"Lucidaire de grant sapientie": Untersuchung und Edition der altfranzösischen Übersetzung 1 des "Elucidarium" von Honorius Augustodunensis [Reprint 2011 ed.] 9783110945645, 9783484523074

Honorius Augustodunensis' »Elucidarium« is probably one of the most widely disseminated medieval texts on the subje

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"Lucidaire de grant sapientie": Untersuchung und Edition der altfranzösischen Übersetzung 1 des "Elucidarium" von Honorius Augustodunensis [Reprint 2011 ed.]
 9783110945645, 9783484523074

Table of contents :
Vorwort
Teil I: Untersuchung
Einleitung
1. Entstehung und Überlieferung des Lucidaire
1.1. Die handschriftliche Überlieferung
1.2. Die lateinische Vorlage des Lucidaire
1.3. Die Entstehungszeit des Lucidaire
1.4. Die Sprache der Leithandschrift BN fr. 19920
1.5. Die Abhängigkeitsverhältnisse der Handschriften
2. «Pur ceus ki ne sevent mie Ne lettreure ne clergie» – Glaubenswissen in der Volkssprache
2.1. Lateinische Ideen in französischem Gewand
2.2. «Ainz i ai mout osté et mis» – Eingriffe in die Vorlage
2.3. «Mes eil qui ... simplement entendent» – Das Bemühen um einfache Wahrheiten
2.4. Zusammenfassung: Der implizite Übersetzer und sein intendierter Leser
3. Theologisch bedingte Veränderungen
3.1. Die Sakramente zwischen Pastoral und Theologie
3.2. Prädestination und menschliches Verdienst
3.3. Eschatologie
3.4. Zusammenfassung: Die Neuorientierung des Textes in Übersetzung und Überlieferung
4. Der Lucidaire als Spiegel volkstümlicher Glaubens- und Lebenswelt
4.1. Der Teufel
4.2. Die Seelen der Gerechten
4.3. Der Beistand für die Toten
4.4. Vom rechten Gebrauch des Reichtums
5. Funktion und Publikum des Lucidaire
5.1. Die Schreiber als erste Rezipienten
5.2. Zwei unterschiedliche Redaktionen des Lucidaire
5.3. Die Handschriften und ihr Publikum
6. Vom Einzeltext zur Enzyklopädie
6.1. «Moult me samble que vos touz me doingniez tost congié»
6.2. «En la fin de ce livre les te dirai»
6.3. Die Handschrift als Bibliothek
6.4. Die Mitüberlieferung des Lucidaire im Überblick
6.5 .clviij. questions de theologie avecques leurs responses
6.6. «La fontaine de toutes sciences»
7. Der Lucidaire – eine Erfolgsgeschichte
Anhang: Äquivalenzen von Lucidaire- und Sidrac-Kapiteln
Teil II: Edition
Methodische Vorbemerkungen zur Edition
Ci coumance Ii prologues Anseaume l’arceveque sor Lucidaire
Auswahlglossar
Namensindex
Bibliographie
Benutzte Handschriften
Handschriftenkataloge
Quellentexte
Sekundärliteratur
Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen

Citation preview

BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR ROMANISCHE PHILOLOGIE HERAUSGEGEBEN VON GÜNTER HOLTUS

Band 307

MONIKA TÜRK

Untersuchung und Edition der altfranzösischen Ubersetzung 1 des von Honorius Augustodunensis

MAX NIEMEYER VERLAG T Ü B I N G E N 2000

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Türk, Monika: : Untersuchung und Edition der altfranzösischen Übersetzung 1 des von Honorius Augustodunensis / Monika Türk. - Tübingen: Niemeyer, 2000 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie; Bd. 307) ISBN 3-484-52307-7

ISSN 0084-5396

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2000 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Monika Türk, Stuttgart Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Vorwort

In Mark Twains Roman Α Connecticut Yankee in King Arthur's Court wird ein amerikanischer Schmied und Tierarzt des 19. Jahrhunderts durch einen Schlag auf den Kopf ins Mittelalter versetzt und ist so gezwungen, sich intensiv mit den damaligen Lebensgewohnheiten auseinanderzusetzen - was den braven Amerikaner gelegentlich fast zur Verzweiflung treibt, möchte er doch sein Wissen und seine Erfahrung den Menschen gerne nahebringen und sie vor allem mit den Segnungen der modernen Technik beglücken. Das Mittelalter mit eigenen Augen zu sehen, ist wohl auch der Traum jedes Mediävisten, wenn er sich dazu sicher lieber eines weniger schmerzhaften «Verkehrsmittels» bedienen würde - auch würde er hoffentlich die ferne Realität in ihrem Eigenwert gelten lassen, statt sie im Sinne seiner eigenen Erfahrungen umzugestalten, wie es Mark Twains Amerikaner versucht. Auch realere Versuche, mit der Vergangenheit in Kontakt zu treten, haben durchaus ihren Reiz. So wurde ich durch die Mitarbeit im Teilprojekt A l «Die Rezeption des Elucidarium im französischen Mittelalter» (Projektleiter: Prof. Dr. Ernstpeter Ruhe) des Sonderforschungsbereichs 226 «Wissensvermittelnde und wissensorganisierende Literatur des Mittelalters» zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Mittelalter angeregt, die nicht nur die normalerweise in der universitären Mediävistik behandelte «Schöne Literatur» umfaßt, sondern auch die Auseinandersetzung mit Texten, aus denen mittelalterliche Leser ihr Wissen und ihr Weltbild bezogen. Das Thema der vorliegenden Arbeit entstammt diesem Sonderforschungsbereich und verdankt ihm vielfältige Anregungen. Zu nennen wären hier an erster Stelle all jene Gastprofessoren, die durch ihre zeitweilige Mitarbeit neue Aspekte des mittelalterlichen Geisteslebens lebendig werden ließen, was sich fruchtbar auf diese Arbeit auswirkte. Mein Dank gilt aber auch allen Angestellten und Hilfskräften im Teilprojekt Al, besonders Martha Kleinhans und Beate Wins, die durch manchen Hinweis und vor allem durch ihre stetige Bereitschaft, die Thesen dieser Arbeit zu diskutieren, entscheidend zu deren Gelingen beitrugen. Brigitte Weisel, Susanne Rischpler-Gimpl, Deborah Schwarz, Harald Kuhn und Birgit Schaible danke ich für ihre Hilfe bei der Eingabe einzelner Manuskripte in den Computer und bei der Überprüfung von Teilen der maschinell erstellten Kollationsteile. Besonders danken möchte ich Prof. Dr. E. Ruhe, der mir nicht nur das Thema dieser Arbeit stellte, sondern sie auch stets mit Rat und Tat begleitete.

V

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

V

Teil I: Untersuchung

1

Einleitung

3

1. Entstehung und Überlieferung des Lucidaire

6

1.1.

Die handschriftliche Überlieferung

6

1.2.

Die lateinische Vorlage des Lucidaire

30

1.3.

Die Entstehungszeit des Lucidaire

33

1.4. Die Sprache der Leithandschrift BN fr. 19920 1.4.1. Sprachstand 1.4.2. Dialektale Kennzeichen

35 35 40

1.5. 1.5.1. 1.5.2. 1.5.3. 1.5.4. 1.5.5. 1.5.6.

43 43 44 47 48 49

Die Abhängigkeitsverhältnisse der Handschriften Die beiden Großgruppen ABCDEFGHIJK und LMNOPQRSTU Die Gruppe ABCDEF Die Gruppe GHIJK Die Gruppe LMNOPQ RSTU

Widersprüchliche gemeinsame Lesarten einzelner Handschriften 1.5.7. Das Stemma des Lucidaire

50 52

VII

2. «Pur ceus ki ne sevent mie Ne lettreure ne clergie» Glaubenswissen in der Volkssprache

53

2.1. Lateinische Ideen in französischem Gewand 2.1.1. «Faire de fort latin cler et entendable romant» Zur Strategie der Übersetzung 2.1.2. «Selonc lou commun langage» Erbwortschatz und gelehrte Bildungen 2.1.3. «User de termes ou de moz propres en la science» Die Übersetzung theologischer Fachterminologie

61

2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 2.2.4.

64 64 66 70 74

«Ainz i ai mout oste et mis» - Eingriffe in die Vorlage Straffung Bibelzitate Bilder und Allegorien Zusätzliche Erklärungen

«Mes eil qui... simplement entendent» Das Bemühen um einfache Wahrheiten 2.3.1. Abweichende oder anstößige Meinungen 2.3.2. Fehl verhalten von Kirchenvertretern 2.3.3. Die Sünden der Erwählten

54 54 59

2.3.

2.4.

Zusammenfassung: Der implizite Übersetzer und sein intendierter Leser

3. Theologisch bedingte Veränderungen

76 77 80 82 86

88

3.1. Die Sakramente zwischen Pastoral und Theologie 3.1.1. Die reale Präsenz Christi im Altarssakrament 3.1.2. Kommunion und Kontemplation: Die Wirkung der Eucharistie 3.1.3. Die Kommunion des Judas und anderer unwürdiger Empfänger 3.1.4. Die Würdigkeit des Spenders 3.1.5. Die Beichte

97 101 104

3.2.

107

VIII

Prädestination und menschliches Verdienst

88 88 93

3.3. 3.3.1. 3.3.2. 3.3.3. 3.3.4. 3.3.5. 3.3.6. 3.3.7.

Eschatologie 114 Die allgemeine Auferstehung 115 Das Gericht über die Toten 117 Fegefeuer 122 Hölle 125 Ungetaufte Kinder und alttestamentliche Väter: der Limbus . . 127 Die Zahl der Seligen 129 Das Wissen der Seligen und Verdammten 130

3.4.

Zusammenfassung: Die Neuorientierung des Textes in Übersetzung und Überlieferung

4. Der Lucidaire als Spiegel volkstümlicher Glaubensund Lebenswelt

132

133

4.1.

Der Teufel

133

4.2.

Die Seelen der Gerechten

137

4.3.

Der Beistand für die Toten

139

4.4.

Vom rechten Gebrauch des Reichtums

142

5. Funktion und Publikum des Lucidaire

147

5.1. Die Schreiber als erste Rezipienten 5.1.1. Aufschlußreiche Verschreibungen 5.1.2. Die Quellen der Veränderungen und Zusätze

147 147 151

5.2. 5.2.1. 5.2.2. 5.2.3. 5.2.4.

Zwei unterschiedliche Redaktionen des Lucidaire Die Stabilität der Überlieferung Die Redaktionen von F und R Die Redaktion der Handschrift υ Der Lucidaire zwischen Katechismus und universitärer Lehrmethode

155 155 155 159

Die Handschriften und ihr Publikum Die Besitzer der LwciJaire-Handschriften Das Publikum des Lucidaire Zusammenfassung: Die Benutzer der LucidaireHandschriften

163 163 163

5.3. 5.3.1. 5.3.2. 5.3.3.

162

169

IX

6. Vom Einzel text zur Enzyklopädie

173

6.1.

«Moult me samble que vos touz me doingniez tost congie» . . 173

6.2.

«En la fin de ce livre les te dirai»

178

6.3. Die Handschrift als Bibliothek 6.3.1. Cambridge, Fitzwilliam Museum 20

180 180

6.3.2. Rennes 593

180

6.4.

183

Die Mitüberlieferung des Lucidaire im Überblick

6.5 .clviij. questions de theologie avecques leurs responses 6.5.1. Der Lucidario 6.5.2. Oer Second Lucidaire

186 186 187

6.6.

«La fontaine de toutes sciences»

189

7. Der Lucidaire - eine Erfolgsgeschichte

200

Anhang: Äquivalenzen von Lucidaire- und Sidrac-Kapiteln

203

Teil II: Edition

205

Methodische Vorbemerkungen zur Edition

207

Ci coumance Ii prologues Anseaume l'arceveque sor Lucidaire

210

Auswahlglossar

405

Namensindex

433

Bibliographie

435

Benutzte Handschriften

435

Handschriftenkataloge

439

Quellentexte

440

Sekundärliteratur

442

Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen

X

448

Teil I: Untersuchung

Einleitung

Dicitur enim in Elucidario, quod primo apparuit Ioseph, secundo matri suae. Sed quia hie liber multas haereses habet, non creditur ei1.

Bei dem Buch, das hier von Albertus Magnus so abwertend beurteilt wird, handelt es sich um das Elucidarium des Honorius Augustodunensis. Etwa eineinhalb Jahrhunderte später macht sich der Inquisitor Nicolas Eymeric die Mühe, den gesamten Text durchzugehen und auf zweifelhafte oder häretische Aussagen hinzuweisen2. Daß in einem relativ großen Zeitabstand ein herausragender Theologe und ein Inquisitor dem Elucidarium ihre Aufmerksamkeit widmen, zeigt die Bedeutung, die diesem populär-theologischen Werk beigemessen wurde, und auch den Bekanntheitsgrad, den es erreicht haben mußte, wenn für nötig gehalten wurde, es öffentlich zu kritisieren. Seinen Lehrdialog über den Glauben der Kirche verfaßte Honorius Augustodunensis, ein Schüler des Anselm von Canterbury, wahrscheinlich um 11003. Die Bedeutung dieses Textes für die Erforschung mittelalterlicher Glaubenseinstellungen ist seit der Edition und Untersuchung durch Yves Lefevre 1954 bekannt. Von 1984 bis 1992 untersuchte der Sonderforschungsbereich 226 «Wissensorganisierende und wissensvermittelnde Literatur des Mittelalters» in Würzburg und Eichstätt die Weitergabe gelehrten lateinischen Wissens in der Volkssprache. Das Teilprojekt Al «Die Rezeption des Elucidarium im französischen Mittelalter» bearbeitete diese Fragestellung anhand des Elucidarium und seiner verschiedenen Übersetzungen und Bearbeitungen in französischer Sprache4. Dem sowohl rezeptionsästhetisch als auch mentalitätsgeschichtlich orientierten Forschungsansatz dieses Projekts, wie ihn ausführlich Kleinhans5 und 1

2 3

4

5

Albertus Magnus, «De resurrectione», tract. II, q8, art6, §11(2); ed. Geyer, p. 285; cf. dazu auch Kleinhans 1993, p. 243. Elucidarius elucidarii, ed. Lefevre 1954, p. 483-521. Über die Person und das Werk von Honorius informieren ausführlich Haacke/Arduini in TRE 15, p. 571-578. Cf. dazu die bisher erschienenen Arbeiten von M. Hessenauer 1989, E. Ruhe 1991, M. Kleinhans 1993 und D. Ruhe 1993. 1993, p. 2sqq. 3

Ε. Ruhe6 beschrieben haben, fühlt sich auch diese Arbeit zur von Lefevre so benannten «Übersetzung 1» verpflichtet. Im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung wird ein Text stehen, der, verglichen mit dem anonymen Second Lucidaire, dem Lumiere as lais von Pierre de Peckam oder dem Lucidaire en vers des Gillebert de Cambres, nur geringfügige Abweichungen vom Elucidarium aufweist. Weshalb also einen anscheinend vollkommen unoriginellen Text untersuchen, der doch nur schlechter ausdrückt, was das lateinische Original besser formulierte7? Da sich Mentalitäten, wie die Historiker der Annales-Schule immer wieder betont haben, nur sehr langsam verändern, können auch anscheinend bedeutungslose Unterschiede zwischen Vorlage und Übersetzung Indizien für einen sich anbahnenden tiefgreifenden Wandel sein. Wie sich auch geringe Abweichungen einer Übersetzung von ihrer Vorlage für die Erforschung des Wandels mittelalterlicher Glaubenseinstellungen und das Einsickern gelehrten Wissens in die Volkssprache fruchtbar machen lassen, hat Martha Kleinhans anhand der altfranzösischen Übersetzungen 2, 4 und 5 des Elucidarium gezeigt. Die altfranzösische Übersetzung 1 des Elucidarium entstand im frühen 13. Jahrhundert und verbreitete sich rasch in weiten Teilen Frankreichs, von der Picardie (z.B. Handschrift B) bis nach Lyon (Q) und sogar bis nach Italien (R). Mehr als 20 Textzeugen sind heute noch ganz oder fragmentarisch erhalten. Die Bedeutung gerade dieser Übersetzung für das mittelalterliche Geistesleben wird darüber hinaus durch die Tatsache unterstrichen, daß sie mehrmals anderen Texten als Quelle gedient hat, nämlich dem italienischen Lucidario, dem schon genannten Second Lucidaire und dem in über 60 Handschriften erhaltenen Livre de Sidrac. Im Fall der Übersetzung 1 läßt sich die Entwicklung von Überzeugungen und Mentalitäten im Sinne der «longue duree» besonders gut verfolgen, weil mit dem Second Lucidaire ein Werk vorliegt, das auf der Basis des Lucidaire das theologische Material neu bearbeitet, ergänzt und weiterführt. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, im Untersuchungsteil zunächst Unterschiede zwischen der lateinischen und der volkssprachlichen Fassung und zwischen einzelnen Handschriften aufzuzeigen und nach den Gründen oder dem Kontext solcher Veränderungen zu fragen. Sie offenbaren sowohl eine langsame Anpassung an neue kirchliche Lehren als auch an ein neues, theologisch weniger erfahrenes Publikum. 6 7

1991, p. 9-17. Eine solch abwertende Meinung bezüglich des Lucidaire läßt z.B. Lefevre 1959, p. 220 anklingen, wenn er Übersetzungen in die Volkssprache allgemein und dem Lucidaire im besonderen lediglich sprachhistorisches Interesse zuspricht, da hier genau zu studieren sei, was eine Sprache bereits audrücken könne und was nicht. Leffevre berücksichtigt dabei nicht, daß solche Abweichungen bewußt durchgeführt sein können und damit über mehr als die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten des Übersetzers Aufschluß geben könne. Cf. dazu ausführlich Kap. 2.1.1.

4

Wie das schon eher auf den Glauben des einfachen Volkes ausgerichtete Elucidarium bleibt die Übersetzung dabei grundsätzlich ein Versuch, den Gläubigen die Lehren der Kirche nahezubringen, d.h. ihren Glauben zu beeinflussen; doch gehen gelegentlich auch volkstümliche Vorstellungen in den Lucidaire ein. Er illustriert damit die «liens importants de dependance et de reciprocite8» zwischen Original und Übersetzung, zwischen Latein und Volkssprache, zwischen sogenanntem «Elitewissen» und der sogenannten «Volkskultur» und bestätigt Lusignans These einer «vie unique, plus ou moins complexe, qui se developpe suivant diverses ramifications et parfois se manifeste ä travers differentes langues9». Neben den Veränderungen, denen der Übersetzer den Text unterwarf, und den Umgestaltungen, die einzelne Kopisten an ihrer Vorlage vornahmen, wurde deshalb auch die Mitüberlieferung des Lucidaire und seine Rezeption in anderen Werken in die Analyse einbezogen, was Rückschlüsse auf seine Funktion und sein Publikum zuließ. Damit möchte die hier vorgelegte Arbeit einen Beitrag zur Erforschung von religiösem Wissen und damit auch zu Form und Inhalt der Wissensvermittlung im Mittelalter leisten. Die Edition im zweiten Teil der Arbeit soll einen Text erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen, der bei der Formung der religiösen Einstellungen der «stummen Masse» im mittelalterlichen Frankreich eine wichtige Rolle gespielt hat. Die Numerierung der Fragen im Editionsteil folgt der Edition des lateinischen Elucidarium von Yves Lefevre, damit die Vergleichbarkeit der Übersetzung mit dem Original gewährleistet ist.

" Lusignan 1987, p. 34. ' Ibid.

5

1.

Entstehung und Überlieferung des Lucidaire

1.1.

Die handschriftliche Überlieferung

Die Handschrift Paris, Bibliotheque Nationale fr. 19920 Die Handschrift Paris, BN fr. 19920 (A) ist eine Pergamenthandschrift aus dem 14. Jahrhundert; sie mißt 25,5 χ 18 cm und ist von einer Hand in zwei Kolumnen geschrieben 1 . Außer dem Lucidaire (f. 266r-305v) enthält das Manuskript das Gouvernement des rois et des princes von Gilles de Rome in der Übersetzung von Henri de Gauchi 2 (f. l-265v), und die Moralitez des philosophies, die Übersetzung des Moralium dogma philosophorum von Guillaume de Conches 3 (f. 306r-326v). Der Beginn jedes Textes ist mit einer Miniatur und einer reich ausgeschmückten Initiale verziert; im Gouvernement des rois et des princes haben zusätzlich die Kapitel- und Abschnittsanfänge unterschiedlich (ca. 5 bis 7 Zeilen) große, mit Ornamenten und Ranken ausgestaltete Initialen; die gleichen Verzierungen, jedoch kleiner (ca. 2 Zeilen), finden sich auch im Lucidaire und im Moralium Dogma. Alle Texte sind durch farbige Rubriken gegliedert. Auf dem letzten Folio (326v) nennt sich ein Jacques de Crequy 4 ; der davor stehende, schlecht zu entziffernde Text von der gleichen Hand könnte eine Rechnung oder ein Schuldeintrag sein. Die Handschrift war im 17. Jahrhundert im Besitz von Pierre Seguier, einem chancelier de France. Sein Enkel Henri-Charles de Cambout de Coislin, Bischof von Metz, vermachte sie 1731 der Abtei von Saint-Germain des Pres, von wo aus sie in die Bibliotheque Nationale kam5.

' Cf. Catalogue BN 1900, p. 434. 1 5

4

5

Cf. den Epilog des Textes f. 265va und die Edition von S. P. Molenaer 1966. Ed. Holmberg 1929. Holmberg kennt die Handschrift (cf. p. 39), verwendet sie aber nicht für seine Edition. Vgl. den bei Chevalier, p. 1067 genannten «lieutenant general en Guyenne», 1413, t 1415. Lefevre 1954, p. 273 liest stattdessen Jacques de Coegny. Delisle, 1.1, p. CLII und 77; vgl. auch die Eintragungen auf f. 1.

6

Paris, Bibliotheque Nationale fr. 2168 Die Handschrift Paris, BN fr. 2168 (B) vom Ende des 13. Jahrhunderts6 ist 21,2 χ 14 cm groß und wurde von mehreren Schreibern in jeweils zwei teilweise unterschiedlich langen Spalten pro Seite auf Pergament geschrieben. Die Schrift ist sehr sorgfältig, der Text im Lucidaire auch korrekt; für manche Teile stellt Tobin jedoch zahlreiche Schreiberfehler fest7. Viele Blätter sind fleckig oder beschädigt, so daß der Text auch bei korrekter Schreibung nur sehr schwer zu lesen ist. Außer roten Rubriken und Initialen an Textanfängen enthält die Handschrift keine Verzierungen. Der Codex wurde in späterer Zeit neu gebunden; vorne sind sechs Papierblätter eingeheftet. Eine spätere Hand hat auf dem fünften dieser Blätter ein Inhaltsverzeichnis angefügt; von der gleichen Hand gibt es gelegentliche Randbemerkungen, die sich v.a. auf den Zustand der Handschrift beziehen, z.B. f. 95r und 103v: «ici manque une feuille». In der Tat fehlen in der Handschrift mindestens zwei Blätter (nach f. 94 und 103); die Folien 24bis und 111 bis wurden nachträglich eingefügt8. Aufgrund der gut erhaltenen Lagenzählung schließt Baum auf weitergehende Verluste und Umstellungen beim Binden9. 1892 wurde eine materielle Beschreibung (z.B. Doppelzählungen) auf dem gleichen Blatt wie das Inhaltsverzeichnis eingetragen. Die Folien 46 und 97 sind leer; das Folio 214v enthält einen lateinischen Text von anderer Hand. Die Handschrift kam aus der Abtei Saint-Germain über die Sammlung von Etienne Baluze (no. 572) in die Bibliotheque Nationale (no. 7989). Die alten Signaturen finden sich noch auf f. lr. Außer dem Lucidaire (f. 215r-239r) enthält der Codex eine große Menge v.a. belletristischer Texte: zahlreiche Lais10 und Fabliaus (f. l-94v, darunter Aucassin et Nicolettef. 70r-80v, 209v-214r und 239rb-241v), die Image du Monde des Gautier de Metz (f. 95r-156r), eine vermutlich unvollständige Vie Charlemagne, comment il ala en Espagne (f. 156r-158v), die Fabeln der Marie de France12 (f. 159r-186r), La Devision des quinze signes13 (f. 186r188v) und ein Bestiaire de devine Escripture14 (f. 188v-209v). " Catalogue BN 1868, p. 368 und Tobin 1976, p. 12. 7 Tobin 1976, p. 12. • Cf. ibid. 9 Baum, Richard. Recherches sur les oeuvres attribuees ä Marie de France. Heidelberg 1968, p. 53sqq. 10 Cf. Tobin 1976, p. 12 und Jean Rychner. Les Lais de Marie de France. Paris 1981; zur Handschrift cf. p. xx. 11 Ed. Mario Roques. Aucassin et Nicolette. Chantefable du XIII' siecle. Paris 2 1982. 12 Ed. Karl Warnke. Die Fabeln der Marie de France. Halle 1898. " Cf. Längfors 1918, p. 387, und auch die Edition von Erik von Kraemer, Helsinki 1966, p. 36sqq. BN fr. 2168 ist seine Handschrift F. 14 Es handelt sich um das Werk von Guillaume clerc de Normandie, cf. die Edition von Reinsch 1892. Der Text des Bestiaire ist nicht vollständig (es fehlen einige Tiere,

7

Cambridge, Fitzwilliam Museum 20 Die Handschrift Cambridge, Fitzwilliam Museum 20 (c) ist eine Pergamenthandschrift von 292 χ 216 mm und besteht aus 166 in zwei Kolumnen beschriebenen Folien (plus zwei beigebundene Vorsatzblätter)15. Die Texte sind reich illuminiert16 und darüber hinaus durch farbige Initialen gegliedert. Der Lucidaire enthält nur eine Minatur am Anfang (f. 123r), eine Initiale mit einem Magister auf einem roten Stuhl und einem offenen Buch auf dem Tisch vor sich, vor dem sein «Disciple» sitzt. Die gesamte Handschrift ist von einem Schreiber sehr sorgfältig geschrieben und rubriziert17. Auf f. 137v und 140r befinden sich zwei Einträge von moderner Hand. Die Handschrift ist auf 1323 datiert (f. 166). Gosman18 kennt Vorbesitzer aus dem 18. und 19. Jahrhundert: Dom Carpenter, Alexander DouglasHamilton und dessen Sohn. Meyer19 nennt außerdem Mac-Carthy Reagh. An dem in die Anfangsinitiale eingearbeiteten Wappen läßt sich die Familie van Vianden im Großherzogtum Luxemburg als Auftraggeber erkennen20. Auch die Sprache weist in den Norden Frankreichs21. Außer dem Lucidaire auf f. 123r-143r enthält die Handschrift eine Reihe weiterer religiöser und didaktischer Texte: die Legende de saint Fanuel (f. lr-5r), ein Marienleben, das u.a. die Passion Jesu und die Himmelfahrt Mariens unter Einschluß apokryphen Materials erzählt und das teilweise dem Nikodemusevangelium nachgebildet ist22 (z.B. der Descensus ad Inferos) (f. 5r-45v; das Ende bildet ein Prosaauszug aus dem vorangehenden Werk), der Bestiaire divin de Guillaume clerc de Normandie23 (f. 45v-73r), mehrere Auszüge aus dem Livre dou Tresor von Brunetto Latini24 (f. 73r-74v,

cf. Reinsch, p. 17), anders als bei der in Handschrift c (cf. dazu unten Anm. 23) enthaltenen Version fehlen auch die beiden zum Bestiaire gehörenden Gleichnisse mit Auslegung. 15 James 1895, p. 31, und Gosman 1982, p. 83. 16 Cf. die Beschreibungen der Miniaturen in James 1895, p. 36sqq. 17 Cf. auch Gosman 1982, p. 83. 19 20 " 1982, p. 84. 1896, p. 542-545. Ibid., p. 546. 11 Ibid., p. 545. 22 Ibid., p. 552. " Zur Edition cf. oben die Beschreibung der Handschrift B. 24 Cf. Carmody 1948, p. L. Die Textauszüge wurden in der Handschriftenbeschreibung des Katalogs und von Gosman 1982 nicht alle als Tresor-Fragmente erkannt, und auch die Angaben bei Carmody selbst sind nicht vollkommen exakt. Bei den verschiedenen Auszügen handelt es sich um den Anfang bis zur Mitte des Kapitels 1,4 der Carmody-Edition (f. 73), Teile der Tierbeschreibungen (Kap. 1,130-155 und 167-196: f. 143-153), die Geographie-Kapitel 1,121-124 (f. 156-160) und Teile des Tugendtraktats (111,84 und 60-69: f. 160-166); exakte Angaben hat Meyer 1896, p. 556 und 558-560. 8

143r-153r, 156v-166r), die Somme le roi25 (f. 74v-123r) und die Lettre du PretreJean26 (f. 153r-156v). Paris, Bibliotheque Nationale fr. 1157 Die Handschrift Paris, BN fr. 1157 (D) wurde gegen Ende des 13. Jahrhunderts auf Pergament von einem Schreiber in zwei Kolumnen geschrieben27. Sie mißt ca. 25 χ 17 cm. Jeder Text beginnt mit einer Miniatur und teilweise zusätzlich einer reich verzierten Initiale; für den Lucidaire zeigt sie einen Lehrer auf einer Art Kanzel und zwei kleinere, niedriger sitzende Zuhörer, vermutlich in (blauer und roter) Mönchskutte; der Lehrende trägt ein hellbraunes Gewand, unter dem blaue Ärmel hervorschauen, und ein Käppchen. Auf mehrere Folien finden sich Einträge von späterer Hand (f. 48v, f. 287r); es könnte sich um Besitzereinträge handeln, von denen jedoch zumindest der auf f. 287 beschädigt ist; zu erkennen ist noch «Rouen, Tournay, Dieppe; c'est mon...». Für das Livre de Sidrac ist auch die nachträgliche Korrektur von vergessenen Fragen zu erkennen (z.B. f. 77v und 78v); mehrmals sind Fragen mit «Nota» gekennzeichnet. Die Handschrift kam aus der Sammlung von Etienne Baluze in die Bibliotheque Nationale, wo sie zunächst die Signatur 73 8422 hatte28. Der Lucidaire steht hier als letzter Text auf f. 258v-287r. Außerdem enthält die Handschrift das Livre de Sidrac (f. l-239r; der Anfang fehlt), ein Avenement Antecrist (f. 239r-242v) und die Moralite des philosophes29 (f. 243r-258v). Rennes, Bibliotheque Municipale 593 Die Handschrift Rennes 593 (E) ist auf 538 Pergament-Folien mit je 3 Kolumnen geschrieben; einige der ursprünglichen Blätter fehlen. Sie mißt 37 χ 24,7 cm30. Der gesamte Codex stammt von einem Schreiber, der auf f. 284r seinen Namen nennt: Robin Boutemont (nicht Boutremont, wie im Katalog

25

Der Text ist im Katalog nicht verzeichnet; Gosman 1982, der ihn identifiziert, ordnet ihm fälschlich den gesamten Lucidaire zu. Da Edith Brayer, Paris, die eine Edition der Somme le roi vorbereitet, dem Forschungsprojekt freundlicherweise ihr Manuskript zur Verfügung stellte, konnte der Text dieser Handschrift als eine im wesentlichen vollständige, aber gekürzte Version der Somme le roi identifiziert werden; die zunächst, vermutlich durch einen Fehler, auf f. 105rb ausgelassenen Textteile werden auf f. 120va-123rb nachgeholt. Schon Meyer 1896, p. 556sqq hatte den Text als Somme erkannt und richtig vom Lucidaire abgetrennt. 26 Ed. Gosman 1982. 27 Cf. Catalogue BN 1868, p. 194 und Holmberg 1929, p. 42. 2 " Cf. Catalogue BN 1868, p. 194 und die Nennung der alten Signaturen auf f. lr. 29 Ed. Holmberg 1929, cf. auch oben Handschrift A. 3,1 Cf. Catalogue Departements, t. XXIV, p. 247.

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verzeichnet). Mehrfach gibt er auch das Datum an, zu dem er einen Text abschloß; es sind verschiedene Daten des Jahres 1303, ζ. B. vor dem Lucidaire: «Explicit le livre de Job l'an de l'incarnation Nostre Saingnor .iii.c. et .iii. le mardi devant feste saint Marc et commence le Lucidaire en cel meisme jor et an ensemble» (f. 299r); an anderen Stellen ist das Jahr ausführlich mit .m.iii.c. et .iii. angeführt31. Die Handschrift ist sorgfältig geschrieben und mit mehr als 80 Miniaturen geschmückt, davon neun im Lucidaire. Die Anfangsinitiale des Lucidaire zeigt Mestre und Disciple, die übrigen Illuminationen sind auf den Text bezogen und dort auch erklärt. Mehrere Blätter der Handschrift gingen offensichtlich verloren, wie an einer alten Numerierung in römischen Zahlen zu erkennen ist32. Die Handschrift gelangte aus dem Besitz des Parlamentspräsidenten von Rennes, Christophe-Paul de Robien (t 1757), in die Bibliothek von Rennes33. Der Lucidaire steht auf f. 299r-319v. Darüber hinaus enthält die Handschrift zahlreiche weitere didaktische Texte: Astronomische Tabellen mit begleitenden Texten zur Berechnung von Mond- und Planetenstand34, sowie ein Kalender, in den Kirchen- und Heiligenfeste eingetragen sind, zusammen mit einer Anleitung zur Berechnung der beweglichen Feste35 (f. lr-42v); die Versfassung der Image du Monde von Gautier de Metz (f. 43r-80v), das Doctrinal le Sage bzw. Doctrinal Sauvage36 (f. 80v-82v), die Mappemonde des Pierre, der sich im Gedicht mit Namen nennt37 (f. 82v-86v), Le mariage Nostre Dame sainte Marie et son trespassement (f. 86v-92v), gefolgt von einer Complainte Nostre Dame38 (f. 92v-93v), mehrere Marienmirakel von Gautier de Coinci39 31

Zur Diskussion der Frage, ob wirklich das Jahr 1303 damit bezeichnet wird oder nicht vielmehr das Jahr 1304 gemeint ist, cf. Paton 1926, p. 4sq. Die Datierung wird durch die astronomischen Tafeln bestätigt, cf. Samaran/Marichal 1984, p. 259. 32 Cf. Catalogue Departements, t. xxiv, p. 247. 33 Cf. Ducrot-Granderye 1932, p. 122. Der Einband trägt sein Wappen. 34 Cf. dazu Shore in Beer 1989, p". 305sq. 35 Für eine genauere Beschreibung cf. Catalogue Departements, t. xxiv, p. 238. Es handelt sich um das im Original lateinische Kalendarium von Guillaume de Saint-Cloud, der es für Jeanne de Navarre selbst ins Französische übersetzte. Dazu sowie zu der Möglichkeit, daß diese Handschrift für Jeanne de Navarre angefertigt wurde, cf. Shore in Beer 1989, p. 305. Jeanne de Navarre als Auftraggeberin würde auch die reiche Ausschmückung des Codex erklären. 3 " Cf. GRLMA VI/2, no. 2708 (cf. auch unten Anm. 51). 37 Cf. Langlois 1927, t. III, p. 122-134. Langlois stellt für diese Abschrift des Textes lapidar fest: «fort beau, mais tres incorrect» (p. 125). Es handelt sich um die Regres Nostre Dame von Huon le Roi de Cambrai, cf. Sonet 1956 und Sinclair 1987, no. 1621. Ed. Längfors 1906. " Es sind im einzelnen die folgenden Mirakel: I Mir 27 = D 29 (bis V. 104 der Ed. Koenig); I Mir 38 = D 40; I Mir 39 = D 41, «Miracle de Theophile» I Mir 10 = D 11; I Mir 15 = D 17; Cf. Ed. Koenig und Ducrot-Granderye 1932. Der Katalog faßt die 10

(f. 93v-103v), die Prophecies de Merlin40 (f. 104r-163r), die Prophecies a la royne Sebille (f. 163r-165v), der Milliaire de Methode (f. 165v-167v), der Lunaire de Salomon41 (f. 167v-170r), das Livre du Tresor von Brunetto Latini42 (f. 170r-284r), Vegiles de mors enfrancois (f. 284r-289v), das Livre de Job (f. 289v-299r), das Livre de Sidrac (f. 320r-471v), De Consolatione Philo sophiae des Boetius in der Übersetzung von Jean de Meung41 (f. 47 l v 509v) und ein Fragment aus Placide et Timeo44 (f. 510r-538v). Bruxelles, Bibliotheque Royale 10574-85 Die Handschrift Bruxelles, B.R. 10574-85 (F) ist eine Pergamenthandschrift von 22,3 χ 16,1 cm, die teilweise in einer, hauptsächlich aber in zwei Kolumnen geschrieben ist. Sie ist auf das Jahr 1336 datiert. Da der heutige Codex jedoch aus mehreren Handschriften zusammengebunden wurde, kann das Datum mit Sicherheit nur für die Folien 12-61 gelten, vielleicht auch für die von einer sehr ähnlichen Hand geschriebenen f. 63-10345. Die Handschrift war im 15. Jahrhundert im Besitz der Herzöge von Burgund, wie aus deren Inventaren hervorgeht46. Sie war - vermutlich noch mit Ausnahme des Kalenders der Folien 1-347 - schon damals so zusammengebunden wie heute. Eine stark bearbeitete Redaktion des Lucidaire44 steht auf den Blättern 104r-l 12v. Die Handschrift beginnt mit einem Kalendarium (f. l-3v), darauf folgt «Glorieus Dieus...», ein religiöses Gedicht aus 30 Achtsilbern49 (f. 4r-5v), ein Gebet zu Maria, das Längfors als «Tirade monorime» bezeichnet50 (f. 5v), das Doctrinal Sauvage51 (f. 5v-9r), ein satirisches Gedicht über verschiedene ersten drei Mirakel unter einem Punkt zusammen und behandelt die beiden übrigen getrennt, wobei beim letztgenannten die Zuordnung zum Werk Gautiers fehlt, cf. Catalogue Departements, t. XXIV, p . 241-243. 411 Ediert von Paton 1926, die Rennes 593 als Leithandschrift benutzt. 41 Cf. GRLMA VI/2, no. 3484: «Pronostics bases sur les phases de la lune, notices sur les influences des planetes, recettes medicales». 42 Ed. Chabaille 1863 und Carmody 1948. Zur Handschrift cf. Chabaille, p. xxxsq und Carmody, p. XLIX. 43

Ed. Louis Venceslas Dedeck-Hery in Medieval Studies 14 (1952), p. 165-275. Ed. Thomasset 1980. Zur Handschrift cf. p. vm-xi; sie hat bei Thomasset die Sigle A l . 45 Brounts 1968, p. 31. 46 Doutrepont 1909, p. 220, Anm. 3. 47 Noch Längfors 1918 kannte die Handschrift vermutlich ohne das Kalendarium, cf. seine gegenüber der jetzigen Zählung konsequent niedrigeren Folioangaben. 411 Cf. dazu ausführlich unten Kap. 5.2.2. 49 Cf. Sonet 1956 / Sinclair 1987, no. 703 und GRLMA VI/2, no. 1076. 50 Längfors 1918, p. 104. 51 GRLMA VI/2, no. 2708; ed. Jubinal 1842, p. 150-161. 44

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Berufe52 (f. 9r-l 1 v), die Versfassung der Image du Monde des Gautier de Metz (f. 12r-61v) und die sogenannte Bible en francois des Roger d'Argenteuil33 (f. 63r sqq). Dieser Text schließt u.a. die Legende vom Judenknaben (f. 86v87r), ein Traktat über die 15 Zeichen des Weltendes und das Enseignement d'un pere a sonfils54 (f. 87v-97r) ein. Nach etwa einer halben Leerseite folgen ein Lastertraktat und eine Ausführung zu den Höllenstrafen (f. 97v103v). Dem Lucidaire schließen sich eine Anklage an den Körper in Versen55 (f. 112v-l 14v), die Pronostics d'Ezechiel56 (f. 114v-115r) und die VaterUnser-Auslegung aus den Predigten des Maurice de Sully57 (f. 116r—117v) an. Die Handschrift ist von mehreren Händen geschrieben; außer Initialen und den üblichen Zeichnungen in der Image du monde enthält sie keinerlei Verzierungen. Paris, Bibliotheque Nationale fr. 1036 Die Handschrift Paris, BN fr. 1036 (G) mißt 24 χ 17,7 cm und ist durchgängig von einem Schreiber mit sehr sorgfältiger Schrift in zwei Spalten auf Pergament geschrieben. Sie stammt vom Ende des 13. Jahrhunderts58. Die Handschrift enthält zahlreiche Miniaturen (es handelt sich jeweils um Initialen, in die figürliche Darstellungen eingepaßt sind) besonders innerhalb der Apokalypse, aber auch zu Beginn jedes Textes mit Ausnahme des Enseignement d'un pere a son fils, das aber nicht als eigener Text behandelt wird. Für den Beginn des Lucidaire (f. 20) besteht sie aus einem blauen S auf Goldgrund mit einem braunroten Hintergrund; darin befindet sich ein sitzender Lehrer, der in ein blaues Mönchsgewand gekleidet ist, und ein kleinerer, ebenfalls sitzender Schüler mit einem hellgrünen Gewand und einem Buch in der Hand, sowie ein Stehpult mit einem geöffneten Buch; die Miniatur ist teilweise verkratzt, so daß Details nicht immer mit Sicherheit zu erkennen sind. Auf f. 34r befindet sich eine weitere, etwas kleinere Miniatur mit zwei Personen sowie Altar und Taufstein im Hintergrund; es dürfte sich um eine Dar-

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Langfors 1918, p. 48. " Cf. GRLMA VI/2, no. 1492. Den gleichen Text enthält über die dort angegebenen Handschriften hinaus auch die Handschrift Lille 190 (s.u. p. 27). 54 Cf. Lefevre 1954, p. 327; zum Enseignement cf. auch unten Kap. 6.1. Die in die Bible integrierte Fassung weicht im letzten Drittel erheblich von der Fassung des Textes ab, wie er z.B. in den Handschriften GHJK direkt im Anschluß an den Lucidaire überliefert ist, cf. Langlois 1928, t. IV, p. 50. Zur Bible cf. Meyer 1890, p. 71sqq. 55 Langfors 1918, p. 155 und 74. Bei dem Anfang handelt es sich nach Langfors um einen Auszug aus dem Testament von Jean de Meun (v. 337sqq). 56 GRLMA VI/2, no. 3504: «propheties agricoles et meteorologiques basees sur le jour par lequel commence l'annee». Cf. auch Meyer 1903, p. 27sq. 57 Cf. ed. Robson 1952; die Handschrift wird bei Robson nicht genannt. 5 " Zur Datierung cf. Catalogue BN 1868, p. 177 und Holmberg 1929, p. 41. 12

Stellung des Meßopfers handeln; die Farben sind die gleichen wie bei der Anfangsinitiale. Die Texte sind außerdem durch rote Rubriken und rote und blaue Initialen gegliedert und verziert. Der Handschrift ist vorne und hinten je ein beschriebenes Vorsatzblatt aus einer anderen Handschrift quer beigeheftet. Anders als am Anfang ist es am Ende mitgezählt. Auf f. 125v befindet sich ein auf dem unteren Seitenrand auf dem Kopf stehender (d.h. das Buch wurde von hinten her aufgeschlagen, als er eingeschrieben wurde), wegen Beschädigung unvollständiger Besitzereintrag: «Iste liber est domino Joh. de Malle Bernero et...» und ein weiterer Eintrag mit hellerer Tinte, der nicht mehr zu entziffern ist. Der Lucidaire steht in dieser Handschrift als zweiter Text auf f. 20ra58vb; ihm folgt (mit gemeinsamem Explicit auf f. 88r) das Enseignement d'un pere a sonfils, die Moralitez des philosophesS9 (f. 88v-109v), die Devision de la terre de promission (f. 109v-120v) und die MortAdan nostre premier pere (f. 121r-125v). Dem Lucidaire voraus geht eine Übersetzung der Apokalypse des Johannes60 (f. lr-19v). Der Lucidaire dieser wie auch der folgenden vier Handschriften weist die Besonderheit auf, daß er von einem falsch gehefteten Exemplar abgeschrieben wurde. Dadurch ergibt sich für die Fragen am Ende von Buch I und Anfang von Buch II folgende Reihenfolge: 1.190,1.197-II.2,1.190-197, II.2-14, 11.19-29,11.14—19,11.29; danach folgen auch diese Handschriften wieder der normalen Fragenabfolge. Paris, Bibliotheque Nationale fr. 24432 Die auch als Manuscrit de Valenciennes bezeichnete Handschrift Paris, BN fr. 24432 (H) umfaßt 443 numerierte Folien (plus das wohl nachträglich beigebundene Heft 198a-g) von 31 χ 21,5 cm und ist in zwei Kolumnen auf Pergament geschrieben61. Terminus post quem ist 1345, denn am Ende mehrerer Texte wird das Entstehungsdatum genannt, dessen spätestes 1345 ist (f. 266). Es existiert noch eine Numerierung aus der Entstehungszeit der Handschrift, aus der auch zu ersehen ist, daß die Folien 48,194sq und 223 fehlen; auch das Ende ist unvollständig, denn der letzte Text bricht mitten im Wort ab, eine Reklamante läßt erkennen, daß noch mindestens ein weiteres Heft folgte. Auf dem ersten, nicht numerierten Folio hat der Schreiber dem Manuskript ein Inhaltsverzeichnis beigegeben. Die Handschrift ist in sorgfältiger Schrift erstellt, aber nicht frei von Kopistenfehlern. Die Rubriken sind jeweils von der gleichen Hand wie der Text. 59

Cf. oben die Angaben zur Handschrift A. BN fr. 1036 hat bei Holmberg 1929 die Sigle B. "0 Cf. GRLMA VI/2, no. 1404 (Version III). 61 Catalogue BN 1902, p. 368. 13

Es ist nicht zu entscheiden, ob die gesamte Handschrift von einem Schreiber stammt, dessen Schrift in Größe und Buchstabendichte variiert, oder von mehreren Schreibern mit gleichen Gewohnheiten62. Außer den farbigen Rubriken und verzierten Initialen gibt es keinerlei weitere Ausschmückungen. Mehrere größere Freiräume63 legen die Vermutung nahe, daß Illuminationen geplant waren, aber nicht ausgeführt wurden. Zwei frühe Besitzer haben ihre Namen in das Manuskript eingetragen: Perrenette de Pluvot (f. 265) und Denis Lucey (mit Angabe der Jahreszahl 1566) (f. 279v und 402v). Die Handschrift gehörte der Bibliothek von Notre Dame, bevor sie in den Besitz der Bibliotheque Nationale kam64. Außer einigen Korrekturen, die der Schreiber selbst vorgenommen haben dürfte (z.B. f. 23rb) enthält die Handschrift auch zahlreiche Bemerkungen von einer Hand des 19. Jahrhunderts, die teilweise mit A J (f. 84rb) gekennzeichnet sind; wie schon Münk Olsen vermutete65, dürfte es sich dabei um A. Jubinal handeln. Der Lucidaire steht auf f. 328r-361r und wird wie in G vom Enseignement d'un pere a son fils gefolgt (bis f. 385r), das als Teil des Lucidaire behandelt wird. Die übrigen Texte zeigen eine große Bandbreite: Die Secres Aristote, d.h. eine - unvollständige - Übersetzung des Secretum Secretorum66 (f. 57r-84r), die Grant Bible Nostre Dame ou priere a la vierge (f. 87r-91r), ein Gedicht über die Höllenstrafen (f. 91v-99r), eine Aufzählung der 30 gefährlichen Tage des Jahres und ihrer Wirkung67 (f. 99r), das Martyrium des Hl. Bachus (f. 142v-164v), La requeste des Freres Meneurs sus le septieme Clement le Quint (f. 146v-148r), die Panthere d'amors von Nicole de Margival68, die hier Richart de Fournival zugeschrieben wird (f. 153v-171r), die Fables de Ysopet, eine Übersetzung der Alexander Neckham zugeschriebenen Fabelsammlung69 (f. 171r-184r), das Tournoiement d'Antecrist70 (f. 184r-198gr), Le livre des songes Daniel et les songes 62

64

Cf. Münk Olsen 1978, p. CXLVI. Längfors 1945, p. 92, dagegen meint, es handle sich um eine Hand. Z.B. f. 13v, 14r und ν u.v.m. Catalogue BN 1902, p. 368; die alte Signatur Μ 213 befindet sich noch auf der Seite mit dem Inhaltsverzeichnis.

65

1 9 7 8 , p . CXLVI.

66

Monfrin 1982, p. 82sq. Cf. dazu GRLMA VI/2, no. 3472. Solche Warnungen sind in zahlreichen unterschiedlichen Fassungen bekannt, cf. z.B. Osten Södergard in: Neusprachliche Mitteilungen 55 (1954), p. 267sqq. Ed.Todd 1883. Cf. Leopold Hervieux. Les Fabulistes latins depuis le siecle d'Auguste jusqu'a lafin du moyen age. Τ. 1: Phfedre et ses anciens imitateurs. Paris 1884, bes. p. 681 sq. Ed. Georg Wimmer. Huon de Mery. Li tournoiemenz Antecrist. Nach den Handschriften zu Paris, London und Oxford. Marburg 1888.

