"Es zog in Freud und Leide zu ihm mich immer fort": Die Schubert-Transkriptionen Franz Liszts 3515121374, 9783515121378

Liszts planvoll zwischen den tradierten Gattungen changierende Klavier-Transkriptionen haben eine wechselhafte Rezeption

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"Es zog in Freud und Leide zu ihm mich immer fort": Die Schubert-Transkriptionen Franz Liszts
 3515121374, 9783515121378

Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
DANK
„LA VOIE EST TRACÉE“ – EINLEITUNG
I. LISZTS WEGE ZU SCHUBERT
AUF DEN SPUREN SCHUBERTS IN WIEN
„IM BRILLANTEN STYL“ – CZERNYS SCHUBERT-FANTASIEN
„LE MUSICIEN-POÈTE DE L’ALLEMAGNE“ – FRÜHE SCHUBERT-REZEPTION IN PARIS
ARRANGIEREN UND BEARBEITEN BEI LISZT
II. DIE LIEDTRANSKRIPTION ALS NEUE GATTUNG
DIE ROSE – „TOUTE MA VIE DE 16 À 19 ANS“
„JAMAIS GOETHE ET SCHUBERT N’ONT ÉTÉ COMPRIS AINSI“ – FRANZ LISZT UND MARIE D’AGOULT
THALBERG UND LISZT: ZWEI RIVALEN SINGEN SCHUBERTS LIEDER AM KLAVIER
ZU PAPIER GEBRACHTE IMPROVISATIONEN
SCHUBERT-LIEDER IM KONZERTSAAL: LISZTS WIENER KONZERTE VON 1838
„WEDER VARIATIONEN NOCH POTPOURRIS“ – PROBLEMATIK EINER TYPOLOGIE
„VON FR. LISZT IN SEINEN CONCERTEN MIT AUSSERORDENTLICHEM BEIFALLE VORGETRAGEN“ – HASLINGER, DIABELLI & CO. EDIEREN IM EILTEMPO
ERSTE MISSTÖNE
III. HÖHEPUNKTE DER FRÜHEN SCHUBERT-REZEPTION: 12 LIEDER VON FRANZ SCHUBERT
Sei mir gegrüßt als Lisztsches Liebesständchen
Auf dem Wasser zu singen: Barcarole mit zusätzlicher Strophe
„Et quelquefois les larmes me viennent aux yeux“ – Du bist die Ruh’
Erlkönig „mit dem Zaubermantel der Romantik“
Meeresstille mit Untertönen
Die junge Nonne mit Erlösungsschluss
Frühlingsglaube ohne Einschränkung
Gretchen am Spinnrade mit gesteigerter Herzfrequenz
Spiel mit den Registern im Ständchen von Shakespeare
Rastlose Liebe mit Geschwindmarsch
Tremolierende Geisterstimmen in Der Wanderer
Ave Maria – idealisiertes Portrait Marie d’Agoults
IV. SCHUBERTS LIEDERZYKLEN NEU KOMPONIERT
SCHWANENGESANG MIT SCHAURIGEM ANFANG UND ENDE
Die Stadt als eruptiver Klagegesang
Das zerstreute Fischermädchen
Aufenthalt mit Herzklopfen
Tränenreiches Rezitativ Am Meer
Abschied: „Humoristisch vorzutragen“
Klangliche Extreme In der Ferne
Ständchen im Duett
Ihr Bild als langsame Einleitung zu Frühlingssehnsucht
Liebesbotschaft als Liebestraum
Des Atlas Liebesleid
Minimalistischer Doppelgänger
Treuegelöbnis Taubenpost?
Kriegers Ahnung – verzweifelte Schlussnummer
PIANISTISCHE NEUINSZENIERUNG DER WINTERREISE
Gute Nacht – kapriziöse Klaviervariationen
Die Nebensonnen weitergedichtet
Mut – Klanggewalt mit Durschluss
Die Post – rhetorisches Klavierspiel
„Ver-rückte“ Erstarrung
Verhinderte Wasserflut
Der Lindenbaum mit flirrenden Trillerketten
„Keiner will ihn hören“: Der Leiermann in Kurzfassung
Täuschung als Spiel mit der Erwartung
Das „schauerliche“ Wirtshaus
Der stürmische Morgen und Im Dorfe als dreiteiliges Finale
DIE SCHÖNE MÜLLERIN IN SUITENFORM
Das Wandern – Auftritt des Müllerburschen
Verlängerter Zwiegesang in Der Müller und der Bach
Der Jäger und Die böse Farbe als tollkühnes Scherzo
Wohin? mit auskomponiertem „Sich-Entfernen“
Ungeduld als Programm
V. ZWEI SCHUBERT-SAMMLUNGEN ALS ZEUGEN EINER GESCHEITERTEN BEZIEHUNG
„JE VOUS AIME RELIGIEUSEMENT“ – FRANZ SCHUBERTS GEISTLICHE LIEDER
Litanei der betrogenen Mädchen
Himmelsfunken – der Odem Gottes
Die Gestirne als orchestrale „Concerttranskription“
Hymne – gespenstische Ruhe nach dem Sturm
EINBLICK IN LISZTS WERKSTATT: 6 MELODIEN VON FRANZ SCHUBERT
Lebe wohl! – ein Missverständnis
Mädchens Klage als virtuose Überwucherung?
Das Zügenglöcklein mit Lindenbaum-Assoziation
Trockne Blumen – kein Sakrileg!
„Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben!“ Drei Ungeduld-Schlüsse im Vergleich
Die Forelle im Doppelpack
VI. EXKURS: DIE SCHUBERT-BEARBEITUNGEN STEPHEN HELLERS
VII. WIENER „BACKHÄNDEL“: DIE SOIRÉES DE VIENNE IN DOPPELAUTORSCHAFT SCHUBERT/LISZT
Soirée Nr. 1 – Walzer, Ländler und Deutscher als rondoartige Suite
Soirée Nr. 2 mit neuer Coda im Schubertschen Ton
Soirée Nr. 3 – dreiteilige Form mit Schlussstretta
Soirée Nr. 4 mit Beethoven-Zitat
Soirée Nr. 5 als auskomponiertes „Raisonnement von Enharmonik“
Soirée Nr. 6 – Liszts Lieblingsnummer mit Varianten
Soirée Nr. 7 mit „Valse mélancolique“
Soirée Nr. 8 als virtuoses Schaustück
Soirée Nr. 9 – Trauerwalzer mit Teufelslachen
VIII. SCHUBERTS UND LISZTS UNGARISCHER TON
„PHANTASIEUNGARN“ NACH SCHUBERT
„ALLA ZINGARESE“ – LISZTS PRODUKTIVES MISSVERSTÄNDNIS
„ECHT NATIONELLE AUFFASSUNG“ – ÜBER DAS UNGARISCHE IDIOM IN DER MUSIK
LISZTS MÉLODIES HONGROISES D’APRÈS SCHUBERT
Eröffnungssatz mit Vorgeschmack auf die Ungarischen Rhapsodien
Ungarischer Marsch „ganz nach Liszts Herzen geschaffen“
Finale mit „zigeunerhafter Leidenschaft“
SCHUBERTS SPUREN IN DEN UNGARISCHEN RHAPSODIEN
IX. KAPELLMEISTER LISZTS ORCHESTRALER ZUGANG ZU SCHUBERT
„AB IMO PECTORE“: DIE WANDERERFANTASIE ALS KLAVIERKONZERT
BLOSS EIN „ACT KÜNSTLERISCHER PIETÄT“? LISZTS URAUFFÜHRUNG DER OPER ALFONSO UND ESTRELLA
„LIEDERSTAMMELN“ UND „ORCHESTERGESUMME“ – ORCHESTRIERTE SCHUBERT-LIEDER FÜR EMILIE GENAST
ALLEGRO TRIONFANTE – SCHUBERTS MÄRSCHE IN LISZTSCHER MANIER
Trauermarsch mit und ohne Apotheose
Grande marche mit weitergedichtetem Trio
Reiter-Marsch als kunstvolles Klavier-Potpourri
Liszt und Tausig: Marche militaire von Lehrer und Schüler im Vergleich
X. LISZT ALS HERAUSGEBER SCHUBERTS
„DAS RESULTAT MEINES LANGJÄHRIGEN, LEIDENSCHAFTLICHEN VERKEHRS MIT SCHUBERT’S CLAVIERCOMPOSITIONEN“
Wandererfantasie „selon la technique pianistique moderne“
Sonate a-Moll – „anmuthig auszuführen“
„Scharf, kühn und lebenslustig“ – Sonate D-Dur
Licht und Schatten: Sonate G-Dur mit Pedaleffekt
Schuberts Impromptus in Lisztscher Interpretation
„Momens musicals“ – innige Gesangsmomente
„Juwelen feinster Sorte“ – Schuberts Tänze
XI. „MEHR GETRÄUMT ALS BETONT“ – ÄSTHETIK UND DRAMATURGIE DES SCHUBERT-BILDES BEI LISZT
ANHANG
LISZTS SCHUBERT-TRANSKRIPTIONEN IM ÜBERBLICK
ECKPFEILER DER LISZTSCHEN SCHUBERT-REZEPTION
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
MUSIKALIENVERZEICHNIS UND BIBLIOGRAFIE
1.1 Musikalien
1.2 Liszt als Herausgeber Schuberts
2. Schriften
3. Sekundärliteratur

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Andrea Wiesli

„Es zog in Freud und Leide zu ihm mich immer fort“ Die Schubert-Transkriptionen Franz Liszts

Musikwissenschaft Franz Steiner Verlag

Schubert : Perspektiven – Studien 6

Andrea Wiesli  „Es zog in Freud und Leide zu ihm mich immer fort“

Schubert : Perspektiven – Studien 6 Her ausgegeben von Hans-Joachim Hinrichsen und Till Gerrit Waidelich In verbIndung mIt Marie-Agnes Dittrich, Anselm Gerhard und Andreas Krause

Andrea Wiesli

„Es zog in Freud und Leide zu ihm mich immer fort“ Die Schubert-Transkriptionen Franz Liszts

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Schnyder von Wartensee, Zürich

Umschlagabbildung: Franz Schubert, Erlkönig, 2. Fassung (ca. 1816) Mus.ms.autogr. Schubert, F. 1 (16) Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2019 Notenbeispiele auf den Seiten 244, 279, 281 (oben) und 282 (oben) gesetzt von der Hamburger Notenwerkstatt Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12137-8 (Print) ISBN 978-3-515-12147-7 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS Dank ................................................................................................................. „La voie est tracée“ – Einleitung ......................................................................

9 11

I LISZTS WEGE ZU SCHUBERT .............................................................. Auf den Spuren Schuberts in Wien .................................................................. „Im brillanten Styl“ – Czernys Schubert-Fantasien ......................................... „Le musicien-poète de l’Allemagne“ – frühe Schubert-Rezeption in Paris ..... Arrangieren und Bearbeiten bei Liszt ...............................................................

16 16 20 26 34

II DIE LIEDTRANSKRIPTION ALS NEUE GATTUNG ........................... Die Rose – „toute ma vie de 16 à 19 ans“ ........................................................ „Jamais Goethe et Schubert n’ont été compris ainsi“ – Franz Liszt und Marie d’Agoult ................................................................................................. Thalberg und Liszt: Zwei Rivalen singen Schuberts Lieder am Klavier ......... Zu Papier gebrachte Improvisationen ............................................................... Schubert-Lieder im Konzertsaal: Liszts Wiener Konzerte von 1838 ............... „Weder Variationen noch Potpourris“ – Problematik einer Typologie ............. „Von Fr. Liszt in seinen Concerten mit außerordentlichem Beifalle vorgetragen“ – Haslinger, Diabelli & Co. edieren im Eiltempo ....................... Erste Misstöne ..................................................................................................

