo Mitglieder des Blauen Kompressors gelebt haben. Also das waren Wien, Frankfurt, London und Athen. Wir haben gesagt, wir brauchen jemanden, der uns vor Ort bei den Connections hilft, der sich auskennt, der weiß, an wen man sich wendet, und mit dem man wieder andere Leute kennenlernt. Also über Personen und nicht über eine Institution oder eine Galerie. Und darum sind wir auch an diesen Orten gelandet. Gerda Lampalzer: Für mich ist das wichtig, weil dieser Zugang noch aus einem Geist eines nicht hierarchischen Arbeitsprozesses kommt. Das stößt aber, denke ich, an Grenzen, wenn man etwas Größeres oder Professionelleres machen oder eben selbst künstlerisch dazu beitragen will. Das schafft man dann nicht mehr. In den 1990er Jahren ist ja auch so etwas wie ein Kulturbetrieb und die zugehörige Kulturmanagementausbildung entstanden. Wahrscheinlich deshalb, weil es immer mehr solche interdisziplinären Projekte gab.

Hanna Schimek: Ja, man muss auch sagen, mehr Förderungsmittel. Gustav Deutsch: Es ist auch so, dass wir Light Image gemeinsam mit dem Produktionsteam After Image Productions realisiert haben, weil sich das organisatorisch und finanziell in einem ganz anderen Rahmen abgespielt hat. Ein EU-Projekt einzureichen ist sehr arbeitsintensiv und erfordert viel Wissen. Hanna Schimek: Und auch finanzielles Durchhaltevermögen und Risiko. Gustav Deutsch: Finanzielles Risiko, das wir auch nicht alleine tragen konnten. Und als wir 2003 das erste Light Image Projekt gemacht haben, war es schon so, dass wir uns EUProjekte betreffend selbst prinzipielle Fragen gestellt haben, da sehr viel von diesem Geld in die Bürokratie fließt. Und das ist heikel. Beim zweiten Light Image Projekt 2005 haben wir nämlich nicht mehr so viel Geld gekriegt und da war der Apparat von Mitarbeitern aber schon so aufgeblasen, das war nicht mehr zurückzufahren. Und dann geht viel Geld in diese Abwicklung und das ist nicht gut. Erst vor zwei Wochen haben wir gesagt, eigentlich existiert in unserem Kopf die Aegina Academy noch immer und wir wollen auch wieder etwas machen, aber ohne Geld. Eigentlich wollen wir mit Künstlern und Wissenschaftlern im Sinne der platonischen „Akademie“ einen Spaziergang machen und uns so austauschen. Diese Idee ist uns nach wie vor wichtig, wir wollen aber eigentlich kein weiteres EU-Projekt unter diesem Titel einreichen. Gerda Lampalzer: Ihr seid diesen ganzen langen Weg gegangen von einer noch nicht offiziell benannten künstlerischen Forschung bis hin zu großen Projekten, die man jetzt im 19

Nachhinein alle so benennen könnte. Und seit ungefähr zehn Jahren läuft das ja auch offiziell unter diesem Begriff, es gibt Förderungen, es fängt an, Ausbildungen in die Richtung zu geben. Wie seht ihr das? Ihr habt ja damit Berührung gehabt oder auch einmal versucht vorzufühlen, ob ein künstlerisches Forschungsprojekt beim PEEK Programm des FWF möglich wäre. Wie würdet ihr das einschätzen? Hat diese Welle der „artistic research“ überhaupt einen Praxisbezug? Bringt euch das was, dass das jetzt institutionalisiert ist? Gustav Deutsch: Im Gegenteil, würde ich sagen. Es hat jetzt alles einen Namen, es ist alles definiert, speziell, wo in Österreich Kunstakademien Universitätsstatus erlangt haben und einen Forschungsauftrag erfüllen müssen. Sie haben aber keine Mittel, sie müssen Drittmittel requirieren und dafür wurde wieder eine Förderung erfunden. Und die Künstler, die da jetzt einreichen, müssen mit diesen Universitäten als Angestellte zusammenarbeiten und nicht mehr als freischaffende Künstler, weil die ganze finanzielle Abwicklung über die Institutionen geht. Und es kommt mir ein bisschen so vor, dass die künstlerische Praxis – oder was dann als künstlerische Forschung bezeichnet wird – nur dazu dient, diesen Institutionen Hilfestellung zu leisten, an zusätzliche Mittel zu kommen und auch den Forschungsauftrag zu erfüllen, den sie aus ihren eigenen Ressourcen heraus gar nicht erfüllen könnten. Und das unabhängige künstlerische Arbeiten bleibt auf der Strecke. Also so ist es von unserer Erfahrung her. Wir sind sehr glücklich gewesen, 2010 und 2011 vom Ludwig Boltzmann Institut und dem Österreichischen Filmmuseum zu einer künstlerisch-wissenschaftlichen Forschungsarbeit FILM.STADT.WIEN eingeladen zu werden, die von Wissenschaftlern ausgegangen ist. Das war das erste Mal, dass wir mit der Planung nichts zu tun hatten und als Künstler eingeladen wurden mitzuma20

chen. Das war sehr schön. Es war auch das erste Mal, dass wir ohne viel eigenen organisatorischen Aufwand zwei Jahre lang arbeiten konnten. Und als wir selbst ein künstlerisches Forschungsprojekt beim PEEK-Programm einreichen wollten, sind wir auf einmal an Grenzen gestoßen. Beim ersten Informationsgespräch ist uns ein Buch hingeschoben worden mit der Aufforderung, es zu lesen, weil das, was wir da erzählen, nichts zu tun hat mit der zwischen den Universitäten und den Förderstellen vereinbarten Definition von künstlerischer Forschung. Was wir darunter verstehen, deckt sich nicht mit den Vorstellungen der Fördergeber. Da frage ich mich wirklich: Wie überheblich kann ein Apparat überhaupt werden? Hanna Schimek: Also es stimmt, nur halte ich das für nichts Außergewöhnliches. Denn das ist eine Entwicklung, die in allem passiert. Jemand erfindet was, das wird erst einmal nicht anerkannt, weil es noch niemand versteht, dann fängt man an das zu verstehen, es wird Teil der Lehre und dann ist es eine anerkannte Kunstrichtung oder eine anerkannte Wissenschaft oder was immer. Gustav Deutsch: Ja, das ist wie Gentrifizierung. Hanna Schimek: Ich finde, das ist ein normaler Vorgang, Experimentalfilm wird zu Mainstream, Werbung, was immer, das ist ein Muster, über das kann ich mich nicht aufregen, weil das ein Teil der kulturellen Entwicklung ist. Ich finde aber, als freischaffender Künstler muss ich flexibel bleiben und mir sagen können, diese Anforderungen will ich nicht erfüllen. Ich stimme dir zu, uns ein Buch hinzuschieben und zu sagen, das ist künstlerische Forschung, ist lächerlich. Und weil das eine Richtung ist, die nicht unserem Verständnis davon entspricht, sagen wir also, wir machen etwas anderes. O.k. das ist jetzt

Screenshot aus: www.hannaschimek.at 21

Mainstream und wird mit einem ganz bestimmten Ding besetzt, ich kann da nicht mehr durch und muss – um mir das selber interessant zu gestalten – eine Kurve machen, ausweichen. Wir haben nun vor, aus unserem neuen Projekt ein Theaterstück zu entwickeln. Und das ist letztendlich eine andere und spannende Möglichkeit. Also ich halte es für müßig und nicht sehr zielführend, die Förderungsmodalitäten zu kritisieren. Gerda Lampalzer: Also das heißt, wenn wir ganz an den Anfang zurückgehen, so wie ihr in Figuig überlegt habt, wie man über Kunst Zugang zu dem Land, zu den Leuten, zum Aufenthalt kriegen könnte, und euch etwas ausgedacht habt, so müsste man jetzt auch wieder arbeiten. Wenn dieses künstlerische Forschungsfeld eine Richtung nimmt, wo man sich nicht vertreten fühlt, ist man wieder gefragt, es zu etwas Neuem auszuweiten.

Arbeitsweise schätzt. Aber selbst als Künstler einzureichen ist sehr schwierig. Gerda Lampalzer: Ich habe das jetzt schon mehrmals gehört und zwar immer von Seiten der Künstler. Wissenschaftler tun sich leichter dort einzureichen, vielleicht weil sie die Sprache sprechen oder die Strukturen kennen. Hanna Schimek: Ja, und die Förderungsanforderungen, die man zu erfüllen hat, bedeuten für zwei Personen meistens drei Monate volle Arbeit. Da muss man auch fast immer beraten werden und dann braucht es eine perfekte professionelle Englisch-Übersetzung. Und es ist abzuwägen, ob das überhaupt einen Sinn hat oder ob man es sich schlichtweg auch leisten kann, drei Monate dafür einzusetzen, wenn dann die Chancen so wie bei jedem juryabhängigen Projekt sehr gering sind.

Hanna Schimek: Genau, genau. Gustav Deutsch: Ja, aber deine Frage war ja, hilft es uns? Und das ist eben überhaupt nicht der Fall. Im Gegenteil. Es wird jetzt definiert und entweder wir fallen darunter oder wir fallen nicht darunter. Und wenn wir nicht darunter fallen, brauchen wir gar nicht einreichen. Also wir haben viele der künst­lerischen Forschungsprojekte ja ohne großartige finanzielle Hilfestellung und ohne Definition gemacht. Jetzt gibt es Mittel dafür und jetzt sind sie für uns nicht mehr verfügbar. Und das ist jetzt sehr nett, wenn du sagst, man muss flexibel bleiben, aber es ist existenziell. Es ist für Künstler existenziell. Das heißt also, es gibt in dem Moment, wo es möglich ist, Förderungen einzureichen, für uns keine Möglichkeit mehr heranzukommen. Außer man wird wie in dem Fall FILM.STADT.WIEN von jemandem eingeladen, der unsere 22

Gustav Deutsch: Was ich auch noch zur Kooperation mit Wissenschaftlern sagen wollte, für uns hört ja eine Arbeit erst dann auf, wenn sie unseren Anspruch als Künstler erfüllt. Also bevor ein Film fertig ist, höre ich nicht auf zu arbeiten, auch wenn sich der Zeitrahmen des Projekts dem Ende zuneigt oder wenn die Mittel aus sind. Und das ist etwas, was wir in einer wirklich interdisziplinären Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern noch nicht gefunden haben. Das ist etwas, was ich schon gerne einmal erleben würde. Bei Wissenschaftlern ist ja der Druck noch viel höher. Während man das eine Projekt macht, muss man schon wieder das nächste einreichen, es müssen Spin-offs entstehen, es gibt wahnsinnig viele Anforderungen. Und dass man während der Zeit einfach intensiv an einem Projekt zusammenarbeitet, das ist echt schwer.

Hanna Schimek: Ich sage etwas anderes zur Zusammen­ arbeit zwischen Kunst und Wissenschaft. Die Wissenschaftler haben bei dem FILM.STADT.WIEN Projekt für die Einreichung ein Piktogramm erstellt, das war eine Zeichnung, die dargestellt hat, wie sie sich die Arbeitsmethode für diese zwei Jahre vorstellen. Und wir – ich kürze es ab – waren begeistert davon. Wir haben mit einer Freude diese Spielregeln – denn auch das war eine Spielregel – aufgenommen und gesagt, das spielen wir jetzt. Wir haben sie interpretiert und von der Methode eins zu eins umgesetzt. Die Wissenschaftler haben sich hingegen während des Projekts gar nicht mehr darauf bezogen. Interessant und anregend habe ich daran gefunden, dass wir also generell viel mehr am Plan geblieben sind, die Wissenschaftler haben für meine Begriffe viel chaotischer gearbeitet, ihre Ergebnisse waren dann aber sehr präzise.

sind und anders an die Dinge herangehen als Wissenschaftler. Wenn das für einen bestimmten Zweck ausgenützt wird, dann ist es sehr schlimm. Da wird künstlerische Produktivität instrumentalisiert.

Gustav Deutsch: Ich meine, man hat natürlich mehr Freiheit als Künstler. Wir benutzen ja Begrifflichkeiten frei von der Leber weg. Wissenschaftler müssen sich sofort absichern, sofort beweisen, dass das wirklich stimmig ist, den Begriff herleiten, wer schon darüber geschrieben hat und so weiter. Das ist ja alles ein Rucksack, den man mitschleppt, den wir nicht haben. Wir sagen, wir machen das, und stellen Kategorien auf und nach diesen Kategorien gehen wir vor. Und zum Schluss fragt uns keiner: Könnt ihr das auch beweisen? Aber ein Aspekt des Erkenntnisgewinns oder der wissensgenerierenden Möglichkeit der künstlerischen Forschung ist mit einer großen Gefahr verbunden. In dem Moment, wo das erkannt wird, wird es natürlich sofort verwendet. Unternehmen sind ja nur auf der Suche nach so etwas, wenn es die Industrie oder den Kommerz stärkt. Zum Beispiel Künstler, die in Betrieben quasi als Mitarbeiter eingesetzt werden, weil sie eben so innovativ 23

GESPRÄCH mit Hofstetter Kurt Gerda Lampalzer: Vielleicht kannst du kurz erzählen, wie du dich dazu entschieden hast, in einer Mischform zwischen Kunst und Forschung zu arbeiten. Hofstetter Kurt: Es hat in mir eigentlich immer schon eine Sehnsucht gegeben, dass man meine Spekulationen oder theoretischen Abstraktionen, die ich mir zusammengereimt habe, irgendwo tatsächlich erfahren kann. Ich habe mir in den 1980er Jahren – relativ zufällig, würde ich sagen – ein skulpturales Element zurechtgelegt, das eigentlich ein Pendel­ uhrwerk sein sollte, wobei das Pendel zwei parallele Stäbe haben musste. Das ist ein rein formaler Zugang gewesen und ich konnte das auch nicht sofort erklären. Ich bin dann aber draufgekommen, dass das eine klare Aus­formulierung eines stehenden Pendels war. Und diese Ausfor­mulierung hat dann zu Parallelität und Kreislauf geführt. Ich habe mich damals mit Computern beschäftigt und mit dieser Regel, dass 1 und 1 wieder 0 ergibt, also zweimal den Schalter betätigen wieder ausschalten ist. Und die Beschäftigung mit dieser algebraischen Struktur des dualen Raumes und der Formulierung, dass also 1 und 1 wieder 0 ist, habe ich auch formal weiter gedacht. Und zwar so, dass die Einser Striche sind, also dass zwei Striche kongruent einem Kreis beziehungsweise Null sind. Und diese Spielereien oder der Umgang mit diesen Dingen haben mich dann zu einer theoretischen Neugierde bezüglich Parallelität und Kreislauf geführt, nämlich dass diese visuelle Form eigentlich tatsächlich symbolisch für ein stehendes Pendel stehen kann. Das habe ich auch einmal gegenüber einem Wissenschaftler formuliert und der hat sich sehr interessiert gezeigt und das tatsächlich bejaht. Sie haben dann voller Neugierde weiter gefragt, was ich damit meine und wie ich das jetzt sehe und so weiter, und das war mehr oder weniger der Moment, wo ich dann irgendwie in 24

einen wissenschaftlichen Dialog hineingekommen bin. Ich habe damals bei einer Wissenschaftsmesse im Austria Center ausgestellt und dieses Pendulum gezeigt und habe da schon Austausch und Feedback bekommen. Deswegen bin ich da an solche Fragestellungen angedockt und die haben sich dann irgendwie weiterentwickelt. Gerda Lampalzer: Hast du dich über die Gymnasialausbildung hinaus mit Mathematik beschäftigt? Anders kommt man ja schwer auf solche Überlegungen. Hofstetter Kurt: Ja, ich habe Mathematik studiert. Ich habe die Vorstellung von solchen Sprachen schon gehabt und sie praktiziert und war diese Andockmanöver durchaus gewohnt. Gerda Lampalzer: Und wie ist es dann zur Entscheidung gekommen, das künstlerisch zu äußern? Hofstetter Kurt: Das Wesen meiner Neugierde ist ja, dass ich so etwas sinnlich erfahren möchte. Und es ist – ich habe es zuerst schon gemeint – eigentlich formal entstanden. Ich konnte durch meine Vorgeschichte – weil ich Mathematik studiert hatte – aus einer künstlerischen Arbeit, eben einer Skulptur, an solche sprachlichen Formulierungen anknüpfen. Und das hat wieder Feedback in die Kunst gegeben, da bin ich wieder neugieriger geworden. Wenn die Wissenschaft Interesse zeigt, gibt mir das wieder eine Stimulation, es weiter zu entwickeln. Und das hat sich bis jetzt eigentlich immer so ereignet. Die Basis ist jedes Mal die künstlerische Arbeit, das ist das Faszinierende, wo ich selber fast Zuschauer bin. Dann gibt es ein wissenschaftliches Feedback und dann forsche ich weiter. Und da gehe ich dann schon tief, weil ich die

Sprachen ja kennengelernt habe und auch durchaus gewisse Dinge formulieren kann, so wie dieses theoretische Symbol des unendlich stehenden Pendels. Gerda Lampalzer: Und diese Pendelthematik hast du dann konkret in das Sun Pendulum einfließen lassen. Vielleicht kannst du kurz beschreiben, wie sich das entwickelt hat. Hofstetter Kurt: Ich wollte zu Parallelität und Kreislauf – was die Mathematiker ganz klar als dasselbe sehen – Alltagserfahrungen haben. Und daher habe ich meine öffentlichen Kunstwerke dahingehend ausgelegt. Ich habe Räumlichkeiten gefunden, wo sich die Menschen tatsächlich parallel richten. In diesen Durchgangschleusen zwischen S-Bahn und U-Bahn pendeln die Menschen tatsächlich parallel zueinander und lassen das über die Zeit zu einem Kreis werden. Also jeden Tag 100.000 Leute in der Früh vom Südpol kommend, von der S-Bahn zur U-Bahn gehend, und am Abend vom Nordpol, von der U-Bahn zur S-Bahn wieder zurück. Über diesen Zeitkreislauf wollte ich das dann tatsächlich umsetzen. Ich wollte, dass sie – es ist zwar niemandem bewusst, aber das ist ja wurscht – ein unendlich stehendes Pendel vollführen. Und das habe ich dann mit dem Werk am Südbahnhof auch so durchgezogen. Speziell für diese Situation der Menschen, die sich auf den Rollbahnen stehend parallel von und zur Südbahn bewegen, habe ich einen Kommunikationskreislauf installiert, indem ich an einer bestimmten Stelle zwei Augen über die Zeit kommunizieren lasse. Und das ist für mich nichts anderes als Parallelität und Kreislauf, die hier erfahrbar sind. 1996 habe ich das weiterentwickelt und mir gedacht, wenn ich die Erde selber betrachte, dann gibt es auch immer zwei parallele Seiten. Es gibt die Lichtseite und die Schattenseite, die durch die

Erdrotation in Kreislauf kommen. Und die Erde kreist ja auch um die Sonne. Und diese Parallelität, gleichzeitig Schatten und Licht oder Tag und Nacht, hat mich dann zu diesem Sonnenpendelprojekt geführt, wo ich tatsächlich in zwölf Zeitzonen rund um die Erde Videokameras in den Himmel gerichtet und an das Internet angeschlossen habe. Und an einem Punkt der Erde stehen zwölf Monitore im Kreis, die online mit diesen Zeitaugen – so nenne ich sie – verbunden sind und diese Bilder Tag und Nacht parallel ausstrahlen. Wenn man in der Mitte dieses Kreises ist, kann man gleichzeitig Tag und Nacht erleben, gleichzeitig Mittag vorne und Mitternacht hinten und wie Mittag rund um die Erde geht oder wie Mitternacht rund um die Erde geht. Also in diesem Kreis der zwölf Monitore sind gleichzeitig alle Zeiten da, was natürlich auch wieder ein Stillstand ist. Es gibt dann quasi keine Zeit, weil alle Zeiten gleich da sind. Und die Idee mit diesem stehenden Pendel hat mir natürlich auch eine Affinität gegeben, das umzusetzen. Gerda Lampalzer: Ich habe es mir im Internet schon angesehen, es ist auch so ein gleichzeitig woanders sein, vor allem wenn man mehrere anwählt und dann denkt, aha dort ist gerade Sonne, dort sieht man Wolken durchziehen und woanders ist eben Nacht. Das ist schon ein interessantes Gefühl, wenn man irgendwo zu seiner Tageszeit am Schreibtisch sitzt und dann sozusagen in die anderen Augen einschaltet. Es ist dadurch sinnlich erfahrbar, das stimmt. Hofstetter Kurt: Ja, weil das Konzept schon so ist, was ja viel ausmacht. Und auch die archaische Neugierde der Menschen. Wenn jemand einmal irgendwie auf Reisen war, dann ist dieses Konzept schon griffig, dann rennen die Radeln sozusagen. 25

Screenshot aus: www.hofstetterkurt.net 26

Gerda Lampalzer: Was ich interessant finde, künstlerische Forschung ist ja oft mit sozialen oder geisteswissenschaftlichen Dingen befasst, in deinem Fall sind es aber die Naturwissenschaften. Trotzdem ist auch der Aspekt der Kommunikation dabei. Als du diese Stationen errichtet hast, sind ja sehr viele Personen beteiligt gewesen. Also ich nehme an, dass du auch einen extrem hohen Kommunikationsaufwand hattest. Hofstetter Kurt: Ja, das ist so schnell dahergesagt, das Konzept, aber wenn man das wirklich umsetzen will, dann entsteht ein Riesenprojekt. Ich habe auch von 1999 bis 2006 gebraucht, um diese Kameras an zwölf Universitäten aufzubauen. Und zwar deswegen an Universitäten, weil erstens Universitäten einen selbstverständlichen Zugang zum Internet haben, zweitens, weil sie auch die notwendige Stabilität und Solidität für ein permanentes Werk haben, und drittens, weil sie zum damaligen Zeitpunkt tatsächlich eine wissenschaftliche Forschung dabei gehabt haben. Wenn man ein Bewegtbild über Internet streamen möchte, dann braucht man eine gewisse Bandbreite. Damals, 1997/98, konnte man sich eigentlich gar nicht vorstellen, dass das überhaupt einmal gelingt. Und da hat es eben ein Forschungsprojekt gegeben, das sich speziell mit dem Himmel auseinandergesetzt hat – Farbe und Form ändern sich eigentlich sehr langsam – und wo das dann programmiert wurde. Gerda Lampalzer: Und haben sie das deinetwegen gemacht oder gab es das Forschungsprojekt schon? Hofstetter Kurt: Das habe ich hier an der Technischen Universität lanciert. Ich habe an den Wissenschaftsminister ein Ansuchen gestellt, dass er dieses Projekt unterstützt und der

Technischen Universität den Auftrag gibt, die Software zu programmieren. Gerda Lampalzer: Und welche Erfahrungen hast du als Künstler während dieser Kooperation mit der Wissenschaft gemacht? Hofstetter Kurt: Da muss man zwei Ebenen betrachten. Die eine Ebene ist die Professorenebene, die ist immer gelungen. Die Ebene mit den tatsächlichen Hackern ist immer eine gewisse Challenge gewesen, weil die ganz anders orientiert waren und gewisse Merkmale ganz anders gesehen haben. Und das musste man dann doch sehr vehement kommunizieren. Aber im Wesentlichen stand die Faszination, an diesem Artand-Science-Projekt zu arbeiten, immer wieder über allem. Wahrscheinlich war es auch eine gute Gesprächsbasis, dass sie mich als Künstler erfahren haben und nicht als Businesstyp. Ende der 1990er Jahre sind ja die ganzen IT-Unternehmen aufgekommen und die hätten ja solche Codecs, die da programmiert wurden, einer Überwachungsfirma anbieten können. Und sie haben mich einfach immer als denjenigen erfahren, der nichts anderes im Sinne hat als seine künstlerischen Dinge umzusetzen. Und das ist schon etwas, was ich vielleicht sogar als ein bisschen besessen bezeichnen würde, dass ich da nicht locker lasse. Du musst dich ja dann immer vor einem völlig anderen Feld definieren. Das ist nicht so, wie wenn du in einer Galerie eine Eröffnung hast und es kommt ein Kurator oder Theoretiker zu Wort und die Künstler sind irgendwo – meistens auch schweigsam – daneben. Da bist du gefordert, da musst du diesem Hacker gegenübertreten und sagen, so und so möchtest du es haben und so weiter. Aber ausgehend von diesem Forschungsprojekt hat sich dann ein Team von Freiwilligen gebildet und aus freien Stücken die Software über sicher fünf, sechs Jahre immer weiter entwickelt. 27

Screenshot aus: www.hofstetterkurt.net 28

Gerda Lampalzer: Und deine Erfahrungen an den jeweiligen Orten, wie war das mit den kulturellen Unterschieden? Das muss ja extrem aufregend gewesen sein, wenn du dann in Kolkata warst oder in Hawaii. Hofstetter Kurt: Ich bin mit der Technischen Universität gemeinsam an Universitäten herangetreten, um zunächst einmal einen Testversuch zu installieren. Und auf Maui /Hawaii ist dann eine permanente Installation entstanden. Und dann habe ich dieses Setting hergenommen und habe es rund um die Erde ganz gleich installiert. Und die Challenge war, das Setting wirklich so aufzubauen. Also in Kolkata sind völlig andere Bedingungen als in Hawaii und in Dubai nochmals andere und auf den Azoren wieder andere. Also rein kulturell, der Computer und die Leitungen sind überall gleich. Es hat gewisse Unterschiede gegeben, wie man das betoniert, wie man den Stahl anfertigt, aber das waren interessante Begleit­ erscheinungen. Das Hauptthema war die Kommunikation. Das heißt, dieses Konzept des Sonnenpendels musste ich rund um die Erde kommunizieren. Und dazu hat es eine Printbroschüre gegeben und – das war ganz wichtig – einen der Landessprache Kundigen, der ein Präsentationsvideo besprochen hat. Es war ganz wichtig, dieses Video in der Landessprache der jeweiligen Kultur zu bringen. Ist eh klar an sich, aber mir war es am Anfang nicht klar. Ich habe dieses Video auf Englisch nach Kairo geschickt und es wurde abgelehnt. Und dann habe ich es auf Arabisch nochmals hingesendet und nochmals und irgendwann Ende 1999 hat es plötzlich geklappt. Gerda Lampalzer: Also du hast nebenbei sozusagen die Gesetze der internationalen Kommunikation gelernt. Du hast mal erzählt, dass du auch ganz tolle menschliche Erfahrungen gewonnen hast.

Hofstetter Kurt: Ja, das muss ich jetzt unbedingt dazu sagen. In jeder dieser Destinationen habe ich ein Gefühl mitgenommen, dass das Humane überall gleich existent ist. Das ist schon eine unglaubliche Erfahrung. Also ich wüsste nicht, wo ich lieber hinfahre, ob jetzt nach Hawaii oder nach Kolkata oder auf die Marshall Inseln, diese Begeisterung, mir zu helfen, hat es überall gleich gegeben. Und die kulturellen Unterschiede waren natürlich für mich in erster Linie faszinierend. Auch deswegen, weil ich mich nicht so theoretisch und auch nicht wirklich belesen vorbereitet habe. Ich bin einfach hineingehüpft mit meinem Projekt, mit meinem kleinen Konzept, und wollte das umsetzen. Und das ist gut gegangen, hätte auch schief gehen können. Gerda Lampalzer: Und in dem Fall ist es ja wirklich so gewesen, dass du als Künstler die Zügel in der Hand hattest und dir die Wissenschaft zugearbeitet hat und nicht umgekehrt. Das ist ja oft ein Problem bei künstlerischer Forschung. Allerdings hast du erzählt, bei deinem letzten Projekt war das nicht mehr möglich, obwohl es zu Beginn ähnlich war, nämlich dass du über eine künstlerische Formenspielerei auf etwas gekommen bist. Vielleicht kannst du das erzählen. Hofstetter Kurt: Ich habe im Jahr 2000 für das Projekt Sun Pendulum den Pavillon konstruiert und das aus finanziellen Bedingungen irgendwie selber in die Hand nehmen müssen. Und ich habe mich dann sehr intensiv mit Zirkelschlägen und Kreisen auseinandergesetzt und eine ganz einfache Architektur gefunden, die für das Projekt tauglich war. Und bei diesen Kreiszeichnungen habe ich entdeckt, dass der goldene Schnitt ganz einfach mit fünf Zirkelschlägen konstruiert werden kann. Das wird ganz anders unterrichtet. Um den goldenen Schnitt im alten Sinne mit Zirkel und Lineal zu konstruieren, braucht 29

man eigentlich elf Schritte. Und ich habe mir gedacht, es ist eigentlich ein Blödsinn, dass man diese faszinierend einfache Konstruktion zurückhält, und habe das unter anderem an ein einschlägiges Journal an der Florida Atlantic University geschickt. Und man soll das nicht glauben, es hat gar nicht lange gedauert, zwei Monate oder so, da sind sie mit offenem Mund zu mir gekommen und haben gesagt: „Herr Hofstetter, wir wollen das veröffentlichen. Es ist ein Wahnsinn, dass das noch nicht in der wissenschaftlichen Literatur vorhanden ist.“ Und dann habe ich so ein Paper bekommen. Also die Wissenschaftler, die veröffentlichen ja ihre Werke immer in Papers. Und das war insofern ganz witzig, als das ein sehr hoch angesehenes Journal ist, es gibt erst einen Einzigen in Österreich, der dort auch ein Paper lancieren konnte. Er ist von der Technischen Universität und er hat sich jahrelang gedacht: „Wer ist denn das, wer ist denn der Hofstetter, den kenne ich gar nicht im einschlägigen Forschungsgebiet?“ Und dann habe ich mich sehr rasch mit Geometrie und Bildern beschäftigt, und zwar mit Anlegeregeln, wie man eine Ebene lückenlos pflastern kann, ohne eine Periode entstehen zu lassen. Das hat mich immer fasziniert. Und irgendwie durch ein zufälliges Moment bin ich draufgekommen, wie man mit einem einzigen Teil ganz einfach eine Aperiodizität konstruieren kann. Man muss nur Überlappungen zulassen. Und das war auch wieder so ein Ding – dass von einem Professor, der sich 20, 30 Jahre nur mit aperiodischen Paketierungen beschäftigt hat, auch dissertiert und habilitiert hat, als Feedback gekommen ist: „Niemand hat Überlappungen, beim Pflastern tut man einfach nicht überlappen.“ Also man muss schon etwas über den Tellerrand hinaus zulassen und dann wieder anschauen. Dann ist diese Methode möglich und ich nenne diese Methode, die sich im Wesentlichen auch immer wieder aus Parallelverschiebung und Kreislauf ergibt, Induktive Rotation. 30

Gerda Lampalzer: Anhand dieses Projekts würde ich gerne zur Frage kommen, wie so eine künstlerische Forschung unterstützt wird. Das Sun Pendulum war ja noch individuell von dir als Kooperation von Kunst und Wissenschaft lanciert. Mittlerweile gibt es Förderungsstellen und Programme und auch teilweise schon universitäre Ausbildungen, da würdest du ja idealerweise hineinpassen. Und du hast es anhand des Projektes mit den Überlappungen ja auch probiert und festgestellt, es passt doch nicht so. Oder es ist eben etwas anderes, was man sich von künstlerischer Seite darunter vorstellt. Vielleicht kannst du kurz erzählen, was da die Probleme waren und wie du das siehst. Du bist ja nicht der Einzige, der sagt, dass die Stellen zwar jetzt da sind, aber gerade die Leute, die seit Jahrzehnten im künstlerisch forscherischen Bereich tätig sind, sich dort gar nicht gefördert fühlen. Hofstetter Kurt: Ja, ja genau. Ich muss vielleicht ausgehend vom Sonnenpendel sagen, die Forschung zur technischen Softwareentwicklung habe eigentlich nicht ich gemacht. Das war schon eine andere Position als jetzt, wo ich selber diese Mustermethode entwickelt habe und weiterentwickeln möchte. Und da habe ich eindeutig verstanden, dass es nicht genügt, noch so eine interessante und tatsächlich von mehreren Wissenschaftlern bestätigte Neuheit anzugehen, sondern da habe ich den Eindruck, dass hier die Maschine der Institutionen greift. Das heißt, wenn ich eine Institution bin und das erforschen möchte, dann kriege ich auch das Projekt. Wenn ich aber ein einzelner Künstler bin, da ist das Vertrauen nicht da. Also die haben Berührungsängste mit den Künstlern. Sie haben allerdings verstanden, dass sie solche Ideen über den Tellerrand hinaus haben wollen, um weiterzukommen. Auch mit etwas besessenerer Haltung, also nicht nur eine Idee haben und dann gleich wieder zur alltäglichen Arbeit gehen,

sondern weiter zu denken und irgendwie auch weiter zu spielen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, dass man das Wort „spielen“ da hineinbringt, weil es nie ein strikter Weg ist, man muss damit spielend umgehen. Das haben sie, glaube ich, schon verstanden, weil sie ja auch zum Beispiel diesen Begriff „Blue Skies Research“ geprägt haben. Wenn ein anerkannter Wissenschaftler sagt, er weiß zwar nicht, was herauskommt, aber er sitzt in der Institution sowieso und er hat seinen Forschungsstab, dann gibt man das Geld. Aber wenn jetzt ein Künstler kommt, überhaupt ein Einzelkünstler, und sagt, er hat eine Idee und die ist irgendwie noch neu und er möchte jetzt die Grundlagen erforschen, dann habe ich verstanden, dass das Vertrauen noch nicht da ist. Ich würde empfehlen, dass sie genau diese Dinge fördern, weil das gegenüber anderen Forschungen ja auch marginale Beträge sind. Wenn man das jetzt wieder so institutionell macht, dann wird fast das Umgekehrte passieren. Dann wird wahrscheinlich der wissenschaftliche Alltag den Künstler einholen, um Berichte zu legen und, und, und. Ich habe auch ein bisschen Bammel gehabt, weil ich dieses Projekt ja eingereicht habe und da neun Forscher waren, für die ich mich vorne hinstellen und auch diesen Report und alle Berichte legen musste. Und ich habe eigentlich nicht gewusst, welche Arbeit mich da erwartet, die ich eigentlich erst erlernen muss. Das wollte ich natürlich auch vom Zeitlichen her nicht so. Gerda Lampalzer: Hast du den Eindruck, dass es nur die Insti­ tution ist, die da im Weg steht, oder meinst du, dass es auch die methodische Seite ist? Also dass die Spielregeln und die Sprache und so weiter dann doch wieder eher von der Wissenschaft vorgegeben sind. Das ganze Konzept ist ja von Wissenschaftlern entwickelt. Haben sie dir jemals zu verstehen gegeben, was sie unter künstlerischer Forschung verstehen?