67

M 69

70

14

Macrobes (f. 281v-302v), zahlreiche 'serventois' und 'sotes chansons'71 (f. 303r- 310v), ein Meßtraktat von Hugo von Saint-Cher in der Übersetzung von Jean de Vignay (f. 317r-327r), ein Enseignement Salemons et Tholome (f. 420r-436v) und die unvollständige Misere de l'omme des späteren Papstes Innozenz III. (f. 437r-443v). Auf den restlichen bisher nicht genannten Folien stehen überwiegend zahllose als 'Dits' bezeichnete Texte, unter ihnen mehrere Werke von Rutebeuf und eine Sammlung von 22 Dits von Jehan de Saint-Quentin72. Dabei werden Texte mit religiösem Inhalt (z.B. drei 'Dits de Nostre Dame', f. 152r153r) neben weltliche (z.B. der Yonec-Lai von Marie de France73, f. 241r245r) gestellt. Oxford, Bodleian Library, Douce 99 Die Handschrift Oxford, Bodleian Douce 99 (i) ist eine Pergamenthandschrift aus dem 15. Jahrhundert, die 104 Folien (plus ein nicht numeriertes Blatt) von 21 χ 15,4 cm umfaßt; die Foliozahlen der Handschrift entsprechen ab f. 40 nicht mehr der Zahl der Blätter, da beim Numerieren offensichtlich die Nummern 38 und 39 vergessen wurden; es handelt sich nicht um Folioverluste: der Text des Lucidaire an der betreffenden Stelle ist vollständig. Der Zählfehler wurde schon früher bemerkt, cf. die Anmerkung auf f. 105r. Francis Douce trug Bemerkungen über die enthaltenen Texte, verwandte Texte in anderen Handschriften u.ä.m. in die Handschrift ein (f. i (ult)). In der Handschrift sind farbige Initialen der einzige Schmuck. Rote und blaue Rubriken (im Lucidaire nur rote) gliedern den Text. Die gesamte Handschrift ist von einem Schreiber in sehr sorgfältiger Schrift geschrieben und wurde korrigiert. Über diese Korrekturen hinaus finden sich keinerlei Benutzerspuren. Die Handschrift befand sich unter der Nummer 1242 in der Bibliothek des Due de la Valliere und gelangte über die Bibliothek von Francis Douce in die Bodleian Library, wo sie zunächst die Nummer 21673 hatte74. 71 72

73 74

Ed. Längfors 1945, p. 107-149. Für eine detaillierte Aufstellung der Texte cf. Catalogue BN 1902, p. 361-368. Die Dits von Jehan de Saint-Quentin wurden von Münk Olsen 1978 als solche identifiziert und herausgegeben. Bei dem «Dit de Guillaume d'Angleterre» (f. 1-13v) handelt es sich um eine kürzende und moralisierende Bearbeitung von Chretiens Wilhelmsroman in vierzeiligen. Alexandrinerstrophen, vermutlich noch im 13. Jhd. entstanden, cf. Wendelin Foerster, Der Karrenritter und das Wilhelmsleben von Christian von Troyes. Halle 1899, p. CLXXI. Der Text wurde ediert von Francisque Michel in den von ihm herausgegebenen Chroniques anglo-normandes, t. III, 1840. Die Handschrift wurde außerdem von Jubinal 1842 für eine ganze Reihe seiner Texte benutzt. Cf. dazu u.a. Rychner (cf. oben Anm. 10), p. xx. Madan 1897, p. 521. 15

Der hier in der Titelrubrik (f. 26v) als «Rommant du Lucydaires» bezeichnete Lucidaire steht als zweiter Text auf den Folien 27r-78r, wobei der Schreiber innerhalb der Frage 11.35 die Vorlage wechselt und zur Übersetzung 475 übergeht. Auch diese bricht er in III.60 abrupt nach der Schülerfrage ab, um eine «ordenance comment la personne se doit gouverner chascun jour» (f. 78r-79v) anzufügen76. Dem Lucidaire voraus geht ein «Rommans de Moralites» (f. l-26r), der von Jean de Meung sein soll77. F. 26 ist leer mit Ausnahme der Rubrik des Lucidaire. Die Folien 80r-97v nimmt die Griseldisgeschichte («Le Roumant du Marquis de Saluce et de sa femme Griselidys», f. 79v) ein78. Es folgt schließlich eine Prophetie für die Frankreich und der Welt ab 1414 bevorstehenden Katastrophen (f. 98r-102r) von Jean de Baissegny. Da es sich bei den teilweise sehr detaillierten Beschreibungen mit Sicherheit um Prophezeiungen post eventum handelt, liegen die Entstehungszeit von Text und Handschrift eindeutig später als das von Madan angegebene 141479. Paris, Bibliotheque Nationale fr. 12581 Die Handschrift Paris, BN fr. 12581 (J) ist eine Pergamenthandschrift von 429 Blättern ä 30 χ 22 cm, die in zwei Kolumnen beschrieben und auf das Jahr 1284 datiert ist80. Der Beginn der meisten Texte ist mit einer Miniatur und zusätzlich einer Initiale verziert. Die Handschrift wurde vermutlich von mehreren Schreibern geschrieben, ist jedoch einheitlich gestaltet: Miniatur81 und reich verzierte

75

Cf. Kleinhans 1993, p. 24sq. Kleinhans 1993, p. 72, hat den Text als einen Ausschnitt aus Philippe de Novares Les quatre ages de 1'komme identifiziert. Der Text ist abgedruckt bei Lefevre 1954, p. 279sq (Anm. 1). 77 Cf. Madan 1897, p. 521. Es handelt sich jedoch um die mehrfach mit dem Lucidaire zusammen überlieferte Moralite des philosophes, die Übersetzung des Moralium Dogma Philosophorum des Guillaume de Conches. Cf. oben die Angaben zu Handschrift Α und Kleinhans 1993, p. 71 sq. 7 " Zur Zuordnung des Textes zu einer Version und der Identifizierung des angeblichen Übersetzers Franchoys Pietät als Petrarca, cf. Golenistcheff-Koutonzoff, p. 137-140, zit. bei Kleinhans 1993, p. 73. 79 Madan 1897, p. 521. Zur Verbesserung von Baillegny zu Baissegny cf. Kleinhans 1993, p. 74. Catalogue BN 1896, p. 566sq. Die Datierung befindet sich auf f. 229v, am Ende des Tresor von Brunetto Latini, cf. Chabaille 1863, p. xxx. Die Miniaturen sind dabei direkt auf den Text bezogen; so stellen sie etwa innerhalb der Quatre ages de l'homme beim Beginn der einzelnen Kapitel ein Kind, einen jungen Mann, einen Mann reiferen Alters und einen auf Krücken gestützten Greis dar, cf. Freville 1888, p. xivsq. 76

16

Initiale am Anfang jedes größeren Textes. Lediglich für den Lucidaire läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob er in der gleichen Weise verziert war, da die erste Seite fehlt; die Initiale der direkt an den Lucidaire anschließenden Terre de promission ist jedoch wieder ähnlich wie die anderen. Vor und nach größeren Texten wurde das Folio meist nicht gefüllt, sondern der neue Text erst auf der nächsten Seite begonnen. Das Manuskript kam aus dem Besitz des Marechal d'Estrees in die Bibliotheque Nationale, wo es zunächst die Signatur Supplement fraiKjais 198 hatte82. Die Signatur ist auf dem oberen Rand des ersten Folio noch zu erkennen. Mehrmals hat eine andere Hand Eintragungen am Rand gemacht. Einige der Randbemerkungen sind in italienischer Sprache und beziehen sich direkt auf den Text, z.B. f. 189r: «parola tuti manieri di pechari». Auf f. 76v dürfte es sich sogar um die Übersetzung eines kurzen Textabschnittes handeln, der wie eine Sentenz aus dem Text herausgezogen wird: «Jo ammo mellio huomo ch'abia di falta di denari che denari che abbianno di falta d'uomo». Lucidaire steht auf den Folien 321r-344r und wird wie in G direkt vom Enseignement d'un pere a sonfils, der Terre de promission (f. 360r-366r) und der Mort Adam (f. 366r-368v) gefolgt; das Explicit für den Lucidaire steht hier erst nach diesen vier Texten auf f. 368va. Der Beginn des Lucidaire ist unvollständig; es fehlen der Prolog und die Fragen bis einschließlich 1.14. Des weiteren enthält die Handschrift: eine Prosaversion des Roman de la Queste du S. Graal (f. l-83r), einen Traite de fauconnerie (f. 83-87r), zahlreiche Gedichte, die meisten von Thibaut de Champagne (f. 87v-88v, 230r-232v, 312v-320v, 375v), das Livre du Tresor von Brunetto Latini83 (f. 89r-229v), eine Übersetzung der vier Evangelien (f. 233r-311r), das sogenannte ABC de Plantefolie84 (f. 31 l-312r), die Devision des faires de Champaigne83 (f. 312r-v), die Disticha Catonis in der Übersetzung von Adam de Suel86 (f. 368v-371v), eine Proiere de Nostre Dame, laquele Ii chanceliers de Paris fist*7 (f. 371v-372r), zwei Fabliaux: Des .xxiij. manieres de vilains und lifabliaus des treces (f. 372v-375r), die

"2 Catalogue BN 1896, p. 567. " Cf. Chabaille 1863, p. xxx und Carmody 1948, p. XLIX; BN fr. 12581 war die Leithandschrift für Chabailles Edition. 84 Cf. Sonet 1956, no. 255. 5 " Cf. die Untersuchung von Bourquelot, bes. p. 80-85 und 137sqq. Bourquelot kennt und benutzt die Handschrift (er zitiert sie mehrfach fälschlich als B.I. 1281). Die genannten Daten und Maße entsprechen nach Bourquelot genau den bekannten und auch in anderen Quellen nachweisbaren Informationen über die Messen der Champagne. M Ed. J. Ulrich, «Der Cato des Adam de Suel», in: Romanische Forschungen 15(1904), p. 107-140. Ulrich benutzt die Handschrift nicht. " Nach Sinclair 1979, no. 2977 stammt das Gebet von Thibaut d'Amiens; die Angabe des «chancelier de Paris» Jean Gerson als Autor ist jedoch nicht selten, cf. ibid., p. 80. 17

Moralite des philosophes (f. 376r-387r), die Quatre ages de 1'komme von Philippe de Novare88 (f. 387r-407v), eine Übersetzung der Disciplina clericalis in Versen, die am Ende unvollständig ist, worauf auch eine Randbemerkung verweist (f. 408r-429v). Firenze, Biblioteca Riccardiana 2756 Die Handschrift Firenze, Biblioteca Ricardiana 2756 (κ) stammt aus dem 14. Jahrhundert und besteht aus 72 numerierten Blättern von je 26,3 χ 17,8 cm, von denen nur die Folien 1-67 ursprünglich zusammengehörten; die restlichen Blätter wurden später beigebunden. Auf dem Vorsatzblatt sowie auf den letzten Folien befinden sich Federproben und lateinische Sätze von verschiedenen Händen89. Die Texte des ersten Teils der Handschrift sind in sorgfältiger «gotica settentrionale» von einer Hand geschrieben. Der Beginn jedes Textes außer der Mort Adan ist durch eine ausgestaltete Initiale geschmückt; darüber hinaus sind die Texte durch große rote und blaue Initialen verziert. Der Lucidaire steht als erster Text auf den Folien l-36r; ihm schließen sich wie in G und J das Enseignement d'unpere a son fils (f. 36r-58v), die 7erre de promission (f. 58v-67r) und die Mort Adan (f. 67r-67v) an90. Die Folien 68-70 sind leer. Der Lucidaire wurde wie die Handschriften GHIJ von einem falsch gehefteten Exemplar abgeschrieben, hat aber in der ersten Hälfte von Buch II noch weitere Umstellungen, so daß die Reihenfolge der Fragen ab I.190 folgendermaßen aussieht: 1.190, I.198-II.2, 1.190-197, II.3-5, 11.14, II.19-29,11.14-16, II.5-14,11.34-48,11.16-19,11.29-34, II.48sqq. Die Übergänge innerhalb der Texte wurden nicht immer an den neuen Zusammenhang angepaßt. Auf den beigebundenen f. 71 und 72 stehen Sonette in Florentiner Dialekt (f. 71v), Arnaud de Carcasses' Novas del Papagay (f. 72r) und ein Fragment von Chretiens' Cliges91 (f. 72r).

"" Ed. Freville 1888. BN fr. 12581 ist Frevilles Leithandschrift, über deren Qualität er (p. xiv) folgendermaßen urteilt: «C'est un [manuscrit] des meilleurs, et, de plus, c'est le seul qui soit absolument complet.» ,J " VIII Congresso Internazionale [1957], p. 172. w Diese werden von der vorstehend zitierten Handschriftenbeschreibung teilweise nicht als eigenständige Texte erkannt; so verzeichnet sie für die Folien 36-58 nur summarisch «Prose religiose e morali in a. fr., adesp., fra cui un trattatello sul Battesimo e una vedazione in prosa dei Quinze signes du Jugement dernier.» Noch unergiebiger ist der Katalog der Riccardiana, Inventario e stima della Libreria Riccardi. Manoscritti e Edizioni Secolo XV. Firenze 1810, der unter Nr. 2756 nur den summarischen Eintrag «Dialoghi sacri in antica lingua Francese» verzeichnet. 91 Cf. VIII Congresso Internazionale [1957], p. 172.

18

Oxford, Bodleian Library 652 Die Handschrift Oxford, Bodleian 652 (L) aus dem 13. Jahrhundert wurde von mehreren Schreibern92 auf ca. 19 χ 12 cm große Pergamentfolien geschrieben. Die Kopisten von Lucidaire und der Lettre du pretre Jean fügten ihren Texten am Rand in roter Farbe Stichwörter bei, die für den Lucidaire weitgehend identisch mit den in anderen Handschriften vorhandenen Rubriken sind. Dieses Verfahren wie auch die sehr ähnlich gestalteten Miniaturen lassen trotz der verschiedenen Schreiber eine den Codex fast vollständig durchziehende einheitliche Gestaltung erkennen93. Nachträglich beigebunden wurden je zwei vorne mit .i. und .ii. und hinten mit 69 und 70 numerierte Pergamentblätter, die quer liegen und mit lateinischen Motetten beschrieben sind94. Mit Sicherheit ebenfalls nicht zur Handschrift gehörten vier leere Papierblätter, die vorne und hinten beigeheftet wurden (f. III-VI und 65-68). Möglicherweise gehörten auch die f. 1-10 zunächst zu einer anderen Handschrift. Dafür spricht die englische Sprache, die hier verwendet wird, vor allem aber die grundlegend andere Gestaltung: so hat der Text keine Verzierung am Anfang; auch umfaßt er eine eigene Lage. Die Handschrift wurde 1607 von Sir Richard Worseley der Bodleian Library geschenkt und hatte dort ursprünglich die Signatur 230695. Diese findet sich zusammen mit der heutigen und zwei weiteren Signaturen auf f. Illr. Der Lucidaire (f. 1 lr-46r) ist einspaltig geschrieben. Der Textbeginn ist durch eine Miniatur verziert, die einen sitzenden «maistre» und vier gestikulierende «desciples» darstellt, deren Köpfe bei einer spätere Bearbeitung abgeschnitten wurden. Auf den Rand neben dem Prolog wurde ein Storch gezeichnet, der gerade einen Marienkäfer verschlingt. Der Text ist außerdem durch rote und blaue Initialen (am Textbeginn: Goldbuchstabe mit roter und blauer Ausmalung) und durch Frage- und Antwortkennzeichnungen in rot gegliedert. Er wurde von einer zeitgenössischen Hand verbessert (gelegentliche Expungierungen und Korrekturen, meist in rot). Dem Lucidaire folgen die Lettre du pretre Jean96 (f. 46v-51v) und das Chasteau d'amour von Robert Grosseteste97 (f. 52r-64v); der letztgenannte Text ist im Unterschied zu den vorausgehenden in zwei Spalten geschrieben. Die ersten 10 Folien (wobei nach f. 6 ein Blatt fehlt) enthalten ein englisches religiöses Gedicht mit dem Titel Jacob and Joseph.

91 ,J4 95 lJh

Gosman 1982, p. 71 identifiziert vier Hände, wobei der Priester Johannes von einer sonst nicht im Ms. vorhandenen Hand geschrieben sei. Für den Lucidaire ist die Schrift sehr uneinheitlich, es ist m.E. jedoch nicht zu entscheiden, ob sich hier mehrere Schreiber abwechselten, oder ob ein Schreiber unregelmäßig schrieb. Cf. auch Gosman 1982, p. 72. Madan/Craster 1922, p. 301. % 97 Ibid., p. 300sq. Ed. Gosman 1982. Ed. Murray 1918. Madan/Craster 1922, p. 300. 19

Oxford, Bodleian Library, Douce 270 Die Handschrift Oxford, Bodleian, Douce 270 (Μ) ist eine ca. 18 χ 13 cm große Pergamenthandschrift, die vermutlich aus dem frühen 13. Jahrhundert stammt und in England geschrieben wurde". Sie wurde wahrscheinlich für die Benediktinerabtei St. Cuthbert in Durham angefertigt100. Die ersten acht Folien nimmt nach einer kurzen lateinischen Notiz über das Wachstum der Kinder im Mutterleib (f. lr) ein lateinischer Kalender mit Tafeln zur Berechnung des Osterfestes ein (f. lv-8r; 8ν ist leer), die von der gleichen Hand stammen wie die übrigen Texte101. Markierungen an den Ostertafeln lassen vermuten, daß das Manuskript 1225 oder 1226 angefertigt wurde, doch wurde die auf f. 9r befindliche Illumination auf ca. 1200 datiert102. Eintragungen in den Kalender zeigen, daß die Handschrift sich in der zweiten Hälfte des 13. und am Anfang des 14. Jahrhunderts in Kingsbury, Somersetshire, befand103. Auf f. 9r (bis f. 85v) beginnt die Übersetzung der Predigten von Maurice de Sully104. Darauf folgt der Lucidaire (f. 86r-93v); der Text bricht in 1.125 ab. Die Folien 93v-105v enthalten die Vie de S. Nicolas von Wace, die am Ende ebenfalls unvollständig ist (es fehlt mindestens ein Blatt)105. Außer der schon erwähnten Miniatur zu Beginn der Predigten von Maurice de Sully enthält die Handschrift keine Illuminationen. Die Texte sind jedoch mit farbigen Initialen (rot und blau, in der jeweils anderen Farbe ausgemalt, zwei oder drei Zeilen hoch) verziert und enthalten rote Rubriken bzw. Bibelzitate in den Predigten. Im Lucidaire sind die Frage- und Antwortanfänge mit D und Μ in rot, blau oder grün kenntlich gemacht. In den gleichen Farben sind auch die ursprünglichen Eintragungen im Kalender (Kirchenfeste usw.) gehalten. Am Rand finden sich häufig ungelenke Federzeichnungen, die wohl eine schlecht gezeichnete Hand darstellen, die auf den Text hinweisen soll. In einer Hand des 15. Jahrhunderts hat sich «Sir Rycherde Peny» auf f. ii verso eingetragen. In die Bodleian Library kam die Handschrift aus der

Madan 1897, p. 574 und The Douce Legacy, p. 142sq. F. ii, auf dem sich die Jahreszahl 1197 sowie eine Bemerkung über Spenden auf dem Schrein des Hl. Cuthbert befindet, ist vermutlich ein loses Blatt aus einer anderen Handschrift (Madan 1897, p. 575). 100 Madan 1897, p. 574. Nach Durham deutet nicht nur das beigeheftete Blatt mit der Erwähnung des Cuthbert-Schreins, sondern auch die Illumination, die möglicherweise in Durham angefertigt wurde, cf. The Douce Legacy, p. 142. Dagegen aber Ker 1964, p. 74, der die Ortsangabe für unsicher hält. 101 The Douce Legacy, p. 142. 102 Ibid. 1113 Madan 1897, p. 574 und The Douce Legacy, p. 142. m Ed. Robson 1952. 105 Cf. Madan 1897, p. 575.

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Sammlung von Francis Douce, der sie 1790 erworben hatte106. In der Bodleian Library bekam sie zunächst die Nummer 21844, bevor sie die heutige Signatur Douce 270 erhielt107. Darmstadt 2663 Die Handschrift Darmstadt 2663 (N) ist eine Pergamenthandschrift mit 104 Blättern aus der Kartause St. Barbara in Köln108; die Herkunft ist durch zwei Besitzereinträge auf f. 1 und 55v gesichert. Sie mißt 1 6 x 1 2 cm und wurde im 14. Jahrhundert von mehreren Händen geschrieben. Sie ist aus zwei Codices zusammengebunden; der zweite Codex beginnt auf f. 56. Der erste Codex ist deutscher Provenienz, der zweite stammt, wie das hintere Vorsatzblatt aus einem Rechnungsbuch des 14. Jahrhunderts nahelegt, aus dem französischen Sprachraum, vielleicht aus der Gegend von Lüttich109. Spätestens im 15. Jahrhundert waren beide Codices zusammengebunden, wie das Inhaltsverzeichnis auf dem Vorsatzblatt zeigt110. Im Codex, wie er uns heute vorliegt, fehlen die f. 90-94111. Außer roten Initialen weist die Handschrift keine Verzierungen auf. Der letzte Text enthält Interlinearglossen112. Diese Handschrift ist die einzige, in der der Lucidaire ausschließlich zusammen mit lateinischen Texten überliefert ist. Es handelt sich im einzelnen um folgende Texte113: Confessio brevis (f. l-2r), verschiedene Teile aus David de Augusta Tractatus de informacione spiritualis vite\ «Viginti passus» (f. 3r-13r), «De compositione hominis exterioris» (f. 13r-23v), «De compositione hominis interioris» (f. 24r-51v), eine lateinische Predigt über Hld 4,9 (f. 52r-54v), Auszüge aus De laude caritatis (f. 54v-55v): «De tribus signis boni status», «De affectu sermonis domini», «Tractatus de quattuor modis sacre scripture», «De modo predicandi», «De triplici perfectione». Der zweite Codex beginnt mit Johannes de Grocheos Ars musicae (f. 56r-69r), es folgen Hugo von St. Chers Speculum ecclesiae (f. 70r-81r), das Fragment des Lucidaire (f. 81r-83v) (Prolog bis einschließlich DI.30), eine Auslegung des Glaubensbekenntnisses (f. 84r-87r), ein Hymnus Meditatio animae fidelis (f. 88v-89r) und ein Barbara-Lied (f. 95r-104r); Folio 104v ist leer.

1116

The Douce Legacy, p. 143. Madan 1897, p. 574sq. "'* Dem Forschungsprojekt stand eine ausführliche maschinenschriftliche Handschriftenbeschreibung von Knaus zur Verfügung, auf die hier Bezug genommen wird. 109 Knaus. Auf der Rückseite des Vorsatzblattes ist der Eintrag «Istum [!] librum scripsit dominus Johannes de bocis Monachus domus sancte barbare Coloniensis ordinis Carthusiensis» zu lesen, woraus Knaus schließt, daß die Handschrift Johannes de Bocis gehört habe, wobei mit dem Ortsnamen vermutlich Booze bei Lüttich gemeint sei. 1111 112 Ibid. Ibid. Ibid. 113 Cf. dazu ibid., p. 2sqq.

107

21

London, British Museum, add. 28260 Die Handschrift London, BM add. 28260 (ο) ist ein kleines Pergamentbändchen von 1 6 x 1 2 cm aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts114. Die Blätter sind von späterer Hand von 1 bis 101 numeriert, wobei das leere Folio, das auf f. 83 folgt, nicht mitgezählt wurde. Darin sind zwei Vorsatzblätter enthalten, die sich als eindeutig nicht zum ursprünglichen Codex gehörig erweisen, da sie zurechtgeschnitten werden mußten, um die gleiche Größe wie die übrigen Blätter zu haben, wodurch das erste ziemlich stark beschädigt wurde; das zweite ist quer beigeheftet. Auf dem ersten steht ein Fragment eines lateinischen Grammatiktraktats, auf dem zweiten ein Ausschnitt aus der Aurora, der lateinischen Versbibel des Petrus von Riga115. Dem Lucidaire (f. 35r-83v) voraus geht eine Abschrift der Quatre ages de Γ komme von Philippe de Novare (f. 3r-33v); der Text bricht innerhalb des «moien age» ab116; dem Lucidaire folgt der sogenannte Bestiaire de Gervaiseui (f. 84v-100v), eine Übersetzung der Dicta Chrysostomi, die nur in dieser Handschrift überliefert ist, doch stellt diese vermutlich nicht das Original dar; die Übersetzung soll vielmehr Anfang des 13. Jahrhunderts in der Normandie angefertigt worden sein118. Jeweils ein leeres Folio trennt die drei Texte der Handschrift voneinander. Alle Texte sind vermutlich vom gleichen Schreiber. Die Quatre ages de Vkomme sind ohne jede Verzierung; im Lucidaire sind die Fragen und Antworten jeweils rot markiert (D für «deciple», Μ für «mestre»); gelegentlich enthält der Text auch in der gleichen Farbe gehaltene Rubriken. Rote Initialen hat auch der Bestiaire', er wurde zusätzlich mit einfachen Zeichnungen des jeweils besprochenen Tieres illustriert; ab f. 93v sind die Zeichnungen nicht mehr ausgeführt, Platz für sie wurde jedoch ausgespart. Die Quatre ages und der Lucidaire sind als fortlaufender Text geschrieben, der Bestiaire dagegen in Spalten, zu Beginn nur eine Kolumne pro Seite, ab f. 88v zwei. Auf f. 2v nennt sich ein Jo[hann]is Devantorij al[ia]s Sapientis für das Jahr 1502 als Besitzer119; der Eintrag wird auf f. 3r wiederholt. Ein weiterer Eintrag befindet sich auf f. 34v; dort ist aber neben der Jahreszahl (1521 oder 1529) kein Name genannt; daß die Hand eine andere ist, belegt, daß der Codex inzwischen den Besitzer gewechselt hatte. Wie aus einer Notiz auf der Einbandinnenseite hervorgeht, wurde die Handschrift am 9. April 1870 von der Buchhandlung Tross erworben und befindet sich seither im Besitz der British Library. 114

Catalogue of Additions, p. 460 und Meyer 1872, p. 420. Catalogue of Additions, p. 460. 116 Ed. Freville 1888, p. xv. 117 Ed. Meyer 1872, p. 420sqq. "« Cf. GRLMA VI/2, no. 4196. 119 Catalogue of Additions, p. 460. 115

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Paris, Bibliotheque Nationale nouv. acq. fr. 10034 Die Handschrift Paris, BN nouv. acq. fr. 10034 (p) ist eine Pergamenthandschrift aus dem 13. Jahrhundert120. Sie umfaßt 91 mit je zwei Spalten beschriebene Blätter von 15 χ 11,2 cm und wurde durchgehend von einem Schreiber kopiert. Der blaue Ledereinband aus späterer Zeit ist bemerkenswert durch eine Elfenbeinminiatur mit einer Darstellung des toten Christus von Albrecht Dürer121. Der Einband trägt außerdem die Inschrift «Hug. de Cambray pour la Croisade». Die Handschrift kam aus der Collection Barrois (no. 660) in die Bibliotheque Nationale. Über weitere Vorbesitzer ist nichts bekannt. Außer Initialen und farbigen Rubriken bzw. Sprecherkennzeichnungen im Lucidaire hat die Handschrift keinerlei Verzierungen. Die f. l-23ra werden von der Complainte de Nostre Dame eingenommen122, darauf folgen auf den f. 23r-75r der Lucidaire und das Livre que Ypocras envoya a Cesar123 (f. 75r-90v). Der Rest von f. 90v und f. 91ra enthält ein im Katalog nicht erwähntes lateinisches Gebet. F. 91rb ist von einer späteren Hand vermutlich mit französischem Text vollgekritzelt; es war am Mikrofilm nicht auszumachen, ob es sich um einen sinnvollen Text oder um Schreibproben handelt. Paris, Bibliotheque Nationale fr. 423 Paris, BN fr. 423 (Q) ist eine Pergamenthandschrift aus dem 14. Jahrhundert124, bestehend aus 144 Blättern (plus je ein Vorsatzblatt vorne und hinten) von 35,3 χ 25 cm125. Sie wurde von einem Schreiber in zwei Spalten pro Seite beschrieben. Auf f. lv hat eine andere Hand ein Inhaltsverzeichnis angelegt. Die gleiche Hand dürfte den Text auf f. 6 und 7 geschrieben haben, wobei f. 7 zusätzlich ein anderes Format hat126 und vermutlich später beigebunden wurde, um die Legende von Barlaam und Josaphat zu vervollständigen; dies

120

Catalogue BN 1918, p. 7. Cf. auch die Eintragung von späterer Hand auf der Einbandinnenseite. 122 Cf. die Ed. von Längfors 1906. 123 Es handelt sich um ein medizinisches Traktat, das in zahlreichen französischen Versionen bekannt ist, cf. Tony Hunt. Popular Medicine in Thirteenth-Century England. Introduction and texts. Cambridge 1990, p. 100-141 und Osten Södergärd. Une lettre d'Hippocrate d'apres un manuscrit inedit. Stockholm 1981; der Text von ρ ist mit keinem von beiden Traktaten identisch. Zu den verschiedenen Übersetzungen des Textes cf. auch Meyer 1886, p. 274 und 1903, p. 84. Die Handschrift BN n.a. 10034 ist dort nicht berücksichtigt. 124 Catalogue BN 1868, p. 42. 125 Ducrot-Granderye 1932, p. 89. 126 Zu den Folien 6 und 7 cf. auch Sonet 1952, p. 185. 121

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gilt auch für die nach f. 20 eingefügte Bartholomäuspassion: das Blatt ist ohne Numerierung und ebenfalls von kleinerem Format; nur die Rückseite ist beschrieben. Die Folionumerierung ist mittelalterlich; die Reklamanten sind erhalten. An Verzierungen enthält das Manuskript nur farbige Initialen und Rubriken. Auf dem Vorsatzblatt befinden sich ein Name und ein Wappen; beide wurden von Paulin Paris als diejenigen der Familie Thomassin aus Lyon identifiziert127. Möglicherweise wurde die Handschrift sogar für diese Familie angefertigt, da auch der Dialekt des Schreibers in die gleiche Gegend weist128. In die Bibliothfcque Nationale kam die Handschrift 1668 aus dem Besitz des Kardinals Mazarin (no. 116), der sie von Nicolas Peiresc erworben hatte129. Sie hatte zunächst die Signatur 7024. Das Manuskript enthält eine große Zahl von ausschließlich religiösen Texten. Die Rubrik auf dem Inhaltsverzeichnis vor f. 1 «Cy s'ensuivent les vies et passions des apostres Nostre Seigneur Jhesu Crist et d'aucuns aultres sains et sainttes, et aussi pluseurs miracles que Nostre Dame fist pour ceulx et Celles qui devotement la deprierent et requirent» beschreibt schon fast den gesamten Inhalt. Unter den Heiligenleben (f. l-100r) sind u.a. die Legende von Barlaam und Josaphat130, das Purgatoire saint Patricel31, Joseph d'Arimatia, eine Laimentacion Nostra Dama sainte Marie per son fiP2, mehrere Auszüge aus der Vie des Peres du desert, ein Complaignement de l'arme und mehrere Predigten. Auch der Lucidaire steht unter dem Titel «Dou disciple et dou mestre» innerhalb dieser Kategorie (f. 79r-90r)133. Auf f. lOOv (bis f. 102r) folgt eine Exhortation a 1'amour de DieulM, danach mehrere Wundergeschichten: De sant Bonet quifut evesques de Clarmont (f. 102r-v), De Moz que Nostre Dame revela α Λ. sien ami en letres d'or (f. 103r-104r), D'une pucelle qui ere suer Λ. prevoire que Nostre Dame veut avoir (f. 104r-v) und Come Nostre Dame racorda Theophile a son chierfil (f. 104v-109r). Es folgen 20 Marienwunder von Gautier de Coincy133 (f. 109r130v). Die Folien 131r-137r enthalten eine weitere Predigt, f. 137r-138v eine Vie de sainte Agathe, f. 138v-142v die Vers de la mort von Helinand de 127 128 129 I3U 131

132

1,4 135

Zit. bei Ducrot-Granderye 1932, p. 89. Ibid. Delisle, 1.1, p. cxxxv und 98. Eine Prosaversion, ediert von Sonet 1952, p. 489sqq. Der Text ist nicht identisch mit dem von Marie de France. Zu den verschiedenen Übersetzungen der Legende im Altfranzösischen, cf. Meyer 1891, p. 239sqq. Cf. GRLMA VI/2, no. 920 und Sinclair 1982, no. 5026. Zur genaueren Aufzählung aller Heiligenviten oder Märtyrerpassionen cf. Catalogue BN 1868, p. 41. Cf. Sonet 1956, no. 304 und die Ergänzungen bei Sinclair 1987. Es handelt sich im einzelnen um D17, D19, D30, D31, D32, D18, D12-13 (kurze Redaktion), D14, D15, D16, D20, D21, D22, D23, D40, D41, D27, D28, D29. Cf. Ducrot-Granderye 1932, p. 90. 24

Froidemont136, f. 142v eine französische Fassung der Zehn Gebote137 sowie Li Clostra de l'arme (bis f. 144r). Das letzte Folio 144 enthält eine unvollständige Instruction pour bien vivre. Paris, Bibliotheque Nationale fr. 187 Paris, BN fr. 187 (R) ist eine Pergamenthandschrift von 117 Blättern ä 37 χ 24 cm, die im 14. Jahrhundert von einem Schreiber (der auf f. 117r seinen Namen Laurent de la Roche nennt) für die Familie der Visconti angefertigt wurde138. Der Name des Auftraggebers ist ausradiert. Die Handschrift hatte Galeazzo Visconti gehört, dessen Ehefrau Blanche de Savoie sie bei seinem Tod 1378 von ihrem Sohn zusammen mit anderen Handschriften der väterlichen Bibliothek geschenkt bekam. Der - ebenfalls ausradierte - Besitzervermerk auf dem nicht numerierten ersten Folio trug vermutlich ihren Namen. Nach Blanches Tod kam die Handschrift wieder in den Besitz der Visconti und wurde bei der Eroberung des Herzogtums Mailand von Ludwig XII. erworben; hierauf bezieht sich die Eintragung auf f. 117 «de Pavye au roy loys .xij.e139. Die Handschrift ist v.a. zu Beginn mit zahlreichen Miniaturen verziert, die von f. 43v-60 aussetzen und nach f. 72 ganz aufhören. Der Lucidaire steht auf den Folien 49r-60r. Der Text ist stark bearbeitet und gekürzt; zudem ist die Abfolge der Fragen sehr stark verändert: Prolog bis 1.12,1.152-11.16,1.72-151,1.12-1.72,11.19-32; 11.33-92 fehlen. Ab 11.93 entspricht die Abfolge des Textes dem der übrigen Lucidaire-Handschriften. Da die Stellen, an denen Umstellungen einsetzen oder enden, meist mit einer Foliogrenze zusammenfallen, ist davon auszugehen, daß es sich bei den Umstellungen lediglich um eine spätere falsche Heftung handelt. Nicht erklärt werden kann damit aber die lange Auslassung in Buch II, die sich nicht an einer Foliogrenze befindet. Dagegen ist R die einzige Handschrift, die die lateinischen Fragen III. 106121, wenn auch nur in geraffter Form, enthält. Ob es sich um eine stark bearbeitende Neuübersetzung oder eine Übernahme aus einer anderen Quelle handelt, kann anhand des Textes nicht entschieden werden. Die Ähnlichkeiten mit dem Elucidarium-Text sind sehr groß, aber keineswegs so zwingend, daß keine andere Vorlage in frage käme. Eine Suche unter den von Lefevre angegebenen Quellen des Elucidarium und verwandten Texten blieb erfolglos. Ausgeschlossen werden kann eine Übernahme aus einer der anderen altfranzösischen Übersetzungen: Weder mit dem von Düwell noch den von Kleinhans edierten Texten weist die lange Addition signifikante Übereinstimmungen auf. 156 137 118 139

Ed. Wulff/Walberg 1905. Cf. Sonet 1956, no. 1622 und die Korrektur bei Sinclair 1987, der u.a. BN fr. 423 ergänzt. Robson 1952, p. 68. Sonet 1949, p. 141sq, der seinerseits Paulin Paris zitiert.

25

Die Handschrift wird eröffnet von der fast vollständigen Sammlung der Predigten von Maurice de Sully in französischer Übersetzung (f. lr-38v), wobei die Predigten jedoch stark gekürzt sind140, gefolgt von Heiligenlegenden141 (f. 38v-45r) und einigen weiteren Predigten (f. 45r—49r; dabei entspricht der Text auf f. 47r—49r einer Beichtformel142). Auf den Lucidaire folgen die französische Version des Nikodemus-Evangeliums143 und die häufig mit ihm verbundenen Destruction de Jerusalem und Vengeance de Nostre Seigneurm (f. 60v-71r). Die Handschrift wird abgeschlossen von der Legende von Barlaam und Josaphat145 (f. 72r-116v) und den .vii. beneürtez zusammen mit den .vii. eschelez de l'escale par quoi l'on doit monier en paradiz (f. 116v-l 17r). F. 71v und 117v sind leer. Paris, Bibliotheque Nationale, fr. 20039 Die Handschrift Paris, BN fr. 20039 (s) wurde Ende des 13. Jahrhunderts auf Pergament geschrieben146. Sie enthält 166 Blätter von 24 χ 17 cm147. Die Handschrift beginnt mit der Bible von Herman de Valenciennes148 (f. l-123v). Es folgen zwei Mariengebete149 (f. 124v-125r) und die Geschichte der Heilung des Kaisers Vespasian (f. 125r-164v). Das Lucidaire-Fragment steht auf dem letzten Folio, das vermutlich aus einer anderen Handschrift nachträglich beigebunden wurde. Es handelt sich um die Fragen 1.104-117; der Text beginnt und endet jeweils mitten im Satz. Am Ende der Bible gibt der Schreiber Guerri seinen Namen an150. Bekannte Vörbesitzer waren Nicot, Ph. Desportes und Seguier151.

,4U

Robson 1952, p. 68. Ibid. 142 Ibid. Die Beschreibung der Handschrift in Catalogue BN 1868, p. 15, rechnet alle Texte bis einschl. f. 49r zu den Predigten von Maurice de Sully. 141 Ed. Ford 1973. 144 Cf. ibid., p. 25 und Micha, 1969. Micha untersucht in diesem Beitrag die verschiedenen Fassungen und Kombinationsmöglichkeiten von Nikodemusevangelium und Vengeance und ediert die spezielle Fassung aus BN fr. 187, die nach seinen Beobachtungen direkt von der Estoire dou Graal von Robert de Boron abstammt, (p. 1293). 145 Version Champenoise, cf. Sonet 1949, p. 137. 146 Delisle, 1.1, p. 9. 147 Catalogue BN 1900, p. 467sq. I4S Ed. Spiele 1975, die ihrer Edition diese Handschrift zugrundelegt. 149 Cf. Sonet 1956, no. 1278 und 1872 sowie die Ergänzungen bei Sinclair 1987. 150 Cf. Ed. Spiele 1975, p. 358. 151 Delisle, 1.1, p. 9. 141

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Lille, Bibliotheque Municipale 190 Lille 190 (τ) ist eine Pergamenthandschrift aus dem 14. Jahrhundert mit 129 Blättern von je 21 χ 15,5 cm, die in je zwei Spalten beschrieben sind152. Die Handschrift enthält keine Miniaturen und nur gelegentlich farbige Initialen und Rankenverzierungen oder Initialen in rot und blau zur Gliederung der Texte. Sie wurde vermutlich von einem einzigen Kopisten in sehr sorgfältiger Schrift geschrieben und von einer anderen Hand korrigiert; die Korrekturen wurden teilweise in rot vorgenommen. Der Schreiber nennt seinen Namen zwar nicht, hält aber seine Leistung doch für etwas durchaus Lobenswertes: «Explicit iste liber scriptus / qui scripsit sit benedictus», wie er auf f. 126v anmerkt. Die Handschrift kam aus der Bibliothek des Kapitels von Saint Pierre in Lille in die Stadtbibliothek, deren Vorläufer sie war (cf. deren Stempel zusammen mit dem der Bibliotheque Municipale auf f. 4 unten). Weitere Vorbesitzer waren Frederic Charles de Valory, dessen ex-libris sich auf der Einbandinnenseite befindet153, sowie Anne de Graville (cf. f. 1 ν: «A ma damoiselle Anne de Graville, dame du Boys de Mallesherbes .v.c.xxi. achette a Rouen»). F. lr trägt einen Bleistifteintrag: «Theologie» und die heutige Signatur 190; auf f. 3 wurde ebenfalls von recht später Hand eine Inhaltsverzeichnis angelegt; der Rest der Folien 1-3 ist leer. Der Textteil des Manuskripts beginnt auf f. 4r mit der Bible en frangois™ (bis f. 31v). Direkt daran schließt sich eine Vengeance Nostre Seigneur an, wobei der Schreiber offensichtlich bemerkt hatte, daß es sich um teilweise ähnliche Inhalte handelt, denn er leitet den Text mit folgenden Worten ein: «Ici parole de Joseph qui despendi Nostre Seingnor en autre manere que il n'a fet devant155» (f. 31v-55r); der Text bricht unvollständig auf f. 55r ab; f. 55v ist leer. Es folgt ein Fragment des Livre de Sidrac (f. 56r). Auf dem gleichen Folio (bis f. 56v) steht - passend zur Legende vom Judenknaben in der Bible - ein Exzerpt aus Augustinus über den Nutzen, den ein Mensch davon hat, wenn er im Altarssakrament den Leib Christi sieht. Auf f. 56v beginnt das Livre de la vie pardurable et est apelee le livre de vie por ce que il parole des vies des sains Peres et des sains hermites crestiens... .Im Prolog zu diesen Viten nennt sich Robert de Chipoi und beschreibt seinen Lebensweg, insbesondere seine Studien in Paris. Bemer152

154

155

Catalogue Departements, t. xxvi, p. 99-102, hier p. 102. Zur Geschichte der Bibliothek von Saint-Pierre und deren Beziehungen zur Familie der Valory, insbesondere der Verdienste von Paul-Frederic-Charles de Valory (16821753) um die Bibliothek, cf. E. Hautecoeur. Histoire de l'Eglise Collegiate et du Chapitre de Saint-Pierre de Lille. T. 3: Lille. Paris 1899, hier bes. p. 192-200 und 409. Cf. den gleichen Text in der Hs. F; auch hier umfaßt sie neben biblischem und apokryphem Material u.a. die Geschichte vom Judenknaben, das Enseignement d'un pere a sonfils, die 15 Zeichen des Weltendes und ein Beichttraktat. F. 3Ivb; meine Hervorhebung. Zu den verschiedenen Fassungen der Vengeance, und ihrer komplizierten Überlieferungsgeschichte cf. Ford 1973 und Micha 1969.

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kenswert ist hierbei, daß sich «Robertus de Cepoy» in der Handschrift Salins 12156 als Autor der Bible en frangois nennt, die im allgemeinen Roger d'Argenteuil zugeschrieben wird157. Das Livre de vie pardurable umfaßt zehn Wundergeschichten aus den Vitae Patrum, darunter befindet sich auf f. 59v-61r der Chevalier au barisei. Es folgt ein im Explicit als Livre de l'ame bezeichnetes Gedicht über Aufnahme und Krönung Marias im Himmel158 (f. 71r-75v), ein Fragment aus Amis et Amiles (f. 75v-78v), nochmals mehrere Wundergeschichten (f. 78v-84r), schließlich die Pronostics Ezechiel·59 (f. 84v-85r). Die Folien f. 87r-108v werden von einer leicht veränderten Fassung des Lucidaire eingenommen. Ihm schließt sich der Prolog der Miracles de Nostre Dame von Gautier de Coincy sowie das Theophilus-Wunder160 an (f. 109126v), mit dem die Handschrift endet. Der Lucidaire dieser Handschrift (bzw. die gemeinsame Vorlage von τ und u) kennt Elucidarium-Text über den ansonsten überlieferten Text hinaus. Es handelt sich im einzelnen um 1.102sq, 1.165,1.175sq, II.2 und II.8 (die beiden letztgenannten im Lucidaire sonst stark gekürzt). Vor allem τ zitiert darüber hinaus auch eine Reihe der Schriftstellen, die in den anderen Handschriften fehlen. Sie können auch nicht aus bloßer Bibelkenntnis neu ergänzt worden sein, denn am Ende von 1.101 gibt der Kopist ein Textstück als Schriftzitat aus, das aber nur am Anfang ein wirkliches Bibelzitat ist, die Fortsetzung ist Elucidarium-Text[i[. Dabei spricht einiges dafür, daß solche zusätzlichen Textteile dadurch entstanden sind, daß die gemeinsame Vorlage von τ und υ erneut mit dem Elucidarium verglichen und fehlende Texte neu übersetzt wurden, so ζ. B. Frage 1.140, die im Lucidaire vermutlich nach einer gekürzten Elucidarium-Vorlage übersetzt wurde, in τ und υ aber im wesentlichen vollständig ist162. Ebenso erscheint es aber möglich, daß diese beiden Handschriften alleine ursprünglichen Lucidaire-Textbestand bewahrt haben, wie es gelegentlich auch bei anderen Handschriften der Fall ist163. Gegen eine nachträgliche Kor156

Cf. D. Ruhe 1993, p. 102. Cf. GRLMA VI/2, no. 1492 und Meyer 1890, p. 71; der Text des Explicits ist in dem von Meyer zitierten BN fr. 1850 und Salins 12 mit Ausnahme der verschiedenen Autoren- bzw. Schreibernamen identisch. I5 " Dahinter verbirgt sich der letzte, mehrfach allein überlieferte Teil der Bibel von Herman de Valenciennes; vgl. Längfors 1918, p. 377 und Ed. Spiele 1975, p. 148 und 343sqq. Zum Text cf. auch die Edition von C. A. Strate, «De I'Assumption Nostre Dame» von Herman de Valenciennes. Dissertation Greifswald 1913, der die Handschrift aber ebensowenig wie Spiele für seine Edition heranzieht. 159 Cf. Meyer 1903, p. 27, Anm. 1; cf. dazu auch oben die Angaben zur Handschrift F. 160 Cf. Ducrot-Granderye 1932, p. 110. 161 An anderen Stellen dagegen wurde der Text von einer oder beiden Handschriften stark gekürzt; es fehlen 1.191-194, darüber hinaus 1.14—37 und 11.82-93 in τ. 162 Cf. dazu Kap. 1.2, Anm. 173. 163 Z.B. der Wachs-Vergleich in Μ in Frage 1.54.

157

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rektur - und sei sie auch nur punktueller Art - am lateinischen Original spricht, daß in unmittelbarer Nähe der dann als korrigiert anzusehenden Teile sich die gleichen Auslassungen wie in den übrigen Handschriften finden (z.B. 1.1 lOsq oder 1.121-124) und auch gravierende Fehler stehenbleiben, die dem aufmerksamen Kopisten dann auf keinen Fall entgangen sein dürften, z.B. die Behauptung, Adam habe vor dem Sündenfall das Böse «par esprovement» gekannt und das Gute «par escience», die durch eine Auslassung entstanden ist; auch die falsche Übersetzung von ludicabant am Ende von Π.75 wurde nicht korrigiert. Ebenso kann eine Übernahme solcher Textteile aus einer anderen Tradition ausgeschlossen werden, da die Zusatztexte keine signifikanten Ähnlichkeiten mit einer der anderen bekannten altfranzösischen Übersetzungen aufweisen. Die Frage muß daher unentschieden bleiben. Paris, Bibliotheque Nationale fr. 991 Paris, BN fr. 991 (u) ist eine Papierhandschrift aus dem 15. Jahrhundert164, die von einem Schreiber in Kursive in fortlaufenden Zeilen ohne jegliche Verzierung oder Gliederung geschrieben wurde. Lediglich die einzelnen Texte sind durch Rubriken und Leerzeilen voneinander getrennt. Die Handschrift beginnt mit dem Lucidaire, dem jedoch der Anfang des Prologs fehlt. Auf noch weiterreichenden Textverlust deutet auch eine alte (vermutlich von der gleichen Hand wie der Text stammende) Foliozählung in römischen Zahlen, die auf f. 1 (moderne Zählung) mit .lxxxxj. einsetzt und innerhalb der Orloge de sapience endet. Der Lucidaire ist ein kontaminierter Text aus mindestens zwei Handschriftentraditionen der Übersetzung 1. Eine dem Schreiber bekannte Version war der nur noch in der Handschrift Lille 190 erhaltenen Fassung ähnlich (aber sicher nicht diese Handschrift); die zweite Vorlage stammte mit Sicherheit aus der Gruppe um die Leithandschrift, doch ist auch diese Vorlage nicht erhalten. Durch die Kollationierung mehrerer Redaktionen enthält die Handschrift größere Teile des Lucidaire doppelt; dabei stehen die Doppelungen teilweise in Verbindung mit einer Auslassung der verbreitetsten Textfassung: 1.102sq fehlen zunächst wie in fast allen Lucidaire-Handschriften, 1.102-109 folgen aber auf 1.109 noch einmal in der Tradition von τ, 1.104-109 sind somit doppelt; ähnlich 1.190-195, wobei zunächst 1.191-194 wie in Tfehlt. Die zweite Hälfte von Buch II ist zuerst stark gekürzt, folgt aber ein zweites Mal in extenso, so daß die genaue Fragenabfolge nun lautet: Π.52-54, 65-70, 72-87, 95-102, 52-55, 57-68D, 69M-70, 72-73, 75-105. Ein ähnliches Phänomen, aber in weniger großem Ausmaß, findet sich auch schon einmal zu Beginn von Buch II. Außer dem Lucidaire enthält die Handschrift ein Kapitelverzeichnis der Orloge de sapience (f. 32v-33r) und die Orloge de sapience selbst, eine Übersetzung des Horologium Sapientiae des Dominikaners Heinrich Seuse 164

Catalogue BN 1868, p. 171.

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(f. 33v-146v), das Plädoyer von Jean Petit für den Herzog von Burgund wegen der Beschuldigung des Mordes an Louis d'Orleans165 (f. 147r-149v), sowie einige Auszüge aus den Vies des Peres du desert und den Dialogue saint Gregoire (f. 150r-151v). Durch die Aufnahme der Plädoyers um den Mord an Louis d'Orleans ergibt sich 1408 als sicherer terminus post quem für die Handschrift. Die Handschrift hatte früher die Signaturen 7308 3 und Colbert 3188166.