38 39

III HÖHEPUNKTE DER FRÜHEN SCHUBERT-REZEPTION: 12 LIEDER VON FRANZ SCHUBERT ...................................................... Sei mir gegrüßt als Lisztsches Liebesständchen ........................................ Auf dem Wasser zu singen: Barcarole mit zusätzlicher Strophe ................ „Et quelquefois les larmes me viennent aux yeux“ – Du bist die Ruh’ ..... Erlkönig „mit dem Zaubermantel der Romantik“ ...................................... Meeresstille mit Untertönen ....................................................................... Die junge Nonne mit Erlösungsschluss ..................................................... Frühlingsglaube ohne Einschränkung ....................................................... Gretchen am Spinnrade mit gesteigerter Herzfrequenz ............................. Spiel mit den Registern im Ständchen von Shakespeare ........................... Rastlose Liebe mit Geschwindmarsch ....................................................... Tremolierende Geisterstimmen in Der Wanderer ...................................... Ave Maria – idealisiertes Portrait Marie d’Agoults ...................................

42 44 53 55 59 61 64

66 67 68 70 71 73 75 76 78 79 81 83 86

6

Inhaltsverzeichnis

IV SCHUBERTS LIEDERZYKLEN NEU KOMPONIERT ......................... Schwanengesang mit schaurigem Anfang und Ende ........................................ Die Stadt als eruptiver Klagegesang .......................................................... Das zerstreute Fischermädchen ................................................................. Aufenthalt mit Herzklopfen ....................................................................... Tränenreiches Rezitativ Am Meer .............................................................. Abschied: „Humoristisch vorzutragen“ ..................................................... Klangliche Extreme In der Ferne .............................................................. Ständchen im Duett .................................................................................... Ihr Bild als langsame Einleitung zu Frühlingssehnsucht .......................... Liebesbotschaft als Liebestraum ................................................................ Des Atlas Liebesleid .................................................................................. Minimalistischer Doppelgänger ................................................................ Treuegelöbnis Taubenpost? ........................................................................ Kriegers Ahnung – verzweifelte Schlussnummer ...................................... Pianistische Neuinszenierung der Winterreise ................................................. Gute Nacht – kapriziöse Klaviervariationen .............................................. Die Nebensonnen weitergedichtet ............................................................. Mut – Klanggewalt mit Durschluss ........................................................... Die Post – rhetorisches Klavierspiel .......................................................... „Ver-rückte“ Erstarrung ............................................................................ Verhinderte Wasserflut  ............................................................................... Der Lindenbaum mit flirrenden Trillerketten ............................................ „Keiner will ihn hören“: Der Leiermann in Kurzfassung .......................... Täuschung als Spiel mit der Erwartung ..................................................... Das „schauerliche“ Wirtshaus .................................................................... Der stürmische Morgen und Im Dorfe als dreiteiliges Finale .................... Die schöne Müllerin in Suitenform .................................................................. Das Wandern – Auftritt des Müllerburschen ............................................. Verlängerter Zwiegesang in Der Müller und der Bach .............................. Der Jäger und Die böse Farbe als tollkühnes Scherzo ............................. Wohin? mit auskomponiertem „Sich-Entfernen“ ....................................... Ungeduld als Programm ............................................................................

91 91 93 96 97 98 99 101 102 105 106 107 109 111 113 115 118 119 121 123 124 125 126 128 130 131 132 135 136 138 139 142 143

V ZWEI SCHUBERT-SAMMLUNGEN ALS ZEUGEN EINER GESCHEITERTEN BEZIEHUNG ............................................... „Je vous aime religieusement“ – Franz Schuberts geistliche Lieder ............... Litanei der betrogenen Mädchen ............................................................... Himmelsfunken – der Odem Gottes ........................................................... Die Gestirne als orchestrale „Concerttranskription“ ................................. Hymne – gespenstische Ruhe nach dem Sturm ......................................... Einblick in Liszts Werkstatt: 6 Melodien von Franz Schubert ......................... Lebe wohl! – ein Missverständnis .............................................................. Mädchens Klage als virtuose Überwucherung? .........................................

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Inhaltsverzeichnis

Das Zügenglöcklein mit Lindenbaum-Assoziation .................................... Trockne Blumen – kein Sakrileg! ............................................................... „Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben!“ Drei Ungeduld-Schlüsse im Vergleich ............................................................................................... Die Forelle im Doppelpack .......................................................................

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VI EXKURS: DIE SCHUBERT-BEARBEITUNGEN STEPHEN HELLERS 168 VII WIENER „BACKHÄNDEL“: DIE SOIRÉES DE VIENNE IN DOPPELAUTORSCHAFT SCHUBERT/LISZT ................................ Soirée Nr. 1 – Walzer, Ländler und Deutscher als rondoartige Suite ........ Soirée Nr. 2 mit neuer Coda im Schubertschen Ton .................................. Soirée Nr. 3 – dreiteilige Form mit Schlussstretta ..................................... Soirée Nr. 4 mit Beethoven-Zitat ............................................................... Soirée Nr. 5 als auskomponiertes „Raisonnement von Enharmonik“ ....... Soirée Nr. 6 – Liszts Lieblingsnummer mit Varianten ............................... Soirée Nr. 7 mit „Valse mélancolique“ ...................................................... Soirée Nr. 8 als virtuoses Schaustück ........................................................ Soirée Nr. 9 – Trauerwalzer mit Teufelslachen .........................................

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VIII SCHUBERTS UND LISZTS UNGARISCHER TON ............................. „Phantasieungarn“ nach Schubert .................................................................... „Alla zingarese“ – Liszts produktives Missverständnis ................................... „Echt nationelle Auffassung“ – über das ungarische Idiom in der Musik ....... Liszts Mélodies hongroises d’après Schubert .................................................. Eröffnungssatz mit Vorgeschmack auf die Ungarischen Rhapsodien ....... Ungarischer Marsch „ganz nach Liszts Herzen geschaffen“ .................... Finale mit „zigeunerhafter Leidenschaft“ .................................................. Schuberts Spuren in den Ungarischen Rhapsodien .........................................

198 198 205 209 211 212 217 224 225

IX KAPELLMEISTER LISZTS ORCHESTRALER ZUGANG ZU SCHUBERT ........................................................................................ „Ab imo pectore“: die Wandererfantasie als Klavierkonzert ........................... Bloß ein „Act künstlerischer Pietät“? Liszts Uraufführung der Oper Alfonso und Estrella ......................................................................................... „Liederstammeln“ und „Orchestergesumme“ – orchestrierte SchubertLieder für Emilie Genast .................................................................................. Allegro trionfante – Schuberts Märsche in Lisztscher Manier ......................... Trauermarsch mit und ohne Apotheose ..................................................... Grande marche mit weitergedichtetem Trio .............................................. Reiter-Marsch als kunstvolles Klavier-Potpourri ......................................

233 233 247 253 264 265 269 273

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Inhaltsverzeichnis

Liszt und Tausig: Marche militaire von Lehrer und Schüler im Vergleich ............................................................................................... 278 X LISZT ALS HERAUSGEBER SCHUBERTS ............................................. „Das Resultat meines langjährigen, leidenschaftlichen Verkehrs mit Schubert’s Claviercompositionen“ ............................................................. Wandererfantasie „selon la technique pianistique moderne“ .................... Sonate a-Moll – „anmuthig auszuführen“ ................................................. „Scharf, kühn und lebenslustig“ – Sonate D-Dur ...................................... Licht und Schatten: Sonate G-Dur mit Pedaleffekt ................................... Schuberts Impromptus in Lisztscher Interpretation ................................... „Momens musicals“ – innige Gesangsmomente ........................................ „Juwelen feinster Sorte“ – Schuberts Tänze ..............................................

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XI „MEHR GETRÄUMT ALS BETONT“ – ÄSTHETIK UND DRAMATURGIE DES SCHUBERT-BILDES BEI LISZT ............ 309 ANHANG ......................................................................................................... Liszts Schubert-Transkriptionen im Überblick ................................................ Eckpfeiler der Lisztschen Schubert-Rezeption ................................................ Abkürzungsverzeichnis .................................................................................... Musikalienverzeichnis und Bibliografie ........................................................... 1.1 Musikalien ........................................................................................... 1.2 Liszt als Herausgeber Schuberts .......................................................... 2. Schriften ................................................................................................. 3. Sekundärliteratur ....................................................................................

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DANK Die vorliegende Studie stellt eine für den Druck überarbeitete Fassung der im Herbstsemester 2016 an der Universität Zürich eingereichten Dissertation dar. Ohne die Unterstützung zahlreicher Personen wäre dies nicht in dieser Form möglich gewesen. Mein herzlicher Dank geht zuallererst an Prof. Dr. Hans-Joachim Hinrichsen für seine hervorragende Betreuung meiner Arbeit. In der Fülle der auszuwertenden Datenmenge hat er mir immer wieder richtungsweisende Impulse geben können und entscheidend an der Gestaltung des Gesamtkonzeptes mitgewirkt. Ohne seine Unterstützung wäre der Spagat zwischen dem wissenschaftlichen Arbeiten und dem Alltag als Konzertpianistin kaum zu bewältigen gewesen. Ein weiteres Dankeschön geht an Prof. Dr. Laurenz Lütteken für sein umsichtiges Zweitgutachten mit wertvollen Anregungen zur weiteren Vertiefung. Der Universität Zürich bin ich zu herzlichem Dank für die Gewährung eines großzügigen Forschungskredits verpflichtet, der mich finanziell wesentlich entlastete. Ebenfalls danken möchte ich der Stiftung Schnyder von Wartensee für die vollumfängliche Übernahme der Druckkosten. Für die Bereitstellung von Notenmaterial und die Beantwortung von Fragen, die sich mir im Laufe der Arbeit gestellt haben, bin ich zudem folgenden Personen zu Dank verpflichtet: Prof. Dr. Axel Beer (Universität Mainz), Prof. Dr. Francis Claudon (Universität Paris/Wien), Prof. Dr. Xavier Hascher (Universität Straßburg), Prof. Dr. Leslie Howard, Jonas Kreienbühl (Zürich), Walter Labhart (Endingen), André Manz (Amriswil) und PD Dr. Axel Schröter (Universität Bremen). Ein herzlicher Dank geht auch an Stefanie Ernst vom Franz Steiner Verlag für ihre umsichtige Unterstützung. Zudem gewährten mir der Bärenreiter-Verlag und Editio Musica Budapest großzügiges Abbildungsrecht.