Hofstetter Kurt: Also ich habe ja öfters im Ministerium angerufen und die haben mir eigentlich gesagt, genau so etwas fördern sie. Aber wenn man sich die Projekte ansieht, die sie fördern, ist es ganz diametral entgegengesetzt. Also das sind genau nicht diese Einzelkünstler, die sich da irgend­ welchen Ideen verschrieben haben und die Grundlagen erforschen wollen. Da treten diese ganzen Regeln der wissenschaftlichen Institutionen wieder zutage, auf Nummer Sicher zu gehen, um auch dem Steuerzahler gegenüber dieses Geld rechtfertigen zu können. Eine wissenschaftliche Blue Skies Research ist immer noch etwas anderes als eine künstlerische Forschung. Die können sagen, sie sind diesen Weg gegangen – wie du richtig sagst, das ist die Sprache –, sie können formulieren, das hat zu dem und dem Ergebnis geführt oder nicht geführt, und können das in den Bericht hineinschreiben. Aber was mache ich, wenn der Künstler nichts zu sagen hat? Wenn er weiß, das kann nur so weiter­ gehen, aber er kann das nicht formulieren. Wie gehe ich damit um? Das ist alles nicht gelöst. Ich nenne meine Muster­ methode – wie gesagt – Induktive Rotation und die Bilder konnte ich schon seit 2008 vorlegen, also da konnten sie gar nicht mehr aus. Diese irrationalen Bilder, die haben sie vor sich gehabt, aber sie haben mir nicht vertraut, dass mit dieser Methode genauso Videos oder auch Musik entstehen können, die spezielle Erfahrungen zutage fördern. Und nur wenn ich mit Künstlern darüber rede, ist das eigentlich interessant. Gerda Lampalzer: Das heißt, der Fokus ist nicht der, dass das erwünschte Ziel ein Kunstwerk ist. Der Fokus ist eigentlich, dass unter Umständen Künstler bei einer Forschung mitmachen, es aber dann schlussendlich im Bereich der Wissenschaft oder zumindest in der Theorie stecken bleibt? 31

Hofstetter Kurt: Also ich habe jetzt wieder von Künstlern gehört, es ist noch komplexer, es geht auch um Themen. Und wenn du nicht in den Themenkreis des Kuratoriums hineinfällst, dann gibt es sehr wenige Möglichkeiten, da durchzukommen. Und diese Themen sind natürlich von einem Kuratorium, dessen Hauptfunktionäre Wissenschaftler sind. Das müsste meiner Meinung nach radikal aufgebrochen werden, wenn man sagt, dass man jetzt auch was für die Kunst haben will, weil die Kunsthochschulen jetzt auch Universitäten sind und auch Forschung betreiben. Man hängt sich an irgendwelche Mechanismen dran, die natürlich so agieren, wie sie immer agiert haben. Gerda Lampalzer: Du hast gesagt, du warst sogar sehr gut eingestuft, es ist aber dann nie zu einem Abschluss gekommen. Und deine Konsequenz daraus war, dass du es jetzt wieder als künstlerisches Projekt machst, so wie du es gewohnt bist. Hofstetter Kurt: Ja. Ich mache es wieder so, wie ich es immer mache. Wo ich als Künstler das Sagen habe und mich durch keine Wissenschaft rechtfertigen muss. Mir bleibt kein anderer Weg als die notwendigen Gelder als Künstler zu akquirieren, damit das Projekt was wird. Ich bin wirklich C1 beurteilt, das ist die höchste Stufe der Beurteilung, und sie haben es mir trotzdem nicht gegeben. Dafür ist mittlerweile eine enge Zusammenarbeit mit der Universität Bielefeld entstanden und eine wissenschaftliche Publikation auf höchstem Niveau im renommierten Moskauer Journal Proceedings of the Steklov Institute of Mathematics im Springer Verlag gelungen. Gerda Lampalzer: Das heißt, es ist wirklich so, wie du es ganz schön formuliert hast, man ist Gast in einer Struktur, die es schon gibt, und man müsste sich eigentlich seine eigenen Strukturen aufbauen. 32

Hofstetter Kurt: Ja, oder man muss es in dieser Struktur zulassen, dass hier ein Künstler am Werk ist. Gerda Lampalzer: Ich habe den Verdacht, dass die Definition, was künstlerische Forschung ist, noch gar nicht richtig passiert ist. Oder dass es da viele Zugänge gibt. Und das wäre ja auch das Interessante. Hofstetter Kurt: Für mich gibt es diesen Unterschied zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Forschung eigentlich gar nicht. Und es gibt Beiräte, die sind alle fit meiner Meinung nach. Wenn ich das lese, was die so schreiben, habe ich das Gefühl, die verstehen die Problematiken. Aber da gibt es meiner Meinung noch was. Es geht irgendwie um einen Moment, wo ein Künstler dann sagt: „So und jetzt ist es fertig.“ Solange er nicht so weit kommt, ist irgendetwas nicht in Ordnung. Und das ist für mich künstlerische Forschung im wahrsten Sinne des Wortes, wahrer kann ich es gar nicht bezeichnen. Auch wenn es jetzt klassisch nicht als Forschung bezeichnet werden darf. Und diese Art von Forschungen, die ich da jetzt meine, kann nur funktionieren, wenn man sie einfach unterstützt. Und ich glaube, man kommt sehr bald drauf, wenn es jemand ernst meint. Das ist gar nicht so ein Fragezeichen, so dass man sagt, der sagt ja nichts und das kann man nicht beurteilen. Das kann man sehr wohl beurteilen und das Gefühl verstehen eigentlich alle. Gerda Lampalzer: Es geht im Grunde um ein gewisses Vertrauen in die Disziplin. Hofstetter Kurt: Ja, Vertrauen in die Kunst eigentlich.

33

Gespräch mit Simonetta Ferfoglia und Heinrich Pichler (Gangart) Gerda Lampalzer: Ich würde das Gespräch gerne mit einem Rückblick anfangen. Ich habe meine GesprächspartnerInnen ja danach ausgesucht, dass sie für meine Begriffe schon in ihren frühen künstlerischen Projekten eine forschende Arbeitsweise verfolgt haben und das selbst auch so darstellen. Mich interessiert zunächst einmal, warum und wie ihr euch zu dieser Arbeitsweise entschieden habt. Simonetta Ferfoglia: Es sind sicher mehrere Punkte, aber ich glaube, ein wichtiger Punkt ist ein politisches Interesse daran, wie Gesellschaft und vor allem wie Städte funktionieren. Um das zu begreifen, ist es wichtig, die Bestandteile nicht nur in der Jetztsituation, sondern über die Zeit und auch über transversale Räume zu suchen. Also Standpunkte und die verschiedenen Positionen dazu. Diese Suche wird dann auch zu einer Form des Materials. Die Themen unserer Projekte sind sehr häufig in einer Nachkriegsvergangenheit oder noch näher zu finden und da ist es wichtig, dass es Materialien und Personen gibt, die als Informanten existieren. Und ich würde sagen, ein wichtiger Punkt ist, diese Materialien dann in eine Auslegung und eine narrative Form zu transferieren. Gerda Lampalzer: Und ist die ästhetische Umsetzung auch Teil der Strategie? Eure frühen Projekte waren ja in Räumen, die gar keine Kunsträume waren, zum Beispiel in einem Autosalon. Heinrich Pichler: Es gab 1986 ein erstes Projekt, da hat das Projekt selbst Gangart geheißen. Es fand in einer Reithalle statt und in gewisser Hinsicht hat es sich viel konkreter auf bestehende künstlerische Formen bezogen als andere Projekte. Einerseits auf eine Performancetradition, anderseits hat sich in der Arbeit dann ein ganz konkreter Bezug zu den 9 Evenings in New York ergeben. Das war eine ziemlich wichtige Eventserie 1966. 34

Simonetta Ferfoglia: Damals war es total schwer, Material dazu zu finden, jetzt gibt es Literatur darüber. Und da waren all die Leute dabei, die man vom Konzeptbereich kennt und die auf dem performativen Feld arbeiten. Und das finde ich in dem Zusammenhang sowohl auf uns bezogen als auch allgemein interessant. Heinrich Pichler: Ja, und in dem zwischenzeitlichen Versuch, eine Geschichte zur künstlerischen Forschung herzustellen, also sie nicht nur kontextlos als neue Erfindung beginnen zu lassen, sondern da eine Historie zu konstruieren, da spielt dieses Event eigentlich immer eine große Rolle. Und das war damals auch für uns ein wichtiger Bezugspunkt. Wobei man sagen muss, dass unsere personelle Konstellation damals noch eine andere war. Also es waren verschiedene Ansätze und wir haben das alles sehr lose gelassen. Es war eine Anreihung von sehr unterschiedlichen Performances und es gab dann noch – das war ein bisschen spekulativ für mein Gefühl – eine Idee über formale Kriterien der Wellentheorie, die dann diese einzelnen Abschnitte inspirieren sollte. Also da gab es ganz konkret Bezüge zu einerseits kunsthistorischen Traditionen, die mit künstlerischer Forschung in Zusammenhang gebracht werden, und eben auch ein bisschen spekulativ zu wissenschaftlichen Fragestellungen. Das hat sich dann nach diesen Performances in der Form eigentlich aufgelöst und danach hat eben dieser Schwerpunkt auf eine Aus­ einandersetzung mit dem städtischen Raum und konkreter auch mit der österreichischen Nachkriegsarchitektur begonnen. Das hatte, ästhetisch gesehen, natürlich auch mit einer Beschäftigung mit der Moderne zu tun. Diese Performances waren dann alle sehr apparativ angelegt, wir haben uns viel mit Technologie beschäftigt, das hat eine große Rolle in der Umsetzung gespielt und die Ästhetik der Performances sehr

Screenshot aus: www.gangart.org 35

stark bestimmt. Und zwar dadurch, dass wir als Medium Film hatten, was irgendwie schon mal den Zeitablauf determiniert und bestimmte Umstände benötigt hat, um überhaupt stattfinden zu können. In einem nicht abgeschlossenen Raum mit Film zu arbeiten, das war eine gewisse Herausforderung. Auch technologisch, weil wir mit Mehrfach-Filmprojektionen gearbeitet haben, die synchron laufen mussten, was es damals eigentlich nicht gab. Also das war etwas, was wir selbst erfinden mussten, das heißt wir mussten uns immer viel Kompetenz aneignen und Leute hinzuziehen, die da wirklich Dinge entwickelt haben, um das umzusetzen. Simonetta Ferfoglia: Dieses Filmische ist mit dem Installativen zusammengegangen. Auch jetzt bei einem Projekt in Bulgarien war es so, dass die Installation Teil des Raums war. Nicht als Zusatz oder Kommentar, sondern immer eine Verschränkung vom Filmischen mit der Architektur. Das bedeutet auch eine gewisse Koordination zwischen diesen Medien und wie die Sachen zusammengehen im Ablauf, in der Produktion, im Machen. Gerda Lampalzer: Das bezieht sich jetzt auf die Ästhetik der Räume. Habt ihr auch den Anspruch gehabt, gesellschaftlich in andere Räume zu gehen? Also im Sinn von nicht das reine Kunstpublikum ansprechen, sondern sich zum öffentlichen Raum hin öffnen? Simonetta Ferfoglia: Definitiv ja. Es war eine Idee von breiterer Öffentlichkeit, wobei man das reine Kunstpublikum gar nicht ausschließt. Schon durch dieses Tun waren viele Leute aus verschiedenen Bereichen dabei, die normalerweise nicht Galeriepublikum, vielleicht eher Theaterpublikum oder Filmpublikum sind. Oder vielleicht gar kein Publikum. Das heißt, 36

es hat auch das Interne widergespiegelt, aber es hat natürlich eine Idee von gesellschaftlichem Anspruch gehabt. Auch von politischem Statement gewissermaßen, diese Projekte mit der Nachkriegsarchitektur hatten dann auch Folgearbeiten theoretischer oder medialer Natur. Also es gab zum Beispiel Publikationen über den Abbruch des Fiat-Hauses 1990 und dann auch eine Beteiligung an den Fachausschüssen der Stadt Wien. Das ist ein Thema, das zehn Jahre später wieder aufgenommen wurde. Viele Fotografen haben mit dieser Art von Architektur gearbeitet, was auch ein historisches Statement bedeutet hat. Und uns hat interessiert, dass keine chirurgischen Eliminierungen mehr in diesen Stadt­ teilen stattfinden, für Shopping Malls oder was auch immer. Heinrich Pichler: Es ging nämlich damals wirklich darum, dass der Bedarf an Raumschaffung in den 1950er Jahren auch zu einem nicht unbeträchtlichen Teil an zerbombten Repräsentationsorten gedeckt wurde. Das heißt, es gab an vielen neuralgischen Punkten Nachkriegsbauten. In den 1980er Jahren gab es ein neues erwachendes Selbstbewusstsein der Stadt und da ging es dann schon darum, dass das die leicht zu eliminierenden Stellen waren, während man sich an Gründerzeitbauten nicht herangetraut hat. Und das war ziemlich flächendeckend. Simonetta Ferfoglia: Nützliche Flächen. Also das war einfach ein Immobilienprogramm als ein Verwertungsprogramm auf der einen Seite und auf der anderen Seite war es auch interessant, wie sich in dieser Zeit Ideologien manifestierten. Also zum Beispiel dieser Architekt des Fiat-Hauses Carl Appel war ein moderner Ingenieur, der auch ein ganz wichtiges Patent für die vorgehängte Fassade hatte. Diese Glasfassade, die auf drei Seiten diesen extrem kinematischen Raum zum Stadtraum auf-

gemacht hat, ist ein Patent, das man überall verwendet hat. Es wurde zum Beispiel in Heathrow / England von Norman Foster eingesetzt. Und die Wahl dieser Räume für unsere Performance FIAT 1988 hat dieses Interesse, das Vorzeigen und Aufzeigen und das Sich-Artikulieren in diesen Räumen als Grundlage gehabt. Und auch später, bei anderen Themen, ist der Raum immer ein Dispositiv gewesen, wobei wichtig ist, dass man nicht etwas hineinstellt, sondern dass man wirklich transversal arbeitet. Die Ästhetik hat einfach stark damit zu tun. Wenn es eine gewisse räumliche Größe gibt, dann muss auch die Handlung, die man vollzieht, passen. Ich meine, es geht sicher auch ganz leise, aber wir mussten mit diesen historischen Raumäußer­ungen zumindest die Lautstärken anpassen. Gerda Lampalzer: Und wenn ihr das auf jetzt bezieht, gibt es da Kontinuitäten? Simonetta Ferfoglia: Ich würde sagen, es gibt starke Kontinuitäten. Also wir haben jetzt gerade eine Arbeit in Russe/ Bulgarien gemacht – das ist einer der Standorte der CanettiStiftung –, und zwar über Demonstrationen, die Mitte bis Ende der 1980er Jahre stattgefunden haben. Das waren im Grunde Umweltproteste, die im alten sozialistischen System nicht nur von der Bevölkerung, sondern sogar von der Politik getragen wurden. Das war einer dieser Brennpunkte in den Ostländern, die dann zur Wende geführt haben. Das war extrem interessant, wir waren relativ lange dort und haben über die Stadtarchive und auch über persönliche Erinnerungen operiert. Es gibt dort das Canetti-Haus, das Handelshaus der Eltern von Elias Canetti, das ist ein Stadtraumhaus. Im Umfeld sind aber diese Exfabriken, die dann geschlossen wurden. Es ist total wichtig, das territorial und auch geschichtlich zu korrelieren. Die junge Generation weiß zum Beispiel nichts darü-

ber, zero. Und dieses Gelenk zwischen Wissen und Nichtwissen ist fantastisch und was man da in diesem Loch machen kann. Auch an diesem Projekt waren viele Leute beteiligt, die irgendeine spezielle Expertise haben. Heinrich Pichler: Du hast vorher diese Frage nach einer Offenheit im sozialen Sinn angesprochen. Da sehe ich schon einen Unterschied zwischen heute und damals. Also um nochmal darauf zurückzukommen, wir waren immer extrem heterogen und die Arbeit hat immer im Team stattgefunden. Wir beide sind so ein bisschen die Kontinuität, haben uns aber eigentlich nie als diejenigen verstanden, die das Projekt ausmachen, sondern als eine Art Impulsgeber. Und die Projekte sind immer dann gut geworden, wenn das Team aus Leuten bestand, die das als ihr eigenes Projekt verstanden haben. Die 1980er Jahre habe ich in Wien als eine sehr positive Zeit empfunden. Vielleicht ist das auch meine Biografie, aber ich finde, dass sie sehr energetisch, sehr produktiv, auch sehr nach vorne blickend war. Und für uns war es nicht wichtig, uns irgendwo zu positionieren, sondern eher in dieser allgemeinen Stimmung so zu arbeiten. Und deshalb waren auch Leute aus wirklich vielen verschiedenen Bereichen dabei, die ja nicht immer mit uns zu tun hatten. Also Kernleute, die bei uns mitgemacht haben, haben relativ wenig mit Kunst zu tun gehabt. Da gab es wirklich alles. Der zweite Punkt ist, dass einfach weit über 50 Prozent Leute dabei waren, die nicht aus Österreich gebürtig waren. Simonetta Ferfoglia: Was jetzt, glaube ich, ziemlich üblich ist. Heinrich Pichler: Ja, aber damals ist mir die Heterogenität unter uns extrem aufgefallen. Und das Publikum war schon kulturell interessiertes Publikum, aber auch im Sinne dessen, was in 37

den 1980er Jahren vom Underground her passiert ist. Also da hat es auch viele soziale Schichten gegeben und Musik war dabei ein wichtiger Punkt. Und das hat sich aber schon gewandelt. Gerda Lampalzer: Eine wichtige Frage ist für mich, ob sich so eine Arbeitsweise, die eben stark teamorientiert ist und verschiedene Disziplinen vereint, auch auf die eigene Lebenspraxis auswirkt. Würdet ihr da einen Zusammenhang sehen? Simonetta Ferfoglia: Ich glaube ja. Und ich glaube auch, dass zum Beispiel in Projekten wie der Russe-Geschichte – im Grunde ist es auch oft im Unterricht so – etwas möglich wird, was man aus eigener Kraft nicht machen könnte. Also das heißt, dass alle etwas von dem eigenen Ego wegschneiden, und auf der anderen Seite baut sich etwas auf, was es sonst in dieser Form nicht gäbe. Es ist eigentlich sehr nahe am Filme­ machen. Also ich glaube, dass unsere Praxis sehr nahe am Filmemachen ist, auch wenn die Produkte nicht immer Film sind. Oft sind es Abfolgen im Raum, die nicht als filmisches Produkt existieren, aber sie sind filmisch von den Expertisen her und von der Art und Weise zu arbeiten. Aber deine Frage ist, ob es sich in der eigenen Praxis, in der eigenen Biografie oder im eigenen Sein auswirkt?

Simonetta Ferfoglia: Also ich glaube, es wirkt sich aus, aber ich glaube natürlich auch, dass man einen Zugang dazu haben muss.

Gerda Lampalzer: Ich frage es unter anderem deshalb, weil ich ja auch den Bogen zu heute spannen möchte. Teamarbeit war natürlich in den 1980er Jahren auch zeitgeistig, es ist kein Zufall, dass sich Ende der 1970er, Anfang der 1980er diese ganzen Medienzentren oder Kollektive gebildet haben. Aber mittlerweile ist meine These, dass diese Arbeitsweise mehr als nur zeitgeistig war. Dass es schon eine Art Kraft gibt, was man sich da angeeignet und entwickelt hat, und etwas ist, was man heute gut brauchen kann. Denn wie du schon angedeutet hast, die 1980er Jahre waren eher positiv und sehr offen und sehr frei und auch die Kunst wurde positiv gesehen und gefördert. Das hat sich ja total geändert, heute ist es eigentlich eher schwer geworden.

Heinrich Pichler: Ich kann es schon sagen. Ich hatte vor Gangart eine angefangene Künstlerkarriere, die nicht so schlechte Voraussetzungen hatte, weil ich in einer guten

Simonetta Ferfoglia: Also Ende der 1980er Jahre und in den 1990er Jahren waren unsere ganzen Museumsarbeiten und ich glaube, dass sich wahnsinnig viel geändert hat.

Gerda Lampalzer: Auch. Oder in der Haltung.

38

Kollegenschaft gestartet bin und in einer guten Galerie, nämlich der Galerie nächst St. Stephan. Und in den 1980er Jahren gab es halt in der bildenden Kunst eine deutliche Produktorientiertheit und demensprechend dann im Umgang damit auch ein stark geschäftlich orientiertes Modell. Und das hat mich mit großem Unbehagen erfüllt. Und es war dann eigentlich schon eine Entscheidung, ob ich das weiter betreibe oder in einem Kontext sein möchte, in dem es um Zusammenarbeit, um Kommunikation und Vielfalt und auch um nicht deutliche Identifizierbarkeit geht. Also weil du nach der Biografie gefragt hast, das war dann schon eine Entscheidung für das Unfassbare gegenüber einer sehr klar umrissenen Geschichte. Und ich meine, die Kollegen, das waren der Brandl, der Rockenschaub, der Zitko, also das war sozusagen ein vorgezeichneter Erfolgsweg.

Screenshot aus: www.gangart.org 39

Also von singulären Show Ups, wo man diese magnetische Power auf sich nimmt und ausformuliert, ist das jetzt zu einem Gleichzeitig-laut-Sprechen geworden. Es ist einfach wahnsinnig viel los und es hat sich auch viel im institutionellen Bereich geändert. In den Anfangszeiten unserer Projekte im Museum für angewandte Kunst (MAK) hatten wir einen Direktor hinter uns und vom Techniker bis zum Kurator war klar, wir müssen eine Ausformulierung treffen. Mit 2002 hat die Privatisierung der Museen stattgefunden und das MAK ist eine Eventmaschine geworden. Das heißt, für jeden Techniker ist es jetzt viel besser, für den Kardiologenkongress Türsteher zu sein oder das Licht anzubringen, weil er extra bezahlt wird. Und das gilt für alle Organe dieses Museums. Eigentlich sind die Ausstellungen Störfaktoren geworden und das nicht nur im MAK. Die Nutzung dieser Wissensdepots ist unter ein anderes Paradigma gestellt. Das ist nicht immer der Fall, es hat auch mit der Seriosität der Kuratoren und Kuratorinnen zu tun, aber eigentlich ist das eine Produktionsmaschine, die wirklich eine Partymaschine ist. Im Grunde stimmt das, was du über eine gewisse Kraft und Erfahrung sagst, auf die man als Paradigma zurückschauen kann, aber der Kontext ist sehr verschoben, ich glaube, es ist nicht alles benutzbar. Heinrich Pichler: Ich glaube, es ist auch kein Zufall, dass unsere künstlerischen Projekte in den letzten Jahren größten­ teils nicht hier stattfinden, sondern eigentlich dort, wo Gesellschaften noch irgendwie mehr Offenheit gegenüber Dingen haben, die passieren. Also wir sind viel in Südosteuropa, im Kaukasus und so unterwegs gewesen und fanden dort im günstigsten Fall so eine Aufbruchsenergie vor. Oder jetzt ging es eher um einen großen Zweifel, weil es ja auch um Proteste ging. In Bulgarien und Rumänien finden im Moment ganz massive Proteste statt. Aber da ist trotzdem etwas da, was 40

einen grundlegenden Zweifel an dem hat, was sich hier festgefahren hat. Und das ist jetzt nicht etwas, was wir bewusst gemacht hätten, aber es hat sich herausgestellt, dass das die Orte sind, wo wir die Energien versammeln können, um die Art von künstlerischer Arbeit zu machen, die wir eben machen. Was hier schwieriger ist. Simonetta Ferfoglia: Und das hat nicht nur mit Geld zu tun. Heinrich Pichler: Das Geld kommt hauptsächlich von hier. Gerda Lampalzer: Vielleicht konkretisieren wir das noch auf die künstlerische Forschung. Ihr habt an dem Projekt Troubling Research teilgenommen, wo das ja genau Thema war. Ich kann mich erinnern, dass du in dem Zusammenhang einmal gesagt hast: „Wir machen eigentlich dasselbe wie vor 20 Jahren, aber jetzt werden wir unter dem Begriff künstlerische Forschung dafür bezahlt.“ Trotzdem gibt es auch ein Unbehagen damit und vor allem mit den institutionellen Anbindungen und mit der Wertung des Künstlerischen darin und so weiter. Und mich interessiert natürlich, wie sich das eurer Meinung nach geändert hat und wie ihr die Situation jetzt einschätzt. Jetzt gibt es den Begriff, der ja so herrlich passen würde und wo viele sich finden könnten, die schon lange so arbeiten, aber es finden sich viele dann doch nicht darin wieder. Simonetta Ferfoglia: Ich glaube, es wird institutionalisiert, wie alles. Und in irgendeiner Form ist das vielleicht dann das, was in die Geschichte eingeht, weil es dann die Publikationen und die akademische Wahrnehmung gibt. Mitte 2000 ist so eine Art Kodex für die Museen eingerichtet worden, also was man darf und was man nicht darf. Und ich weiß, dass wir

lange in den Depots „zu Hause“ waren. Das war immer der Bereich, wo die Leute waren, ein Ort, wo man verweilt. Die Depots waren das große Geschenk dieser Zeit. Und jetzt ist es so, dass es nicht mehr möglich ist, an Objekte heranzukommen. Du musst schon wissen, welches Objekt du vom Kurator aus holen lassen willst, und wenn du eine gute Begründung hast, legen sie es dann so eine Woche später auf den Tisch. Das heißt, die Depots, diese informellen Wissensdinge, sind nicht mehr betretbar. Heinrich Pichler: Also auch für wissenschaftliche Arbeiten kannst du als Nicht-Museumsangestellter, als externer Wissenschaftler, nicht mehr an die Objekte. Und das ist irgendwie verrückt. Dein Einstieg zu dem Thema war, ich hätte gesagt, hier werde ich bezahlt für etwas, was wir immer schon getan haben. Das habe ich nur auf dieses Forschungsprojekt Troubling Research bezogen. Bei dem ging es darum, genau diese komplexen Verhältnisse zu befragen und sich nicht in dem institutionell vorgefertigten Schema von „artistic research“ einfangen zu lassen. Und der zweite Punkt war, dass es um das hegemoniale Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst ging, was eben gerade in Troubling Research auch in Frage gestellt werden sollte. Wenn man „artistic research“ in einem institutionalisier­ ten Rahmen befragt, dann ist „artistic“ immer das Attribut zu „research“. Das heißt, bestimmend ist immer der Forschungsbereich. Und das geht sich mit „artistic“ eigentlich nicht aus. Das heißt, es ist in dieser Konstellation aufgelegt, dass die Kunst dabei den Kürzeren zieht und im Endeffekt eigentlich missbraucht wird. De facto. Das war auch so in einem anderen Projekt, wo wir dabei waren, und ich glaube auch, dass es das klassische Verhältnis ist. Die Kunst illustriert die wissenschaftliche These. Viel anderes ist nicht drinnen.

Gerda Lampalzer: Also ihr bestätigt das, was fast alle empfinden, die sich damit befassen. Dass eigentlich das, was „artistic research“ genannt wird, nicht das ist, was man als Künstler drunter versteht. Ich wollte aber noch zu dem vorigen Punkt mit diesem Kodex sagen, dass für mich mittlerweile so etwas wie ein Vertrauen oder ein Glauben daran, dass sich etwas ungeplant entwickeln kann, überhaupt nicht mehr da ist. Und dadurch gibt es überhaupt keine Freiräume mehr. Man weiß da nicht, was rauskommt, und wenn man nicht weiß, was rauskommt, kriegt man Angst. Und scheinbar schlägt sich das jetzt auch bis in die Kunstförderung durch, wo man auch eigentlich am liebsten schon im Vorhinein wissen will, was rauskommt. Heinrich Pichler: Ich habe das Gefühl, das hat viel mit Finanzierungsstrukturen zu tun. Zum Beispiel bei Finanzierungen über europäische Gelder macht man die Erfahrung, dass – um eine Förderung zu erhalten – Kriterium Nummer eins ist, beweisen zu können, dass man den Richtlinien und Anforderungen der europäischen Institutionen entsprechend abrechnen kann. Das heißt die administrative Kompetenz steht mal über allem anderen. Da geht es um Kontrolle und da darf natürlich alles, was undefinierbar, unfassbar ist, einfach nicht sein. Also es kann schon passieren, aber es darf zumindest nicht so genannt werden. Und da sind wir eigentlich wieder dort, wo ich gesagt habe, das ist das, was wir schon seit Jahrzehnten tun, aber jetzt werden wir mal dafür bezahlt. Wenn wir das in dieser Troubling Research Projekteinreichung wirklich so dargelegt hätten, dann hätte es das auch nicht gespielt. Gerda Lampalzer: Es kristallisiert sich jetzt ein bisschen heraus, dass man nach der Bedeutung von künstlerischer Forschung eigentlich immer noch suchen kann. Das ist ja auch etwas Positives. Gab es in dem Projekt Troubling Research 41

für euch irgendeine Conclusio? Was das sein könnte oder was ihr euch wünscht. Ist da irgendetwas in der Richtung entstanden oder besprochen worden? Simonetta Ferfoglia: Also ich glaube, dass die Truppe super zusammengestellt worden ist, weil wir viele Inter­ ferenzmomente hatten. „Artistic research“? Hm. Man macht damit das nächste Projekt. Kunstunis einigermaßen zu deinstitutionalisieren ist echt nicht leicht. Das braucht Figuren, die es schaffen, etwas zu machen, was auf der einen Seite formal funktioniert und auf der anderen Seite sehr energetisch ist. Also dieses Herangehen zwischen Physischem und Intellektuellem, zwischen Hand und Fuß und zwischen Versuchen mit Technologie und Methode. Also wo die Ästhetik Teil des Tuns ist. Und ich glaube, dass diese Institutionen Kunstuni und auch Museum total in Erfolgskorsette eingezwängt sind. Ich habe den Eindruck, dass es bei diesen Projekten sehr häufig Konflikte zwischen der Kunstsparte und der Wissenschaft gibt. Also dass die Künstler sich zum Schluss denken: „So what? Was hast du davon?“ Heinrich Pichler: Troubling Research bestand darin, dass man Prozesse beobachtet, dass man sich gegenseitig den jeweiligen Projektfortschritt vorstellt und auch gegenseitig kommentiert. Und das waren, finde ich, eben respektvolle und wirklich produktive Dialoge. Es ging deklariert um gegenseitige Beobachtung zwischen Theoretikern und Künstlern. In den anderen „artistic research“ Projekten – also in dem anderen, wo wir dabei waren – da ging es halt darum, dass das Institut für Politikwissenschaften 50 Forschungsprojekte eingereicht und zwei bekommen hat, eines davon war blöderweise Art and Science und mit dem musste einfach eine Stelle am In42

stitut finanziert werden. Und dann kommen diese Künstler und fordern doch tatsächlich, dass man sich mit Dingen zu materieller Kultur auseinandersetzt, wo es ganz viel Literatur im Bereich der Kulturwissenschaften gibt. Aber das haben die Politik­wissenschaftler alle nicht gelesen, das interessiert sie auch nicht, die wollen nur eine Stelle finanzieren. Und dann war einfach alles, was eine Befriedigung auf der künstlerischen Seite hervorrufen konnte, irrsinnig mühsam durchzusetzen. Simonetta Ferfoglia: Ich glaube auch, es ist eine Frage des Timings. Wenn du forschst, wenn du dir gewisse Sachen anschaust, brauchst du einfach die innere Zeit der Sache. Das ist ein total wichtiger Punkt. Du kannst nicht sagen: „Na spuck!“ Es braucht die innere Zeit von den Leuten, mit denen du zu tun hast, den Büchern, die du im Bezirksmuseum suchst, du musst dich einfach einlassen auf viele kleine Sachen, substantielle und dumme. Und das ist für sie einfach nicht wertvoll. Heinrich Pichler: Das bringt sie akademisch nicht weiter. Was sie dann davon gehabt haben, war, dass wir Künstler in den Gemeindebau gegangen sind und Daten produziert haben, die sie für spätere Sachen durchaus verwenden können. Das war dann ihr Profit. Gerda Lampalzer: Was war das für ein Projekt? Heinrich Pichler: Mobilisierung von Zugehörigkeiten im Gemeindebau. Und das wurde anhand von materieller Kultur befragt.