1.2. Die lateinische Vorlage des Lucidaire Um die Eigenständigkeit des Lucidaire-Obersetzers genauer einschätzen zu können, wäre es über die Kenntnis der allgemeinen Elucidantim-Tradition hinaus wünschenswert, die Handschrift zu kennen, nach der der Übersetzer gearbeitet hat. Denn eine Kenntnis der direkten Vorlage würde es erlauben, die Redaktionsarbeit des Übersetzers zu trennen von den Änderungen, die schon der Kopist der lateinischen Vorlage vornahm. Ein erstes Indiz für die Identifikation der Vorlage bieten die von Lefevre in seiner Edition als Zusätze bezeichneten Fragen. Von diesen kennt der Lucidaire nur die Nummern 11.51 a-c. Da es unsinnig wäre anzunehmen, der Übersetzer habe die von der modernen Forschung als Zusätze bezeichneten Stellen als solche erkannt und systematisch eliminiert, muß seine Vorlage unter den Handschriften gesucht werden, die nur diese drei Zusatzfragen aufweisen. Eine erste Überprüfung der durch die Arbeiten des Teilprojekts Al des Sonderforschungsbereichs 226 zur Verfügung stehenden Elucidarium-Handschriften des romanischen (Frankreich, Belgien, Italien, Spanien) und englischen (Großbritannien und Irland) Sprachraums167 ergab, daß nur wenige Manuskripte ausschließlich diese Zusätze aufweisen. Es handelt sich im einzelnen um Paris, BN lat. 3417, Cambrai 261, Oxford, Laud. lat. 18 und Vicenza, Biblioteca Bertoliana G.3.9.13. Die Handschrift Cambrai 261 (σ) hatte schon Lefevre als einen nahen Verwandten der Übersetzungsvorlage identifiziert: On peut meme identifier ä tres peu pres le manuscrit latin dont il disposait: il reproduit la plupart des variantes propres au ms σ16". Auch auf die Nähe von BN lat. 3417 (/) zu diesem - und weiteren - Manuskripten hatte er hingewiesen:

165

Cf. dazu Doutrepont 1909, p. 283-290. Catalogue BN 1868, p. 171. "" Cf. die Liste der überprüften Handschriften im Anhang, p. 435sqq. 168 Lefevre 1954, p. 274. 30

Quant aux mss t, f, σ, Ku, ils ne represented pas exactement le texte de l'ancetre commun ä tout le groupe: il y a eu necessairement entre eux et cet ancetre un intermediate puisqu'ils contiennent tous les quatre une addition propre ä la famille A, addition qu'ils sont seuls ä presenter en dehors des manuscrits de la famille A169. Schon aufgrund der Anmerkungen in der Edition des lateinischen Textes kann t (= Troyes 1961) weitgehend als Vorlage für den Lucidaire ausgeschieden werden, denn in mehreren Fragen, bei denen σ und/Varianten aufweisen, die dem Lucidaire entsprechen, folgt t dem «normalen» Text; auch beendet die Handschrift das Elucidarium innerhalb von III. 106 und enthält darüber hinaus auch einige andere Additionen. Ebensowenig kommt Ka aufgrund der Kontamination als Vorlage in Frage, σ und/dagegen weisen zahlreiche weitere Gemeinsamkeiten mit dem Lucidaire auf. Als unterscheidende Varianten hatte Lefevre neben II.51a-c die Variante «quantum in aliis» statt «quantam in angelis creandis» in 1.66 und den Zusatz «in adulterio, fornicatione et in caeteris flagitiis» in 1.185 genannt170. Diese finden sich auch in Laud. lat. 18 und Bertoliana G.3.9.13. Darüber hinaus gehen weitere Unterschiede zwischen dem Lucidaire und dem edierten Text des Elucidarium auf Änderungen zurück, wie sie auch diese vier Handschriften aufweisen. So haben alle diese Handschriften in II.7 die abweichende Formulierung «libertas eligendi bonum vel malum», was der Lucidaire mit «la franchise d'eslire le bien del mal» übersetzt, statt «in potestate hominis esse et velle et posse bonum vel malum». Alle diese Handschriften teilen wie der Lucidaire in II.8 Frage und Antwort abweichend von der lateinischen Tradition171. Ebenso geht die Änderung des Königsnamens und der Maßangaben für die Höhe des Turms von Babel in 11.75 schon auf die lateinische Vorlage zurück: Apud Babel turrim gigantium exorta legitur, cujus altitudo sexaginta quatuor stadiorum fuisse fertur. In qua primus rex hujus mundi, Nemroth,... (EL) Apud [B]abel turrim gigantium exorta legitur, cujus altitudo .xliiij. stadiorum fuisse legitur. In qua primus rex mundi, cujus nomen Eroth... ( f , f. 28vb; Laud, lat. 18, f. 149r; Bertoliana, f. 95r; σ, f. 60v)172. ... en la tour de Babel, qui estoit la tour des jajans, la quele avoit de haut .xliiij. estages. Et illuec regna Ii premierz rois de cest sieccle, Ii quieus ot a non Eroc. (Lucidaire) 1W

170 171 172

Ibid., p. 80sq. Lefevre bezieht sich bei den Additionen auf die Fragen II.5 la-c. Zu dieser Gruppe sind auch Oxford, Laud. lat. 18 und Vicenza, Biblioteca Bertoliana G.3.9.13 zu rechnen, die in Lefevres Analyse nicht berücksichtigt sind, da er nur die heute in französischen Bibliotheken befindlichen Manuskripte für seine Edition benutzt. Lefevre 1954, p. 274, Anm. 2; vgl. auch p. 373, Anm. 2 und p. 396, Anm. 1 und 2. Ibid., p. 407, Anm. 2 und 3. σ ist an dieser Stelle unvollständig; in Bertoliana lautet der Königsname wie in der «normalen» lateinischen Tradition «Nembroth». 31

Die verkürzte Übersetzung von 1.140 liegt vermutlich ebenfalls schon in einer Auslassung der Vorlage begründet: Secundum naturam talis fuit qualis in monte discipulis apparuit. Sed, quia homines ejus claritatem ferre non poterant, sub larva apparuit, quia forma despicabilis fuit; unde dicitur: Vidimus eum non habentem speciem neque decorem. (EL) Secundum naturam talis fuit qualis in monte discipulis apparuit, quia forma despicabilis fuit, unde dicitur: Vidimus eum non habentem speciem neque decorem. (Laud. lat. 18, f. 131v; σ, f. 39v;/, f. 18v; Bertoliana, f. 84r) Selonc la seue nature fu il ausincques biaus comme il s'aparut devant ses deciples el mont de Tabor. Mes selonc la forme que il avoit, estoit assez de vil personne. (Lucidaire) m

Dies gilt auch für das Fehlen von «in quo omnes peccaverunt» in 11.39, die Formulierung «une partie de la durte des pierres» («partem duricie lapidum») statt «participium duritiae lapidum» in 1.59, die Aufteilung von Fischen und Vögeln auf dickeres und dünneres Wasser in 1.20, die Formulierung der Sünden wider den Hl. Geist in II.100174, die Ergänzung der «confessor» bei den Personengruppen, die beim Jüngsten Gericht mit Jesus urteilen werden, in 111.60 u.v.m. Auch die Rubriken gehen fast alle schon auf die lateinische Vorlage zurück und sind in den vier Handschriften vorhanden, w o b e i / besonders nahe an die Formulierungen des Lucidaire herankommt. Nur in Bertoliana G.3.9.13 aber findet sich die Zuschreibung an Anselm, wie sie ähnlich die Handschrift Α des Lucidaire kennt: Domni Anselmi liber qui vocatur Elucidarius (Bertoliana G.3.9.13, f. 77r) Ci coumance Ii prologues Anseaume l'arceveque sor Lucidaire.

Gelegentlich sind nicht alle diese Handschriften gemeinsam näher an der Übersetzung, sondern eine oder mehrere folgen dem von Lefevre edierten Text oder kennen individuelle Abweichungen. In σ fehlen in 1.180 und 1.195 ganze Sätze, 1.196 fehlt ganz; alle diese Textstellen sind im Lucidaire wie in den übrigen lateinischen Handschriften vorhanden. Umgekehrt könnte die Übersetzung von «locus spiritualis, ubi ignis» mit «espiriteus feus» in III. 13 durch eine Auslassung ähnlich der i n / ( f . 32rb) zustandegekommen sein, wo der vollständige Satz lautet: «Inferior autem specialis ubi ignis inextingibi173

174

Trifft die Vermutung zu, daß die Übersetzung hier auf einer verkürzten Vorlage beruht, wäre diese Stelle ein Beweis dafür, daß die Handschriften τ und υ erneut auf das lateinische Original zurückgegriffen haben, denn bei ihnen ist der Text im wesentlichen vollständig (mit der Interpretation von «larva» als «autre forme de bele personne» allerdings nicht korrekt). Die Definition für diese Sünde «Quant Ii hom est en peneance, se ce est chose que il chiee en desperacion» geht nicht auf «Impoenitentia et diffidentia» (EL), sondern auf «In penitencia diffidencia» (z.B. BN lat. 3417, f. 30ra) zurück. 32

Iis.» Auch σ kann näher an der Übersetzung sein, so in 1.25, wo in dieser Handschrift wie im Lucidaire die Verben «coleretur, adoraretur» fehlen, die in den anderen Manuskripten dieser Gruppe vorhanden sind. In Laud. lat. 18 und Bertoliana G.3.9.13 werden Fragen zusammengefaßt, die im Lucidaire getrennt bleiben, auch in/fehlen gelegentlich Fragenteile, die in der Übersetzung vollständig sind. Die Beispiele zeigen deutlich, daß die Vorlage des Lucidaire-Übersetzers aus einer Handschrift dieser Gruppe stammte, doch ist sicher keine der hier genannten Handschriften diese Vorlage gewesen, denn keine von ihnen kennt alle in dieser Gruppe vertretenen Varianten, die vom Lucidaire übernommen werden. Da die direkte Vorlage nicht gefunden werden konnte, ist eine sichere Aussage über die Eigenleistung des Übersetzers nicht zu gewinnen. Die Analyse der Varianten der mit der Vorlage verwandten lateinischen Handschriften läßt jedoch folgende Schlüsse zu: 1. Einige Änderungen der Übersetzung gehen mit Sicherheit schon auf die Vorlage zurück. Dabei handelt es sich jedoch häufig um eher unbedeutende Varianten (Namen, Zahlenangaben, Auslassungen kleinerer Textstücke u.e.m.). Für die größeren Änderungen der Übersetzung gibt es dagegen keine Parallelen in den untersuchten lateinischen Handschriften. 2. Eine beträchtliche Anzahl der Änderungen sind die Leistung des Übersetzers. Zwar ist nicht auszuschließen, daß es eine stärker bearbeitete lateinische Fassung gegeben hat, die noch größere Parallelen mit dem Lucidaire aufweist. Doch zeigt auch die Analyse des Übersetzungsverfahrens175, daß der Übersetzer durchaus in der Lage war, den französischen Text eigenständig zu gestalten. Das Verdienst für die eine oder andere Anpassung an neue theologische Lehrmeinungen, die im folgenden diskutiert werden, mag damit vielleicht schon einem Kopisten einer lateinischen Handschrift zufallen; eine vollständig neu redigierte Handschrift, die vom Verfasser des Lucidaire nur wörtlich übersetzt wurde, ist aufgrund der schon angesprochenen Art der Übersetzung wie auch der relativen Stabilität der lateinischen Überlieferung aber eher unwahrscheinlich.

1.3.

Die Entstehungszeit des Lucidaire

Lefevre176 hatte ohne nähere Begründung den Lucidaire auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts datiert. Diesem Datierungsversuch ist im wesentlichen zuzustimmen, er läßt sich jedoch präzisieren: Ein relativ sicherer terminus ante quem ergibt sich aus der Handschrift M, deren Datierung auf das Jahr 1225 175 176

Cf. unten Kap. 2., hier besonders 2.1.1. und 2.2. 1959, p. 221. 33

oder 1226 durch die Markierungen an den Ostertafeln zu erschließen ist. Vielleicht entstand die Handschrift auch schon einige Jahre früher - die Art der Illumination der Predigten von Maurice de Sully läßt dies möglich erscheinen177. Diese Datierung stimmt auch mit einigen sprachlichen Merkmalen des Lucidaire überein, die schon auf das Original zurückgehen. So verwendet der Autor von dem untersuchten theologischen Spezialwortschatz nur Termini, die schon früh aus dem Lateinischen übernommen wurden. Neuere Formen und Entlehnungen kommen zwar vor, sind aber auf einzelne Handschriften beschränkt und somit deutlich als spätere Schreiberkorrekturen zu erkennen178. Auch klar erkennbare Spuren einer Rectus-Obliquus-Unterscheidung in den Handschriften verweisen auf ein Original, in dem die Kasusunterscheidungen noch weitgehend respektiert wurden179. Fehler vor allem bei den -s-Endungen lassen vermuten, daß der Kopist aus seiner Vorlage (die in einer Zeit entstand, in der das Kasussystem noch intakt war180), Flektionsformen übernahm, die er nicht mehr als solche erkannte und mit falschen bzw. analogen Endungen versah. Spätestens das erste Viertel des 13. Jahrhunderts kann somit als Entstehungszeit des Lucidaire als gesichert betrachtet werden. Ein entsprechend sicherer terminus post quem ist nicht zu gewinnen; lediglich einige Anhaltspunkte helfen, den Zeitraum etwas genauer zu fassen. Zum einen dürfte die älteste genau datierbare Handschrift Μ dem Original noch recht nahestehen, denn obwohl sie zum stärker bearbeiteten Zweig gehört, bewahrt sie gelegentlich als einzige Handschrift ursprünglichen Text181. Zum anderen zeigt die Konzentration der Überlieferung des Lucidaire auf das 13. und frühe 14. Jahrhundert, daß die Übersetzung innerhalb einer relativ kurzen Zeit große Verbreitung erlangte. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß nicht eine alte Übersetzung urplötzlich zu Ruhm gelangte, sondern daß ein neues, den Bedürfnissen der Zeit entsprechendes Werk sich zunächst schnell verbreitete, um später nur noch gelegentlich kopiert zu werden. Wenn also keine absolute Sicherheit über die Entstehungszeit des Lucidaire zu erhalten ist, ist es doch sehr wahrscheinlich, daß diese nicht allzu lange vor der Entstehung der ersten datierbaren Handschrift liegt, d.h. daß die Übersetzung im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts angefertigt wurde.

177

Cf. dazu die Angaben bei der Handschriftenbeschreibung, p. 20. " Cf. dazu ausführlich Kap. 2.1.2 und 2.1.3. 179 Zur Deklination cf. ausführlich Kap. 1.4., p. 37sq. 'i0 Es ist nach Rheinfelder 1967, p. 33sq und 37sq schon ab dem 12. Jahrhundert im Schwinden. Cf. den schon genannten Siegelwachsvergleich in 1.54. n

34

1.4.

Die Sprache der Leithandschrift BN fr. 19920

1.4.1.

Sprachstand

Die Handschrift BN fr. 19920 ist sehr sorgfältig geschrieben. Dies zeigt sich nicht nur in einer geringen Zahl von Schreibfehlem, sondern auch in der sprachlichen Gestaltung: Der Kopist verwendet noch weitgehend fehlerlos Formen, die zur Entstehungszeit der Handschrift bloße Graphien ohne Unterstützung der Aussprache gewesen sein müssen. Dies wie auch das Festhalten an einigen anderen von der Sprachentwicklung langsam zum Aussterben verurteilten Erscheinungen verleihen der Handschrift einen konservativen Charakter, in dem sich vermutlich die gleiche Treue zur Vorlage spiegelt, wie sie auch für den Text selbst konstatiert werden kann182. Einige Strukturen, die einer jüngeren Sprachstufe zuzurechnen sind, machen jedoch deutlich, daß die Handschrift im ausgehenden 13. oder beginnenden 14. Jahrhundert entstanden sein muß. In der Folge werden die wichtigsten Charakteristika der Handschrift aufgeführt, die dieses Ergebnis belegen. - Lautentwicklung und Graphie * beginnende Hiat-Reduktion183: rampli (111.79) neben raamplir (III. 122) und aamplir (1.64, II. 11), prescher (1.137, 11.52) neben preescher (111.68) (verschrieben für peecherent), marchandise (11.32) neben marcheant (II.54sq), jugeur (11.19) neben jugeour (11.53), pecheur (11.65) neben pecheo(u)r (7x), benoite (1.119,111.33) neben beneoit (III.2, 62, 78). Für nfz. äge wird noch aage, aber bereits nicht mehr eage verwendet. Daneben kennt Α aber eine ganze Reihe Wortformen ausschließlich mit Hiat, wie z.B. maleoit, reons, espoantable, aourer, aouvert, agaiteeur, desfendeeurs u.v.m.184 * e > a vor -r185: darrien (1.20, 69,11.13). * Verstummen von -5-, im Wortinnern vor Konsonant: Sowohl das Verstummen von s vor stimmhaftem Konsonant als auch das im Laufe des 13. Jhds. erfolgte Verstummen von s vor stimmlosem Konsonant schlägt sich teilweise in der Graphie der Handschrift nieder186: 182

184

1,5 1116

Vgl. Kap. 2.1., bes. p. 55. Brunot 1966, p. 426sqq, Fouchd p. 438sqq und 516sqq. Cf. Marchello-Nizia 1992, p. 56sqq, die für das 14. Jhd. eine weitgehende Koexistenz von Formen mit und ohne Hiat konstatiert. Brunot 1966, p. 425, Fouche p. 348. Brunot 1966, p. 168sq und 335. Zum Erhalt der Aussprache von s bis zum Ende des 14. Jhds. cf. aber Coyfurelly, Tractatus orthographiae, zit. bei Marchello-Nizia 1992, p. 84.

35

blameor (III. 18, neben blasmes, Prol.), melier (2x in 111.80) demontrent (111.30, neben 19x demonstrer/demoustrer), ocurement (11.87) und ocurte (Prol.) (neben oscurs, 11.66); vgl. dazu mit unetymologischem Konsonant: asbime (11.42). * -x ersetzt Auslaut-.?: espoux (1.126 neben espous/z, 1.101,11.38 und espous1*1 ΠΙ.1), ieux (1.79, neben ieus, 111.81, dazu 4x ieus), principaux (1.26, ΠΙ.13), Emaux (1.170), maux (II.5, neben 3lx maus und 3x maus), corporieux (11.91, neben corporeus, 11.11, III.2, und corpore us, 1.12, III.2D+M),/a«;t (111.68). * relatinisierende Graphien188: disciple(s) (9x) vs. wesentlich häufigeres deciple(s) baptesme (21x) und baptisier (7x) vs. batesme (lx) septime (1.170) bzw. septiesme (ΠΙ.14), aber immer: set sepulture (11.102, 105) neben sepouture (11.104) expositeurs (Prol.), substance (3x, neben 6x sustance), cultiver (11.75, III.34) und cultivemenz (11.75) obscurcir (III.95) neben oscur (II.66)189, escripture (4x) neben escriture (7x), dampner (14x) und dampnacion (3x) * mittelfranzösische Graphien: -sc- für intervokalisches -s-m: richesces (4x) neben richesse (3x), embrascent (ll35),foiblesce (11.36), grandesce (III.80) neben grandesse (1.61), leesce (11.16, III.8, 122), descevrer (III. 1) neben desevrer (3x) und dessevrer (2x). y für i: yglise (35x), ymage (4x neben 2x image), Cahym und Caym (beide 1.93), tyrant (3x), loy (1.157 neben l l x loi), yvre (11.59), ydoles (6x), cymitieres (11.103). Doppelkonsonanten191: -ss-: couvoitisse (1.80, 139, 186), enssement (1.69) -nn-: coronne (11.97) vs. corone (111.51), nonne (1.91), bonne (23x) -mm-: nommer (111.22, vs. nomer 111.24), commere (II.51D, dazu 2x commere II.51M), comment (5x + 10x comment), commandement (8x davon 4x mit Kürzel), komme (lx) vs. home/ome (passim) -11-: elle(s) (4x vs. 51x ele/eles), illuec (20x vs. lx iluec), nulle (37x vs. 8x nule), celle (ΙΠ.50 neben 30x cele/celes), teile (III. 106 vs. 3x tele), u.v.m. 181

IM

191

Zur Verdeutlichung werden im folgenden aufgelöste Kürzel nicht mit dem Rest des Wortes kursiviert, wenn dies für die Lautentwicklung aufschlußreich ist. Marchello-Nizia 1992, p. 93, Brunot 1966, p. 544sq. Zu den ebenfalls vorkommenden Formen ocurement und ocurte s.o. Brunot 1966, p. 538. Ibid., p. 545. 36

* Retablierung von h sowie dessen unetymolgische Ergänzung: heure (26x), heent, hono(u)r (8x, neben 4x ono(u)r) und honorer (5x), herbe (2x), humaine (1.126, neben 11.51: umaine), honte (5x); homicide (4x, neben omicides, 1.101), hom/home/homme(s) (296x) neben ome (28x) habundance (2x), helemens (6x), heles (111.53 = ailes), hours (111.45 = ours), huell92(= ceil, 11.66), Helias (lx), Heli(e) (5x) prophete (1.82, neben 8x profetes), prophecies (11.87), pharaon (1.136), phariseus (1.201) -

Deklination193: Die Deklination der maskulinen Substantive sowie der Imparasyllaba ist in Α noch bemerkenswert gut erhalten. Fehler kommen in der Regel bei der 2. Klasse der Maskulina vor, die im Rektus Singular fast durchgehend ein analoges -s erhalten: eist livres (Prol.), Ii mestres (häufig in der Einleitung der Antwort), peres (1.9). Gelegentlich erhält auch in der 1. Klasse der Maskulina der Rektus Plural ein -s oder fehlt das -s im Rektus Singular: trois cieuz sont (1.11), icest nombre (R. Sg., 1.23), Ii anges (R. PL, 1.30),^/ vs. filz (1.8, beide R. Sg.). Fehler kommen auch bei den Feminina vor: lesfleur (1.67). Die 3. Klasse wird durchgehend in den beiden unterschiedlichen Formen verwendet, wobei auch hier meist der Rektus Singular mit dem analogen -s versehen wird: sires/Seignour (passim) paintres (R. Sg.) (1.46), ebenso traistres, emperere(s)\ prestres (R. Sg.) (1.190) vs. liprevoire (R. PI.) (1.186,11.19) und prevoires (Obl. PI.) (1.193 (2x), 1.197,11.52) ancessour (Obl. PI.) (111.36) pechierres (R. Sg.) und pecheurs (Obl. PI.) (II.65D, 82M, III. 13, 20) und pecheour (Obl. Sg.) (1.112,11.65: 2x, davon lx als Prädikatsnomen, 11.89) lerres (R. Sg.) (11.83, 95) und larron(s) (1.160,11.81, III. 18, 30) sauveour (Obl. Sg.) (1.125) suer (II.50sq) und sereur (11.49, 51) nonnains (11.44). Das hier für die Substantive Gesagte gilt ebenfalls für die Adjektive.

192 m

Vgl. dazu auch die Form oiel (1.19). Zur Deklination cf. vor allem Brunot 1966, p. 335sqq. Neben der hohen Treue zur Vorlage und einem gebildeten Schreiber (Rheinfelder 1967, p. 35) verweist die Respektierung der Deklination möglicherweise auch auf die Entstehungs-Region, da im Norden und Osten die Deklination noch im 14. Jhd. weitgehend erhalten war, cf. Chaurand 1972, p. 102. 37

-

analoges feminines -e für einendige lateinische Adjektive194: Nur quel und tel weisen bereits analog mit einem -e versehene Formen auf: insgesamt 20 χ quele(s) und 7 χ tel(l)e(s). Die Formen ohne analoges -e überwiegen jedoch: 30 χ feminines quel (besonders häufig in der formelhaften Verbindung quel chose: 16x), 22x feminines tel/itel. Bei den übrigen einendigen lateinischen Adjektiven kennt Α ausschließlich die Formen ohne -e\ de grant pitie (1.7), grant demourance (1.19), quatre fors colombes (Prol.), leal conversacion (III.5), espiritel joie (III.5, 21), espiritel meson (III.2), la celestiel Jherusalem (1.136) u.v.m.

-

Komparative und Superlative195: plus grant dolor (III. 19), plus petit (111.36), neben häufigerem graindre/ gregnour und mendre/menour sowie meilleur und pesme (11.59, 102). Die alten Superlative haben ihre Bedeutung jedoch bereits teilweise verloren und können als Positiv aufgefaßt werden196: mout pesme (11.102)

- bestimmter Artikel: Li tritt häufig auf, wie es im 14. Jhd. noch generell der Fall ist197. Daneben wird gelegentlich le im Rektus Singular (z.B. 1.92: lefeu, cf. auch 1.119, 1.138) und noch seltener les für den Rektus Plural verwendet (z.B. 1.59: les ongles). Dou (2x) wird durch del (97x) abgelöst, auch vor Konsonant; du tritt ebenfalls auf, ist aber noch weit davon entfernt, die häufigste Form zu sein (20x)198. Aus findet sich neben as, ist diesem aber noch stark unterlegen (10:59). -

Possessiva: Sien(s) (36x) hat sich gegenüber suen (3x) im Maskulinum durchgesetzt199. Im Femininum kommen ausschließlich die älteren Formen moie, toie/toue und soie/soe vor.

-

Indefinita: Sie werden bereits gelegentlich mit dem unbestimmten Artikel verwendet200: un autre home (1.116D), une autre chose (1.43, 115, 139,11.15, 97), une meisme chose (II.5la), uns autres (11.92); daneben aber noch häufiger ohne Artikel: et autre corporel (1.26), plus que autre beste (1.86), que autres Ii aidast (1.114), pour autre chose (11.74), en autre meniere (11.104) u.v.m.

194

Marchello-Nizia 1992, p. Brunot 1966, p. 435. I9 " Vgl. Brunot 1966, p. 446, 199 Marchello-Nizia 1992, p. 200 Marchello-Nizia 1992, p. 195

38

101 sqq. 196 197 Ibid. Marchello-Nizia 1992, p. 112. Marchello-Nizia 1992, p. 113. 139sq, Brunot 1966, p. 441. 116.

- Demonstrativa: Α verwendet häufig die präfigierten Formen der Demonstrativa, die sich im 14. Jhd. vom (Süd-)Westen aus über Frankreich verbreiten201. Die nicht präfigierten Formen überwiegen jedoch zahlenmäßig: icel/icil/icele/iceles/iceus (103x) vs. cel/cil/cele/celes/ceus (232) und icest/icist/iceste(s)/ ices (22) vs. cest/cist/ceste(s)/ces (110), dazu ice (45) und ce (456). - Verbformen: * Ausschließliche Verwendung von -ons als einziger Endung in der 1. Person Präsens Plural202. * Seltenes analoges -e bei den Verben der ersten Konjugation, deren Stamm auf Vokal endet: te prie je (III. 12). * Endung -ions für die 1. Pers. PI. des Ind. Imperfekt; daneben aber noch aviens (1.139, II.97)203. * -(i)ons ist die häufigere Endung für die 1. Person Plural des Subjonctif Imparfait: crerions, verions, eussons, osisons (alle 1.181), daneben aber noch preissiens (11.48). * Futur und Imperfekt von estre204: Estoi(en)t bzw. sera/seroient überwiegen deutlich gegenüber nur je 3x iert und er(en)t. * Für das Futur von avoir und savoir kennt Α bereits nicht mehr die alten Formen ar- und sar-, sondern nur noch diejenigen auf aur- und saur-205. * Perfekt: Reduktion der Endung -ierent zu -erenf06: coumencerent (1.80,11.12), demangerent (III. 15), pecherent (1.38, 53). * Konjunktiv Perfekt: Reduktion des intervokalischen -s-m: deist, deissent,feissent, meist neben retresist, reainsist, vousist, destrainsist. * Partizip-Bildung auf -w208: esleu (1.45, neben häufigerem eslif), corrompu (11.27, 41), vestu (1.169, 11.16,111.78, 81). - Verwendung der periphrastischen Frage (1.11, 22, 80,11.16,111.74) neben der noch überwiegenden Inversionsfrage209. 201

Ibid, p. 132. Brunot 1966, p. 454. 203 Die Endung -tens erhält sich im Norden und Osten länger als im übrigen Frankreich, cf. Chaurand 1972, p. 117sq und Schwan/Behrens 1909, § 341A. 204 Marchello-Nizia 1992, p. 218, Brunot 1966, p. 463, Anm. 4. 205 Marchello-Nizia 1992, p. 223, Brunot 1966, p. 463. 206 Marchello-Nizia 1992, p. 215. 2< " Brunot 1966, p. 468, der für das 14. Jhd. noch einen weitgehenden Erhalt der Formen mit -s- feststellt; diese haben sich zudem im Norden und Osten länger erhalten, cf. Chaurand 1972, p. 121 sq. 208 Brunot 1966, p. 468. 2OT Ibid., p. 449. 202

39

1.4.2.

Dialektale Kennzeichen

Regional gehört die Handschrift Α dem östlich-nordöstlichen Sprachraum an, ohne daß sie sich innerhalb dieses genauer lokalisieren ließe. Auch hierzu im folgenden die wichtigsten Belege: - Diphtongisierung von betontem End-e zu -ePw: enterrei, sacrei, benei (11.104), gitei (1.40), coumandei, demandei (11.52), grei( II.5). - e + 11 >iaum: biaus, biaute (passim), oisiaus (1.20, 111.45), aigniaus (1.180), vaissiaus (1.194). - e + l>aw 212 : solaus (1.21,111.72, neben soleus 1.5), Anseaume (< Anselmus\ Prol.), celestiaus (11.16, neben celestieus, 1.61) - e > ie (außer vor konsonantischem l) m : temporieus (11.12, aber temporel, 1.20), charnieus (III.8, aber charnel, 3x in 11.51), corporieux (11.91, neben 5x corporeus und 6x corporel), sierf (11.52, neben serf. 1.113, 146, Π.95). - offenes e + Nasal > oi214: poine (2x) (neben häufigerem paine). - Endung -oil statt -eiPls: soloil/souloil (6x) neben soleil/souleil (ebenfalls 6x). - unbetontes ei/oi > i216: mervilleuse (lx) (neben ebenfalls lx merveilleus), grigno(u)r (9x), millor und milleur (je lx, neben 3x meilleur), aparillier (lx, neben 3x ap(p)areillier), orguilleus (2x). 210

Schwan/Behrens 1909, Nr. 22, Brunot 1966, p. 316. Brunot 1966, p. 312, Schwan/Behrens 1909, Nr. 23. 212 Chaurand 1972, p. 67, Fouche, p. 304. 2 " Schwan/Behrens 1909, § 213A: Pikardisch und Wallonisch; cf. dazu auch Fouche, p. 51 und Brunot 1966, p. 313. 2,4 Chaurand 1972, p. 77 und Brunot 1966, p. 313, 315, 318. 215 Nach FEW 12,25a und 30 ist die Form soloil (< *soliculus) typisch für Burgundisch, Champagnisch, Lothringisch, die Franche-Comte und das Franko-Provenzalische. Cf. auch Schwan/Behrens 1909, Nr. 27. Vgl. hierzu auch die Form chevoil (111.90, neben chevel, 111.46, und cheveus/z, 1.59,111.45) sowie die Reduktion von -ei- zu -e-: orguel (3x) und erguuel (1.67) (neben 2x orgueil), orelle ( l x neben 2x oreille). 216 Schwan/Behrens 1909, § 266A und Chaurand 1972, p. 62sq. 211

40

- -eil für -ail2": traveille (lx) neben traveillier (4x). - inverse Graphien: Angesichts der großen Zahl von unterschiedlichen Einflüssen, denen gerade der Vokal e in dieser Handschrift unterworfen war, und von denen keiner sich durchgehend findet, ist mit einer Reihe von inversen Graphien zu rechnen, denen möglicherweise auch ein Teil der oben genannten, in der Handschrift nur selten auftretenden, Erscheinungen zuzurechnen ist, und die vermutlich für weitere isoliert auftretende Schreibungen wie desierres (für desires, II. 1), vengirres (11.81), Peres (statt Piere, 1.196) oder pessons (111.20) verantwortlich sind. -

a + Nasal > αϊ218: de leur grains sueurs (11.61) dazu lx ancois, möglicherweise inverse Graphie für aincois, das 15x vorkommt.

- offenes ο wird zu ou, sowohl in vortoniger als auch in haupttoniger Position219: * vortoniges ο: coustume (11.74), noumer (1.31, neben nom(m)er, III. 22, 24), coumancier (5x), Toumas (1.170), coulons (11.63), coumeres (11.51, neben 3x commere), coument (26x neben 15x comment), clousture (III. 12) * haupttoniges o: clouse (1.126, 170), enclous (1.129 neben enclos 1.127). - lat. ό[ wird teilweise nicht zu -eu weiterentwickelt220: * geschlossenes lat. ο unter dem Hauptton in offener Silbe wird vor -s stets zu -eu weiterentwickelt: religieus (1.101,11.53), precieus (1.46, 101, 112, 153,11.103), dolereuz (11.31) * vor -r findet sich lautgesetzlich entwickeltes franzisches -eu: chaleur, Seigneur, createur, douleur, meilleur etc., (insgesamt ca. 60 x, davon 37x Seigneur)·,

217

Fouche, p. 346 und Chaurand 1972, p. 52. " Brunot 1966, p. 315. 2,9 Chaurand 1972, p.71. 220 Zur Konkurrenz von o/ou und eu ab dem ausgehenden 13. Jhd. im Westen und Osten Frankreichs cf. Gossen 1967 p. 88-115, bes. p. 110-115. Cf. dazu auch Schwan/ Behrens 1909, p. 50, § 64a (Normannisch, Westfranzösisch) sowie § 237Α und ibid. Nr. 20, 21, 23, 24, 26, 27 (Lothringisch, Champagnisch und Burgundisch). 21

41

es überwiegen jedoch die Formen mit -o: (h)onor, Seignor, plusors, grignor, pecheor, dolor, amor, labor (über lOOx, davon 58x Seignor); seltener ist -ou: honour, Seignour, colour, dolour, amour, labour (35x, davon nur 7x Seignour)221. - Fehlen des Gleitkonsonanten d122: vaura (11.15), venra, venront, apanre, vourent. - Einschieben von -e- zwischen Konsonanten223: ardera (3x). - Verstummen von l vor s224: tes (1.193, neben häufigerem telz), viez (11.51, III.65), menestrez (11.52). Vgl. dazu die Form Esperilz (1.9) mit unetymologischem -l- vor /s/. - Artikelform lou (1.3) neben sehr häufigem li/le225. - voisent (11.79) als Subjonctif Present von allerZ26. Bemerkenswert ist außerdem die durchgängige Verwendung von chaucuns für chascuns (nur lx chascuns und lx chacum) (vermutlich analog zu aucuns) sowie die mehrfache Schreibung -ig für -in(g), die zu häufig auftritt, als daß es sich jedesmal um eine Verschreibung handeln könnte: besoig (111.88), engig (II. 16,111.37), gaaig (11.55, 77), tesmoig (111.33).

221 222

223 224 225 226

Zur Beibehaltung von o/ou cf. Gossen 1967, p. 112sq und Fouch6, p. 307. Brunot 1966, p. 311 und Schwan/Behrens 1909, Nr. 16 und 22sq sowie § 186A. Zur geographischen und chronologischen Einordnung der Erscheinung cf. auch Pfister 1973, bes. p. 238. Brunot 1966, p. 311. Ibid., p. 315 und 318. Schwan/Behrens 1909, § 333Α und Chaurand 1972, p. 110. Nach Rheinfelder 1967, p. 242 bleibt die Form im Nordosten erhalten, während im übrigen Sprachgebiet ab dem 12. Jhd. die Formen auf al- vorherrschen. 42

1.5.

Die Abhängigkeitsverhältnisse der Handschriften

Eine Darstellung der Abhängigkeitsverhältnisse der einzelnen Handschriften der Übersetzung 1 erweist sich als schwierig, da die Kopisten sehr textnah arbeiteten. Größere Eingriffe in die Vorlage sind selten oder beschränken sich auf jeweils einzelne Manuskripte227. Eine Ausnahme bilden lediglich die zusätzlichen gemeinsamen Textteile von τ und u. Zwar gibt es zahlreiche Varianten, doch sind sie häufig isoliert; oder sie betreffen verbreitete Korrekturen oder Fehler (Augensprünge, verlesene Buchstaben, vergessene Kürzelstriche, auch Synonymenaustausch u.ä.), so daß sie unabhängig voneinander vorgenommen worden sein können und mithin keinen Aufschluß über Gruppenbildungen erlauben. Trotz der insgesamt sehr hohen Zahl von Varianten ist es deshalb nicht einfach, gemeinsame Lesarten zu finden, die eine Abhängigkeit einzelner Handschriften voneinander zumindest sehr wahrscheinlich machen. Deshalb wurde - teilweise computerunterstützt228 - der gesamte Text portionsweise kollationiert und so ein zunächst aufgrund des Gesamtbestandes an Fragen erstelltes provisorisches Stemma immer weiter verfeinert. Durch diese breite Materialbasis war es schließlich möglich, entweder signifikante Varianten für die einzelnen Gruppierungen zu finden, oder durch die große Zahl weniger bedeutender Varianten die Zusammengehörigkeit zumindest plausibel zu machen. Aufgrund der vielen isolierten Varianten und Auslassungen ist auch auszuschließen, daß eine der erhaltenen Handschriften eine direkte Abschrift einer anderen erhaltenen Handschrift ist. 1.5.1.

Die beiden Großgruppen

ABCDEFGHIJK

und

LMNOPQRSTU

Die (einschließlich der Fragmente) 21 Handschriften des Lucidaire zerfallen deutlich in zwei etwa gleichstarke Gruppen, zwischen denen nur wenige Verbindungen bestehen. Wenn Handschriften aus der einen Gruppe mit der anderen Gruppe parallel gehen, so ist dies fast ausschließlich dann der Fall, wenn sie gemeinsam den vermutlich ursprünglicheren, d.h. lateinnäheren Text bewahrt haben, von dem die anderen Handschriften abweichen. Einige signifikante Varianten bestätigen die Trennung in zwei große Gruppen: 1.59:

227

Es fehlt der Vergleich von Sonne und Mond mit den Augen; F zeigt eine gewisse Eigenständigkeit, liegt aber näher bei ABCDEGHIJK als bei den übrigen Handschriften.

Cf. besonders F, R und u. Größere Textteile wurden maschinell verglichen, wobei die vom Computer protokollierten Unterschiede von Hand ausgewertet wurden.

43

1.118:

1.139:

1.155:

1.173: 1.174: I.202: II.4:

II. 12:

11.25:

Die Handschriften LMOPQRTU haben eine dem Elucidarium entsprechende Formulierung «fere satisfaction par sei» (mit kleineren Varianten untereinander), während die Handschriften ABCDEGHIJK die Formulierung «pour son mesfet entrer en la gloire du ciel» (ebenfalls mit kleineren Varianten) wählen; F gestaltet den Text so stark um, daß die Handschrift hier zu keiner der beiden Gruppen gerechnet werden kann. In ABCDEFGHIJK ist «char» zu «chaleur» verschrieben («quar nos avons ire el courage et couvoitisse en la chaleur»), wobei D und F versuchen, den Fehler zu korrigieren, das unterscheidende «chaleur» aber beibehalten. Nur die Formulierung in τ und υ entspricht dem lateinischen «peregrinatio»; bei den übrigen Varianten zeigt sich eine deutliche Zweiteilung: ABCDEGHIJK haben jeweils Verbindungen mit «l'ymage», wobei die Formen «peresymage» und «perelymage» aufgrund der geringen graphischen Unterschiede zwischen «s» und «1» in den meisten Handschriften als eins gezählt werden können. In eine andere Richtung geht die Interpretation der Handschriften LOPQ: «lignage», in OPQ sogar «pire lignage» (F und R fehlen wiederum, Μ bricht vorher ab). Abtrennung einer neuen Frage bei weitgehender Beibehaltung des Wortmaterials (es fehlen F und R); Gleiches gilt für II. 13, wo ebenfalls F fehlt. Auslassung eines Teiles der Antwort (cf. die Korrektur der Leithandschrift im Editionsteil) in ABCDEFGHIJK. In LOPQT andere Fragenaufteilung als ABCDEFGHIJK und Elucidarium (u geht hier mit der ersten Gruppe, R fehlt). fehlerhaftes «...pechie, si est tout tourne el dos Nostre Seignor» in ABDEGHIJK; C läßt das unterscheidende Wort weg, in F fehlt die gesamte Textstelle. LOPQTU formulieren entsprechend dem Elucidarium «il peussent mettre en (bien e) en oevre les biens qu'il aiment», während ABCDEGHIJK ZU «il les doient mettre en bien et que il l'[= Gott] aiment» abändern, (F und R fehlen). gemeinsame Auslassung von ABCDEFGHIJK (cf. die Korrektur der Leithandschrift in der Edition)

Ein Problemfall innerhalb der Gruppe ABCDEFGHIJK ist, wie aus diesen Beispielen zu ersehen ist, die Handschrift F, die ganze Fragen und Themenkomplexe ausläßt und für die damit an vielen entscheidenden Stellen keine Aussage möglich ist. Auf der Grundlage der verbleibenden Varianten und einiger klarer Übereinstimmungen mit der Gruppe A B C D E ist sie jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit diesem Zweig des Stemmas zuzurechnen. Das Gleiche gilt für R im schon an sich inhomogeneren zweiten Zweig.

1.5.2.

Die Gruppe

ABCDEF

Diese sechs Handschriften erweisen sich aufgrund einer Reihe von gemeinsamen Fehlern und Änderungen innerhalb von ABCDEFGHIJK als näher zusammengehörig. Zu dieser Gruppe ist teilweise auch das kontaminierte υ zu

44

rechnen, das eine dieser Gruppe verwandte Handschrift als eine Vorlage gehabt haben muß. Da jedoch eine genauere Unterscheidung der verschiedenen Schichten in υ nicht möglich ist, wird die Handschrift wegen ihrer auffälligen Nähe zu τ und insgesamt recht großer Abweichungen von der «normalen» Ü1-Tradition im Stemma zusammen mit τ verzeichnet. Einige für die Zusammengehörigkeit von ABCDEF relevante Stellen im einzelnen: DI.49: I.170:

II. 8:

Ergänzung von «bien ou mal» (zusammen mit u) Die Gruppe ergänzt bei der vierten Erscheinung Jesu, daß es sich bei den vom leeren Grab zurückkehrenden Personen um zwei Marien handelt (u in einem Nachsatz). «apelent Dieu a ire» in ABCDEF vs. «escommuevent Dieu a ire» (mit einzelnen Varianten) in GHIJKLOPQTU; die gesamte Frage fehlt in R.

Dazu kommen eine Reihe von Fehlern, die jedoch nur bedingt aussagekräftig sind, weil eine der sechs Handschriften (meist F) diese Textstelle ganz wegläßt: 1.140: I.198: II. 15:

II. 105: ΙΠ. 17:

verschriebenes «lors» (AD) bzw. «aillours» (BCEU) für «el cors» in der Frage (die ganze Frage fehlt in F). «herites» vs. «autres»; F fehlt, Υ kombiniert die beiden widersprüchlichen Aussagen. «de la terre» (ABCDE) und «de l'antree» (GIJK) (F und Η fehlen) vs. «certeinete» (L) bzw. «seurte» (OQ; Ρ verschrieben «sainte»); τ verbalisiert zu «sont certains de leur salut», υ faßt die Textstelle stark zusammen, ist mit «la joie de la gloire» aber inhaltlich näher an den letztgenannten Handschriften. «enlumine» statt «esloignie» (auch hier fehlt F) Ergänzung von «en plorant» in der Schülerfrage in ABCDE; in F fehlt wieder die gesamte Frage.

Diese sechs Handschriften zerfallen noch einmal in zwei Untergruppen: ABC und DEF. ABC

Die Handschriften ABC unterscheiden sich nur so geringfügig voneinander und von der lateinischen Vorlage, daß es kaum (bzw. nur isolierte) Varianten gibt, so daß sich diese Gruppe eher durch das Fehlen signifikanter Abweichungen von den übrigen Handschriften charakterisiert. An einigen Stellen entfernen jedoch auch sie sich gemeinsam vom Text der restlichen Überlieferung: MI. 161: «une nuit» anstelle von «a mienuit» und Verwandtem MIL 15: «seulement» statt «si vuelent» (hier zusammen mit u) MII.42: «filz» statt «esliz»

45

Dabei haben noch einmal Β und c eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die sie gegenüber Α enger zusammenschließen: DI. 1:

«sauvete» (cf. auch u), ähnlich Ε und F; Α und D haben hier «sainte Yglise» wie die übrigen Handschriften, was auch dem Elucidarium entspricht. MI. 18: «taires» statt «dires» (auch hier zusammen mit u) DI.57: «apenses» für «apetisies» MI.86: «tous cornus» für «torconneus» MI.92: «mur desfendans» statt «mur de feu» (cf. υ «mur de fu deffendans») MII.42: «paine» für «pitie» mit verändertem, aber ebenfalls passendem Sinn.

DEF

Die genauere Bestimmung des Verhältnisses von DEF gestaltet sich schwieriger, da häufig bei signifikanten Abweichungen zweier dieser Handschriften von den übrigen Manuskripten die dritte fehlt, so daß nur wenige gemeinsame Varianten aller drei Handschriften existieren, wie z.B. in DILI die Änderung von «il m'a» zu «tu m'as», d.h. von Gott als Urheber der Unterweisung zum Mestre. Besonders D formuliert sehr eigenständig, wobei die Abweichungen häufig nur sprachlich-stilistischer Art mit geringer inhaltlicher Relevanz sind. Bedeutender sind die Veränderungen in F, vor allem die starken Kürzungen, aber auch zahlreiche weitere Änderungen und Zufügungen229. Diese Gruppe definiert sich deshalb eher durch Gemeinsamkeiten mit der restlichen Tradition an Stellen, an denen ABC von dieser abweichen, als durch gemeinsame Varianten. Mit aller gebotenen Vorsicht läßt sich jedoch folgende Beziehung annehmen: Wegen vieler an sich wenig bedeutender, aber wegen ihrer Zahl auffälliger Gemeinsamkeiten von jeweils mindestens zwei der hier genannten Handschriften kann als sicher gelten, daß diese drei Handschriften eine gemeinsame Vorlage besitzen, von der sie sich unabhängig herleiten: D und Ε 11.12: 11.45: 11.72:

Auslassung von «autre» «le pechie» (D) bzw. «le pechie ne la felonie» (E) für «la felonnie» «tuit Ii bienfet» wird zu «la penance ne l'amosne» in D bzw. «ne penitance ne aumosne» in Ε (beide greifen die Formulierung aus der Frage auf).

D und F

1.15: 1.36: 1.51: 1.95: 229

Fehlen des letzten Satzes (zusammen mit R) Ergänzung von «il pecha» zu «chai» Ergänzung von «en l'amour de lor creator» (D) bzw. «en l'amour Jhesucrist» (F) direkter Übergang von MI.95 zu MI.96

Cf. dazu die Handschriftenbeschreibungen bzw. die Kapitel zu inhaltlich relevanten Abweichungen einzelner Handschriften. 46

Ε und F 1.59:

1.136: I.160: II.42: 1.5.3.

Ergänzung von «tous les mengiers et tous les boivres»; dieser Text stammt ursprünglich aus dem Elucidarium130, aber es besteht ein deutlicher Zusammenhang noch in der Übernahme; cf. auch die ebenfalls aus EL stammende, aber abweichende Formulierung in τ und u. «des mains pharaon» statt «de pharaon le roi d'Egipte» Ergänzung zu den Schächern am Kreuz. «felons» statt «esliz» (die gesamte Textstelle fehlt in D).

Die Gruppe

GHIJK

Die Handschriften GHIJK sind von der gleichen Handschrift kopiert, bei der eine Lage falsch geheftet war, so daß nun die Fragen 1.190-197 und 11.19-29 an der falschen Stelle erscheinen. Die durch die Umstellung mitten im Satz entstandenen Ungereimtheiten wurden von aufmerksameren Schreibern teilweise zu korrigieren versucht; teilweise bleiben die einzelnen Textbestandteile aber auch vollständig in - nun vollkommen unsinnigen Kombinationen - erhalten231. Darüber hinaus lassen diese Handschriften auch Fragen gemeinsam aus (MI.70/DI.71 in GHI bzw. DI.70-MI.71 in JK) und treffen sich in gemeinsamen Fehlern und Änderungen, von denen hier nur eine kleine Auswahl zitiert werden soll: MI. 15: DI.28: MI. 136: MI. 139: MI. 144: MI. 155: MI. 196:

«dieusnete» für «dignete» «autres paroles» für «a lui ces paroles» «dieus» statt «Moises» «la vie perdurable» statt «l'ame par la parole Dieu» unverständliche Ergänzung «ce est a la dieu mere» zu «divinite» unpassendes «sapience» für «passion» neue Zwischenfrage «Et saint Peres prist il celui sacrement em pain?»

Dabei gehören J und Κ noch einmal enger zusammen, wie gemeinsame Zusätze und Änderungen zeigen, z.B.: 11.18:

11.32:

230

Ergänzung «quar nule chose qui aparteingne a l'Eglise ne se doit ne vendre ne acheter» zu «escomenie et dampne» sowie «quar eil qui les achatent n'ont mie droit regart quant il covoitent seignorie se Deus ne leur done la seue grace» am Ende der Antwort. «et devroient entendre a leur salut et tout raconter a leur maisniees quant il sont retome en leur mesons» statt «et tout devroient reconter en meson a lor mesnie».

Die entsprechende EL-Stelle lautet: «Venter omnes liquores, ut mare omnia flumina reeipit.» Ed. Lefevre 1954, p. 371. Cf. dazu unten Kap. 5.1., p. 148. 47

Auch hier ließe sich die Aufzählung durch die Einbeziehung weniger umfangreicher Varianten, z.B. in DI.26,1.34,1.43,1.57,1.59,1.85 und viele andere, beliebig verlängern. 1.5.4.

Die Gruppe

LMNOPQ

Diese sechs Handschriften haben gemeinsame Abweichungen, von denen der Zusatz «puis qu'il seront einz» in 1.23 innerhalb der kurzen Textpassage, die auch das Fragment Ν enthält, am besten die Verwandtschaft der gesamten Gruppe verdeutlicht232. Weitere gemeinsame Varianten, wobei auch eine Handschrift aufgrund von Auslassung oder Verschreibung wegfallen kann: 1.2: 1.15: 1.20:

1.62:

Ergänzung «toz tens» lateinnäheres «atire» für «aura» in LNOPQ (M: «aoureit») Ergänzung von «les elemenz» bei der Unterscheidung, was an den ersten und den zweiten drei Schöpfungstagen geschaffen wurde (LNOQR; Ρ beendet den Satz bereits früher) «cheitive nature» für «chetivete»

Nach dem Wegfall der Fragmente Μ (in 1.125) und Ν (nach DI.30) haben L und OPQ weitere Gemeinsamkeiten: I.202: II.67: II.72: III.4: 111.42:

«feu d'enfer» für «feu pardurable» «parfite» für «parfonde» (creance) Ergänzung von «eurer» zu «plaie» nicht ganz kontextgemäßes «escripture» für «Yglise» Ergänzung von «e seint Johan» (bzw. Beibehaltung von Text aus EL)

LMN

Die Fragmente Μ und Ν lehnen sich näher an L als an OPQ an: 1.3: 1.15:

Auslassung «et se tu en voloies la chaleur oster, dont ne seroit il mie soloil» (gemeinsam mit i) «plus anciens» (gemeinsam mit Ο und U; ähnlich auch Ρ und Q)

Auch jede dieser Handschriften allein kann näher an L herankommen: 1.20 1.44: 1.104: 232

Auslassung eines Teils des vierten Schöpfungstages in L und Ν Verschreibung von «d'un seul ange« zu «des angles d'un soul» in L und Μ Formulierung «tort fait» (M) bzw. «tort que il a fet» (L) für «forfet»

Diesen Zusatz hat auch das Livre de Sidrac, das sich auch durch andere Varianten an diese Handschriftengruppe annähert. 48

Μ hat jedoch auch mit R gemeinsame Formulierungen und trifft sich mit dieser Handschrift besonders in Auslassungen, ζ. B. DI.5 und 1.7-9, aber auch in dem - ursprünglich auf das Elucidarium zurückgehenden - Wachsvergleich in 1.54.