„LA VOIE EST TRACÉE“ – EINLEITUNG „Peut-être la pratique de 50 ans du métier de transcription (que j’ai quasi inventé) m’a-t-elle appui à garder la juste mesure entre le trop et le trop peu, en ce genre.“1

Stolz bezeichnete sich der knapp 70-jährige Franz Liszt gegenüber seinem Schüler und Landsmann Graf Géza Zichy (1849–1924) rückblickend als eigentlichen Erfinder der Transkription. Im Gegensatz zu seinen komponierenden Zeitgenossen beschäftigte sich der Klaviervirtuose tatsächlich sein ganzes Leben lang mit dem Bearbeiten verschiedenster Werke und fand in dieser Kunst jenen goldenen Mittelweg zwischen Originaltreue und eigener Handschrift, die seine Paraphrasen zu einer neuen Gattung erhoben. Liszts Klavierübertragungen von Berlioz’ Sinfonie fantastique und insbesondere der Beethovenschen Sinfonien 5–7, die er als „partitions de piano“ (Klavierpartituren) bezeichnete, setzten neue Maßstäbe: „Je ne me flatte pas d’avoir réussi; mais ce premier essai [die Übertragung der Sinfonie fantastique] aura du moins cet avantage que la voie est tracée, et que dorénavant il ne sera plus permis d’arranger les œuvres des maîtres aussi mesquinement qu’on le faisait jusqu’à cette heure. J’ai donné à mon travail le titre de Partition de piano, afin de rendre plus sensible l’invention de suivre pas à pas l’orchestre et de ne lui laisser d’autre avantage que celui de la masse et de la variété des sons.“2

Parallel zur Beschäftigung mit der großen sinfonischen Form entstand auch eine umfangreiche Reihe von kleinen Klavierstücken, die auf der intimen kammermusikalischen Gattung des Liedes basieren. Mehr als 140 Lieder von Komponisten wie Beethoven (19), Robert Franz (13), Robert und Clara Schumann (12), Rossini, Mendelssohn (7), Chopin (6), Gounod, Hans von Bülow u. a. hat Liszt auf das Klavier übertragen. Das Kunstlied in der Prägung, die ihm Franz Schubert verliehen hatte, faszinierte ihn ganz besonders, wovon allein schon die stattliche Anzahl von 55 Arrangements zeugt.3 Mit diesen innovativen Transkriptionen schuf Liszt eine folgenreiche neue Klavierliteratur, in welcher der kompositorische Anspruch des Bearbeiters aus nahezu allen Takten spricht. Liszts Hinwendung zu Beethoven und Schubert erfolgte zu einer Zeit, in der sich die Rivalität mit seinem Konkurrenten Sigismund Thalberg (1812–1871) um 1 2 3

Brief von Franz Liszt an Graf Géza Zichy vom 3. August 1880, zit. in: Margit Prahács (Hg.), Franz Liszt. Briefe aus ungarischen Sammlungen (1835–1886), Kassel u. a. 1966, S. 231. RGMdP vom 11. Februar 1838. Diese Zahl setzt sich aus folgenden Einzelliedern und Sammlungen zusammen: Die Rose, Lob der Tränen, 12 Lieder, Winterreise (12 Lieder), Schwanengesang (14 Lieder), Müller-Lieder (6 Lieder), Franz Schuberts geistliche Lieder (4 Lieder), 5 Lieder aus den 6 Melodien (die erste Nummer geht nicht auf Schubert zurück). In dieser Zählung nicht enthalten ist Schuberts Gondelfahrer für Männerquartett und Klavierbegleitung. Vgl. dazu das komplette Verzeichnis in dieser Arbeit, S. 312 ff.

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„La voie est tracée“ – Einleitung

die pianistische Vorherrschaft auf dem Höhepunkt befand. In den berühmten Pariser Kammermusik-Soireen von 1837, die ein Seitenstück zu den Sinfonie-Konzerten Habenecks bildeten, praktizierte der vormals mit dem Habitus des Virtuosen Aufgetretene eine von Selbstdarstellung befreite Art von Kunstreligion, bei der die werkgetreue Interpretation im Vordergrund stand. Dieser plötzliche Puritätsanspruch scheint ein bewusst vollzogener Schritt gewesen zu sein, der den Künstler von seinem oft kritisierten Image des selbstgefälligen Virtuosen befreien sollte. Ein noch größerer Antrieb für die Beschäftigung mit Schubert und die daraus resultierende intensive „Lied ohne Worte“-Produktion ist in Liszts biografischer Situation zu finden. Seiner damaligen Lebensgefährtin Marie d’Agoult (1805– 1876), ihrerseits eine begeisterte Schubert-Anhängerin, sind viele Übertragungen zugedacht. Sie reflektieren die problematische Liaison des Paares, die letztlich an Liszts Entschluss zerbrach, sein Leben als reisender Konzertpianist zu bestreiten. Der ungeheure Erfolg der Wiener Konzerte von 1838, der eng mit seinen Transkriptionen von Schuberts Liedern verbunden war, trug wesentlich zu dieser Entscheidung bei. Im Rahmen dieser Konzertserie ließ sich Liszt mit einer Auswahl seiner neuen Werke hören. In Wien konnte er mit der Kenntnis des Originals rechnen und gleichzeitig eine Hommage an die Donaustadt darbringen. Dieses programmatische Kalkül ging auf: Wie die überlieferten Presseberichterstattungen aus den Jahren 1838 und 1839 einhellig bescheinigen, war die Resonanz überwältigend. Durch seinen europaweiten Vortrag, der die Lieder Schuberts für einen großen Teil des Publikums überhaupt erst zugänglich und verständlich machte, besann man sich vermehrt auf den frühverstorbenen Komponisten. Liszts Anteil an der Schubert-Rezeption kann kaum überbewertet werden, wenngleich sich das Interesse der Öffentlichkeit auf „eine Handvoll Stücke“ konzentrierte.4 Dessen ungeachtet erbettelten die Verleger weitere dieser „epochemachenden“5 Klavierlieder, die trotz ihrer technisch höchst anspruchsvollen Textur reißenden Absatz fanden: „Lange hat unter den Klavierspielern und unter den Hörern nichts so allgemeines Aufsehen und so große Freude erregt, als diese Uebertragungen […]. Das Verlangen darnach ist auch noch keineswegs gestillt; man beeifert sich, sie auf allen Pianoforten zu sehen. Das heißt Furore machen.“6

Nur zwei Jahre nach der Publikation der 12 Lieder hatte Liszt die Anzahl seiner Schubert-Bearbeitungen bereits verdreifacht. Auch andere Konzertpianisten wie Clara Wieck und Sigismund Thalberg spielten seine Schubert-Lieder öffentlich und produzierten nach Liszts Vorbild eigene Transkriptionen. Bereits gegen Ende der 1840er-Jahre kamen die Arrangements jedoch allmählich aus der Mode. Die Kritik an Liszts Zusätzen und an seiner Interpretation wurde in dem Maße lauter, als die Originale an Bekanntheit gewannen. Der Liszt-Schüler August Stradal (1860–1930), der die Tradition mit eigenen Bearbeitungen fort4 5 6

Christian Ahrens, „Liszts Transkriptionen – Wegbereiter der Rezeption von Schuberts Liedern?“, in: Schubert : Perspektiven 9 (2009), Heft 1, S. 1–42, S. 34. Eduard Hanslick, Geschichte des Concertwesens in Wien, Wien 1869–70, S. 336. AmZ vom 28. November 1838.

„La voie est tracée“ – Einleitung

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setzte, beklagte noch in seinen 1929 erschienenen Erinnerungen an Franz Liszt, dass dieser bedeutende Zweig des Lisztschen Œuvres keine Aufnahme ins Repertoire der damaligen Pianistengeneration finde: „Was die herrlichen Bearbeitungen des Meisters nach Werken von Palestrina, Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Schubert, Weber, Mendelssohn, Schumann, R. Franz, Berlioz, Wagner, Lassen, Tschaikovsky usw. anbelangt, so muss ich ebenfalls konstatieren, dass die Pianisten an diesen zahlreichen Riesenwerken, durch welche die Klavierliteratur so sehr bereichert wurde, zumeist vorbeigehen und nur höchst selten eines davon auf den Konzertprogrammen erscheint.“7

Die Vernachlässigung dürfte auf die Skepsis, die dieser Gattung von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an entgegengebracht wurde, zurückzuführen sein. Die vielen Vorurteile, die das Aneignen fremder Werke und deren pianistische Überformung zum Bravourstück auf Kosten des Originals kritisieren, haben sich lange gehalten. Dabei wird vergessen, dass Schubert selbst einer der radikalsten Bearbeiter seiner eigenen Werke war, wovon beispielsweise die Wandererfantasie (D 760) oder sein virtuoses Arrangement des Liedes Trockne Blumen für Flöte und Klavier (D 802) zeugen.8 Umso erfreulicher ist der Umstand, dass seit einigen Jahren wieder eine deutliche Zunahme von Liszt-Schubert-Programmpunkten in den Konzertsälen zu beobachten ist. Liszts Auseinandersetzung mit Schubert zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben und Werk, wenn auch „mit unterschiedlicher Intensität in den verschiedenen zeitlichen Abschnitten seines Lebens und mit unterschiedlicher Orientierung.“9 Sein Hauptinteresse galt Schuberts Liedern, Märschen und Tänzen und somit den Klavierstücken abseits der großen Gattungen und Formen. Doch es gibt Ausnahmen: Liszts Versuche, Schubert auch als Komponist sinfonischer und musikdramatischer Werke bekannt zu machen, führten 1854 zur Uraufführung der Oper Alfonso und Estrella (D 732) in Weimar und zu mehreren Dirigaten der Großen Sinfonie in C-Dur (D 944).10 Von beiden Werken waren Klavierauszüge geplant, was in letzte7 8

9

10

August Stradal, Erinnerungen an Franz Liszt, Bern 1929, S. 151. Vgl. Hans-Joachim Hinrichsen, „Rezeption als Selbstverständigung. Franz Liszt als Interpret, Bearbeiter und Herausgeber Franz Schuberts“, in: Michael Kube (Hg.), Schubert und die Nachwelt: Kongressbericht / 1. Internationale Arbeitstagung zur Schubert-Rezeption, München 2007, S. 121–144, S. 121. Ernst Hilmar, „Das Schubert-Bild bei Liszt“, in: Schubert durch die Brille, hrsg. vom Internationalen Franz Schubert Institut, Mitteilungen 18, Tutzing 1997, S. 59–68, S. 59. Dabei gilt es zu berücksichtigen, welche Werke des Wiener Komponisten damals überhaupt greifbar waren. Während Schubert zu Lebzeiten 106 mit Opusnummern versehene Werke und Sammlungen publizierte, darunter allein 181 Lieder, erschienen von 1830 bis in die 1850er-Jahre durch Anton Diabellis Nachlasslieferung immer wieder neue Lieder – ganz so, als ob der Komponist noch am Leben wäre. Vgl. dazu das Verzeichnis der zu Schuberts Lebzeiten erschienenen Werke in: Otto Erich Deutsch (Hg.), Schubert. Die Dokumente seines Lebens, Kassel 1964, S. 597 ff. Raabe zufolge fand eine erste Aufführung am 18. Februar 1844 in Weimar statt. Peter Raabe, Liszts Leben, Stuttgart und Berlin 1931, S. 283. Am 1. Juni 1857 dirigierte Liszt die Sinfonie im Rahmen des Niederrheinischen Musikfestes erneut. Vgl. dazu Thomas Kabisch, Liszt und Schubert, München 1984, S. 130.