43

Arbeitsschritte

Befindlichkeiten / Fragen / Überlegungen

28.5.2012

Nachmittag Komplette Sichtung, Markierung der Sprachteile.

44

Gewitterregen. Ich frage mich, ob ich mich mit dieser Geschichte um die Wachaustraße nicht zu sehr verzettele

Nebenhandlungen

Im Schnittprozess

Im Netz finde ich das stenographische Protokoll der 40. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, VII. Gesetzgebungsperiode, Mittwoch, 2. Juni 1954. Zum Thema Wachaustraße: Abg. Dipl.-Ing. Hartmann (ÖVP) zu einem Artikel in der der Niederösterreichischen Volks-Zeitung (Hrsg. SPÖ-NÖ) vom März 1954: „Es ist hier auf der ersten Seite ein ganz schöner und großer Artikel, da steht drüber: „Arbeit für alle!“ Aber sonderbar, wenn man das Blatt umdreht, so sieht man hier auf der letzten Seite ein anderes Bild, übertitelt „Die Wein-Luft-Straße“. Ich bin schon überzeugt, Herr Dr. Pittermann, daß diese Wachauer Straße nicht Arbeit für alle, aber zweifellos Arbeit für viele durch eine ganze Reihe von Jahren bedeutet. (Beifall bei der ÖVP.) Es steht hier in den erläuternden Bemerkungen, in der sogenannten Legende: „Baubeginn: Jedenfalls vor den Landtagswahlen 1954.“ (Abgeordneter Dengler: Wirklich wahr!) Es ist nämlich mittlerweile schon begonnen worden. (Zwischenrufe bei der SPÖ.) Und unter „Bauende“ steht in der Legende - aber bitte, anscheinend kennen das nicht alle Ihre Klubkollegen, Herr Dr. Pittermann, darum erzähle ich es - : „Bauende: Nie.“ Im Jahre 2000, heißt es hier, wird die nächste Entscheidung getroffen.“ (Heiterkeit.) Die wichtigsten Passagen der Debatte: http://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/VII/NRSITZ/NRSITZ_00040/imfname_158490.pdf Seite 1684 – 1685, Seite 1688-1695, abgerufen am 28.5.2012

45

Arbeitsschritte

Befindlichkeiten / Fragen / Überlegungen

25.5.2012 Mittag Erste Sichtung des Films Niederösterreich Land im Aufstieg. Ich verfasse ein genaues Textprotokoll und drucke es aus.

Seit langer Zeit wieder einmal Kopfschmerzen. Das ist also das Niederösterreich meiner Frühkindheit, reine Propaganda. Ich denke an meinen Vater, der in diesem politischen Klima gearbeitet hat. Erste Überlegungen zur Machart des Videos.

25.5.2012

Abend Mit Manfred Oppermann auf der Fahrt nach Grafenegg zur Präsentation des Buchs Wo Kunst entsteht. Lese den Ausdruck vor. Danach Gespräch zum Projekt, aufgenommen mit dem iPhone.

Auszug aus dem Gesprächsprotokoll: GL: Also die Frage ist jetzt, ob ich aus dem Text irgend so etwas wie ein absurdes Gedicht, so etwas Abstrahierendes mache und die Bilder springen mit. Das ist die eine Möglichkeit. Die andere wäre aber, jetzt wirklich die Geschichtsperiode ein bisschen zu recherchieren. MO: Einen sinnvollen neuen Text? GL: Na sinnvoll nicht, aber irgendwie vielleicht bestimmte Dinge, vielleicht kann mich das leiten. Ein verständlicher Text muss es ja trotzdem sein. Ob man sich jetzt auf das Politische einlässt oder nicht, ist die Frage. Weil das ist ja genau die Zeit des Starts meiner Eltern, die haben 1957 geheiratet. Diese ganze Aufbauzeit war genau ihre Frühehe. Weil dieses „Gas und Strom für die fleißige Hausfrau“, das sieht man ja alles in dem Film. Das ist ja köstlich, wie die Kinder gewaschen werden und so. Das hat sie ja mit mir dann ja genau so gemacht. Es hat eben auch diesen persönlichen Bezug. Wir haben sogar genau so eine Badewanne gehabt. Ob man das jetzt irgendwie noch einbaut, das ist halt ein bisschen schwierig, finde ich. Ich muss da ein paar Proben machen. Denn es ist jetzt anders, man sieht den Kommentator nicht und aus Deutsch Deutsch zu machen, da muss man jetzt nicht buchstabenweise schneiden.* Es ist auch leise Musik immer drunter, aber wer weiß, ob das nicht interessant wird. Na, was meinst du, was interessant sein könnte? MO: Ich würde mal anfangen mit einem Teil. Du musst ja erst herausfinden, wie sich das überhaupt anfühlt mit dem Bild und mit dem Ton. Man kann ja jetzt nichts hineinhören, das ist ja das Blöde. GL: Na ja, ich kann das stur so machen. Ich habe es probiert und nur Silben genommen, das geht, auch mit der Musik, man versteht die Wörter. MO: Es ist tatsächlich so, das Charmante an dem anderen Video* war ja die unbewusste Projektion. Und die fällt jetzt weg. Also man muss jetzt die unbewusste Assoziation zu dem Gesagten und zu dem Bild schneiden. GL: Genau so ist es. *Gemeint ist das Projekt TRANSFORMATION, wo verschiedene nicht-deutsche Sprachen zu einem deutschen Text umgeschnitten wurden.

48

Nebenhandlungen

Ich verstehe eine Textstelle nicht: Ein angeblich verächtlicher Spottname für die Wachaustraße von Seiten des – im Kommentar genannt – „Gegners“. Auf der Suche nach Aufklärung stoße ich in google books auf einen Korruptionsfall der ÖVP von 1966, der den heutigen Skandalen um nichts nachsteht. (Stefan Eminger/Ernst Langthaler Hrsg. (2008): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Wien, Köln, Weimar 2008, S.117) Bitte meine Freundin Eva Böck aus Weißenkirchen um Recherche nach diesem Spottnamen der Wachaustraße.

AVID Schnittplatz mit Gartenblick 49

Arbeitsschritte

Befindlichkeiten / Fragen / Überlegungen

27.5.2012 Nachmittag Mehrere komplette Sichtungen.

Kann mich schlecht konzentrieren. Breche die Arbeit ab.

28.5.2012 Nachmittag Komplette Sichtung, Markierung der Sprachteile.

Gewitterregen. Ich frage mich, ob ich mich mit dieser Geschichte um die Wachaustraße nicht zu sehr verzettele.

28.5.2012

Abend Ich versuche ein paar Sätze ganz spontan. „Mein Nieder­ österreich grüßt“ aus sieben Teilen ist kein Problem. Die Musik stört die Verständlichkeit nicht. Neuerliche Sichtung, nur auf die Bilder konzentriert.

Ganz spontan zu schneiden ist mir noch zu beliebig. Könnte gehen, ja, aber mir fehlen die konzeptionellen Anhaltspunkte. Ich lasse das Projekt mal ruhen, in der Hoffnung, dass das Unterbewusstsein ja weiterarbeitet und Ideen an die Oberfläche spült.

30.6.2012 Nachmittag Sichtung ohne Ton. Suche nach interessanten Bildern. Ver­­ suche mit extremem Zeitraffer.

Extreme Hitze. Die lange Pause hat mich ganz aus dem Projekt hinausgeführt. Ich stehe praktisch wieder am Anfang. Es wurde bisher nichts an die Oberfläche gespült.

30.6.2012 Abend Anhand der Transkription und mit Hilfe des Internets positioniere ich die einzelnen Filmpassagen zeitlich.

50

Eine erste Idee dahingehend, bestimmte Textteile jeweils meinen Eltern und mir zuzuordnen und dann umzuschneiden. Also ein sehr persönlicher Ausgangspunkt für den neuen Text.

Nebenhandlungen

Anruf aus Weißenkirchen an der Donau. Frau Böck Senior hat sich sofort erinnert. Der Spottname der Wachaustraße wurde um 1957 von der SPÖ – damals gegen die ÖVP Ausbaupläne – benutzt und lautete „Wein-Luft-Straße“.

Im Netz finde ich das stenographische Protokoll der 40. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, VII. Gesetzgebungsperiode, Mittwoch, 2. Juni 1954. Zum Thema Wachaustraße: Abg. Dipl.-Ing. Hartmann (ÖVP) zu einem Artikel in der Niederösterreichischen Volks-Zeitung (Hrsg. SPÖ-NÖ) vom März 1954: „Es ist hier auf der ersten Seite ein ganz schöner und großer Artikel, da steht drüber: ‚Arbeit für alle!‘ Aber sonderbar, wenn man das Blatt umdreht, so sieht man hier auf der letzten Seite ein anderes Bild, übertitelt ‚Die Wein-Luft-Straße‘. Ich bin schon überzeugt, Herr Dr. Pittermann, daß diese Wachauer Straße nicht Arbeit für alle, aber zweifellos Arbeit für viele durch eine ganze Reihe von Jahren bedeutet. (Beifall bei der ÖVP.) Es steht hier in den erläuternden Bemerkungen, in der sogenannten Legende: ‚Baubeginn: Jedenfalls vor den Landtagswahlen 1954.‘ (Abgeordneter Dengler: Wirklich wahr!) Es ist nämlich mittlerweile schon begonnen worden. (Zwischenrufe bei der SPÖ.) Und unter ‚Bauende‘ steht in der Legende – aber bitte, anscheinend kennen das nicht alle Ihre Klubkollegen, Herr Dr. Pittermann, darum erzähle ich es – ‚Bauende: Nie.‘ Im Jahre 2000, heißt es hier, wird die nächste Entscheidung getroffen.“ (Heiterkeit.) Die wichtigsten Passagen der Debatte: http://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/VII/NRSITZ/NRSITZ_00040/imfname_158490.pdf (Seite 1684–1685, Seite 1688–1695.)

Bin gedanklich noch beim Diebstahl meiner gut mit Dokumenten gefüllten Tasche. Für das Projekt von Bedeutung: Verloren sind das iPhone inklusive Bilder und Sprachnotizen und meine kleine Unterwasserkamera inklusive diverser Fotos und Unterwasseraufnahmen.

Recherchen über die Geschichte der NEWAG und NIOGAS in Abstimmung mit baulichen Zeitangaben im Filmkommentar legen nahe, dass der Film aus dem Jahr 1959 sein muss (Ich habe den Film ohne Credits bekommen). Das ist für mich doch sehr verblüffend, welches Selbstbild das offizielle Niederösterreich damals mit diesem Film vertrat und in welche Atmosphäre ich somit hineingeboren wurde.

51

Arbeitsschritte

Befindlichkeiten / Fragen / Überlegungen

1.7.2012 Vormittag Silbensuche nach Jahren geordnet.

Extreme Hitze. Die Zuordnung einzelner Textpassagen zu bestimmten Personen funktioniert nicht. Es gibt viel zu wenig sprachliches Rohmaterial, weil die Texte immer recht kurz sind. Außerdem ist die Musik in den reinen Bildpassagen extrem laut und dominant. Es gibt ganz wenige Stellen, die man als Zwischenschnitte verwenden kann. Das heißt, die Rohsilben für die neuen Texte müssen doch von Anfang an im ganzen Film gesucht werden.

2.7.2012 Mittag Auf der Fahrt nach Wien (Heiligenstädter Lände, Gürtel) Tonaufnahme ins Handy.

Auszug aus der Tonaufnahme: „Ich überlege, ob ich nicht eine ganz freie künstlerische Form als Vorlage über die Bearbeitung des Materials lege. Ich bin draufgekommen, dass alle konzeptionellen Ansätze, seien sie inhaltlich, über die Geschichte, über meine biografischen Daten, über die systematische Bearbeitung der Bilder, nicht funktionieren. Das muss intuitiv herausgearbeitet werden. Und das Material lässt sich natürlich in verschiedenster Art bearbeiten. Ich habe schon Versuche gemacht mit extremem Zeitraffer, das ist eine optische Möglichkeit, aber es gibt auch zum Beispiel die Möglichkeit, das Bild zu schneiden und die Sprache mitzunehmen, sodass ein unverständliches Kauderwelsch entsteht. Das möchte ich auch noch probieren. Die verschiedenen Gestaltungsversuche sollen zu einem Gesamtstück montiert werden, das eher einer bildnerischen Form folgt und nicht so sehr einem vorausgehenden Konzept. Das heißt, ich muss zulassen, mehr über „trial and error“ zu arbeiten, einfach Stücke probieren, um dann im Prozess die Arbeit entstehen zu lassen. Also verwandter der Malerei und der Zeichnung als dem schriftlichen konzeptuellen Ansatz.“

3.7.2012 Nachmittag Silbensuche. Ich bastle an ersten Sätzen.

Extreme Hitze, Gewitterstimmung Die gezielte Silbensuche, um zu ganzen Sätzen zu kommen, ist recht mühsam.

4.7.2012 Nachmittag und Abend Silbensuche. Erste Sätze fertig.

52

Extreme Hitze Die Bilder werden jetzt einmal mitgenommen. Es tauchen aber schon Wörtlichkeiten auf, die man weiter verfolgen kann.

Nebenhandlungen

Fußball-EM Finale. Spanien besiegt Italien.

Kauf einer Unterwasserkamera. Erste Tests verlaufen positiv.

53

Arbeitsschritte

Befindlichkeiten / Fragen / Überlegungen

5.7.2012 Vormittag und Nacht. Ich mache ein genaues Bildprotokoll. Ich stelle eine MP4-Fassung zum Mitnehmen her. Sie lässt sich zwar aufs Handy kopieren, ist aber viel zu groß.

Bestimmte Motive tauchen immer wieder auf. Vielleicht kann man hier schon mit einer Gestaltung ansetzen. Ich sollte – frei nach Peter Kubelka – das Material auswendig lernen.

6.7.2012 Nachmittag Diverse Komprimierungsversuche für MP4. Werden alle relativ groß. Überspiele die kleinste trotzdem.

9.8.2012 Nachmittag Sichtung der bisherigen Versuche, Abbruch wegen Zeitmangels.

Ich arbeite derzeit am Konzept für ein anderes Kunstprojekt, bringe daher nicht die Konzentration für den Schnitt auf.

14.8.2012 Nachmittag Sichtung des Materials in Etappen, Markierung der Stellen, die ich mit persönlichen Assoziationen verbinde.

Die Parallelführung von Lesen und Schauen ist inspirierend, die ständigen Unterbrechungen wegen anderer Recherchen lassen mich aber nicht ins Material finden. Nachdem ich ohnehin bald wieder verreise, pausiere ich mit der Montage bis Ende des Monats.

1.9.2012 Abend Montage aller Bildfolgen, die ich zu meinen Eltern assoziiere. Den Ton lasse ich weg.

Habe beschlossen, den Ton von den Bildern zu entkoppeln. Das heißt, die strenge Regel, ausschließlich synchrone Bild/Tonpartikel neu zu montieren, ist aufgebrochen. Was das fürs Konzept bedeutet, muss ich erst herausfinden. Es eröffnet vielleicht auch zu viele Möglichkeiten. Vorerst belasse ich es daher nur dabei, den Ton wegzulassen.

4.9.2012 Nachmittag 5.9.2012 Nachmittag Durchsuchen der Documenta-Kataloge aus 2012 und 2013 nach Projekten in Montageform, die als Assoziationshilfen dienen könnten.

54

Wie schon zu Beginn des Projekts (siehe 2.7.2012), entspannt es mich, ungerichtet Ideen an mir vorbeiziehen zu lassen. Unter den Projekten der Documentas finde ich zwar nichts, was mich für mein Projekt inspiriert, die Fülle an Ansätzen öffnet aber meinen engen Horizont. Der Begriff „Montage“ löst sich von seiner narrativen Schwere hin zum Bildgedicht.

Nebenhandlungen

Ich fahre morgen für einen Monat weg, Die MP4-Fassung soll mir erlauben, das Material immer wieder anzusehen.

Ich habe die MP4-Fassung im letzten Monat kein einziges Mal angesehen.

55

Arbeitsschritte

Befindlichkeiten / Fragen / Überlegungen

6.9.2012 Nachmittag und Abend Montage Intro und Titel.

Vorläufiger Titel: Ein Heimatfilm Untertitel: Niederösterreich Land im Aufstieg Sortiert und remontiert von Gerda Lampalzer

8.9.2012 Vormittag 9.9.2012 Nachmittag Sammlung aller Szenen mit Schrift im Bild. Textprotokoll ausgedruckt für Montageversuche zu einem sinnvollen Text.

Ich nehme den Gedanken „Bildgedicht“ wörtlich. Ich versuche, die Szenen, bei denen Schrift im Bild zu sehen ist, zu verbinden. Die Ausbeute an gesprochenem Text ist aber zu gering für ganze Sätze, daher erste Versuche mit Wortwiederholungen und rhythmisiertem Text. Die gedichtartigen Schnitte bringen mich zum ersten Mal auf die Idee, das Material überhaupt in verschiedener Weise zu kleinen Subfilmen zu ordnen.

10.9.2012 Nachmittag 11.9.2012 Nachmittag Genaues Silbenprotokoll für alle Stellen mit Schrift im Bild, dann theoretische Überlegungen zum Konzept.

56

Letzte heiße Sommertage. Ich kann mich schlecht konzentrieren, mich zieht es immer wieder in den Garten. Erste Themenideen: Konkrete Poesie, Krimi, Drama, Bewegung, Propaganda, Zahlen­kombination. Meine drei Seiten mit dem gesamten Textprotokoll werden ins Wasser des Schwimmcontainers geweht. Sie trocknen in der Sonne und haben jetzt eine angenehm gewellte Struktur.

Nebenhandlungen

Die Unmöglichkeit, „Heimatfilm“ ins Englische zu übersetzen, macht mir bewusst, dass der Heimatfilm etwas zutiefst Deutsch(sprachig)es ist. Die direkte Übersetzung „home movie“ bedeutet ja etwas ganz anderes. Laut Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/Heimatfilm) wäre das englischsprachige Pendant zum Heimatfilm der Western. Was ich angesichts des Propagandaanteils von Niederösterreich Land im Aufstieg recht witzig finde.

Das am 10.9.2012 oder 11.9.2012 ins Wasser gefallene Textprotokoll nach seinem Trockenprozess

Protokoll aller Szenen mit Schrift im Bild (schwarz) und bildgenauem zugehörigem Originalton (rot), verarbeitet in Kapitel 5 Konkrete Poesie 57

Arbeitsschritte

Befindlichkeiten / Fragen / Überlegungen

13.9.2012 über den Tag verteilt 14.9.2012 über den Tag verteilt Einordnung des Materials in verschiedene Kategorien. Montage Zahlenkombination, erste Versuche mit Krimi und Bildgedicht

Die Konkrete Poesie wird zu Bildgedicht, aber deswegen nicht klarer. Die Bilder mit Schrift geben nicht wirklich was her und die an den jeweiligen Stellen gesprochenen Texte lassen sich kaum verwenden. Ich probiere Wortwiederholungen und Rhythmisierung, die Versuche sind aber noch sehr holprig. Ich bin unsicher, ob das eine realistische Möglichkeit ist, und lasse es vorerst liegen. Hingegen funktioniert eine Zahlenkombination auf Anhieb und der Krimi scheint zumindest machbar.

17.9.2012 Vormittag Montage Krimi

Der Krimi wird ein Wirtschaftskrimi. Zum ersten Mal lege ich eine Musikspur unter die ganze Szene. Das heißt auch hier wieder Entkoppelung von Synchronbild und -ton. Es gefällt mir ganz gut, bin gespannt, ob es nach mehrmaligem Anschauen halten wird.

18.9.2012 Nachmittag und Abend Sammlung aller Materialien, die sich für Propaganda eignen. Also Politikerauftritte, politische Jubelmeldungen, Text­ stellen, die die herrschende Politik verherrlichen, ideologische Passagen usw. Erste Rohschnitte.

Sommerliches Wetter, vormittags Schwimmen. Ich kann mich doch nicht dazu durchringen, auch bei den gesprochenen Textstellen Bild und Ton separat zu bearbeiten. Mir ist das zu unbestimmt, da ich ja dann jeden Text unter jedes Bild legen könnte und die Neusortierung des Materials dann überhaupt nicht mehr nachvollziehbar wäre. Diese Option kann ich mir höchstens als Steigerung zu einem offenen Ende des Videos hin vorstellen. Um für Propaganda trotzdem den Effekt einer Collage zu bekommen, kürze ich daher die ausgewählten Stellen auf eine Art Telegrammstil.

19.9.2012 Nachmittag Propaganda fertig montiert.

58

Regen, düstere Stimmung, Frust, wenig Motivation zur Arbeit. Ich habe auch den Verdacht, dass Propaganda nicht halten wird. Es ist zu sehr eine Art Schnittübung, zu wenig Gegengewicht zum Original. Ich mache es aber fertig, um nicht vorschnell zu urteilen.

Nebenhandlungen

Szenen mit Schrift im Bild für Konkrete Poesie

Ich recherchiere im Netz nach Details zu Julius Raab, der ja das hauptsächliche Subjekt der Propaganda im Film Niederösterreich Land im Aufstieg darstellt. Diese Politikerpersönlichkeit, die den rechten Rand der ÖVP verkörpert, macht mir wieder die Kontinuität des Selbstverständnisses rechter ÖVP-Politiker bewusst. So war z.B. der auch im Film erwähnte Raab-Kamitz-Kurs das Vorbild für den Versuch, Mitte der 1990er Jahre einen sogenannten Schüssel-Ditz-Kurs zu etablieren. Ich finde dazu folgende Textstelle: „Gemeinsam mit dem damaligen Wirtschaftsminister Johannes Ditz hatte der damalige ÖVP-Spitzenkandidat und Vizekanzler Wolfgang Schüssel ein rigides Sparprogramm zur Sanierung des Staatshaushaltes präsentiert: Diese Pläne einer Reduktion der Staatsausgaben wurden unter dem Namen Schüssel-Ditz-Kurs bekannt. Diese Abkürzung spielte auf den in den 1950er Jahren propagierten Raab-Kamitz-Kurs an. Die Anleihe an den RaabKamitz-Kurs kam nicht von ungefähr: Dieses Wirtschaftsprogramm der 1950er Jahre umfasste eine Sanierung des damals defizitären Staatshaushaltes durch Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen, im Anschluss dazu durchlief Österreichs Wirtschaft eine Phase der Hochkonjunktur. Der Schüssel-Ditz-Kurs sollte – so die Aussage des Plakats – ähnlich wie anno dazumal der Raab-Kamitz-Kurs – Österreichs Wirtschaftslage verbessern.“ (http://www.demokratiezentrum.org/bildstrategien/wirtschaft.html?index=17&dimension=)

Ein Installateur kommt und bastelt stundenlang an der kaputten Therme. Mit jedem Handgriff erhöhen sich die Kosten wegen der Entdeckung noch mehr defekter Teile. Auch deswegen gefrustet und abgelenkt.

59

Arbeitsschritte

Befindlichkeiten / Fragen / Überlegungen

20.9.2012 Nachmittag Inszenierung montiert. Konstruktivismus montiert.

Konstruktivismus funktioniert gut. Ich finde zwei Musikteile, die ich zu einem Loop montieren kann, der die konstruktivistischen Motive auf der Tonebene fortsetzt. Propaganda und Inszenierung entwickeln aber keine Kraft. Schon während des Schnitts habe ich das Gefühl, dass das alles langweilig ist. Die Montage der Politikerszenen und Jubeltexte auf den Kanzler Raab bleibt auf dem Niveau einer bemühten Fernsehpersiflage.

22.9.2012 Später Nachmittag Titel montiert. Versäuberungen in den Einzelbildern.

Heftige Regenschauer, ein bisschen Untergangsstimmung. Ich schneide halbherzig an den Szenen herum und verändere Details der Zwischentitel. Nach wie vor bleiben Propaganda und Inszenierung unbefriedigend.

23.9.2012

Abend Ich führe die Intro und die bisherigen fünf Teile Manfred Oppermann vor. Kritik und Besprechung.

Die Diskussion bestätigt meine Ahnungen. Kriminalfilm und Konstruktivismus funktio­ nieren gut, sind kurzweilig und anregend, Propaganda und Inszenierung langweilig. Überraschenderweise wird auch das halbfertige Bildgedicht positiv aufgenommen und auch mir scheint es jetzt eine viel versprechende – allerdings sehr arbeitsintensive – Richtung zu sein, das Material immer mehr zu zerlegen. Warum? Wir kommen überein, dass es darauf ankommt, das Material nicht nur zu persiflieren oder zu verstärken, sondern daraus etwas ganz anderes zu machen. Wenn man zu sehr an der bisherigen Bedeutung klebt, „wendet sich das Material gegen einen“, wie es Manfred Oppermann formuliert. Also muss ich zu dem Zugang ganz zu Beginn der Überlegungen zurückkehren, der sich mehr am bildnerischen Arbeiten orientiert und nicht so sehr am literarischen. Ich beschließe, die Eindrücke sich ein paar Tage setzen zu lassen.

26.9.2012 Vormittag Aktualisierung aller Titel.

60

Der Untertitel lautet jetzt Sortiert und remontiert zu xxx Miniaturen von Gerda Lampalzer und so soll das Konzept jetzt auch sein. Die Nummerierung lasse ich noch offen, vielleicht kommen ja noch Teile dazu.

Nebenhandlungen

tionen a R n e lt i e t e g u fe. Aber die z n ka | Erst i h r e it e w n e bleib ohn- und L r e d e d n E nach dem nt sich n i g e b n e m om Preisabko | k ge auch in n a L e h c li ft a die wirtsch Neunz i a M r e t n h e z nf Niederös | Fü usste | m n e r h a f r e | Jahre lang nhun u e n ls a r h e er m Obwohl wied ot. Auch r B d n u it e b | enden Ar ewerbe und G . t ß ü r g e b auf d | lich könne s h c i e r r e t s ö eder Industrie Ni Abschrift der

gesprochen

ler Szenen, en Textteile al

in denen Schr

ift im Bild zu

Arbeit an Konstruktivismus

sehen ist

61

Arbeitsschritte

Befindlichkeiten / Fragen / Überlegungen

29.9.2012 Abend Sammlung der Stellen, die für mich etwas Besonderes haben. Verschiedene Versuche mit Musik und Zeitmanipulationen.

Die Entscheidung, einzelne Miniaturen aus dem Material zu machen, behalte ich bei. Propaganda und Inszenierung werden wieder rausgeschmissen. Dafür suche ich alle meine Lieblingsstellen und fasse sie unter Fundstücke zusammen. Es bleiben drei Szenen über, an denen ich ernsthaft arbeiten möchte: Die absurde Darstellung der kommunistischen Gefahr aus der Tschechoslowakei, das ballettartige Band-Durchschneiden bei der Eröffnung eines Straßenstücks, die Kopfwäsche des kleinen Bruders durch die große Schwester.

30.9.2012 Nachmittag und Abend Montage Fundstücke. Verschiedene Versuche mit Musik und Zeitmanipulationen.

Die Einzelbild-Montage der Musik ist eine ziemliche Pitzelei. Ich feile an jedem Bild bzw. Takt herum. Aber wie immer stellt sich das Radikale als das Beste heraus. Ich lasse die einzelnen Szenen einfach aneinander knallen, das funktioniert am besten. Allerdings verliere ich viel Zeit mit einer Dreierkombination aus Egge, Pferd und Feuerwehrmännern, die von einem Seil durch den Schlamm gezogen werden. Ich finde das letzte Bild so witzig und möchte es irgendwie noch in die Fundstücke pressen, obwohl es überhaupt nicht dazu passt. Nach stundenlangen Versuchen in jeder Kombination gebe ich es auf. Die Trennung vom Material tut wie immer weh.

1.10.2012 Nachmittag und Abend Montage Konkrete Poesie.

62

Ich hole das Bildgedicht wieder hervor. Es wird nun wieder zu Konkreter Poesie, weil das zum Ansatz, den Text als reinen Text ohne Narration zu verwenden, besser passt. Ich merke, dass das Gerüst eigentlich schon steht. Es muss nur verlängert, rhythmisch versäubert und durch einige markante Elemente ergänzt werden. Allerdings wird mir auch klar, dass das noch nicht das letzte Kapitel sein kann. Es muss noch einen textlichen Abschluss geben, der sich quer durchs Material arbeitet.

Nebenhandlungen

Badeszene für Fundstücke

Im Schwimmbad die Unterwasseraufnahmen im Schwimmbad nachgeholt. Das ist deshalb wichtig, weil ich während des Schwimmens nach etwa fünfzehn Minuten intensiv an den Schnitt denken kann. Einige Ideen haben darin ihren Ursprung. Vor allem aber funktioniert das Verwerfen von Möglichkeiten interessanterweise beim Schwimmen besonders gut.

Videostill aus den Unterwasseraufnahmen beim Schwimmen

Politikerballett für Fundstücke 63

Arbeitsschritte

Befindlichkeiten / Fragen / Überlegungen

3.10.2012 Abend Einzelbildweise Versäuberung der Kapitel 1-5.

4.10.2012 Abend Konkrete Poesie fertig. Erste Durchgänge einer gesamten Feinmontage.

Durch das vielmalige Ansehen der bisherigen Montage versuche ich, ein Gefühl für das ganze Stück zu kriegen. Ich merke, dass ich mich vor dem letzten Kapitel drücke. Ich weiß nicht, wie ich zu dem Text kommen soll. Das ganz am Anfang bereits bedachte und besprochene Problem des Umschnitts von Deutsch auf Deutsch holt mich jetzt wieder ein. Abgesehen davon, dass die wild durcheinander geschnittenen Bilder auch keinen wirklichen Charme entwickeln.

5.10.2012 Nachmittag Berechnung verschiedener High Speed Geschwindigkeiten.

Ich beschäftige mich wieder mit der ersten Idee der extremen Zeitraffung. Vielleicht lässt sie sich für eine Art bildlicher Epilog verwenden. Ich bin mir aber sicher, dass der Abschluss des Videos eine textliche Form haben muss. Nur welche Art von Text, ist mir noch nicht klar.

7.10.2012 Nachmittag Verschiedene Versuche mit Textstücken.

7.10.2012 Abend Montage von Zielsätzen. Rhythmisierung zu einem Takt. Teilweise extrem mühsames Zusammenstückeln der Wörter.

64

Die Suche nach Sätzen, die ich halb durch Hören, halb durch Lesen des ausgedruckten Protokolls zusammensetze, führt zu keinem befriedigenden Ergebnis. Was passend scheint, erweist sich in der Montage oft als unverständlich oder in der Intonation total disparat. Das Grübeln und Kramen in Assoziationen verdichtet sich zu einer Idee. Gertrude Stein kommt mir zur Hilfe. Ich wandle ihren Satz „Rose is a Rose is a Rose“ zu „ein Bild ist ein Bild ist ein Bild“. Der Originalton, der unter den Silben liegt, ergibt eine Art minimalistische Melodie. Das bringt mich auf die Lösung, das letzte Kapitel zu einem Song zu montieren. Jetzt kann ich endlich zielgerichtet suchen. Mit „Ein Bild ist ein Bild ist ein Bild ist Bild, ein Ton ist ein Ton ist ein Ton ist ein Ton“ beginnt es. Dann reime ich einfach weiter: „Wer weiß das schon.“ Das Zusammensuchen der Laute dafür dauerte allerdings lang. Die Arbeit am Rhythmus dieser drei Sätze ist extrem kleinteilig. Es geht wirklich um jedes Frame. Es fehlt aber immer noch der Kontrapunkt. Der gesamte Film im Zeitraffer ist als Bildebene mal gesetzt.