OPQ

Die Handschriften OPQ bilden aufgrund ihrer gemeinsamen Auslassung ganzer Fragen ebenso eine Gruppe wie aufgrund zahlreicher Änderungen. Zu den hier im folgenden aufgeführten kommen zahllose weitere Varianten. Auslassung der Fragen 1.29,1.81-83 und III. 11. 1.15: Ergänzung von «c'on ne la pooit pas vooir» und «quant il la fit» zu «en tele meniere qu'ele puet bien estre ore veue» 1.20: «les autres jors refit il la premiere joie ce est Ii jorz temporaus» für «es autres .iij. jours si fist il le premier jorjour temporel» 1.84: Umkehrung der Antwort durch die Ersetzung von «profis» durch «maus» 1.180: Formulierung einer Zwischenfrage aus dem Material des Antworttextes I.195: «ami» statt «anemi» II. 16: «felon riche» statt einfach «felon» und «povre» statt «juste» - OPQ fassen damit die Antwort prägnanter zusammen als die übrigen Handschriften. II. 17: 1.5.5.

«Ii bon [ont] les tribulations» statt «Ii bon les [= poestez] ont a la foiee» RSTU

Das sehr eigenständige R trifft sich an mehreren Stellen mit τ und/oder u, an einigen Stellen aber auch mit L oder OPQ. Wie schon aus den Beispielen zur Zusammengehörigkeit von ABCDEFGHIJK hervorging, reiht es sich eindeutig unter die Handschriften LMNOPQSTU ein und dürfte sich unabhängig von den anderen Codices dieser Gruppe vom Vorfahren des zweiten Zweiges herleiten. 1.174: «manja et but» statt «le veissent boire et mangier» in R, τ und υ 1.180: «norrie» statt «refaite» in R und τ 1.198: Fehlen des Endes in OPQ und R III.53: «mansion avec les angles» (R) bzw. «maison autele come Ii ange» (OPQ) statt «heles autresi comme d'anges» Die Verwandtschaft von τ und υ erweist sich z.B. durch die zusätzliche Frage nach den «usuriers» im Anschluß an 11.54 ebenso wie durch zahlreiche Textstellen, an denen nur diese beiden Handschriften ursprünglichen Elucidarium-Tcxt bewahren (I.102sq, 1.165,1.175sq, große Teile von II.2 u.e.m.). Darüber hinaus stimmen beide Handschriften in Auslassungen und Änderungen überein.

49

υ hatte jedoch nicht nur eine mit τ gemeinsame Vorlage, sondern kannte mindestens eine zweite Handschrift des Lucidaire. Dies zeigen diejenigen doppelt vorhandenen Fragen, die einmal als die Tradition von τ zu erkennen sind, das andere Mal aber als die «normale» Ü1-Überlieferung233. Gemeinsame Varianten mit Manuskripten der Gruppe ABCDEF besonders zu Beginn des Textes lassen vermuten, daß U zunächst einer dieser Gruppe nahestehenden Handschrift folgte, ab ca. 1.100 jedoch eine zweite, τ ähnliche Handschrift mit dieser im Wechsel benutzte. Das Fragment s ist wegen seiner Kürze (nur ein Folio) und der dadurch bedingten geringen Zahl von aussagekräftigen Varianten nur schwer in das Stemma einzuordnen. Es gehört jedoch eindeutig zur Gruppe um LMNOPQRTU: DI. 114: Verneinung der Frage wie OPU und «quant» für «puis que» wie MOPTU (die Frage fehlt in Q und R); die an sich unbedeutende Variante ist im Kontext eher ungewöhnlich und damit aufschlußreich für die Einordnung von s.

s nähert sich dabei vor allem τ und υ an: DI. 112: «en son regne» für «en la seue gloire» DI. 113: «revint» für «en devint» in s und τ (vgl. auch «se revint» bzw. «s'en revint» in ο und p)

Es hat aber auch eine gemeinsame Auslassung mit R in DI. 115. 1.5.6.

Widersprüchliche gemeinsame Lesarten einzelner Handschriften

Nicht alle Varianten bestätigen jedoch diese Gruppenbildungen, ohne daß sie nun ihrerseits die Aussagekraft besäßen, andere Gruppenzusammenhänge zu etablieren, z.B.: 1.92:

α und Ε verschreiben «paradis» zu «la paroi»; ihnen sehr ähnlich sind Β und c mit «par coi», während das zur gleichen Gruppe gehörende D den richtigen Text kennt (F fehlt wie so oft).

Ähnliches gilt für 1.198, wo «pueploiement» in B, c und Ε durch «tout plainement» ersetzt ist, während D mit Α parallel geht (GHI haben «proprement», JKOPQU lassen das Wort aus), oder für 11.77, wo D und Ρ in der Formulierungsänderung «vaudroit a ceuz qui i vont» gegen ihre sonstige Gruppenzugehörigkeit fast wörtlich übereinstimmen, oder das Ende von 11.37, das in F, J, OPQ und Τ fehlt.

233

Cf. z.B. 1.135 und dazu Kap. 5.2.3. 50

Die beiden stark bearbeiteten Handschriften F und R gehen in der Auslassung von Fragen oder anderen Kürzungen häufig parallel, was sich aber eher aus einer ähnlichen Tendenz der Redaktion als aus einem direkten Zusammenhang erklärt234. Fast alle Handschriften oder Handschriftengruppen bewahren gelegentlich Originaltext aus dem Elucidarium gegen alle übrigen Handschriften. Besonders auffällig in dieser Hinsicht ist 1.54, wo nur Μ und R (und diese nur in recht stark abweichenden Formulierungen) den Siegelwachsvergleich des Elucidarium überliefern, oder 11.62, wo OPQ den Satz bezüglich der Notwendigkeit der Taufe kennen. Besonders sinnfällig kann die schon mehrfach hervorgehobene Handschrift υ das Stemmaproblem der Übersetzung 1 vor Augen führen, wenn sie aus ihrer vermuteten ersten Vorlage gemeinsame Fehler mit Α (DI. 19), BC und D (1.15) hat, wobei jeweils die anderen zu der Gruppe gehörenden Handschriften den «normalen» Text aufweisen. Das Gleiche gilt für zahlreiche hier nicht genannte Varianten. Angesichts dieser Fakten kann man nur mit Foerster erklären: Das Handschriftenverhältnis war der Gegenstand langwieriger, minutiöser Untersuchungen, und trotz aller darauf angewandten Mühe und Zeit, war das Resultat, ..., kein völlig befriedigendes. Zwar ergeben sich sehr rasch bestimmte Gruppirungen,...; allein das Verhältnis dieser zusammengehörigen Zeugen einer grossen Familie ist im Einzelnen ein so schwankendes und wandelbares, dass eine sichere, engere Fixirung misslang235. Das folgende Stemma soll deshalb auch nicht als Rekonstruktion direkter Abhängigkeitsverhältnisse verstanden werden, sondern als graphische Darstellung der aus den erhaltenen Handschriften abzulesenden Ähnlichkeiten.

234 235

Cf. dazu ausführlicher Kap. 5.2.2. W. Foerster. Cliges von Christian von Troyes. Halle 1884, p. xxxvii.

51

1.5.7. Das Stemma des Lucidaire

52

2.

«Pur ceus ki ne sevent mie Ne lettreüre ne clergie1» Glaubenswissen in der Volkssprache

Videntes enim Philosophi nullum idioma vulgare esse completum et perfectum, per quod perfecte exprimere possent naturas rerum, et mores hominum, et cursus astrorum, et alia de quibus disputare volebant, invenerunt sibi quasi proprium idioma, quod dicitur latinum, vel idioma literale: quod constituerunt adeo latum et copiosum, et per ipsum possent omnes suos conceptus sufficienter exprimere2. Als im 13. Jahrhundert der anonyme Übersetzer des Lucidaire zu arbeiten beginnt, hat das Französische als Literatursprache einen ersten Höhepunkt bereits erreicht; es dient vor allem der Abfassung poetischer Werke3. Für die didaktische Literatur sieht die Situation jedoch anders aus, wie z.B. aus dem vorstehenden Zitat aus dem Gouvernement des rois et des princes hervorgeht, das auch in der französischen Übersetzung von Henri de Gauchi das implizit negative Urteil über die Möglichkeit der Wissensvermittlung in der Volkssprache tradiert4. Die konkreten Schwierigkeiten bei der Übertragung von lateinischem Wissen in die Volkssprache beschreibt Roger Bacon: Et hoc potest quilibet probare, si scientiam quam novit velit in linguam maternam convertere. Certe logicus non potent exprimere suam logicam si monstrasset per vocabula linguae maternae; se oporteret ipsum nova fingere, et ideo non intelligerentur nisi a seipso5. Den Volkssprachen fehlt also ein adäquates Instrumentarium von etablierten Fachbegriffen, um das lateinisch fixierte Wissen ins Französische zu übertragen. Dieses Problem, dem sich die mittelalterlichen Übersetzer stellen mußten, und dessen sie sich auch bewußt waren6, gilt nicht nur für die Logik, sondern für alle weiteren Wissensgebiete. Noch viel mehr trifft diese Feststellung auf die Wiedergabe von religiösem Wissen zu, bei dem zu den eher tech1

Le chasteau d'Amour von Robert Grosseteste, v. 27sq, ed. Murray 1918, p. 89. Gilles de Rome, De Regimine principum, 11,11,7, zit. bei Lusignan 1986, p. 43. ' Cf. Lusignan 1986, p. 9 4 Cf. Ed. Molenaer 1899, p. 198. 5 Opus tertium, XXV, p. 90, zit. bei Lusignan 1986, p. 73. 6 Weitere Belege und Zitate bei Lusignan 1986, p. 141-154. 2

53

nischen Übersetzungsschwierigkeiten auch noch massive Vorbehalte gegen die schriftliche Festlegung in der Volkssprache kamen, wie die verschiedenen Verbote volkssprachlicher religiöser Literatur im Zuge der Bekämpfung von Irrlehren, z.B. der Waldenser und Katharer7, zeigen, aber auch die Verurteilung Davids von Dinant, die 1210 in der Diözese Paris die Anordnung zur Verbrennung aller theologischen Werke in der Volkssprache mit Ausnahme der Heiligenviten nach sich zog8. Zink hält dies mit für einen Grund, daß z.B. Predigten, auch wenn sie vermutlich häufig in der Volkssprache gehalten wurden, fast ausschließlich in lateinischer Sprache niedergeschrieben wurden9. In dieses geistige Klima hinein wird ein theologisches Werk wie das Elucidarium gleich mehrmals ins Französische übersetzt: Neben der Übersetzung 1 entstehen im 13. Jahrhundert auch die Übersetzungen 2, 3 und 410. Wie lösen die Übersetzer die sich aus dieser Situation ergebenden Schwierigkeiten? Im folgenden soll zunächst nur der Frage nach den übersetzungstechnischen Problemen v.a. in Bezug auf die theologische Fachterminologie nachgegangen werden. Inwieweit auch Vorbehalte gegen die Weitergabe bestimmter Wissensgebiete in der Volkssprache im Lucidaire sichtbar werden, wird in den entsprechenden Kapiteln zur jeweiligen religiösen Problematik untersucht werden. Die Untersuchung beschränkt sich weitgehend auf die Übersetzung 1, zum Vergleich werden jedoch auch immer wieder die anderen Übersetzungen, die teilweise anders vorgehen, herangezogen.

2.1.

Lateinische Ideen in französischem Gewand

2.1.1.

«Faire de fort latin cler et entendable romant"» Zur Strategie der Übersetzung

Grundsätzlich standen einem mittelalterlichen Übersetzer zwei Möglichkeiten zur Verfügung: Er konnte das Französische genau dem Lateinischen nachbilden oder den lateinischen Text sinngemäß wiedergeben, ohne die ursprüngliche Wortfolge oder spezifische Ausdrücke zu berücksichtigen12. 7

Cf. dazu Taylor in Beer 1989, p. 75. " Zink 1982, p. 93, ähnliche Beobachtungen bei Schmitt 1981, p. 355, Anm. 65. * 1982, p. 92sq. 10 Ü2: vor 1300, cf. Kleinhans 1993, p. 10; Ü3: Ende 12. oder Anfang 13. Jahrhundert, cf. Düwell 1974, p. cvisq; Ü4: vermutlich 13. Jahrhundert, cf. Kleinhans 1993, p. 35. " Simon de Hesdin im Prolog seiner Übersetzung von Valerius Maximus, zit. bei Buridant 1983, p. 113. 12 Cf. Buridant 1983, der die beiden Möglichkeiten an verschiedenen Übersetzungen und den theoretischen Reflexionen der Übersetzer aufzeigt. Vgl. auch Lusignan 1986, der an Buridants Analyse kritisiert, sie würde den Eindruck erwecken, die beiden

54

Der Übersetzer des Lucidaire bemüht sich, seine Vorlage exakt wiederzugeben. Er folgt dem lateinischen Text sehr genau und übersetzt ihn i m wesentlichen korrekt. Lefevre urteilt über ihn: Le clerc anonyme qui en est 1' auteur a une langue aisee, simple, fort nette, et il se montre tres minutieux dans son travail. ... il cherche ä serrer le texte latin au plus pres13. Lefevre untersucht des weiteren vor allem die Wiedergabe lateinischer Subordination im Lucidaire und das Vokabular des Übersetzers. Da er die Übersetzung ausschließlich aus dem Blickwinkel des lateinischen Originals betrachtet, sieht er in ihr nur die Verarmung: «II manque de... 1 4 », «moins riche15», «pauvrete 16 », «rendre par des ä-peu-pres 17 », um schließlich zu dem negativen Gesamturteil zu kommen: De Γ ensemble des faits que nous avons releves il resulte que la traduction fran^aise, pour fidele qu'elle soit, diff&re profondement du texte latin, quant au style. Aux periodes latines fortement charpentees et ä une expression assez vigoureuse des idees correspondent des phrases assez courtes, d'une suite logique moins rigoureuse, moins precise et d'un contenu plus simple, mais aussi plus terne. Non seulement les notions abstraites sont rendues par des periphrases concretes, mais, par lä meme, des toumures fortes, pleines et ramassees se trouvent analysees et comme attenuees18. Er muß jedoch auch zugeben, daß das Übersetzungsverfahren nicht zu einem Sinnverlust, ja nicht einmal zum Verschwinden der Nuancen führt: II n'eprouve, en effet, aucune difficulte apparente ä rendre toutes les nuances de la coordination, bien que le materiel dont il dispose soit moins riche que celui du latin19. Aus der Sicht des Französischen kann also eine derartige Übersetzungstechnik auch positiver betrachtet werden:

Übersetzungstypen wären in etwa gleich verteilt. Seine Untersuchung kommt dagegen zu dem Schluß, daß die Übersetzungen ad litteram denjenigen ad sensum zahlenmäßig weit unterlegen sind (p. 141sq.). Zu verschiedenen Übersetzungstechniken cf. auch Shore in Beer 1989, p. 312-317. 11 14 15 Lefevre 1959, p. 221. Ibid. Ibid., p. 223. 16 Ibid., p. 224. 17 Ibid. 18 Ibid., p. 224sq. An den Fakten, die Lefevre hier beschreibt, ist nicht zu zweifeln. Daß diese aber auch anders bewertet werden können, soll im folgenden gezeigt werden. " Ibid., p. 223. 55

...loin de reproduire la texture rhetorique de Vegece, Boece ou Abelard, il la transpose et l'adapte ä son propos. II utilise toute une tradition de formules et de traits stylistiques propre ä la poesie fran^aise; substitue aux constructions minutieuses et multiples du latin un schema plus evident et plus leger, casse la periode pour mettre en valeur les relations logiques et temporelles de ces elements, remplace l'abstrait par le concret, les infinitives par des subordonnees ä verbe personnel, le substantif par Taction, et redistribue selon les nouvelles exigences ainsi posees les ornements rhetoriques20. Was Zumthor hier für Jean de Meuns Übersetzungen konstatiert, gilt im wesentlichen auch für unseren Anonymus. Sowohl im Wortschatz als auch in den Satzkonstruktionen ahmt der Lucidaire nur selten die lateinische Vorlage nach und bildet ansonsten eigene, der französischen Sprache vertraute Satzmuster. Dies soll im folgenden an einigen Beispielen und im Vergleich mit den anderen Übersetzungen des Elucidarium gezeigt werden, von denen sich besonders Übersetzung 3 häufig sehr eng ans Lateinische anlehnt21. Die Wort- und Satzstellung folgt nicht dem Lateinischen, sondern französischen Gewohnheiten: 1.19:

1.86:

Fuit mora in creando? (EL) Fud demurance en crier? (Ü3)22 Fu demourance en creant? (Ü4) Fist il grant demorance en ce fere? (Ül) diabolus quos seduxerit facit tortuosos (EL) e deables icels qu'il seduit, sis fait torcenerus (Ü3) Ii deables si fet ceus que il decoit torconneus (Ül)

Acl wird meist mit einem Nebensatz, gelegentlich auch substantivisch übersetzt: I.15:

II.2:

In quo patet omnem creaturam semper fuisse visibilem in Dei praedestinatione, quae postea visibilis ipsi creaturae apparuit in creatione. (EL) Por ce apert que tot fu veuable et porveuwement quant il porvi ce que plus aparust en creatures. (Ü2) Ici demustre tute creature aveir este tuz tens veable en l'esguard Deu ki aparut apres veables ä meisme la criature en creatiun. (Ü3) Por ce si poons bien veoir que tote la creature que il fist, fist il en tele meniere qu'ele puet bien estre ore veue, si estoit ja en son esgardement en tel meniere que l'en ne la pout la veoir. (Ül) Dicitur malum nihil esse. (EL) Malz est diz neient ä estre. (Ü3) Ja dit l'en que pechie n'est neant. (Ül)

20

Zumthor, Essai de poetique medievale. Paris 1972, p. 57.

21

Düwell 1974, p. LXIV.

22

Cf. hierzu und für weitere Beispiele der Übersetzung 3 Düwell 1974, p. LXivsqq.

56

II. 102: ...se nunquam cogitaverunt morituros. (EL) .. .ne voudrent onques panser del jor de lor fin. (Ül) Partizipien und Ablativus Absolutus werden ebenfalls mit Nebensatz aufgelöst: 1.43:

Quia sicut nullo instigante ceciderunt, ita nullo adjuvante surgere debuerunt. (EL) Car tout autresi comme il chairent quant nus nes ammonestoit, tout eusiment n'ourent il nulle aide de merci querre. (Ül) III.51: Sicut imperator ingressurus civitatem ... angeli crucem ferentes praeeunt. (EL) Autresi comme .i. emperere qui doit entrer en une cite ... Car Ii ange iront devant, si porteront la soie croiz. (Ül)

Doppelte Verneinung wird positiv übersetzt: 1.12: 1.44:

.. .quia in nullo loco impotentior est quam in alio... (EL) .. .car il est autresi puissans en .i. lieu comme en autre... (Ül) Deus enim pro satisfactione nisi mortem noluit. (EL) Deus pur satisfactiun ne volt fors mort. (Ü3) Et Dieus si eslut la mort par satisfacion. (Ül)

Konzise lateinische Konstruktionen werden nicht nachgeahmt, sondern in verschiedene im Französischen gebräuchliche Formulierungen übergeführt: 1.35:

1.63:

Praescivit casum suum? (EL) Sout il son tresbuichement? (Ü2) Sot il que il deust ainsi chaoir? (Ül) de qua ipse gloriosus cecidisset. (EL) dont il estoit glorieuz cheuz. (Ü4) dont il estoit cheus par son orguel. (Ül)

Lateinische Formulierungen müssen im Französischen bisweilen recht ausführlich und umständlich wiedergegeben werden, wenn die inhaltliche Beziehung von Hauptsatz und Nebensatz (bzw. Frage und Antwort) oder zwischen zwei Hauptsätzen erhalten bleiben soll23: 1.37:

23

Quare non diutius ibi fuit? - Ne aliquid de interna dulcedine gustaret, ... (EL) Pour quoi n' i fu il plus longuement? - Car n'estoit mie droiz que il goustast de cele grant gloire ... (Ül)

Für die Wiedergabe der lateinischen Subordination im Französischen cf. die Zusammenstellung der lateinischen Konjunktionen und ihrer französischen Äquivalente bei Lefevre 1959, p. 221 sqq. 57

1.98:

Respice retro aut totus mundus interibit (EL) Regarde ariere, et se tu nel fais, tous li sieccles perira. (Ü1)

Lateinische Konstruktionen werden nicht nur dann geändert, wenn im Französischen kein Äquivalent zur Verfügung steht, sondern auch dann, wenn dieses Äquivalent ungebräuchlich ist oder zu Mißverständnissen Anlaß geben könnte. So wird das Passiv häufig durch Formulierungen im Aktiv ersetzt, das Subjekt wird sinngemäß ergänzt: I.27:

II.75:

Cum dictum est (EL) Cum fut dit (Ü3) Lors que Dieus dist ( Ü l ) Apud Babel turrim gigantium exorta legitur (EL) El tens Babel la tur as gehanz lisum estre establie (Ü3) On treuve lisant k'a Babel la tour des gygans la encommencerent (Ü4) Si comme dit l'Escripture, ele fu fete et trouvee en la tour de Babel, qui estoit la tour des jajans ( Ü l )

Nur selten ahmt der Übersetzer die lateinischen Konstruktionen nach, obwohl sie im Französischen ungebräuchlich sind; dies wird zudem sehr schnell von einzelnen Schreibern korrigiert: 11.59:

Noli dicere «poenitenibus», sed «Deum irridentibus» (EL) Tu nes doiz pas apeler peneanz, mais Deu escharnissanz ( Ü l , OPQ) Tu ne les dois pas apeler peneans, mes ceus qui Dieu escharnissent. (Ül, ABCDE)

Besonders deutlich wird die Vorgehensweise des Übersetzers und die Veränderung, die der Text durch diese Arbeitsweise erfährt, wenn mehrere solche Strukturen in einem Satz zusammentreffen, wie z.B. Acl, Partizip Präsens und Partizip Perfekt in 11.75: In qua [= Babel] primus rex hujus mundi, Nemroth, qui et Ninus, regnavit, qui Belo patri suo imaginem faciens cunctos sibi subjugatos eam adorare praecepit, quem post alii imitati caris suis aut praepotentibus regibus mortuis idola fecerunt... (EL) Et illuec regna li premierz rois de cest sieccle, li quieus ot a non Eroc; icil fist une ymage a Belo le sien pere, et si coumanda a tous ceuz de son regne que il l'aourassent; et tuit li autre home si firent ensement apres. Et quant lor pere et lor seignor estoient mort, si fesoient ydoles en lor honour ... ( Ü l )

58

2.1.2.

«Selonc lou commun langage24» Erb Wortschatz und gelehrte Bildungen

Die Übersetzung wird auch auf lexikalischer Ebene häufig vereinfacht. Betroffen sind besonders die Verben, was teilweise auf die relative Armut der französischen Sprache zurückzuführen ist: Lefevre verweist auf 1.170, wo die lateinischen Verben declarare, manifestare, asserere, pandere, fateri, loqui und describere jeweils mit dire übersetzt werden25. Daß dies zumindest in gewissem Maße ein gemeinfranzösisches Phänomen und nicht allein Unvermögen des Lucidaire-Übersetzers ist, zeigt ein Vergleich mit den anderen altfranzösischen Übersetzungen des Elucidarium. Düwell zieht die gleiche Frage heran, um die Armut des Vokabulars der Übersetzung 3 zu belegen26, und auch die Übersetzung 2 kennt bei dieser Frage nur das eine französische Verb. Daß das Problem aber nicht nur eines des Sprachmaterials ist, wird an der Übersetzung 4 deutlich, die es immerhin auf fünf Verben bringt: manifester, affermer, dire, tesmoigner und escrire21. Weitere ähnlich beliebte Verben sind faire, estre und avoir: Prolog: Fundamentum igitur opusculi supra petram Christum jaciatur et tota machina quatuor firmis columnis fulciatur: primam columnam erigat prophetica auctoritas; secundam stabiliat apostolica dignitas; tertiam roboret expositorum sagacitas; quartam figat magistrorum sollers subtilitas. (EL) Li fondemens de ceste oevre si est fez sor une ferme pierre, ce est sor Jhesu Crist; et toute la maisiere si est affermee desus quatre fors colombes: La premiere colombe est l'auctorite des profetes, la seconde si est la dignete des apostres, la tierce si est Ii savoirs des expositeurs, la quarte si fait Ii bons engins del mestre. (Ül) MI.20: Tertia die bestias et hominem ... condidit. (EL) Au tiers jour si fist... les bestes et les homes. (Ül) DIL 11: Cur mali hie divitiis affluunt, potentia florent, sanitate vigent; econtra boni inopia tabescunt, a malis injuste opprimuntur, debilitate marescunt? (EL) Que doit ce que Ii mal home sont riche en cest sieccle, et que il ont tant de leur volante, et Ii bon home ont tant de sosfrette, la ou il sont, de touz biens? (Ül) Die Vereinfachungen können auch mehrere Satzglieder zugleich, ja sogar ganze Sätze umfassen:

24

Ρsautier lorrain, zit. bei Buridant 1983, p. 112. Lefevre 1959, p. 224. 26 Düwell 1974, p. LXX. 27 Für Ü2 und Ü4 cf. Kleinhans 1993, p. 370-373.

25

59

1.25:

1.46:

1.49:

ut unitas in Trinitate ab angelis et hominis adoraretur (EL) por ce que li home et Ii ange aourassent .i. seul Dieu el Pere, el Fil, el Saint Esperit (Ü1)2S Ut enim pictor nigrum colorem substernit (EL) Car tout ensement comme li paintres met la noire coulour desor les autre s (Ü1) Ad malum vero valde efficaces sunt (EL) Mes il pueent assez mal fere (Ü1)

Diese letztgenannten Beispiele zeigen bereits, daß die freie Übersetzung, in Fällen, in denen entsprechende Wörter oder Ausdrücke fehlen oder vielleicht einem zu hohen Sprachniveau angehören, meist nicht zu Lasten des Inhalts geht, sondern durch Ergänzungen (1.46), durch synonymische Wendungen (1.49) oder durch Ersetzung durch das konkret Gemeinte (1.25) aufgefangen wird. Die Eleganz von Sprache und Form dagegen geht meist verloren, so etwa in 1.25 die Parallelisierung von unitas und Trinitas. Auch bestimmte Begriffe bereiten offensichtlich bei der Übersetzung Schwierigkeiten und werden dem lateinischen Wort nachgebildet oder auch mit heimischem Wortmaterial neu geformt. Besonders betroffen sind davon Negationen und Abstrakta. 1.55:

incorporei (EL), nuncorporeus (Ü2), nun corporel (Ü3), encorpore (Ü4) vi. sanz cors (Ül)29 1.141: passibilis (EL), soffrables (Ü2 und Ü3) vs. tieus que il peust paine soffrir (Ül, ähnlich Ü4: telz que passion ne mort le peust grever) 1.155: pro passione impassibilitatem, pro morte immortalitatem, pro peregrinatione aeternam patriam (EL) por la passion li donna impassibletei, por sa mort immortalitei, por cesti pays la pardurabletei (Ü2) Pur passiun nun-suffrance, pur mort nunmortalitet, pur trespassement durable vie (Ü3) pour la passion ce que paine n'aura, et pour la mort ce qui jamais ne morra, et pour le pelerinage de cest siecle li otroia le celestiel pais (Ü1) 1.194: angelorum conventus (EL), ly covens des angles (Ü2), le couvent des angeles (Ü4) vs. li ange (Ül) und la compaignie des angles (Ü3) Die angeführten Beispiele zeigen bereits, daß der Übersetzer des Lucidaire weitgehend Latinismen vermeidet und stattdessen erb wörtliches Vokabular verwendet. Auch was die einzelnen Wortformen anbetrifft, bevorzugt er erbwörtliche Formen gegenüber gelehrten Übernahmen. An volkstümlichen Formen kommen z.B. vor:

M 29

In den Hss DOPQU: un seul Dieu en Trinite. Weitere Beispiele bei Lefevre 1959, p. 224. 60

aourer (1.2 u.a.), nicht kirchensprachlich adorer2,0 blasmer, bzw. die Ableitungen blasme (11.100) und blameor (III. 18), statt der Neubildung blasphemed mire (11.72) statt des gehobenen Terminus fisicien32 reancon (1.44 u.a.) statt gelehrtem redencion33

dolant (1.53) statt der «eher gelehrten Bezeichnung» triste™ achoison (1.53) statt ocasion35 Anders als auf der syntaktischen Ebene kann sich der Übersetzer hier aber häufig nicht von seiner Vorlage lösen. Denn neben den erbwörtlichen Formen finden sich auch gelehrte oder relatinisierte Wörter36: figure (11.74), precieus (11.101), condicions (III. 18), entencion (11.56), verite

(statt erbwörtlichem verte) (1.8), virginitez (statt pucelage) (III.4) Gelegentlich kommen beide Formen nebeneinander vor oder werden erst durch einen Kopisten ersetzt, z.B. bei peneance und seinem Wortfeld, das in der Leithandschrift als einzige Form verwendet wird, während u.a. in D, E, F, L, o, p, Q und τ auch penitence vorkommt. Der Einfluß des Lateinischen ist besonders in der Schreibung zu erkennen, wo entlehnte Wörter an ihr Etymon angenähert werden, obwohl sie den entsprechenden Laut eigentlich schon verloren hatten 37 , z.B.: escripture (neben escriture),

dampner.

Mit dieser Bevorzugung heimischer Formen reiht sich der Lucidaire ein in die «traductions nettement francisees du XIIP siecle», die Buridant von den «traductions plus elaborees du XIV'siecle» unterscheidet38. 2.1.3.

«User de termes ou de moz propres en la science39» Die Übersetzung theologischer Fachterminologie

Ein spezielles Problem stellt in diesem Zusammenhang die theologische Fachterminologie dar, für die analog das gilt, was Roger Bacon in dem eingangs zitierten Text über die Logik gesagt hatte. Zwar wird sie auch im Elucidarium eher spärlich verwendet, doch kommen eine Reihe wichtiger Begriffe vor wie praedestinatio,

Providentia,

liberum arbitrium,

peccata

ori-

ginalia und actualia u.e.m., bei deren Wiedergabe sich die einzelnen Übersetzungen unterschiedlich verhalten: 31 32 Cf. FEW 24,178a. Chaurand 1977, p. 39. Stefenelli 1981, p. 150. " Rheinfelder 1952, p. 244. In der dem 15. Jahrhundert angehörenden Handschrift υ findet sich redemption (1.153) neben raincon (1.44). 14 Stefenelli 1981, p. 162, Anm. 81. 35 Ibid. 36 Zu den folgenden Beispielen cf. Stefenelli 1981, p. 158-162. 37 Cf. dazu Kap. 1.4., bes. p. 36. 3 " Buridant 1983, p. 119. w Nicolas Oresme, Le livre des Ethiques d'Aristote, zit. bei Chaurand 1977, p. 43.

61

Liberum arbitrium (u.a. II.7): Ü2 behält in der Frage den lateinischen Fachausdruck bei, während Ü1 mit franche oder delivre volante übersetzt, eine Lösung, die Ü4 (die diese Frage ausläßt) in 1.45 in ähnlichem Zusammenhang ebenfalls verwendet (cf. auch Ü3: francs esguardz, Ü2 in 11.23: france license·, licence wird von Ü1 in 1.45 ebenfalls benutzt). Praedestinatio, praedestinati (1.15, II.28sqq u.a.) wird von Ü4 mit predestination übersetzt, von Ü2 mit proveuwement, während Ü1 den Ausdruck esgardement (ähnlich Ü3: esguard) wählt; in II.28sqq übersetzen Ü3 und Ü4 mit predestinatiun bzw. predestine, Ü2 mit destineir, Ü1 wiederum mit esgardemenz (bzw. eil... qui Dieus a pourveu oder es lit)40. Peccata originalia/actualia (11.70): U2 wählt (peche) orginal, umschreibt aber den zweiten Begriff, Ü4 verwendet originaux pechiez und les actuaulx, während Ü1 und Ü3 mit lipechie de nostre ancien pere und Ii pechie que nous fesons chaucun jourM (Ül) bzw. Ii pechied de noz aneeisurs und noz pechiez que nusfaisums (Ü3) umschreiben. Remissio peccatorum (II. 100): Ü2 und Ü3 verwenden remission de pechiet, Ül und Ü4 sprechen von Ii pardons de nos pechies (Ül) bzw. le Saint Esperit pardonna les pechiez (Ü4). Fachbegriffe können jedoch von Schreibern später ergänzt werden, z.B. exeomenies (1.198) in υ oder symonie und predestination in den marginalen Rubriken zu 11.18 bzw. 28 in L. Dies zeigt gleichzeitig, daß die jeweiligen Begriffe trotz ihrer Vieldeutigkeit keine gravierenden Verständnisschwierigkeiten boten. Einige Fachtermini werden auch schon vom Übersetzer verwendet. Dabei fällt auf, daß er zwar das seit dem Alexiuslied vertraute Trinite42 und das in der Eulalia-Sequenz vorkommende virginite43 verwendet, nicht aber die in dem zeitlich nur wenig vor dem Lucidaire liegenden Dialogues Gregoire lo Pape erstmals belegten immortalite und predestination". Offensichtlich bemüht sich also der Übersetzer des Lucidaire, Fremdwörter und Neologismen zu vermeiden. Sein Ziel ist gute Verständlichkeit auch für Rezipienten, die mit theologischen Problemen nicht vertraut sind und für die deshalb der Fachausdruck unwichtig ist. Deshalb verwendet er durchgehend genuin französischen Wortschatz und einfache Satzkonstruktionen. Sein Bemühen trifft sich dabei mit dem der anderen französischen Elucida40

41

42 45 44

Zum Wortschatz der Prädestination in den Übersetzungen 2, 4 und 5 cf. auch Kleinhans 1993, p. 192sqq. Diese Übersetzung ist vielleicht mit bedingt durch die ebenfalls existierende lateinische Bezeichnung peccata quotidiana, z.B. bei Augustinus und Bernhard, cf. Le Goff 1981, p. 101, 120 und 296. Tobler/Lommatzsch, Bd. X, col. 658 Godefroy, t. X, p. 861b. Tobler/Lommatzsch, Bd. IV, col. 1348 und Bd. VII, col. 1705sq.

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riums-Όbersetzer, die teilweise ähnlich arbeiten, wie aus den Beispielen ersichtlich ist. Dabei läßt sich auch beobachten, daß Übersetzung 3 sich in den Satzkonstruktionen meist sehr eng an die lateinische Vorlage anlehnt, im Wortschatz, speziell im theologischen Vokabular, aber häufig ganz ähnliche Lösungen sucht wie Übersetzung 1. Die Übersetzungen 2 und 4 dagegen bedienen sich häufig originär französischer Satzkonstruktionen, folgen aber im Vokabular eng der lateinischen Fachterminologie. Konsequenter als die übrigen französischen Übersetzungen des Elucidarium vermeidet somit die Übersetzung 1 zwei Hindernisse, die einer Rezeption durch ein mit der lateinischen Sprache und Terminologie nicht vertrautes Publikum hätten im Weg stehen können. In dem Bemühen um sprachliche Klarheit und Einfachheit zeigt der Übersetzer eine Eigenart, die sich auch auf inhaltlicher Ebene beobachten läßt45. Wenn dies auch im allgemeinen zu leichterer Verständlichkeit führt, kann aber umgekehrt eine zu große Zahl von Umschreibungen in einem Satz Verständnisprobleme nach sich ziehen, da sich der Leser durch eine Reihe von Nebensätzen und Paraphrasen arbeiten muß, bis er den Sinn versteht. Man vergleiche etwa die umständliche Ausdrucksweise der Übersetzung 1 im oben zitierten Beispiel aus 1.15 mit der knappen und präzisen Formulierung in Ü3. Gerade bei Wörtern, die im kirchlichen Sprachgebrauch eine spezifische Bedeutung haben, scheint der Übersetzer auch auf Schwierigkeiten gestoßen zu sein, wenn er keine unmittelbar aus dem Lateinischen abgeleiteten Formen verwenden wollte oder konnte; dies führte zu Umschreibungen, die entweder in sich unklar waren, oder aber zumindest den Satz verlängerten und zusammengehörende Satzglieder auseinanderrissen, so daß das Ganze schwerer verständlich wurde; oder es werden Begriffe verwendet, die der Eindeutigkeit entbehren, so z.B. esgardement für praedestinatio, das in einzelnen Handschriften zu regardemens wird, in anderen zu destinance, was schließlich zu dem im Kontext unsinnigen abstinance verschrieben wird: Der Zusammenhang zwischen dem Fragentext und der Rubrik war offensichtlich für die Schreiber nicht mehr erkennbar46. Es ist somit nicht nur Bequemlichkeit, wenn lateinische und nur notdürftig franzisierte Wörter in Übersetzungen verwendet werden47. Diese boten die Möglichkeit, Doppeldeutigkeiten und daraus resultierende Mißverständnisse zu vermeiden und neue Inhalte auszudrücken, eine Möglichkeit, die der Lucidaire eher selten genutzt hat oder nutzen wollte. Terminologische Unklarheiten nimmt der Übersetzer zugunsten einer Verständlichkeit auch für Nichtspezialisten in Kauf, und er scheint mit dem Nebeneinander von französischen syntagmatischen Formen und gelegentlichen lateinischen Entlehnungen, 45

Cf. die folgenden Kapitel, bes. Kap. 2.3. Cf. die Rubrik zu 11.28 sowie DII.28 und die jeweiligen Varianten. 47 Cf. dazu den Vorwurf W. von Wartburgs in Evolution et structure de la langue frangaise, Bern 3 1946, p. 142, zitiert von Chaurand 1977, p. 41.

46

63

von erbwörtlichen und gelehrten Bildungen die Bedürfnisse eines recht breiten Publikums gut getroffen zu haben. Denn die Auswahl des Vokabulars wurde vom Übersetzer getroffen «en fonction du texte qu'il avait ä traduire, et du public auquel il s'adressait48», wie es Chaurand für Oresme als Übersetzer der Nicomachischen Ethik vermutete. Auch wenn man die genauen Umstände von Übersetzung und Überlieferung heute nicht mehr nachvollziehen kann und ihre Unwägbarkeiten in Rechnung stellt, zeigt die weite Verbreitung dieser Übersetzung und ihre Benutzung zur Abfassung weiterer volkssprachlicher Texte, daß sie offenbar vom Publikum als das angenommen wurde, als was sie auch der Übersetzer konzipiert hatte: als ein leicht verständlicher Abriß der christlichen Lehre.

2.2.

«Ainz i ai mout oste et mis49» - Eingriffe in die Vorlage

Der Übersetzer geht auch dann gelegentlich recht frei mit seiner Vorlage um, wenn dies nicht übersetzungstechnisch bedingt ist. Er ändert den Wortlaut, läßt Sätze oder sogar ganze Fragen weg und fügt gelegentlich auch Textteile an. Derartige Änderungen sind meist theologisch oder pastoral begründet, was das Thema der folgenden Kapitel sein wird. Hier sollen zunächst jedoch die Eingriffe in den Text analysiert werden, die nicht in solchem Maße inhaltlich relevant sind, da sie keine Änderung der Aussage nach sich ziehen. Nichtsdestoweniger zeigt sich in ihnen jedoch ein Konzept, das auch Rückschlüsse auf das intendierte Publikum zuläßt. 2.2.1.

Straffung

Während Honorius manchmal den gleichen Gedanken in kunstvollen sprachlichen Variationen wiedergibt, vermeidet der Übersetzer derartige Wiederholungen, die dem Text inhaltlich nichts Neues hinzufügen. Mengenmäßig am deutlichsten ins Auge fällt dies gegen Ende des Textes: Während das Elucidarium von III. 106 bis III. 118 im wesentlichen 111.90 bis III. 105 wiederholt und dabei lediglich die Himmelsfreuden noch weiter ausschmückt und begründet50, läßt der Übersetzer diese Fragen weg. Der einzige relevante neue 48

Chaurand 1977, p. 42.

49

Anticlaudianus-Überseizxmg von Ellebaut, zitiert bei Buridant 1983, p. 111. Die ganze Prolog-Stelle, die auch im Hinblick auf die vermutlich ähnlich gelagerte Einschätzung des Lwc/ifoiYe-Übersetzers von seinem Publikum nicht uninteressant ist, lautet: «En la matere a tant de force / Que ja lais hom n'i verra goute / S'aucuns hom ne Ii espont toute / Qui bien saiche Anticlaudi'ens. / De celui livre ai trait le mien / Non mie ainsi que je racont / Tous les diz qui escriz i sont, / N'il ne ra pas en celui livre / Tot quanque mes traitiez me livre, / Ainz i ai mout oste et mis.» Vgl. 111.91: «Quid si cum hoc decore esses tarn velox quam Asael, qui cursu pedum praeverterat capreas?» und dazu III. 106: «Asael agilitas esset ibi pigra tarditas. Sa-

50

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Gedanke in diesem Kontext, nämlich daß Gott und seine Engel und Heiligen den Erwählten die ewige Seligkeit geradezu schulden, wird dagegen herausgegriffen und übersetzt. Ähnlich geht Übersetzung 4 vor, die 111.79—105 übergeht51. Das Fehlen von III. 119 dürfte auf den gleichen Grund zurückzuführen sein, denn dort werden in negativer Umschreibung der vorausgehenden Fragen die Qualen der ewigen Verdammnis geschildert, wobei zudem die Höllenstrafen in III.13sq schon ausführlich und anschaulicher behandelt waren. Ebenso wie auf diese langen und ausführlichen Erklärungen reagiert der Übersetzer auch an anderer Stelle auf Wiederholungen und Ausschmückungen. In 1.101 erspart er seinem Publikum die Ausmalung der Sündenfolgen, die nur eine Umschreibung der vorausgegangenen Sündenbeschreibung ist52. In 11.16 wird die Freude der Bösen an ihrem Reichtum gleich mehrfach anschaulich als vorübergehende Täuschung entlarvt: Cum fortuna malis prospera arriserit et eos copia de suo cornu his bonis quae enumerasti repleverit, tunc assimilantur pisci qui mordens hamum gratulatur, sed hoc tripudio de aqua tractus enecatur, aut illi cui poculum mellis praebetur et post sine fine amarum mare epotare cogetur...

Der Übersetzer übergeht das zweite Beispiel von Honig und Bitterwasser und läßt konsequent auch das entsprechende Gegenbeispiel für die guten Menschen weg: Porro boni, quos asseris hujuscemodi incommodis affici, similes sunt illi qui piper vel aliam amaram herbam gustu praelibat, ut vinum post sumptum suavius sapiat.

Nicht nur Wiederholungen oder Beispiele läßt der Übersetzer aus, sondern auch unwichtige Details, so etwa in 11.76 die ausführliche Beschreibung der Stadt Babel mit ihren genauen Angaben über die Ausdehnung der Stadt und die Maße der Stadtmauer: Cujus longitudinem et latitudinem per sexaginta milliaria extendisse dicitur; muri vero latitudinem quinquaginta cubitorum, altitudinem centum et quinquaginta cubitorum exstruxisse fertur.

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ne ipsi ita veloces sunt ut, quam cito oriens sol Occidentem suo radio tangit, tarn cito ab Oriente in Occidentem venire possint et, quam cito oculus se elevans visum ad caelum dirigit, tarn cito de caelo ad terram, de terra ad caelum relabi poterunt. Hoc etenim angeli facere possunt, quibus ipsi coaequales erunt, ut dicitur: 'Erunt aequales angelis Dei.' Ecce qualis illorum velocitas.» Cf. Kleinhans 1993, p. 237, die hier aber eher einen mechanischen Verlust annehmen möchte. Cf. das unter 2.2.2., p. 70, zitierte Beispiel. 65

Ähnlich fehlt in 1.177 die lange Ausführung zur Zahl 50 und zur jüdischen Institution des Jubeljahres; der Übersetzer konzentriert sich ganz auf die zentrale Aussage, nämlich die Liebe zu Gott, die dieser durch die Befreiung des Menschen von Sünde und Welt verdient. Auch ganze Fragen können von solchen Änderungen betroffen sein. So dürfte die Beschränkung auf die entscheidenden Wahrheiten um die Geburt Jesu die Auslassung von 1.121-124 bedingt haben, in der es spekulativ um die Möglichkeit eines anderen Zeitpunkts für die Ankunft Christi geht, z.B. vor der Sintflut oder erst am Ende der Zeiten. Derartige Probleme, die nach mittelalterlich-theologischem Verständnis durchaus angebracht waren, da sie Gottes Heilsplan mit den Menschen verdeutlichten, haben in einem Text wenig Sinn, der vor allem die grundlegenden Wahrheiten des christlichen Glaubens darlegen will. 2.2.2.

Bibelzitate

Das gleiche Bemühen um Befreiung von anscheinendem Ballast, der den Blick auf den eigentlichen Inhalt verstellen könnte, hat den Übersetzer bei der Bearbeitung der Bibelstellen geleitet, mit denen Honorius fast in jeder Frage seine Aussagen belegt oder ausschmückt. Viele dieser Bibelstellen wiederholen nur - natürlich mit der Autorität des göttlichen Wortes versehen was der Magister vorher mit eigenen Worten seinem Discipulus erklärt hatte. Selbst in den Fragenformulierungen läßt Honorius den Discipulus Bibelzitate heranziehen, wenn er bei einer Frage schon von einer Prämisse ausgeht, wie z.B. in DII.21: Gleich zwei Belege müssen für die Allmacht Gottes zitiert werden (hier vielleicht motiviert dadurch, daß der Discipulus sie zumindest fiktiv in Frage stellt). Geradliniger als das Elucidarium zielt der Disciple im Lucidaire geradewegs auf den vermeintlichen Widerspruch zwischen der Allmacht Gottes und seiner Unfähigkeit zu lügen und die Vergangenheit ungeschehen zu machen, auf die er auch alsbald von seinem Mestre eine ihn befriedigende Antwort erhält: Cum Deus sit omnipotens, ut dicitur: «Omnia quaecumque voluit fecit» et iterum: «Subest tibi posse omne quod volueris», cur dicitur de eo quod quaedam non possit, id est mentiri et praeteritum non facere quin sit praeteritum? (EL) Quant Dieus est touz puissans, pour quoi dit l'en de lui que il n'a mie poeste de toutes choses, de tieus choses i a si comme de mentir et ice qui est trespasse faire que il ne soit mie trespasse? (Ül) Mit seiner Argumentationsweise entspricht Honorius genau der Theologie seiner Zeit: Für sie heißt theologische Arbeit nicht die Darlegung eigener origineller Gedanken, sondern Wiedergabe und Erklärung der Autoritäten, denn in der Bibel als Gottes Wort und Offenbarung ist schon alles glaubens- und heilsnotwendige Wissen niedergelegt, wenn auch manchmal dunkel und un66

verständlich; ihm kann nichts hinzugefügt werden53. Die Bibel hat somit für alle Fragen die richtige Antwort und reicht als Grundlage für alle Rechtfertigung aus, denn sie hat Gott und damit den unfehlbar sicheren Grund zum Autor; die Theologie, die sich auf die Schrift stützt, hat an dieser Gewißheit Anteil: Nam certitudo auctoris, quae est summa Veritas, consideratur in hac scientia. Quae quia est infallibilis, locus ab auctoritate in hac scientia est peroptimus; in aliis omnibus, quae sunt ab humana ratione, locus ab auctoritate est debilis et inartificialis, quia ratio humana errori subiecta est etiam non volens54. [Theologia] certissima: quia auctor est deus. ... Hinc patet, quod minimum et incertissimum huius scripturae verbum certius est conclusione certissimae demonstrationist. Dem Beleg einer Lehrmeinung durch ein entsprechendes Schriftzitat kommt also nach mittelalterlicher Vorstellung unangefochtene Beweiskraft zu. Warum verzichtet dann der anonyme Übersetzer des Elucidarium weitgehend auf diese Beweiskraft? Der Grund für die Auslassung der Schriftzitate liegt sicher nicht darin, daß der Übersetzer selbst diese nicht verstand, z.B. weil sie stark gekürzt waren. Denn er kennt offensichtlich die Bibel sehr genau, wie seine Ergänzungen zeigen, aber auch seine Fähigkeit, zwischen Zitat und in den lateinischen Texte eingeschobener Erklärung zu unterscheiden, wie die Nachstellung des Kommentars in III. 13 deutlich macht: ... de hoc dicitur: «Educ de carcere», hoc est de inferno, «animam meam». (EL) de cestui est il escrit el Sautier: Biau Sire, met fors de chartre la moie ame; par la chartre si devons entendre enfer, et par l'ame nostre vie. (Ül) Die Quellenangabe ist ebenfalls richtig, es handelt sich um Ps 141,8. Sie könnte der Übersetzer auch schon in der lateinischen Vorlage vorgefunden haben; so hat etwa σ zahlreiche Quellenangaben am Rand, an dieser Stelle: David. Einen Grund für den Wegfall biblischer Belege kann man hingegen darin vermuten, daß der Übersetzer des Lucidaire annahm, sein Publikum würde die «dunklen» Schriftzitate sowieso nicht verstehen, da ihr Sinn nur dem Spezialisten zugänglich sei56. Dies wird auch daran ersichtlich, daß nicht nur ausdrückliche Schriftzitate wegfallen, sondern auch andere Verweise auf die Bibel, mit denen eine Aussage begründet werden soll. So entfällt z.B. in 1.67 der Hinweis auf den Pharao, mit dem die Erschaffung der Insekten illustriert wird: 53 54 55 56

Cf. Köpf 1974, p. 232-237 und 251 sqq. Odo Rigaldi, QQ. q. 7, zit. bei Köpf 1974, p. 254, Anm. 32. Richard Fishacre, zit. bei Köpf 1974, p. 164, Anm. 47. Zur ähnlichen Verfahrensweise von Ü5 cf. Kleinhans 1993, Kap. V.l., bes. p. 167 mit Belegen aus Gerson und Laurent Premierfait.