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„La voie est tracée“ – Einleitung

rem Fall sein Schüler Karl Klindworth (1830–1916) um 1855 für zwei Klaviere bei Breitkopf realisierte.11 Auch Liszts Bearbeitung der Wandererfantasie mit ihren „sinfonischen Effekten“ und der „latenten Konzertform“ zum Klavierkonzert reiht sich nahtlos in diese Phase der Auseinandersetzung mit Schuberts Art der Orchesterbehandlung ein.12 Während Liszts Rezeption der Werke Johann Sebastian Bachs und Ludwig van Beethovens in der neueren Forschung ausführlich dokumentiert und gedeutet worden ist, und zu einzelnen Themen wie etwa den Opernparaphrasen wichtige Studien vorliegen, gibt es zu seinen Schubert-Arrangements zwar mehrere Beiträge, die sich auf einzelne Aspekte beziehen, aber noch keine systematischen Untersuchungen. Die vorliegende Studie versucht, diese Lücke zu schließen. Das erste Kapitel ist Liszts Wegen zu Schubert und allgemeinen Überlegungen zu seiner Paraphrasierungskunst gewidmet. Seine frühesten Begegnungen mit Schuberts Schaffen fallen in die Wiener und Pariser Jahre, wo Liszt unter dem Einfluss seines Lehrers Carl Czerny (1791–1857) und seiner Pariser Musikerkollegen Chrétien Urhan (1790–1845) und Adolphe Nourrit (1802–1839) stand. Dass diese Lehrjahre Kompositionen hervorbrachten, in denen sich der junge Pianist als großer Erneuerer der Klaviertechnik erwies, ist mitunter wesentlich der instrumentalen Entwicklung durch die Erardsche Werkstatt in Paris zu verdanken. Die Kapitel 2 bis 5 über die Liedtranskriptionen und Liederzyklen beschäftigen sich mit dem (ge-)wichtigsten Teil von Liszts Schubert-Rezeption. In diesen Klavierstücken, die direkt ins Zentrum seiner musikalischen Poetik führen, setzt Liszt das frühromantische Ideal einer universalen Poesie auf ganz persönliche Art und Weise um. In diesem Sinne sind sie als Schritt in Richtung Programmmusik zu deuten, wie sie später in den Sinfonischen Dichtungen zum Tragen kommt. Dort entspricht das Verhältnis von absoluter Musik und literarischem Programm im Wesentlichen der Beziehung der Klaviertranskription zum Liedtext.13 Die Herausforderung dieser materialreichen Kapitel liegt in der schieren Quantität von Transkriptionen. An ihnen sollen einerseits exemplarische kompositionstechnische Erkenntnisse gewonnen und andererseits eine systematische Erschließung angestrebt werden. Der besseren Einordnung von Liszts Liedbearbeitungen dienen die Exkurse über seine Zeitgenossen Stephen Heller (1813–1888) und Sigismund Thalberg mit ihren weitgehend unbekannten Schubert-Transkriptionen. Liszt war ein wissbegieriger Weltbürger, der sich die Kompositionsstile verschiedener Komponisten und Länder aneignete und dadurch immer auf dem neusten Stand war. Mit Schubert verband ihn die Affinität zu Wien und Ungarn, was sich in den Soirées de Vienne (Kapitel VII) und den verschiedenen Reflexionen zum Divertissement à l’hongroise (Kapitel VIII) niederschlug. Schuberts „Phantasie11 12 13

Vgl. dazu Otto Erich Deutsch (Hg.), Schubert. Die Erinnerungen seiner Freunde, Leipzig 1957, S. 371 ff. Siehe auch Kabisch, Liszt und Schubert, S. 131. Rainer Nonnenmann, Winterreisen. Komponierte Wege von und zu Franz Schuberts Liederzyklus aus zwei Jahrhunderten. Teil 1: Bearbeitungen, Wilhelmshaven 2006, S. 96. Bereits Ende der 1830er-Jahre hat sich Liszt mit ersten Plänen zu Sinfonischen Dichtungen beschäftigt – just in einer Zeit, in der er sich intensiv Schuberts Liedern widmete.

„La voie est tracée“ – Einleitung

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ungarn“14 erfuhr eine weitere Vertiefung in den Ungarischen Rhapsodien, in denen der Autor seine eigene imaginierte Herkunft zu konstruieren versuchte. Nach Beendigung seiner fulminanten Virtuosenkarriere im Jahre 1846 setzte sich Liszt, der in Weimar das Amt des Kapellmeisters übernommen hatte, auch mit dem musikdramatischen Schaffen Schuberts auseinander (Kapitel IX). Unter unermüdlichem Einsatz gelang es ihm, die Oper Alfonso und Estrella – wenn auch in radikal gekürzter Fassung und somit ebenfalls als eine Art von Bearbeitung – zur Uraufführung zu bringen. Aus dieser Zeit stammen auch die Arrangements einzelner Lieder und Märsche für Orchester. Die bedeutendste Schubert-Transkription aus den Weimarer Jahren stellt jedoch die Umarbeitung der Wandererfantasie in ein Klavierkonzert dar. Überhaupt nahm diese Komposition, die zu Liszts Kern-Repertoire zählte und mehrmals von ihm aufgeführt wurde, in seinem Schubert-Bild eine Leitfunktion ein. Dass Schubert einen eigenen Lied-Ausschnitt zum Kristallisationskern seiner virtuosen Fantasie machte, könnte für Liszt der Auslöser für seine Idee zur Liedtranskription gewesen sein. Diesen von Schubert eingeschlagenen Weg verfolgte er in der Wandererfantasie konsequent weiter, indem er die bahnbrechend neue Formgebung in eine raffinierte Solo-/Tutti-Disposition verwandelte und die schwierigen Klavierpassagen auf spezifisch-wirkungsvolle Weise auffächerte. Solche Transformationen des Originalnotentextes in einen modernen, der fortgeschrittenen Entwicklung des Instruments gezollten Klaviersatz sind in Form kleingestochener Ossias noch in Liszts späten Schubert-Editionen zu finden. Sein publizistischer Einsatz für Schuberts zwei- und vierhändige Klaviermusik bildet das letzte Zeugnis von Liszts lebenslanger und vielfältiger Auseinandersetzung mit dem Œuvre des Wiener Komponisten.15 Im Schlusskapitel wird versucht, ein Fazit aus Liszts facettenreicher Beschäftigung mit Schubert und seinem gesamten ästhetischen Weltbild zu ziehen.

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Zu diesem Begriff von Adorno vgl. diese Arbeit, S. 205. Ein geplanter Schubert-Artikel wurde hingegen nie realisiert. Vgl. Liszts Brief an Carolyne zu Sayn-Wittgenstein vom 3. Mai 1861, in: La Mara [= Marie Lipsius] (Hg.), Franz Liszt’s Briefe, Bd. 1–8, Leipzig 1893–1905, Bd. 4, S. 105. Darin heißt es: „Chère, j’ai un travail à vous donner. Il s’agit de poser les questions biographiques relatives à notre Schubert, sur lesquelles Löwy [Simon Löwy] devra recueillir les matériaux nécessaires.“ Später bedankte sich Liszt für den erhaltenen Fragebogen: „Merci mille fois de vos questions Schubert, dont je ne ferai usage qu’après que vous me l’aurez permis. En attendant, j’écrirai à Löwy dans le sens que vous m’indiquez. Ce travail ne presse en aucune façon, et je pense que nous ne l’entreprendrons pas avant l’automne prochain.“ Ebd., S. 115.

I LISZTS WEGE ZU SCHUBERT AUF DEN SPUREN SCHUBERTS IN WIEN Als Adam Liszt die musikalische Begabung seines Sohnes erkannte, hielt es ihn nicht lange im 50 km südlich von Eisenstadt gelegenen Dorf Raiding, wohin er im Jahre 1808 als Rechnungsführer der Fürstlich-Esterházyschen Schäferei berufen worden war. Ungarische Magnaten hatten dem kleinen Franz nach seinem Konzert im Palais des Grafen Michael Esterházy in Pressburg ein Stipendium in Aussicht gestellt, worauf die Familie Liszt im Mai 1822 nach Wien übersiedelte und zunächst unter prekären finanziellen Bedingungen lebte.1 Dort hätte das Wunderkind dem um 15 Jahre älteren Franz Schubert begegnen können, der zu diesem Zeitpunkt kein unbekannter Komponist mehr war: Allein im Jahre von Liszts Ankunft trat er in Wien in mindestens zwölf öffentlichen oder halböffentlichen Konzerten auf.2 Später hat Liszt gegenüber seinem Schüler August Göllerich jedoch erwähnt, dass es nie zu einer persönlichen Begegnung mit Schubert gekommen sei.3 Dass die beiden Musiker wohl dennoch voneinander gewusst haben, legen die Schnittpunkte ihrer Biografien nahe. Wie Schubert in den Jahren 1813–1817 lernte auch Liszt beim betagten Hof-Kapellmeister Antonio Salieri (1750–1825), dem Doyen des Wiener Musiklebens, das Handwerk des Generalbasses, Partiturlesens und der Komposition. Für die pianistischen Instruktionen suchte die Familie Liszt Carl Czerny (1791–1857) auf, der damals einer der gefragtesten Klavierpädagogen war. Czerny hielt die Begegnung rückblickend folgendermaßen fest: „Es war ein bleiches, schwächlich aussehendes Kind, und beim Spielen wankte es am Stuhle wie betrunken herum, so daß ich oft dachte, es würde zu Boden fallen. Auch war sein Spiel ganz unregelmäßig, unrein, verworren, und von der Fingersetzung hatte er so wenig Begriff, daß er die Finger ganz willkürlich über die Tasten warf. Aber dem ungeachtet war ich über das Talent erstaunt, welches die Natur in ihn gelegt hatte. Er spielte einiges, das ich ihm vorlegte, à vista, zwar als reiner Naturalist, aber eben darum um so mehr in einer Art, daß man sah, hier habe die Natur selber einen Klavierspieler gebildet. Ebenso war es, als ich auf den Wunsch seines Vaters ihm ein Thema zum Phantasieren gab. Ohne die geringsten erlernten harmonischen Kenntnisse brachte er doch einen gewissen genialen Sinn in seinen Vortrag.“4

Czerny unterrichtete Liszt vom Frühling 1822 bis zum Herbst 1823 nicht nur unentgeltlich, sondern auch fast täglich und legte den Grundstein für dessen spätere technische Perfektion und ungewöhnliche Fähigkeit zum Blattspielen und Improvisie-

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Vgl. dazu Alan Walker, Franz Liszt. The Virtuoso Years, 1811–1847, New York 21988, S. 78. Vgl. dazu Peter Gülke, Franz Schubert und seine Zeit, Laaber 1991, S. 26. „Ihn [Weber], Schubert und Goethe habe ich nicht persönlich gekannt“, zit. in: August Göllerich, Franz Liszt, Berlin 1908, S. 20. Carl Czerny, Erinnerungen aus meinem Leben, hrsg. von Walter Kolneder, Straßbourg/BadenBaden 1968, S. 27.