Nebenhandlungen

Die vergeblichen Schnittversuche mit Pferdeszene und Feuerwehr für Fundstücke

65

Arbeitsschritte

Befindlichkeiten / Fragen / Überlegungen

8.10.2012 Nacht Basteln an den Sätzen. Verschiedenen Varianten ein F, ein IL und ein M zu kombinieren. Gebe auf. Suche nach der zwei­ ten Strophe.

Ich versuche das Wort „Film“ für eine zweite Strophe zusammenzustoppeln, aber es bleibt unverständlich, also bleibe ich bei „Bild“. Kontrapunkt fehlt noch immer. Ich bin außerdem frustriert, da ich eigentlich Ende September für die Fertigstellung des Videos veranschlagt habe. Und jetzt bin ich immer noch nicht fertig und morgen beginnen die Vorlesungen und ich weiß, dass ich jetzt sehr wenig Zeit für die Montage haben werde.

11.10.2012 Nachmittag Tonschnitt mit Tusch. Einzelbildweises Herantasten an den Rhythmus des Songs.

Ich arbeite extrem konzentriert, der Zeitdruck beschleunigt die Entscheidungen. Der Tusch, den ich so herrlich finde, kann das ganze Problem auflösen. Er strukturiert den ganzen Song. Er erlaubt den Rhythmuswechsel und damit den Kontrapunkt. Der Text wird zu einer Art Rap. Nun kann ich endlich zügig weitermachen. Es geht nur mehr um Genauigkeit im Takt. Und das Fragmentarische kann ich jetzt wirklich genießen.

15.10.2012 Abend Song komplett fertiggeschnitten. Titel, Tonspur, Vorspann und Nachspann kontrolliert. Fertig.

Es regnet in Strömen. Ich habe das Becken abgedeckt. Es ist irgendwie symbolisch, dass die Badesaison definitiv beendet ist und das Video nun fertig wird.

27.10.2012 Nacht Ausspielung in mehreren Varianten.

Es schneit. Mittels verschiedener Tests taste ich mich an die bestmögliche Qualität der Ausspielung heran. Ich habe eigentlich kein wirkliches System, ich probiere so lang herum, bis es gut aussieht. Das gibt mir mehr Sicherheit als Expertenratschläge oder User Manuals.

4.12.2014 Abend Ich setze einen persönlichen Vorspann vor das Video und schneide den Prolog um. Ich ändere die Titel. Ausspielung, Upload auf Vimeo.

66

Nach zwei Jahren scheint es mir wichtig, das Video neu zu positionieren. Ich möchte es von seiner spezifischen Funktion als Teil der „Heimat“ Ausgabe von Position-N lösen. Meine Technik des Remontierens sehe ich nun stärker in der Tradition des Dekonstruktivismus in Literatur und bildender Kunst. Die Zerschlagung der propagandistischen Bilder und Töne des Originalmaterials macht nach wie vor Spaß.

Nebenhandlungen

Morgen fahre ich nach Florenz. Ich freue mich auf die Kunst.

67

68

Modell Medienzentrum 69

70

71

MODELL MEDIENZENTRUM

Skript für ein Radio-Feature Teil 1

„Wir haben uns immer schon an Rändern aufgehalten. Aber da ein Zentrum sein, am Rand. Wenn man denkt, das waren ja immer Ränder eigentlich, die wir bearbeitet haben. Und trotzdem haben wir den Eindruck gehabt, wir sind das Zentrum.“ Christian Bau

„Die Problematik, ob man jetzt in Schienen kommt, die auch kommerziell sind, hat sich für uns gar nicht gestellt. Das war hoffnungslos naiv im besten Sinne. Weil man gesagt hat, das habe ich, das kommt sonst nirgends vor, das machen wir und das ist was. Auch wenn das nur 100 Leute sehen oder so. Das war wichtig für uns.“ Manfred Neuwirth

72

„Und ich glaube auch, dass dieses Setting der Medienzentren, einfach so einen Raum zu sperren, auch einen Zeitraum zu sperren, eben interessant war. Das ist einfach eine tolle Möglichkeit gewesen: Räume, die sich eben Funktionen und Nutzen für einen Moment entziehen können.“ Nina Rippel

„Das ist ja bei ersten Arbeiten immer so toll, dass du nichts erfüllen musst, du machst einfach, was du machst. Wir haben nicht das Gefühl gehabt, wir müssen vorzeigen, dass wir etwas Bestimmtes können oder dass wir super gut sind. Wir haben uns diesem Prozess und dieser Arbeit einfach widmen können ohne irgendwelche Überschriften.“ Karin Berger

73

O-Ton: Musik: Signation der Videowochenschau Volks stöhnende Knochenschau Kommentartext: Welche Strukturen begünstigen neue Formen kultureller Arbeit? Wie schafft man Freiräume für Projekte mit ungewissem Ausgang? Wo lassen sich medienpolitische Experimente ohne direkten Verwertungszusammenhang durchführen? Diese Fragen stellten sich Ende der 1970er Jahre verstärkt im Bereich der freien Film- und Videoszene – auch angesichts der damals für MedienaktivistInnen fast unerschwinglichen Kosten für Videoschnitt oder Zelluloidfilm. Ein Modell, das Konzepte wie Partizipation und niederschwelligen Zugang miteinschloss, nannte sich Medienzentrum und wurde damals in vielen größeren Städten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz gegründet. Im ersten Teil der Sendung geht es um die Gründungsphase und um die ersten größeren Projekte. Wir führten Gespräche mit BetreiberInnen bzw. NutzerInnen von zwei Medienzentren, die bis heute aktiv sind, der Medienwerkstatt Wien und der thede Hamburg. Wie sahen die Anfänge aus? Welche Entwicklungsmöglichkeiten boten sich? Förderten sie eine Arbeitsweise, die heute mit „artistic research“ oder „künstlerischer Forschung“ bezeichnet wird? Für uns stellt sich die Frage: War dieses Modell nur ein Zeitgeistphänomen oder eignet es sich auch als “role model“ für eine zeitgenössische Medienproduktion? O-Ton: Musik: Signation der Videowochenschau Volks stöhnende Knochenschau Sprechchor: „Freiheit für den Burggarten! Freiheit für den Burggarten! Freiheit für den Burggarten!“ Frauenstimme: „Ja, warum wollt ihr unbedingt die Burgwiese haben?“ Kommentartext: Eines der ersten Projekte der Medienwerkstatt Wien war 1980 die Volks stöhnende Knochenschau, ein Videowochenschauprojekt während der Wiener Festwochen Alternativ. Gemeinsam mit AktivistInnen wurden Videobeiträge zu damals marginalisierten Themen wie Homosexualität, Frauenbewegung, Kinderläden etc., aber auch zu Anti-Atomkraftbewegung, Alternativkultur oder Jugendprotest gestaltet. Eine der Forderungen der Wiener Jugendbewegung: Rasenfreiheit für den Burggarten. Manfred Neuwirth, Gründungsmitglied der Medienwerkstatt Wien. O-Ton Manfred Neuwirth: Prinzipiell war die Stimmung ja damals so, dass man den traditionellen Medien langsam was entgegensetzen wollte. Oder versucht hat, etwas zu finden, was auch alternative oder wie auch immer genannte Berichterstattung und Themen in die Öffentlichkeit bringt. Das hat dann in weiterer Folge 1978 auch zu einer Vereinsgründung geführt. Von einer Grazer Initiative mitinitiiert, die damals im Burgenland und in der Steiermark Pilotprojekte mit Schwerpunkt Lokales Bürgerfernsehen hatte und interessiert war, das auf Österreich zu erweitern. Das hat sich aber dann im Laufe der Entwicklung relativiert, so dass wir uns eigentlich in Wien ganz auf 74

unsere Arbeit konzentriert haben und auch einen anderen Zugang hatten als diese Bürgerfernsehleute. Wir wollten die aufkeimende alternative Kulturpolitszene mit Medienprodukten unterstützen. Damals gab es einen kulturpolitischen Maßnahmenkatalog, der solche Initiativen förderte. Da haben wir in eher langen Verhandlungen auch Ausrüstung bekommen. Und damit gab es ab 1980 in Wien ein bestehendes Medienzentrum, das nicht die Ausrichtung auf Lokales Fernsehen hatte, sondern mehr den politischen, sozialen und kulturellen Alternativen verbunden war. 1980 gab es dann ein Initialprojekt, die Volks stöhnende Knochenschau, an dem wir mit sehr vielen verschiedenen lokalen Initiativen zusammengearbeitet haben und das in einer Struktur organisiert war, dass die Videos in Kinos oder Veranstaltungsorten als kurze Vorfilme laufen konnten. Darum auch der Titel. Das war sozusagen der Kerngründungspunkt. O-Ton Gerda Lampalzer: Du bist ja aus dem universitären Umfeld gekommen, das heißt, es gab dann schon auch Theorie oder ein Anliegen dahinter, nehme ich an, Vorbilder vielleicht. Wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass man diesen Wunsch nach einem Medienzentrum gehabt hat, und wie hat sich das entwickelt? O-Ton Manfred Neuwirth: Von mir persönlich hat es sich aus dem Publizistikstudium entwickelt und einer dort auch schon entstehenden Videogruppe, die aber noch sehr disparate oder nicht sehr ausgereifte Ideen hatte, was man überhaupt machen will. Das erste Projekt auf der Publizistik war die Fußballweltmeisterschaft in Argentinien 1978, wo es drum ging, dass man die Berichterstattung hier analysiert. Dass das ja damals eine Diktatur war und wie das in den Medien in Verbindung mit der Berichterstattung über die Fußballweltmeisterschaft vorkommt. Und das muss man sich ja so vorstellen, dass es damals für jemand Privaten oder selbst in einem universitären Zusammenhang noch ganz schwer war, Ausschnitte aus dem Fernsehen aufzunehmen. Und so haben wir uns als Erstes gemeinsam ein Gerät angeschafft, das für heutige Verhältnisse sehr teuer war, und darauf Fernsehsendungen aufgenommen. Das war sozusagen ein bisschen ein pragmatischer Zugang. Prinzipiell waren natürlich in der Zeit ab 1974, 1975 Alternativmedien schon langsam präsent, auch in der Theorie oder über die lokalen Fernsehinitiativen in Amerika, Kanada, Holland und als Medienzentren auch in Deutschland. Kommentartext: 1980 war auch das Gründungsjahr der thede Hamburg, die als Verein für stadtteilbezogene Medienarbeit ebenfalls mit dem Anspruch begann, „dass die Leute die Medien in die Hand nehmen“, wie es Mitbegründer Christian Bau formuliert. Auch für ihn kamen die ersten Impulse aber aus dem universitären Bereich, in diesem Fall aus der Kunsthochschule. O-Ton Christian Bau: Also wenn das von der Fragestellung künstlerische Tätigkeit und Forschen ausgehen soll, dann fällt mir natürlich sofort ein, dass das immer in einem Team, in einer Gruppe geht, das Forschen, das Sich-Austauschen. Und zur Frage des Mediums ist es so, dass Video für 75

uns, die wir mit Zelluloidfilm gearbeitet haben, wirklich die große Möglichkeit war, weil Zelluloid einfach teuer und Video eben billig war. Als Erstes fällt mir ein, 1968 war ich in meiner ersten Gruppe Rote Zelle Kulturbereich – genannt ROZKU – an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Wir haben da geplant, einen Film zu drehen, der in der Zukunft lag. Das heißt, es musste erst ausprobiert werden, ob das, was wir vorhatten, auch wirklich klappt. Wir wollten die Spaltung der Arbeiterklasse zeigen, das war damals die Idee. Wie funktioniert die Spaltung der Arbeiterklasse? Das sollte filmisch festgehalten werden. Aber weil das viel zu teuer war, waren wir der Meinung: Video. AMPEX damals. Und es gab dazu ein Papier, wo gesagt wurde, die erste Fassung wird auf AMPEX hergestellt, das wird den Leuten, die daran teilgenommen haben, gezeigt, dann wird es korrigiert und nochmal neu gedreht. Das so oft, bis alle zufrieden sind, und dann wird es erst auf Film transferiert und in der Agitation eingesetzt. Das wurde also in der Gruppe so entwickelt. Raus kam dabei überhaupt nichts, weil wir natürlich nicht über das erste Stadium hinausgekommen sind. Was wir gemacht haben, es wurde ein Plakat gedruckt, in dem das festgehalten wurde. Ein sehr schönes großes Plakat, das wurde immer ausgestellt, wenn später kollektives Arbeiten thematisiert war. Das Plakat war das Einzige, was übrig geblieben ist. Das ROZKU-Plakat. Aber da fing das an und drei Jahr später bin ich nach England gegangen und habe dort in einem Kollektiv gearbeitet. Die haben aber mit 16mm-Film gearbeitet. Es war ein Kollektiv, wie es mehrere in England gab, Cinema Action, das war das berühmteste, das schärfste und durchschlagendste. Die waren auch dabei, die Arbeiterklasse zu erforschen und genaueste Analysen zu erstellen. Das war ja damals das große Schlagwort, man muss die Klassenanalyse erstellen. Solange man keine Klassenanalyse hat, darf man gar nicht anfangen. Erst wenn man die Analyse für die Revolution hatte, dann konnte es losgehen. Das war in England. Als ich zurückkam, kam eben Video richtig auf, in Halbzoll und Viertelzoll und dann wurde die thede gegründet. O-Ton Gerda Lampalzer: Aber das heißt, Theorievorbild für die Arbeit war in dem Fall politische Theorie, nicht so sehr Medien- oder Kunsttheorie. O-Ton Christian Bau: Also Kunsttheorie nicht, aber die Filmgeschichte, die war uns schon wichtig. Oder war mir wichtig. Die kannte ich natürlich in- und auswendig. Filmgeschichte, das hatten wir alles drauf, das war völlig klar. Es gab natürlich in dem Sinne nicht so viel Theoretiker wie heute. Das ist ja auch so ein Überbau heute, wie so eine Blase oben drauf, die mich eigentlich gar nicht interessiert oder weniger interessiert. Es fing mit reinem experimentellem Kino an. Die großen experimentellen Filmemacher, die haben ja im Grunde genommen ihre langweiligen Filme gedreht, um herauszubekommen, was der Zuschauer eigentlich sieht. Die Zuschauer wurden ja wie Testgruppen benutzt, und je mehr Bierflaschen auf die Leinwand flogen, desto besser. Das war ja damals die große Untersuchung, die Sehgewohnheiten erforschen und sie dann brechen. Kommentartext: Nina Rippel, die ebenfalls an der Hochschule für bildende Kunst in Hamburg studiert hat und langjähriges Mitglied der thede war, beschreibt die Gründungsphase einerseits als mediale Erkundung des eigenen Lebensumfelds als auch als medienpolitische Positionierung. 76

O-Ton Nina Rippel: Wenn ich das so im Nachhinein betrachte, ist wichtig, dass es eigentlich einen Teil des Studiums ersetzt oder begleitet hat. Dass man ähnlich, wie man heute an der Kunsthochschule in einer Klasse studiert, hier ein völlig eigenes Setting hatte. Und das war insofern interessant, weil es eben nicht so hierarchisch geordnet war, also dass man bei einem Professor studiert, sondern man hatte einen Rahmen, der sich einfach über die Personen zusammengefunden hat. Aber auch über politische Ereignisse. Also es war nicht nur über Kunst und es war nicht nur über eine Figur wie eine Professorin oder einen Professor – was ja zu der Zeit schwierig war mit den Professorinnen, es waren ja eher Professoren. Es war getrieben von einem eigenen Wollen, nämlich hier im Stadtteil diese ganzen Veränderungen städtebaulicher Art in irgendeiner Weise zu verstehen. Insofern war dieses Arbeiten mit Film hier im Stadtteil auch so eine Art Erkundung, um was es hier eigentlich geht. Der Versuch, festzuhalten und sich auch klar zu machen, in welche großen Planungen man da eigentlich eingebunden oder eben nicht eingebunden ist. Häuser sind doch etwas, was sehr lange Zeiträume umfasst. Das war eigentlich so der Ausgangspunkt. Wichtig war, wir waren in eine Lebenssituation eingebunden, in einen Stadtteil, der saniert werden sollte. Die Häuser waren zum Teil sehr verrottet. Wir haben da natürlich günstig gelebt. Und das war etwas, was uns umgetrieben hat, was jetzt eigentlich mit diesem Gebiet passiert, was mit verschiedenen Gebäuden passiert, das war ein wichtiger Zusammenhalt. Und es war natürlich auch ein wichtiger Zusammenhalt, dies nicht einfach nur so zu tun, sondern eben dort auch mit Film oder Medien zu arbeiten, die zu der Zeit aufkommend waren. Video war relativ neu und das floss eigentlich zusammen. O-Ton Gerda Lampalzer: Weil du auch von Film sprichst, wie war bei euch das Verhältnis von Film und Video? War das gemischt, wie seid ihr zu Video gestanden? O-Ton Nina Rippel: Es war schlicht und ergreifend ein Potential, eine Möglichkeit, die man plötzlich zur Verfügung hatte. Weil Kameras schwierig zu kriegen waren oder man sie sich nicht leisten konnte. Das einzige, was wir an Kameras hatten, waren Super 8 Kameras. Das war allerdings natürlich nichts, womit man sich weiter verbreiten konnte, das war mit Video möglich. Und das war auch für uns überhaupt eine Perspektive, dass wir an Geräte und an eine Finanzierung herangekommen sind, weil mit diesem Medium nicht nur von uns, sondern auch von gesellschaftlicher Seite ein Anspruch verbunden war. Nämlich dass man breiter in der Gesellschaft unabhängige Filme produzieren kann. Letztendlich haben wir damals unsere Gelder bekommen, weil die Möglichkeit bestand, einen Offenen Kanal, ein Bürgerfernsehen zu etablieren, und dazu brauchte es im Grunde kleine Einheiten, die sich in den Stadtteilen mit Film beschäftigten. Und da waren wir sozusagen eine Zelle, wenn man so will. Also da waren wir eingebettet in eine viel größere gesellschaftliche Fragestellung. O-Ton Gerda Lampalzer: Das war aber jetzt nicht euer Anspruch. 77

O-Ton Nina Rippel: Nein, es war natürlich nicht unser Anspruch, aber es war für uns auch ein enormes Glück, weil darüber die Finanzierung eines Zentrums überhaupt möglich war und nicht nur von einzelnen Filmen. Es ging ja dann los mit der Filmförderung, da ging dann eine ganz andere Diskussion los. Dass nämlich die Filmförderung sagte, wir dürfen oder wir wollen überhaupt nicht dieses komische, neue, schrecklich aussehende Videozeug fördern, wir sind ein Filmzentrum oder wir sind eine Filmförderung. Und als wir unseren Stadtteilfilm damals eingereicht haben, da gab es große Diskussionen, ob das denn überhaupt möglich sei und ob das denn überhaupt dafür vorgesehen wäre. Insoferne hatten wir so von Anfang an eigentlich diese Klammer zwischen den unterschiedlichen Medien Video, Super 8 Film, 16mm, Foto – wir hatten eine große Dunkelkammer –, so dass das immer schon ein Mix war. Kommentartext: Diese eher im medienaktivistischen Bereich angesiedelten Projekte legten zwar für beide Medienzentren ein finanzielles Fundament, es wurde aber bald klar, dass das Konzept „offenes Medienzentrum für alle“ organisatorisch und persönlich an seine Grenzen stieß. Das führte schließlich zu einer Grundsatzentscheidung in Richtung Professionalisierung. Manfred Neuwirth. O-Ton Manfred Neuwirth: Die Biografien der Leute, die da zuerst in die Initiative hineingegangen sind, ein Medienzentrum zu gründen, waren ja extrem verschieden. Also es gab manche, die mit Medien oder mit Vermittlung von Medien gar nicht so viel zu tun haben wollten, sondern das war halt politisch oder sozial ein Thema. Dann gab es aber einige – mich eingeschlossen –, die dann zum Beispiel über medientheoretischere Positionen kamen. Bei mir war es noch anders, weil ich schon vorher Filme gemacht hatte. Und ich sehe es so, dass man da auch aufpassen musste. Dass man in diesem Netz, das die Initiativen unterstützt hat, eigentlich die kreativen Positionen, die man vorher hatte, verloren hat. Weil man in dem organisatorisch-technischen Bereich so gefangen war, dass man sich da nicht speziell noch mit seiner eigenen persönlichen kreativen Position auseinandergesetzt hat. Oder dass diese Position ja gar nicht so opportun war in so einem Konzept. Weil du ja mehr der mediale Sozialarbeiter warst, der sich so definiert hat, dass er anderen mit ihren Themenstellungen zur Öffentlichkeit verhilft. Man war eher der Geber, als dass man da sehr viel Input für seine eigene kreative Arbeit bekommen hat. Das war aber auch der Schnitt zur Professionalisierung, da das ja eigentlich dann frustrierend geendet hat für viele, die in dem Projekt waren. Weil man gemerkt hat, das hält man ja auf Dauer nicht durch. Wenn man kreativ arbeiten will, muss man ja auch eigenständige Projekte betreuen oder führen können. Also das war mit ein Grund, das System dann zu reduzieren. Am Anfang waren da, schätze ich, so von den Initiativen her 30 Leute beteiligt, das hat sich dann reduziert auf so eine Kernpartie von zehn und Mitte der 1980er Jahre war das dann schon ein operabler Bereich mit vier, fünf Leuten, mit denen man gearbeitet hat. Wenn man die Arbeiten jetzt aber anschaut, haben die einerseits durch diesen sehr amateurhaften Zugang eine ganz eigene radikale Ästhetik, anderseits merkt man auch, dass das nur so eine Durchgangsphase sein konnte, weil das natürlich auf Dauer irgendwo dann immer im selben Status geblieben wäre. 78

Kommentartext: Nina Rippel dazu. O-Ton Nina Rippel: Die ersten Filme waren Hausbesetzungsfilme und die liefen eigentlich so, dass wir informiert wurden, wenn Hausbesetzungen liefen, und relativ früh mit unseren Filmteams mitgehen konnten. Und das war interessant, für uns war das die Möglichkeit zu kucken, was passiert da. Also ein Betrachten. Und das hat aber dann relativ schnell dazu geführt, dass man von uns erwartete, die entsprechenden Dokumentationen zu liefern. Also Auftragsproduktion, also ein „um zu“. Wir waren also nicht mehr gefragt als diejenigen, die das übersetzen, die Bilder finden, sondern als diejenigen, die die richtigen Informationen eintüten, möglichst eindeutig. Und das war für uns überhaupt nicht interessant. Das hat sich in den ersten Jahren sofort gezeigt, dass das keine Perspektive ist. Es ging eigentlich immer wieder darum, neue Ansätze und auch neue Formen zu finden. Das ist das, was uns dann auch zusammengehalten und uns auch bewegt hat. Also genau nicht in diese Auftragsfragen zu rutschen. Dafür haben wir das nicht aufgebaut. Es ist ja unheimlich viel Arbeit und zusätzliches Engagement und Verzicht auch auf andere Verdienste und so weiter und das ist schon wichtig, dass da ein eigenes Wollen und eine eigene Idee und eigene Perspektiven mit hineinfließen. Auftragsproduktion hätte man auch anderwärtig vielleicht finanziell attraktiver machen können. Das war nicht das Interesse. Das Politische war wichtig, aber es war nicht das, was uns allein angetrieben hat. Es war die Lebenssituation, es war aber auch immer die Frage des Blicks auf die Lebenssituation und die Übersetzungsprozesse. Und das war für uns ein Forschungsfeld. Das war mit Sicherheit so. O-Ton: Sound: Sprechchöre von Demonstranten aus Hamburg Altona – ein starkes Stück Kommentartext: Mit der Entscheidung, sich mit seiner eigenen kreativen Arbeit in den Medienzentren zu verankern, ging eine hohe Identifizierung sowohl mit dem Modell als auch mit dem Ort einher, der das Arbeits- und Kommunikationszentrum für die BetreiberInnen wurde. Er stand für Emanzipation und Autonomie und bildete ein intensives Diskussionsforum nach innen und nach außen. Christian Bau auf die Frage nach der Wahl der Räumlichkeiten für die thede. O-Ton Gerda Lampalzer: Also ihr habt euch eine straßenseitige Örtlichkeit ausgesucht, das war wichtig am Anfang. O-Ton Christian Bau: Ja, mit großen Fenstern, das war ganz wichtig. Also es war ebenerdig und es waren große Fenster und wir haben eben immer rausgeguckt aus den Fenstern und alles beobachtet. Wer vorbeiging und wer nicht vorbeiging und so. Und wohnten dort, das kommt ja noch dazu. Also ein Mitglied wohnte oben drüber und ich wohnte am Anfang in einem Hinterzimmer. Es war wie unsere Wohnstube. 79

O-Ton Gerda Lampalzer: Also es war wirklich eine Verbindung Kunst und Leben oder Arbeit und Leben. O-Ton Christian Bau: Ja, wirklich vollkommen. Vollkommen eins. O-Ton Gerda Lampalzer: Und das war Teil des Konzepts, oder war das Zufall? O-Ton Christian Bau: Nein, ich glaube, ich habe mir das so vorgestellt. In England, bei Cinema Action, da war es so, dass sie in dem Haus – das waren besetzte und dann zur Verfügung gestellte Häuser – gearbeitet und gewohnt haben. Die Familie, das war eigentlich ausgehend von einer Familie mit ihren Kindern, die das betrieben hat, und die Comrades, die dann dazu kamen. Unten waren die Räume für das Kollektiv und dann gab es noch Gästeräume, wo die Leute schliefen, die da gearbeitet haben. Das war eigentlich mein Vorbild. Dass man ein Haus hatte, in dem man wohnte und arbeitete und gleichzeitig auch Projektionen machte. Und deswegen war das irgendwie klar, als die thede aufmachte, dass ich da einzog. Das kam mir so normal vor. Wir haben ja gedacht, dass wir dadurch, dass wir die Produktionsmittel selber in die Hand kriegen, quasi autonom werden, unabhängig, independent. Und dann natürlich unsere Leidenschaften wie zum Beispiel Kino. Im dem großen Raum, im Versammlungsraum haben wir eine schallsichere Kabine aus dickem Holz gebaut und aus dieser Kabine heraus projiziert. Was wir nicht wussten: dass es so heiß wird da drin, dass das dann kaputt ging. Aber das war das Entscheidende, dass wir im Grunde immer daran dachten, bei uns muss es sein. Bei uns, wir sind das Zentrum, zu uns müssen sie alle kommen, wir haben die Produktionsmittel, wir haben die Möglichkeiten und wir können produzieren, ohne dass wir jemand fragen müssen. Und die Leute reden hier immer noch davon, also einige Alte: „Wissen Sie noch, das Kino in der Thedestraße.“ Das nannte sich „Kuschelkino“, wir haben jede Woche Filmvorführung gemacht mit den unglaublichsten Filmen. Kommentartext: Nina Rippel auf die Frage nach dem Arbeitsplatz thede: O-Ton Gerda Lampalzer: Du hast mir einmal gesagt, auch das Medienzentrum selber war ein Raum, der ganz wichtig war. Dass man sich einen Raum erobert oder auch geschaffen hat. O-Ton Nina Rippel: Ja klar. Es war notwendig, in der thede diese Möglichkeiten zu haben. Wir hatten Geräte zusammen und wir hatten auch die 80