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Omnia ad laudem gloriae suae. Muscae quidem et culices et his similia propter superbiam hominis condita sunt, ut, cum eum pungunt, quid sit cogitet, qui nec minutis vermiculis resistere valet; unde et Pharaonem non ursi nec leones vastaverunt, sed culices et scinifes afflixerunt. Falls das Publikum die Anspielung auf die ägyptischen Plagen nicht heraushörte, mußte ihm die Argumentation rätselhafter erscheinen als die bloße These. Das vermutete Unverständnis für subtile Schriftbelege allein kann aber wohl nicht die Ursache für das Fehlen so vieler Schriftzitate gewesen sein, denn auch wenn die Hörer die genaue Begründung vielleicht nicht hätten schätzen könne, so war doch dem einfachsten Gläubigen die Vorstellung von der Bibel als Wort Gottes vertraut, so daß ein mit «comme l'Escripture dist» oder ähnlichem eingeleitete Begründung in jedem Fall dem vorher Gesagten größere Autorität verliehen hätte57. Aus dem Charakter, den die Streichung der Zitate den Antworten des «Mestre» verleiht, sowie aus den beibehaltenen Zitaten läßt sich jedoch ein weiterer Grund ableiten. Denn der Autor des Lucidaire übersetzt nicht nur manche Bibelzitate, gelegentlich erweitert er sie sogar. So können einzelne Wörter oder Sätze ergänzt oder korrigiert werden, z.B. in Frage 1.142: Propter obedientiam, ut dicitur: «Factus est obediens Patri usque ad mortem.» (EL) Pour obedience, que il est escrit que il fu obediens jusques a la mort de la croiz. (Ü1) Die Ergänzung entspricht genau dem Wortlaut von Phil 2,8. Ebenso werden in III.62 die Gerichtsworte Jesu entsprechend Mt 25,34 ausführlicher zitiert: His dicetur: «Venite, benedicti Patris mei; esurivi et dedistis mihi manducare» et caetera quae ibi sequuntur. (EL) A iceus dira Nostre Sires: Venez Ii beneoit de mon Pere et si recevez le regne Ii quieus vous est appareillies des le coumencement del sieccle. Je oi fain et vous me donnates a mangier, et les autres paroles qui sont escrites en l'Evangile. (Ül) Solche Ergänzungen können schon auf die lateinische Vorlage zurückgehen: Sedebitis super sedes duodecim. (EL, 111.58) Sedebitis super sedes .xij. iudicantes .xij. tribus Israel, ( f , f. 35vb und Parallelstellen in den anderen Handschriften dieser Gruppe) Jesus autem dixit illis: amen dico vobis quod vos qui secuti estis me in regeneratione cum sederit Filius hominis in sede maiestatis suae sedebitis et vos super sedes duodecim iudicantes duodecim tribus Israhel. (Mt 19,28) Vouz serroiz sor .xij. sieges et si jugeroiz les .xij. ligniees Israel. (Ül, III.58) 57

Cf. dazu die Beobachtungen von Zink 1982, p. 157sq zur Rolle der lateinischen Sprache in der volkssprachlichen Glaubensunterweisung. Zum Autoritätsargument in der Predigt auch für Laien siehe die Predigten von Ranulphe d'Hombli^res und die Analyse bei Beriou 1981, p. 39-65, bes. p. 53sq sowie D'Avray 1985, p. 194. 68

Mehrmals werden auch biblische Beispielerzählungen länger ausgeführt, so in 11.36 die Begegnung von Maria und Elisabeth und in 11.83 die Erwähnung des Schächers am Kreuz. Die Anschaulichkeit solcher Erzählungen ließ den Übersetzer an ihnen festhalten und ihren Wert so hoch einschätzen, daß er sie gegebenenfalls auch ergänzte, wenn er auch dabei weit hinter der Fabulierfreude eines Gillebert de Cambres in seinem Lucidaire en vers58 zurückbleibt. Auch die größere Ausführlichkeit von Zitaten für ein biblisch-theologisch weniger versiertes Publikum hat Parallelen in der Predigtliteratur des Mittelalters, wie Nicole Beriou anhand der Predigten von Ranulphe d'Homblieres zeigt: Devant les beguines - et devant les autres publics de «simple gens»-, il use encore largement de ce type de developpement, mais comme il estime que l'Ecriture leur est moins familiere, il simplifie les references de la citation, omettant de preciser le chapitre, parfois meme le livre dont il l'extrait. En revanche, il replace souvent la citation dans son contexte, pour mieux eclairer le sens historique du texte59.

Auffallend ist auch, daß bei den übersetzten Zitaten teilweise die Einleitungsformel fehlt, die den Text als Bibelstelle ausweist. Da es sich gerade bei diesen Stellen auch um inhaltlich neue Elemente handelt, wird deutlich, daß es dem Übersetzer nicht auf den Beweis durch die Schriftautorität ankam, sondern lediglich um die wichtigen inhaltlichen Aspekte: 1.183:

Ut de manna dicitur: «Qui plus collegit, non plus habuit, nec qui minus collegit minus habuit», ita omnes aequaliter sumunt... (EL). Autresi comme eil qui pristrent la manne el desert, eil qui plus en cuelli n'en ot neant plus de celui qui mains en cuelli, tout ausiment eil qui prennent le suen cors. (Ül) 60

Dies wird noch einmal bestätigt, wenn man einen Blick auf die Wirkung wirft, die die Streichung von Bibelzitaten auf die Struktur der Antwort hat: Von der im Lateinischen - nach mittelalterlichem Verständnis - mit einer Begründung ausgestatteten Antwort bleibt das bloße Faktum, das man als Unwissender anzunehmen hat, wobei man allein der Aussage des Mestre vertrauen muß: Quae est natura angelica? - Spiritualis ignis, ut dicitur: «Qui facit angelos de flamma ignis.» (EL 1.29) Quele est la nature des anges? - C'est .i. espiriteus feus61. (Ül)

5H

Cf. dazu E. Ruhe 1991, p. 78. Beriou 1981, p. 60. w Weitere Beispiele sind 1.18 und 1.137. *' Ähnlich in Buch I auch die Fragen 20, 21, 36, 128, 147, 154, 199, 201. 59

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Wie lehrbuchartig die Übersetzung 1 dadurch wirkt, wird besonders deutlich, wenn die Streichung von Bibelzitaten mit anderen Kürzungen zusammenfällt, wie z.B. in 1.101 bei der Frage nach den Sünden, die Adam beim Essen des Apfels im Paradies begangen hat: Primum superbia fuit, cum Deo aequalis esse voluit; et ideo factus est omnium infimus, qui fuit omnibus praelatus; de hac dicitur: «Immundus est coram Deo omnis qui exaltat cor suum.» Secundum inobedientia exstitit, cum mandatum praeterivit; et ideo facta sunt ei omnia inobedientia, quae prius erant subjecta; de hac dicitur: «Quasi scelus est ariolandi, nolle obedire.» (EL) Li premiers si fu orguel, car il volt estre samblans a Nostre Seignor. Li secons fu inobedience, quant il passa le coumandement Nostre Seignor. (Ül) Ohne daß inhaltlich Relevantes fehlte, wird die Antwort reduziert auf die Nennung der Sünde und eine denkbar knappe Beschreibung. Anders als das argumentierende und begründende Elucidarium ähnelt der Lucidaire damit eher einem Katechismus, in dem es ebenfalls nicht auf die Begründung ankommt, sondern auf die Fakten, die der Gläubige zu lernen hat, selbst wenn er sie nicht verstehen sollte62. Noch einen großen Schritt weiter in diese Richtung geht die Handschrift F, die auf fast alle Begründungen und Ausschmückungen verzichtet und damit von den kurzen Merkformeln eines Katechismus kaum noch zu unterscheiden ist63.

2.2.3.

Bilder und Allegorien

Ähnlich wie die Schriftzitate behandelt der Übersetzer auch bildhafte Ausdrücke und allegorische Redeweise. Wo Honorius gern zuerst ein Bild benutzt, um danach das Gemeinte ebenfalls noch zu nennen, übernimmt der Lucidaire gewöhnlich nur das Konkrete: 1.11:

1.40:

.. .aliud spirituale [caelum], quod spirituales substantiae, scilicet angeli, inhabitare creduntur (EL) .. .Ii autres espiriteuz, ce est eil ou Ii ange conversent (Ül) .. .in exitialem lacum, id est in infernum (EL) .. .si furent gitei ensamble ou lui en enfer (Ül)

Dies gilt sogar für theologische Topoi, wie z.B. die Kirche als Braut oder Leib Christi oder Jesus als Gotteslamm:

',2 Zur Einordnung des Elucidarium und der verschiedenen französischen Übersetzungen in die Katechismustradition cf. die ausführliche Diskussion bei Kleinhans 1993, Kap. IV.3. 63 Cf. unten Kap. 5.2.2. 70

1.174: tertio, quod Ecclesia, quae corpus Christi est, post passionem quam sub Antichristo erit passura deinde post quadraginta dies creditur caelum ascensura. (EL) La tierce si est que sainte Eglise si doit monter el ciel .xl. jors apres la passion qu'ele sofferra desor Antecrist (Ü1) 1.183: ita omnes aequaliter sumunt et unusquisque to tum Dei agnum comedit ... (EL) autretant en a Ii uns comme Ii autres, et chaucuns si le manjue tout entier ... (Ü1) Auch wenn Honorius selbst die Erklärung nicht im Text angibt, konkretisiert der Übersetzer häufig dessen metaphernreiche Sprache. So wird in 1.37 das umschreibende «sibi tantam majestatem usurpare» für die Sünde der gefallenen Engel verdeutlichend und im Sinne der kirchlichen Lehre mit «orguel» übersetzt. In 1.64 wird der Begriff des Mikrokosmos mit der Erschaffung des Menschen aus den vier Elementen wiedergegeben: «Cum esset minor mundus...» vs. «Pour ce que il est fez de .iiij. elemenz...» Das zweimalige «per feminam virginem» in 1.120, das in der parallelen Ausdrucks weise des lateinischen Textes den Präfigurationsgedanken deutlich herausstellt, wird jeweils mit dem Namen der konkret gemeinten Person übersetzt: «par la virge Eve» und «par la virge Marie»64. In 1.202 schließlich, um nur noch ein weiteres Beispiel zu nennen, wird das biblische Bild, wonach Christus beim Gericht die Spreu vom Weizen trennen wird (Lk 3,17par) von der Übersetzung zunächst ganz konkret auf Christus bezogen, wobei dann am Ende, vermutlich ausgelöst durch die Feuer-Assoziation, ein anderes Gleichnis-Bild etwas unvermittelt auftaucht, nämlich das vom Weinstock, der keine Frucht bringt und deshalb ins Feuer geworfen wird (cf. Joh 15,2). Hieran wird schon deutlich, daß der Übersetzer keineswegs vollkommen auf Bildlichkeit und auch auf Allegorien verzichtet. Die Jungfrauengeburt wird in 1.126 ebenso mit Hilfe einer Allegorie (geschlossene Tür) erklärt wie in 1.3 die Trinität mit dem Beispiel der Sonne verdeutlicht wird. Auch die allegorische Auslegung der Wunder bei der Geburt Jesu (1.134), die der Marterwerkzeuge des Teufels (II.9) oder der Vergleich eines nur dem weltlichen Reichtum vertrauenden Menschen mit einem Fisch, der sich über den Köder an der Angel freut (11.16), werden übernommen. Die übergroße Deutlichkeit der Übersetzung, die keine Unklarheit und keinen Irrtum mehr zuläßt, gibt einen Hinweis auf die Funktion der übersetzten Allegorien: Sie sollen wichtige, aber schwierige Sachverhalte veranschaulichen: 64

Ähnlich war schon in 1.114 die Parallelisierung zugunsten der inhaltlichen Deutlichkeit aufgegeben worden: «non per se, sed per alium impulsus cecidit ... per alium adjutus resurgeret» vi. «comme il estoit deceus par Γ amonnestement au deable ... si estoit droiz que autres Ii aidast.»

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Laissons-lä les mots rares et raffines; parce que nous ne devons penser qu'ä 1'education des gens rüdes et ä 1'instruction des esprits rustiques, il nous faut leur proposer le plus souvent des choses concretes et palpables qu'ils connaissent d'experience65. So gehören sowohl die Trinitätslehre als auch die Jungfrauengeburt zu den zentralen dogmatischen Aussagen des Credo, sind jedoch nur schwer einsichtig zu machen. Die «konkreten und greifbaren, aus der Erfahrung bekannten Dinge» bieten eine geeignete Hilfestellung für das Verständnis. Ähnliches gilt auch für die Anschaulichkeit des Köder-Vergleichs. Die Marterwerkzeuge des Teufels holen ebenfalls eine abstrakte Aussage auf eine konkrete und hier direkt auf das Leben des einzelnen Gläubigen bezogene Ebene herunter. So sind die Tyrannen (hier ist das Französische auch konkreter als das lateinische «tortores et persecutores»), die einen Menschen «in die Zange nehmen» können, unmittelbar einsichtig, ebenso die «spitzen Zungen» und verletzenden Worte übler Nachrede und Verunglimpfung («limes et serres»). Damit wird nicht nur die Reinigung der Erwählten (auch die Reinheit von geglühtem Eisen mag vielen bekannt gewesen sein) bzw. die Qual der schlechten Menschen anschaulich gemacht, sondern implizit auch davor gewarnt, zu den «tyrant» oder den «homes qui mal dient...» zu gehören, da sie ja Werkzeuge des Teufels sind. Wird also die bildliche Ausdrucksweise vom Übersetzer genutzt, um schwierige Sachverhalte anschaulich darzustellen, verzichtet er umgekehrt auf Fragen, bei denen die Bildrede nicht zentrale Glaubenswahrheiten berührt oder selbst wiederum auf hohem Abstraktionsgrad bleibt. So wird bei den Fragen nach den genauen Umständen von Jesu Tod und Auferstehung (1.159sqq) zwar noch die Frage nach dem Grund für die Wahl des ersten Wochentages typologisch mit dem Hinweis auf das Schöpfungswerk beantwortet, es fehlt aber mit 1.165 die Frage nach dem Grund für die Auferstehung am dritten Tag, die allegorisch mit den drei Zeitaltern der Heilsgeschichte, den drei Sündenmöglichkeiten des Menschen und der Trinität beantwortet wird. Ut eos qui tribus temporibus, ante legem, sub lege, sub gratia, in peccatis mortui erant sublevaret et ut nos, qui factis, dictis, cogationibus labimur, per fidem Sanctae Trinitatis resurgamus. Diese Frage ist zwar in den Handschriften τ und υ vorhanden, doch auch hier unterbleibt bezeichnenderweise der Verweis auf die drei Erdzeitalter, die auch in theologischer Hinsicht zur Zeit der joachimitischen Häresie problematisch oder zumindest mißverständlich waren. Erst recht fehlt die Erklärung zu den «perditi» in MIII.120 («quia a curru Dei sunt lapsi»), auf die schon der lateinische Discipulus mit einem verständnislosen «Hoc non intelligo» reagiert, worauf der Magister den Him45

Jacques de Vitry, paraphrasiert von Le Goff/Schmitt 1979, p. 262.

72

melspalast, seine eingestürzte Mauer (die gefallenen Engel) und deren Reparatur durch Christus mittels der Bausteine der Erwählten (von denen z.B. Häretiker und Schismatiker wieder vom Wagen des Baumeisters herunterfallen) erklärt; selbst die - im Feuer geläuterten - «impii» dienen noch als Mörtel dem himmlischen Bauwerk. Diese Allegorie, die in ihrer Bildlichkeit das Elucidarium gelungen zusammenfaßt und abschließt, spricht keinerlei neue Themen an und bringt keine neuen Aspekte mehr. Schon unter dem vorher beobachteten Bestreben der Straffung mußte sie damit der Übersetzer als überflüssig erachten. Zudem ist sie nicht einfach zu verstehen, erfordert sie doch einiges an Abstraktionsfähigkeit vom Zuhörer. Durch die Allegorie wird hier das Verständnis also eher erschwert als erleichtert66. Wie leicht sogar eine solch konkrete Bildlichkeit wie die des Bauens in der Tat mißverstanden werden konnte, zeigt das von Ginzburg untersuchte Beispiel des friaulischen Müllers Menocchio, der aus dem Vergleich zwischen der Erschaffung der Welt und dem Bau eines Hauses ein materialistisches Weltbild ableitet und letztendlich die Existenz eines Schöpfergottes bestreitet67. Der Übersetzer befolgt bei seinem Vorgehen somit den Grundsatz, daß Allegorien und Abstraktionen für Laien nicht geeignet seien: Si vus estes lettrez et vus sachez monter de la basse lettre al halt espirit del estoire, al halt entendement espiritel u vus estez lais e vus montez en tutes les bones ovres faire que esperitel entendement enseigne par desir des celestienes choses 68 . Et lai j e as plus sages les plus fors choses a espondre, tant seulement metans ici aucunes paroles cleres et apertes qui sans difficulte se offrent a entendre a quiconques lere les velt69.

Wenn auch nicht alle Allegorien und Bildreden des Elucidarium, die im Lucidaire übernommen werden, sich ohne weiteres erklären lassen - manche mögen vielleicht dem Übersetzer selbst gefallen haben oder aus einem heute nicht mehr einfach nachvollziehbaren Grund nützlich erschienen sein70 - so Zu der gleichen Auslassung in Ü5 cf. Kleinhans 1993, p. 168. Ginzburg 1990, p. 95sq. Zur Bau-Metapher für die Schöpfungstätigkeit Gottes cf. auch 1.15. 6 » BN fr. 19525, f. 170v, zitiert bei Zink 1982, p. 150. m Arsenal 2058, f.51v, zitiert ibid. Zink(p. 150sq) interpretiert die Stelle wie folgt: «Ce passage, ..., met bien en lumiere les caractöres du public vise par l'auteur: un public qui sait lire, mais qui ignore le latin et qui serait incapable de saisir une pensee abstreite et difficile.» 70 Z.B. I.133sq: die Wunder bei der Geburt Jesu mit Allegorese, die MikrokosmosMakrokosmos-Entsprechung in 1.59 und die Glieder-Christi-Allegorie in 1.179. Hierher kann auch die Begründung für die Schlange als Versucher im Paradies (1.86) gerechnet werden, die mit der Parallele zwischen Schlangengestalt und aus der Versuchung folgendem menschlichen Verhalten erklärt wird.

67

73

gilt doch generell, daß der Übersetzer Allegorien und Vergleiche da übernimmt, wo sie für das Verständnis nötig sind, sei es zur Veranschaulichung schwieriger Sachverhalte, oder weil die entsprechende Elucidariums-Frage an sich neue Informationen enthält, die von der Allegorie nur schwer zu trennen sind (z.B. 1.179). Wo die Allegorie jedoch Selbstzweck zu werden scheint bzw. nur dem Gestaltungswillen des Autors entspringt, wird sie gestrichen. Dies mag abschließend die Reihe von Metaphern veranschaulichen, mit der Honorius zu Beginn des Buches III seinen Discipulus erklären läßt, weshalb er trotz so vieler schon erhaltener Antworten immer noch weiter fragen will, während der französische Disciple den gleichen Wunsch mit nüchternen Worten zum Ausdruck bringt: Jam innumeris hydrae capitibus praecisis, aliis atque aliis renascentibus pro eis, eia, lux Ecclesiae, arripe gladium tuae nobilis linguae et silvam quaestionum in qua erro succide, ut liceat mihi errabundo per te ad campum scientiae exire, et qualiter circa morientes agatur evolve. (EL) Mestres, mout as bien sauvee la moie ame de bonnes solucions, mes or te pri pour amour Dieu que tu oies ancores les moies questions, et si me respon de ce que je te demanderai des mors homes qui ale sont de cest siecle et coument il en issent. (Ül) 2.2.4.

Zusätzliche Erklärungen

Der Übersetzer fügt seiner lateinischen Vorlage nur sehr wenig hinzu. Auffällig ist, daß es sich bei diesen wenigen Ergänzungen, die im allgemeinen höchstens den Umfang eines Nebensatzes erreichen, häufig um erklärende Zusätze handelt. Gelegentlich sind solche Zusätze übersetzungstechnisch bedingt, wenn durch die andere Wortstellung im Französischen oder die Auflösung von spezifisch lateinischen Konstruktionen wie Ablativus Absolutus oder Partizipialkonstruktionen zu einem Nebensatz ein Einschub erforderlich ist, damit die Zusammenhänge wieder deutlich werden, wie dies z.B. im Prolog der Fall ist: Nomen autem meum ideo volui silentio contegi, ne invidia tabescens suis juberet utile opus contemnendo neglegi; quod tarnen lector postulet ut in caelo conscribatur ... (EL) Le mien non weil je del tout en tout seler, car je crien l'envie de multes gens, et que cist livres ne fust plus tost destruiz pour ce que ce une anuieuse personne comme je sui auroit fet tel chose. Et pour ce que je ne weil ici escrire le mien non. pour charite si pries Nostre Seigneur que il soit escrit el livre del ciel ... (Ü1)71

71

Ähnlich 1.68, 147, 162 oder die Auffüllung der Aufzählung in III.8 auf vollständige Sätze. 74

Manchmal sind solche Erklärungen auch nötig, weil ein französisches Wort verwendet werden muß, von dem der Übersetzer annehmen kann, daß es seinem Publikum nicht geläufig ist. Dies gilt z.B. für die franzisierte Titelform, für die noch kein Verb existiert, das die Bezeichnung «Lucidaire» so einsichtig macht wie das beim lateinischen Wortpaar «Elucidarium/elucidare» der Fall ist, so daß der Zusatz «ce est a dire esclairemenz» angebracht ist72. Auch die bildhafte Ausdrucksweise von den verschlungenen Fragen im Prolog bedarf im Französischen einer Ergänzung: «.. .quasdam quaestiunculas enodare» wird zu «que je lor desloiasse unes sentences qui mout estoient enlaciees.» Hier ist die Ergänzung aufgrund der Mehrdeutigkeit von «desloier» wohl unumgänglich. Eine Erklärung ist auch bei einigen wenigen aus dem Lateinischen übernommenen Begriffen nötig, die der Übersetzer nicht mit erbwörtlichem Wortschatz wiedergibt, z.B. die «discreti» in 1.179: «Ii discret home qui bien sevent le bien et le mal». Ebenfalls der Verdeutlichung dient die erklärende Übersetzung von «ut» mit «ice poons nous bien veoir par itel samblance», durch die der Vergleich des Vorauswissens Gottes mit dem Baumeister, der ein Haus baut und es zuvor planen muß, in 1.15 eingeleitet wird. Handelt es sich bei den bisher genannten Beispielen noch überwiegend um das Bemühen um sprachliche Klarheit, so scheint an anderen Stellen der Übersetzer den weltlichen wie religiösen Kenntnissen seines Publikums mißtraut zu haben: In 1.136 wird aus «de Pharaone et Aegypto», von denen die Israeliten befreit werden, ein erklärendes «pharaon le roi d'Egipte»; in 11.74 wird der Götzendienst der Israeliten in Ägypten erklärend übersetzt. In 1.59 wird bei der Nennung der beiden «Himmelslichter» zugesetzt «ce est la lune et le soleil», und in 1.3 wird sogar genau begründet, weshalb Sonne ohne Wärme keine Sonne mehr ist: «car il est naturelment chaus», obwohl doch die Untrennbarkeit der drei Elemente der Sonne vorher schon betont war. In II.6 schickt der Übersetzer der Frage, weshalb Gott die Guten liebt und die Bösen haßt, wo er doch alles liebe, was er geschaffen habe, die - im lateinischen Text mit gemeinte, aber nicht explizit formulierte - Erklärung voraus, Gott habe Gute und Böse geschaffen. Selbst bei der Zuordnung der Attribute «gut» und «böse» zu einzelnen biblischen Figuren will er sichergehen, daß die Hörer nichts falsch interpretieren: «quia et Joseph corpus Jesu a Pilato aeeepit» (1.193) wird deshalb mit «car Joseph, qui estoit preudom, prist le cors Nostre Seignor de Pilate, qui estoit maus hom» übersetzt. Auch bei der Erwähnung der Väter-Hölle in 111.22 greift der Übersetzer gleich mehrmals ein: Den Verlust des Gottesreiches erklärt er mit einer Umschreibung der Ursünde, die er selbst ergänzt («par le pechie de nostre primerain pere Adam»), und auch die biblische Beispielerzählung vom reichen

72

Erstbeleg für 'elucider' nach Tresor de la langue frangaise, t. 7, p. 865b und Godefroy, t. IX, p. 430a ist 1480. 75

Mann und dem armen Lazarus, ein theologischer Topos bei diesem Thema, wird verdeutlichend ausgeführt: 111.22: .. .unde et dives rogabat a Lazaro guttam super se stillari. (EL) .. .car Ii riches hom qui estoit en anfer, si pria saint Abraham qu'il Ii anvoiast le Ladre et que il Ii degoutast une goute deseur sa langue pour soi refroidier, car il estoit tormantez en flambe. (Ül) Diese zusätzlichen Erklärungen können bis hin zu verdeutlichenden Rechnungen gehen, damit dem Rezipienten die Bedeutung der symbolischen Zahlen nur nicht entgeht. So beschränkt sich der Übersetzer in ΙΠ.7 nicht auf den Hinweis, daß 30 aus 10 und 3 bestehe, sondern gibt auch noch die Rechenoperation an, durch die diese Beziehung zustandekommt. Offensichtlich rechnete der Übersetzer auch nicht mit der Kenntnis der Bezeichnung «decalogus» und ihren Bezug zur Zahl 10, da er diese umschreibend wiedergibt: Triginta per tria et decern surgunt; per tria nova lex propter fidem Trinitatis, per decern vetus lex propter decalogum intelligitur. (EL) Li nombres de tränte si est fez de trois et de dis; car par trois foiees dis ce sont trente; par trois devons nous entendre la nouvelle Loi por la fei de la Trinite, e par .χ. devons entendre la veille Lei pour les .x. coumandemens qui illuec sont donne. (Ül)" Zusammenfassend läßt sich sagen, daß der Übersetzer recht häufig mit verdeutlichenden Erklärungen in seine Vorlage eingreift, die nur dann Sinn machen, wenn er vermuten mußte, daß seine Adressaten den Text sonst nicht mehr oder falsch verstehen würden. Daran wird einmal mehr deutlich, daß sein Publikum nicht zu den Gebildeten zählt.

2.3.

«Mes eil qui... simplement entendent74» Das Bemühen um einfache Wahrheiten

Auffällig oft wird im Lucidaire ein lateinisches «creditur» oder «dicitur» bei der Übersetzung übergangen, so daß die im Elucidarium als solche gekennzeichnete Lehrmeinung als eine sichere Information erscheint. 1.11:

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74

Tres caeli dicuntur: unum corporate, quod a nobis videtur; aliud spirituale, quod ... angeli inhabitare creduntur... (EL) Trois cieuz sont: Ii .i. corporeus, ce est eil que nous veons; Ii autres espiriteuz, ce est eil ou Ii ange conversent... (Ül)

Ein ähnliches Rechenexempel gibt υ in 1.157 mit der Ergänzung, daß 4x10 vierzig ergibt, und so den Zusammenhang zwischen den 40 Stunden des Todes Jesu, den vier Teilen der Welt und dem Dekalog deutlicher herausstellt als das EL und die übrigen Hss. Lucidaire, 11.33.

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111.30: Quae autem in inferno sunt, nulli apparere possunt; si autem aliquando videntur apparere sive in somnis sive vigilantibus, non ipsae, sed daemones creduntur in illarum specie... (EL) Et seles qui sont en anfer ne se pueent moustrer a nul home qui soit vif en cest siecle; et lors quant cil home se demonstrent de qui nous creons et savons que il sont dampne ou en veillant ou en dormant, se ne sont il pas, eins sont deable en lor samblance. (Ü1)

Im zweiten Beispiel wird nicht nur die Aussage als unumstößlich wahr hingestellt, das lateinische «creduntur» wird übersetzt, aber nicht wie im Original auf den Teufel bezogen, von dem man annimmt, daß er in Form der Verdammten erscheine (dies erscheint als sicher), sondern auf den Verstorbenen bezogen, von dem man annehmen muß, er sei verdammt 75 . Der Übersetzer des Lucidaire vermeidet es darüber hinaus, Themen anzuschneiden, die zu Kontroversen Anlaß geben oder im Gläubigen Zweifel an der Kirche oder ihren Vertretern aufkommen lassen könnten. Auch Probleme wie die Macht des Teufels oder die Erwählung der Sünder, die unter Umständen geeignet sein konnten, die Menschen an der Notwendigkeit eines moralisch guten und den Lehren der Kirche entsprechenden Lebens zweifeln zu lassen, werden von ihm in aufschlußreicher Weise behandelt. 2.3.1.

Abweichende oder anstößige Meinungen

Schon im Elucidarium werden nur selten verschiedene Meinungen nebeneinandergestellt oder wird auf andere Erklärungsmöglichkeiten angespielt. Honorius geht damit einen ganz anderen Weg als die universitäre Theologie, die in Sentenzen und Quaestiones disputatae verschiedene Meinungen gegenüberstellt, um schließlich auf höherer Ebene oder durch genaue Unterscheidungen eine Lösung zu finden. Honorius gibt meist nur das Ergebnis an, eine Diskussion verschiedener Meinungen erfolgt nicht76. Ähnlich geht Pierre de Peckham in seiner Bearbeitung der Sentenzen des Petrus Lombardus in La lumiere as lais vor77. Gelegentlich jedoch werden auch von Honorius zusätzliche Erklärungsmöglichkeiten angesprochen, die sich nicht immer nahtlos mit der erstgenannten Erklärung vereinbaren lassen. Dies gilt z.B. für die Person des Richters im Jüngsten Gericht. Daß dies der Sohn sein wird, ist kirchlicherseits unumstritten, was auch in III.56 erklärt wird, von Honorius ergänzt um die 75

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Ähnliche Auslassungen verschiedener Formen von credere finden sich in 1.174, III.5 und 111.36; übersetzt wird creditur nur in 1.166 und 111.42. Cf. dazu auch schon Lefevre 1954, p. 206: «II ne cherche pas ä faire reflechir son auditeur ou son lecteur, moins encore ä provoquer une discussion, mais ä satisfaire sa curiosite et ä apaiser ses inquietudes en tranchant les difficultes et en apportant ä chaque question la reponse, la seule reponse valable qu'il convient d'accepter.» Hessenauer 1989, p. 12. 77

Information «quamvis Pater et Spiritus Sanctus ei cooperentur». Diese Mitwirkung der beiden anderen göttlichen Personen, die die Richterfunktion des Gottessohnes zu schmälern schien (eine genauere Differenzierung der einzelnen Funktionen fehlt auch im Elucidarium), unterbleibt in der Übersetzung. Ähnlich fehlen gleich in der darauffolgenden Frage die zwei weiteren Erklärungsmöglichkeiten für das Sitzen Christi im Gericht: Christus dicitur nunc stare et pro sponsa sua pugnare; tunc, devictis hostibus et sponsa ad se recepta, in maj estate sedebit, hoc est humanitas in divinitate requiescet. Super sedem suam etiam sedebit, quia ab omni labore in Ecclesia cessabit. Tarnen, quia homo ibi apparebit, super sedem de aere sumptam ut judex sedere creditur. Besonders die letzte, mit «tarnen» eingeleitete Erklärung, stellt einen Widerspruch zur ersten dar: Nachdem die Redeweise vom (Richter-)Stuhl Christi gerade als bildliche Ausdrucksweise erklärt war, wird nun doch wieder ein zumindest anscheinend wörtliches Verständnis gefordert - auch hier übergeht der Übersetzer die weiteren Erklärungen. Sogar dann, wenn die unterschiedlichen Erklärungen nicht in Widerspruch zueinander stehen, wird meist nur eine Antwort übernommen, so in 111.32 bei der Frage nach der Ursache von Träumen, wo sowohl der Teufel als möglicher Urheber als auch natürliche Ursachen übersprungen werden: Unde veniunt somnia? - Aliquando a Deo, cum aliquid futuri revelatur, .... Aliquando a diabolo, cum aliquid turpe videtur aut bonum impedire nititur, ut in passione Domini de uxore Pilati legitur. Aliquando ab ipso homine, cum, quod viderit vel audierit vel cogitaverit, hoc in somnis imaginatur et in timore positus per tristia, in spe per laeta ludificatur7*. In 1.171 wird die Frage, weshalb die Aufzählung der Erscheinungen Jesu in den Evangelien von dem in der vorausgehenden Frage genannten differiert, in der Übersetzung nur mit dem Hinweis beantwortet, die Evangelisten wollten nur aufschreiben, was allgemein bekannt war. Es fehlt das Zitat Joh 20,30 und die nachfolgende Erklärung «In aliis autem quaedam, non tarnen omnia, inveniuntur.» Die Abweichung der einzelnen Evangelien voneinander, die lange Zeit ein Problem darstellte und durch Evangelienharmonien zu beseitigen gesucht wurde, ist für die Übersetzung - anders als für das Elucidarium - offensichtlich kein Thema, vielleicht weil sie geeignet war, in «schlichteren Gemütern» die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Evangelien aufkommen zu lassen. Auch hier kann wieder der friaulische Müller Menocchio als Beispiel dafür dienen, daß solche Vermutungen nicht einer modernen Überheb-

7

* Daß die Erwähnung des Teufels dabei wegfällt, könnte auch mit den unter 4.1. angesprochenen Gründen zu tun haben. Für die natürlichen Ursachen gilt dies jedoch nicht.

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lichkeit gegenüber der allgemeinen religiösen Bildung im Mittelalter entspringen, denn er äußert im Verhör durch die Inquisition: Um die Evangelien glaube ich, daß sie zum Teil wahr sind, und zum Teil haben sie die Evangelisten aus ihrem Him hinzugetan, gleich wie man an den Passionsgeschichten sieht, die der eine auf eine Weise erzählt und ein anderer auf eine andere Weise79. Fraglich ist für den Lucidaire dann allerdings, weshalb nicht 1.171 ganz unterbleibt, das eine ähnliche Frage aufgrund der Diskrepanz von kirchlicher Lehre und Evangelien, die in der Antwort, so wie sie nun formuliert ist, bestehen bleibt, ja geradezu provoziert 80 . Es könnte sein, daß der Übersetzer doch mit einem Publikum rechnete, dem die Bibel vertraut war, und dem die unterschiedlichen Aussagen von Lucidaire und Evangelien auffallen konnten. Eine befriedigende Lösung bietet sich jedoch nicht an. Daß diese Stelle als problematisch empfunden wurde, zeigt der Redaktor von F, der die Aufmerksamkeit von der methodologischen Ebene der unterschiedlichen Antworten auf den Grund für die Bevorzugung Maria Magdalenas und die grundsätzliche Frage nach der Information über die Erscheinungen Jesu verlagert. Das Ärgernis wird damit zwar nicht beseitigt, kommt aber weniger zu Bewußtsein und wird so entschärft: Por coi dit l'Evangile qu'il s'aparut premierement a Marie Magdelainne? - Por le tres grant desir qu'il savoit qu'elle avoit en son euer de sa resurreccion. Comment a l'en seu de ses choses? - Par les evangelistres qui furent piain de mult grans auetorites, car il ne vodrent escrire se ce non que il savoient. 1.169 enthält zwar kein Konfliktpotential in Form von gegensätzlichen Antworten, wohl aber einen Punkt, der - konsequent weitergedacht - anstößig wirken konnte: «Apparuit vestitus? - Vestes ex aere assumpserat, quae, eo ascendente, in aerem evanuerunt.» Der Lucidaire übernimmt deshalb nur die Aussage von den Kleidern aus Luft und läßt deren Auflösung über den Wolken weg. Die möglicherweise Anstoß erregende Aussage von der Nacktheit Jesu bei seiner Himmelfahrt wird so vermieden. Hier läßt sich wiederum eine Parallele zu den Ratschlägen für Prediger beobachten, denn Petrus Cantor empfiehlt in seiner Summa de sacramentis et animae consiliis: «Forte pretermittende sunt circumstantie predicatori, quas pudendum est in omnium audientia nominare 81 .»

Ginzburg 1990, p. 36. "" Nur R unterdrückt die gesamte Frage. 1,1 Pars II, Cap. III, zit. bei Forni 1981, p. 30, Anm. 65. Cf. auch Second Lucidaire, Handschrift a, die noch deutlicher formuliert: «il fist vestement tel comme il volt, comme celui qui est tout puissant; auxi il monta vestu.» (D. Ruhe 1993, p. 212). 79

Auch die Beschreibung der menschliche Gestalt Jesu in 1.140 wird vom Übersetzer und einzelnen Kopisten verändert. Während die Übersetzung nur eine leichte Einschränkung am abstoßenden Aussehen Jesu vornimmt, können sich einzelne Schreiber den Gottessohn nicht als häßlich vorstellen. T, das als einzige Handschrift das belegende Jesaja-Zitat kennt, nimmt dafür sogar einen eklatanten Widerspruch in Kauf: ...sub larva apparuit, quia forma despicabilis fuit; unde dicitur: «Vidimus eum non habentem speciem neque decorem.» (EL) Mes selonc la forme que il avoit, estoit assez de vil (DP: bele) personne. (ÜL) .. .si avoit pris autre forme de bele personne dont Ysayes dist: Vidimus eum non habentem speciem neque decorem. (τ, ähnlich υ ohne das Bibelzitat)*2 Es unterbleibt auch in II.5 la der im Elucidarium breit ausgeführte Vergleich von Christus und der Kirche mit einer ehelichen Gemeinschaft, der bei einem mit bildlicher Ausdrucksweise wenig vertrauten Publikum, vielleicht auch wegen fehlender sprachlicher Nuancierungsmöglichkeiten im Französischen, zu Mißverständnissen führen konnte. 2.3.2.

Fehlverhalten von Kirchenvertretern

Zur Kritik an der Kirche herausfordern konnte auch eine zu deutliche Bezugnahme auf das Fehlverhalten von Kirchenvertretern. Dieses Thema wird zwar bei den Auswirkungen des Sakramentenempfangs bei unwürdigen Priestern indirekt behandelt, dort aber im wesentlichen damit beantwortet, daß es Sache der Kirche sei, sich darum zu kümmern; habe diese einen Priester nicht verurteilt («se il ne sont pueploiement gete de sainte Yglise» 1.198), habe der Gläubige nichts zu befürchten83. Andere volkssprachliche Texte sprechen noch deutlicher aus, daß der einzelne Gläubige und weltliche Institutionen geistliche Würdenträger nicht verurteilen dürfen: Se Ii clerc mesfunt rien, laissiez lei Deu vengier. / II sunt vostre prelat; nes avez a jugier. / Ε tant repoent il oriblement pechchier / Ke les ordres perdrunt; nes poez plus charger. / S'a mesfait sunt puis pris, purrez les justisier"4. 82

M u

Diese Elucidarium-Frage wird auch von Nicolas Eymeric kritisiert und die Lehre vom abstoßenden Aussehen Christi als «haeresis» bezeichnet (ed. Lefövre 1954, p. 496). Die Meinung zu dem in dieser und der nachfolgenden Frage ebenfalls angeschnittenen Problem der wahren Natur Jesu, d.h. seiner Gottheit und Menschheit bei gleichzeitiger Leidensfähigkeit, die von Eymeric ebenfalls kritisiert wird, wird jedoch vom Übersetzer unverändert übernommen. Allenfalls F und R, die die Fragen 140 (F) und 141 (R) weglassen, zeigen sich vorsichtig. Cf. dazu ausführlicher Kap. 3.1.4. Emmanuel Walberg (ed). Guernes de Pont-Sainte-Maxence, La vie de saint Thomas Becket. Paris 1964, p. 2. Die Thomas-Vita bezieht sich hier vor allem auf weltliches 80

Dies kommt auch in der Formulierung zum Ausdruck, die υ der Antwort auf die Frage nach dem Ämterkauf (11.18) gibt: Qui eas emunt, cum Simone interitum subibunt; qui vero vendunt, cum Giezi lepram animae incurrunt. (EL) Ceulx qui les acquate sont excommenie et dampnes, et eil qui les vandent si sont esperis de l'ame ainsi comme feus et sont dampnes pareillement, mais il s'en fault actendre a la pugnicion de Dieu. (υ) Etwas ganz anderes ist es jedoch, solches Fehlverhalten direkt anzusprechen und sogar als - abschreckendes - Beispiel zu benutzen. Honorius tut dies in 111.30, wo er als Beispiel für die Erscheinung von Seelen aus der Hölle neben dem Verbrecher, der dem heiligen Martin erschien, auch das Beispiel des Papstes Benedikt schildert, der wegen seiner Verfehlungen gequält und beim Gericht in der Hölle verdammt werden wird: ... ut anima Benedicti papae in monstro apparuit, cujus caput et cauda asinus, medietas ursus fuit, quae se die noctuque per aspera et ignea loca trahi et post judicium deglutiendam asseruit olla gehennali. Selbst auf die abschreckende Wirkung eines solch drastischen Beispiels verzichtet der Übersetzer, um nicht gerade einen Papst als schweren Sünder bezeichnen zu müssen. In 11.33 werden mehrere Personengruppen genannt, die keine Entschuldigung haben, wenn sie den Willen Gottes nicht tun; von diesen drei Gruppen werden in der Übersetzung aber nur die «vilains» erwähnt. Es könnte sein, daß der Übersetzer die anderen beiden wegläßt, wie er des öfteren Beispiele oder Aufzählungen kürzt. Möglicherweise hat ihn aber auch die Tatsache dazu veranlaßt, daß dort die «clerici» als diejenigen genannt werden, «qui... per ingenium scire possunt, sed per malitiam scire dissimulant.» Zwar sind mit «clerici» hier sicher alle Gebildeten gemeint, doch kann wegen der Doppeldeutigkeit des Wortes die Ableitung einer Kritik an der Geistlichkeit nicht ausgeschlossen werden85. Gericht über Geistliche: «£'otreia saint Thomas, senz decre e senz lei, / Pur le rei refrener d'ire e de desrei.» (ibid.) Der gleichen Meinung, hier direkt auf das Verhältnis des Priesters zu seiner Gemeinde bezogen, gibt das Enseignementd'un pere a sonfils Ausdruck: «Si saches que chascuns doit son prestre ennorer et amer et obeir a lui. Mes il i a tieus qui dient que Ii prestres est de si mauvese vie que noiianz vault il que .i. autre; et coment l'amera Ten et ennorera? Mes il se devroient porpensser que se il est si mauves que il ne doie pas estre tenuz por serjant Dieu, si n'est pas a jugier a eis.» Vielmehr solle man Mitleid mit dem Priester haben, wenn man ihn fehlgehen sieht. Der Grund für das Mitleid soll sein, daß der Priester zwar Mensch ist wie jeder andere, aber vom Teufel schlimmer angegriffen wird. (BN fr. 1036, f. 86rb und va) "s Nicht erklärt werden kann damit, weshalb im weiteren auch die Nennung derer «qui ... bona audire nolunt et quae debent facere discere contemnunt» unterbleibt.

81

In 1.179 fehlt bei der Erklärung der Kirche als Leib Christi mit vielen Gliedern die Gruppe der «immundi» in der Kirche. Die betreffende Stelle war vermutlich schon in der lateinischen Vorlage gekürzt86; soweit sich dies aufgrund der erhaltenen Handschriften aus dieser Gruppe beurteilen läßt, waren die «immundi» dort aber aufgeführt. Das Fehlen der schlechten Menschen bei der Aufzählung des Leibes Christi könnte durchaus dem Bestreben entstammen, die Kirche als rein und heilig darzustellen. Übersetzung 1 geht damit ähnlich vor wie Übersetzung 587, die allerdings alle negativ konnotierten Glieder wegläßt, während Übersetzung 1 die Häretiker als Auswürfe, d.h. nicht mehr zur Kirche gehörend, bezeichnet, sie aber trotzdem noch nennt. Umgekehrt erscheinen die Heiligen in der Übersetzung als makellose Menschen, denen jede menschliche Schwäche fehlt; so wird in 1.170 die Erinnerung an den Verrat des Petrus übergangen88. Ebenso fehlen III.l 11-114, in denen von den Sünden von Maria Magdalena, Petrus und Paulus die Rede ist. Erst recht darf nicht auch nur die Spur einer Kritik - und sei es nur in Form von Verwunderung - an Gottes Verhalten laut werden, selbst wenn diese sofort widerlegt wird: Cum Deus summe bonus et summe sanctus nonnisi bonas et sanctas animas creet et ipsae propter obedientiam ejus corpora intrent, omni admiratione et omni stupore est mirandum cur eant in infernum... (11.35)

Es versteht sich fast von selbst, daß die Formulierung «omni admiratione et omni stupore est mirandum» in der Übersetzung fehlt89. 2.3.3.

Die Sünden der Erwählten

Will man die Gemeinschaft der Kirche als etwas Reines und Heiliges darstellen und die Gläubigen zu einem makellosen Leben anhalten, das eines Tages mit dem ewigen Leben belohnt wird, wirkt die im Elucidarium mehrmalige Erwähnung der Gnade Gottes gegenüber den Sündern und der Möglichkeit der Sünder, zu den Erwählten zu gehören, kontraproduktiv. Im Lucidaire wird nach Möglichkeit der Hinweis darauf, daß auch Sünder zu den Erwählten gehören, gestrichen. So erklärt das Elucidarium in 11.63: "fi Cf. ed. Lefevre 1954, p. 394, Anm. 4. *7 Kleinhans 1993, p. 174. "" In R, τ und υ wird der Verrat zwar erwähnt, aber in so unterschiedlichen Formulierungen, daß er vielleicht unabhängig später wieder ergänzt wurde. Ebenso wird in DII.2, wo nach dem anscheinenden Widerspruch zwischen der Schöpfung aller Dinge durch Gott (was auch das Böse einschließen würde) und seiner Unfähigkeit zum Schlechten gefragt wird, der Teilsatz «et sequitur quod Deus sit auctor mali» weggelassen; das Faktum an sich aber wird erwähnt.

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Tarnen, ut columba pura grana eligit, ita Christus electos suos de his omnibus generibus latentes colligit, qui etiam quosdam de genere latronum assumit. In der Übersetzung fehlt der Hinweis auf die «latrones»; es wird allgemein von den «homes de cest siecle» gesprochen, was zwar auch Sünder einschließt, in Verbindung mit dem vorausgehenden Vergleich mit den «meilleurs grains de forment» aber den Zuhörer zu dem Schluß führen muß, nur die Besten würden von Gott erwählt. In der Handschrift ρ wird diese Stelle sogar in diesem Sinn verändert: «Mais tout ausi com Ii colons elit les moillors grains, tout ausi eslit Nostre Sires les moillors entre les hommes dou siegle.» In 11.65, das die Gnade Gottes nur für die reuigen Sünder hervorhebt, fehlt wiederum der letzte Satz, der die deutliche Unterscheidung in Frage stellen könnte, weil dort von der - einzigen - Form der Gnade Gottes auch für die «injusti» (in Form von unterschiedslosem Sonnenschein oder Regen für Gerechte und Ungerechte) gesprochen wird. Die Reue bzw. Strafe oder Buße für die Sünden steht auch in 11.83 im Mittelpunkt; daß nicht nur die Buße durch Leiden («tourment»), sondern auch die Fürbitte von Heiligen die Sünder aus den ewigen Qualen befreien kann («quidam orationibus sanctorum de poenis liberantur»), unterbleibt wiederum. Die Übersetzung des letzten Satzes ohne «orationibus sanctorum» läßt die französische Formulierung nur als Zusammenfassung des Vorausgegangenen erscheinen; υ ergänzt sogar noch einmal ausdrücklich «par l'aspre mort et par la grant contricion». 11.29 scheint dem hier Gesagten zunächst zu widersprechen, denn dort wird auch im französischen Text erklärt, daß die Vörherbestimmung zu Rettung oder Verdammung unfehlbar ist: «Quel chose que eil facent que Dieus a eslit, ne pueent pas perir, car lor pechies torne Nostre Sires a bien90.» Auch hier verändert der Übersetzer aber in der Fortsetzung dieses Satzes den lateinischen Text. Aus «et de sua salvatione uberiores laudes Deo referunt» wird «et quant il seront delivre de la mauvestie del siegle, si rendront graces a Nostre Seignor», wodurch der Akzent von der unverdienten Errettung aus der ewigen Verdammnis auf die Befreiung aus dem «irdischen Jammertal» verlagert wird. Ein wenig wird damit dem störenden Faktum von der Erwählung auch schwerer Sünder die Spitze genommen. Umgekehrt vermeidet es der Lucidaire möglichst, positive Seiten der «reprobi» anzusprechen. Deshalb unterläßt er in 1.190 bezüglich der Gültigkeit der Sakramente die Aussage, daß Gott auch durch seine Feinde Gutes wirken kann. Vor allem unterbleibt der Hinweis, daß sie sogar den noch nicht perDie Vorstellung, daß die menschliche Sünde in Lob («los») Gottes verwandelt werden könne, bereitete den Kopisten offensichtlich Schwierigkeiten («.. .est tout tourne el dos Nostre Seignor» ABCDEGHIJK, II.4) bzw. wird umgedeutet («.. .est tot torne a la deshonor Nostre Seignor» OPQ), um die abschreckende Wirkung der Sündenschuld nicht zu gefährden; die Variante der Gruppe OPQ ist vielleicht mit bedingt durch die doppelte Bedeutung von «los». 83

fekten Erwählten ein Beispiel sein könnten. So fehlt z.B. die gesamte Frage 11.10, in der das Elucidarium in aller Ausführlichkeit erklärt, wie die Verdammten den Erwählten dienen, nämlich u.a. durch vorgetäuschte gute Werke, die den Erwählten als Vorbild dienen können. Auch in II.8 wird in bezug auf die in die Welt zurückkehrenden Mönche die Möglichkeit übergangen, daß sie durch ihr zunächst gutes Beispiel die Erwählten zu Gott führen, selbst aber aufgrund ihrer späteren schlechten Taten verdammt werden. Wie ungeschickt der Übersetzer hier in seinem Bemühen ist, den Verdammten keinesfalls eine Vörbildfunktion zukommen zu lassen, zeigt der Erhalt des nun vollkommen beziehungslos dastehenden Nachsatzes «Et en ceste maniere sert Ii deables a Nostre Seignor»91. Symptomatisch für diesen vorsichtigen Umgang mit der möglichen positiven Wirkung des Bösen in der Welt ist auch die Tatsache, daß im lateinischen Elucidarium in der Handschrift Oxford, Laud. lat. 18 mit «et per inimicos salutem filiis operatur» genau der Teilsatz aus 1.190, der in der Übersetzung unterdrückt wird, sorgfältig ausradiert ist. Die Reinigung der Erwählten durch die Teufel bzw. ihre «membra» dagegen wird im wesentlichen beibehalten - womit indirekt natürlich auch wieder die Sünde der Erwählten zugegeben wird. Da aber hier das andere Problem der Funktion des Bösen in der Welt im Vordergrund steht, dringt das zweite nur bei genauer Betrachtung ins Bewußtsein. Gleichzeitig wird im Lucidaire alles abgeschwächt, was den Status der «mali» in dieser Welt verlockend machen könnte: ihre Reichtümer sind nur dazu da, daß von den guten Menschen verachtet wird, was die schlechten so überreich haben; jede weitere Erwähnung (die im Elucidarium recht ausführlich ist und u.a. darauf eingeht, daß dies Belohnung für etwaige gute Taten sein kann) unterbleibt92; außerdem haben die «mal home» den Reichtum 91

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In τ und υ ist die Antwort zwar vollständig, aber jeweils so verderbt, daß der Sinn nicht mehr zu erkennen ist; vgl. aber auch die aufschlußreiche falsche Zuordnung von «errantem» («qui folie») zum Diener statt zum Sohn: «Souvente fois trait le filz a son pere le serf qui folie a son seignour» in υ. Divitiis abundant primo, ut mala quae concupiscunt justo judicio Dei explere per pecuniam valeant; secundo, ut, si qua bona fecerint, per haec remunerentur; omnia enim quae faciunt pro terrenis agunt, unde et mercedem suam recipiunt. Potentia splendent primo propter seipsos, ut mala quae amant potenter expleant; secundo propter reprobos, ut eos in malis defendant; tertio propter electos, ut eos castigent et a malis actibus emendent. Sospitate autem pollent nec cum hominibus flagella sentiunt, ut post eos gravior dolor excruciet. (II. 11) Ähnlich werden in 11.73 die möglichen Belohnungen der «reprobi» für etwaige gute Taten, die im Elucidarium recht ausführlich und unterschieden nach diesseitiger und jenseitiger Belohnung aufgeführt waren, in der Übersetzung nur mit einem knapp zusammenfassenden «selonc ce que Ii home auront fait, si sera guerredonne en cest sieccle ou en l'autre» bedacht. Lediglich υ differenziert hier ähnlich wie das Elucidarium, wenn es am Ende von 11.73 ergänzt: «car Ii mavais s'il font aucung bien, Dieu leur rent par propseritez [!] mondainne ou qui ne seufrent my si grant tourment a 1' ame.»