Auf den Spuren Schuberts in Wien

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ren.5 In dieser kurzen Ausbildungszeit lernte der junge Pianist, spontan und konzertreif zu improvisieren sowie mühelos in alle Tonarten zu transponieren. Czerny bereitete seinen hochbegabten Schüler sorgfältig auf dessen Wiener Debüt vor. Es fand am 1. Dezember 1822 im Landständischen Saal an der Herrengasse 16 statt, wo auch Schubert mehr als vier Jahre später, am 22. und 29. April 1827, als Begleiter auftreten sollte.6 Der Rezension zufolge brillierte Liszt mit Hummels zweitem Klavierkonzert in a-Moll op. 85 (1821) und beeindruckte das Publikum mit Stegreif-Improvisationen. Allein die Tatsache, dass in der damals wichtigsten Musikzeitschrift, der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung, eine Besprechung erschien, ist bemerkenswert. Dass sich der Rezensent nach einer hervorragenden Kritik zum Ausruf „Est Deus in nobis!“ hinreißen ließ, wirkt fast wie eine Prophezeiung.7 Neben dem Rüstzeug für die spätere Virtuosenlaufbahn vermittelte Czerny seinem Schüler einen weiteren Leitfaden für sein künftiges Schaffen, indem er die aktuellsten Kompositionen in den Unterricht einbezog. Der Pädagoge erinnert sich: „Ich gab ihm auch alle nötigen Musikalien, die so ziemlich in allem Guten und Brauchbaren bestanden, was bis zu jener Zeit existierte.“8 Für den jungen Pianisten ergab sich somit bereits zu diesem Zeitpunkt die Gelegenheit, mit Schuberts Werken auf Tuchfühlung zu gehen. Der im Frühling 1821 in Kommission erschienene Erlkönig-Notendruck hatte die Reihe der Schubert-Publikationen eröffnet. In rascher Folge waren Lieder wie Gretchen am Spinnrade, Der Wanderer und Rastlose Liebe erhältlich, die sich in hohen Stückzahlen verkauften. Auch Klavierwerke waren damals bereits im Druck greifbar, darunter die im November 1821 edierten Sechsunddreißig Walzer op. 9 (D 365).9 Ebenso könnte Liszts bemerkenswerte Rezeption der Wandererfantasie, die am 24. Februar 1823 in der Wiener Zeitung angekündigt wurde, mit seiner frühen Studienzeit im Zusammenhang stehen. In Czernys Verzeichnis der besten und brauchbarsten Werke aller bekannten Tonsetzer ist sie jedenfalls aufgelistet.10 5 6 7

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Vgl. ebd., S. 28. Vgl. Deutsch, Dokumente, Anhang, S. 596. AmZ vom 22. Januar 1823, Sp. 53. Ferner heißt es: „Wieder ein junger Virtuose, gleichsam aus den Wolken herunter gefallen, der zur höchsten Bewunderung hinreisst. Es gränzt ans Unglaubliche, was dieser Knabe für sein Alter leistet, und man wird in Versuchung geführt, die physische Möglichkeit zu bezweifeln, wenn man den jugendlichen Riesen Hummels schwere und besonders im letzten Satze sehr ermüdende Composition mit ungeschwächter Kraft herabdonnern hört; aber auch Gefühl, Ausdruck, Schattirung und alle feinere Nuancen sind vorhanden, so wie überhaupt dieses musikalische Wunderkind alles a vista lesen, und jetzt schon im Partitur-Spielen seines Gleichen suchen soll.“ Ebd. Czerny, Erinnerungen, S. 28. Siehe Deutsch, Dokumente, S. 597. Der ganze Titel lautet: Verzeichnis der besten und brauchbarsten Werke aller bekannten Tonsetzer für das Pianoforte. Von Mozart bis auf die gegenwärtige Zeit. Zur Erleichterung der Auswahl für alle Pianisten, so wie für Lehrer und Schüler. Das Verzeichnis findet sich im Anhang von Czernys Die Kunst des Vortrags der ältern und neuen Claviercompositionen oder: Die Fortschritte bis zur neuesten Zeit. Supplement (oder 4ter Theil) zur großen PianoforteSchule op. 500, Wien 1847, S. 161–191. Im Vergleich zur langen Aufzählung seiner eigenen Werke fällt Czernys Liste Schubertscher Kompositionen relativ schmal aus (was allerdings

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I Liszts Wege zu Schubert

Der Pädagoge bemühte sich, seinen Schützling in die Wiener Musikszene einzuführen. Durch seine Vermittlung wurde wohl auch der Wiener Verleger Anton Diabelli (1781–1851) auf den jungen Liszt aufmerksam. Diabelli forderte den Knaben auf, gemeinsam mit 49 weiteren Komponisten eine Variation über ein simples Walzerthema in C-Dur zu schreiben. Als jüngster Teilnehmer fand sich Liszt in Gesellschaft etablierter Musiker wie Hummel, Kalkbrenner, Kreutzer, Moscheles, Franz Xaver Wolfgang Mozart, Sechter – und Schubert.11 Der Verleger pries den jungen Komponisten als „Knabe von 11 Jahren geboren in Ungarn“ an. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung 1824 war Liszt jedoch bereits 12-jährig und hatte Wien verlassen. Vergleicht man die Beiträge Liszts und Schuberts, die nach Diabellis alphabetischer Anordnung als Variationen 24 und 38 publiziert wurden, so stellt man fest, dass beide in der Varianttonart c-Moll komponiert sind. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Sammlung insgesamt nur drei Mollvariationen enthält. Abgesehen von dieser Übereinstimmung sind sie jedoch diametral verschieden: Ungestüme jugendliche Virtuosität steht verinnerlichtem Gesang gegenüber. Wenngleich Liszts erste im Druck erschienene Komposition noch an eine im Harmonielehre-Unterricht konstruierte Etüde erinnern mag, weisen einige Aspekte bereits auf seine frühe Könnerschaft hin. Der junge Musiker beschreitet in seiner Behandlung des ländlerhaften Walzer-Themas unerwartete Wege und verändert dieses bis zur Unkenntlichkeit. Zunächst münzt er Diabellis Dreiertakt in einen 2/4Takt um und bringt ein Allegro als Vortragsbezeichnung an. Das harmonische Gerüst wird in durchgehende gebrochene Akkorde aufgefächert, die in wogenden Sechzehntelwerten die ganze Tastatur beanspruchen. Wiederholt erklingen verminderte Septimenakkorde. Sie führen chromatische Bassfortschreitungen ein, die in Diabellis fast brachialer Harmonik vergeblich zu suchen sind. Auch die Ausführung mit überkreuzenden Händen und abrupten dynamischen Echoeffekten in den sequenzierenden Takten weist auf die Eigenständigkeit des frühen Liszt hin, der in diesen 32 Takten zeigen wollte, was er konnte.

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auch mit der Publikationsgeschichte von Schuberts Instrumentalwerken zusammenhängen dürfte): Sonate in D-Dur op. 53 (D 850), Fantasie in C-Dur op. 15 (Wandererfantasie D 760), 4 Impromptus op. 142 (D 935), Moments musicaux op. 94 (D 940), Vierhändige Werke: Sonate in C-Dur (Grand Duo) op. 140 (D 812), Sonate in B-Dur op. 30 (D 617), Fantasie in f-Moll op. 103 (D 940), Variationen über ein französisches Lied op. 10 (D 624), Variationen über ein eigenes Thema op. 35 (D 813), 3 heroische Märsche op. 27 (D 602), 6 große Märsche op. 40 (D 819), 2 charakteristische Märsche op. post. 121 (D 968), Klaviertrios: Trio in B-Dur op. 99 (D 898), Trio in Es-Dur op. 100 (D 929). Beethoven, der ebenfalls zur Mitwirkung aufgefordert wurde, komponierte bekanntlich gleich einen ganzen Variationszyklus. Diabelli fragte aber auch eine ganze Reihe von Musikern an, die heute in Vergessenheit geraten sind.

Auf den Spuren Schuberts in Wien

Diabelli, Thema aus 50 Veränderungen über einen Walzer für das Piano-Forte

Liszt, Variation über einen Walzer von Anton Diabelli (S 147)

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I Liszts Wege zu Schubert

Im Vergleich zu Liszts Beitrag präsentiert sich Schuberts Veränderung schlicht und in leisen Tönen. Ihm schien vor allem daran gelegen, Diabellis karge, im Bassregister erklingende Melodiestimme in Diskantlage zum Singen zu bringen. Die sequenzierenden Akkorde des ersten Teils fasst er in weite Griffe und versieht sie anstelle der Sforzati nur mit Schwellern. Beim Pianissimo in Takt 10 sequenziert die Variation entgegen der Vorlage absteigend und gelangt schließlich in die terzverwandte Tonart As-Dur, wodurch auch Schubert dieser kleinen Komposition seinen eigenen Stempel aufdrückte.

Schubert, Variation über einen Walzer von Anton Diabelli (D 718)

Czerny beteiligte sich ebenfalls am Gemeinschaftswerk und steuerte die gefällige vierte Variation, deren Sequenzen wie bei seinem Schüler mit ausgeprägter Dynamik bezeichnet und dem Registerspiel verpflichtet sind, sowie eine knapp 200 Takte umfassende und stellenweise an eine barocke Fuge gemahnende Coda bei. „IM BRILLANTEN STYL“ – CZERNYS SCHUBERT-FANTASIEN Schuberts Lieder und Tänze stießen in der Wiener Musikwelt auf große Resonanz und wurden bald von zeitgenössischen Komponisten paraphrasiert. Czerny, der die aktuellen Erzeugnisse aufmerksam verfolgte, beteiligte sich früh an der Rezeption von Schuberts Musik. Bereits im Oktober 1821 gab er bei Steiner & Comp. seine Variationen über einen beliebten Wiener-Walzer für das Piano-Forte op. 12 heraus. Dabei handelt es sich um vier Veränderungen mit brillanter Einleitung über den

„Im brillanten Styl“ – Czernys Schubert-Fantasien

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sogenannten Trauerwalzer op. 9 Nr. 2.12 Da das Original erst im November im Druck erschien, muss sich Czerny auf eine der vielen im Schubertschen Freundeskreis kursierenden Abschriften gestützt haben.13 Später sollte auch Liszt diesen Walzer im Finale seiner Soirées de Vienne zum Ausgangspunkt eines virtuosen Variationsprozesses machen.14 Beim Vergleich der beiden Transkriptionen mit ihren a capriccio-Einleitungen wird deutlich, bei wem Liszt die Kunst des Präludierens erlernt hat. In seiner Systematischen Anleitung zum Fantasieren gibt Czerny folgende Ratschläge: „Wenn der Spieler ein Solostück vorzutragen hat, zu welchem der Autor selbst keine Jntroduction schrieb, z:B: Rondo’s oder Variationen, welche unmittelbar mit dem Thema anfangen, so ist es nicht unschicklich, wen̅ das improvisierte Vorspiel verhältnissmässig länger und durchgeführter ist, wenn Anklänge aus dem nachfolgenden Thema darin vorkommen, und das Ganze eine passende Jntroduction bildet.“15

Liszt hat die Anregung seines Lehrers getreuer umgesetzt als dieser selbst: Czernys flirrende Introduktion im „gefälligen und brillanten Styl“16 mit ihren Arpeggien und in Trillern mündenden Tonrepetitionen wirkt austauschbar, während Liszts Einleitung thematisch motiviert ist. Beide sind „freitaktig“ notiert, worüber in der Systematischen Anleitung zu lesen ist: „Es giebt endlich noch eine sehr interessante Art zu preludieren, welche sich der Spieler anzueignen hat, nämlich völlig taktlos, fast recitativ=artig, theils in wirklichen, theils gebrochenen Accorden, anscheinend völlig bewusstlos, gleich dem Umherirren in unbekannten Gegenden. Diese, vorzüglich den älteren Meistern (: Bach, Seb: u. Eman: &:) eigenthümliche Manier lässt sehr viel Ausdruck und frappanten Harmonienwechsel zu, und kan̅ zu rechter Zeit angewendet und gehörig vorgetragen, sehr viel Wirkung machen. Nur darf ein solches Vorspiel nicht zu lange ausgedehnt werden, ohne einen rhythmischen Gesang einzuweben.“17

Der Tradition des freien Fantasierens folgend, tasten sich beide Komponisten in mehreren Anläufen suchend an das Thema heran und bringen ihre Vorspiele schließlich auf der Dominante zum Stillstand.18

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Die Bezeichnung scheint nicht auf Schubert selbst zurückzugehen, wie eine Äußerung Josef von Spauns nahelegt: „Als Schubert einmal von dem so allgemein beliebten ‚Trauerwalzer‘ hörte, fragte er, welcher Esel denn einen Trauerwalzer komponiert habe“, zit. in: NSA, VII, Bd. 2/7a, S. XII. Ebd. Siehe diese Arbeit, S. 195 f. Carl Czerny, Systematische Anleitung zum Fantasieren auf dem Pianoforte op. 200, Wien [1829], S. 15. Ebd., S. 17. Ebd., S. 20. „[…] die Jntroduction [muss] mit einer Cadenza auf dem Dominanten=Septimen=Accord enden, an welche sich dann unmittelbar das Thema anschliesst.“ Ebd.