Auseinandersetzung. Das war für mich ganz wichtig, auch andere Zugänge gerade des Dokumentarischen zu haben, um an bestimmten Bildfragen weiter zu arbeiten. Ich glaube, ohne das hätte das wenig Halt gehabt. Also vielleicht ist es einfach auch eine Frage, dass sich diese Konstellationen gegenseitig bedingt haben. Also es war auf der einen Seite die Nutzung der Geräte, klar, und auf der anderen Seite war es ein Erfahrungsschatz, den man natürlich in der dokumentarischen Arbeitsweise, im ganzen Herstellen von Film überhaupt erlangt hat. Und das war einfach ein enormer Übungsraum, der dann übertragbar wurde auf das, was einen dann vielleicht ganz persönlich bewegt hat. O-Ton Gerda Lampalzer: Und wie wichtig waren dann die anderen, also die Gruppe? Könnte man das nicht auch alleine machen? O-Ton Nina Rippel: Das kann man eben nicht alleine. Also dieses Denken und Austauschen über Bilder war ein Kommunikationsprozess. Und ich glaube ganz fest bis heute, dass es diesen Dialog mit dem Bild nicht gibt. Es gibt ihn immer nur im Austausch mit anderen Dialogen. Das sind eben die Sichtweisen von anderen auf Bilder, auf Situationen, auf Filme. Die sind eigentlich erst das, was einem die eigene Perspektive deutlich macht. Ohne die ist eine Reflexion oder ein Verstehen der eigenen Perspektive überhaupt nicht möglich. Das war ganz wichtig. Gemeinsam kucken und gemeinsam über Bilder sprechen. Das war eigentlich die Grundstruktur in der thede. Das waren die Auseinandersetzungen und die Reibungsflächen, die sich ergeben haben und die total produktiv waren. Manchmal waren sie natürlich auch zäh und man hatte das Gefühl, das war schwierig, und man verlor auch seine eigenen Perspektiven, aber das war ja gerade das Interessante. Und das barg einfach die Möglichkeit, die Bilder anders zu verhandeln, und zwar gemeinsam zu verhandeln. Also: Was will man eigentlich und worum geht‘s? Das war neu und das war sehr aufregend. Dazu kamen ja dann nicht nur die thede-Leute, es gab ja den Austausch innerhalb der Medienzentren in Hamburg oder dann mit euch in Wien. Und das lief ja auch nicht nur über Personen, das lief ja über die Filme, das war ja das Interessante. Man sah plötzlich Filme und konnte verstehen, welche Konzepte sich hinter diesen Filmen verbargen, man konnte es ahnen. Also man wollte die Leute über die Filme kennenlernen. Wie sind sie dazu gekommen und wie haben sie gearbeitet, dass so etwas entsteht? Das war das Spannende. Kommentartext: Manfred Neuwirth beschreibt die Bedeutung des konkreten physischen Ortes Medienwerkstatt Wien ähnlich. O-Ton Manfred Neuwirth: Das war wahrscheinlich das Wichtigste überhaupt dafür, dass dieser permanente Austausch möglich war. Unabhängig davon, dass man ja Schneideräume oder so etwas braucht, oder den organisatorischen Bereich mit Geräteverleih, gab es dann auch den Ort, wo man gerne hingegangen ist, wo man sich Dinge gemeinsam angeschaut hat, die gerade produziert wurden. Also was ich heute im Vergleich sehe, wenn ich andere erlebe, war für mich immer selbstverständlich, dass man sich die Dinge auch gemeinsam vermittelt, das war sicher 81

ein wichtiger Punkt. Und dazu brauchte es halt dann schon einen vernünftigen Ort, wo man eben auch präsentieren konnte oder auch nur zusammen sein oder jeder seinen Arbeitsbereich betreuen konnte. Wahrscheinlich ist es ja jetzt auch noch so, dass man das, was man ist, auch als Ort repräsentiert. In dieser Zeit gab es Kontakte gerade mit den deutschsprachigen Kollegen in der Schweiz und in Deutschland, die alle leicht divergierende Ausrichtungen hatten, aber man fühlte sich so einer gesamten Videobewegungsszene – nicht nur im deutschsprachigen Raum, sondern eigentlich auch weltweit – verbunden. Und man hat den Austausch über Bänder gemacht oder dass halt Leute gekommen sind und etwas gezeigt oder begleitet haben. Wobei nur als Randanmerkung, Ort ist natürlich auch eine Fragestellung, die sich heute anders stellt. Denn wir könnten uns so einen Ort, den wir haben, jetzt auch nicht mehr leisten. Also man muss auch sagen, das waren strukturelle Unterschiede, dass man in Wien damals mit Kultur- oder anderen Initiativen Plätze besetzen und sich das in einem vernünftigen Maß auch finanziell leisten konnte. Also wenn sich das heute stellte, wäre das auch nicht mehr so leicht wie damals. O-Ton: Musik: aus Küchengespräche mit Rebellinnen Kommentartext: Mit der Etablierung als Veranstaltungszentren und dem Ausbau der technischen Infrastruktur ging auch eine Intensivierung der Produktionstätigkeit einher. Neben den Eigenproduktionen unterstützte die Medienwerkstatt Wien auch ausgewählte Videoprojekte, sowohl technisch als auch organisatorisch. Eines der erfolgreichsten war Küchengespräche mit Rebellinnen von Karin Berger, Elisabeth Holzinger, Lotte Podgornik, Nadja Trallori, das 1984 fertiggestellt wurde. Das Video über Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus war eines der ersten Oral-History-Projekte in Österreich und gilt heute noch als wegweisend. Karin Berger über das Prinzip „learning by doing“, den Weg von der wissenschaftlichen zur filmischen Umsetzung und die Produktionsbedingungen in einem Medienzentrum. O-Ton Gerda Lampalzer: Ihr seid ja von der Wissenschaft gekommen und in der Wissenschaft war ja auch so ein Aufbruch, Stichwort „Oral History“. O-Ton Karin Berger: Also wir waren zum Teil Studentinnen, als wir das Projekt begonnen haben, und unsere Grundmotivation war jetzt nicht: Wir machen ein Oral-History-Projekt. Ich weiß gar nicht, ob wir damals schon gewusst haben, was Oral History überhaupt ist. Entstanden ist das aus diesem frauenbewegten Wunsch heraus, irgendein Projekt über Frauen zu machen. Nadja Trallori hat damals initiiert, einen Verein für Frauenforschung zu gründen, wir haben uns getroffen und gesagt: „Was machen wir jetzt? Na ja, wir könnten etwas über Frauen und Nationalsozialismus machen. Vielleicht über Frauen im Widerstand.“ Wir haben ja gar nicht gewusst, ob es Frauen, die im Widerstand waren, überhaupt gegeben hat. Das war eigentlich nur einmal ein Versuch, eine Idee. Und wir haben nicht gleich 82

daran gedacht, etwas Wissenschaftliches zu machen, und an Film schon gar nicht. Und dann haben wir nach Frauen gesucht und die erste war Anni Haider. Mit ihr haben wir ein Tonbandinterview gemacht. Also es war klar, dass unsere Methode Interview sein wird. Und das erste Interview war so beeindruckend, ich meine, wir haben als erste eine der Frauen erwischt, die ja wirklich eine sehr aufregende Geschichte und eine sehr lange Geschichte des Widerstands hat. Und sie hat uns dann Adressen von anderen Frauen gegeben, die mit ihr im Gefängnis waren, und dann wussten wir: „Aha, also es gab welche.“ Wir hatten natürlich von Rosa Jochmann zum Beispiel oder von Käthe Leichter gewusst, aber die anderen hast du ja wirklich nicht gekannt. Und auch wenn ich damals zum Beispiel auf irgendeiner Party erzählt habe, wir machen ein Projekt zu Frauen im Widerstand, haben sich die Leute gewundert, dass es sowas überhaupt gegeben hat. Und dann wollten wir doch schauen, dass wir ein bisschen Geld dafür kriegen, und reichten das als Projekt ein. Wichtig war uns damals, ein Buch mit den Erzählungen der Frauen zu machen. Unser Ziel oder unsere Motivation war die Publikation. Und das ging nur, indem du es als wissenschaftliches Projekt einreichst. Bezahlt ist nur die Wissenschaft worden, das war einer der Gründe, warum wir in diese Wissenschaftsschiene überhaupt reingegangen sind. Dafür hätten wir dann eine Projektleitung gebraucht, von den Professoren, die wir angefragt haben, lehnten aber alle ab. Aber das Tolle war dann, dass wir es ohne Leitung finanziert bekamen. Unter anderem deswegen, weil es einfach so interessant und so neu war und weil wir so engagiert waren. Sie haben auch eingesehen, dass man das sehr rasch machen muss, weil das zum Großteil ja relativ alte Frauen waren. Und dann haben wir uns erst genauer mit der Methode beschäftigt und sind draufgekommen, es gibt „Oral History“, die damals noch sehr umstritten war. Unser Projekt war dann eines der ersten Oral-History-Projekte. Wir hatten in dem Sinn kein wissenschaftliches Vorbild, wir sind immer so unsere Schritte gegangen. Über das, was wir gebraucht haben und was wir uns gewünscht haben und was wir wollten, haben wir gemeinsam nachgedacht und diskutiert. So haben wir das vollkommen eigenständig entwickelt. Uns hat das niemand gelehrt, wir haben alles so gemacht, wie wir geglaubt haben. Jetzt, im Nachhinein, schauen unsere Unterlagen für mich lustig aus, weil wir ja die Interviews noch mit Maschine getippt haben. Wo ja alle Nachbarn darunter gelitten haben, weil ich auch in der Nacht viel geschrieben habe. Wir hatten jede vier Durchschläge und dann machten wir Auswertungsbögen auf Matrizen, die haben wir abgezogen und dann mit der Hand schriftlich eingefüllt. Ich habe später dann einmal in Salzburg bei einem sogenannten „Qualquant“-Kurs unterrichtet, das waren zehn Tage nur Methodendiskurs. Das war total spannend, ich habe da mit den StudentInnen zu Oral History gearbeitet, weil ich mich da schon sehr gut auskannte. Und ich habe noch überlegt, soll ich unsere Auswertungsbögen herzeigen, weil ich eigentlich das Gefühl hatte, dass wir die nur so handgestrickt für uns gemacht haben und dass das wahrscheinlich ganz anders geht, aber für uns gepasst hat. Und ich bin aber draufgekommen, das ist super, was wir da gemacht haben. Es konnte niemand sagen, das ist falsch oder richtig, wir hatten das vollkommen gut und durchdacht gemacht. Wir hatten uns immer auch aufgeschrieben, wo diese Stelle oder das Zitat im Text ist, sodass man es immer nachlesen kann. Wir hatten ja irrsinnig viel Interviewmaterial, es sind sicher ein paar tausend Seiten. Alles ohne Computer, jetzt würde das ganz anders funktionieren. Und so haben wir uns an diese Methode eigentlich herangearbeitet. O-Ton Gerda Lampalzer: Und dann habt ihr euch entschieden vom Konzept Buch hin zur Videoarbeit. Warum überhaupt diese Erweiterung? 83

O-Ton Karin Berger: Mit Video kam es eigentlich so, dass ich euch als Medienwerkstatt einmal von dem Projekt erzählt habe, und irgendwer von euch hat dann gesagt: „Na das wäre doch super, wenn ihr das auf Video aufnehmen würdet.“ Und das hat mir ja sofort eingeleuchtet, die Möglichkeit, dass man die Frauen auch sehen konnte. Und dann haben wir begonnen eine Auswahl zu treffen und die auch auf Video aufzunehmen. O-Ton Gerda Lampalzer: Und habt ihr da schon bewusst nach Medialität ausgewählt oder habt ihr es einmal nach den Geschichten ausgewählt? O-Ton Karin Berger: Schon nach Medialität auch, also beides. Ich meine, einige der Frauen waren so tolle Erzählerinnen, Anni Haider, Agnes Primocic, keine Frage. Aber auch ihre Geschichten waren sehr wichtig. Aber prinzipiell natürlich beides, das Erzählen und die Geschichten, oder auch, dass die Geschichten von den Formen des Widerstands her eine bestimmte Repräsentativität besaßen. O-Ton: Filmausschnitt: aus Küchengespräche mit Rebellinnen Anni Haider: „In dem Moment, wo ich nach Österreich gekommen bin, habe ich gewusst, entweder die Entscheidung, die ich getroffen habe, ist mein Tod. Weil das habe ich schon gewusst. Das habe ich schon gewusst, entweder Tod oder ich komme durch. Eins von den zweien. Also wenn es der Tod ist, ist es der Tod, wenn du durchkommst, kommst durch. Vielleicht hast du …, verstehst mich?“ „Nein, ich verstehe das nicht ganz, weil das könnte ich mir nicht vorstellen.“ „Schau, ich werde dir was sagen, Dirndl, du darfst nicht vergessen, welche Zeiten wir hinter uns gehabt haben vorher.“ Agnes Promicic: „Entweder ich habe gearbeitet gegen das Regime. Dann bin ich eben gefährdet. Oder ich tue nichts. Und die meisten Leute haben eben nichts getan. Angst habe ich schon gehabt, weil ich habe doch an meine Kinder denken müssen. Und mein Mann hat mir immer geschrieben und ich habe ihm versprechen müssen, dass ich nichts tue, wo ich mich irgendwie ins Unrecht setze gegenüber der NSDAP. Weil wenn mit ihm was passiert und mir passiert auch etwas, dann haben die Kinder niemanden. Das habe ich ihm versprechen müssen, aber an das Versprechen habe ich mich dann nicht halten können, weil wie kannst du denn Nein sagen, wenn dich wer bittet, du sollst ihm das Leben retten.“ O-Ton Gerda Lampalzer: Und die Medienwerkstatt? Ihr habt das ja dann in enger Zusammenarbeit angefangen zu planen. Wie war für dich dann der Eindruck von der Medienwerkstatt? Wenn man es jetzt auf den Punkt bringt, war es möglich, so etwas zu machen, weil es die Idee von einem Produktionskollektiv mit Video gegeben hat?

84

O-Ton Karin Berger: Nur vom Kontakt her war es so, dass ich euch persönlich gekannt habe. Was wiederum kein Zufall war, denke ich, weil es halt auch gemeinsame Interessen gegeben hat. Und von der Medienwerkstatt habe ich gar nicht so wahnsinnig viel gewusst. Denn wie ich damals dieses Projekt begonnen habe, habe ich ja nicht darüber nachgedacht, wie gut es jetzt ist, dass es die Medienwerkstatt gibt oder so. Sondern wir sind einfach in diesem Zeitgeist, in dieser Begeisterung und in dem Gefühl gewesen: Wir ändern was und wir machen das und es wird irgendwie gehen. Unser Lebensgefühl war einfach, es wird jetzt immer so weiter gehen und alles wird immer besser werden. Wenn ich es jetzt reflektiere oder rückwirkend sehe, war es ganz entscheidend, dass es die Medienwerkstatt gegeben hat. Ich hätte wahrscheinlich keine Produktion gefragt, das hätte ich mich ja gar nicht getraut. Und entscheidend war sicher auch, dass es das Medium Video gegeben hat. Wir haben uns ja nicht ausgekannt mit dem praktischen Filmemachen und Video hat uns das dann ermöglicht. Und die Medienwerkstatt war sicher ein Raum, eine Art Laborsituation, wo man sehr große Freiheiten hatte und wo wir unsere Arbeit schrittweise entwickeln konnten. Und dass wir mit Video gedreht haben, war natürlich für uns eine Grundvoraussetzung. Erstens hat das die Frauen nicht so gestresst, weil man die Gespräche nicht so oft unterbrechen musste für einen Filmrollenwechsel, und zweitens hast du kaum Licht gebraucht. Das war schon toll, dass man nicht so ein Brimborium hat aufführen müssen, wie man es bei Film gehabt hätte. So konnten wir lange Interviews ununterbrochen machen, was sehr wichtig für die Qualität der Erzählungen war. Also für unser Projekt ideal. O-Ton Gerda Lampalzer: Und ihr habt zeitmäßig „open end“ gehabt. Das ist vielleicht auch nicht unwichtig. O-Ton Karin Berger: Ja, das ist nicht unwichtig. Wir haben so lange geschnitten, bis es uns gepasst hat. Und wir haben auch viel diskutiert, wir waren ja zu viert. Das haben wir ja beim Buch auch gemacht. O-Ton: Musik: aus Küchengespräche mit Rebellinnen Kommentartext: Sie hörten Ausschnitte aus den Produktionen: Volks stöhnende Knochenschau, Kollektiv Medienwerkstatt Wien 1980 Hamburg Altona – ein starkes Stück, Kollektiv thede Hamburg 1983 Küchengespräche mit Rebellinnen, Karin Berger / Elisabeth Holzinger / Lotte Podgornik / Nadja Trallori 1984

85

MODELL MEDIENZENTRUM

Skript für ein Radio-Feature Teil 2

“Es gab noch keine Mails, wir haben mit dem Festnetz telefoniert und mussten uns eigentlich treffen, um uns auszutauschen. Deswegen gab es auch monatliche oder wöchentliche Treffen. Heute wird das immer schwieriger, die Leute telefonieren schnell oder mailen sich alle an und fertig ist es. Und man denkt, man tauscht sich aus.“ Christian Bau

„Entscheidend finde ich nach wie vor, dass Video ein Apparat war, mit dem man im Grunde Film als eine Kulturtechnik betreiben konnte. Das ist ja momentan mit jedem Aparillo gegeben, den jeder in der Hosentasche hat. Das ist derartig verbreitet und trotz allem ist das so überformt mit Normen.“ Nina Rippel

86

„Ein wichtiges Kriterium ist auch, dass man durch so eine „Medienwerkstatt“ diese Experimentiermöglichkeiten oder diese Möglichkeiten hat, das nicht immer finanziert machen zu müssen. Das war vor 25 Jahren noch viel krasser, weil man ja gar nicht anders schneiden konnte. Aber es ist immer noch ein Faktor.“ Manfred Neuwirth

„In Frankreich waren die Filmemacher auch immer Intellektuelle und das finde ich interessant. Im deutschen Sprachraum habe ich mich oft direkt diskriminiert gefühlt, dass ich dann irgendwie keine künstlerische Fähigkeit habe, weil ich auch strukturiert denken kann. Weil Kunst ist ja Gefühl, Emotion und Intuition. Aber reine Intuition ist sie halt auch nie.“ Karin Berger

87

O-Ton: Musik: aus WOSSEA MTOTOM – Die Wiese ist grün im Garten von Wiltz Kommentartext: Sie hören Teil zwei der Sendung Modell Medienzentrum, in der wir uns mit den in den 1970er und frühen 1980er Jahren in vielen größeren Städten Deutschlands, Österreichs und der Schweiz gegründeten selbstverwalteten Medienzentren beschäftigen. Sie setzten sich für den Aufbau einer unabhängigen Produktionsstruktur für Film- und Videoschaffende ein. Für die BetreiberInnen und NutzerInnen wurden sie zu einem Freiraum für die Herausbildung eigener filmischer oder medienkünstlerischer Positionen. Anhand zweier Medienzentren, der thede Hamburg und der Medienwerkstatt Wien, stellen wir uns die Frage, ob dieses Modell auch heute noch als Beispiel für eine unabhängige Produktionsstruktur stehen kann. Welche Relevanz hat ihr damaliges Selbstverständnis als Versuchsstation oder Forschungslabor für das heutige Verständnis von „artistic research“? Wir führten Gespräche mit vier ProtagonistInnen aus Wien und Hamburg. Wie sehen sie ihre persönliche Entwicklung? Wie sah die konkrete Projektarbeit aus? Was verstehen sie unter künstlerischer Forschung? Christian Bau, Filmemacher und Mitbegründer der thede Hamburg, bezieht sich zunächst auf Projekte, die eine kritische Aufarbeitung der Stadtgeschichte Hamburgs zum Thema hatten. Der kurzen Halbwertszeit früher Stadtteilprojekte wird die Pionierarbeit gegenübergestellt, die durch Arbeiten wie Das Neue Hamburg geleistet wurde. Dieser 1985 fertiggestellte Film von Christian Bau und Manfred Oppermann über die Pläne Hitlers zur Neugestaltung des Hamburger Elbufers ist bis heute ein wesentlicher Beitrag zur Aufarbeitung von Hamburgs Geschichte als „Führerstadt“. O-Ton Christian Bau: Also vorige Woche kommt eine Kollegin hierher zu mir und erzählt, dass sie einen Antrag bei der Hamburger Filmförderung schreiben will. Sie möchte die Veränderungen in Altona dokumentieren und ob ich ihr dazu irgendwas sagen könnte. Na ja, ich sitze der gegenüber, die war schon ziemlich weit in ihren Formulierungen, und dann habe ich ihr erzählt, was wir gedreht haben. Ottensen kämpft, wenn das so kommt. Kannte sie nicht. Hamburg Altona, ein starkes Stück. Ich sage: „Da wird alles ganz genau aufgeschlüsselt, wie das hier funktioniert hat mit Vertreibung.“ „Nein, das kenne ich nicht.“ Thedebadfilm. Ich sage: „Das war mal eine Badeanstalt hier.“ „Ja, das kenne ich gut, ach, das war mal eine Badeanstalt, das wusste ich gar nicht.“ Ich sage: „Da haben wir 1982 einen Film darüber gedreht, wie das geschlossen werden sollte.“ Bis hin zu Das Neue Hamburg, kannte sie auch nicht. Und dann sagte die dann irgendwann auch: „Ja sag mal aber ...“ Und da wurde das plötzlich so klar, dass diese große Theorie heute, diese ganzen Bücher über Gentrifizierung, dieses ganze Thema Die Stadt gehört uns, Park Fiction, das ist alles in den Arbeiten der thede, in unserer Untersuchung dieses und der anschließenden Viertel genauestens dokumentiert. Bis ins Kleinste, jeder Nachbar, alles haben wir dokumentiert. Ich gehe noch jetzt durchs Viertel und kenne jedes Haus und weiß genau, das war besetzt, hier wohnte der, Frau Maier da, alles. Und heute machen die riesige Versammlungen dazu und ich denke mir, das kann doch nicht wahr sein. Man denkt echt, die hätten das heute erfunden und wüssten jetzt genau, wie es geht. Und bei dem Film Das Neue Hamburg, da waren wir ja die Ersten, die überhaupt die ganzen Akten 88

gesichtet haben. Es gab niemanden, der das je vorher gesehen hat. Wie lange wir Akten studiert und mit Leuten über das Thema gesprochen haben, um da überhaupt reinzukommen. Wir mussten das Thema ja das erste Mal überhaupt hochheben. Wie man dann daraus einen Film macht, wie diese Akten lebendig werden, das war dann der zweite Schritt. Aber die Recherche war das Eigentliche. Ein halbes Jahr später fing hier in Hamburg die Universität an, über das Thema zu sprechen und zu forschen. Die haben dann ihre Doktorarbeiten darüber geschrieben, ihre Magisterarbeiten und was weiß ich. Eine ganze Uni stand Kopf. Aber Manfred Oppermann und ich haben das völlig allein recherchiert. Mit anderen Leuten dann, die uns quasi das Material zur Verfügung gestellt haben, aber das war im Grunde genommen erst Forschung und dann kam langsam der Film. Und ich meine, das ist beim Dokumentarfilm eben noch anders als in anderen Sparten, ich finde solche Begriffe wie Genauigkeit wichtig. Der Blick oder die Kamera, das ist, glaube ich, ein ganz entscheidender Punkt. Wenn du genau arbeitest, wenn du exakt arbeitest, dann ist das relativ gutes Material, was am Ende dabei rauskommt. Kommentartext: Nina Rippel, Filmemacherin, Filmvermittlerin und langjähriges Mitglied der thede, beschreibt ihren Weg zu einem ihrer wichtigsten Projekte Der Geflüsterte Film. Ein Dokumentarfilm, in dem sie sich durch ein experimentelles Bildvokabular der Wahrnehmung von Blinden anzunähern versucht. Sie entwickelte ihr spezielles Interesse an der Übersetzungsleistung von Bildern ebenfalls während der Recherche zu den frühen Stadtforschungsprojekten der thede. O-Ton Nina Rippel: Also für mich war ein Ort wichtig, das war das Thedebad. Ich hatte keine Dusche zu Hause, war also darauf angewiesen, irgendwo hinzugehen, um mich zu waschen. Und um die Ecke gab es ein wunderbares Bad, wo man sich morgens mit verschiedenen Leuten getroffen hat, wo man schwimmen, aufwachen, duschen konnte, sich mit anderen austauschen, das war herrlich. Und das drohte geschlossen zu werden. Das war also eigentlich einer der ersten politischen Kämpfe um den Erhalt dieses Bades, den wir leider nicht gewonnen haben. Aber es war möglich, diesen Ort zumindest mit einem kleinen filmischen Portrait zu beschreiben und festzuhalten. Das war auf dieser dokumentarischen Ebene und neben dieser Schiene hat sich für mich etwas ganz anderes eingestellt. Das waren wichtige Denkräume, die sich für mich in diesem Verschluss der Sinnesorgane über das Wasser – also unter Wasser Ohren anders geöffnet, Augen auch anders geöffnet – ergeben haben. Das war eine Verschiebung der Wahrnehmung, des Sehens, des Hörens und vor allen Dingen des Sich-Bewegens und des Fühlens, was mich sehr fasziniert hat. Und das war eigentlich so ein Ausgangspunkt, der auch plötzlich andere Interessen barg als eine politische Frage, die eher um den Stadtteil oder auch um filmische Fragen wie um Dokumentation kreiste. Das Thedebad war für mich relevant, weil es einen Anstoß gegeben hat, sich fotografisch und mit Super 8 mit diesem merkwürdigen Medium „unter Wasser“ zu beschäftigen und damit in etwas vorzudringen, was für mich eine neue Frage von Bildern war. Mich hat dieses Dunkle interessiert, diese Fläche im Bild, die eben nicht mehr zeichnet, die obskur bleibt, ausdeutbar, mehrdeutig. Das hat mich sehr beschäftigt und die Frage von Bewegung. Das führte dann auch zu einer Videoarbeit Unterwasserstücke mit Cello und diesen Fragen von Verdrehung von Perspektiven, diesen 89

ganzen Verunklarungen von Räumen. Und dann hat sich für mich daraus ein ganz neues Feld ergeben, nämlich die Frage des Sehens überhaupt. Diese Frage der Wahrnehmung, die sich nicht isolieren ließ vom Hören oder vom Tasten, von der Bewegung, von dem ganzen komplexen sinnlichen Wahrnehmen. Und da hat mich natürlich schon interessiert, was passiert eigentlich, wenn dieser visuelle Sinn wegfällt. Also die Beschäftigung mit dem Nicht-Sehen, das war eigentlich für mich dann so wirklich neues Gebiet, das sich darüber aufgemacht hat. Zu fragen, was fällt da eigentlich weg. Und das fand ich dann schon auch erstaunlich, dass zwar etwas wegfällt, und das ist natürlich ein Riesengebiet, auf der anderen Seite bleibt ja eine erstaunliche Schnittmenge. Und so kam es eigentlich dazu, sich mit Blinden zu beschäftigen und da zu recherchieren und Blinde zu treffen und zu fragen. Was ich dann auch ziemlich seltsam fand, wo ich auch dachte: „Mann, das ist auch verdammt unheimlich.“ Ich hänge total am Bild und am Sehen, das ist mir total wichtig, das ist ja klar. Und ich fand es sehr unheimlich, sich auch mit dieser Frage des Nicht-Sehens zu beschäftigen. O-Ton Gerda Lampalzer: Du kommst also von einer Negativität her, um etwas zu erklären. Das ist ein Kunstgriff, kann man fast sagen, dass du das Sehen über das Blindsein thematisierst. Wenn ich es richtig verstanden habe, hast du diesen Film ja für Sehende und für Blinde gemacht. Also diese Frage der Übersetzung war da ganz wichtig. O-Ton Nina Rippel: Genau. Und die Frage der Übersetzung entsteht ja genau durch diese Negativität. Durch diese radikale Verschiebung der Perspektive wird es zwingend, dass man sich fragt, was kommt da eigentlich an oder ist das überhaupt übersetzbar. Es ist eine große Hinterfragung der Repräsentation oder der vermeintlichen Evidenz von dem, was wir sehen. Und das, was im Sehen eigentlich als Entzug angelegt ist, das hat mich zunehmend interessiert. O-Ton Gerda Lampalzer: Und wie hast du dich da vorgetastet, um überhaupt auf das zu kommen? O-Ton Nina Rippel: Tasten war eine wichtige Frage. Für mich ging es los mit dem Apparat der Kamera. Die Kamera ist unter Wasser blind, ich kann da ja nicht durchkucken. Also ich kann nicht mehr visuell kontrollieren, was ich tue. Das hat mich bei der Kameraarbeit interessiert, das hat mich aber auch beim Zeichnen interessiert. Ich habe mich viel mit Zeichnen beschäftigt und auch mit dem Weglassen der visuellen Kontrolle beim Zeichnen. Blindzeichnungen nennt man das komischerweise. Und es war interessant, unter Wasser zu fotografieren, weil man eben das Bild nicht genau sah, es war nur ein Ahnen, es war aus einer Haltung heraus. Noch extremer war es mit der Unterwasserkamera, weil da ja auch gar kein Sucher mehr angelegt ist und man mit der Taucherbrille eh gar nicht durchkucken kann. Es war dann eigentlich ein Filmen aus einer Bewegung heraus. Und das fand ich sehr faszinierend und sehr spannend, dass der Raum anders strukturiert ist, dass 90

er keinen Horizont hat. Dass er nicht so eine Linie hat, an der er irgendwie aufhört oder an der sich räumlich die Dinge perspektivisch gliedern. Man hat ein Medium zur Verfügung, das ja per se immer eine perspektivische Abbildung produziert, aber unter Wasser zerfranst sich diese perspektivische Abbildung eigentlich. O-Ton Gerda Lampalzer: Und diese Studien unter Wasser sind dann eingeflossen in Der Geflüsterte Film? O-Ton Nina Rippel: Ja genau. Und ich denke, was beim Geflüsterten Film auch noch ganz wichtig ist oder überhaupt grundsätzlich wichtig: dass es nicht eine rein formale Frage der Bilder war, sondern dass das, was sich da aufgetan hat, immer von konkreten Personen ausging. Also insofern war es eben nie eine Dokumentation im Sinne, ich komme hier mit einem Team und ich frage euch was oder ich filme euch hier mal ab, um dieses oder jenes zu dokumentieren, sondern es war immer eine Arbeit am Bild und eine Auseinandersetzung, die sich mit den Leuten zusammen ergeben hat. Also das Fahrradfahren, was ja den Film über Super 8 Aufnahmen mit strukturiert, hat sich so ergeben, dass Anoma, eine der blinden Protagonistinnen im Film, mir irgendwann sagte: „Ich möchte gerne Fahrrad fahren. Und zwar nicht hinten drauf auf dem Tandem, sondern vorne steuern.“ Das hat mit Film nichts zu tun, das hat auch nicht mit dokumentarischer Arbeit zu tun, das war einfach ein Wunsch. Und das haben wir ausprobiert und es wurde dann zum Teil des Films. Diese Konfrontation mit Personen, dass sich immer etwas ergeben kann, diese Unübersicht fand ich immer ziemlich interessant und wichtig. Dass sich etwas gemeinsam auftut. Erst entsteht. O-Ton: Filmausschnitt: aus Der Geflüsterte Film gesungene Bildbeschreibung Kommentartext: Manfred Neuwirth, Filmemacher und Gründungsmitglied der Medienwerkstatt Wien bezeichnet Austausch und Kooperation als konstitutiv für seine künstlerische Entwicklung. Er betont die Wichtigkeit von kontinuierlicher künstlerischer Anregung und beschreibt seine daraus resultierende persönliche Arbeitsweise. O-Ton Manfred Neuwirth: Für mich selber ist es so, dass ja bei mir Projekte immer entstehen, wo auch wer anderer dazukommt. Oder die nur entstehen können, wenn du andere Leute hast. Also diese Fähigkeiten zwischen individuell arbeiten und sich dann doch auch danach zu sehnen, dass man immer wieder andere Arbeitszusammenhänge hat oder mit Leuten vertrauensvoll zusammenarbeiten kann, kommen auch aus der ersten Zeit, glaube ich. Es mag nicht alleine das sein, aber es ist ein wichtiger Faktor, den ich heute noch so sehe. Wie man sich 91

dann individuell ästhetisch weiterentwickelt, hat auch mit den Zusammenhängen rund um die Medienwerkstatt zu tun, da wir von Anfang an offen waren für Videokunst. Das heißt, man darf das nicht unterschätzen, wie viele Veranstaltungen wir hatten oder wie viele Leute da waren, mit denen du im Austausch warst. Also das weiß ja jeder, wie man auf einmal ein Produkt sieht und begeistert ist und denkt, das ist eine Ästhetik, an der würde auch ich mich weiterentwickeln. Also das ist sicher der zweite wichtige Faktor von so einer Kollektivstruktur, dass sie ein Veranstaltungszentrum für diesen speziellen Bereich zwischen innovativem Dokumentarfilm und Videokunst gewesen ist. Im Vergleich zu heute hast du ja nur die Chance gehabt, das auf Festivals zu sehen, oder du hast dir selber solche Veranstaltungen in Wien organisiert. Also da war der Austausch nicht über das Netz oder so, sondern über die Institutionen oder Mediengruppen aus dem Ausland viel stärker. Das ist, glaube ich, auch ein Faktor, der vielleicht, wenn man nicht viel darüber nachdenkt, eher vernachlässigt wird. Aber wenn man jetzt selber zurücksieht, wo habe ich Anregungen gekriegt, ist das sehr wichtig gewesen. O-Ton Gerda Lampalzer: Und zu deiner Arbeit, du hast ja eine ganz bestimmte Arbeitsweise entwickelt. Du hast diese eher dokumentarischen Sachen, wo es um Kontakte zu Personen geht, die mit dem Thema zu tun haben. Und dann hast du die eher lyrischen oder poetischeren Arbeiten, wo nur Manfred Neuwirth darunter steht. Wie hast du dir das erarbeitet? O-Ton Manfred Neuwirth: Ich glaube einerseits, was ich schon angesprochen habe, dass es wichtig ist, viele Sachen zu sehen. Das kann jetzt der große Hollywoodschinken sein und das kann die kleine experimentelle Arbeit sein. Also mich interessiert das einfach alles. Und der andere wichtige Punkt ist immer noch bei jeder Arbeit, dass sie reflektiert, was erzeuge ich mit den Bildern. Das kann sich in einer relativ stark formalisierten Arbeit zeigen, was du als lyrisch bezeichnest oder wie auch immer man das dann sieht, wo eigentlich die Impulse nicht überwältigend, sondern sehr langsam auf den Zuseher einwirken. Das ist eine Ebene, die ich wichtig finde. Die andere ist, stärker strukturalistische Formen zu nehmen, also dass man nicht immer in den eingefahrenen Dramaturgien von Film operiert. Das kann sein, dass man einfach nur vier Leute sprechen lässt. Das jetzt nicht filmisch noch viel mehr zu erweitern, sondern dem Zuseher die Möglichkeit zu geben, die vier Leute einfach zu beobachten, ihnen zuzuhören. Also um das geht es für mich sehr stark. Und das Nächste ist natürlich, dass ich neben dieser Überflutung an Medieninformation die Chance bieten will, vielleicht auch selber zu dem Werk etwas zu assoziieren. Wenn ich Räume, Orte filme und schaffe, wo man auf einmal ein bisschen in Konzentration gehen muss oder in eine langsamere Form findet, um auf das Werk einzugehen. Das ist der Ansatz. Das heißt, ich merke es ja oft bei Vorführungen, nachher hast du Reaktionen, da merkst du richtig, der oder die will nur mehr zu dir. um zu sagen: „Oh, das habe ich jetzt so wahrgenommen, toll.“ Und ich sehe natürlich auch manche, die dann wahrscheinlich leichte Schwierigkeiten haben, so etwas in einer für sie vielleicht ungewohnten Form aufzunehmen. Und die Stufe ist halt dann für mich am interessantesten, wenn ich sehr divergierende Endergebnisse habe. Ob das jetzt eine Ausstellung ist oder ob es auch der so genannte klassische Dokumentarfilm im Kino ist. 92