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sowieso nur «par samblant» (Zufügung der Übersetzung in II. 16). Aufgezählt werden deren Vergünstigungen auch nur, um ihnen sofort die dafür im Jenseits zu erwartenden Strafen gegenüberzustellen (11.16). Charakteristisch hierfür ist auch die Umdeutung des Endes von II. 15, wo Honorius lehrt, daß letztendlich den Schlechten nichts Gutes geschehe, den Guten aber nichts Böses, was in fast allen Handschriften umgekehrt wird93. Die große Zahl derartiger Veränderungen, die zudem über fast das gesamte Buch II verstreut sind, zeigen das konsequente Bemühen des Übersetzers, das Thema der Errettung schwerer Sünder zu vermeiden. Offensichtlich soll nicht zu klar gesagt werden, daß nicht nur diejenigen zu den Erwählten gehören, die ein heiligmäßiges Leben führen, sondern auch die zu ihnen zählen können, die es aufgrund ihres Lebens nicht verdienen. Gleichzeitig werden die Verlockungen, welche die Situation dieser «mali» auf Erden bietet, nur als abschreckendes Beispiel genutzt. Denn dies könnte sonst bei oberflächlicher Betrachtung die Reaktion auslösen, eine eigene Anstrengung sei nicht mehr nötig, da nicht unbedingt der Lebenswandel über ewiges Heil oder ewige Verdammnis entscheidet94. Noch einmal wird in 11.59 deutlich, wie sehr die Übersetzung die Vermischung der Kategorien von Gut und Böse fürchtet: Das Elucidarium betont hier in Zusammenhang mit dem Jüngsten Gericht, daß gut scheinende Menschen sich als schlecht erweisen könnten und umgekehrt. Der Übersetzer hält es zwar für möglich, daß jemand, der sehr gut scheint, in Wirklichkeit schlecht ist, aber die schlecht Scheinenden können bestenfalls «assez bon» sein. Es sollte sich wohl beim Publikum nicht die Meinung festsetzen, daß man für die Erlangung des ewigen Heils nicht arbeiten müsse; zumindest etwas von der moralischen Güte muß schon im Leben für alle erkennbar sein.

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Cf. auch in Q die Betonung der Liebe zum Guten oder Bösen, die den Eintritt ins Reich Gottes ermöglichen bzw. verhindern: «quar ill ont grans joie de cele seurte en la quel malvais n'entrera ja, quar Ii maus n'aime ja bien ne Ii bons riens de mal», wie die Handschrift das Ende von 11.15 in signifikanter Weise verändert. Cf. dazu auch unten Kap. 3.2. 85

2.4.

Zusammenfassung: Der implizite Übersetzer und sein intendierter Leser

Ein genauer Vergleich von Lucidaire und Elucidarium ergibt, daß der anonyme Übersetzer im allgemeinen sorgfältig und geschickt gearbeitet hat. Er gibt seine Vorlage präzise wieder, wobei ihm nur selten Fehler unterlaufen 95 . Dazu bemüht er sich, ohne Fremdwörter und Neologismen auszukommen und sich von lateinischen Satzkonstruktionen frei zu machen, was ihm manchmal sehr elegant gelingt, manchmal aber auch zu holprigen Sätzen führt oder auf Kosten theologischer Präzision geht. Auch die Bibel kennt er gut genug, um die Vorgaben des Honorius nach seinen eigenen Vorstellungen zu verändern. Weiter bemüht er sich darum, eindeutige Lehrmeinungen ohne Diskussion oder Einschränkung darzustellen und alles zu streichen oder zu verharmlosen, was einfachere Gläubige auf falsche Gedanken bringen könnte. Die weitere Untersuchung wird zeigen, daß er auch mit der Theologie seiner Zeit vertraut genug war, um problematische Stellen auszusparen oder zu entschärfen. Er selbst jedoch zeigt sich keineswegs von seiner Arbeit überzeugt: Während Honorius zwar seinen Namen aus Angst vor Neidern verschweigen will, sein Werk aber dennoch für ein «utile opus» hält, spricht der Übersetzer nur noch von «eist livres», für das er auch nicht mehr nur noch Verachtung, sondern Zerstörung befürchtet, wobei er zudem seine eigene Person mehrmals herabsetzt («itel pecheour comme je sui», «une anuieuse personne comme je sui», beides von ihm eingefügt). Hier sind sicher die Auswirkungen einer exzessiven Bescheidenheitstopik zu sehen. Vielleicht ist aber in der Verschärfung gegenüber der lateinischen Vorlage ein Hinweis auf ein geistig und moralisch dem christlichen Glauben fernerstehendes Publikum in den Text eingeschrieben. 95

Die Formulierung von DI.26 («.. .pour quoi il fist le nombre des esliz tout seulement des anges») geht nicht auf das lateinische «Cur numerum electorum noluit tantum constare ex angelis», sondern auf ein verlesenes «voluit» für «noluit» zurück. In 11.75 wurde bei «Daemones vera formulas intrabant et populum per responsa seducentes ludificabant» als letztes Wort «judificabant» gelesen, was zu der Übersetzung «Et Ii deable entrerent dedens les ydoles et si parloient au pueple et fesoient les jugemenz» führt. In 1.23 wurde «excedi» («quem nec liceret excedi») als eine Form des Verbs «exire» aufgefaßt: «dont il james n'istront», in 11.19 werden aus den «in saecularibus praelati» «prelat et justise de sainte Yglise», die jedoch schon vorher behandelt waren, in 11.95 schließlich wird «in extremis (agere)» mit «quant nous sommes fine de cest sieccle» übersetzt, was jeder Logik widerspricht, da der Mensch nach dem Tod keine Buße mehr tun kann. Auch das ungenaue sechste Schöpfungswerk in 1.20 ist wohl unter die Übersetzungsfehler zu rechnen. Ebenso geht wohl die Fassung «comme se tout fust escrit devant lui» in 1.13 auf eine Formulierung zurück, in der «(prae)scivit» als eine Form des Verbs «praeseibere» mißverstanden wurde. 86

Die Veränderungen im Text lassen vermuten, daß dieser Anonymus generell mit einem nur wenig gebildeten Publikum rechnete: Er fügt Erklärungen ein, wenn ihm ein Begriff nicht bekannt zu sein scheint, und läßt komplizierte Gedankengänge klarer hervortreten, indem er die im lateinischen Text mitgedachten Implikationen explizit in den Text aufnimmt; umgekehrt läßt er weniger wichtige Details ganz weg. Auch der Wegfall von zahlreichen Bildworten, Allegorien und Vergleichen kann Rücksichtnahme auf weniger gebildete Benutzer darstellen, denn diese setzen meist ein breiteres Wissen und ein gewisses Maß an Abstraktionsfähigkeit voraus. Wo daher ein Konkretum statt eines Abstraktums oder eines Bildes zur Verfügung steht, ersetzt dieses das Schwierigere; wo allegorische Auslegungen ohne Gefahr für den Sinn wegfallen können, fehlen sie meist. Steht jedoch eine Allegorie zur Verfügung, um einen schwierigen, aber unverzichtbaren Sachverhalt zu erklären, wird diese übernommen und kann sogar breiter ausgeführt werden. Eine zweite theologische Argumentationsweise wird stark eingeschränkt: der Schriftbeweis. Anders als im Elucidarium werden Schriftzitate hauptsächlich dann verwendet, wenn sie integraler Bestandteil der Frage oder Antwort sind, nicht jedoch, wenn sie eine These oder Information lediglich stützen sollen. Der Autor hat es offensichtlich nicht nötig, sein Publikum zu überzeugen; sein Ziel ist Information, die von den Rezipienten nicht hinterfragt werden soll und wird. Sowohl die Vermeidung jeder Diskussion verschiedener Thesen als auch die Aussparung von zu Kritik herausfordernden Themen deuten auf ein in Glaubensdingen wenig versiertes Publikum. Dies wird noch bestätigt durch die mehrmals konstatierte Übereinstimmung zwischen der Vorgehensweise des Übersetzers und die Anweisung für Predigten an «illiterati» oder «rustici». Ob man dieses wenig gebildete Publikum aber ohne Einschränkungen mit «Laien» gleichsetzen darf, wie dies Lefevre96 implizit tut, muß zumindest hinterfragt werden.

** 1954, p. 286: «Pas les clercs, ä qui les textes latins 6taient accessibles et qui pouvaient s'en contenter pour leur usage personnel. Pas le peuple non plus, ä l'instruction duquel les sermons suffisaient. Mais une elite lai'que, trop peu instruite pour comprendre le latin et qu'une certaine distinction d'esprit poussait ä desirer recevoir une formation intellectuelle, morale et religieuse par le contact direct avec des livres qu'elle pouvait lire ou se faire lire.» Zum Publikum cf. auch unten Kap. 5.3.

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3.

Theologisch bedingte Veränderungen

Das bisher Gesagte hat gezeigt, daß der Übersetzer ebenso wie einzelne Kopisten den Text des Lucidaire bewußt bearbeiteten. In diesem Kapitel soll nun gefragt werden, inwieweit sich dabei Entwicklungen der Theologie und der Frömmigkeitsvorstellung im Lucidaire niederschlagen. Der Eingang des theologischen Fortschritts soll dabei an drei wichtigen Bereichen, nämlich der Sakramentenlehre, der Prädestination und der Eschatologie aufgezeigt werden.

3.1.

Die Sakramente zwischen Pastoral und Theologie

Im Elucidarium gibt es kein systematisches Sakraments-Traktat, sondern nur meist verstreute Aussagen. So wird die Taufe u.a. in 1.139,11.38,41 und 67-70 behandelt, die Beichte in 1.198,11.70-72 und III. 109. Lediglich die Fragen zur Eucharistie sind in einem Abschnitt (1.180-197) zusammengefaßt. Da der Eucharistie im Mittelalter durch die beiden Abendmahlsstreite und die damit verbundenen wichtigen lehramtlichen Entscheidungen ebenso wie durch Entwicklungen in der Volksfrömmigkeit große Bedeutung zukommt, wird sie hier ausführlich berücksichtigt, sowohl in ihren theologischen als auch in ihren pastoralen Aspekten. Die Beichte, bei der sich die Veränderungen im Lucidaire fast ausschließlich auf Ergänzungen einzelner Kopisten beschränken, wird dagegen überwiegend unter pastoralen Gesichtspunkten betrachtet. 3.1.1.

Die reale Präsenz Christi im Altarssakrament

Im Bereich der eucharistischen Theologie ist zu Zeiten des Honorius eine ganze Reihe grundsätzlicher Fragen bereits weitgehend geklärt, wenn sie auch teilweise noch weiterentwickelt und systematisiert werden. Auch Honorius vertritt schon die in der Folgezeit kaum veränderte kirchliche Lehre, so daß seine Aussagen zur Eucharistie in den Übersetzungen problemlos übernommen werden können. Das wichtigste theologische Problem bezüglich der Eucharistie während des gesamten Mittelalters und darüber hinaus ist das der Realpräsenz und der damit verbundenen Transsubstantiation1. Die Lehre, daß Christus im Altarssakrament wahrhaft gegenwärtig ist und Brot und Wein in seinen Leib und ' Ganoczy 1979, p. 67sqq.

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sein Blut verwandelt werden, bildet sich in Auseinandersetzungen des Mittelalters heraus, um schließlich zu entscheidender katholischer Lehre zu werden. Ein Kristallisationspunkt waren hierbei die sogenannten «Abendmahlsstreite». Während der «Erste Abendmahlsstreit» im 9. Jahrhundert im wesentlichen schon realistisches und symbolistisches Eucharistieverständnis konfrontiert, aber keine endgültige Lösung gesucht und gefunden wird2, führt der «Zweite Abendmahlsstreit» mit der Stellungnahme der Lateransynode von 1059 (und noch einmal 1079) gegen Berengar von Tours zu einer autoritativen Klärung der kirchlichen Position. Berengars symbolistischem Sakramentsverständnis setzt die Synode einen teilweise recht kraß anmutenden Realismus entgegen. So wird von Berengar u.a. folgendes Bekenntnis verlangt: Consentio autem ... et ore et corde profiteor ... panem et vinum, quae in altari ponuntur, post consecrationem non solum sacramentum, sed etiam verum corpus et sanguinem Domini nostri Iesu Christi esse, et sensualiter, non solum Sacramento, sed in veritate, manibus sacerdotum tractari et frangi et fidelium dentibus atteri, ... . (DS 690) In der Folgezeit wird in der Auseinandersetzung mit Berengar die Lehre von der Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi unter Beibehaltung der äußeren Form präzisiert (u.a. durch Lanfrank von Bec und Guitmond von Aversa), die die Transsubstantiationslehre im Kern enthält, auch wenn die Bezeichnung erst im 12. Jahrhundert begegnet3. Im Elucidarium scheint das Ob der Verwandlung schon kaum noch ein Problem zu sein, es geht eher um die Frage, warum ausgerechnet Brot und Wein das eucharistische Opfer bilden (1.180), und um die damit verbundene Symbolik. Auch die Identität von eucharistischem Opfer und historischem Jesus wird betont und erinnert an die äußerst realistische Auffassung der Lateransynode, die wie Honorius selbst an Paschasius Radberts Schrift «De corpore et sanguine Domini» anknüpft, mit der dieser im Ersten Abendmahlsstreit die realistische Position vertreten hatte: «Cum vere sit illud quod Maria genuit, quod in cruce pependit, quod caelos penetravit» (I.181)4. Allerdings nimmt Honorius schon etwas Abstand von einem allzu realistischen Sakra2 3 4

Gerken 1973, p. llOsq. Neunheuser 1963, p. 21 sq. Zu den Quellen des Honorius cf. Lefevre 1954, p. 136; zur Übereinstimmung von Paschasius Radbert und den Gegnern Berengars cf. Gerken 1973, p. 115. Man vergleiche auch die Ähnlichkeit von Honorius' Formulierung mit dem zweiten Berengarschen Glaubensbekenntnis von 1079: «post consecrationem esse verum Christi corpus, quod natum est de Virgine et quod pro salute mundi oblatum in cruce pependit, et quod sedet ad dexteram Patris, et verum sanguinem Christi, qui de latere eius effusus est, non tantum per signum et virtutem sacramenti, sed in proprietate naturae et veritate substantiae.» (DS 700)

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mentsverständnis, wenn er fortfährt, eben aufgrund dieser Identität sei den Menschen nur die «species» von Brot und Wein geblieben, weil man entsetzt vor Fleisch und Blut zurückweichen würde (ibid.)5. Zur Entstehungszeit des Lucidaire im frühen 13. Jahrhundert ist innerhalb der Theologie die Lehre von der Transsubstantiation als unumstritten zu betrachten, ohne daß aber deshalb die Betonung der realen Präsenz Christi unter den Gestalten von Brot und Wein überflüssig geworden wäre: Sicherstes Ergebnis der vorausgehenden Kämpfe ist die Bestimmtheit, mit der allgemein die wirkliche, reale Gegenwart des Herrenleibes nicht nur gelehrt, sondern einfach vorausgesetzt ist, wenn es gilt, gegen die «neuen Berengarianer» der damaligen Zeit die «Wahrheit» des Altarssakramentes zu verteidigen6. Das Bekenntnis zur Verwandlung von Brot und Wein wird z.B. vom 4. Laterankonzil 1215 den Katharern abverlangt7. Bei dieser Gelegenheit wird auch der Transsubstantiationsbegriff verwendet und damit offiziell in die kirchliche Lehre aufgenommen8. Diese so autorisierte Lehre kann ohne Einschränkungen in die Übersetzung des Elucidarium eingehen, wenn auch die Übertragung der damit verbundenen Begrifflichkeit in die Volkssprache nicht ohne Schwierigkeiten ist. Besonders der Begriff der «species» ist sehr fehleranfällig. Die wohl ursprüngliche Übersetzung mit «semblance9» trifft mit ihrer Bedeutung «Aussehen, Gestalt» den Sachverhalt recht genau, ist allerdings aufgrund ihrer zahlreichen weiteren Bedeutungen nicht sehr präzise. Noch schwieriger wird es, wenn statt des Substantivs eine Verbalkonstruktion gebraucht wird: In DI. 181 entspricht diese Konstruktion noch weitgehend dem lateinischen Wortlaut, zumal dieser neben «species» an dieser Stelle auch «videatur» verwendet10, d.h. es scheint sich wirklich nur noch um Brot zu handeln, da die Substanz verwandelt wurde. In 1.196 aber, wo es gerade darum geht, daß Judas nur das Brot und nicht das Sakrament empfangen hat, ist die gleiche Formulierung («mes Judas ... prist ice que pain sambloit...») unsinnig.

5

Auch das zweite Berengarsche Glaubensbekenntnis enthält schon nicht mehr die drastische Formulierung, daß der Leib Christi von den Zähnen der Kommunizierenden zermalmt würde, cf. Neunheuser 1963, p. 23 und Gerken 1973, p. 115. 6 Neunheuser 1963, p. 25. 7 Zur Bedeutung des 4. Lateranums für die Entwicklung der Transsubstantiationslehre cf. auch Neunheuser 1963, p. 29. K «Una vero est fidelium universalis Ecclesia, extra quam nullus omnino salvatur, in qua idem ipse sacerdos est sacrificium Iesus Christus, cuius corpus et sanguis in sacramento altaris sub speciebus panis et vini veraciter continentur, transsubstantiatis pane in corpus, et vino in sanguinem potestate divina.» (DS 802). 9 1.196, cf. auch 1.181. 10 Cum species panis et vini videatur, quomodo caro et sanguis praedicatur? (EL) Comment poes vous dire que il est char et sane, quant il samble et pain et vin? (Ü1) 90

Einzelne Kopisten versuchen, diese schwierigen Sachverhalte zu präzisieren: ρ arbeitet in der Frage 1.181 den Wandlungsbegriff deutlicher heraus als die übrigen Handschriften des Lucidaire, kehrt dabei die Aussage jedoch fälschlicherweise um: Comment poes vous dire que il est char et sane, quant il samble pain et vin? (.Lucidaire) Coment poez vos dire que ce qui estoit charz et sane est devenuz pains et vins? (p)

J und κ übergehen in 1.180 bei der allegorischen Erklärung des Weines die Formung des Leibes Christi aus vielen Gerechten, eine Wiederholung des Gedankens, dem schon bei der Broterklärung Ausdruck verliehen worden war, zugunsten einer unmißverständlichen Erklärung des Zusammenhangs von Kelter, Weingestalt und Blut Christi, wodurch ebenfalls der Wandlungsgedanke deutlicher im Mittelpunkt steht als in der Erklärung mittels des «Corpus Christi Mysticum» in den übrigen Handschriften: Et Ii vins si est decouruz de moutes corsons et si est mis el pressoir, autresi Ii cors Nostre Seignor si est assamblez de mout de justes; et eil vins si est tornez en sanc... (Lucidaire) Et Ii vins si est decorruz de maintes coursons, quar il fu mis ou presseur et fu apressurez de la lance et lors en issi Ii sanc; et cis sans si est faiz de vin et tourne en sanc... (JK)

Ähnlich stellt τ nach einer ohne Änderung übernommenen Formulierung den Bezug zwischen Kelter und Kreuzestod Christi her, wenn es an die Erwähnung der «justes» im obigen Zitat anfügt: «et si fu mis el prainsor de la passion de la crois». Zur katholischen Lehre vom Altarssakrament gehört nicht nur allgemein die Tatsache der Wandlung, sondern auch die Gegenwart Christi in jeder einzelnen Hostie, so daß jeder Gläubige bei der Kommunion Christus empfängt, ohne daß deshalb die göttliche Person beeinträchtigt würde. Diese Vorstellung von der Präsenz des ganzen Christus in jeder konsekrierten Hostie und gleichzeitig im «Himmel» ist bei Honorius bereits voll ausgebildet und wird auch vom Lucidaire übernommen (1.183). Nur indirekt angesprochen wird dabei das Problem des Brechens der Hostie, das zunächst nicht in Einklang mit der Gegenwart Christi zu bringen schien" : Unsicher war man langezeit, ob auch der Leib Christi zerbrochen wird. Schon Petrus Lombardus hatte in den Sentenzen die Antwort gegeben, die von der Scholastik im wesentlichen übernommen wurde: .. .sane dici potest fractio illa et partitio non in substantia corporis, sed in ipsa forma panis sacramentali fieri: ut vera fractio et partitio sit ibi, quae fit non in substantia, sed in sacramento, id est in specie12. " Cf. dazu Neunheuser 1963, p. 26. Sent. IV, Dist. XII, cap. III, p. 305.

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Und er betont auch schon die Anwesenheit des ganzen Christus in jedem Teil der Hostie: «Vera igitur est ibi attritio et partitio, sed in singulis partibus totus Christus est13.» Nur in der späten Handschrift υ wird dieses Problem in einer Ergänzung angesprochen und dahingehend beantwortet, daß auch jeder Teil der gebrochenen Hostie Christus enthält: «...et quant il le convient partir, a le foiz par les prestre, autant en a en une partie comme en tout...» (1.183) Der Lucidaire entnimmt dem Elucidarium diese grundsätzlichen Aussagen, die sich mit Wesen und Form des Altarssakramentes beschäftigen, da sie voll der kirchlichen Lehre entsprechen und von so grundlegender Bedeutung sind, daß sie keinesfalls entfallen konnten. Die Veränderungen in der Übersetzung und in einzelnen Handschriften entspringen weniger Änderungen in der Lehre als vielmehr dem Bemühen, diese schwierigen Sachverhalte klar und deutlich auszusprechen. Denn gerade Laien müssen in den wichtigsten Aspekten der kirchlichen Eucharistielehre klar und unmißverständlich unterrichtet werden: De hoc sacramento simpliciter instruendi sunt laici quod firmiter credant corpus Christi et sanguinem de pane et vino transsubstantiari, cum a sacerdote in forma ecclesie proferuntur verba transsubstantialia, scilicet: Hoc est corpus meum, et: Hic est calix, et cetera...14 Für die Schwierigkeiten weniger Gebildeter zu verstehen, was bei der Eucharistiefeier mit den Hostien geschah, kann wiederum der Müller Menocchio Zeugnis ablegen, der dem Inquisitionsgericht auf die Vorwürfe, er habe die Wandlung geleugnet, antwortete: Ich habe gesagt, daß jene Hostie ein Stück Teig ist, aber daß der Heilige Geist vom Himmel darein kommt und also glaub ich wahrhaftiglich15. Daß auch für die Rezipienten des Lucidaire größtmögliche Klarheit durchaus nötig war, dafür sprechen die zahlreichen Kopistenfehler gerade bei diesen Fragen eine deutliche Sprache: In 1.180 verändert τ die «vraie vigne» Jesus Christus, die als eine der Begründungen für die Wahl von Wein für das Altarssakrament dient, zu «vrai et digne». Nach κ wurde Jesus nicht wie ein Lamm getötet («ocis»), sondern ernährt («nourris»). Diese teilweise nicht 13 14 15

Ibid., p. 307. Richard Wetheringsett, zit. bei D'Avray 1985, p. 86, Anm. 5. Ginzburg 1990, p. 35. Allerdings handelt es sich bei Menocchio nicht um bloßes Unverständnis, denn auf Nachfrage, was denn der Pfarrer zum Altarssakrament gepredigt habe, weiß er sehr wohl die orthodoxe Antwort zu geben, aber nur, um sie gleich wieder in seinem Sinn zu interpretieren: «Er hat gesagt, es sei der Leib Christi, nichtsdestoweniger glaubte ich, es sei der Heilige Geist und dies, dieweil ich glaub, daß der Heilige Geist größer ist denn Christus, welcher ein Mensch war und der Heilige Geist ist aus der Hand Gottes gekommen.» (Ibid. p. 36).

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einmal falschen, sondern nur hier unpassenden Veränderungen zeigen, wie schwierig es war, eine komplexe Lehre so auszudrücken, daß sie auch dann noch verständlich blieb, wenn sie von Nicht-Theologen rezipiert und weitergegeben wurde. Selbst der gewöhnlich gut informierte Schreiber von υ schien sich hier nicht mehr zurechtzufinden: «et ly vinz qui est de pluseurs raisinz, si est miz ou precoir de la crois, ainsi est ly corps Nostre Sire assamble de pluseurs vinz c'est de pluseurs justes». formuliert er in einem Durcheinander von wörtlichen und übertragenen Aussagen. Eine solche Lehre übersteigt sowieso das Fassungsvermögen des menschlichen Verstandes; darauf verweist die Formulierung «pour ce que nous crerions ice que nous ne verrions» am Ende von 1.181, wobei sich der Übersetzer hier enger an die Erzählung vom ungläubigen Thomas (bes. Joh 20,29) anlehnt als die lateinische Formulierung «cum non visum sed intellectum crederes»; noch deutlicher spricht die daran anschließende Ergänzung von υ aus, daß die menschlichen Sinne zur Wahrnehmung des Sakramentsgeheimnisses nicht in der Lage sind: «.. .ce que nous ne veons si non des yeux de foy». 3.1.2.

Kommunion und Kontemplation: Die Wirkung der Eucharistie

Wenn auch der Lucidaire in den grundlegenden Aussagen das Elucidarium nur übersetzen und gelegentlich verdeutlichen muß, gibt es andere Stellen, an denen der Übersetzer in knapper, aber aufschlußreicher Weise von seiner Vorlage abweicht. So wird im Elucidarium gleich zu Beginn der Fragen zur Eucharistie (1.180) der Grund für die Wahl des Brotes für das Sakrament damit angegeben, daß dieses Nahrung («Christi cibo») für die Seele sei wie das Brot körperliche Nahrung. Im Lucidaire wird hierbei aus «Christi cibo» «parole Dieu»: Et, sicuti pane corpus nutritur, ita Christi cibo anima reficitur. (EL) Et tot ensement comme le cors est norriz de pain, tout ausi est l'ame refaite de la parole Dieu. (Lucidaire) Nicht das Sakrament ist es also, das zur Seelennahrung wird, sondern das Wort, d.h. die Lehre Gottes und der Kirche. Die Änderung ist wahrscheinlich mit bedingt durch eine Assoziation des Jesus-Wortes «non in pane solo vivit homo sed in omni verbo quod procedit de ore Dei» (Mt 4,4par); auch liegt die Verbindung von Gotteswort und geistlicher Speise und der Vergleich mit der körperlichen Nahrung der kirchlichen Tradition keineswegs fern, wie der 10. Kanon des 4. Laterankonzils - mit Berufung auf die gleiche Bibelstelle - zeigt: ...quia sicut corpus materiali, sie anima spirituali cibo nutritur, eo quod non in solo pane vivit homo, sed in omni verbo quod procedit de ore Dei16. 16

Hefele, Bd.V,2, p. 1340. 93

Die Vermeidung von abstrakten Begriffen durch den Übersetzer führt hier zu einer Umdeutung, die auch einer impliziten Abwertung des Sakramentes als Weg zum Heil gleichkommt. Hierin spiegelt sich das veränderte Verhältnis des Mittelalters zu eben diesem Sakrament und der Häufigkeit seines Empfangs: Während bei den Kirchenvätern (besonders Cyprian17) das Altarssakrament vor allem verstanden wurde als Stärkung für ein konsequentes christliches Leben, tritt dieser Gedanke bald immer mehr zurück. Die Kontemplation des Sakraments wird ab der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert, als die Elevation bei der Wandlung aufkam, im Volk sogar als Ersatz für die Kommunion betrachtet18. Auch die Häufigkeit des Empfangs erreicht in dieser Zeit einen Tiefpunkt - sogar der mindestens einmalige Kommunionempfang pro Jahr muß von Konzilien und Synoden immer wieder vorgeschrieben werden19. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht auch die veränderte Formulierung der Frage 1.183 in fast allen Lucidaire-Handschriften: Habent plus sanctitatis qui plus accipiunt? (EL) Et eil qui plus souvent le prennent, sont il plus pour ce saintefie? (Lucidaire)

Die ausdrückliche Zufügung von «souvent» bescheinigt dem Hörer, daß häufiger Kommunionempfang keine positive Auswirkung auf das ewige Heil hat. Der Übersetzer paßt somit seine Aussagen an eine veränderte Zeit und deren Frömmigkeitsvorstellungen an. Mit der Wirkung des Sakraments beschäftigt sich der Übersetzer auch noch in anderer Weise: Parallel zur Frage nach dem Brot als körperlicher und geistiger Speise wird in 1.180 als Grund für die Wahl des Weines angegeben, daß er in Blut verwandelt wird, um die Seele wiederzubeleben, die sich im Blut 17 18

19

Gerken 1973, p. 84sqq. Feld 1976, p. lOlsq. Zur Frömmigkeitsgeschichte der Eucharistie cf. Neunheuser 1963, p. 37 und 43 und die dortigen Literaturangaben. Z.B. 4. Laterankonzil, Can. 21: «Omnis utriusque sexus fidelis, postquam ad annos discretionis pervenerit, omnia sua solus peccata saltern semel in anno fideliter confiteatur proprio sacerdoti, et iniunetam sibi paenitentiam pro viribus studeat adimplere, suseipiens reverenter ad minus in Pascha Eucharistiae sacramentum...» (DS 812). Für Synoden cf. Hefele, Bd. V,2, z.B. p. 1457 (Trier 1227) und 1575 (Canterbury 1236). Cf. dazu auch die unten zur Beichte zitierten Konzils- und Synodenbeschlüsse. Zur geringen Häufigkeit des Kommunionempfangs besonders im Spätmittelalter und zur Volksfrömmigkeit um das Altarssakrament cf. Wittstadt 1976, bes. p. 5. Auch Hugo von St. Victor geht in seinem Sakramentstraktat (dessen Übersetzung von Jean de Vignay in BN fr. 24432 mit dem Lucidaire zusammen überliefert ist) auf die Häufigkeit des Kommunionempfangs ein und konstatiert, früher habe man die Kommunion täglich empfangen, dann einmal die Woche am Sonntag; jetzt genüge der Empfang dreimal jährlich, nämlich an Ostern, Pfingsten und Weihnachten (cf. BN fr. 24432, f. 327ra).

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befindet. In dieser allegorischen Blut-Erklärung verändert der Übersetzer nur ein Wort, gibt damit der ganzen Problematik jedoch eine neue Richtung: quod vinum in sanguinem vertitur, ut anima nostra, quae in sanguine est, per hoc vivificetur. (EL) et eil vins si est tornez en sane por ce que nostre ame, qui est en pechie, soit resuscitee pour ice. (Lucidaire)

Die Wirkung des Sakraments besteht für den Übersetzer also in der Vergebung der Sünden. Dieser Gedanke, der der entsprechenden Stelle im Elucidarium nicht ganz fremd ist, aber im dortigen «vivificare» weniger deutlich hervortritt, entspricht durchaus der theologischen Entwicklung des 12. und 13. Jahrhunderts, wenn auch die Vorstellung, daß das Altarssakrament die Sünden abwasche, schon alte kirchliche Tradition ist20. Übergangen wird dagegen die dem damaligen Naturwissen entsprechende Theorie über die Lokalisierung der Seele im Blut21. Nicht immer beschränkt sich der Übersetzer auf solche Minimaleingriffe. Eine wichtige Änderung bedeutet die radikale Kürzung von 1.182, in der Honorius das Altarssakrament als das höchste Heil auf die dabei erfolgende Eingliederung des Gläubigen in den Leib Christi zurückführt und als Begründung u.a. den paulinischen Gedanken vom Gekreuzigt- und Begrabenwerden mit Christus (Rom 6,3sqq.) aufgreift, der auch in der augustinischen Eucharistielehre eine wichtige Rolle spielt22. Honorius verwendet hier die augustinische Idee vom «corpus Christi mysticum», d.h. der Kirche als spiritueller Gemeinschaft in Christus: Sie [= die eucharistische Kommunion] ist ein tieferes Eingegliedertwerden in den mystischen Leib Christi, weil der Erlöser seinen realen Leib seiner Kirche als Zeichen seiner Einheit und Liebe hinterlassen hat, durch die er alle Christen untereinander verbunden wissen wollte 23 .

Diese gemeinschaftsstiftende Wirkung des Sakraments, d.h. sowohl Gemeinschaft der Gläubigen untereinander als auch mit Gott, tritt zwar in der Frühscholastik angesichts der umstritteneren Fragen zurück, bleibt aber gültig und wird in der Folgezeit mit der Frage der Transsubstantiation verbunden werden24. Diese Vorstellung, vor allem in Verbindung mit der sich nach Honorius 211 21

22 23

24

Neunheuser 1963, p. 16 mit Bezug auf Paschasius Radbert. Cf. z.B. Sidrac, Kap. 73: «L'ame habite en son vaissel, e'est a entendre par tot le cors dedens et defore, la ou le sane couche, car le vaissel de l'ame si est le sanc.» (London, British Museum add. 17914, f. 21r). Cf. u.a. Gerken 1973, p. 92. Karl Rahner, zit. bei Ganoczy 1979, p. 76. Zu Augustinus und seinen Nachfolgern cf. Neunheuser 1963, p. 14. Neunheuser 1963, p. 36 und 38.

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notwendig daraus ergebenden Vereinigung mit Christus nach dem Tod, ist jedoch auch anfällig für falsche Interpretationen, wie Nicolas Eymeric in seinem Elucidarius Elucidarii mit direktem Bezug auf 1.182 betont: Hic articulus in suis responsionibus continet partes tres. - Prima est quod sicut esca in carnem comedentis vertitur, ita quisque fidelis per comestionem hujus cibi in corpus Christi convertitur. Haeresis, in sensu quem facit praesertim atento exemplo quod adducit. - Secunda pars est quod per fidem mundo et viciis et concupiscenciis Christo concrucifigimur in babtismate et consepelimur, et ideo ter inmergimur, per cibum vero corporis ejus ei incorporamur. Haeresis, intelligendo carnaliter seu corporaliter. Veritas, intelligendo spiritualiter25. Der Übersetzer reagiert, indem er die mißverständliche Passage einfach ausläßt; auf die Frage «Quel salu avons nous en ice?» erhält der Disciple nur die knappe Antwort «Tout nostre salus i est.» Konsequent verändert die Übersetzung auch in 1.196, wo das gleiche Problem in Bezug auf Petrus noch einmal anklingt, die Formulierung «acceptum sacramentum cum Domino counivit» zum theologisch unverfänglicheren Empfang des wahren Leibes Christi im Brot: «por ce si prist en icel pain le sacrement del cors Dieu». Hier wie auch in 1.182 bleibt τ (und teilweise υ) näher am Text des Elucidarium. Neben der Gefahr der falschen Auslegung derartiger Passagen mag es für den Übersetzer noch einen weiteren Grund gegeben haben, die heilbringende Wirkung des Altarssakramentes zwar zu nennen 26 , dabei aber nicht zu sehr in Einzelheiten zu gehen, ein Grund, den A. Franz für die Predigten des 14. und 15. Jahrhunderts zusammenfassend betont, der aber in der Sache auch schon pastorale Überlegungen des 13. Jahrhunderts beeinflußt haben mag: Das in den Meßpredigten jener Zeit mit Vorliebe behandelte Thema von den 'Meßfrüchten' hatte nur einen geringen Wert für den Unterricht der Gläubigen, und die Methode, mit der man dabei verfuhr, war nicht ohne Gefahr für das religiöse Leben des Volkes. Denn die Anpreisungen der Messe als eines unfehlbar wirkenden Allheilmittels in den leiblichen und geistigen Nöten förderten das sittliche Streben der Zuhörer nicht27. Vielleicht befürchtete auch der Autor des Lucidaire, seine Rezipienten könnten in dem Bemühen um ein wahrhaft christliches Leben nachlassen und stattdessen auf eine fast magische Wirkung der Messe vertrauen, wenn er deren positive Wirkung zu sehr hervorhob.

25

26 27

Lefevre 1954, p. 499. Der - hier nicht interessierende - dritte Teil beschäftigt sich mit der Notwendigkeit der Errettung. 1.182; Sündenvergebung in 1.180. Zit. bei Neunheuser 1963, p. 47sq. Zur Überbetonung der Wirkung der Messe bis hin zu ihr zugeschriebener Zauberkraft cf. auch Wittstadt 1976, p. 92sq. 96

3.1.3.

Die Kommunion des Judas und anderer unwürdiger Empfänger

Ein weiteres Problem, das in der Früh- und Hochscholastik erst langsam und unter schwierigen Diskussionen geklärt wurde, waren alle Fragen, die mit der Würdigkeit von Sakramentenspender und -empfänger zusammenhingen. Noch keine Antwort hat die Frühscholastik auf die Frage, was mit dem Leib Christi während und nach der Kommunion geschieht, z.B. ob er verdaut wird, oder ob ein Tier, das die konsekrierte Hostie frißt, den Leib Christi aufnimmt28. Damit in engem Zusammenhang steht auch die im Elucidarium behandelte Frage, was bei der Kommunion eines unwürdigen Empfängers geschieht; Prototyp hierfür ist Judas beim letzten Abendmahl. Honorius gibt in I.195sq eine klare Antwort: Nicht den Leib Christi nehmen «hi ... qui in Christo non manent» auf; dieser wird von den Engeln in den Himmel getragen, während den unwürdigen Empfängern vom Teufel ein Stück Kohle in den Mund gelegt wird. Die Auffassung des Honorius, daß bei der Kommunion der schlechten Menschen sich der Leib des Herrn vorher aus der Hostie entfernt, wird von Neunheuser29 als Beispiel für eine überholte Position zitiert. Denn schon bei Augustinus findet sich die Überzeugung, daß auch die schlechten Menschen das Sakrament empfangen, ihnen aber nicht dessen innere Gnade und Kraft zuteil wird30. Deshalb könne den Gerechten durch gemeinsamen Kommunionempfang mit den Bösen auch kein Schaden entstehen, da keine innere Gemeinschaft zustandekommt31. Honorius geht als einer der wenigen Autoren in beiden Punkten hinter diese Lehrmeinung zurück: Malgre la nette affirmation de Lanfranc, ..., il se rencontre, ä la fin du XP siecle et au commencement du XIP siecle, des theologiens peu eclaires pour pretendre que le corps du Christ se retire de l'hostie au moment oü un indigne va communier. Guitmond refute longuement cette erreur. ... Quelque quarante ans plus tard, VElucidarium d'Honore d'Autun refletait encore cette opinion 12 . 28

2,J ,0 31

32

Cf. Sent. IV, d. XIII, c. 1,8: «Illud etiam sane potest dici, quod a brutis animalibus corpus Christi non sumitur, etsi videatur. Quid ergo sumit mus? quid manducat? Deus novit.» (Bd. 2, p. 314). 1963, p. 27. Enarratio in Psalmos 77,2, zit. bei Gessel 1966, p. 149. Ibid. 10,9, zit. bei Gessel 1966, p. 150. Zur Haltung des Honorius zur Mahlgemeinschaft mit Sündern, cf. dagegen EL 1.199 und die wörtliche Übersetzung im Lucidaire: «In quibusdam tarnen sunt devitandi, praecipue in convivio et in servitio Dei». Ghellink in DThC V, col. 1279sq. Ghellinck zitiert im Anschluß EL 1.195. Zum speziellen Fall des Umgangs mit Exkommunizierten, die z.B. nicht an den Sakramenten teilnehmen durften, cf. die Ausführungen bei Dobiache 1911, p. 106sqq und einzelne Synodenbestimmungen bei Hefele, Bd. V,2, z.B. p. 1531 und 1573 (Tours 1231 und 1236), die jeweils den Umgang mit Exkommunizierten verbieten. Ebenso Raimundus de Pennaforte: Summa de paenitentia III, tit. 33, cap. 40 (ed. Ochoa/Diez 1976, col. 780sq).

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Dies bedeutet aber keineswegs umgekehrt, daß man allgemein annahm, schwere Sünder vollzögen eine vollgültige Kommunion; man unterscheidet vielmehr zwischen der «corporalis et spiritualis assumptio» (Roland Bandinelli, der spätere Papst Alexander III.) bzw. der «manducatio sacramentalis et spiritualis» (Petrus Lombardus) des Leibes Christi durch die Guten, und der «corporalis (assumptio) tantum» bzw. der «manducatio sacramentalis (tantum)» durch die Bösen33. Die Hochscholastik wie auch die nachtridentinische Kirche wird in ähnlicher Weise zwischen «gültigem» Kommunionempfang (für den weder Rechtgläubigkeit noch eine sittliche Disposition erforderlich sind) und «würdigem» Empfang unterscheiden34. Nur in letzterem (der z.B. die Freiheit von schwerer Sünde und Schuld erfordert) kommt das sakramentale Heilswirken Gottes zustande35. Der Lucidaire übernimmt hier fast unverändert die Formulierungen des Elucidarium, allerdings macht erst die Übersetzung ganz klar, daß sie die Frage auf alle Empfänger bezieht; aus dem Kontext läßt sich für das Elucidarium eher vermuten, daß nur die Priester angesprochen sind. Immerhin fehlt die umstrittene Behauptung, den unwürdig Kommunizierenden würde statt des Leibes Christi Kohle in den Mund gelegt. Noch etwas weiter geht R in den Kürzungen, so daß die These, die schlechten Menschen würden den Leib Christi nicht empfangen, nur noch zu erschließen, aber nicht mehr explizit ausgedrückt ist: «Uisent tel home le cors Nostre Signor? - Soulemant si ami et eil qui doivent estre en sa compaignie. Mais Ii mavais resoivent lor dampnation... » Auch die mehrmalige Betonung der Verdammung als Strafe für die Bösen, die dennoch die Kommunion empfangen, ähnelt schon der späteren Auffassung, daß diese zwar den Leib Christi aufnehmen, aber nur zu ihrem Verderben. Geringfügig verändert wird die Antwort auch in u, dem die Vorstellung von einer sakramentalen Kommunion der Bösen nicht mehr ganz so fern liegt. Die geänderte Formulierung «mes tantost s'en part, car il treuve trop hoir vaissel, dont n'usent il mye le corps Nostre Sire» anstelle von «nequedent ne le prannent il pas» scheint zunächst nur einen zeitlichen Aufschub der Trennung des Leibes Christi von der Brotsubstanz bei der Kommunion der Bösen nahezulegen. Sieht man sie jedoch in Zusammenhang mit der Ergänzung, die υ auch der Kommunion der Guten beigegeben hatte («ceulx l'uisent, si maint avec 33

54 35

Neunheuser 1963, p. 27. Die Unterscheidung geht durch Übersetzung auch in die volkssprachliche Literatur ein, cf. das schon erwähnte Meßtraktat Hugos von St. Victor in BN fr. 24432, f. 322vb: «Et en ce est senefie double mangier, c'est asavoir mengier sacramentel et espirituel. Nous apercevon le corps Jhesu Crist el mengier sacramentel, et en l'esperituel nous soumes mis el corps Jhesu Crist qui est dite sainte Yglise. Le mangier sacramentel est communs as bons et as maulz, le mangier esperituel est tant seulement au bons.» Ganoczy 1979, p. 48sq. Ibid. p. 50.

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eulx»), so könnte es sich hier auch um eine, wenn auch sehr ungeschickt formulierte, Unterscheidung von körperlicher und spiritueller Kommunion handeln: Im unwürdigen Empfänger bleibt der Leib Christi nicht, d.h. das Sakrament hat keine Wirkung; dagegen vollzieht sich die bleibende Anwesenheit und Wirkung des Sakraments im guten Empfänger. Auffälligerweise verwendet nämlich auch Übersetzung 2, die direkt auf die fehlende Gnade beim unwürdigen Empfang verweist, eine temporale Formulierung: .. .mais eil qui sont en pechiet mortel, tot rechoivent il le cors Jhesu Crist, il ne rechoivent point de sa grasce et demeure Nostre Sires molt cortement en euz.. ,36

Insgesamt bleibt der Lucidaire hier im wesentlichen der alten, von Nicolas Eymeric in fast allen Teilen als «haeresis» gebrandmarkten37 Auffassung von der nicht vollzogenen Kommunion der schweren Sünder verhaftet, und nur wenige Handschriften zeigen zaghafte Ansätze zu einer Neuerung, doch scheint das Unbehagen des Übersetzers in der Auslassung spürbar. Möglicherweise behielt er die veraltete Aussage dennoch weitgehend bei, weil er sie in ihrer Konkretheit eher für sein Publikum verständlich glaubte als die abstrakte Unterscheidung von verschiedenen Arten, den wahren Leib Christi zu empfangen. Daß der Übersetzer sich der Problematik dieses Themas bewußt war, zeigt auch ein Blick auf die in der nachfolgenden Frage behandelte Judaskommunion, wo er ebenfalls eine Anpassung an die neue Lehrmeinung versucht, ohne grundsätzlich in den Text des Honorius einzugreifen. Denn die Unterscheidung von «species panis» (die Judas erhält) und «virtus sacramenti» (die in Christus bleibt), mit der Honorius seine Ausführungen beginnt, kann durchaus im Sinne der schon mehrmals angesprochenen Unterscheidung von sakramentaler und spiritueller Kommunion aufgefaßt werden. Der Lucidaire übernimmt dies: «si prist ice que pain sambloit, mes le sacrement remest en Nostre Seignor38». Es fehlt aber die explizite Feststellung, daß Judas nur Brot, kein Sakrament, erhalten habe («bucellam tantum intinetam, scilicet non consecratam»). Der gleiche Satz fehlt auch im italienischen Elucidario, wobei es Degli Innocenti zumindest für wahrscheinlich hält, daß der Grund eine abweichende Meinung

16

Kleinhans 1993, Frage 1.195; cf. p. 181-185 auch für teilweise parallele Entwicklungen in den Übersetzungen zu weiteren hier behandelten Punkten. Auch die Druckfassung des Second Lucidaire argumentiert mit der zeitlichen Ausdehnung der Anwesenheit Christi im Empfänger des Sakraments, wenn sie die Kritik am Lucidaire durch die Formulierung «Mais tu dois entendre que Dieu est et si demeure tous jours avecques ceulx qui sont en estat de grace» ersetzt. (Nr. 100, D. Ruhe 1993, p. 225).

37

Cf. Lefevre 1954, p. 500sq. -1" Zur Terminologie und der ursprünglich theologisch wohl genaueren Übersetzung cf. oben Punkt 1 dieses Kapitels, p. 90.