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I Liszts Wege zu Schubert

Czerny, Variationen über den beliebten Wiener Trauer-Walzer op. 1219

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Neu gestochene dritte Auflage (Tobias Haslinger). Mit freundlicher Genehmigung der Vera Oeri-Bibliothek Basel, Sign. MAB O 2641.

„Im brillanten Styl“ – Czernys Schubert-Fantasien

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Liszt, Soirée de Vienne Nr. 9, T. 1–1320

Mehr als zehn Jahre nach seinen Variationen op. 12 unterzog Czerny den Trauerwalzer einem noch radikaleren Bearbeitungsprozess. In der Eröffnungsnummer der Sammlung Drey brillante Fantasien über die beliebtesten Motive aus Franz 20

Abdruck aller Notenbeispiele aus der Neuen Liszt-Ausgabe mit freundlicher Genehmigung durch Editio Musica Budapest.

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I Liszts Wege zu Schubert

Schubert’s Werken op. 339 ist dieser jedoch nicht thematischer Ausgangspunkt, sondern fulminantes Finale, das, der Systematischen Anleitung entsprechend, einen „glänzenden Schluss“ herbeiführt.21 Der vom zweiten Spieler ausgeführte Walzer wird vom Primo virtuos kommentiert. Czerny führt die Musik in „Terzschritten“ absteigend von H-Dur über As-Dur nach F-Dur, der Vorzeichnung des Eröffnungsliedes Der Wanderer von op. 339 Nr. 1, und steigert das Tempo bis hin zum Molto Allegro e veloce im 2/4-Takt und Presto. Die hochvirtuose Behandlung des schlichten Originals, das in kleinste Notenwerte zerstäubt wird und mit fortschreitendem Finale nur noch in Ansätzen zu erkennen ist, erinnert an Schuberts eigenes Vorgehen in seinen Flötenvariationen über Trockne Blumen. Die erste der drei Fantasien op. 339 erschien Ende 1834 bei Diabelli, die beiden weiteren Kompositionen folgten im Jahre 1837 in mehreren Besetzungsvarianten, worunter die Kombination von Physharmonika und Klavier wohl das ausgefallenste Duo repräsentiert.22 Diese Potpourris verarbeiten abgesehen vom Trauerwalzer auch das Thema des ersten Satzes der vierhändigen Fantasie f-Moll (D 940) sowie die Cavatine „Wenn ich dich, Holde, sehe“ aus dem zweiten Akt der Oper Alfonso und Estrella (D 732), die seit 1834 als Klavierauszug vorlag.23 Alle übrigen Zitate sind Schuberts Liedschaffen entnommen, wovon jedoch nur einzelne Themen, Teile, Strophen oder melodische Versatzstücke aus unterschiedlichen Strophen verarbeitet werden.24 Czernys Schwerpunkt lag weniger auf einer ganzheitlichen Übertragung als auf der Durchführung ausgewählter charakteristischer Elemente des Liedes nach allen Regeln der Imitationskunst: „Bekom̅ t der Spieler einen vollständigen, geregelten Gesang zur Durchführung, so muss er, nachdem er sich die Form gewählt hat, welche ihm zum Fantasieren die entsprechendste zu seyn scheint, nicht nur diesem Gesang möglichst treu bleiben, sondern aus demselben einige auffallende Noten, als Hauptfigur durch das Ganze, nach allen Jmitationsregeln einweben.“25

Eine solche „Hauptfigur“ – oder „Erfindungskern“26 in Hans Heinrich Eggebrechts Terminologie – ist in der ersten Fantasie die markante Triolenbegleitung der ersten 21

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„Die auf einander folgenden Themas müssen, so viel als möglich, im Takt und Tempo abwechseln, um Monotonie zu vermeiden; und wen̅ es gerathen ist, mit einem recht hübschen, oder sehr beliebten anzufangen, so muss auch gegen das Ende ein ähnliches aufbewahrt werden, um einen glänzenden Schluss herbey zu führen.“ Czerny, Anleitung zum Fantasieren, S. 75. Dieses Tastenharmonium wurde 1818 vom Wiener Instrumentenbauer Anton Haeckl erschaffen. Im Hofmeister-Verzeichnis sind folgende Besetzungsvarianten zu finden: „Pianoforte zu 4 Händen“, „Pianoforte und (Wald-)Horn (oder Violine oder Vclle)“ sowie „Pianoforte und Physharmonica (oder 2 Pianoforte).“ Friedrich Hofmeister, Musikalisch-literarischer Monatsbericht neuer Musikalien, musikalischer Schriften und Abbildungen, Leipzig 1834, S. 93+99, 1837, S. 51–52. Otto Erich Deutsch, Franz Schubert. Thematisches Verzeichnis seiner Werke in chronologischer Folge, Kassel 1978, S. 439. Vgl. dazu Angela Carone, „Das Bekannte neu gestalten. Carl Czernys Drey brillante Fantasien über die beliebtesten Motive aus Franz Schubert’s Werken, op. 339“, in: Schubert : Perspektiven 12 (2012), Heft 1, Stuttgart 2015, S. 1–19, S. 6. Czerny, Anleitung zum Fantasieren, S. 42. Hans Heinrich Eggebrecht, „Prinzipien des Schubert-Liedes“, in: Archiv für Musikwissenschaft 27 (1970), S. 89–109.

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„Im brillanten Styl“ – Czernys Schubert-Fantasien

beiden Lieder Der Wanderer und Erlkönig, die einen innermusikalischen Zusammenhang herstellt. Die Begleitung liegt in den Händen des Secondo-Spielers, während der Primo-Part die Rolle des Sängers übernimmt. Besonders anschaulich wird dies im eröffnenden Lied, in dem die Melodie nach sieben Takten mit einem ausgeschmückten Rezitativ anhebt:

Czerny, Fantasie op. 339 Nr. 1 für Klavier vierhändig, Primo, T. 1–8

Die durch die Triolenbegleitung hervorgerufene Parallele innerhalb des ersten Liedpaares weist darauf hin, dass Czernys Potpourri keineswegs eine bloße Aneinanderreihung der beliebtesten Schubert-Kompositionen darstellt. Weitere inhaltliche Paare bestätigen dies, wie etwa die beiden Ständchen oder Wohin? und Das Wandern, die sich mit dem Lied des gefangenen Jägers anstelle der Nummer Der Jäger aus Die schöne Müllerin zu einer originellen neuen Dreiergruppe formieren. Für weiteren Zusammenhalt sorgt zusätzlich zu den Czernyschen Übergängen auch ein klug disponierter Tonartenplan mit Terz- und Quintverwandtschaften (in Klammern Schuberts Originaltonarten). Der Wanderer Der Erlkönig Ständchen (Shakespeare) Ständchen (Rellstab) Wohin? Das Wandern Jägers Lied [Lied des gefangenen Jägers] Schuberts Trauerwalzer

d-Moll/F-Dur f-Moll F-Dur b-Moll/B-Dur B-Dur F-Dur c-Moll/Es-Dur H-Dur/F-Dur

(cis-Moll/E-Dur) (g-Moll) (B-Dur) (d-Moll) (G-Dur) (B-Dur) (d-Moll) (As-Dur)

Wenige Jahre nach der Veröffentlichung der Fantasie op. 339 Nr. 1 sollte Liszt dieses Konzept der planvollen Tonartenfolge in seinen großen Schubert-Zyklen weiterverfolgen und perfektionieren. Nach nur eineinhalb Jahren musste Czerny wehmütig Abschied von seinem hochbegabten Schüler nehmen, den er „wie einen Bruder liebte.“27 Dem Pädagogen zufolge drängte Adam Liszt zum frühzeitigen Abbruch der Studien, damit sich das Wunderkind auf Reisen produzieren und sein Talent in klingende Münze umwandeln konnte: „Leider wünschte sein Vater von ihm große pekuniäre Vorteile, und als der Kleine im besten Studieren war, als ich eben anfing, ihn zur Komposition anzuleiten, ging er auf Reisen, zuerst nach Ungarn und zuletzt nach Paris und London etc., wo er, wie alle damaligen Blätter bezeu27

Czerny, Erinnerungen, S. 28.

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I Liszts Wege zu Schubert gen, das größte Aufsehen machte. In Paris, wo er sich mit seinen Eltern niederließ, gewann er allerdings viel Geld, verlor aber viele Jahre, indem sein Leben wie seine Kunst eine falsche Richtung nahm. Als ich 16 Jahre später nach Paris kam (1837), fand ich sein Spiel in jeder Hinsicht ziemlich wüst und verworren bei aller ungeheuern Bravour.“28

Wenngleich Czerny sich über das „verworrene“ Spiel seines ihm zu früh entrissenen Zöglings irritiert zeigte, erwiesen sich die Pariser Jahre für Liszt keineswegs als verlorene Zeit. In der Seine-Metropole lässt sich mitunter erstmals seine Auseinandersetzung mit Schuberts Œuvre exemplarisch nachweisen. „LE MUSICIEN-POÈTE DE L’ALLEMAGNE“ – FRÜHE SCHUBERT-REZEPTION IN PARIS Schubert ist zwar nie in Frankreich gewesen, doch deuten seine Acht Variationen über ein französisches Lied (D 624) oder das Divertissement über original französische Motive (D 823) auf ein Interesse an der französischen Musikkultur hin. Obwohl sich der Wiener Komponist nicht persönlich in Paris eingeführt hatte, nahmen die Franzosen früh Anteil an seinem Œuvre, wenngleich sie dieses noch nicht in der ganzen Bandbreite erfassen konnten. Insbesondere durch seine Lieder, die ab 1834 in Paris nach und nach mit französischen, teilweise erheblich vom originalen Wortlaut abweichenden Texten herausgegeben wurden, avancierte Schubert rasch zu einer zentralen Gestalt der französischen Romantik. Die Texte von Pierre-Jean Bélanger, der in den Jahren 1833–1850 fast 400 Lieder für Richault übersetzte, lehnen sich deutlich an den französischen Romanzenstil an.29 Die Familie Liszt traf im Dezember 1823 in der Seine-Stadt ein. Das eigentliche Ziel der Übersiedlung nach Paris wäre ein Studium des jungen Pianisten am renommierten staatlichen Konservatorium gewesen. Dessen Direktor Luigi Cherubini musste dem Wunderkind jedoch aufgrund einer Bestimmung, die Ausländer am Institut nicht zuließ, die Aufnahme verweigern. Adam Liszt reagierte auf diese enttäuschende Abweisung, indem er den italienischen Opernkomponisten und Direktor des Pariser Théâtre-Italien Ferdinando Paër (1771–1839) sowie den böhmischen Komponisten, Musikpädagogen und Flötisten Antonín Rejcha (1770–1836) als Lehrer für seinen Sohn engagierte. Auch mit dem renommierten Klavierbauer Sébastien Erard schloss er einen besonderen Pakt: Dieser hatte soeben die ersten Flügel mit einem Tonumfang von sieben Oktaven und „doppelter Auslösungsmechanik“ gebaut, was raschere Tonwiederholungen ermöglichte. Die Vereinbarung ging dahin, dass der kleine Franz seine Kunst fortan auf Instrumenten aus der 28

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Zwar räumte der Klavierpädagoge ein, dass sich das Klavierspiel seines früheren Eleven durch die Wiener Konzerte von 1838 wieder in eine „glänzende und dabei doch klarere Richtung“ bewegte, doch war er der festen Überzeugung, dass Liszt, „[…] wenn er seine Jugendstudien in Wien noch einige Jahre fortgesetzt hätte, jetzt auch in der Komposition alle die hohen Erwartungen rechtfertigen würde, die man damals mit Recht von ihm hegte.“ Ebd., S. 29. Die Familie Liszt verließ Wien im Herbst 1823. Folglich waren vierzehn und nicht sechzehn Jahre verstrichen, als sich Lehrer und Schüler 1837 in Paris wiederbegegneten. Francis Claudon, „Schubert und Frankreich“, in: Schubert : Perspektiven 8 (2008), Heft 1, Stuttgart 2009, S. 102–120, S. 107.