Kommentartext: Christian Bau geht in seiner Auffassung von Austausch noch weiter. Für ihn geht es auch um Versuche, verschiedene Themengebiete zu kombinieren, neue Mischungen auszuprobieren, sich die Freiheit zum offenen Experiment zu nehmen. O-Ton Christian Bau: Also für mich beginnt das ja viel eher noch, weil ich immer mit anderen Leuten zusammengearbeitet habe, immer jemanden brauchte oder hatte und das als sehr großen Vorteil gesehen habe. Und sogar als notwendig für meine Arbeit, dass ich mich mit jemandem auseinandersetzen kann. Dass ich Leute habe, genau so, wie die mich haben, auch aus verschiedenen Richtungen, aus anderen Fraktionen quasi. Und ich glaube schon, dass mich das in meiner künstlerischen Arbeit oder Filmarbeit sogar sehr geprägt hat. Wenn ich mir meine Filme angucke, ist ein Merkmal zum Beispiel, dass oft zwei Sachen zusammenkommen, dass zwei Themen behandelt werden, die eigentlich nicht unbedingt was miteinander zu tun haben. Und sich erst im Film entwickeln und zueinander finden oder auch nicht finden. Und das ist etwas, was sich vielleicht durch die Arbeit in Medienzentren nicht entwickelt, aber weiterentwickelt hat. Letztlich glaube ich, dass es eher in so was liegt wie in der Beschäftigung mit künstlerischen Epochen wie dem Surrealismus oder so. Dass im Surrealismus die Leute zum Beispiel auch in Gruppierungen gearbeitet und geforscht haben, im Gegensatz zu uns in den Medienzentren aber eher in sich geforscht haben. Also quasi ihren Kumpel in ihrem Unbewussten fanden und sich damit beschäftigt haben. Und natürlich auch Dinge zueinander gebracht haben, die nicht miteinander zu tun hatten, die dann erst auf dem Bild oder im Film oder im Theaterstück oder in der Literatur zusammenkamen. Und so frühe Gruppenarbeiten wie Hamburg Altona – ein starkes Stück, das ist ja auch eine ganz merkwürdige Aneinanderreihung von Dingen. O-Ton Gerda Lampalzer: Du hast gesagt, ihr habt euch an den Rändern aufgehalten. Da versucht man ja auch etwas „Neues“ unter Anführungszeichen herauszufinden. Gibt es Beispiele, die das zeigen? O-Ton Christian Bau: Ja, sagen wir mal jetzt das Letzte hier, Zwiebelfische, wo es auch um zwei Themen geht. Einmal eine alte Druckerei mit fremden Sprachen und einen Künstler. Die eigentlich wenig miteinander zu tun haben, aber wo in meinem Kopf vorher die Sachen sehr wohl miteinander zu tun haben. Dann versucht man das aufzuschreiben und versucht andere Leute davon zu überzeugen, dass die Dinge miteinander zu tun haben. Das hängt davon ab, ob man das einigermaßen beschreiben kann. Dann klappt das mit der Finanzierung, dann drehst du. Da denkt man natürlich drüber nach, ob das, was du drehst, eigentlich das Material ist, das du später verwenden kannst. Ich bin mir ja da nicht sicher beim Drehen. Ich habe zwar bestimmte Vorstellungen, bei manchen Sachen ist mir klar, das funktioniert, bei manchen überhaupt nicht. Und dann erst in der Montage oder beim Sichten kommen die Sachen langsam zusammen. Und das ist ja eigentlich wie in einem Labor, wo du mit Chemikalien herumhantierst. Dass du Sachen zusammenbringst und guckst, ob das überhaupt funktioniert, ob das passt. Was entsteht eigentlich zwischen diesem Thema und dem Thema oder was 93

entsteht eigentlich bei dem Bild und dem Bild? Was ist eigentlich da genau, wenn der Schnitt passiert, woran denkt der Zuschauer? Bleibt er da hängen oder kommt er gleich mit in die nächste Szene oder schlappt die eine Szene im Gedächtnis rüber, die Vorstellung in die nächste Szene? Haben die chinesischen Schriftzeichen mit dem Holocaust zu tun oder nicht? Das kannst du dir vorher ausdenken und schreiben, um an Geld zu kommen, aber letztlich kannst du das nur ausprobieren im Schneideraum. Und um das herauszubekommen, da komme ich mir vor wie im Labor. Und dann natürlich Testvorführungen und so weiter. Das sind Sachen, die mich interessieren, die mir Spaß machen sowieso und die für mich dann nicht langweilig sind. Und von denen ich auch weiß, dass das zum Beispiel in einer normalen Produktion, die fürs Fernsehen arbeitet, nicht gehen würde. Das würde mir gar nicht erlaubt werden von den Produktionsbedingungen her. Da darfst du acht Tage drehen und sagen wir mal achtzehn Tage schneiden. Oder – ach achtzehn! – zehn, elf Tage schneiden und in elf Tagen kriegst du das, was mich interessiert, nicht raus. Du kannst dann zwar ein Feature machen, das kann auch gut werden, es gibt auch interessante Filme im Fernsehen, das meine ich nicht. Aber das, was mich wirklich interessiert, was zwischen zwei Bildern funktioniert und nicht funktioniert, das dauert so lange, das kannst du dir heutzutage in einem normalen Produktionsablauf nicht erlauben. O-Ton: Musik: aus Zwiebelfische Kommentartext: Karin Berger, die ihr erstes großes Videoprojekt Küchengespräche mit Rebellinnen in der Medienwerkstatt Wien realisiert hat, beschreibt den Prozess zwischen Konzept und endgültiger Gestaltung ähnlich. Sie bezieht sich hier auf ihren Film Ceija Stojka, den sie 1999 fertiggestellt hat. O-Ton Karin Berger: Also der Prozess ist schon sehr aufwändig und intuitiv. Und ich meine, das kommt ja angeblich öfter vor – beim Film Ceija Stojka war es auch so –, es gibt im Schnitt oft eine Krise. Der Film wird nicht fertig und der wird nichts und so. Und da habe ich mich zum Beispiel nach einem langen Schneideprozess noch einmal hingesetzt und habe noch ein Schnittdrehbuch geschrieben. Aber dieses Immer-wieder-Wegwerfen ist ja psychologisch so anstrengend, finde ich. Ich habe ein Drehbuch schreiben müssen zum Einreichen, wo ich mir mal alles aus dem Kopf gequetscht habe. Dann machst du das Drehkonzept, da verwirfst du von dem wieder einen Teil, denn da musst du jetzt schauen, was geht wirklich und wie kriegst du das hin. Also nie gänzlich, aber irgendwie musst du immer wieder neu anfangen. Dann drehst du. Und dann musst du dich ja auf das Material einlassen, das du hast. Weil Dinge, die für dich das Grundgerüst des Konzeptes waren, beim Dreh überhaupt nicht hingehaut haben, andere wieder unerwartet gut sind, das heißt du musst dem begegnen, was du jetzt an Material hast. Und dann arbeitest du mit dem und dann wird es irgendwie nicht schlecht, aber es wird auch nicht wirklich gut. Und das musst du dann noch einmal wegschmeißen und dann noch einmal neu denken. Und das ist für mich wahnsinnig, es geht irgendwie an die Überlebenskraft manchmal. Also da denkst du dir wirklich, jetzt kann ich nicht mehr. 94

Das noch einmal verwerfen quasi, nichts behalten, wirklich ab in den Mistkübel. Und was will ich jetzt für einen Film haben? Und dann schreibst du nochmal und das war es dann. Und dieses Schnittdrehbuch war dann aus sich heraus ungefähr 90 Minuten lang. Ich habe da nichts bemessen. Und darin haben sich aber dann wieder Dinge gefunden, die schon im Anfangskonzept waren, wo ich mir aber dazwischen gedacht habe, so ein Blödsinn, das kann ich ja nicht so verwenden. Und dann hat es doch wieder gepasst. Also die Anfangsideen sind nie ganz weg. Kommentartext: Eine der Fragen, die den vier Gesprächen zum Thema Medienzentren zu Grunde liegen, ist die Spurensuche nach einer Arbeitsweise, die heute mit „artistic research“ bezeichnet wird. Was ist darunter zu verstehen? Finden sie sich in den Modellen, die Medienzentren für ihre Betreiber und Nutzer geschaffen haben? O-Ton Gerda Lampalzer: Du kommst ja ursprünglich aus einem wissenschaftlichen Forschungszusammenhang, was ist dein Verständnis von künstlerischer Forschung? O-Ton Karin Berger: Ursprünglich hätte ich behauptet, es gibt einen klaren Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst, mittlerweile bin ich nicht sicher, ob ich das jetzt immer noch so sehe. Ich denke, es gibt ein breites Spektrum zwischen rein künstlerischen und rein wissenschaftlichen Arbeiten mit vielen Mischformen und Überlappungen. Ich würde sagen, wenn ich an die Küchengespräche mit Rebellinnen denke, da gibt es eben diesen stark strukturierten und aufwändigen Recherche-Prozess, wo du das Material über die Interviews herstellst. Das kann ich in ähnlicher Weise für ein wissenschaftliches wie für ein künstlerisches Projekt verwenden, also die Interviews sind ident. Ich glaube aber, wenn man dann ein Werk gestalten will, ist schon ein Unterschied. Es gibt eine ganz feine Grenze, auch wenn in beiden Fällen die Auseinandersetzung intensiv ist. Eine bestimmte Analyse ist in beiden Fällen erforderlich, aber wenn du künstlerisch arbeitest, wird eine ganz andere Art von Energie benötigt. Und mich ärgert das eigentlich, wenn manche Wissenschaftler glauben, wenn man nur das Material hat, kann man ganz einfach einen Film machen. Also ohne sich diese Energie zu vergegenwärtigen, die zum Beispiel für das Entwickeln einer Dramaturgie oder für den Schnitt notwendig ist. Man muss sich ja viel intensiver mit der Form auseinandersetzen. Das ist anders, als wenn ich bei einem Bericht noch irrsinnig lang herumfitzle. Das braucht auch sehr viel Energie, aber der Grad der Gestaltung ist bei einem Film höher und hat eine andere Qualität, zumindest bei einem anspruchsvollen Filmprojekt, das über eine Reportage hinausgeht. Und wenn du einen wissenschaftlichen Aufsatz schreibst, dann hast du ja zum Beispiel viel mehr Möglichkeiten, Widersprüche auszudrücken. Du kannst 5000 Fußnoten machen und kannst in einem Nebensatz noch schreiben, das ist aber eigentlich auch noch so und so. Du kannst die Information ganz anders unterbringen. Und das hast du bei einem Film in dieser Art und Weise nicht. Du musst dir ja dann eine Form überlegen, dass er dramaturgisch steht, dass er emotional steht, dass er formal steht und dass du dich auskennst. Und dass du, wenn da schwierigere und differenziertere Probleme sind, die 95

auch noch hineinkriegst, ohne die Form zu vernachlässigen. Ich beziehe mich da auf einen anspruchsvollen oder ins Künstlerische gehenden Film, weil im Bezug auf Dokumentarfilm noch dazukommt, dass es ein weites Spektrum gibt zwischen Reportage und künstlerischem Dokumentarfilm, sodass man gar nicht so allgemein sagen kann, wo hier die Kunst anfängt. Kommentartext: Manfred Neuwirth auf die Frage, wie er den Begriff „künstlerische Forschung“ einordnet. O-Ton Manfred Neuwirth: Wie man von der Uni her ausgebildet ist, ist natürlich Forschung immer ein Unterbegriff der Wissenschaft, der neue Erkenntnisse in einem bestimmten Wissenschaftszweig bringen soll. Das ist aber jetzt die konservative Definition. Wenn man es jetzt als künstlerische Forschung sieht, hat das natürlich auch mit wissenschaftlichen Entwicklungen zu tun, die die Sparten untereinander wesentlich mehr vernetzen. Und in dem Sinne kann Kunst auch ein Feld sein, wo ich forsche. Wo meine Schwierigkeit liegt, im traditionellen Wissenschaftsbegriff dient ja Forschung dazu, allgemeinere Modelle zu entwickeln, die wissenschaftlichen Kriterien genügen. Also das ist zwar jetzt auch schon ausgeweitet, da kenne ich mich viel zu wenig aus. Aber im Prinzip sehe ich da die Spannung zwischen individueller künstlerischer Forschung und Wissenschaft. Weil du natürlich dann in Kriterien kommst, die allgemein gültig sein sollen. Und da ist künstlerische Forschung vielleicht Impulsgeber für manches, kann aber nicht weiter dazu führen, dass man jetzt allgemeinere Begriffe hat, wie man sich künstlerisch einem Thema nähert. Das kann nicht Kriterium von Wissenschaft in dem Sinn sein, das ist für mich die Trennlinie. Aber da würde ich sagen, in meinem jetzt naiven Verständnis von Wissenschaft ist das eher ein Prozess, der diesen Wissenschaftsbegriff langsam auflöst. Was ja auch passiert, soweit ich informiert bin. Und Wissenschaft in unseren Gegebenheiten, wie Welt funktioniert oder wie Welt interpretiert wird, auch bei vielen Dingen in die Krise kommt und dann natürlich bereit ist, einen erweiterten Begriff zu nehmen und zu sagen, na da könnte die Kunst ja auch etwas dazu beitragen. Wobei das aber noch immer, glaube ich, ein Kampffeld ist. Es ist nicht so, dass man sagen kann, die Wissenschaft ist jetzt so offen für die Kunst, weil sie sich manchmal ein bisschen schwerer tut. Oder auch umgekehrt, ich würde auch sagen bei Kriterien, die verallgemeinert werden sollen, sich Künstler natürlich auch oft auf die Position zurückziehen, das ist jetzt meine individuelle Wahrnehmung, die will ich jetzt nicht verallgemeinert haben. Wobei ich da aber schon ein spannendes Feld dazwischen sehe, ein offener Kunstbegriff und ein offener Wissenschaftsbegriff mit jeweiligen Vertreterinnen aus diesen Bereichen, das kann sich schon vernetzen. Die Gefahr ist natürlich, dass es in den Bereichen, die dann wieder Finanzierung, Veröffentlichung und so betreffen, meistens in die wissenschaftliche Kategorie kippt und dadurch der künstlerische Ansatz oft so ein bisschen die Beschmückung ist. Also ohne dass ich jetzt viel über den Bereich weiß, aber das würde ich einmal ein bisschen unterstellen. Auch bei einem Projekt, wo ich mitgearbeitet habe, oder was man so hört, dass das so ist. Kommentartext: Nina Rippel fordert dementsprechend dezidiert ein, den Begriff „künstlerische Forschung“ nicht in Analogie zur Wissenschaft, sondern von Kunst aus zu befragen. 96

O-Ton Nina Rippel: Interessant an der ganzen Sache finde ich, wie man dieses Wort „künstlerisch“ in der Forschung fasst. Da stellen sich für mich zwei Fragen. Einmal nämlich: Was ist eine künstlerische Haltung? Und: Wie kommt die Kunst ins Spiel? Also aus der Perspektive von Kunst aus zu arbeiten. Wenn man von der Kunst ausgeht als einer Form der Verdichtung gedanklicher Fragen, dann ist das erst mal schon eine Unterscheidung zu dem Ausgangspunkt eines alltäglichen Settings. Wenn ich jetzt Duchamp nehme und von seinen Readymade Fountain aus, dann ist es eine komplexe Verdichtung künstlerischer konzeptioneller Gedanken. Wenn ich von einer Toilette ausgehe, ist es das nicht. Also wie wende ich es an die Kunst, wie kann ich mich mit einer künstlerischen Haltung diesem Sinnüberschuss gedanklicher Möglichkeiten zuwenden. Und wo bleibt es in einem mehr kulturwissenschaftlichen Anwendungsbereich, wo es dann ein ganz interessanter Exkurs über diesen oder jenen Gegenstand ist, was mich dann aber nicht interessiert. Mich interessiert ja hier wieder, dass es etwas gibt, was eben unbeabsichtigt entsteht, etwas, was sich nicht mehr klar ausleuchten lässt. Forschen heißt ja immer einer bestimmten Frage nachgehen und ein Auffalten, warum man das überhaupt macht. Das kann ja auch unheimlich verkommen, so etwas wie eine künstlerische Forschung, das ist dann wie eine Deko oder eine Äußerlichkeit, die ganz interessant aussieht. Aber was heißt das eigentlich? O-Ton Gerda Lampalzer: Das ist ja die Kritik, dass sich vor allem Künstler dann zur Seite gedrängt fühlen. Und ich frage mich jetzt, je länger ich mich damit beschäftige, ob nicht doch der Widerspruch zu groß ist zwischen einer wissenschaftlichen oder einer künstlerischen Haltung. Ob das überhaupt kompatibel ist. Also die Frage ist eben, was künstlerische Forschung überhaupt ist. Mir wird das immer unklarer. O-Ton Nina Rippel: Auf der einen Seite glaube ich, dass Forschung grundsätzlich immer einen Sinnüberschuss produziert. Das Problem ist, wie werden diese Begriffe eingesetzt. Also in welche Richtung biegt man das. Da müsste man jetzt darüber sprechen, dass im Bereich dieses ganzen Wirtschaftskomplexes die Frage der Kunst ja eine unglaublich große Rolle spielt. Kunst als Entrepreneurship, Kunst als Betriebsklima, Kunst als Unternehmenskultur oder in bestimmten Produktvermarktungsstrategien und so weiter. Es gibt eine Zurichtung von Kunst, die da greift. Und die man natürlich zurichten könnte unter dem Begriff der Forschung. Gleichzeitig könnte man das auch ganz anders sehen. Das ist das Komplizierte daran, wo man sehr genau in die einzelnen Diskurse einsteigen müsste. Aber was daraus resultiert, ist ja die Frage, wie kann man dieses Labeling, in dem sich dann ja wieder die Sachen, die einen selber interessieren, abdichten, wie kann man das immer wieder durchschauen. Und das ist eine Haltung. Eine Haltung des Hinterfragens den Dingen gegenüber, ganz egal, in welche Richtung sie geht. Also die vielleicht sogar auch für einen Moment von der Kunst weggehen kann, aber eine Haltung des Hinterfragens bleibt. Das finde ich wichtig. Kommentartext: Christian Bau beantwortet die Frage schließlich mit einem Bericht aus der Praxis des Suchens und Versuchens. 97

O-Ton Christian Bau: Wir haben uns in der thede zwischendurch immer so Filme geleistet, wie so kleine Fingerübungen oder so. Aus Lust am Schauen, wo Manfred Oppermann und ich im Eiscafé sitzen und uns unterhalten: „Wie soll es weitergehen?“ Da haben wir im Grunde genommen schon das gemacht, dass wir unsere eigene Situation, in der wir da in dieser Gruppe steckten, wie es weitergehen sollte mit der Technik, mit uns selbst, in so eine filmische Form gefasst haben. Das war für die damaligen Verhältnisse unglaublich und ungeheuerlich, dass wir uns da selbst so eingebracht haben. Das ist der Film, wo wir dann auch andere Leute gefragt haben, wie es ihnen eigentlich geht. Wo wir uns fragen, wie es uns geht, was wir in dem Moment nicht unbedingt beantworten konnten außer mit der Antwort: „Doch ich habe noch Lust weiterzumachen.“ Und dann andere Leute gefragt haben: „Wie geht es euch eigentlich mit eurer Arbeit?“ Und dann versucht haben, für uns eine Antwort zu finden und uns erlaubt haben, zum Beispiel unsere Lieblingsfilme einzuschneiden. Ich irgendeinen, Manfred Oppermann, glaube ich, einen Werwolffilm, wie ein Mensch sich in einen Werwolf verwandelt. Und das war natürlich für die damalige Zeit, wo die meisten Leute dachten, aus diesen Kollektiven kommen nur politische Videos, völlig außerhalb der Zeit. Vollkommen rausgefallen. Aber es ist nach wie vor ein sehr schönes Band. Das beste Beispiel ist dann eigentlich so etwas wie Mai Tape. Das Band Mai Tape war eigentlich ein Test. Wir haben uns gefragt, können wir einen Film in der und der Zeit schaffen. Können wir einen Film von so einer Länge schaffen? Eine Woche drehen, eine Woche schneiden. Ich weiß nicht mehr genau, ob das die Bedingungen waren, aber es war wie ein Test, wie ein Forschungsvorhaben und wir haben versucht, die Bedingungen zu erfüllen, die wir uns selbst gestellt haben. Also völlig absurd auf der einen Seite, aber für uns war das wichtig, um uns auch bestätigt zu fühlen, dass wir das können. Wir hatten, wenn ich mich richtig erinnere, bestimmte Sachen im Fernsehen gesehen. Da kamen so Magazingeschichten auf. Und das fanden wir damals interessant und haben gesagt: „Können wir das nicht auch?“ Und das konnte man sich damals nur erlauben, weil wir in so was waren wie in der thede. Weil wir die Produktionsmittel hatten und weil alles dafür sprach, dass wir das können. Wir konnten uns das erlauben, so ein Ding zu machen, völlig frei assoziieren, Großküche, Wetter. In Mai Tape gab es auch Sachen, die nicht hundertprozentig ernst gemeint waren. Wie eine Frau, die drei Minuten vor der Kamera sitzt und nichts sagt. Wir hatten versucht einen Gedanken zu übertragen. Das war natürlich nicht erst gemeint, obwohl es ernst aussieht, aber es war zum Scheitern verurteilt und das wussten wir. Und wir haben trotzdem gehofft, dass irgendwas dabei rauskommt. Also das konnte man als Zuschauer nicht begreifen, sondern man sah diese Frau und hat sich nur gewundert. Man kannte auch die Versuchsanordnung mit der Frau nicht. Die haben wir über ein Inserat bekommen, sie hatte sich gemeldet wegen Gedankenübertragung. Und sie war ganz ehrlich und so. Das war ja ein Medium. Die Frau war ja ein Medium und wir haben mit Medien gearbeitet. Also da könnte man schon weiter, wenn man wollte. Aber es hat niemanden gegeben, den das wirklich interessiert hat und der das propagiert und gesagt hat, das ist doch sensationell oder das müsste in eine Mediengeschichte eingeschrieben werden. Und trotzdem, auch so ein Band ist nach wie vor ein entscheidendes Band aus dieser Zeit und aus unserem Werk.

98

O-Ton: Filmausschnitt: aus Mai Tape Medium: „Ich bin im Moment raus. Aber das war ganz merkwürdig. Ich habe so eine Vision gehabt. Es wurde irgendwas gezeigt, als wenn das in Südamerika gewesen wäre. Da bin ich mal gespannt, ob da was davon …, im Moment ist der Faden weg.“ Kommentartext: Sie hörten Ausschnitte aus den Produktionen: WOSSEA MTOTOM – Die Wiese ist grün im Garten von Wiltz, Gustav Deutsch / Gerda Lampalzer / Manfred Neuwirth 1984 Der Geflüsterte Film, Nina Rippel 1992 Zwiebelfische, Christian Bau 2010 Mai Tape, Christian Bau / Manfred Oppermann 1991

99

Obere Reihe v.l.n.r.: 1. Plakatmotiv für die Volks stöhnende Knochenschau 2. Visionieren des Videomaterials (Susa Zahraditsch, Andi Stern, Projektteam „Bezahlt wird nicht“) 3. Vorführung mit dem Videobus, Fußgänger­ zone Mödling 4. Gruppenbild (Manfred Neuwirth, Gerda Lampalzer, Ferdinand Stahl, Gustv Deutsch) Untere Reihe v.l.n.r.: 1. Aufbau Videobus 2. Entwurf für Plakatmotiv (François) 3. Selbstdarstellung Medienwerkstatt (Ferdinand Stahl, Gerda Lampalzer, Gustav Deutsch, Andi Stern, Manfred Neuwirth) 4. Dreharbeiten zu ASUMA (Manfred Neuwirth)

Obere Reihe v.l.n.r.: 1. Die thede bei Nacht 2. Fächer für MitarbeiterInnen und Projekte 3. U-matic Schnittplatz 4. Glasvitrine mit wechselnden Schaustücken 5. Straßenfest in Altona Untere Reihe v.l.n.r.: 1. Die thede-Familie nach dem Dreh zu Lubitsch Junior (Jens Huckeriede, Christian Bau, Nina Rippel, Maria Hemmleb, Heinz Joachim Klein, Heidi Kurtz, Jenny Ramcke, Peter Stockhaus, Max, Barbara Metzlaff, Manfred Oppermann) 2. Videodreh Stadtteilfilme (Manfred Oppermann, Stefan Mayer) 3. Vorführleinwand im 16mm Schnittraum 4. Dreharbeiten zu Lubitsch Junior (Jens Huckeriede, Jenny Ramcke, Peter Stockhaus, Manfred Oppermann, Maria Hemmleb)

104

Videothek 105

106

107

­

Der Geflüsterte Film Nina Rippel Was ist für Sie das Wesentliche am Filmprojekt Der Geflüsterte Film? Der Geflüsterte Film ist für mich in erster Linie eine ausgeklügelte filmische Forschungsarbeit zum Thema Wahrnehmung. Schon wenn man das Infoblatt in Händen hält, wird man von einem Sinneseindruck überrascht, dem man üblicherweise nicht ausgesetzt ist. Die punktförmigen Erhebungen der Braille-Schrift appellieren an den Tastsinn und fügen der dreisprachigen Information über den Film (deutsch, englisch, französisch) noch eine vierte in Blindenschrift hinzu. Auch der Untertitel des Films regt zum Nachdenken an: Der Geflüsterte Film. Ein Film mit Blinden für Hörende und Sehende. Nina Rippel war es nach eigener Aussage ganz wichtig, dass dieser Film für Blinde genauso gut funktioniert wie für Sehende. Sie hat auch mehrmals angeregt, dass der Film von Blinden und Sehenden gemeinsam besucht wird, damit sie ihre Erfahrungen austauschen können. Es ging ihr also um ein anderes Kino, um Kommunikation und natürlich auch um das schöne Paradoxon, einen Film über das Blindsein zu machen. Vor allem aber ging es um die Sensibilisierung dafür, dass Blinde eine Wirklichkeit haben, die man sich als Sehende eigentlich nicht vorstellen kann, eine Feinabstufung der nicht visuellen Wahrnehmung, die Nicht-Blinde nie erreichen werden. Das Medium Film wird bei diesem Projekt in ganz besonderer Weise dafür eingesetzt, diese Übersetzungsarbeit von Wahrnehmung zu Wahrnehmung zu leisten. Der Geflüsterte Film versteht sich zwar als Dokumentarfilm, die beschreibenden Passagen werden aber immer wieder übergangslos durch experimentelle Teile weitergeführt. So gelingt es, die Kategorie Dokumentarfilm in ihrer Definition weiter zu treiben und die „Arbeit des Mediums“ selbst mitzuvermitteln. Für mich ist die sinnliche Wirkung des Films das Ergebnis von Nina Rippels langjähriger künstlerischer Beschäftigung mit filmischer Wahrnehmung, der ein leitender Gedanke zu Grunde liegt: Film ist ein Erkenntnisinstrument. Dieser Zugang hat mir von Anfang an gefallen, aber dazu muss ich vielleicht erzählen, wie ich Nina Rippel und ihre Arbeitsweise kennen gelernt habe.

Wie haben Sie Nina Rippel kennen gelernt? Unsere erste Begegnung war eigentlich für die damalige Zeit typisch. 1985 fand in Wien ein mehrtägiges internationales Video­ festival (1) statt, dessen Besucherinnen möglichst privat untergebracht werden sollten. Da unsere WG damals ein Gästezimmer hatte, wurde mir eine Nina Rippel aus Hamburg zugeteilt. Es stellte sich heraus, dass sie Mitglied der thede (2) war, die ich ein Jahr zuvor auf dem 1. Freiburger Videoforum (3) kennen gelernt hatte. Somit konnten wir gleich unsere Arbeitserfahrungen punkto Medienzentren austauschen, entdeckten unsere Begeisterung für Unterwasseraufnahmen und verbrachten vier intensive Tage miteinander. Wir waren so inspiriert, dass wir noch während des Festivals beschlossen, ein Videoprojekt zusammen zu machen. Die 1000 Kilometer Entfernung zwischen Wien und Hamburg überbrückten wir mit der Idee, das Ganze als Videobriefprojekt zu planen. (4) Nicht lange danach besuchte ich Nina Rippel in Hamburg und da zeigte sie mir Unterwasseraufnahmen, die sie gerade zu einem Videostück montierte. Sie wollte die Körpererfahrung der Schwerelosigkeit und der veränderten Bewegungs-

108

muster unter Wasser audiovisuell vermitteln. Die Aufnahmen einer mit T-Shirt und Hose bekleideten Schwimmerin (Nina Rippel selbst) kombinierte sie zu einer Bewegungschoreografie, die einer strengen, fast musikalischen Struktur folgte. (5) Im Nachhinein kann man sagen, dass man damals schon die wichtigsten Elemente gesehen hat, die ihre weiteren filmischen Forschungsarbeiten bestimmten, nämlich den persönlichen körperlichen Einsatz bei der Recherche und ein durchgearbeitetes formales Gerüst für die Umsetzung. Für ihre nächste Arbeit Unter Horizont (6) hat sie sogar einen Tauchkurs gemacht, um selbst die Unterwasserkamera führen zu können. Mir hat dieser Zugang damals extrem gefallen. Ihr Ansatz, durch geordnetes Probieren Denkprozesse auszulösen, war für mich ein ganz wichtiger Impuls. Wir haben uns dann regelmäßig ausgetauscht, mindestens einmal im Jahr besucht und – nicht zuletzt auch anhand unseres Videobriefprojekts – eine intensive künstlerische Auseinandersetzung geführt.

Wie ist die filmische Forschungsarbeit im Geflüsterten Film umgesetzt? Da es hier ja um die Wahrnehmung von Blinden geht, wird viel mit Abstrahierung und Hervorhebung gearbeitet. Es gibt zum Beispiel immer wieder grob gerasterte Schwarzweiß-Aufnahmen, die sie, soviel ich weiß, selbst entwickelt hat. Sie lassen durch eine extrem subjektive Kameraführung das Bild kippen, tasten Dinge wie Pflanzen, Skulpturen oder Geländer und Böden visuell ganz dicht ab oder manipulieren die Wahrnehmung durch Geschwindigkeitsveränderung. Zum Bespiel erzeugt die Nahaufnahme eines Fahrradlenkers, der quasi führerlos einen Feldweg entlang rast, eine fast körperliche Angst zu stürzen. Gleich zu Beginn des Films gibt es eine Szene, wo eine der Protagonistinnen, Anoma, ein Boot besteigt, um auf einen See hinauszurudern. Zuerst sieht man sie das Boot abtasten, dann, wie sie lächelnd über das Wasser gleitet. Als die Kamerafrau mitten auf dem See den Platz wechseln will, wird das Bild schwarz. Die Anspannung Anomas in dem schwankenden Boot hört man nur an ihrer Stimme. Dazu wischende und knarrende Geräusche, Gerumpel, ein herzhaftes „Scheiße“. Das Bild bleibt so lange schwarz, bis alle wieder an ihrem Platz sitzen. Danach sieht man Anoma von hinten. Diese Szene ist unheimlich spannend. Sie lenkt die Aufmerksamkeit nicht nur auf die dicht gepackte Tonebene, sondern erzeugt gerade durch das nicht vorhandene Bild eine lebhafte Vorstellung von der Situation auf dem Boot. Besonders interessant wird der Film, wenn Leute zu Wort kommen, die selbst Spezialisten für die inneren und äußeren Bilder sind. Der blinde Bildhauer Walter Salzmann überzeugt zum Beispiel mit einer Aussage zu seinen stirnlosen figurativen Arbeiten: „Das Auge ist so sehr ein Element des Sehens und der Farbe und des Lichtes, dass mir das nicht zugänglich ist. Und das nehme ich mir heraus, das einfach wegzulassen.“ Und der blinde Fotograf Evgen Bavčar sagt auf die Frage, was für ihn das Wichtige an einem Foto sei: „Das Foto ist wichtig. Etwas besteht. Existenz. Zuerst müssen die Sachen bestehen. Wenn die Sachen nicht bestehen, kann man nichts tun. Das ist sehr wichtig.“ Es gibt auch Stellen im Film, wo es zu slapstickartigen Szenen kommt. So knallt eine der Musikerinnen des ägyptischen Blindenorchesters An-Nur Wa’l-Amal ihrer Kollegin ein Sesselbein ins Gesicht oder Evgen Bavčar verbrennt sich an seiner Zigarette. Eine Schlüsselszene ist

109

der gemeinsame Museumsbesuch des Künstlers P.P. Piccinato und Evgen Bavčars, wo Ersterer eine Reihe abstrakter Gemälde mittels Gesang, Geräuschen und gestischer Berührungen von Bavčars Hand beschreibt. Die Übersetzung ist vollkommen überzeugend. Die Tonebene des Films spielt natürlich eine wichtige Rolle. Es gibt zum Beispiel Leitklänge für bestimmte Personen, wie das Klingeln von Armreifen oder ein klickender Blindenstock. Geräusche wie Wind, Schritte, Wasser werden hervorgehoben und modelliert, Atmen oder das Rascheln von Kleidung am Körper ist überdeutlich zu hören. Charakteristische Atmos wie Hafen, Stadtlärm oder Natur sind meist mehrfach überlagert. Und schließlich gibt es die Musik des Orchesters, die sich im Lauf des Films von der Kakophonie bei den Proben zu einer leicht schrägen Harmonie bei einem Freiluftkonzert verwandelt, wo sie langsam mit dem Verkehrslärm von Kairo verschmilzt.