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des Übersetzers ist39. Der Satz fehlt allerdings auch schon in lateinischen Handschriften, u.a. in σ , ebenso in Übersetzung 4, so daß auch schon die lateinische Vorlage für die Änderung verantwortlich sein könnte. A n der zugrundeliegenden theologischen Problematik ändert dies jedoch nichts. Der Lucidaire weicht damit zweimal deutlich von seinem Vorbild Honorius ab, wodurch klar wird, daß man sich in seiner Entstehungszeit der Umstrittenheit von Honorius' Position bewußt gewesen sein dürfte, wenn der Übersetzer ihr auch noch keine modernere Meinung entgegenzusetzen hat. Erst der Second Lucidaire wird ohne Einschränkung feststellen, daß jeder, der die Kommunion empfängt, damit den Leib Christi aufnimmt. Dieser kennt auch die scholastische Unterscheidung von Substanz und Akzidentien, die aus der Rezeption der aristotelischen Trennung von Form und Materie hervorging; er kann daher die Aussagen von Elucidarium bzw. Lucidaire kritisieren und erneuern: Mestre, Ii mauves prestre usent il le corps Nostre Seigneur? - Filz, il prennent la semblance du pain avec la quelle est le corps Jhesu Christ auxi bien comme Ii bon, mes il prennent leur dampnement... Mestre, quant une personne use le cors Nostre Seigneur, descent il en l'estomac, ou se une beste mue l'usoit, que ditez vous de tieus choses? - Mon enfant, tu doiz savoir quant a toutes teles demandes que tant comme la substance durast avec la semblance qui demourast, auxi tout autant ne plus ne mains le corps Jhesu Crist demeure avec la semblance du pain que Γ en prent et non plus. Et failli le maistre qui fist le Lucidaire 40 . " Degli Innocenti 1984, p. 239. Er zitiert Ermoni im Dictionnaire de la Bible, t. III, Paris 1912, col. 1804. - Mit «Elucidario». wird die Übersetzung des Elucidarium aus dem Lateinischen ins Italienische bezeichnet, im Unterschied zur unter 6.5. besprochenen Übersetzung des Lucidaire ins Italienische, die den Titel Lucidario trägt. - Die Auffassung von der gültigen, aber zur Verdammung führenden Kommunion des Judas teilt u.a. auch Thomas von Aquin, cf. S. th. III, qu81 ar2, ed. Busa, Bd. 2, p. 908. Auch von Nicolas Eymeric wird Honorius hier kritisiert, cf. Lefevre 1954, p. 502. 40 Nr. 99sq, Handschrift A, D. Ruhe 1993, p. 222/224. Zur lateinischen Scholastik cf. Thomas von Aquin, S. th. III qu80 ar3 co: «species autem manent quandiu substantia panis maneret si ibi adesset... manifestum est autem quod substantia panis assumpta a peccatore non statim esse desinit, sed manet quandiu per calorem naturalem digeratur. unde tandiu corpus christi sub speciebus sacramentalibus manet a peccatoribus sumptis» (Ed. Busa, Bd. 2, p. 904b). Auch beim Second Lucidaire ist, ähnlich wie oben für den Lucidaire konstatiert, die Schwierigkeit der Wiedergabe von komplizierten theologischen Sachverhalten in einer Sprache ohne scholastische Terminologie spürbar, so daß fraglich ist, ob Benutzer des Second Lucidaire wirklich verstanden, was der Redaktor so mühsam formuliert. Erst die Druckfassung wird eine unmißverständliche Sprache sprechen, wobei sie - ähnlich wie die Handschrift υ des Lucidaire - ergänzend auf die bleibende Gnade für die würdigen Empfänger verweist: «Mon enfant, il y demeure autant comme la sustance du pain y pourroit demourer sans estre digeree et non plus.» (D. Ruhe 1993, p. 225) 100

Nur die Formulierung der Redaktion Η bezieht sich hier allerdings wirklich auf den vom Lucidaire behandelten Fall vom Sakramentenempfang im Stand der Sünde und gibt zudem eine vollständige Antwort auf die Frage. Η erinnert hier in seiner Antwort an das oben zitierte, von den Sentenzen offengelassene Problem, was mit dem Leib Christi passiert, wenn die konsekrierte Hostie von einem Tier gefressen wird: Mon enfant, tant que la substance du pain dure, autant y reste le corps Nostre Seigneur. Et la failly le maistre qui fist le Lucidaire. Et qui vouldroit dire que Selon ce une beste mue le pourroit recevre, je dy que non, car c'est viande de l'arme, et chose qui n'a point d'arme ne la peut recevoir41. 3.1.4.

Die Würdigkeit des Spenders

Von mindestens ebenso großer Bedeutung wie die unwürdigen Sakramentenempfänger waren die unwürdigen Spender. So werden z.B. von den Handschriften OPQ in III. 18 - abweichend von der übrigen Tradition - die «prevost qui ordement vivent» zu den Gliedern des Teufels gerechnet. Schon seit Cyprian und Augustinus hatte sich die Überzeugung durchgesetzt, daß auch ein unwürdiger Priester die Sakramente gültig spenden kann, weil diese nicht das Werk des Menschen, sondern Christi sind42. Teilweise werden von den Autoren dabei von der Kirche getrennte Priester, die kein Sakrament spenden, unterschieden von zur Kirche gehörenden unwürdigen Priestern, die gültig die Konsekration vollziehen, ohne jedoch selbst die gnadenhafte Wirkung des Sakraments zu empfangen43. Auch Honorius gibt im Elucidarium der Meinung Ausdruck daß die Sakramente unwürdiger Priester gültig seien. Zwar betont er gegen Simonisten, daß die Sakramente nicht zu weltlichem Ruhm und Reichtum mißbraucht werden dürfen (1.187); und sündige Priester, Häretiker und Simonisten verurteilt er unterschiedslos als «traditores» und «crucifixores» (1.185, ähnlich noch einmal in 1.187), aber wenn sie die Messe feiern, konsekrieren sie trotzdem gültig Leib und Blut Christi (1.190). Analog gilt dies für die anderen Sakramente, wobei Honorius z.B. für die Beichte unterscheidet zwischen öffentlich aus der Kirche ausgeschlossenen Priestern und denjenigen, die noch in der Kirche geduldet werden (1.198). Auch der im Falle der Lebensl03 gefahr für das Seelenheil ungefährliche Empfang der Kommunion bei einem unwürdigen Priester (1.193), ist kirchlicherseits kaum umstritten44. All dies wird vom Lucidaire ohne Änderung übernommen.

41 42

43 44

D. Ruhe 1993, p. 225 Für die Taufe bei Augustinus cf. z.B. Finkenzeller 1980, p. 52, für die Scholastik und ihre Übernahme augustinischer Tradition, p. 106 und 187. Finkenzeller 1980, p. 105 und p. 187-190. Finkenzeller 1980, p. 190. 101

Unterschiedlich beantwortet wird jedoch in Früh- und Hochscholastik die Frage, welche Auswirkungen auf die Gläubigen der Sakramentenempfang bei einem unwürdigen oder häretischen Priester hat45. Die Position des Elucidarium ist hier eindeutig: Dies ist eine große Gefahr für das ewige Heil, wie auch die Söhne Elis fast das ganze Volk Israel ins Verderben gestürzt hätten (1.188). Der Grund für den Schaden, den die Gläubigen nehmen, liegt nicht in der Unwürdigkeit oder Ungültigkeit des Sakramentes, das sie empfangen, sondern in der Mißachtung des Verbotes Gottes, derer sie sich dadurch schuldig machen, daß sie bei einem schlechten Priester die Messe hören (1.191). Auch das Nichtwissen um die Unwürdigkeit schütze vor der Verdammung nicht, wenn man nicht bereut (1.189). Diese Auffassung wird in der Hochscholastik modifiziert: man gelangt nun zu der Überzeugung, die Wirkung der Sakramente geschehe objektiv, «ex opere operato», d.h. ein Suspendierter oder Exkommunizierter spendet zwar unerlaubt, aber gültig und wirksam, wenn der Empfänger z.B. guten Glaubens ist46. Diese veränderte Lehre findet auch in den Lucidaire Eingang: Unterbleibt hier schon in 1.188 der direkte Bezug zu den unwürdigen Priestern (außer in L, wo er aber nur marginal ergänzt ist), so daß aus der biblischen Beispielerzählung nur indirekt auf die unheilstiftende Wirkung der Sakramentenspendung durch schlechte Priester geschlossen werden kann, so fehlt die Frage 1.189 ganz, in der behauptet wird, auch die Unwissenheit über die Unwürdigkeit des Priesters führe zum Verlust des Seelenheils, wenn man von ihm die Kommunion empfange. Damit trägt der Übersetzer der neuen Auffassung Rechnung, daß man guten Glaubens in dieser Hinsicht nicht schwer sündigen kann. Das Argument der Unwissenheit verwendet auch Thomas von Aquin: et ideo per h o c quod aliquis ab ecclesia suspenditur vel excommunicatur, vel etiam degradatur, non amittit potestatem conferendi sacramentum, sed licentiam utendi hac potestate. et ideo sacramentum quidem confert, sed tarnen peccat conferendo. et similiter ille qui ab e o accipit sacramentum, et sie non pereipit rem sacramenti, nisi forte per ignorantiam excusetur 47 . 45 46

47

Zur Frühscholastik cf. Finkenzeller 1980, p. 103sqq. Finkenzeller 1980, p. 190. Man vergleiche z.B. auch die Kirchenrechtsvorschrift «nullus audiat missam sacerdotis quem indubitanter concubinam novit habere», die von Thomas von Aquin in seiner Summa theologiae, III, qu82 ar9 in diesem Zusammenhang zitiert wird. Ed. Busa, Bd. 2, p. 91 la. (Meine Hervorhebung) S. th. III qu64 ar9, ra3, ed. Busa, t. 2; p. 870b. An anderer Stelle präzisiert Thomas noch einmal: «et ideo specialiter hoc peccatum [= fornicatio] a sacerdotibus prohibitum est ab ecclesia, ne aliquis audiat missam concubinarii sacerdotis. sed hoc intelligendum est de notorio, 'vel per sententiam quae fertur in convictum, vel confessionem in iure factam, vel quando non potest peccatum aliqua tergiversatione celari.» (S. th., III qu82 ar9 ra3, ed. Busa, Bd. 2, p. 91 lb). Angst vor Mißbrauch kommt in der Formulierung dieses Artikels selbst zum Ausdruck: «et ideo, usque ad sententiam ecclesiae, licet ab eis communionem aeeipere et eorum missam audire. ... hoc dicendo, noluit hominem ab homine iudicari ex arbitrio suspicionis.» (qu82 ar9 co, ibid., p. 91 la)

102

Auch bei diesem Problem spielt vielleicht ein pastoraler Grund eine Rolle, enthebt die Beschränkung auf Fälle von der Kirche verurteilter Priester doch den einzelnen Gläubigen der Notwendigkeit, Lebenswandel und Rechtgläubigkeit seines Pfarrers zu überprüfen, bevor er bei ihm die Sakramente empfängt. (Zumindest was die Orthodoxie anbetrifft, wird auch kaum ein «Laie» dazu in der Lage gewesen sein!). Vermutlich fehlt deshalb auch der zweite Teil der Antwort 1.200, in der noch genauere Unterscheidungen getroffen werden, wann man einen nicht aus der Kirche ausgeschlossenen Priester dennoch zu meiden habe: Itaque, quamvis mali, quamdiu ab Ecclesia non sunt publice segregati, non sunt devitandi, nisi sibi omnes invicem, et praelati et subditi, ita in malo consentiant, ut nullus eorum pravitatem arguat; tunc omnimodis sunt fugiendi, quia tunc sunt causa ruinae populi. Diese Änderung ist jedoch nicht konsequent durchgeführt, da in 1.199 trotzdem die Vermeidung der (weltlichen und geistlichen) Mahlgemeinschaft gefordert wird, υ warnt hier in einem Zusatz deutlich vor der Gefahr der Nachahmung: «.. .pour ce c'on ne peut consentir a eulx quant on voit et congnoit que leur vie et dotrine est malvaise.» Den Gläubigen wird auch nicht jede Verantwortung abgenommen, denn in Fällen, in denen es verboten ist, bei einem schlechten Priester die Kommunion zu empfangen, schadet es den Menschen schwer, wenn sie gegen das Verbot der Kirche handeln (1.191). Unter Umständen kann schon das lateinische «si contra interdictum hoc ab eo accipit a quo non debet» bzw. französisch «ce se est chose que il lor soit desfendu que il ne s'acommingent pas de cieus homes» im Sinne eines ausdrücklichen Verbotes (wie das «si ab Ecclesia publico judicio separati» in 1.198 und 200) verstanden werden, was der modifizierten Auffassung näher käme. Bleibt der Lucidaire in dieser Frage trotz wichtiger Änderungen stellenweise noch recht vage, kann das in der einen oder anderen Handschrift ganz anders aussehen. Ganz klar äußert sich z.B. L, das unmißverständlich das Wissen um die Sünde des Priesters fordert, damit der Sakramentenempfang zur Sünde wird, wenn es an der oben zitierten Stelle in 1.191 anfügt: «e si il sievent que il soient teus homes». Anders reagieren J und κ auf die problematische Stelle: sie betonen in einer Ergänzung zu Beginn von 1.190 die Würde des Amtes («Oil, par la force de la dignete») und nehmen damit indirekt ebenfalls zur Gefahr für das Seelenheil Stellung, denn die aus der Stellvertreterschaft Christi entspringende Würde des Amtes ist das wichtigste Argument für die Gültigkeit auch der von unwürdigen Priestern gespendeten Sakramente48.

"" Cf. Finkenzeller 1980, p. 57 für Augustinus; ähnlich Hugo von St. Victor, ibid. p. 103.

103

Das Problem der unwürdigen Priester wird in der Kirche trotz grundsätzlicher Lösungsansätze, die schon auf Augustinus zurückgehen, also auch noch im Mittelalter umstritten diskutiert, wie die oben referierten Positionen zeigen. Lediglich für diejenigen, die in gutem Glauben handeln, also nicht um die Unwürdigkeit oder Exkommunikation ihres Priesters wissen, wird bereits in der Scholastik ein Konsens erreicht. Außer in der Handschrift L nimmt der Lucidaire dies zwar noch nicht explizit auf, doch bewegt sich die Übersetzung mit der Auslassung des nun in andererWeise als bei Honorius geklärten Punktes auf die neue Lehrmeinung hin. Das Schwanken in dieser Frage hält noch über einen längeren Zeitraum an und ist auch noch im Second Lucidaire zu sehen, da die Redaktion Α das Äquivalent der Frage 1.189 (Nr. 97)49 noch aufnimmt; erst ab der Redaktion Β fehlt der Verweis auf dieses umstrittene Problem. 3.1.5.

Die Beichte

Bezüglich des Bußsakraments begnügt sich das Elucidarium mit nur wenigen Bemerkungen. Die Wirkung der Beichte wird in 11.70 mit der Vergebung der persönlichen Sünden angegeben, und ihr Ablauf in 11.71 mit einer Gerichtsverhandlung verglichen. In 11.72 wird schließlich die Notwendigkeit von Beichte und Buße betont. 11.71 übergeht der Lucidaire vermutlich wegen der Allegorie, die übrigen spärlichen Lehren werden übernommen. Einzelne Handschriften unterstreichen jedoch bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Notwendigkeit der Beichte. F nennt in 11.103 als Voraussetzung dafür, daß dem guten Menschen das Grab außerhalb der geweihten Erde nicht schadet, daß er im Gnadenstand (d.h. frei von Sünden und noch abzubüßenden Strafen) stirbt, was im allgemeinen für den Menschen nur durch Beichte und nachfolgende Buße erreichbar ist. υ ergänzt in III.62 zur Buße auch die Beichte und stellt in 11.102 die Rettung der schlechten Menschen für den Fall in Aussicht, daß sie beichten und bereuen, wodurch ihnen z.B. lange Krankheit als Verdienst angerechnet wird: Ont ly maulvais homme grant prouffit quant il gisent longuement en grant enfermeter ou qu'il sont fort tourmenter ains que meurent? - Nany, ne tant ne quant, se il ne sont vray confiez et repentant de leur pechie50.

4,;

D. Ruhe 1993, p. 222 " Die Fortsetzung der Antwort ist dann identisch mit den übrigen Lucidaire-Hmdschriften. Diese sind mit dem Elucidarium der Meinung, daß solche Qualen den Bösen in keinem Fall nützen.

5

104

Die gleiche Handschrift gibt darüber hinaus in III.5 die Beichte (neben Werken der Barmherzigkeit und einem untadeligen Leben) als Voraussetzung für die Rettung der «nonparfet» an. Das Bild von der Sünde als Krankheit oder Tod der Seele (III.39, in τ und υ zusätzlich ergänzt in 11.96) führt dazu, daß die Beichte als Heilmittel oder Auferstehung angesehen wird: .. .et tout ausi com eil qui est pasmez qui n'a pooir de lui aidier, nois se il cheoit en nule feu ou en une aigue, jusque tant que sa pasmoison le laisse, tot ausi est de celui qui est en pechie mortel. Mais quant il vient par penitance a confession sanz recheoir en nul mortel pechie, lors rentre l'arme el cors toute novele. (p, Ergänzung zu DIII.41). In 11.94 vertreten J, κ, τ und υ die Wirksamkeit der Sündenvergebung in der Krankensalbung nur für den Fall, daß der Sterbende seine Sünden auch gebeichtet hat. In 11.65 wird - kontextgemäß - in Ρ aus den «justes» «ces qui se repentent», ähnlich in τ «car il se congnoissent pecheeurs». Im wesentlichen beschränken sich diese Ergänzungen also auf die Betonung der Notwendigkeit der Beichte und auf die Nennung ihrer positiven Wirkung bzw. ihrer Voraussetzung für die Erlangung des ewigen Heils, d.h. sie verfolgen eine pastorale Zielsetzung. Dennoch nennt überraschenderweise kein einziger Kopist die Vorschrift des IV. Lateranums, mindestens einmal jährlich zu beichten51. Auch wird kein Versuch unternommen, z.B. eine Anweisung für den rechten Empfang der Beichte einzufügen. Der Second Lucidaire wird hier seine Vorlage wiederum ergänzen. Daß nämlich das Fehlen eines Beichttraktats durchaus als Mangel empfunden wurde, zeigt auch die Mitüberlieferung des Lucidaire, in der zahlreiche Beichttraktate vorkommen. Allerdings werden die Haupt- oder Todsünden, denen in der Unterweisung der Gläubigen, besonders in Zusammenhang mit der Buße, große Bedeutung zukam, indirekt - wenn auch nicht systematisch - in I.lOOsq erwähnt, wo nach den Sünden gefragt wird, die Adam beim Essen des Apfels im Paradies begangen habe. Eine unvorstellbar große Sünde sei dies gewesen, erhält der Discipulus zur Antwort, denn dabei habe Adam sechs Sünden in einer einzigen begangen, nämlich superbia, inobedientia, avaritia, sacrilegium, fornicatio und homicidium. Diese Sünden werden vom Lucidaire wörtlich wiedergegeben, in einigen Handschriften jedoch signifikant verändert.

51

Canon «Omnis utriusque sexus», zit. oben Kap. 3.1.2, Anm. 19. Von einzelnen Provinzsynoden wurden ähnliche Vorschriften auch schon früher erlassen, cf. Payen 1977, p. 408. Auch das Doctrinal aux simples gens nennt die Vorschrift, mindestens einmal jährlich zu beichten und die Kommunion zu empfangen, da man sich sonst im Stand der Todsünde befinde. (Ed. Glorieux 1973, Bd. 10, p. 310). Auch Prediger nutzten die Gelegenheit, diese Forderung ihren Zuhörern immer wieder einzuhämmern, cf. Beriou 1981, p. 4 4 für Ranulphe d'Homblieres.

105

Dieser Sündenkatalog Adams geht auf Augustinus zurück und wurde von der Schule von Laon übernommen". Auch Petrus Lombardus zitiert ihn bei der Behandlung der Sünde Adams53. Die Sechserreihe ähnelt offensichtlich in so starkem Maße der im Mittelalter verbreiteten Lehre von den Kardinal- oder Todsünden, daß sie an diese angepaßt werden konnte, obwohl die aufgezählten Sünden Adams nur teilweise mit diesen Sündenreihen übereinstimmen54. Eine erste Veränderung ist in einigen Lwc/da/re-Handschriften ebenso zu beobachten wie schon im Elucidarium: Die Zahl der Sünden wird auf sieben erhöht55. Offensichtlich war die Siebenzahl von schweren Sünden so fest im Bewußtsein der Schreiber verwurzelt, daß viele von ihnen unabhängig voneinander diese Änderung vornahmen56. Die Inkonsequenz in bezug auf die nun folgende Aufzählung wird teilweise beibehalten (B und E; R «repariert», indem es in der Zählung von 5 direkt nach 7 springt), teilweise versuchen die Handschriften auch, durch eine andere Einteilung aus dem vorhandenen Material sieben Sünden zu erhalten. Dabei wird jeweils «fornicatio» von «adulterium» (das bei Honorius zur Beschreibung von «fornicatio» gehörte) getrennt, wie man es auch schon in der kirchlichen Tradition vorfindet57 (c und τ). Drei Handschriften (F, L, U) jedoch fügen unabhängig voneinander - wie die sehr unterschiedlichen Formulierungen und Beschreibungen beweisen eine neue siebte Sünde ein, nämlich «gloutenie». Auch diese entstammt dem Katalog der Todsünden und gelangte von dort in die Bußbücher und -summen und in die lateinischen wie die volkssprachlichen Laster- und Tugendtraktate58. Durch die Zugehörigkeit zur Reihe der Todsünden lag die Assoziation der «gula» mit den Sünden Adams nahe, zumal sich auch die Verbindung mit dem Essen des Apfels (anders als z.B. für die ebenfalls zu den Todsünden gehörenden und hier fehlenden ira oder tristitia bzw. accidia) leicht herstellen ließ. Gleich mehrere Schreiber nutzten die Gelegenheit, die Schwere dieser Verfehlung an der Person Adams herauszustellen und ihren Lesern oder Zuhörern ins Gedächtnis zu rufen. Sie befinden sich damit in illustrer Gesellschaft, denn auch Thomas von Aquin beschäftigt sich im Sentenzenkommentar mit der augustinischen Theo12

Lefevre 1954, p. 121, Anm. 3. Sent. 11,33, cap. 2/1, Bd. 1, p. 518sq. 54 Zu den Todsünden cf. Bloomfield 1952, bes. p. 69sqq. 55 Bei den lateinischen Handschriften ist es u.a. die der Lucidaire-Vorlage nahestehende Handschrift σ. 56 Zur Bedeutung der Siebenerreihe von Kardinal- und Todsünden und der Siebenzahl in Antike und Mittelalter allgemein, cf. Bloomfield 1952, p. 37sqq und 60 sqq. 57 Z.B. schon bei Origenes, cf. Bloomfield 1952, p. 97. 5 " Z.B. Raymundus de Pennaforte, Summa de paenitentiae, III, tit. 34, cap. 33 (ed. Ochoa/Diez 1976, col. 832sq) und Frere Laurent, Somme le roi (ed. Brayer, f. 31sqq); Bloomfield 1952, p. 124sq verweist außerdem auf Guillaume Perrault, Summa de vitiis et virtutibus. M

106

rie, nennt aber bei den Sünden Adams teilweise andere als Augustinus; u.a. erwähnt er die «gula», allerdings ohne eine erläuternde Ausführung, so daß er als direkte Quelle für einzelne Lucidaire-Redaktionen nicht in Frage kommt59. Darüber hinaus wird auch der Hochmut als die Quelle aller Sünden im Lucidaire bei jeder sich bietenden Gelegenheit (1.33, 37, 63) in Erinnerung gerufen und als die Sünde Satans gebrandmarkt. Auch ohne einen echten Beichttraktat verstehen es somit Übersetzer und Schreiber, zumindest Grundbegriffe der schweren Sünden so in den Text einzugliedern und mehrmals zu wiederholen, daß sie den Rezipienten auch in dieser Hinsicht rudimentäre Kenntnisse vermitteln.

3.2.

Prädestination und menschliches Verdienst

Ein Thema, das nicht nur die Theologen des Mittelalters beschäftigt hat, das aber auch in dieser Zeit immer wieder diskutiert wurde und neue Impulse und Klärungsversuche erhielt, ist die Prädestination, d.h. die Frage, ob Gott vorherbestimmt hat, welche Menschen das künftige ewige Heil erlangen werden. Honorius folgt in dieser Frage der kirchlichen Lehre seiner Zeit, die im wesentlichen schon auf Augustinus zurückgeht: Die Prädestination ist die Vorherbestimmung einzelner («quidam») Menschen für das Reich Gottes. Diese Festlegung traf Gott schon vor Erschaffung der Welt, und sie ist unabänderlich: wer prädestiniert ist, wird in jedem Fall gerettet60. Gott liebt aber alle Menschen und will eigentlich, daß sie gerettet werden (II.6)61. Trotzdem ist der Untergang der Verdammten gerecht, weil sie aufgrund ihrer eigenen Sünden verurteilt werden62. Da Gott die freien Entscheidungen des Menschen von Beginn der Welt an kennt, kann er die Erwählung oder Verdammung vorherbestimmen63. Diese Vorherbestimmung der Erwählung oder Verdammung scheint dem freien Willen des Menschen entgegenzustehen, den Honorius in II.7 als die 59

In quattuor libros sententiarum II, ds 33, qu2, ar2 ex., ed. Busa, t. 1, p. 224b. Zu den Todsünden in der volkssprachlichen katechetischen Literatur cf. auch Doctrinal aux simples gens, ed. Glorieux 1973, p. 302sqq. m Augustinus, De correptione et gratia, 9,21; cf. Kraus 1977, p. 37. Ähnlich definiert Thomas von Aquin, S. th., 1,23,2: «Praedestinatio est quaedam ratio ordinis aliquorum in salutem aeternam, in mente divina existens» (zit. bei Kraus 1977, p. 72). Im Elucidarium v.a. die Fragen 11.28 und 29. 61 Dieser allgemeine Heilswille Gottes und seine Liebe zu allen Menschen geht eher auf Johannes Damaszenus zurück, dessen Prädestinationslehre man im Mittelalter oft mit der des Augustinus zu vereinen suchte, cf. Garrigou-Lagrange in DThC XII, col. 2935. 62 Ibid.; für Thomas cf. Kraus 1977, p. 77sq; cf. EL 11.29. " Anselm von Canterbury, De concordia praescientiae et praedestinationis nec non gratiae Dei cum libero arbitrio, cf. Garrigou-Lagrange in DThC XII, col. 2936. 107

Fähigkeit des Menschen, das Gute oder Schlechte zu wählen, definiert. Dieser freie Wille wird jedoch durch das Vorauswissen Gottes nicht berührt: Duae necessitates sunt: una naturalis, ut solem in Oriente oriri vel diem noctem sequi; altera voluntaria, ut aliquem ambulare vel sedere. Quae Deus vult ut fiant, ut caelum et terra, inevitabile est non evenire, sed per omnia necesse est ita contingere. Quae autem tantum fieri permittit, ut homines per liberum arbitrium bonum vel malum facere, non est necesse evenire. Omnia quae futuri homines facturi erant Deus futura praescivit. (EL 11.23)

Während also der Mensch trotz des Wissens Gottes, wie seine Entscheidung ausfallen wird, frei entscheiden kann, scheint es bei der Prädestination, d.h. der Vorherbestimmung einzelner zum künftigen Heil, die dann notwendigerweise auch gerettet werden (II.28sq), einen echten Widerspruch zur menschlichen Entscheidungsfreiheit zu geben. Doch genaugenommen bedeutet die Notwendigkeit der Errettung nur, daß einigen unverschuldet die Gnade der ewigen Seligkeit zuteil wird, die sie aufgrund ihrer Werke eigentlich nicht verdient hätten64. Doch selbst diese Erwählten können nach Honorius nicht ohne eigene Anstrengung ins Paradies eingehen, sondern müssen sich durch Verdienste oder verschiedenartige Anstrengungen und Leiden die Erlösung erwerben, denn «Praedestinatio taliter est instituta ut precibus vel laboribus obtineatur» (11.31). Dies kann für die kleinen Kinder ein schwerer Tod sein, für die Erwachsenen ist eher mit Prüfungen («per laborum exercitationem» meint Honorius, ibid.) zu rechnen. Gemäß den so erworbenen Verdiensten ist die Seligkeit im Paradies größer oder geringer. Lediglich eine «Obergrenze» für die Verdienste, die man sich erwerben kann, ist von Gott festgelegt: ... unusquisque obtinebit mansionem secundum proprium laborem; ita, prout quisque laboraverit, plus, digniorem, qui minus, inferiorem possidebit. Nullus tarnen plus laborare poterit quam eum divina gratia adjuverit nec aliam mansionem quis habiturus erit quam eam ad quam ante mundi exordium praeordinatus fuit ... (II.31) 65 64

Nach Augustinus war nur im Paradies der Wille des Menschen vollkommen frei; seit dem Sündenfall kann der Mensch das Gute nur noch mit dem Beistand der Gnade und Hilfe Gottes wollen. (Zur Freiheit Adams, nicht zu sündigen, cf. EL 1.73). D.h. grundsätzlich hat kein Mensch das ewige Heil verdient: «Unde etiamsi nullus liberaretur, iustum Dei iudicium nemo iuste reprehenderet.» Gott jedoch hat einzelne unverschuldet zur Errettung vorherbestimmt, die dann auch unfehlbar gerettet werden. (Augustinus, De correptione et gratia, 10,28 und De dono perseverantiae, 7,13). Ähnlich Thomas von Aquin, Summa contra gentiles, III, c. 160 und 163, ed. Busa, t. 2, p. 113, und S. th., I qu 23 ar5, ed. Busa, t. 2, p. 223b.

63

Auch für Thomas von Aquin ist Gott die Erstursache aller guten Werke des Menschen, d.h. die Gnade Gottes geht den menschlichen Verdiensten immer voraus; kein Mensch kann von sich aus das Heil allein erwirken, aber er kann umgekehrt die An108

Nur indirekt angesprochen wird im Elucidarium die Reprobation, d.h. die Vorherbestimmung einzelner für die Verdammnis66: Ita nullus reproborum quidquam plus facere praevalet quam divina censura permittit nec aliam poenam habebit quam eum divinum judicium ante mundum secundum suum meritum habiturum praescivit. (EL 11.31) Dabei fällt schon auf, daß hier - anders als bei den «Obergrenzen» der Verdienste der Erwählten - nur das Voraus wissen Gottes ins Spiel gebracht wird. Aber auch sonst wird aus dem lateinischen Text nicht klar, ob mit «plus facere» gute oder schlechte Taten gemeint sind, d.h. ob den «reprobi» die Möglichkeit, über ein bestimmtes Maß hinaus Gutes zu tun verwehrt wird (was dann in der Tat einer negativen Prädestination sehr nahe käme), oder ob ihnen nicht vielmehr die Möglichkeit abgesprochen wird, über ein bestimmtes Maß hinaus Schlechtes zu tun. Die Fortführung des Satzes mit «nec aliam poenam habebit quam eum divinum judicium ante mundum secundum suum meritum habiturum praescivit» scheint die letztgenannte, dem Heilswillen Gottes entsprechende Interpretation nahezulegen67: Die schlechten Menschen werden nicht so schwer verurteilt, wie sie es eigentlich - ihrem Willen nach - verdient hätten. Die Annahme, daß auch für Honorius faktisch der Wille und das Tun des Menschen ausschlaggebend für Verdammung oder Errettung sind, wird auch durch den Wert bestätigt, den das Elucidarium dem Lohn bzw. der Strafe beimißt, die der einzelne im Jenseits für sein Tun erhalten wird. Neben der schon genannten Stelle von den verschiedenen Wohnungen je nach Verdienst in II. 31 wird dies am deutlichsten in 11.73 ausgedrückt: Pro omnibus quae fecerint bonis recipient homines retributionem sive in hac vita sive in futura ... Ita econtra de omnibus quae fecerit homo malis punietur aut in hoc saeculo aut in futuro. Das Gleiche kommt in der Aufzählung der Chancen einzelner Berufe oder Bevölkerungsgruppen auf das ewige Leben in II.53sqq zum Ausdruck; denn diese werden ja nicht aufgrund einer willkürlichen göttlichen Verordnung verdammt, sondern aufgrund von Unrecht, das mit ihrem Beruf oder Stand verbunden ist: «Habent spem joculatores? - Nullam. Tota namque intentione ministri sunt Satanae.» (11.58) Die Absicht des einzelnen ist also ein Grund für die Verwerfung. Gelegentlich wird sogar angedeutet, daß vielleicht nicht alle

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rufung Gottes ablehnen und damit seine Verdammung verschulden, cf. Auer/Ratzinger Bd. 5, u.a. p. 168sq und 243sq und Kraus 1977, p. 70-74. Sie wird allerdings von einzelnen lateinischen Handschriften ergänzt, cf. Lefevre 1954, p. 415, Anm. 1. Auch der Übersetzer des Lucidaire verstand den Satz so: «Et nus des felons ne puet onques plus mal faire se tant non comme Dieus Ii suesfre.»

109

diesem Stand Angehörenden verdammt werden, sondern nur fast alle: «pene omnes pereunt» (11.57). Auch wenn die Antwort jeweils so formuliert ist, daß die Verknüpfung von Beruf und verdammenswürdiger Tätigkeit fast naturgegeben scheint, kann man doch daraus ableiten, daß jemand, dem es trotz der Ausübung dieses Berufes gelänge, die verdammungswürdigen Taten nicht zu begehen, gerettet würde. Die Position des Honorius bezüglich der Prädestination ist somit nicht eindeutig. Was die theoretische Diskussion der Prädestination und den freien Willen (bzw. den im Jenseits zu erwartenden Lohn) betrifft, vermeidet er teilweise klare Antworten68. Anhand der pragmatischen Fragen ist jedoch klar zu sehen, daß Honorius die Entscheidung des einzelnen für Gut oder Böse zum wichtigsten Kriterium für das ewige Heil oder die ewige Verdammnis macht69. Keinesfalls kann man vom Elucidarium behaupten, daß seine Welt düster und freudlos sei, daß in ihr nicht Liebe und Güte, sondern rächende Vergeltung und ein dem Menschen nicht verständliches Verhängnis herrschten, und daß in den Ausführungen der freie Wille, um dessen Erwähnung Honorius nicht herumkomme, in den Ausführungen letzten Endes keine wesentliche Rolle spiele70. Oer Lucidaire übernimmt im wesentlichen die Aussagen des Honorius. II.7 wird in der schon auf die abweichende lateinische Formulierung zurückgehenden Definition «eslire le bien del mal» übersetzt. Die theoretischen Defizite jedoch vertiefen sich in der Übersetzung, denn es fehlen z.B. die Erklärungen zum Verhältnis zwischen dem freien Willen und dem Vorauswissen Gottes aus 11.23. Die gesamte Frage wird übergangen, wofür der Grund in der komplizierten Unterscheidung von natürlicher und willentlicher Notwendigkeit liegen dürfte, die der Übersetzer wie weitere sehr komplizierte Differenzierungen seinen Rezipienten nicht zumutet71. Damit geht jedoch auch die sich daraus ergebende Höherbewertung des freien menschlichen Willens verloren. Dies scheint noch einmal durch den Zusatz des Übersetzers «car Ii establissemenz Dieu ne puet estre desmentiz» in 11.28 bestätigt zu werden72. M

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71

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Um die Vereinbarkeit von Prädestination und freiem Willen wird aber auch ein Thomas von Aquin noch ringen, cf. Kraus 1977, p. 62-80, bes. p. 73-75. Cf. dazu außer den schon genannten Fragen auch die entsprechenden Kapitel zum Gericht: die Verdammten werden dann erkennen, was sie an Gutem hätten tun sollen, aber unterlassen haben, cf. 111.61 und 73. (bes. R). ZU den generischen Aussagen über die Rettung in den Seligpreisungen, die zugleich Aussagen über Umkehr und die dabei nötigen Taten sind, cf. auch Auer/Ratzinger, Bd. 9, p. 39. So Gurjewitsch 1987, p. 242 und 244. Die von Gurjewitsch besonders hervorgehobene «Selbstzufriedenheit» der Erwählten über die eigene Errettung und die Qualen der Verdammten (p. 242) vertritt auch Thomas, cf. Ott 1990, p. 170. Cf. dazu auch Kap. 3.3.7., Anm. 147. Cf. dazu Kap. 2.3. Zu Schwierigkeiten mit der Prädestinationslehre, wie sie auch in den anderen Elucidariums-Übersetzungm auftreten, cf. Kleinhans 1993, p. 195sqq. Auch hier geht es aber wieder nur um die unverschuldete Gnade.

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In der theoretischen Darlegung ist somit der Lucidaire dem schon nicht sehr präzisen Elucidarium deutlich unterlegen und scheint eine stärkere Bestimmung des Menschen durch den göttlichen Willen zu vertreten. Dazu kommen terminologische Schwierigkeiten, die nicht immer klar erkennen lassen, ob von Präszienz oder Prädestination gesprochen wird. So wird z.B. auch das Vorauswissen Gottes um die Taten der «reprobi» in 11.31 in der Übersetzung zur Vorherbestimmung («donnee»), was aber durch die eindeutig positive Übersetzung des «plus facere» zumindest teilweise wieder ausgeglichen wird73. In der Pragmatik dagegen übertrifft die Übersetzung das Elucidarium. So sind in 11.31 die Leiden, mit denen die Erwählten sich das Reich Gottes erwerben, gleich «grans tribulacions» und werden im folgenden präzisiert zur Erprobung im «irdischen Jammertal» («l'esprovement de la dure vie de cest sieccle»). Die menschlichen Verdienste durch Leiden im Diesseits werden also betont. Die Verwendung von «deservi» ist mit ihrem Verweis darauf, daß dem Menschen zukommt, was er verdient hat, zudem zumindest sprachlich deutlicher als das abstrakte lateinische «secundum proprium laborem», wenn auch der dahinterstehende Gedanke der gleiche ist. Einzelne Handschriften lassen zudem in dieser Frage den mißverständlichen Abschnitt über die «reprobi» weg (p und τ) oder betonen deutlich die Notwendigkeit eigener Anstrengungen für die Erlangung des ewigen Heils, so τ und u, die den Anfang von 11.31 in diesem Sinn verändern: «II n'est eslicion si forte qu'il ne conviengne travellier, car nus hons ne puet estre el regne Dieu sans grant tribulation.» υ erwähnt die Notwendigkeit des eigenen Einsatzes auch schon in 1.155 im Anschluß an den Lohn der Menschen für die Erlösungstat Christi: «pour le pelerinaige qu'il avoit fait ly donnast il paiz que jamaiz ne faura, c'est le royaulme du ciel, ce nouz faisonz bien.» υ betont darüber hinaus auch die dem Menschen von Gott gegebene Gnade, durch die er der Versuchung widerstehen kann, d.h. er geht von einer ursächlichen Mitwirkung Gottes an allen guten Taten des Menschen aus, wie sie auch Thomas von Aquin lehrt74. Et se Dieu le soeffre a tempter, comme il puet ly homs contrester a le temptacion? - Tresbien, car Dieu seuffre que nous soionz temptes pour acroistre no gloire et se nouz donne tel povoir que nulz diables n'a povoir de nous decevoir ce nouz ne voullons. (Addition am Ende von 11.93) Die Notwendigkeit eigener Anstrengung wird auch in der Frage deutlich, ob an äußerlichen Zeichen zu erkennen sei, wer für das ewige Heil oder die Verdammung bestimmt ist. Dies wird in 11.66 dahingehend beantwortet, daß man die guten Menschen äußerlich z.B. durch ihren gemäßigten Gang und ihren freundlichen Gesichtsausdruck erkennen könne. Ε gibt hier sogar eine genaue «Gebrauchsanweisung» einschließlich Illustration: «si comme vous em poves " Cf. dazu oben Anm. 67. 74 Cf. dazu oben Anm. 65.

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veoir les figures ci desus, comment Ten conoist le bon homme du mauves 75 .» Diese sind nämlich nicht aufgesetzte äußerliche Zeichen, sondern Ausdruck der inneren Disposition 76 . Umgekehrt sind dies aber keine unfehlbaren Kennzeichen, wie der Redaktor von υ betont, der wie auch an anderen Stellen hier stärker differenziert: Dieu tant seullement congnoit les consiances et les cuers, mais bien avient que ly bon ont aucun signe par dehors, pour ce ne convient mye que ceulx qui ne l'ont mye soient malvais, ne tout eil qui ont eigne soient tout boin. (11.66) Sogar das Ärgernis der «predilectio», d.h. der unverschuldeten Errettung auch schwerer Sünder, versucht der Übersetzer des Lucidaire zu entschärfen, indem er die schlechten Taten der Erwählten bzw. die Möglichkeit der Erwählung trotz eines schlechten Lebens weitgehend übergeht77. Auf diese Weise versucht der Übersetzer dem Eindruck entgegenzuwirken, es genüge, die Hände in den Schoß zu legen und irgendwie dieses Leben hinter sich zu bringen, die Dispositionen für das künftige Leben seien sowieso schon von anderer Seite getroffen. Mehrfach wird sogar mehr oder weniger deutlich ausgesprochen, daß jeder einzelne sich anstrengen müsse, um ins Paradies zu kommen. Gerade was die Verdammung oder Errettung einzelner Berufsgruppen angeht, differenziert der Redaktor der Handschrift υ und streicht den Zusammenhang zwischen den eigenen Taten und dem zu erwartenden Schicksal im Jenseits heraus: Für die «gongleur» und «encanteur» stellt er in Aussicht, daß eine Änderung der Lebensweise sich positiv auf die Heilschancen auswirken werden, wenn er die oben bereits zitierte Antwort 11.58 folgendermaßen einleitet: «Nulle, tant qu'il maintaingnent tel mestier ...». Noch klarer macht er bei den Kaufleuten die individuelle Handlungsweise für das künftige Heil verantwortlich, wenn er darauf hinweist, daß dieser Stand zwar mit sehr großen Gefahren verbunden ist, daß aber auch ein Kaufmann bei entsprechendem Bemühen um ein gutes christliches Leben gerettet werden kann78. 75

76

Der Mikrofilm gibt die Illumination leider nur undeutlich wieder; es sind lediglich zwei menschliche Gestalten auszumachen, die eine mit einem hellen, die andere mit einem dunklen Gesicht. Cf. dazu auch Thomas von Aquin, der von einer moralischen Gewißheit des einzelnen über den eigenen Gnadenstand ausgeht, die sich u.a. durch Freude am Guten und Abscheu vor dem Bösen äußert: Quaestiones Disputatae de Veritate qulO arlO co: «Responsio. dicendum, quod aliquis habens caritatem potest ex aliquibus probabilibus signis coniicere se caritatem habere; utpote cum se ad spiritualia opera paratum videt, et mala efficaciter detestari, et per alia huiusmodi quae Caritas in homine facit. sed certitudinaliter nullus potest scire se caritatem habere nisi ei divinitus reveletur.» (ed. Busa, t. 3, p. 69c). Ähnlich auch 5. th„ II/I, qui 12 ar5 co (ed. Busa, t. 2, p. 518), cf. dazu auch Auer/Ratzinger, Bd. 5, p. 145.

77

Cf. oben Kap. 2.3.3. * Zur Wandlung der kirchlichen Haltung gegenüber Kaufleuten cf. auch Kap. 4.4.

7

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Noch stärker betont der Second Lucidaire in diesem Zusammenhang die eigene Verantwortung für das ewige Heil, wenn er die gesamte Problematik auch stärker auf die theoretische Diskussion um die Vereinbarkeit von freiem Willen und Prädestination bezieht. Er übernimmt zunächst den Anfang von 11.31, wo die Notwendigkeit von «tribulacions» zur Erlangung des Heils hervorgehoben wird, um dann verschiedene Arten des (göttlichen) Willens zu erklären und schließlich zu dem Schluß zu kommen, daß die Vorherbestimmung durch Gott die Freiheit des menschlichen Willens nicht beeinträchtigt und der Mensch daher aufgrund seiner Werke zu recht errettet oder verdammt wird: Or pren doncques, mon enfant, la conclusion que, combien que l'ordenance Nostre Seigneur voit par devant nature, et nepourquant eile n'ote pas que les euvres de nature ne soient naturieus, auxi, combien que l'ordenance Dieu voist par devant volente en ses euvres, nepourquant elle n'oste pas eux evres de volente que il ne soient volentives. Et selon ce, comme une chose est volentive, de tant est eile emputable et ajugeable a bien ou a mal. Et pour ce, combien que Nostre Seigneur ait ordene une chose d'omme ou de femme, si li doit il estre empute et ajugie a bien ou a mal™. Diese Art theoretischer Fundierung geht dem Lucidaire ganz ab, doch in den sich mehrmals wiederholenden Hinweisen auf die Notwendigkeit guter Werke, die nötig sind, um vor Gott im Gericht bestehen zu können, bzw. in der direkten Nennung des Zusammenhangs von diesseitigem Leben und jenseitigem Lohn oder Strafe verfolgt der Lucidaire die gleiche Intention (wobei einzelne Handschriften, wie gezeigt, noch über ihre Vorlage hinausgehen): Trotz der grundsätzlichen Vorherbestimmung - die auch im Second Lucidaire wie bei Thomas von Aquin vertreten wird - soll der Mensch zu einem gottesfürchtigen Leben angehalten werden. Hier ist wiederum die pastorale Ausrichtung des Elucidarium und verstärkt des Lucidaire zu sehen, die auch Augustinus und Thomas von Aquin gerade bei diesem Thema beschäftigt hatte. So empfiehlt Augustinus: «facile est enim, imo et utile, ut taceatur aliquod verum propter incapaces»80 - besser aber sei es noch, die Wahrheit um derer willen zu sagen, die sie verstehen können81. Und Thomas meint, daß die Prädestination zwar von Seiten Gottes absolut, von Seiten des Menschen aber kontingent sei. Deshalb könne der Mensch auch - von Ausnahmefällen abgesehen - seines Heils nicht sicher sein: ...non est inconveniens alicui suam praedestinationem revelari: sed secundum legem communem non est conveniens ut omnibus reveletur, duplici ratione. quarum prima potest sumi ex parte eorum qui non sunt praedestinati. si enim omnibus praedestinatis sua praedestinatio sie nota esset, tunc omnibus non prae7;

' SL 116, D. Ruhe 1993, p. 242/244. Zu Thomas von Aquin als Quelle für die Prädestinationslehre des SL cf. ibid., p. 31sqq und 45sq. "" De dono perseverantiae, 16,40. Kl Ibid. 113

destinatis certum esset se praedestinatos non esse, ex hoc ipso quod se praedestinatos nescirent; et hoc quodammodo eos in desperationem induceret. secunda ratio potest sumi ex parte ipsorum praedestinatorum. securitas enim negligentiam parit. si autem certi essent de sua praedestinatione securi essent de sua salute; et ita non tantam sollicitudinem apponerent ad mala vitanda; et propter hoc a divina Providentia salubriter est ordinatum ut homines suam praedestinationem vel reprobationem ignorent" 2 .

Die Schlußfolgerung daraus muß für den einzelnen sein, daß er sich so verhalten müsse, als ob er prädestiniert sei, um nicht sein zukünftiges Heil zu gefährden. Dies ist auch bei den genannten volkssprachlichen Texten immer mitgedacht, denn nur so kann der einzelne Gläubige zum christlichen Leben angehalten werden; ausdrücklich formuliert wird es aber im Kontext des Elucidarium nur von den Drucken des Second Lucidaire. Diese Textfassung spricht dabei auch die Notwendigkeit von guten Werken der Erwählten und die positive Wirkung guter Werke für die Verdammten an: ...se tu es predestine a estre sauve, tu ne doys pas acroistre tes peines en purgatoire et amaindrir ta gloire en paradis par faulte de faire bien. Et se tu es predestine a estre damne, tu ne dois pas pour ce vivre tous jours en peche, mais te dois tous jours efforcer de bien faire et de faire penitence pour amaindrir tes peines en enfer. Et pour ce que tu ne sees a quoy tu es predestine, tu dois tous jours penser a la meilleur partie, e'est assavoir que Dieu t'a fait a sa semblance et rachete de son precieux sang pour toy sauver et non pas pour toy damner* 3 .

3.3.

Eschatologie

Die Frage nach dem, was auf das irdische Leben folgt, hat die Menschen zu allen Zeiten beschäftigt84. In der christlichen Lehre nimmt sie von den biblischen Zeugnissen an einen so hohen Stellenwert ein, daß man in jüngerer Zeit die These aufstellen konnte, die gesamte Lehre Jesu sei eschatologisch ausgerichtet gewesen85. Christsein im Sinne Jesu fasse sich demnach zusammen in der Vater-Unser-Bitte «Dein Reich komme»86. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß den «letzten Dingen» auch im Elucidarium breiter Raum gewidmet wird und das gesamte Buch III mit «De futura vita» überschrieben ist. *2 Quaestiones disputatae de veritate qu6 ar5 co, ed. Busa, t. 3, p. 40b. Auch Augustinus, De correptione et gratia 13,39sq vertritt die Meinung, der Mensch könne seines Heils nicht sicher sein, gibt aber als Grund dafür an, daß in den Prädestinierten kein Hochmut aufkommen solle. " Nr. 116, D. Ruhe 1993, p. 241/243. 1,4 Cf. die Zeugnisse bei Le Goff 1981, p. 31-48 und Auer/Ratzinger, Bd. 9, p. 71-83, bes. für die jüdische und griechische Tradition. 85 Auer/Ratzinger, Bd. 9, p. 18. 86 Ibid.

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3.3.1.

Die allgemeine Auferstehung

Die Auferstehung als eine unterscheidend christliche Lehre spielt auch im Elucidarium eine große Rolle, wobei Honorius hier die subtilen theologischen Probleme nicht anspricht, so daß der Lucidaire seine Positionen ohne Änderungen übernehmen kann. Daß in R und Υ die Frage 111.48 (Art der Auferstehung der Totgeburten) fehlt, ist sicher nicht als Zweifel an der Allgemeinheit der Auferstehung zu interpretieren. Umgekehrt könnte im Glauben an die Allgemeinheit der Auferstehung aber das Fehlen von III. 67 begründet sein, denn dort wird mit Berufung auf Ps 1,5 gefragt, warum den «impii» die Auferstehung abgesprochen wird, was dann als bildliche Ausdrucksweise erklärt wird: Quare dicitur de eis: «Non resurgunt impii in judicio»? - Non continget illis ut ibi judicent, sicut hic fecerunt. De his dicitur: «Pones eos ut clibanum ignis in tempore vultus tui.»