„Le musicien-poète de l’Allemagne“ – Frühe Schubert-Rezeption in Paris

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Erardschen Klavierwerkstatt demonstrieren sollte. Für seine Konzerte wurden die neuen Flügel in Städte wie London, Manchester, Bordeaux und Genf transportiert.30 Adam Liszt zufolge trat sein Sohn allein in der Zeitspanne von Dezember 1823 bis März 1824 38-mal öffentlich auf und wurde als „le petit Litz“ frenetisch gefeiert.31 In den folgenden drei Jahren unternahmen Vater und Sohn mehrere Konzertreisen durch England, Frankreich und die Schweiz. Das Wunderkind sorgte nicht nur überall für Furore, sondern erzielte auch hohe Gagen.32 Stolz gewährte Adam Liszt in seiner Korrespondenz Einblicke in die gemachten Profite. Von den anstrengenden Reisen wollten sich Adam und Franz Liszt im August 1827 wie bereits zwei Jahre zuvor im Badeort Boulogne-sur-Mer erholen. Fatalerweise erkrankte der Vater an Typhus und starb am 28. August im Alter von fünfzig Jahren. Dieses einschneidende biographische Ereignis brachte die erfolgreichen Konzerttourneen abrupt zum Stillstand und stürzte den Sohn in eine Depression. Dass sein Rückzug aus dem Musikleben in der Pariser Zeitung Le Corsaire sogar einen Nachruf auf den jungen Pianisten zur Folge hatte, gehört zu den oft zitierten Kuriositäten der Liszt-Literatur.33 Doch die Unruhen im Vorfeld der Julirevolution, seine Zuflucht zur Religion und die leidenschaftliche Lektüre zeitgenössischer Literatur weckten Liszt aus der Erstarrung, und er begann eifrig, sich dem musikalischen Umfeld zuzuwenden. Mit dem Monschauer Musiker Chrétien Urhan (1790–1845), der bei seinen Zeitgenossen als kauziger Vertreter einer asketischen, mystischen Religiosität galt, schloss der 18-jährige Liszt enge Freundschaft.34 Urhan führte seinen jungen Zögling in die Lehre der Saint-Simonisten ein, deren feuriger Anhänger er war. Kennengelernt hatten sich die beiden Musiker in der Kirche Saint Vincent de Paul, in der Urhan seit 1827 eine Anstellung als Organist innehatte und die in der Nähe von Liszts damaliger Wohnung an der Rue de Montholon im 10. Arrondissement lag. Neben der Orgel beherrschte der gebürtige Deutsche auch das Spiel auf der Violine, Viola und Viola d’amore – als deren „Wiederentdecker“ er galt – so meisterhaft, dass es ihm rasch gelungen war, in Paris Fuß zu fassen.35 Bereits im Jahre 1814 war er Violinist und Bratschist im Orchestre de l’Opéra de Paris und wurde schließlich zum Konzertmeister ernannt.36 30 31 32 33 34 35

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Walker, The Virtuoso Years, S. 93. Ebd., S. 96. Vgl. auch den Artikel vom 22. Dezember 1823 in der Zeitschrift L’Etoile. Die französische Presse tat sich schwer mit dem ungarischen „sz“, weshalb Liszts Name – sehr zu seinem Ärger – oft zu „Litz“ oder Listz“ verballhornt wurde. Vgl. Walker, The Virtuoso Years, S. 107. Für zwei kurzfristig in Manchester organisierte Konzerte soll Adam Liszt eine Gage von 100 Pfund verlangt haben, gemäß Walker „an astronomical sum in those days.“ Ebd. Ebd., S. 134. Der Nachruf erschien am 23. Oktober 1828. Vgl. dazu Xavier Hascher, „Quand Schubert ‚entra dans la gloire‘: Nourrit et les versions orchestrées de La Jeune Religieuse et du Roi des Aulnes“, in: Cahiers Franz Schubert 17 [2009], S. 30–70, S. 2. Ulrich Schuppener, Christian Urhan. Zum 200. Geburtstag des bedeutenden Musikers aus Monschau, Monschau 1991, S. 92. Auf der Viola d’amore soll es Urhan zu einer erstaunlichen Virtuosität gebracht haben. In Meyerbeers Oper Die Hugenotten sorgte seine Begleitung des Tenors Adolphe Nourrit zu Raouls Rezitativ und Romanze im ersten Akt für Furore. Ebd., S. 56.

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I Liszts Wege zu Schubert

Als begeisterter Verehrer Schuberts war Urhan Triebkraft für die Pariser Schubert-Rezeption, die in den 1830er-Jahren einsetzte. Sein Interesse galt nicht nur den Liedern, sondern auch der Schubertschen Kammermusik. Im Oktober 1832 führte er beispielsweise gemeinsam mit dem Cellisten Jean Émile Compagnon und dem Pianisten Amédée Méreaux eines der beiden Klaviertrios auf.37 Noch heute zeugen seine notengetreuen Bearbeitungen von fünf Schubert-Liedern (Etudes d’expression) für Bratsche und Klavier38 von seinem Engagement für den Wiener Komponisten.39 In Paris regte Urhan damals durch die Bekanntmachung des Schubertschen Liedguts indirekt auch eine nationale Liedkomposition an, die bei Gounod, Massenet und Delibes ihre Fortsetzung fand. Dass sein Patenkind und Schüler, der Bariton Julius Stockhausen (1826–1906), in den 1850er-Jahren Schuberts Liederzyklen erstmals in voller Länge im Konzertsaal aufführen konnte, war nicht zuletzt Urhans und Liszts Vorarbeit zu verdanken. Urhans Enthusiasmus für Schubert und die Lehre der Saint-Simonisten übertrug sich auf den jungen Liszt und schlug sich in dessen Kompositionen nieder. Seine 1834 entstandenen und 1835 publizierten Apparitions (S 155), die gemeinsam mit weiteren frühen Werken in der Art eines „Skandalerfolgs“40 die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten, orientieren sich nicht nur am gleichnamigen Gedicht des französischen Schriftstellers Alphonse de Lamartine (1790–1869), sondern verweisen auch auf Urhans „Auditions“.41 Die dritte Apparition ist eine Fantasie über den Walzer Nr. 33 aus Schuberts Sammlung Sechsunddreißig Walzer. Auf diesen Tanz kommt Liszt knapp zwanzig Jahre später in den Soirées de Vienne nochmals zurück.42 In der frei fantasierenden Einleitung „senza tempo“ mit EsDur-Vorzeichnung schwebten Liszt Klänge wie ff vibrante delirando vor. Obwohl mit der Tonrepetition und dem Halbtonschritt A-B in den Oktaven der rechten Hand der (mollgetrübte) Kern des Schubertschen Walzers bereits zu Beginn anklingt, wird das eigentliche Zitat erst im Moderato-Teil ab T. 21 greifbar. Doch auch diese Takte entpuppen sich nur als vorsichtige Hinführung zum Thema, denn sie stehen in e-Moll (ppp sotto voce) und fallen nach einer achttaktigen Periode ins Leere 37

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Vgl. Joseph d’Ortique, Écrits sur la musique 1827–1846. Textes réunis, présentés et annotées par Sylvia L’Écuyer, Paris 2003, Fußnote S. 294. Nach eigenen Angaben soll auch Liszt die beiden Schubert-Trios im Repertoire gehabt haben. Vgl. dazu das „Verzeichnis der Werke, die Liszt in seinen Konzerten von 1838–48 gespielt hat“, in: Raabe, Liszts Leben, S. 271. Richault R 4520 (ca. 1845). Au bord de la fontaine (Wohin?), Le Départ (Abschied), L’Attente (Du bist die Ruh’), La Mer calme (Meeresstille), Chanson de nuit du voyageur (Wanderers Nachtlied). Urhan spielte am 27. Dezember 1835 in den Salons Petzold ein eigenes Sextett über Themen von Schubert („Sextuor pour trois altos, violoncelle, contre-basse et timballes, extrait des œuvres de F. Schubert par M. Urhan, exécuté par MM. Tilmant frères, Lutgen, Durier, Poussard et Urhan.“). Vgl. Gazette musicale de Paris, Bd. 2, S. 419. Günther Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts und zu ausgewählten seiner Klavierwerke in der Zeit der Jahre 1828–1846, Inauguraldissertation an der Ruhr-Universität, Bochum 2004, S. 62. Eine seiner Vokalkompositionen erschien mit dem Titel L’audition ou l’ange et le musicien, während Au  profit  des  pauvres den Zusatz „auditions transcrites pour le piano“ trägt. Siehe dazu Walker, The Virtuoso Years, S. 137. Vgl. dazu diese Arbeit, S. 187 f.

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(smorzando). Erst jetzt gelingt es, den Halbtonschritt H-C in der Melodie zum Ganztonschritt H-Cis anzuheben und die Wende nach Dur herbeizuführen.

Liszt, Apparition Nr. 3, T. 21–41

Schuberts 32-taktiger Walzer, der hier in E-Dur anstelle von F-Dur erklingt, wird nun in voller Länge zitiert. Liszts Handschrift zeigt sich in feinen Details wie etwa im Echo-Effekt der beiden prägnanten, durch die linke Hand ausgeführten Achtelnoten. Ansonsten finden sich nur wenige Änderungen, darunter die ausdrückliche Anweisung zum Rubato-Spiel, eine zusätzliche Molltrübung (T. 53), ein nachträglich eingefügter Orgelpunkt (T. 47–50) und die Bezeichnung con anima für den letzten Achttakter. Liszt beendet das Thema indes nicht auf der Tonika, sondern leitet den Septimenton A des Dominantakkordes H-Dur chromatisch öffnend nach Ais. Die folgende Variation (sempre dolce amoroso) im Charakter eines Glockenspiels erweckt den Eindruck, als würde der Bearbeiter das Thema nun nach allen Regeln der Kunst variieren. Doch beim Scherzando-Einschub der Takte 95–108 und spätestens ab T. 109 (quasi improvisato, agitato) wird deutlich, dass dem Virtuosen keine starre Form vorschwebte, sondern dass hier sein freies Fantasieren über Schuberts Vorlage unmittelbar zu Papier gebracht wurde. Dazu reichten die Mittel der Notation kaum aus, wie die vielen Fermaten, ein aus zwei Längs-Strichen bestehendes Zeichen, das nach Liszts eigener Anmerkung einen Ruhepunkt markiert sowie die vielen Taktwechsel und verbalen Zusätze (avec coquetterie, leggierissimo con vivacita und quasi cadenza) bezeugen. Die verminderten Septimenakkorde und die in Halbtonschritten aufwärts geführten Bässe erzeugen harmonische Instabilität (besonders in den changierenden, das Thema untermalenden Takten 149 ff.). Ab T. 133 findet in den Bassgängen ein hörfälliges „Kokettieren“ mit dem chromatischen Themenkern

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I Liszts Wege zu Schubert

statt. In den Passagen mit schnellen Tonrepetitionen schöpfte Liszt zudem die neuen technischen Möglichkeiten des Erard-Flügels vollumfänglich aus.