Wie kann man diesen Film heute einordnen? Der Schlüssel zur Bedeutung dieses Films liegt für mich immer noch darin, dass er von einer bildenden Künstlerin gemacht wurde. Wie ich bereits erwähnt habe, vermittelt er seine eigene Sprache – Zeit, Bewegung, Licht, Nicht-Licht usw. – gerade dann explizit mit, wenn er zeigen will, was nicht direkt gesehen werden kann: die Sinneswelt der Nicht-Sehenden. Damit bedient er sich des künstlerischen Vokabulars der Annäherung, des Versuchs, der Assoziation, des Gedankenblitzes, um seine Untersuchungen und Demonstrationen durchzuführen. Obwohl er damit eigentlich vom Rand her operiert und außerdem in einer Struktur produziert wurde, die sich als Alternative zum Film-Business verstand, war der Film recht erfolgreich. Er lief 1992 im Forum der Berlinale und erhielt den Preis der deutschen Filmkritik. Er hat mit seiner Fragestellung und der genauen Umsetzung auch ein filmtheoretisches Interesse erfahren, das sich in zahlreichen Einladungen im universitären Bereich niederschlug. Interessanterweise hat sich Nina Rippel nach diesem Film selbst verstärkt der Theorie zugewandt, um ihre zentrale Thematik sozusagen von der anderen Seite her zu behandeln: Film als Denken, Film als Handeln, Film als sein eigener Vermittler.

110

1. Internationale Video-Biennale Wien. Der Beitrag von Frauen zum Medium. 18. April bis 21. April 1985, Palais Palffy, 1, Josefsplatz 8 (2) Die thede wurde 1980 von Filmemachern und Filmliebhabern „zwecks emanzipatorischer Medienarbeit” gegründet. In den Räumen eines alten Geschäfts­ lokals in der Thedestraße (Hamburg) wurde die Idee eines Medienzentrums auf freundschaftlicher Basis verwirklicht. Vgl.: http://www.diethede.de/10-0-Der-Verein.html (3) 1. Freiburger-Videoforum. 31. Oktober bis 4. November 1984 im Alten Wiehrebahnhof Freiburg. Organisation und Durchführung: Medienwerkstatt Freiburg / Kommunales Kino Freiburg. Eines der ersten deutschsprachigen Festivals, die sich der unabhängigen Videoproduktion im experimentellen und Dokumentarbereich widmeten. Aus dem Vorwort des Festivalkatalogs: „Wir wollen kein Umschlagplatz für Software sein, sondern – wenn schon – ein Umschlagplatz von Ideen, Erfahrungen, der verordneten Stromlinienförmigkeit sich entgegenstemmenden Darstellungsweisen.“ (4) Gerda Lampalzer / Nina Rippel: CADAVRE EXQUISIT, Österreich/Deutschland 1989, Video, 9:00 min Basierend auf der Idee des „Cadavre Exquis“, eines literarischen Spiels der Surrealisten, wurden Videobild und -ton stückweise auf die wiederholte (postalische) Reise zwischen Hamburg und Wien geschickt. Es wuchs ein Band, das sich aus den Assoziationen der Künstlerinnen zu den jeweiligen Ideen der anderen zusammensetzte, und es entstand eine Geschichte, die immer mehr in den Sog der Abwesenheit der anderen geriet. (5) Nina Rippel: Drei Unterwasserstücke mit Cello, Deutschland 1985, Video, 6:00 min Eine Frau bewegt sich durchs Wasser, begleitet von Cellotönen. (Preis für Videokunst, Marseille 1986) (6) Nina Rippel: Unter Horizont, Deutschland 1988, 16mm, s/w, 10:00 min Der Film zeigt eine Frau, die schwimmt, aus einer ungewohnten Perspektive – unter Wasser. Nicht an einem Ort, sondern aus einer ständigen Bewegung heraus entstehen Bilder, Bewegungen, die in ihrer unmittelbaren Entstehung eine sinnlich-körperliche Empfindung vermitteln. (1)

111

112

113

114

115

Lubitsch Junior Christian Bau / Jens Huckeriede / Manfred Oppermann / Jenny Ramcke / Peter Stockhaus Wie sind Sie mit dem Projekt Lubitsch Junior in Berührung gekommen? Wir als Medienwerkstatt Wien sind damals schon seit längerer Zeit mit der thede Hamburg (1) in freundschaftlichem Austausch gestanden. Wir wussten, dass sie an einer ungewöhnlichen Produktion, nämlich einer Fiktion in Gestalt eines Dokumentarfilms, arbeiteten, und waren sehr gespannt auf das Ergebnis. Im Mai 1991 stellten Christian Bau und Manfred Oppermann Lubitsch Junior in der Medienwerkstatt Wien vor. Soweit ich mich erinnere, fand ich den Film damals genial. Ich muss jetzt etwas aus­ holen, weil vor allem die Entstehungsgeschichte dieses Projektes wichtig ist. Ursprünglich hatte das Team der thede für einen Film über das Fronttheater im Zweiten Weltkrieg recherchiert und dafür Zeitzeugen gesucht. Es meldete sich ein Herr, der von sich behauptete, der unbekannte Sohn von Ernst Lubitsch zu sein. Er habe sich als Jude und Widerstandskämpfer im Front­ theater versteckt, sei in der Sowjetunion als Agent ausgebildet worden und er habe das Drehbuch zu Lubitschs bekanntem Film Sein oder Nichtsein verfasst und nach Amerika geschmuggelt. Die Filmemacher stürzten sich natürlich begeistert auf diesen „idealen Zeitzeugen“, doch seine Geschichten wurden immer widersprüchlicher. Mitten in dieser Phase der Vorgespräche und Recherchen verstarb Herr F. Lubitsch ganz plötzlich und das Team stand mit einem Haufen Geschichten da, von denen es nicht wusste, ob sie wahr oder erfunden waren. Da kamen sie auf die Idee, die Erzählungen nachträglich zu inszenieren, und verfassten ein Drehbuch, das auf den Recherchematerialien basierte. Ich lese kurz aus dem Treatment vor, weil diese Situation so schön zusammengefasst wird: „Wie für die Arbeit der thede typisch, sind wir so gründlich an die Arbeit gegangen, haben dermaßen lange diskutiert und gezweifelt, daß wir darüber vergessen haben, daß ein Leben zu kurz sein kann. Mit dem Tod ,unseres Helden‘ wurde die Arbeit an dem Stoff für zwei Monate aufgegeben. Nach einiger Zeit merkten wir jedoch, daß es uns nicht in Ruhe ließ. Das Thema und die Be­schäftigung damit hatten schon zu viel in uns aufgewühlt. Dazu kam, daß wir die Witwe regelmäßig besuchten, Wasser in ihre Heizung nachfüllten, Teppich­böden bei ihr auslegten und sie uns Aktenberge, Tonkassetten, Tagebuchauf­zeichnungen und die Kamera ihres Mannes gab. Aber wie sollen wir einen Film ohne Hauptdarsteller realisieren? Einfach nur die Tonbänder? Ein Hörspiel? Wo bleibt der Lubitsch touch? Ein Recherchenfilm mit Zeitzeugen? Wo bleiben die schillernden Schilderungen, die sich wie Drehbuchvorlagen für Ernst Lubitsch anhören? Ein SCHAUSPIELER muß her! Und zwar einer der ersten Garnitur – intelligent! Er muß unseren Helden spielen! Mit ihm ließe sich die Begegnung rekonstruieren. Mit ihm ließen sich Situationen/Szenen dramatisieren, die uns F.L. erzählt hat, die wir mit ihm erlebt haben. Kein Fake, nichts Ausgedachtes – alles echt, wie im richtigen Leben! Jetzt allerdings mit der Möglichkeit, unsere Sichtweise, unsere Interpretation mit ins Spiel zu bringen – durch Inszenierungen.“ (2)

116

117

Das Filmprojekt wurde gefördert und somit konnte gedreht werden. Herr F.L. wird im Film Herr Mayer-Lubitsch genannt. Die Vorführung in der Medienwerkstatt Wien war insofern spannend, als außer uns niemand wusste, dass das meiste inszeniert war. Der Look ist ja vor allem am Anfang, wo immer wieder Originalmaterial aus Archiven gezeigt wird, ganz dokumentarisch. Das Publikum schöpfte zwar an unterschiedlichen Stellen Verdacht, viele erkannten die Fiktion aber erst am Abspann. Die Diskussion war dann dementsprechend aufgeregt. Die Standpunkte waren sehr gegensätzlich, die einen fanden die Herangehensweise total spannend, die anderen fühlten sich getäuscht und waren fast ein bisschen beleidigt. Für mich war der Film damals extrem außergewöhnlich. Ich fand es sehr mutig, dass der Film die Frage nach der Wahrheit nicht versucht hat zu beantworten, sondern selbst in dieses Spiel mit Schein und Wirklichkeit eingestiegen ist. Das fand ich künstlerisch total konsequent.

Wie sehen Sie den Film heute? Man muss sich vergegenwärtigen, dass 1990 so etwas wie Dokufake oder Mockumentary als Genre ja noch gar nicht bekannt war. Es gab zwar einzelne Filme dieser Art, wie z.B. Zelig oder F for Fake (3), aber das waren Ausnahmen. Im deutschsprachigen Raum war dieses Projekt eigentlich eine Pionierleistung, die auf ein vergleichsweise naives Publikum traf. Dazu kommt, dass es zu der Zeit noch sehr umstritten war, sich mit dem Nationalsozialismus auf ironische oder humorvolle Weise auseinanderzusetzen. Auch hier hat sich Lubitsch Junior weit vorgewagt. Für mich ist das Projekt bis heute auf mehreren Ebenen interessant. Einerseits ist diese Form ja eigentlich aus Mangel gewählt worden, da der Hauptprotagonist nicht mehr greifbar war. Andrerseits ist dieses Spiel mit Fiktion und Wahrheit auch eine unglaublich vielschichtige Analyse des Dokumentarfilms als künstlerischer Form. Will man diesen vortäuschen, muss man sich ja sehr genau mit seiner Sprache auseinandersetzen. Erst dann gelingt es, das Publikum zu einem dokumentarischen Lektüremodus zu verführen. Es kommt unweigerlich zu Fragen nach filmischer Wahrheit oder der Rolle der Autoren. Ich habe mich viel später auch theoretisch mit dieser Frage auseinandergesetzt, weil ich finde, dass sie nichts von ihrer Aktualität verloren hat. (4) Ganz wichtig ist für mich auch, dass diese Produktion in einem Kollektiv von mehrheitlich Kunsthochschulabsolventen entstanden ist, die sich auch konzeptuell mit Film auseinandergesetzt haben. Gerade in den „Filmen im Film“ (5) wird mit großer Liebe zum Detail und zugleich höchst ironisch mit Formen des Found Footage gespielt. Teilweise erhält der Film hier fast surreale Qualitäten. Es findet sich aber auch eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den so genannten „Zeitzeugenfilmen“, die vor allem im deutschsprachigen Raum zu einem wichtigen Mittel politisch korrekter Geschichtsaufarbeitung geworden sind. Die Filmemacher scheinen zunächst einen idealen Zeitzeugen gefunden zu haben, der mit dem Namen „Lubitsch“ auch gleich ihre Liebe zum Film nährt, das Ende legt aber nahe, dass es eine wahre Geschichte gar nicht gibt. Nicht nur das Publikum, auch die Filmemacher

118

119

sind ja in Unsicherheit belassen. Ich lese noch einmal Stellen aus dem Treatment vor, die diese ganze Verwebung aus historischer Recherche, filmischem Einfallsreichtum und persönlicher Ungewissheit gut beschreiben: „Die Witwe schenkte uns die uralte Bolex 16mm ihres Mannes. Dazu noch einige Rollen Filmmaterial, das ihr Mann mit dieser Kamera gedreht hat. In der Projektion ist fast nichts zu erkennen: unscharf, verwackelt, überbelichtet, nur ab und zu entdecken wir Zelte. Wir sind zwar enttäuscht über das Material, aber wiederum passt alles zusammen: wir kommen der Person F.L. nie ganz nahe. Als ob die Beweise, die Zeugnisse sich gegen uns, unsere Neugierde verschworen haben. Wir fragen uns, wie es wäre, wenn die Kamera das Unbewußte des F.L. gespeichert hätte? Welche Bilder würde uns, den Zuschauern dieses Unbewußte liefern? Einen ungehinderten Sturzbach der Erinnerungen, wie von der Couch eines Analytikers? Diese Idee mit der Kamera ermöglicht es uns, in andere, neue Tiefen vorzustoßen. Bilder, Zusammenhänge zu zeigen, die durch die Recherchen nicht zu belegen, zu erklären sind. […] Die Fantasien von F.L., aber auch unsere eigenen Projektionen des Unbewußten. […]“ „Mit all diesen Bemühungen suchen die Filmemacher Antworten auf folgende Fragen: War F.L Jude? War F.L. Opfer? War F.L. Täter? Was veranlaßt ihn diese Geschichte zu erzählen? Hat er so schreckliche Dinge erlebt, daß er sie nicht erzählen kann? Hat er seine Identität nach 45 gewechselt? Oder ist er ein pathologischer Aufschneider?“ (6) Zusammenfassend muss ich sagen, dass Lubitsch Junior für mich nach wie vor ein inspirierendes Beispiel für einen künstlerischen Prozess am Übergang zwischen Forschung und Erfindung ist. Da einige der Protagonisten im Film auch echt sind – z.B. ein Filmhistoriker, ein Psychologe, diverse Variété-Künstlerinnen und -künstler und schließlich das Filmteam selbst –, verläuft auch der Übergang vom Dokumentarischen zur Fiktion fließend. Ein filmisches Hybrid, das nach wie vor viel Anregung zu medientheoretischer Reflexion gibt. (1)

(2)

(3) (4)

(5)

(6)

120

Die thede wurde 1980 von Filmemachern und Filmliebhabern „zwecks emanzipatorischer Medienarbeit” gegründet. In den Räumen eines alten Geschäftslokals in der Thedestraße (Hamburg) wurde die Idee eines Medienzentrums auf freundschaftlicher Basis verwirklicht. Vgl.: http://www.diethede.de/10-0-Der-Verein.html Zitiert aus dem Förderungsantrag an die Hamburger Filmförderung: Arbeitstitel: Lubitsch Junior, Dokumentarspielfim, Buch und Regie: die thede. Antragstellerin: die thede, Hamburg 1988 Zelig, Woody Allen, USA 1983; F for Fake, Orson Wells, USA 1975 LAMPALZER Gerda (2007): „LUBITSCH JUNIOR (1990) – oder ein als Dokumentarfilm getarnter Spielfilm, der eine Geschichte erzählt, von der man nicht weiß, ob sie wahr ist oder falsch“. In: Patric Blaser, Andrea B. Braidt, Anton Fuxjäger, Brigitte Mayr (Hrsg.): Falsche Fährten in Film und Fernsehen, Maske und Kothurn – Internationale Beiträge zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien, Jg. 53/ 2–3, 2007 Im Film gibt es eine zerkratzte Super8-Aufnahme von Adolf Hitler und Eva Braun im Wald sowie eine Dokumentation aus einem Ausbildungslager für Agenten in Witebsk/UdSSR. Beide wurden angeblich von Herrn Mayer-Lubitsch selbst gedreht, sind aber gefaked. siehe (2)

121

122

123

Mai Tape Christian Bau / Manfred Oppermann Woran erinnern Sie sich im Zusammenhang mit Mai Tape? Ich muss ehrlich gestehen, ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wann ich dieses Video zum ersten Mal gesehen habe. Es muss jedenfalls bei einem Besuch in der thede Hamburg (1) gewesen sein, wo Manfred Oppermann und Christian Bau es als Versuchsanordnung für ein mögliches neues Format vorgestellt haben. Ich kann mich allerdings gut an die Diskussionen um dieses Video erinnern, weil es um Themen ging, die mich damals auch beschäftigten, nämlich um Formate des audiovisuellen Erzählens. Soviel ich weiß, bezog sich die Diskussion in der thede damals mehr auf das Fernsehen, also darauf, welche neuen Fernsehformate man sich wünschen würde oder anbieten könnte. Mich hat Mai Tape aber ganz allgemein im Hinblick auf das Erzählen mit Video interessiert. Mit dieser Frage hatte ich mich zu dem Zeitpunkt schon länger beschäftigt, auch weil sie in den 1980er Jahren ein wichtiges Thema in der Videokunst war. Das Vokabular für ein so genanntes „New Narrative“ (2) wurde damals vor allem im Zusammenhang mit den neu zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten von Video gesehen, also Bild-im-Bild-Montagen mittels elektronischer Masken oder Blue Box, Zeitmanipulationen, Mehrfachbilder und so weiter. Diese Effekte ermöglichten eine mehrschichtige Erzählform, die damals als videospezifisch in den Kunstdiskurs eingebracht wurde. Wobei wichtig ist zu erwähnen, dass das alles noch analoge Technologien waren, das heißt, die Montage war eigentlich sehr zeitintensiv und kompliziert. (3) Mittlerweile würde ich sagen, dass diese Ästhetik der mehrfachen Bildschichtungen als typisch für die 1980er Jahre in die Videokunstgeschichte eingegangen ist, wobei die technischen Voraussetzungen dafür genau genommen erst mit der Digitalisierung bzw. dem nonlinearen Schnitt in ausgereifter Form zur Verfügung standen. Als ich dann Mai Tape gesehen habe, war ich sehr angeregt davon, dass hier genau das Gegenteil geboten wurde, nämlich dokumentarische Bilder unkommentiert und unmanipuliert in Ruhe betrachten zu können. Durch die Länge der Szenen wurde so etwas wie ein schweifender Blick möglich und man konnte immer mehr Details wahrnehmen, ohne Angst zu haben, dass gleich wieder umgeschnitten wird. Wenn man so will, ist hier eine andere Seite der Videospezifik zum Zug gekommen, nämlich die Möglichkeit, Bild und synchronen O-Ton über lange Zeit ununterbrochen aufzunehmen, ein Charakteristikum, in dem Video von Anfang an seinem technologischen Vorgänger Zelluloidfilm überlegen war. Mai Tape zeigt eine Auswahl von Arbeitsplätzen in Hamburg, die – wie der lakonische Titel bereits aussagt – im Mai aufgenommen wurden. Ein Konzept, das ganz einfach und zugleich unbegrenzt wiederholbar war, also auch für eine Fernsehserie geeignet, wie die Autoren damals zur Diskussion stellten. Eine Diskussion, die natürlich auch ihren Hintergrund hatte, nämlich wie man als Produktionskollektiv mit seinen filmischen Experimenten eine kontinuierlichere Präsenz in den öffentlichen Medien erlangen könnte.

124

Was ist auf Mai Tape eigentlich zu sehen? Der Titel, den ich in seiner Einfachheit immer noch perfekt finde, wird laut gelesen. Das ist schon mal ungewöhnlich. Dann sieht man Satellitenaufnahmen in schwarz/weiß, die mit Gewittergeräuschen unterlegt sind, daraufhin eine schweigende, sich offensichtlich konzentrierende Frau, die nach längerer Zeit direkt in die Kamera spricht. Sie hätte eine Vision gehabt, aber jetzt den Faden verloren. Wieder die Satellitenbilder, „Mai 1991“ ist in der technischen Infozeile links oben gerade noch zu lesen. Dann folgen Szenen in einer Großküche und in einem Großraumbüro, die sich im Abspann als „Betriebsverpflegung Nord“ und als „Telefonauskunft Inland“ erweisen. Danach eine Geigerin in enger Nahaufnahme, die sich beim Musizieren immer wieder aus dem Bild bewegt. Zwischen den Szenen die Satellitenbilder, Wolken über dem Atlantik, Wirbel über Europa. Dann kommen die Aufnahmen, die mir damals fast am besten gefallen haben. Es geht um die Erzeugung von Metallfedern. Radiomusik, Nahaufnahmen von sich drehenden Spulen, sich wickelnden Drähten, einer Gasflamme. Das Werkstattbüro ist im Bild, es wird telefoniert, gehämmert, unter Funkenregen geschliffen, man sieht all die kleinen Handgriffe, die Geräte, zum Schluss dann die Hinterhofwerkstatt von außen. Man schaut einfach zu und das ist es. Ich kann mich erinnern, dass ich damals bei dieser Szene das Gefühl hatte, das Konzept von Mai Tape erst richtig erfasst zu haben. Mehr noch, ich habe sofort unbändige Lust bekommen, auch solche Aufnahmen zu machen, einfach mit der Kamera zuzuschauen, wie jemand etwas Interessantes macht. Wie als Kind, wo ich auch selbstvergessen einfach zugesehen habe, wenn mich etwas fasziniert hat. Weiter geht es mit Aufnahmen vom Wohnungsamt, wo eine Frau am Schreibtisch sich erst kurz mit den Filmemachern unterhält und dann Reisefotos aus der „Ex-DDR“ betrachtet, wie sie sagt. Auch hier durchgehend Radioton. Dann Aufnahmen aus einem Asia Imbiss, Action Cooking auf offenem Feuer, im Vordergrund wird serviert. Die letzte Szene ist dann sehr ungewöhnlich. Man sieht einen Orgelspieler von schräg hinten, der, während er spielt, immer wieder auf einen Monitor blickt. Langsam entschlüsselt sich die Szene, er vertont einen Film und zwar La Passion de Jeanne d‘Arc von Carl Theodor Dreyer. (4) Die Dramatik steigert sich durch die immer wilder werdenden Bewegungen des Musikers und die anschwellende Musik, während auf dem Bildschirm die letzten Szenen des Films laufen. Blickmäßig ist man total in dem Dreieck zwischen Tastatur, Hinterkopf des Musikers und Monitor gefangen. Dann folgt noch einmal eine Satellitenvariation und der Abspann. Hier löst sich auch auf, worin die Arbeit der Frau besteht, die am Anfang gezeigt wurde. Sie war Medium.

125

Das Band ist von 1991, wie würden Sie seine Relevanz heute einschätzen? Interessanterweise nimmt dieses Band viel vorweg, was später in ganz anderen Zusammenhängen auftauchte. Die formale Strenge, also nur Originalton, keine Requisiten, kein künstliches Licht und so weiter, erinnert zum Beispiel an die Bewegung Dogma­ 95 (5), die vier Jahre später die Diskussionen im Filmbereich auf die Frage nach der Wahrhaftigkeit des Filmischen lenken sollte. Die Satellitenaufnahmen, die 1991 nur Profis oder TV-Redaktionen zugänglich waren, nehmen die automatisierten Kamerabilder der zahlreichen Wettersatelliten und Webcams vorweg, die man mittlerweile privat im Internet anwählen kann. Sie finden übrigens interessanterweise auch heute ihren Weg in die Medienkunst. (6) Die Idee hinter Mai Tape, das Bild wie ein Tableau zu präsentieren, um einen gesetzten Ausschnitt aus der Wirklichkeit zu zeigen, in der sich Veränderung und Wiederholung quasi unendlich vollziehen, funktioniert noch immer. Dass die Arbeitswelt gezeigt wird, ist ebenfalls von zeitloser Aktualität. Die Frage, die damals mit dieser Versuchsanordnung für einen Sendungs-Prototyp verknüpft war, nämlich nach Repräsentanz von freien Produktionen im Fernsehen, hat sich wahrscheinlich ein wenig verschoben. Heute geht es eher um einen Platz im Kunstbetrieb oder auf Kunstkanälen, wo es allerdings ebenso hermetisch zugeht wie damals im Fernsehen. Das für heute wirklich Relevante an diesem Projekt ist meiner Meinung nach seine Einbettung in eine bestimmte Produktionskultur. Die Autoren folgten zunächst einem sehr konzeptuellen Plan, nämlich innerhalb eines selbst gesetzten Zeitraums ein fertiges Produkt zu schaffen, das öffentlich vorgestellt werden konnte. Aufschiebende Einflüsse wie das Warten auf Förderung oder einen Auftrag wurden gar nicht erst zugelassen, es wurde sozusagen ab Idee gedreht. Das war möglich, weil die Produktionsgeräte innerhalb des Medienzentrums thede zur Verfügung standen. Dann wurde das Produkt in eben dieser speziellen Öffentlichkeit des Medienzentrums vorgeführt, um das Experiment zu testen. Also weder im kleinen Freundeskreis noch im anonymen Festivalbetrieb wurde Mai Tape zur Diskussion gestellt, sondern in dieser spezifischen Situation der solidarischen Debatte. Ich glaube, das sind Umstände, die heute ganz schwierig zu erreichen sind, obwohl, technisch gesehen, die Produktion eines solchen Videos wahrscheinlich viel einfacher geworden ist. Was es kaum mehr gibt, sind unabhängige öffentliche Räume, in denen man sich ernsthaft mit einem Prozess ohne fixen Ausgang beschäftigen kann, einfach weil man sich der Auseinandersetzung stellen will. In einem kulturellen Umfeld der Jurys und Auswahlkommissionen, der kommerziellen Galerien und ebenso ehrgeizigen Off Spaces mit Jahresprogramm ist die Idee von solchen Bedingungen eigentlich schon wieder hochaktuell. Und soviel ich weiß, besteht unter jungen Künstlerinnen und Künstlern auch wieder der Wunsch danach.

126

Die thede wurde 1980 von Filmemachern und Filmliebhabern „zwecks emanzipatorischer Medienarbeit” gegründet. In den Räumen eines alten Geschäfts­ lokals in der Thedestraße (Hamburg) wurde die Idee eines Medienzentrums auf freundschaftlicher Basis verwirklicht. Vgl.: http://www.diethede.de/10-0-Der-Verein.html (2) Vgl.: WARWICK Margaret (1986): New Narrative. In: BODY Veruschka und Gabor (Hrsg.): Video in Kunst und Alltag, Köln 1986, S. 81–86 (3) Die analoge Videomontage bestand technisch darin, ausgewählte Szenen von einem Videotape (Zuspielband) in der gewünschten Reihenfolge auf ein zweites (Schnittband) zu kopieren. Somit war es nicht möglich, Szenen nachträglich einzufügen, die Reihenfolge musste vorher feststehen. Spezialeffekte wie Bildmanipulationen oder die Kombination von mehreren Bildern mussten über einen Trickmischer erfolgen, mit dem die Bilder von zwei oder mehreren Zuspielbändern zusammengefügt und dann auf das Schnittband kopiert wurden. Jeder Montage musste daher ein exakter Schnittplan vorausgehen. (4) Carl Theodor Dreyer: La Passion de Jeanne d’Arc, F 1928, s/w, 110 min (5) Das Manifest Dogma 95 wurde von vier dänischen Regisseuren (Lars von Trier, Thomas Vinterberg, Kristian Levring, Soeren Kragh-Jacobsen) zur „Befreiung des Kinos“ unterzeichnet und stellte zehn Gebote zur Rückbesinnung auf ein Kino der Wahrheit auf. Eine Erörterung des Themas findet sich auf: http://www.film-zeit.de/Themen-und-Listen/Thema/17/DOGMA-95-ODER-WIE-ALLES-BEGANN/Details/#page74 (6) z.B. Dariusz Kowalski: Optical Vacuum, A 2008, 55:00 min Das Video besteht ausschließlich „[…] aus Bildern von Überwachungskameras, die der Regisseur Dariusz Kowalski aus dem Internet geladen und sich durch Montage, Wiederholung und Zeitraffer angeeignet und geordnet hat. Öffentlicher Raum – Straßen, Parkplätze – wechselt mit halböffentlichem ab – Lobbies, Lounges, Räume mit Reihen von menschenleeren Computerarbeitsplätzen und den Spinden von Serverparks.“ (Claudia Slanar) Vgl.: http://www.dariuszkowalski.net/id/F_Optical.html (1)

127

128

129

130

131

WOSSEA MTOTOM – Die Wiese ist grün im Garten von Wiltz Gustav Deutsch / Gerda Lampalzer / Manfred Neuwirth Was bedeutet für Sie die Produktion WOSSEA MTOTOM – Die Wiese ist grün im Garten von Wiltz? Ich würde rückblickend sagen, WOSSEA MTOTOM war mein Einstieg in eine experimentelle Form dokumentarischer Arbeit und zugleich auch eine Einführung in eine sehr offene Kunstauffassung. Bei WOSSEA MTOTOM handelt es sich eigentlich um die teilnehmende Beobachtung eines für die frühen 1980er Jahre künstlerisch ungewöhnlichen Projekts: nämlich der gleichberechtigten Zusammenarbeit von Künstlern und geistig Behinderten. (1) Die Künstlergruppe Der Blaue Kompressor (2) hat damals ihren Ansatz als „gesamtkunstwerklich“ formuliert und das war auch die Idee bezüglich unserer Videoarbeit. Wir haben sie als Teil dieses Gesamtkunstwerks aufgefasst, wo Künstler und Künstlerinnen zusammen mit verschiedentlich behinderten Menschen einen öffentlichen Garten entworfen und gestaltet haben. Für mich war das in mehrfacher Weise aufregend. Bis dahin hatte ich noch nie so intensiv mit geistig Behinderten zu tun gehabt. In der Woche, in der wir mit ihnen dort wohnten, habe ich sie doch recht gut kennen gelernt und zum ersten Mal als „normale“ Menschen mit höchst unterschiedlichen Ausdrucksformen wahrgenommen. Am meisten hat mich überrascht, wie viel Humor und Selbstironie sie haben. Das hat meinen Blick auf so genannte „Behinderte“ nachhaltig geprägt. Ich habe sie danach viel aufmerksamer und differenzierter wahrgenommen als davor, wo ich überhaupt nicht wusste, wie ich mich ihnen nähern soll, und ihnen eigentlich eher ausgewichen bin. Was mich auch fasziniert hat, war die intensive Kombination aus Leben und Arbeiten. Das hatte ich als Uni-Studentin bisher so nicht gekannt. Alle Beteiligten waren im Haupthaus einer aufgelassenen Brauerei untergebracht und bildeten dort eine temporäre Wohngemeinschaft. Die Zimmer waren sehr ungewöhnlich gestaltet, die Einrichtungsgegenstände zum Teil selbst gebaut oder aus diversen Objekten umfunktioniert. Es gab einen relativ strikt geregelten Tagesablauf mit gemeinsamen Essenszeiten und regelmäßiger Arbeit an den verschiedenen Teilen des Gartens. Abende und Freizeit wurden zu einem regen gesellschaftlichen Leben genutzt. Ein verblüffendes Déjà-vu bezüglich dieser Lebens- und Arbeitsform habe ich 2012 bei der dOCUMENTA (13) in Kassel erlebt. Der Künstler und Aktivist Theaster Gates hat dort das ziemlich desolate Hugenottenhaus mit Hilfe von Arbeitslosen und Künstlern renoviert und als temporäres bewohnbares Labor genutzt. Es fanden verschiedenste Dinge wie Performances und Installationen, Diskussionsveranstaltungen und Festessen Platz. (3) Die Ästhetik der Räume und die Stimmung im Haus waren jener in der aufgelassenen Brauerei in Wiltz ganz ähnlich, wo ja ebenfalls versucht worden war, die Grenzen zwischen künstlerischer und sozialer Produktivität zu verrücken. Ich finde es sehr interessant, dass dieser damals mehr als randständige künstlerische Zugang 30 Jahre später Eingang in eines der bekanntesten internationalen Kunstevents gefunden hat.

132

133

Wie gestaltete sich die Arbeit an dem Videoprojekt? Ich muss vorausschicken, dass das Video an die Arbeit ASUMA anknüpft, wo wir das Projekt zum ersten Mal vorgestellt haben. Das war ein Jahr zuvor, als die Künstlergruppe auf Einladung eines Rehabilitationszentrums in Capellen (Luxemburg) mit einer Gruppe geistig Behinderter Kunst produziert hat. (4) Wir haben diese Zusammenarbeit in dem 35-minütigen Video ASUMA verarbeitet. (5) Das war für uns so interessant, dass wir beschlossen, auch die nächste Phase dieses Kunstexperiments zu dokumentieren und die ab dem Folgejahr geplante künstlerische Umgestaltung eines Brauereigeländes in einen Park zu begleiten. Im Unterschied zu ASUMA, wo wir innerhalb weniger Tage gefilmt hatten, waren diese Dreharbeiten über den ganzen Sommer hin angelegt. Wir als Videoteam waren unterschiedlich lange in Wiltz. Gustav Deutsch – mittlerweile Mitglied des Blauen Kompressors und somit auch am Garten beteiligt – war ziemlich von Anfang an dort, Manfred Neuwirth und ich kamen mit einer Farb-Videoausrüstung nach. Eine S/W-Kamera stand den ganzen Sommer zur Verfügung. Damit wurden gesellschaftliche Ereignisse wie das Fußballspiel, die Sperrmüllsammlung, diverse Theaterstücke und Tanzabende gefilmt, zum Teil auch von den Behinderten selbst. Am intensivsten waren die Dreharbeiten dann in der Zeit, wo alle Beteiligten – die Künstlergruppe, die Gruppe aus Capellen und das Videoteam – eine Woche lang durchgehend in der Brauerei wohnten. Insgesamt ist extrem unterschiedliches Material entstanden, das wir dann monatelang zu dritt montiert haben. Und auch hier muss ich sagen, dass für mich diese freie Herangehensweise an das Video eine ganz neue Erfahrung war. In meinen ersten Videos habe ich viel stärker nach Konzept gearbeitet, Drehs waren genau vorbereitet und dienten einer bestimmten Informationsgewinnung. Hier wurde oft spontan gefilmt, es ging viel stärker darum, Stimmungen festzuhalten als einen Überblick über das Projekt zu vermitteln. Ich habe dadurch zum ersten Mal eine Idee davon bekommen, Video prozessorientiert einzusetzen und einen mehr bildnerischen Zugang zu entwickeln. Die stark textbasierten bzw. theoretischen Ansätze, die ich aus der politischen Medienarbeit gekannt hatte, wurden aufgebrochen, auch in der Montage. Das war sehr inspirierend und befreiend für mich. Im Nachhinein betrachtet glaube ich, dass es schon ein erster Auslöser für meine Interessensverschiebung von der Medientheorie zur Medienkunst gewesen ist, die sich später noch viel deutlicher ausgeprägt hat.