Möglicherweise übergeht der Übersetzer die Frage, um mißverständlichen Interpretationen vorzubeugen, zumal die Antwort auch nicht leicht zu verstehen war. Ein in der Hochscholastik umstrittenes Problem, das auch in den Handschriften des Lucidaire seinen Niederschlag findet, ist die Form des Leibes der Auferstandenen und der Erwählten im Paradies. Gegen verschiedene Häresien betonten Theologen schon früh die Identität des Auferstehungsleibes mit dem irdischen Leib87. Auf keinen Fall werde dieser ein Luftkörper sein; auch die Gleichheit mit den Engeln ist nicht in diesem Sinn zu verstehen88. In solchen autoritativen Aussagen liegt vielleicht die Änderung am Ende von III.6 begründet, wo der Übersetzer aus dem lateinischen Gleichwerden mit den Engeln («coaequari») ein unverfänglicheres Am-gleichen-Ort-Sein für die Zeit nach dem Gericht macht und zudem in einer kleinen Ergänzung die Lebendigkeit (und das heißt wohl auch die Leiblichkeit) der so mit den Engeln Vereinigten hervorhebt: «si seront tuit vif pose en la compaignie des anges». Die Betonung der Gleichheit von irdischem und himmlischem Leib veranlaßt den Kopisten von τ dazu, in III.46 die Bildrede vom Töpfer, der beim Neuformen eines Gefäßes nicht darauf achtet, welchen Teil vorher die entsprechende Masse gebildet habe, nicht als einen Unterschied zwischen dem Aussehen des irdischen Leibes und des Auferstehungsleibes, sondern als ein unterschiedliches Aussehen der einzelnen Körper zu interpretieren: .. .tout ensement comme Ii potiers brise le vessel que il a nouvellement fait, et il refait autre de cele meisme terre, ne il ne regarde neant qui fu oreille ne que fu li fons, autresi fera Dieus Nostre Sires, car il fera de cele meisme matiere autre cors li quieus ne sera pas samblans a cestui cors. (Lucidaire) ... autresi fait Dieus Nostre Sire, car il fait de celle meisme matere homes les quieus ne sont pas semblabes les uns as autres. (τ) "7 Ott 1990, p. 33. "K Alain de Lille, cf. Ott 1990, p. 35. 115

Die in dieser Frage schon angeschnittene Problematik der Vollkommenheit des Auferstehungsleibes wird v.a. in 111.49 präzisiert, wo im Elucidarium nur in bezug auf die Erwählten von Schönheit gesprochen wird, υ erweitert diese These schon in einer Ergänzung zu 111.47, wo der Redaktor erklärt, für die Geretteten könne die Perfektion der Körper mit Sicherheit behauptet werden, für die «felons» dagegen wisse man nichts Sicheres: Et ceulx a qu'il il fali membres par defaute de nature ressuxiteront en corps sainz et saulx et sans nulle laidure. Che puise dire seurement des sauves, mais des felons ne di je for de leur. Mais le juste seront ressucite en toutes parfections, ne en eulx n'y ara ne pau ne trop ne coses que nafierche a parfait cors. Er lehnt sich damit an Petrus Lombardus an: Hoc autem in corporibus sanctorum intelligendum est, de quibus consequenter adiungit: «Resurgent igitur sanctorum corpora sine ullo vitio, sine ulla deformitate, sicut sine ulla corruptione, onere, difficultate: in quibus tanta facilitas, quanta felicitas erit. ... De reprobis autem quaeri solet an cum deformitatibus hic habitis resurgant"9. Die Problematik wird noch einmal in 111.80 aufgegriffen, wo explizit nach der Form der Erwählten im Himmel gefragt wird. Honorius gibt neben der orthodoxen Auffassung, diese sei die von Christus bei Tod und Auferstehung, auch der abweichenden Meinung Ausdruck, da Abwechslung die Sinne erfreue, könne man sich auch vorstellen, jeder sei in dem Alter und der Größe im Paradies, die er bei seinem Tod hatte. Diese Ansicht wird von Nicolas Eymeric als «haeresis» gewertet 90 . Einige Lucidaire-Handschriften übernehmen hier nur einen Teil von Honorius' Antwort: Nur auf die Größe (und indirekt auf das Geschlecht) gehen sie noch ein, das ursprünglich mit angesprochene unterschiedliche Alter bleibt nur in LOPQ und τ erhalten. Die meisten Lucidaire-Handschriften nehmen damit bezüglich von Alter und Aussehen der Auferstandenen die Position ein, die auch Petrus Lombardus vertritt: Ihr Alter ist dasjenige Christi bei seinem Tod, die Gestalt jedoch ist unterschiedlich: Quidam putaverunt omnes resurrecturos secundum mensuram aetatis et staturae Christi, ideo quia Apostolus ait: Donee oecurramus omnes in virum perfectum, in mensuram aetatis plenitudinis Christi. - Sed his verbis non eadem resurgentibus assignatur statura, sed aetas91.

90 91

Sent. IV 44, 3 und 4, Bd. 2, p. 518sq. Lefevre 1954, p. 518. Sent. IV 44, 1, Bd. 2, p. 516. Im Lucidaire lautet dieser Teil von 111.80 folgendermaßen: «.. .bien fait a croire que sera douce chose se chaucuns est illuec en itel grandeur en la quel il fu en cest sieccle, ensement comme il est douce chose a oir diverses voiz en orgue. Et pour ce si devons nous plus croire que chaucuns resuscitera en

116

3.3.2.

Das Gericht über die Toten

Die Unmittelbarkeit des Gerichts Unterschiedlich beantwortet wurde im Mittelalter die Frage, ob der Mensch unmittelbar nach dem Tod oder erst am Zeitenende gerichtet wird. Schon Augustinus unterscheidet z.B. zwischen dem Glückseligkeitszustand vor und nach der Auferstehung. Früh verteidigen einige Texte92 gegen Häretiker die katholische Lehre, daß die Heiligen gleich nach dem Tod in den Himmel eingehen. Dies ist auch die Haltung der meisten Frühscholastiker93. Ein gewisser Vorbehalt wird meist denjenigen gegenüber gemacht, die weder ganz schlecht noch ganz gut sind; diese müssen zuerst ihre Reinigungsstrafen abbüßen94 oder sogar bis zum Gericht warten, um ihren Lohn oder ihre Strafe zu empfangen95. Diese unklare Haltung spiegelt sich auch in Elucidarium und Lucidaire. Honorius vertritt die Auffassung, die Perfekten würden sofort zur Gottesanschauung zugelassen (ΙΠ.3), während die «justi» im irdischen Paradies oder in einer geistigen Freude warten müssen; sie wird auch den «imperfecti», die je nach Verdienst in mehr oder weniger angenehmen Orten die Auferstehung erwarten, erst nach dem Gericht zuteil (III.5). Die Übersetzung folgt im wesentlichen Honorius, doch einige Kopisten sind vorsichtiger: F und R übergehen mit ΠΙ.3 die Frage, in der die sofortige Aufnahme der «perfecti» ins Paradies gelehrt wird. Die Handschriften der Gruppe OPQ lassen in III.5 die Möglichkeit weg, daß die Seelen vor dem Gericht in höhere, bessere «Orte» aufsteigen, und nehmen stattdessen die Gleichstellung mit den Engeln zumindest für einige von ihnen schon vor dem Gericht an: Et tieus i a de ceus qui devant le jour del Jugement seront pose en grignor gloire pour les prieres des sains et par les bons fez que feront eil qui ancore vivent; mes nequedent apres le Jugement seront tuit a compaignie ensamble as anges. (Lucidaire) Et de teus i a qui aneois que viegne Ii jorz dou Juise qui seront a compaignie avoc les seins anges. (OPQ)96 tel estat el quel il estoit quant il ala de cest sieccle.» Die Handschriften LOPQT haben statt «estat» ein lateinnäheres «ed» bzw. «eage». Vgl. «...credibile est multo delectabilius esse ibi singulis aetatibus, singulis mensuris, utrumque sexum virorum et mulierum conspicere; sicut est delectabile diversas voces in organis vel fidibus audire. Unde magis credendum est omnes in illa aetate et in illa mensura resurgere et ibi apparere qua contigit eos hinc migrare» (EL III.80). 92 Z.B. ein anonymer Traktat des 8. Jahrhunderts, zit. von Ott 1990, p. 70. » Cf. Ott 1990, p. 71 sq. 94 So z.B. Robert von Melun oder Guillaume d'Auxerre, cf. Ott 1990, p. 71sq. 95 Z.B. die Präpositinus zugeschriebene Summa contra haereticos, cf. Ott 1990, p. 72. 96 Es könnte sich zwar bei dieser Auslassung um einen einfachen Augensprung handeln, die gleichzeitige Streichung des «terrien» (vor «paradis») im vorausgehenden Satz, wo es ebenfalls um den Aufenthaltsort der Seelen nach dem Tod geht, deutet jedoch auf einen bewußten Eingriff hin.

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Ähnlich verändern in III.6 einige Kopisten die Verschiebung des Gleichstellens mit den Engeln von «apres le Jujement» auf «en apres longuement» 97 (ABCD); diese unbestimmte Zeit könnte auch schon vor dem Gericht liegen . Eine indirekte und sehr vorsichtige Stellungnahme für die sofortige Gottesschau nach dem Tod könnte in den Handschriften C,T und Υ auch in III.5 vorliegen, wenn sie statt der Aufnahme in das irdische Paradies gleich nach dem Tod das Verbringen ins himmlische Paradies annehmen, der Nachsatz «ou en aucune espiritel joie» aber erhalten bleibt. Einzelne Handschriften nähern sich damit der Lehre von der sofortigen Aufnahme der Heiligen (bzw. der leichten Sünder nach einer angemessenen Reinigungszeit) in die Seligkeit an, die sich in der ausgehenden Frühscholastik und der Hochscholastik weitgehend durchgesetzt hatte98 und vor allem in der Auseinandersetzung mit den Griechen gefestigt wurde99. Aufs Ganze gesehen scheinen jedoch die Auslassungen einzelner Lucidczire-Handschriften eher darauf ausgerichtet, das problematische Thema auszusparen, oder bestenfalls sehr vorsichtig die Lehre des Honorius zu korrigieren, als dezidiert eine eigene Meinung zu vertreten. Eine Ausnahme stellt nur die Handschrift F dar, die die sofortige Gottesschau eindeutig ablehnt. Außer dem schon genannten III.3 übergeht diese Handschrift auch die Fragen ΠΙ.27-29, in denen u.a. von der Freude der Gerechten über ihre eigene Seligkeit die Rede ist, der zur Vollkommenheit nur noch die Anwesenheit der Freunde fehlt - vielleicht ein Hinweis darauf, daß der Redaktor die individuelle vollkommene Freude vor dem Gericht nicht für möglich hielt. In der gleichen Handschrift fehlt schließlich auch der größte Teil der Frage III.5, in der die Unterscheidung von «justi» und «imperfecti» und ihre Aufteilung auf verschiedene Orte behauptet wird. Dies wird durch die Frage ersetzt, ob die «ellis» gleich nach dem Tod ins Paradies eingehen, was negativ beantwortet wird. Die Entstehungszeit dieser Handschrift fällt genau in die Zeit neuer theologischen Auseinandersetzungen100. Denn um 1330 flammte der sogenannte Visio-Streit durch lehramtliche Äußerungen von Papst Johannes XXII. erneut kurzzeitig auf 01 . Diese Frage wird in der dogmatischen Konstitution «Benedictus Deus» vom 29.1.1336 durch die übereinstimmende Meinung gelöst, die Gottesschau sei sofort nach dem Tod zu erreichen, wenn es die Beschaffenheit der Seelen zuläßt - es bleibt jedoch unentschieden, ob die Seligkeit der Geretteten nicht nach dem Gericht vermehrt wird102. Es ist anzunehmen, 97

Ähnlich, aber noch deutlicher drückt dies Gillebert de Cambres aus: «E sunt devant le Jugement/ Ο les angres visablement» (vv. 195sq, E. Ruhe 1991, p. 169sq und dazu p. 30sqq). 9 " Cf. die Belege bei Ott 1990, p. 242sqq. 99 Le Goff 1981, p. 342 und 351. 100 Sie ist auf 1336 datiert. "" Ott 1990, p. 244sqq. Cf. dazu auch Auer/Ratzinger, Bd. 9, p. 116sq. 102 Ott 1990, p. 253.

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daß der Redaktor die Lehre von Papst Johannes XXII. bzw. seiner Parteigänger kannte, noch nicht aber dessen Widerruf und die neue Lehrmeinung, die von dessen Nachfolger gerade erst festgelegt worden war - ein deutlicher Versuch eines Kopisten, seinen Text auf der Höhe seiner Zeit zu halten. Allerdings ist die Haltung des Redaktors schwankend: Einerseits verneint er das sofortige Eingehen der Erwählten ins Paradies, andererseits behauptet er in III. 1, die Seelen der «juste» würden sofort nach dem Tod ins Paradies gebracht, und dieses wird gleichgesetzt mit der sofortigen Gottesschau: ...tout ensi l'ame dou juste, quant eile depart dou cors, Ii angles qui Γ a garde amainne grant compaignie d'angles et la presentent en paradis devant Dieu103.

Es wäre möglich, daß der Redaktor beim ersten Auftauchen der Frage deren Zusammenhang mit dem später von ihm anders beantworteten Problem nicht erkannte, z.B. weil er zu beschäftigt mit der radikalen Kürzung von III. 1 war. Vielleicht läßt sich sein Schwanken aber auch mit einer Bedeutungsverschiebung des Begriffes «justi» erklären. Denn sofern damit diejenigen gemeint sind, die nicht vollkommen im Stand der heiligmachenden Gnade sind (z.B. weil sie noch läßliche Sünden abzubüßen haben) - zugegebenermaßen nicht genau die Definition des Honorius - kann schon die vom Lucidaire vertretene Meinung durchaus als orthodox gelten. Für F wird die Annahme unterschiedlicher Personengruppen, die von den Fragen III. 1 und III.5 betroffen sind, aus dem Zusammenhang von III.5 gestützt, wo es durch das Beibehalten der notwendigen Reinigung deutlich macht, daß die Gruppe von Erwählten, denen der direkte Eingang ins Paradies verweigert wird, diejenigen sind, die noch Sünden abzubüßen haben: Les ques apele tu ellis? - Ceus qui font les commandemens Dieu et les gardent a lor pooir. - Vont il en paradis si tost com il sont mort? - Nenil, car ensi comme li enfes e[s]t baillies au soir por batre, tout ensi sont livre li juste par les angles as diables por aus espurgier.

Schließlich kann die Seligkeit bei der Gottesanschauung auch dann noch unterschiedlich sein, wenn sich die Seele im Paradies befindet. Dies wird von υ im Anschluß an 111.27 angeschnitten und im Sinne der am weitesten verbreiteten scholastischen Meinung beantwortet: Die Seligkeit ist zwar unterschiedlich, aber keiner neidet dem anderen seine größere Glorie, sondern alle freuen sich miteinander. Diese Meinung vertritt ähnlich auch Petrus Lombardus in Anlehnung an Augustinus:

Im

Ganz ähnlich auch R: «...et enportent l'espouse Dieu ... am paradis devant Dieu, et la voit Dieus face a face.» Der «normale» Text dagegen spricht nur allgemein von «ciel» und «esperitel paradis»; die visio facialis wird nur den «bonneseurees ames des sains homes» zugesprochen, vgl. II.2. 119

Ex his datur intelligi quod par gaudium omnes habebunt, etsi disparem cognitionis claritatem, quia per caritatem, quae in singulis erit perfecta, tantum quisque gaudebit de bono alterius, quantum gauderet si in se ipso haberet104. Das Endgericht Zusätzlich zu der Entscheidung über die individuelle Seele nach ihrem Tod nimmt das Gericht am Ende der Zeiten, bei dem alle Toten und Lebenden endgültig gerichtet werden, einen festen Platz in der christlichen Lehre ein. In bezug auf die Person des Richters und der Art seiner Ankunft lehren die meisten scholastischen Autoren, daß Christus in seiner Knechtsgestalt, d.h. als Mensch, zum Gericht kommt, wobei teilweise noch zwischen der irdischmenschlichen und der verherrlichten menschlichen Form unterschieden wird105. Honorius dagegen vergleicht in 111.51 zunächst Christus bei seiner Ankunft mit einem Kaiser, was zwar nichts über die genaue Erscheinungsform aussagt, aber doch ein Erscheinen in Herrlichkeit beschreibt. In III.63 wird Christus ausdrücklich als Mensch bezeichnet; in 111.75 schließlich vertritt Honorius die Meinung, Christus lege im Gericht seine Knechtsgestalt ab und zeige sich den Erwählten in seiner wahren Natur. Hierin sahen der Übersetzer und einzelne Schreiber anscheinend einen Widerspruch, denn die Frage 111.75 fehlt in der Übersetzung. Umgekehrt übergeht τ den Herrscher-Vergleich in 111.51 vielleicht deshalb, weil der Schreiber eher der These von der menschlichen Knechtsgestalt Christi zuneigte, c dagegen ändert in 111.63 den Text so, daß Christus in seiner Gottheit als Richter erscheint: «... Jhesu Crist soit illuec comme Dieus». Ein weiterer Grund für die Auslassung von 111.75 liegt wohl in der Frage, in welcher Form die Verdammten Christus sehen, insbesonders ob sie seine Herrlichkeit wahrnehmen können106. Daß die Verdammten die Gottheit Christi nicht sehen, da die Gottesschau eine Form der Seligkeit bewirkt, die den Verdammten verwehrt ist, war ebenfalls eine weit verbreitete Meinung107, die aber nicht von allen Autoren geteilt wurde. Darüber hinaus vertreten einige Autoren eine unterschiedliche Wahrnehmung der menschlichen Gestalt Christi für Gerettete und Verdammte108, wie es auch Honorius in III.54 und III.66 tut. Auch diese Meinung wird nicht allgemein geteilt, u, das die Frage 111.54 übergeht109, könnte sich dabei z.B. an Petrus Lombardus orientiert haben, der die unterschiedliche Erscheinungsform Christi für Gerechte und Verdammte explizit ablehnt: 104

Sent. IV 49,3, Bd. 2, p. 552. Ott 1990, p. 48 und 144sqq. Die verherrlichte Menschheit Christi ist noch einmal zu unterscheiden von seiner Gottheit. 106 Zu diesem Problem cf. Ott 1990, p. 48 und 144sqq. 107 U.a. Thomas von Aquin und Bonaventura, cf. Ott 1990, p. 146sq. 10 " Ott 1990, p. 144sq. 109 111.66 spezifiziert nicht die Wahrnehmung, sondern die Wirkung und konnte deshalb beibehalten werden. 105

120

Quidam putant a malis talem videri qualem crucifixerunt, id est infirmam, quia dicit Scriptura: ut videant in quern pupugerunt. - Augustinus, super Ioannem. Sedaperte Augustinus dicit formam servi glorificatam a bonis et a malis tunc videri ... no Unstrittig ist, daß es sich beim Richter der Welt um Christus handeln wird, aber die Begründung ist jeweils unterschiedlich. Honorius' These, Christus sei das Abbild des Vaters, die Menschen und Engel hätten Abbild Gottes sein wollen und deshalb ihm besonders Unrecht getan, weshalb er auch die Rache übernehmen werde (111.56), ist spekulativ111. Sie unterbleibt deshalb konsequenterweise im Lucidaire, da ja der Übersetzer weniger an Begründungen als an abgesicherter Lehre orientiert ist. Hier wirkt jedoch der übernommene Teil der Antwort, nämlich daß derjenige Rache nehmen werde, dem Unrecht geschah, eher rätselhaft und verstärkt noch den Eindruck einer dogmatischen Definition. Vermutlich weil es ihm zu spekulativ erschien, überging der Übersetzer auch die Beteiligung des Vaters und des Geistes beim Gericht (111.56). Eine Erinnerung an die Beteiligung der anderen göttlichen Personen am Gericht könnte jedoch noch in Ε vorliegen, das die Frage ΙΠ.70 von «Comment les jugeront Ii saint?» ändert zu «Comment les jugera Ii Saint Esperit?» Daß seine theologischen Kenntnisse aber nicht sehr weit reichten, zeigt die wörtliche Beibehaltung der Antwort, die damit nicht zur veränderten Fragestellung paßt. Zu den Umständen der Ankunft Christi beim Gericht gehört nach Honorius schließlich das Voraustragen des Kreuzes (111.51); allerdings ist es nicht das Kreuz selbst, sondern ein Licht in dessen Form (111.55). Es wurde auch die Meinung vertreten, beim Gericht seien weitere Marterwerkzeuge. Dieser Meinung schließen sich auch F in III.51 und υ in III.55 an. Die anderen Leidenswerkzeuge bei der Ankunft Christi lehren u.a. auch Radulfus Ardens unter Berufung auf Johannes Chrysostomus" 2 und das Doctrinal aux simples gensm. Die zu Richtenden werden von vielen Autoren wie auch von Honorius in vier Gruppen eingeteilt, zwei gute und zwei schlechte. Die mittelalterliche Theologie kennt aber auch andere Einteilungen, so Albert der Große, der je nach Art der Unterscheidung zu drei bis fünf Gruppen kommt. Die Dreiteilung entsteht durch die Aufteilung nach dem Ergebnis des Richterspruchs und ergibt drei Klassen: die Richtenden, die im Gericht Belohnten und die im Gericht Bestraften114. 1111 111 1,2 113 114

Sent. IV, 48, 2, Bd. 2, p. 543. Zur Beurteilung von Honorius' These cf. auch Ott 1990, p. 51. Ott 1990, p. 48. Ed. Glorieux 1973, Bd. 10, p. 319. «Accipitur enim mors per sententiam, et sie sunt iudicati et condemnati; et aeeipitur vita tantum, et sie sunt iudicati et salvati; et accipitur vita cum potestate iudicaria, et sie sunt salvati et iudicantes.» Die Unterscheidung geht nach Albert auf einen «magister Richardus» (i.e. Richard von St. Victor) zurück. De resurrectione, tr. II, q.10, art. 11,2 (ed. Geyer 1958, t. XXVI, p. 301). Cf. auch Ott 1990, p. 154.

121

Auch in der Übersetzung finden sich in diesem Punkt Änderungen, wenn diese auch ursprünglich auf einen Schreiber- oder Übersetzerfehler zurückgehen dürften: In 111.59 werden zwar vier Klassen genannt, aber nur die «parfez homes» (d.h. die Richter) und die Nicht-Gerechten (d.h. diejenigen, die im Gericht verdammt werden) werden erklärt. Daß es sich um ein Versehen handelt, zeigt die Wiederaufnahme aller Gruppen in 111.60-68. Einzelne Handschriften versuchen, diesen Fehler zu reparieren und kommen dabei zu Lösungen ähnlich denen Alberts des Großen. Die zusätzliche Änderung in DIII.61 in OPQ ergibt zunächst zwei große Gruppen: die Richter und die zu Richtenden: Coment jugerunt il les autres homes? (OPQ) Coument jugeront il les justes homes? (Lucidaire)

R unterscheidet in III.59 nur zwischen Guten und Bösen und beendet damit die Antwort115, υ trennt zwischen «boins», «eslis» und Verdammten, was der oben zitierten Einteilung Alberts recht nahe kommt; der Zusatz, daß Gute und Erwählte beide mit Christus richten, zeigt jedoch die Inkonsequenz der Änderung. Daß hier keinesfalls eine systematische Verbesserung vorliegt, wird an der Beibehaltung von 111.61 (Richterspruch über die «justi») und 65 (Verdammung ohne Gericht) in allen diesen Handschriften (außer teilweise R) deutlich, die es nach ihrer Einteilung so nicht geben dürfte (besonders 111.65). In diesem Fall reichte die theologische Kompetenz also nur aus, um einen offensichtlichen Widerspruch zwischen Zahlenangabe und Aufzählung zu beheben. Ein konsequentes Weiterdenken bzw. Füllen der Lücke mit anderem Material war nicht möglich. 3.3.3.

Fegefeuer

Die Vorstellung von einem reinigenden Feuer, dem die Seelen der Verstorbenen nach dem Tod unterworfen werden, um danach in die himmlische Seligkeit einzugehen, gehört seit langem zur kirchlichen Lehre von den letzten Dingen116; gelegentlich taucht auch im frühen Mittelalter schon die Vorstellung auf, dies sei ein von der Hölle zu unterscheidender Strafort für diejenigen, die später gerettet werden117. Meist steht jedoch Art und Wirkung des 115

Cf. auch die Einteilung Alberts nach der Wirkung des Gerichts, wonach es nur zwei Ordnungen (als zu Richtende) gibt: Gerettete und Verdammte: «De illo ultimo iudicio dicimus, quod dupliciter potest considerari, scilicet in comparatione ad causam sententiae vel in comparatione ad effectum. Si in comparatione ad effectum, tunc non sunt nisi duo ordines, quia effectus non est nisi duplex, scilicet possessio vitae et possessio mortis. Et sic erunt illi duo ordines iudicati et salvati, iudicati et condemnati.» (De resurrectione, tr. II, q.10, art. 11,2, Ed. Geyer 1958, t. XXVI, p. 300sq). Cf. auch Ott 1990, p. 154.

116

Ott 1990, p. 19sqq. Z.B. Beda, cf. Ott 1990, p. 20.

117

122

Feuers eher im Mittelpunkt der theologischen Diskussion als die konkrete Vorstellung des Ortes der zu reinigenden Seelen. Nach Le Goff ist das Purgatorium als Ort eine Konzeption des 12. Jahrhunderts, das Elucidarium sei ein typischer Zeuge für die zögernde Haltung, die die Kirche in dieser Frage einnimmt118. In der Tat spricht das Elucidarium nur vom «purgatorium ignis», und der Ort der Strafen wird nicht spezifiziert (III.5 und 8). In der Hochscholastik dagegen steht die Wirklichkeit des Fegefeuers als eines mittleren Ortes zur Reinigung fest119. Im Lucidaire scheint die Vorstellung vom Purgatorium denn auch bereits fest etabliert. Zwar begegnet auch hier noch die Formulierung «feu d'espurgatoire» (z.B. als Rubrik in H); schwankend ist auch noch die Bezeichnung «feus qui est apelez purgatoire» in DIU.8, wobei hier aber auch schon einzelne Kopisten charakteristische Änderungen vornehmen, z.B. Q: «Quel est Ii fues qui art al leu de purquatoire[!]?», das hiermit zeigt, daß es sich das Purgatorium als Ort vorstellt. Auch andere Handschriften sprechen eindeutig vom Fegefeuer nicht nur als einer Art der Reinigung, sondern als einem festen Ort120: υ verändert gleich mehrmals das vage «iceles qui sont en paines» (III.29sq) zu «les ames que sont en purgatoire» und ergänzt in III.8 zum «espurgement», das die Seelen nach dem Tod zu erdulden haben, «et chou appelle on purgatoire». Noch weiter als die bisher besprochenen Handschriften geht F, das das Fegefeuer unmißverständlich als Ort definiert, wenn es die Antwort zu III. 8 folgendermaßen umgestaltet: C'est Ii lieus ou les ames sont espurgies de lors pechies par tres grant chaut, par tres grant froit et par autres diverces manieres de tormens. Die Lehre von einem reinigenden Feuer im Jenseits allgemein und eines dafür existierenden Ortes im besonderen muß aber immer wieder gegen Häretiker oder auch gegen die Griechen, mit denen die Römische Kirche im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts kurzfristig eine Wiedervereinigung erreichte, verteidigt werden121. Es ist deshalb nur folgerichtig, wenn auch Texte im Umfeld des Lucidaire noch deutlicher als dieser selbst werden und nicht nur den Text fast unauffällig umgestalten, sondern massiv auf strittige Punkte hinweisen,

"" Cf. das Kapitel «Un temoin des hesitations: Honorius Augustodunensis» in: Le Goff 1981, p. 184sqq. Zur Kritik an der These Le Goffs cf. auch die ergänzenden Bemerkungen bei Bredero 1983. Zur Entwicklung von der Annahme eines zunächst unbestimmten Zwischenzustandes bis zum Fegefeuer cf. auch Auer/Ratzinger Bd. 9, p. 179-186. 119 Ott 1990, p. 95. 120 Vgl. neben den eben zitierten Handschriften auch die im Kapitel 4.3., p. 140 genannte Ergänzung in einigen Handschriften. 121 Cf. Bredero 1983, p. 446sq und Le Goff 1981, p. 376sqq.

123

indem sie z.B. das Kapitel zum Fegefeuer mit «Cest chapitre est encontre toutes les nacions qui dient que non est espurgeeur122» einleiten. In engem Zusammenhang mit der Vorstellung vom Purgatorium steht die Frage, ob man sich diesen Ort und die darin büßenden Seelen körperlich denken muß, und wer die Strafe vornimmt123. Honorius denkt eindeutig an einen menschlichen Leib für die Toten im Reinigungsfeuer, ebenso die meisten Handschriften des Lucidaire. Lediglich R und υ lassen diese umstrittene Ansicht124 weg. Umstritten ist auch die genaue Art der Reinigung, besonders die Mitwirkung der Teufel, wie sie in III.5 angesprochen wird. Diese Ansicht wird v.a. in der Hochscholastik fast einhellig abgelehnt, u.a. von Thomas von Aquin und Bonaventura125. Auch hier ist es wiederum nur das späte u, das die Übergabe der Seelen an die Teufel zur Reinigung wegläßt und nur allgemein die Notwendigkeit der Bestrafung betont: .. .et icil, tout ensement comme Ii enfes est livres as sers pour batre, autresi sont eil livre des leaus anges au deable pour espurgier; et ja en nulle mesure ne lor porront plus mal faire se tant non comme il auront deservi et tant comme Ii bon angle lor lesseront. (Lucidaire) .. .et sont ensi comme ly enfes qui est levres as siers pour batre, ainsi sont il livrer a soffrir paine pour eulx espurgier selon leur mesfaiz. (u)

Vielleicht kommt aber auch in der gegenüber dem Elucidarium deutlicheren Herausstellung der Urheberschaft Gottes für die Erleichterungen der leidenden Seelen in III.8 ein grundsätzliches Unbehagen des Übersetzers an der Rolle von Engeln und Teufeln bei der Bestrafung der Menschen zum Ausdruck, was sich aber noch nicht in der Aufnahme einer abweichenden Lehrmeinung niederschlägt.

122 123 124

125

Livre de Sidrac, Kapitel 435, London, British Museum add. 17914, f. 58v. Dies gilt analog auch für die Hölle. Cf. z.B. III.8sqq. Die Annahme eines Leibes durch die Seele, da diese sonst nicht von dem - materiellen - Reinigungsfeuer erfaßt werden kann, wird u.a. von Petrus Lombardus vertreten und in der Frühscholastik von Petrus von Capua ausdrücklich verneint, cf. Ott 1990, p. 26. Auch Nicolas Eymeric hatte diese Frage kritisiert, cf. Lefevre 1954, p. 515. Für die anderen französischen Übersetzungen des Elucidarium cf. Kleinhans 1993, p. 227. Cf. Ott 1990, p. lOOsqq und Artikel «Purgatorium» in DThC 13,1, col. 1243, dagegen Ott 1990, p. 28 (Guillaume d'Auxerre, der an einer Reinigung durch schlechte Engel trotz Einwänden festhält), p. 62 (Petrus Lombardus, der die Frage unentschieden läßt) und p. 66 (Radulfus Ardens, der die Beteiligung von Dämonen entschieden ablehnt) für die Frühscholastik.

124

3.3.4.

Hölle

Obwohl Honorius in der Frage nach Ort der Hölle und Art der Höllenqualen nicht gerade die Standardantworten der theologischen Literatur gibt126, wird im Lucidaire (außer in u, das III. 13sq wegläßt) Honorius' «volkstümliche127» Beschreibung beibehalten. Die Aufzählung der Strafen, besonders in der allegorischen Verknüpfung mit den Vergehen, für die sie zu erdulden sind, war gut geeignet, den Rezipienten Angst einzuflößen und sie so zum Gehorsam gegenüber den Geboten Gottes anzuhalten128. Daß solche Ausführungen nicht auf eine theologische Klärung von Sachverhalten, sondern auf die Emotionen eines einfacheren Publikums abzielen, zeigt auch ein Blick auf Texte mit vergleichbaren Beschreibungen. Dies ist neben Alain de Lille, dessen Liber sententiarum bezeichnenderweise aus einer Reihe von Predigten hervorgegangen ist129, z.B. das Doctrinal aux simples gens, das schon vom programmatischen Titel her für ein einfacheres Publikum bestimmt ist130. Die Veränderungen der Übersetzung allgemein und weiterhin einzelner Handschriften betreffen hier fast ausschließlich die Formulierungen. So genügte offensichtlich die Qualifikation von Durst, Hunger, Hitze, Kälte usw. als «trop grand...» (D: «sans mesure») in III. 13 dem Übersetzer noch nicht; gleich mehrmals wird in III. 14 noch die Schrecklichkeit und Unvergleichlichkeit durch Ergänzungen verstärkt: «que il onques en nulle meniere ne puet estre sosfres», «si est mout aspre». Dabei nehmen einzelne Handschriften noch weitere Änderungen vor: «si grant que plus ne puet» (Ε), «que onques si grant ne fu» (τ); während der Lucidaire nur die Heftigkeit des Schlagens mit dem des Schmieds vergleicht, konkretisiert R das Bild, so daß sich der Sünder gleich wie ein Eisen auf dem Amboß fühlen kann: «la quinte est qu'il sunt batu ausis comne l'an bat le fer sus l'anclume»131; ähnlich wirkt die Begründung, die ρ für den Lärm in der Hölle (der an sich schon Strafe ist) gibt: «Li huitime si est horrible, car il voient les dyaubles et les dragons, et ont moult grant noise qui ja ne cessera de eels qui plorent de si aspre torment et de la delor.» 126

Ott 1990, p. 65 nennt außer Honorius nur noch Alain de Lille, der ähnlich neun verschiedene Qualen unterscheidet. Die Ausschmückung der körperlichen Strafen in Hölle und Purgatorium ist aber in der säkularen Literatur des Mittelalters weit verbreitet, z.B. in den Jenseitsberichten der Visio Sancti Pauli und der Tundalusvision oder auch in den zahlreichen Versionen des Espurgatoire Saint Patrice cf. dazu oben, Kap. 1, Anm. 131 - der bekannteste dieser Texte ist sicher Dantes Divina Commedia. 127 Ott 1990, p. 59. 128 Cf. die in 4.3., p. 141 zitierte Zusatzfrage in p. 129 Cf. dazu Ott 1990, p. 65, Anm. 46. '» Ed. Glorieux 1973, Bd. 10, p. 318. 131 Auch das Doctrinal aux simples gens verwendet diese Formulierung: «Item ilz ont... marteleurs sans lasser qui sur eulx fierent sans cesser comme fer sur enclume». Ed. Glorieux 1973, Bd. 10, p. 318.

125

Die Phantasie jedes einzelnen Hörers oder Lesers hatte hier mit Sicherheit genug Nahrung, um sich das eigene zukünftige Schicksal auszumalen. Bezeichnend hierfür ist die Addition der Handschriften ABCDE bei der Reaktion des «Disciple», der in III. 17 sein Mitleid (und, stellvertretend für die Rezipienten, Angst um das eigene Schicksal?) zeigen darf: «Li deciples dit en plorant». bevor er vom Mestre beruhigt wird, nur diejenigen, die den Willen des Teufels tun, würden so bestraft. Deren Liste in IUI8 ist aber wiederum beängstigend lang. Auch der Tod der Sünder wird in 111.12 in der Übersetzung durch verstärkende Adjektive drastischer ausgemalt als in der lateinischen Vorlage und wirkt damit als Warnung, als Sünder zu leben und zu sterben: Cum mali in extremis sunt, daemones cum maximo strepitu conglobati veniunt aspectu horribiles, gestibus terribiles, qui animam cum pervalido tormento de corpore excutiunt... Quant ce est chose que Ii mal home muerent, si s'asamble Ii deables ensamble ο grant tumulte tot environ lui, si sont mout lait pour veoir, car il ont mout espoantables esgardemenz, et si traient icele chetive ame mout aigrement de cel chetif cors...132 F ist die einzige Handschrift, die über diese publikumswirksamen Änderungen hinaus Eingriffe in die Beschreibung der Höllenstrafen vornimmt. Nachdem sie die ersten acht Strafen stark gekürzt hat, verändert sie die neunte ganz: «la nuevime la ramembrance qu'il ne ceront ja sauf»133. Dies ähnelt der Parallelstelle in Alain de Lilies Liber sententiarum, der in den ersten acht Strafen ebenfalls weitgehend mit Honorius übereinstimmt: «Nona, et ultima poena, erit desperatio; nemo enim illorum de caetero requiem se sperabit habiturum»134. Auch das Doctrinal aux simples gens nennt als letzte Strafe das Bewußtsein von der ewigen Verdammnis: «mais sur toutes autres choses les tourmente plus ce que par leur default ils ont perdu la gloire de paradis et que jamais pardon ne actendent»135. Ebenso rechnen viele andere Theologen den «Gewissenswurm» zu den Höllenstrafen136. Die direkte Quelle von F wird angesichts der weiten Verbreitung wohl nicht mehr auszumachen sein, doch legt die Verwendung von Präsens-Partizipien bei der gesamten Antwort nahe, daß F nicht nur das Ende verändert hat, sondern eine andere Quelle benutzte, und zwar vermutlich eine lateinische, die der Redaktor selbst übersetzte, denn die Partizipialkonstruktionen kommen sonst in der Handschrift auch bei eigenständigen Formulierungen so nicht vor. 1,2

113

134 135 136

Eine Dramatisierung der Todesstunde in Zusammenhang mit dem Fegefeuer beobachtet - mit Bezugnahme auf Philippe Aries - auch Le Goff 1981, p. 392. Cf. dagegen die entsprechende Stelle im Elucidarium (III. 14): «Nona sunt ignea vincula, quibus singulis membris constringuntur.» PL 210, col. 250. Ed. Glorieux 1973, p. 318. Belege bei Ott 1990, p. 66sq und 174sqq.

126

3.3.5.

Ungetaufte Kinder und alttestamentliche Väter: der Limbus

Ein spezielles Problem bei der Frage nach Lohn oder Strafe im Jenseits waren einerseits die ungetauft gestorbenen Kinder, die zwar keine individuellen Sünden begangen hatten, die aber aufgrund der Erbsünde nicht in die ewige Seligkeit eingehen konnten, und andererseits die Gerechten des Alten Testaments wie z.B. Abraham und die Propheten, die zwar die nötigen persönlichen Verdienste aufzuweisen hatten, denen aber der Glaube an Christus und die Taufe fehlte. Schon in der Alten Kirche hatte man verschiedentlich für die Ungetauften einen intermediären Zustand angenommen, bevor man unter dem Eindruck der Pelagianismuskontroverse auch ihre Verdammung lehrte, teilweise jedoch mit weniger schlimmen Strafen in der Hölle oder sogar Straffreiheit außer der Gottferne137. Davon zu unterscheiden ist nach Gregor dem Großen der ebenfalls in der (oberen) Hölle angesiedelte Aufenthaltsort der alttestamentlichen Väter, der in der theologischen Literatur zunächst meist als «Schoß Abrahams» bezeichnet wird138. Dieser steht seit der Auferstehung Christi jedoch leer. Die Gottferne als einzige Höllenstrafe für die ungetauft gestorbenen Kinder ist im Mittelalter die verbreitete Überzeugung, wenn auch einzelne Theologen ihnen einen eigenen Ort, den «limbus puerorum», zuordnen139. Diese erstgenannte Vorstellung ist es, die sich auch im Elucidarium und den meisten Handschriften des Lucidaire findet: Die ungetauft gestorbenen Kinder haben keine Höllenqualen außer der Dunkelheit (11.43)I40. Eine Lokalisierung gibt Honorius für diesen Aufenthaltsort der ungetauften Kinder nicht. Die alttestamentlichen Väter haben ebenfalls keine Qualen außer der Gottferne zu erleiden (111.23); ihr Aufenthaltsort wird in III.22sq mit der oberen Hölle angegeben. Einige Lucidaire-Handschriften nehmen jedoch Bezug auf die Vorstellung eines eigenen, von der Hölle und auch dem Fegefeuer zu trennenden Ortes für die Väter und die ungetauften Kinder, die sich mit Einsetzen der Sentenzenkommentare herausbildet. Zwar bleibt die Frage nach der Hölle, in der sich die Urväter befinden, unverändert, die Antwort wird jedoch von F und υ umgestaltet. F ersetzt die gesamte Antwort 111.22 durch «en la porte d'enfer, et la vont ore Ii mort ne». Bei der «porte d'enfer» dürfte es sich um einen Ausdruck für den Limbus handeln, wobei der Redaktor zwischen den Orten für die ungetauften Kinder und die alttestamentlichen Väter nicht unterscheidet. Deutlicher drückt sich υ aus, das allerdings ebenfalls den Begriff Limbus nicht ver137 118 159

140

Artikel «Limbes» im DThC IX, col. 760sqq. Ibid., col. 764. Für weitere Belege cf. Le Goff 1981, p. 345 und 355. Zu Albertus Magnus und besonders Thomas von Aquin zum «limbus puerorum» cf. auch DThC IX, col. 765sq. Die Antwort steht allerdings in Widerspruch zu 11.42, wo von den ungetauft Gestorbenen als «tarn immeritos et pene sinepeccato (...) in poena» die Rede ist.

127

wendet, sondern sowohl die ungetauften Kinder als auch die alttestamentlichen Väter der Hölle (in deutlich zu unterscheidenden Etagen) zuordnet141: Infer sont ly plus perfons des dampnes, ou ly malvais sont tormenter et ly diables sanz fin. Ly seconz est des enfans qui sont mort ainz qu'il aient baptesme, et la ne seuffrent il nul mal, mais jamais ne verront Dieu. Li tiers est ou ly saint Pere aloient devant le mort de Jhesu Crist.

Diese Einteilung ähnelt sehr stark der Meinung von Thomas von Aquin zum gleichen Thema142, υ lehrt hier auch für die Ungetauften die mildere Strafe, nämlich nur die Gottferne, ohne jede Art von anderen Qualen, wie sie u.a. ebenfalls Thomas vertreten hatte. Die Handschrift ist in Bezug auf die Qualen der ungetauften Kinder aber nicht konsequent. In 11.42 ändert sie die «paines» der anderen Handschriften zwar noch analog in «sevrees de Dieu», im nachfolgenden 11.43 jedoch wird die Dunkelheit noch zur Gottferne addiert: «Tenebres tant seulement et se ne pevent jamais veoir Dieu.» Die anscheinende Unstimmigkeit erklärt sich vielleicht daraus, daß υ die Frage 11.43 nur auf die kleinen Kinder «qui dampnes sont» bezieht, hier also eine Unterscheidung zwischen den Ungeborenen (11.42), die deshalb ohne Taufe aber auch ohne eigene Schuld sind, und den sehr früh gestorbenen, die verdammt sein können (11.43), unterscheidet. Einer etwas milderen Ansicht vom Schicksal der ungetauften Kinder scheint auch F zuzuneigen, das den größten Teil der Antwort von 11.42 übergeht, so daß nicht von Strafen für die ungetauften Kinder die Rede ist. Die Frage 11.43 wird dann allerdings ausdrücklich auf die ungetauft gestorbenen Kinder bezogen und ebenfalls mit «tenebres» beantwortet. Wenn also Υ (und wahrscheinlich auch F) hier die neue Lehrmeinung von der milderen Strafe für die ungetauft gestorbenen Kinder eindeutig kannte, so ist die Veränderung nicht an allen Stellen vorgenommen oder die Unterscheidung von in den Limbus eingehenden Kindern und verdammten Kindern zumindest nicht klar. 141

Cf. die sehr ähnliche Antwort, die hier - mit zwischengeschobenem Fegefeuer - der Second Lucidaire gibt: «II y a un autre enfer corporel, et celui si est en abisme ou plus parfont de la terre, vers le moilon. Et est une cave ou il a .iiij. hestages: le plus haut si est ou descendoient Ii saint Pere ains que Dieus fu mis en croiz, mes n'i a maintenant nul, que Nostre Seigneur les en traest touz; l'autre estage si est espurgatoire de quoi tu demandes; le tiers estage par dessouz si est ou descendoient Ii petit enfant qui meurent sanz baptesme; le quart estage qui est au fonz, c'est le puis d'en fer ou descendent eil qui se meurent en leur pechie mortel.» (D. Ruhe 1993, Nr. 143, p. 268/270.) Auch der Second Lucidaire verwendet hier den Fachausdruck nicht; er kommt allerdings in den Drucken in Nr. 135 vor. (D. Ruhe 1993, p. 261.) 142 In quattuor libros sententiarum 4, ds 45, qui, ar2b und 2c, ed. Busa, Bd. 1, p. 652b und c. Cf. dazu auch Kleinhans 1993, p. 230-232. Die Übersetzung 5 nimmt hier eine ähnliche Position ein wie υ und die Handschrift η des Second Lucidaire. 128

3.3.6.

Die Zahl der Seligen

Im Kontext des Weltenendes wurde auch das Problem diskutiert, wie viele Menschen in die ewige Seligkeit eingehen werden. Diese Frage wird im Elucidarium an mehreren Stellen angeschnitten. In ΙΠ. 11 wird sie eindeutig mit der Zahl der nach dem Engelsturz im Himmel verbliebenen Engel beantwortet. Schon in 1.77 lehrt Honorius im Zusammenhang mit dem Engelsturz, die Zahl der Seligen entspreche der Zahl der gestürzten Engel plus der Zahl der Menschen, die gerettet worden wären, wenn keine Engel gegen Gott aufbegehrt hätten. Der Lucidaire nimmt die gleiche Position wie das Elucidarium ein. c und υ jedoch vertreten die sogenannte «Lückentheorie», die besagt, daß genau so viele Menschen gerettet würden wie Engel gefallen seien: III. 11: Quantes ames parvendront au regne Nostre Seignor? - Autretant comme il i remest des anges. (Lucidaire) - Autretant comme il en issi des angles, (c) - Octant qu'el quey d'anglez du ciel. (u) Allerdings verhalten sich beide Handschriften hier inkonsequent, denn 1.77 wird unverändert übernommen. Konsequent wird die Lückentheorie von F vertreten, das die Vorlage bei 1.23,1.47,1.72 und 1.77 in dieser Hinsicht ändert, die Frage III. 11 jedoch übergeht (vermutlich weil dem Redaktor das Problem mit der häufigen Erwähnung in Buch I hinreichend behandelt schien). Die gleiche Meinung vertritt auch die Übersetzung 2'43. Diese im Mittelalter immer wieder spekulativ beantwortete Frage rief u.a. auch die Kritik des Inquisitors Nicolas Eymeric in seinem Elucidarius Elucidarii hervor, der nicht eine bestimmte Meinung kritisierte, sondern überhaupt die Tatsache, daß der Mensch versuche, eine solche Frage zu beantworten, denn die Zahl der Geretteten sei nur Gott bekannt. Er verwendet hier fast wörtlich die Meinung, zu der Thomas von Aquin in seiner Summa theologiae (1,23,7) kommt: «sed melius dicitur quod soli Deo est cognitus numerus electorum in supema felicitate locandus». Auch der italienische Elucidario übersetzt die Antwort zwar, fügt dann aber an: «zo e dobio e opinione». Degli Innocenti verweist in diesem Zusammenhang auf die oben zitierte Thomas-Stelle144. Das Unbehagen über die Versuche, eine genaue Zahl der Erwählten festzulegen, mag die Handschriften der Gruppe OPQ dazu veranlaßt haben, die Frage wegzulassen. Die schwankenden Antworten und die Insistenz, mit der z.B. die Handschrift F gleich mehrere Möglichkeiten nutzt, diese Frage anzusprechen, deu141

144

Sie ändert auch die entsprechenden Stellen in 1.23,57,77 und 123, cf. Kleinhans 1993, p. 199sq. Cf. dort auch der Verweis auf verwandte Texte, besonders Ci nous dit und die Druckfassungen des Second Lucidaire, die ebenfalls die Lückentheorie vertreten. Die Lückentheorie wird auch schon von Augustinus gelehrt, z.B. Enchiridion XVI (62). Degli Innocenti 1984, p. 251.

129

tet auf das Interesse hin, das diesem Problem von den Benutzern des Lucidaire entgegengebracht wurde. Ob nun aber die Lückentheorie vertreten wird oder dem Menschen ein eigenständiges Existenzrecht zugesprochen wird, auf eine genaue Zahlenangabe legt sich kein Kopist fest. Die schon behandelte Notwendigkeit zu gewaltiger Anstrengung, um zu den Erwählten zu gehören, scheint jedoch anzudeuten, daß auch Übersetzer und Kopisten des Lucidaire zu der pessimistischen Ansicht des Thomas von Aquin neigen, daß «aufgrund der allgemeinen Ursündenverderbtheit nur die 'wenigeren' (pauciores) das ewige Glück erlangen, während die 'meisten' (plurimi) dieses Ziel verfehlen145.» 3.3.7.

Das Wissen der Seligen und Verdammten

Nicht unproblematisch war für den Übersetzer des Lucidaire die Meinung des Honorius bezüglich des Wissens der Verdammten und Geretteten. Honorius vertritt die von anderen frühscholastischen Theologen - u.a. Petrus Lombardus - geteilte Meinung, die Heiligen sähen die Bösen in der Hölle, ohne jedoch Mitleid mit ihnen zu haben oder für sie zu beten. Auch was in der Welt vorgeht, wissen sie, und beten für die Gerechten und Bedrängten, die sie um Hilfe anrufen, aber nur soweit dies dem Willen Gottes entspricht. Das theologische Problem, daß die Heiligen die ständige Gottesanschauung haben, was anscheinend dem Sehen der Verdammten widerspricht, korrigiert die Gruppe OPQ, indem sie beides verbindet, mit dem - auch im Lucidaire genannten - Zweck der größeren Freude über die eigene Rettung: III. 19: Li saint home verront les felons en paine, pour ce que il aient grignor joie de ce que il ont eschue tout ce. (Lucidaire, III. 19) Li seint home verront Nostre Seignor totes hores; nequedant si verront il les felons en poine, por ce qu'il aient greignor joie de ce qu'il ont eschive tot ce. (OPQ) Hiermit wird auch noch einmal deutlich, daß die Möglichkeit der individuellen Gottesanschauung schon vor dem Gericht vertreten wird.146 Vorbehalte gegen die Ansicht, nach dem Gericht könnten die Geretteten die Verdammten sehen, nicht aber umgekehrt, zeigt die Handschrift u, wenn sie dies als Meinung einiger («dient aucung docteurs») kennzeichnet - eine eigene Antwort gibt der Redaktor jedoch nicht. Bei F schlägt sich hier der allgemeine Verzicht auf zu subtile Unterscheidungen nieder, wenn es nur lapidar ein «oil» zur Antwort auf die Frage gibt, ob die Gerechten die Qualen der Verdammten sehen können. Als besonders problematisch erweist sich in diesem Zusammenhang nach Ausweis der Überlieferung das fehlende Mitleid, ja sogar die Freude der Ge145

Kraus 1977, p. 75, der S. th., I, 23,7 ad3 paraphrasiert. ' Cf. dazu oben p. 117sqq.

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