Wie waren die Reaktionen auf das Video und wie schätzen Sie das Projekt heute ein? Emotional hat es das Publikum sehr angesprochen. Allerdings gab es gerade von Fachleuten unter den Zusehern ein Bedürfnis nach mehr Information. Das war sehr interessant. Die am sozialen Experiment Interessierten vermissten detailliertere Informationen über das therapeutische Konzept, die Kunst- und FilmtheoretikerInnen wollten Genaueres über die ästhetische Positionierung und so weiter wissen. Doch sowohl das Kunstprojekt als auch das Video versuchten ja, diese Hierarchisierung von Ansätzen – sei es von der einen oder anderen Seite – aufzuheben. Das heißt keine disziplinäre Festlegung, kein Unterschied zwischen

134

135

so genannten „Behinderten“ und „Nicht-Behinderten“ in ihrer Eigenschaft als Kunstproduzenten, keine therapeutischen Ziele. Gerade das hat die Besonderheit der Situation ausgemacht. Alle waren zugleich Fachleute und Dilettanten, das Ganze war gewissermaßen ein Langzeitexperiment. Auch wir als Videoteam haben uns in eine Situation ungewissen Ausgangs begeben, besonders in der Montage, an der wir zu dritt so lange gesessen sind, bis wir sie für fertig erachteten. Das war auch gruppen­ dynamisch eine Herausforderung. Sehr positiv ist das Video natürlich von Kolleginnen und Kollegen aufgenommen worden, die selbst an künstlerischen Grenzverschiebungen interessiert waren. Auch in befreundeten Medienzentren wurde es viel gezeigt und diskutiert und es lief auf den einschlägigen Festivals. Es gab aber damals keine Chance, mit dieser Arbeit ins reguläre Kino zu kommen. Interessanterweise hat das Video aber etwas Zeitloses, es wird heute genauso gut verstanden wie damals. Das merke ich, wenn ich es jungen Leuten an der Uni zeige. Heute würde ich sagen, das Video ist eigentlich nicht nur ein Dokument dieses Projekts und der speziellen Zeit in Wiltz, sondern auch eines Selbstverständnisses, das immer noch – oder wieder – eine Utopie verkörpert. Man ist geneigt, es heute unter „transdisziplinär“ oder „künstlerisch forschend“ zu fassen. Allerdings glaube ich, dass gerade so ein Projekt derzeit kaum mehr möglich wäre. Es gab Bedingungen, die für mein Verständnis ideal wären für das Konzept „artistic research“, aber gerade diese Ungerichtetheit und der offene Ausgang werden unter diesem Label nicht unterstützt. Im Gegenteil. Erstens würde heute kaum jemand die Verantwortung übernehmen, geistig Behinderte ohne ausgebildete Betreuer allein in der Obhut einer Künstlergruppe zu lassen. Gerade das hatte aber diese Unbekümmertheit und persönliche Öffnung der Protagonisten zur Folge. Zweitens wäre der geforderte theoretische Aufwand zur Einreichung solch eines Projekts genau das Gegenteil von dem, was damals unter „Kunst leben“ verstanden wurde. Und drittens, auf das Video­projekt bezogen, wäre mittlerweile ein Projekt, von dem man gar nicht weiß, was aus ihm wird, sicher nicht förderungswürdig. Ich glaube, die entscheidende Bedingung für diese Art von Projekten lässt sich im Begriff „Selbstverwaltung“ fassen. Die Medienwerkstatt Wien als „selbstverwaltetes Medienzentrum“ war damals ihren Förderern gegenüber nicht dem derzeitigen Kontroll- und Rechtfertigungsdruck unterworfen, daher konnten wir in ihrem Rahmen dieses Video einfach machen. Dasselbe galt vermutlich auch für das Kunstprojekt in Luxemburg. Also wären, auch wenn derzeit viel von der Förderung künstlerischer Forschung gesprochen und erwartet wird, diese Freiräume, die gerade nicht definiert und kontrolliert werden, eigentlich Voraussetzung. Die gibt es aber nicht mehr.

136

137

Jardin de Wiltz; ein Gartenprojekt: Anlegen eines öffentlichen Gartens in Zusammenarbeit mit der Gemeinde Wiltz/Luxemburg und Gruppen aus dem Rehabilitationszentrum Capellen. Konzeption, Organisation und Realisation DBK; 1. Bauabschnitt; Video „WOSSEA MTOTOM“, Österreich 1984. http://www.derblauekompressor.info/projects.htm (2) Der Blaue Kompressor: Internationale Künstlergruppe (Mitglieder – ehemalige und aktuelle – aus Österreich, Deutschland, England, Luxemburg, Griechenland); Gegründet 1982 in Wien; Durchführung (Konzeption, Organisation, Realisation) grenzüberschreitender (Kunst)Projekte im interdisziplinären Bereich; Kunst im Öffentlichen Raum; Einbeziehung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen in den künstlerischen Prozess; Versuche mit kollektiver Kunst; Erschließung neuer Bereiche künstlerischer und gesellschaftlicher Wirksamkeit; Infragestellung eines Kunstbegriffs traditioneller Art, Orientierung der Aktivitäten an einem umfassenden Kulturbegriff („Gesamtkultur“); Bis 1996 expansive Phase (vorläufige Institute für Gesamtkultur in Wien/A., Wiltz/Lux., Athen/ Gr., Kairo/Äg.), ab dann radikale Entbürokratisierung und Entinstitutionalisierung sowie Verlagerung sämtlicher Aktivitäten auf autonome (selbstverwaltete) Projektarbeit; Praktische und theoretische Begründung des Kompressionismus; Gründung eines Vereins zur Förderung und Pflege expansiver Kunst (1982); Herausgabe des kompressionistischen Magazins Materialien zur Gesamtkultur (seit 1986). Mitglieder: Christina De Pian, Gustav Deutsch, Luitgard Eisenmeier, Dagmar Frühwald, Wolfgang Herburger, Kim Hogben, Herbert Kerschbaum, Herbert Maly (ehem.), Georges Moes (ehem.), Hanna Schimek. http://www.derblauekompressor.info/ (3) Vgl.: dOCUMENTA (13) Das Begleitbuch Katalog 3/3 (2012), Ostfildern/Deutschland, S. 430 (4) & DANN; Das Capellenprojekt: 6-monatige Zusammenarbeit mit einer Gruppe geistig Behinderter im Rehabilitationszentrum Capellen, Luxemburg, 1981/82; 33 Objekte, Klangkörper, Papierarbeiten (Texte, Zeichnungen), Ausstellungen in Luxemburg 1982, Österreich 1983, Brüssel 1991, Dokumentation: Glasgow 1983; Video „ASUMA“ Österreich 1982, Publikation „& DANN“, Luxemburg 1983. http://www.derblauekompressor.info/projects.htm (5) Gustav Deutsch / Gerda Lampalzer / Manfred Neuwirth: ASUMA, Österreich 1982, Video, 35:00 min Preis des belgischen Senders R.T.B.F beim Festival 2e manifestation internationale de vidéo Montbéliard, Frankreich 1984. Das Capellenprojekt war der Versuch von scheinbar nicht behinderten Menschen (internationalen Künstlern und Künstlerinnen), mit Behinderten zusammenzuarbeiten. Gearbeitet wurde in den geschützten Werkstätten des Centre de Réadaptation in Capellen/Luxemburg. In sechs Monaten entstanden nach den Ideen jedes einzelnen Mitarbeiters Objekte, Bilder, Klangkörper, Texte usw. Dieser Versuch der Zusammenarbeit von Menschen in verschiedenen Bewusstseinszuständen stellte keine Therapie dar, sondern die Suche nach der persönlichen und der gemeinsamen Kreativität. (1)

138

139

Paranormal Gerda Lampalzer / Manfred Oppermann Im Projekt Paranormal geht es um paranormale Medienerscheinungen. Wie ist es zu diesem Film gekommen? Der Film ist in Zusammenarbeit mit Manfred Oppermann entstanden, mit dem mich ein prinzipielles Interesse an der künst­ ler­­ischen Umsetzung von Medienthemen verbindet. Das können Theorien sein, Apparaturen, Effekte oder einfach Situationen, die wir als „medial“ einschätzen. Wir haben damals darüber gesprochen, dass uns populärwissenschaftliche Berichte über paranormale Erscheinungen faszinieren – nicht im esoterischen Sinn, sondern wegen ihrer surrealen Komponente und der damit verbundenen Ästhetik. Daraufhin haben wir intensiver zum Thema zu recherchieren begonnen und eine Fülle von höchst interessanten Materialien gefunden, von Geisterfotografie über Tonbandstimmenforschung bis zu einer Art Videostreaming aus dem Jenseits. Das Thema „Medien“ hat sich in seiner ganzen Doppelbedeutung angeboten, als Brücke in eine andere Welt und als Dokument dieser Kommunikationsversuche. Wir haben dann erste Kontakte zu Personen gesucht, die sich mit derartigen Phänomenen beschäftigen, zunächst noch eher im wissenschaftlichen Sinn (1), dann immer mehr auch bei den „Praktikern“. An den Protagonisten aus dieser Szene war für uns besonders interessant, dass ihr Umgang mit Medientechnik – also mit Fotografie, Video oder Audio – einer künstlerischen Vorgangsweise verblüffend ähnlich war, obwohl sie sich selbst natürlich niemals in der Nähe von Medienkunst gesehen hätten. Sie arbeiteten im wahren Sinn des Wortes experimentell, um eine möglichst deutliche Verständigung mit der jenseitigen Welt oder eine Darstellung anderer unerklärlicher Phänomene zu erreichen. Diese Kombination aus dem prinzipiellen Interesse am Thema und der künstlerischen Inspiration durch die materiellen Ausformungen des Paranormalen hat uns auf die Idee gebracht, einen Film zu machen, der dokumentarische mit performativen Teilen verbindet. Wir wollten das Thema „paranormale Medien“ sowie die Erzeugung paranormaler Erscheinungen behandeln, dies aber von unserer Position des Künstlers, der Künstlerin aus, die sich ebenfalls ästhetisch einbringen. Aufbauend auf diesen Überlegungen und dem gesammelten Material, haben wir dann 1994 während eines Sommeraufenthalts in Istrien ein Drehbuch geschrieben. Wenn ich mich daran erinnere, muss ich immer auch an etwas anderes denken. Der Mann unserer damaligen Vermieterin, ein junger Vater zweier kleiner Kinder, fuhr an den Wochenenden laut seiner Erklärung immer „in den Krieg“. (2)

Welchen Eindruck haben Ihre Gesprächspartner auf Sie gemacht? Das war sehr unterschiedlich. Wir waren zum Beispiel im Verein für Tonbandstimmenforschung, wo mit dem Psychofon (3) nach Stimmen aus dem Jenseits gesucht wurde. Diese Vereinigung empfanden wir eher als Selbsthilfegruppe, wo Menschen zusammenkamen, um Kontakt zu ihren verstorbenen Verwandten oder Freunden aufzunehmen. GesprächspartnerInnen aus der Parapsychologie oder Paramedizin empfanden wir als sehr kompetent. Sie waren überaus bemüht, keinerlei Spekulationen nachzugeben. Ein speziell ausgebildeter Pater, der als „Geisterjäger des Papstes“ für den Vatikan Wunder und Spukphänomene verifizierte, drückte es folgen-

140

dermaßen aus: „Lieber zehn Prozent weniger glauben als ein Prozent zu viel.“ In der Schweiz besuchten wir einen Mitarbeiter des Physikalischen Instituts Bern, der seit den 1970er Jahren die psychokinetischen Fähigkeiten einer Person namens Silvio untersuchte. Auch er ging sehr systematisch vor. Eingeschweißte Löffel wurden vor laufender Videokamera aus der Packung genommen und von Silvio verbogen oder ohne Berührung bewegt. Eine Uhr zur Überprüfung der Zeitkontinuität war dabei immer im Bild. Die Videotechnik diente hier zur beweisführenden Dokumentation der Versuchsreihen, die teilweise in Zusammenarbeit mit dem Freiburger Institut erfolgten. (1) Allen GesprächspartnerInnen gemeinsam war allerdings ein unbedingter Glaube an die Existenz paranormaler Phänomene. Es gab kein „Vielleicht“ oder „Schauen wir mal“, es gab nur die mehr oder weniger gelungene Beweisführung. Das war für uns auch die Grenze unserer Identifikation. Es wäre zwar manchmal sehr verlockend gewesen, eine Parallelwelt als Erklärung für die vorgeführten Jenseitsbilder, Stimmen oder sonstige unglaubliche Phänomene anzunehmen, meist wurde dann aber doch eine Art esoterisches Gebäude dahinter aufgebaut, wo wir nicht mehr mitkonnten. Das lag aber auch nicht in unserem Fokus.

Wie gestaltete sich die Mischung aus dokumentarischer und künstlerischer Arbeit? Wie gesagt, wir waren vor allem an den Methoden der audiovisuellen Sichtbarmachung von Erscheinungen interessiert. Fotografisch haben uns zum Beispiel die Geisterbilder aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende sehr inspiriert. Einige Proto­ typen dieser Geisterfotografien, zum Beispiel eine komplette Geistererscheinung, die Produktion von Ektoplasma und die nachträglich in den Bildern auftauchenden Gesichter haben wir nachgestellt und zum Teil für den Film verwendet. Das Psychofon haben wir auch nachgebaut und versucht, mit seiner Hilfe Botschaften aus der Jenseitswelt einzufangen. Eine Zeit lang haben wir mit Lochkamera gefilmt, weil uns gesagt wurde, dass das größtmögliche Bildrauschen am ehesten für paranormale Nachrichten Platz lässt. Wir haben historische Experimente für den Film nachgespielt und zum Teil eigene Experimente erfunden. Hier ließen wir uns auch gerne durch die Poesie der kursierenden Begrifflichkeiten leiten wie „Siedlung Zeitstrom“ oder „Anschluss an das kosmische Informationsfeld“. All diese inszenierten Teile haben wir mit den Interviews und den uns zur Verfügung gestellten Originalmaterialien so verbunden, dass man den Weg unserer Erforschung der paranormalen Bild- und Tonwelt nachvollziehen kann. Die Frage nach der Echtheit der Phänomene haben wir nie explizit gestellt – ein Teil des Vergnügens an dem Film sollte ja sein, dass es darauf keine sichere Antwort gibt. Im Programmheft zum Film haben wir es so ausgedrückt. Ich lese vor: Die im Film geschilderten Versuche sind Gedankenschleifen. Sie sind mit herkömmlichen dramaturgischen Mitteln nicht fassbar. Jedes versuchte Ende, das die Frage nach der Wahrhaftigkeit paranormaler Phänomene beantworten würde, wäre reiner Betrug am Zuschauer. Diese Experimente lassen keine Lösung zu, da sie sich außerhalb herkömmlich beweisbarer Vorgänge ereignen. Den Film trifft das gleiche Schicksal wie das dargestellte Thema: IN BESTEHENDE KATEGORIEN NICHT EINORDENBAR. (4)

141

Wo hat der Film seine Öffentlichkeit gefunden? Die Premiere fand im Wiener Votivkino statt, wo der Film dann auch regulär lief. Jene Protagonisten, die sich vom Film eine Beweisführung erhofft hatten, waren natürlich enttäuscht, dass wir diese nicht lieferten. Experten wie etwa der Vorstand der Österreichischen Gesellschaft für Parapsychologie (5) versicherten uns hingegen, dass wir die Beschreibung dieser Welt und ihre Problematik sehr gut getroffen hätten. Die Zwischenstellung zwischen dokumentarischem und künstlerischem Ansatz hat sich dann auch in der weiteren Verwertung des Films niedergeschlagen. Paranormal wurde eher im Ausstellungskontext gezeigt als im Kino. Er war zum Beispiel Teil der 1998 stattfindenden Schau Im Reich der Phantome – Fotografie des Unsichtbaren in der Kunsthalle Krems, wo neben historischen Geisterfotografien und fotooptischen Experimenten auch zeitgenössische künstlerische Arbeiten zum Thema zu sehen waren. (6) Insgesamt waren eigentlich unsere medienkünstlerischen Paranormal-Arbeiten, also die Leuchtkästen, Fotoserien und Objekte, die ja teilweise parallel zum Filmprojekt entstanden, erfolgreicher als der Film.

Was bedeutet Ihnen das Projekt heute? Ich habe es als sehr intensive Zeit in Erinnerung. Wir hatten große Freude an der Entdeckung der Bildwelten und den teilweise recht eigenartigen, zuweilen komischen Geschichten, denen wir vor allem in der Recherche begegneten. Die anfangs erwähnte Faszination für das Surreale des Themas und die Verblüffung über die Gedankengänge der Forscher auf diesem Gebiet sind eigentlich noch heute inspirierend. So planten zwei Techniker des Vereins für Tonbandstimmenforschung eine Hochfrequenzschneise durch den Wienerwald als Landebahn für Höhere Wesen. Das ist eigentlich ein wunderbares Projekt für Kunst im öffentlichen Raum.

Wir waren zum Beispiel am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg/Deutschland, wo sich eine der europaweit größten Spezialbibliotheken und ein Forschungsarchiv für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie befinden. (2) Jugoslawienkriege 1991–1999 (3) Das Psychofon ist ein Breitbandempfänger mit eingebautem Mikrofon. Diese Konstruktion soll dazu dienen, über das Mikrofon Fragen an jenseitige Wesenheiten zu stellen, die diese beantworten können, indem sie das Frequenzgemisch des Empfängers zu verständlichen Worten umformen. Fragen und Antworten werden während der so genannten „Einspielung“ mit einem Kassettenrecorder aufgenommen. (4) LAMPALZER GERDA / OPPERMANN MANFRED (1997): PARANORMAL, Programmheft zum Film mit Beiträgen von Bert Rebhandl, Markus Wailand, Gerda Lampalzer/Manfred Oppermann, Wien 1997 (5) Österreichische Gesellschaft für Parapsychologie und Grenzbereiche der Wissenschaften. Gegründet 1927 als „Österreichische Gesellschaft für Psychische Forschung“. Vgl.: http://parapsychologie.ac.at/ (6) Zum Beispiel von Joseph Beuys, Anna und Bernhard Blume, Mike Kelley, Sigmar Polke u.a. (1)

142

143

144

145

146

147

Küchengespräche mit Rebellinnen Karin Berger / Elisabeth Holzinger / Lotte Podgornik / Lisbeth N. Trallori Wie kam es zu Ihrer Mitarbeit am Projekt Küchengespräche mit Rebellinnen? Bevor ich diese Zusammenarbeit genauer beschreibe, möchte ich noch kurz auf ein paar Einflüsse eingehen, die zu dieser Zeit den Kunst- und Kulturbereich mitbestimmt haben. Anfang der 1980er Jahre gab es eine Welle der Kontaktaufnahme zwischen Kunst und Wissenschaft, die für beide Seiten neue Inspirationsmöglichkeiten bereithielt. Besonders Medienkünstlerinnen und -künstler haben sich gerne auf Theorien, zum Beispiel Kybernetik, Experimentalphysik, Zeichentheorie, Philosophie usw. bezogen. Aber auch umgekehrt gab es großes Interesse an einer Annäherung, die sich auch in diversen Publikationen äußerte. (1) Meine eigene Entwicklung war auch gerade an einem Punkt angelangt, wo ich feststellte, dass Medienkunst – oder damals Videokunst – eine weitaus vielfältigere und einfallsreichere Medienanalyse betrieb als die inhaltsfixierte Kommunikationswissenschaft, die ich damals studierte. Aber auch innerhalb der Wissenschaft vollzog sich so etwas wie eine Emanzipation in den Methoden. In der Zeitgeschichte war das die Oral History, die zum ersten Mal Aussagen von Zeitzeugen als historische Quelle anerkannte, gleichwertig den Aussagen von Experten oder Führungspersönlichkeiten. Außerdem war mittlerweile die „Zweite Welle des Feminismus“ auf der Uni angekommen und erste Frauenforschungsprojekte wurden genehmigt. All dies waren Faktoren, die es möglich machten, dass Karin Berger, die ich auch persönlich kannte, und ihre Kolleginnen eine wissenschaftliche Untersuchung zum Thema „Frauen im Widerstand“ machen konnten, die vor allem auf Zeitzeuginneninterviews aufbaute. Hier kommt die Medienwerkstatt Wien (2) ins Spiel, die ja auf emanzipatorische und „gegenöffentliche“ Videoprojekte spezialisiert war und in der ich damals bereits mitarbeitete. Das Medium Video war in diesem Fall ideal, das Thema über den wissenschaftlichen Teil hinaus auch medial zu vermitteln. Also fragte mich Karin Berger, ob ich sie technisch betreuen könnte, was hieß, Kamera, Licht und Ton für eine Videoproduktion zu machen. Für mich war das natürlich extrem aufregend. Ich hatte zwar schon einige technische Erfahrung mit Video und war auch eine überzeugte Verfechterin davon, dass Frauen sich die Technik aneignen sollten, aber hier die komplette Verantwortung für ein finanziertes Projekt zu übernehmen war doch etwas anderes. Ich wagte es aber und sagte zu und im Nachhinein muss ich sagen: Es war eine ganz wichtige Entscheidung auch im Hinblick darauf, mir später in bestimmten Situationen wieder zuzutrauen, etwas Neues zu probieren.

Wie kann man sich die Drehsituationen vorstellen? Dazu muss man wissen, dass die Videotechnik (3) damals noch recht aufwändig war. Kamera, Recorder, Netzgerät, Mikro und Tonmischer waren alles eigene Apparaturen, die ich mit Kabel verbinden und im Raum platzieren musste. Dazu kamen noch ein bis zwei Scheinwerfer. Meistens waren die kleinen Zimmer der alten Damen damit schon ziemlich angefüllt, wir bemühten uns aber trotzdem, dass die Frauen für die Aufnahmen an ihrem gewohnten Platz sitzen konnten. Während ich das alles aufbaute, führten die Interviewerinnen möglichst unverfänglichen Small Talk, damit nicht schon im Vorfeld die entscheidenden Geschichten erzählt

148

149

wurden. Die Gespräche selbst waren dann extrem gut vorbereitet. Von der Gesprächssituation her war es so, dass die Frauen immer von zwei Wissenschaftlerinnen gefragt wurden, und zwar von ihrer Kontaktperson, die ihre Geschichte kannte, und einer Kollegin, die sie noch nicht kannte. So erzählten die Protagonistinnen ihre Erinnerungen immer einer Person zum ersten Mal – wenn man mich mitrechnet, die ich ja auch zuhörte, sogar zwei Personen. Das führte dazu, dass die Erzählungen frischer und natürlicher waren, als wenn sie schon zum zweiten oder dritten Mal vor derselben Person wiederholt worden wären. Vom Inhalt her war es so, dass jede der Frauen eine oder zwei Hauptgeschichten hatte, die für den Film geplant waren, und zu denen sie ohne allzu viele Zwischenfragen sorgfältig hingeführt wurden. Das hat diese unglaublich anschaulichen Beschreibungen zur Folge, die so ganz unaufgesetzt erzählt werden. Für mich, die ich mich bis dahin mit dem Thema Nationalsozialismus und Widerstand nicht besonders auseinandergesetzt hatte, war das sehr intensiv, vor allem weil mir der bedrückende Alltag in diversen Situationen so nahe gebracht wurde.

Was war das Besondere an dem Projekt? Vom Thema her war es in Österreich sicher das erste Projekt, das Frauen im Zusammenhang mit politischem Widerstand im Nationalsozialismus in den Mittelpunkt stellt. Im Forschungsprojekt wurden die Erzählungen von an die 100 Frauen aufgearbeitet und wissenschaftlich analysiert. 20 davon wurden noch einmal redigiert und sind in der Publikation Der Himmel ist blau. Kann sein. Frauen im Widerstand. Österreich 1938–1945 zu finden. (4) Videoaufzeichnungen gibt es von zwölf Frauen und in den Küchengesprächen mit Rebellinnen sind davon vier Gespräche so montiert, dass die Geschichten dramaturgisch zu einer Metaerzählung über weibliche Formen des Widerstands zusammengeführt werden. Diese Kombination aus Buch- und Videoprojekt von einem kollektiv arbeitenden Forschungsteam war damals schon sehr ungewöhnlich. Aber ich muss vielleicht noch extra betonen, dass dieses Projekt seine große Öffentlichkeit sicher auch dadurch erzielt hat, dass es in vieler Hinsicht Vorreiter war, zum einen eben thematisch, aber auch in seiner mehrfach interdisziplinären Arbeitsweise. Die vier Autorinnen kommen aus unterschiedlichen Fachrichtungen und es ist ihnen neben dem gemeinsamen wissenschaftlichen Ergebnis und dem Buch auch eine international erfolgreiche künstlerische Umsetzung gelungen. (5) (6) Das hat natürlich sowohl für die Forschung als auch für den Dokumentarfilm Beispielcharakter gehabt. Und schließlich war es damals auch für viele ermutigend, dass das gesamte Projekt ausschließlich von und mit Frauen durchgeführt wurde.

Welche Relevanz hat Küchengespräche mit Rebellinnen heute? Für mich hat der Film nichts von seiner Relevanz verloren. Im Gegenteil. Er ist in seiner extrem sorgfältigen Montage noch immer spannend. Er wird nach wie vor regelmäßig gezeigt, im Programm der Medienwerkstatt ist er die bei weitem meistgesehene

150

151

Produktion. Vor allem jüngere Menschen sind von den Erzählungen oft sehr berührt, vielleicht auch deshalb, weil diese Generation nun wirklich nicht mehr persönlich zu befragen ist. Ich habe vorhin die Metaerzählung im Film erwähnt. Damit ist gemeint, dass die Geschichten einen Bogen spannen zwischen Aktionen in Freiheit (Agnes Primocic) über die Situation als Partisanin (Johanna Sadolschek-Zala), Verhaftung und Folter (Rosl Grossmann-Breuer) bis zu Aktivitäten aus dem Gefängnis heraus (Anni Haider). Damit ergibt sich eine Gesamterzählung, die so etwas wie eine kollektive Biografie bildet. Darin unter­ scheidet sich der Film etwas von den mittlerweile zahlreichen ZeitzeugInnenprojekten, die oft einen eher archivarischen Schwerpunkt haben. Innerhalb dieser Dramaturgie wird etwas möglich, das heute schon sehr ungewöhnlich ist: Man kann den Frauen in langen ungeschnittenen Einstellungen zuhören. Geschichten werden komplett erzählt, unterbrochen wird #nur durch einige historische Schwarzweißfotos. Diese Gelassenheit in der Gestaltung hat für mich zwei wesentliche Voraussetzungen: zum einen diese enorme Vorarbeit in der Interviewführung, zum andern die unbegrenzten Schnittzeiten, die damals in der Medienwerkstatt möglich waren. Dadurch konnte wirklich an den Texten gefeilt werden. Das führt mich noch zu einem Gedanken, der an den anfangs erwähnten Zeitgeist anschließt, aus dem heraus das Projekt entstand. Diese Schritt-für-Schritt-Planung, das enorme Zeitbudget und schließlich die verdichtete Konzentration aus einem riesigen Pool an Interviewmaterial, die das Projekt damals ausmachten, haben schließlich zu einer vom Zeitgeist unabhängigen Form geführt. Ich würde das Projekt heute als so etwas wie nachhaltig bezeichnen. Neben den mittlerweile vielfältigen Beispielen audio­ visueller Zeitgeschichtsschreibung wie Webprojekte, Datenbanken, DVD-Reihen mit ZeitzeugInnen und so weiter hat Küchengespräche mit Rebellinnen nach wie vor eine besondere, persönlich ansprechende Wirkung behalten. Vielleicht hat es damit zu tun, dass man das Gefühl hat, man würde diese Rebellinnen auch irgendwie kennen können. Zum Beispiel: FEYERABEND Paul (1984): Wissenschaft als Kunst, Frankfurt am Main 1984 LISCHKA Gerhard Johann (1986) (Hrsg.): Philosophen-Künstler, Berlin 1986 LYOTARD Jean-François (1986): Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Berlin 1986 VESTER Frederic (1980): Neuland des Denkens. Vom technokratischen zum kybernetischen Zeitalter, Stuttgart 1980 (2) Die Medienwerkstatt Wien wurde 1978 als nicht-kommerzielles Videostudio gegründet. Mit der Durchführung mehrerer partizipativer Medienprojekte wurde sie Anfang der 1980er Jahre zum wichtigsten österreichischen Zentrum für unabhängige Medienproduktion. Vgl.: http://www.medienwerkstatt-wien.at/info/index.php (3) Gedreht wurde auf U-matic Low Band, einem frühen Videokassettensystem. (4) BERGER Karin, HOLZINGER Elisabeth, PODGORNIK Lotte, TRALLORI Lisbeth N. (1985): Der Himmel ist blau. Kann sein. Frauen im Widerstand. Österreich 1938–1945, Wien 1985 (5) Wegen des großen Interesses wurde das Video auf 16mm überspielt und konnte so auch im Kino gezeigt werden. (6) Küchengespräche mit Rebellinnen erhielt 1985 auf dem Filmfestival Moskau den Preis des sowjetischen Frauenverbandes. (1)



152

153

154

155

Medien Kunst Denken 157

161

163

165

Nach Dürer © Gerda Lampalzer

Gerda Lampalzer Kuratorentätigkeit, Vorträge, Workshops und Publikationen zu Video- und Medienkunst, künstlerische Arbeit in den Bereichen Installation, Fotografie, Video, Konzept, Text Co-Leitung der Medienwerkstatt Wien (seit 1980), Lehrtätigkeit an der Universität für angewandte Kunst Wien (seit 1987), an der Kunstuniversität Linz (seit 2006), künstlerische Zusammenarbeit mit Manfred Oppermann als Lampalzer/Oppermann (seit 1993), Würdigungspreis des Landes Niederösterreich für Medienkunst (2006), Österreichischer Kunstpreis für Video- und Medienkunst (2013) Ich bedanke mich bei allen, die dieses Buch möglich gemacht haben.

166

167

Impressum Dr. Gerda Lampalzer-Oppermann, Medientheorie, Universität für angewandte Kunst Wien, Österreich Library of Congress Cataloging-in-Publication data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Lektorat: Michael Walch Korrektorat: Michael Walch Covergestaltung: Gerda Lampalzer Layout und Satz: www.schuetzdesign.at Druck: Holzhausen Druck GmbH, Wolkersdorf, Österreich Abbildungen: Seite 10, 11, 44, 49, 57, 59, 61, 63, 65, 72, 73, 86, 87, 104, 166 Seite 156, 157 Seite 17, 21 Seite 26, 28 Seite 35, 39 Seite 68, 69, 100, 101, 102, 103 Seite 112 – 155 Seite 160 – 165

Gerda Lampalzer Lampalzer/Oppermann Screenshots der Web-Sites von Gustav Deutsch, Hanna Schimek Screenshots der Web-Site von Hofstetter Kurt Screenshots der Web-Site von Gangart Archiv der thede Hamburg, Archiv der Medienwerkstatt Wien Stills aus den Videos/Filmen von Christian Bau, Karin Berger, Gustav Deutsch, Elisabeth Holzinger, Jens Huckeriede, Gerda Lampalzer, Manfred Neuwirth, Manfred Oppermann, Lotte Podgornik, Jenny Ramcke, Nina Rippel, Peter Stockhaus, Lisbeth N. Trallori Videostill-Montagen: Gerda Lampalzer Collagen: Gerda Lampalzer, Fotos: Tim Oppermann

Die Recherche zu diesem Buch wurde gefördert durch das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur und der Kulturabteilung der Stadt Wien.

Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ∞ Printed in Austria ISSN 1866-248X ISBN 978-3-11-044043-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-046088-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045985-2 www.degruyter.com 168