Liszt, Apparition Nr. 3, T. 121–124

Vor der Schlussstretta (Presto con gioja T. 199 ff.) erklingt der Walzer in Gestalt eines Chorals (religiosamente) in fragilem B-Dur, das schließlich ins terzverwandte Ges-Dur mündet. Nun wandelt Liszt die b-Vorzeichnung enharmonisch nach FisDur (T. 190) und führt mittels einer Kadenz in den beschwingten Schlussteil. Im Entstehungsjahr der Apparitions kam es zum Wiedersehen zwischen Liszt und dem damals wohl berühmtesten Sänger von Paris. Adolphe Nourrit (1802– 1839) hatte sich schon 1825 bereit erklärt, die Titelrolle in Liszts einziger Oper Don Sanche ou le Château d’Amour (S 1) zu singen, die allerdings nach nur vier Aufführungen abgesetzt wurde.43 Im Herbst 1834 trafen sich Liszt und der erste Tenor der Pariser Oper im Salon des aus Prag stammenden Komponisten Josef Dessauer erneut.44 Die Begegnung mit Liszt, der dort über den Erlkönig fantasierte, war für Nourrit eine Offenbarung: „Un de mes amis assistait à la première révélation qui fut faite à Nourrit des lieder de Schubert: j’ai été heureux de recueillir de lui ce renseignement inconnu. C’était chez un banquier hongrois, M. Dessauer, un ami de Liszt. L’artiste était au piano, et jouait le Roi des Aunes [sic], lorsque Nourrit entra. Double raison pour continuer. Nourrit était tout oreilles. A mesure que cette musique si dramatique le pénétrait, il manifestait une vive émotion; son visage s’illuminait. Le morceau terminé, il le redemanda. Liszt lui dit qu’il ferait bien mieux de le chanter. Nourrit s’excusait sur ce qu’il ne savait pas l’allemand. Liszt lui expliqua le sujet, et Nourrit consentit à vocaliser simplement le chant: ce qu’il fit avec l’expression d’un interprète inspiré; longumque bibebat amorem. Il s’éprit dès lors d’une vive passion pour ces mélodies; à sa demande, on en traduisit un certain nombre, et il s’en fit l’infatigable propagateur.“45

Dieses Schlüsselerlebnis scheint Nourrit dazu bewogen zu haben, als einer der ersten Sänger in Frankreich Schuberts Lieder ins Französische zu übersetzen und in sein Repertoire aufzunehmen. Obwohl der Tenor, der auch eine Professur für déclamation lyrique am Conservatoire de Paris innehatte, der deutschen Sprache nicht mächtig war, modifizierte er die französischen Übersetzungen der Schubertschen Texte jeweils so lange, bis sie ihm und seiner Stimmlage vollständig entsprachen.46 43 44 45 46

Vgl. dazu Walker, The Virtuoso Years, S. 114 f. Zur Datierung siehe Hascher, „Quand Schubert ‚entra dans la gloire‘“, S. 2. Louis-Marie Quicherat (Hg.), Adolphe Nourrit. Sa vie, son talent, son caractère, sa correspondance, Bd. 2, Paris 1867, S. 32. Josef Dessauer war kein ungarischer Bankier, sondern ein Prager Komponist. Vgl. dazu auch Hascher, „Quand Schubert ‚entra dans la gloire‘“, S. 33. Ebd., S. 31.

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Bereits am 21. Dezember 1834 interpretierte Nourrit Schuberts Ave Maria in den Salons Petzold. Einen knappen Monat später fand im Konservatorium ein Konzert statt, das Schubert mit einem Schlag berühmt machen sollte. Unter der Leitung von François-Antoine Habeneck (1781–1849) sang Nourrit am 18. Januar 1835 Die junge Nonne, begleitet vom Orchestre de la Société des Concerts. Der mit dem Sänger befreundete Ernest Legouvé hielt die Wirkung dieses musikgeschichtlichen Ereignisses fest: „C’est Nourrit qui voulut présenter Schubert au grand public. Il traduisit lui-même La Jeune Religieuse, et les vieux habitués des concerts du Conservatoire se rappellent encore l’effet prodigieux de ce morceau, chanté entre une symphonie de Beethoven et une ouverture de Weber. Nourrit trouva pour exprimer l’extase de la jeune fille, des accents d’une telle pureté qu’ils semblaient descendre du ciel et y remonter. Ce jour-là, Schubert passa en un instant, à Paris, de la réputation à la gloire.“47

Aus heutiger Sicht mag es befremdlich wirken, dass sich Nourrit für sein öffentliches Schubert-Debüt die Rolle eines jungen Mädchens aussuchte. Das Publikum scheint diese Wahl jedoch begeistert zu haben, was möglicherweise mit der französischen Romansprache der damaligen Zeit zusammenhängt: Sowohl Diderots La Réligieuse als auch Chateaubriands René waren beim Publikum noch präsent.48 Selbst Hector Berlioz (1803–1869) zeigte sich angetan von Nourrits Interpretation: „Nourrit a chanté avec âme et intelligence cette admirable page d’un des plus grands musiciens-poètes de l’Allemagne. On dit même que la traduction française lui est due, et que c’est grâce à ce double patronage que le public du Conservatoire a pu applaudir aux pathétiques accents de la Religieuse. Il est honorable pour Nourrit d’avoir pu comprendre tout ce que les chants de Schubert contiennent de sensibilité et de véritable inspiration.“49

Liszt befand sich zu diesem Zeitpunkt nicht in Paris, doch dürfte ihn die Kunde dieser Aufführung erreicht haben, die Schuberts Qualitäten als Liedkomponist für ein breites Publikum erfahrbar machte. Dass es dafür erst einer Bearbeitung zum Orchesterlied bedurfte, dessen Text zudem in französischer Sprache vorgetragen wurde, ist bemerkenswert. Auch der Erlkönig gelangte drei Monate später in orchestrierter Fassung durch Nourrit und Habeneck zur Aufführung. Beide Gesänge sind aufgrund 47

48 49

Ernest Legouvé, Soixante Ans de souvenirs, Bd. 2, Paris 1887, S. 127 f. Der Richault-Ausgabe zufolge lautete Nourrits Übersetzung folgendermaßen: „L’Orage grossit et s’avance en grondant / Les murs ébranlés sont battus par le vent / l’éclair brûle au loin l’horizon pâlissant / Puis partout l’ombre / et la nuit sombre / deuil et terreur / souvenir de douleur / l’orage ainsi grondait en mon cœur / l’amour délirant nuit et jour m’agitait / au son d’une voix tout mon corps frissonnait, / et comme l’éclair un regard me brûlait / ainsi flétrie / ma triste vie / se consumait / Orage à présent gronde avec fureur / la paix est rentrée / à jamais dans ce cœur / la Vierge vouée / à l’amour du Seigneur / lui donne son âme épurée / qu’embrase de ses feux la divine ferveur / j’attends à genoux les promesses du ciel / descends ô mon sauveur du séjour éternel / et viens m’affranchir des liens de la terre / mais l’air retentit des chants de la prière / au pied de l’autel fume l’encens / la nef se remplit de saints accents / célestes concerts, accords puissants / venez ravir mon âme et soumettre mes sens / Alleluia ! Alleluia !“, zit. in: Hascher, „Quand Schubert ‚entra dans la gloire‘“, S. 44 f. Willi Kahl, „Schuberts Lieder in Frankreich bis 1840“, in: Die Musik, 21. Jahrgang 1928, S. 22–31, S. 22. Hector Berlioz, Le Journal des Débats politiques et littéraires, 25. Januar 1835, S. 2, zit. in: Hascher, „Quand Schubert ‚entra dans la gloire‘“, S. 34.

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I Liszts Wege zu Schubert

ihrer dramatischen Schilderung und Tonmalerei für eine Orchestrierung geradezu prädestiniert. Gemäß Xavier Hascher sind die bei Richault gedruckten Stimmen identisch mit denjenigen, die anlässlich des Konservatorium-Konzertes verwendet wurden. Aus seiner Rekonstruktion der Partitur lässt sich folgern, dass Nourrit beim beschließenden Alleluja-Ruf neben der üblichen romantischen Orchesterbesetzung von einer Orgel sowie einem vierstimmigen Chor begleitet wurde.50

Schubert, Die junge Nonne in der orchestrierten Fassung von 1835, T. 85–8951 50 51

Ebd., S. 59 f. Rekonstruktion von Xavier Hascher, ebd., S. 69. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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In den beiden folgenden Jahren gab das Duo Nourrit/Liszt vielbeachtete SchubertDarbietungen. Am 4. April 1835 traten sie gemeinsam an einem Benefizkonzert im Théâtre-Italien auf, wobei sich die aufgeführten Schubert-Lieder nicht mehr rekonstruieren lassen.52 Auch im Rahmen der renommierten Kammermusik-Soiréen in den Salons Erard war das Duo zu Beginn des Jahres 1837 im Verein mit Urhan und dem Cellisten Alexandre Batta (1816–1902) zu hören. Diese Konzerte markierten mit ihrem historisch-kritischen Qualitätsmaßstab einen Ansatz fern vom üblichen Virtuosentum. Zudem sollte die hochkarätige Auswahl von Werken Beethovens, Webers und Schuberts die Hörgewohnheiten des Publikums auf hohem Niveau schulen.53 Über diese hatte sich Liszt bereits am 15. November 1835 in der RGMdP öffentlich beklagt: „Souvent, en m’apercevant de l’inepte silence qui suivait l’exécution des plus belles œuvres de Beethoven, de Mozart, de Schubert, et en observant d’autre part les bruyans transports qu’excitaient de misérables bagatelles, j’ai gémi et désespéré.“54

Beim Kammermusik-Konzert vom 11. Februar 1837 wurde Beethovens Klaviertrio Es-Dur op. 70 Nr. 2 stillschweigend mit dem vierten, ebenfalls in Es-Dur komponierten Trio op. 118 (1833) von Johann Peter Pixis (1788–1874) vertauscht. Dieser unangekündigte Wechsel wurde vom Publikum nicht bemerkt und das vermeintliche Beethoven-Trio mit weitaus wärmerem Applaus bedacht. Berlioz hielt fest: „[…] Une dame, ma voisine, s’extasiant sur la grâce des mélodies, l’élégance et la vivacité des traits, se récriait que Beethoven était le seul au monde capable d’écrire de pareille musique, etc., etc. Après l’avoir laissé exhaler son enthousiasme, j’ai cru devoir l’avertir de sa méprise; soudain son visage s’est attristé, à l’expansion admirative a succédé comme par enchantement une expression de réserve froide et sévère. On eût dit qu’elle se reprochait vivement les éloges accordés à M. Pixis, sous le nom de Beethoven; mais il n’y avait plus à y revenir. Probablement, une autre fois cette dame ne formulera ses jugements qu’après s’être bien assurée qu’il lui est permis de s’enthousiasmer, sans manquer à l’étiquette de la mode; car, il faut l’avouer en rougissant, Beethoven est à la mode.“55

Zwischen den beiden Klaviertrios begleitete Liszt eine Mademoiselle Méquillé bei den Schubert-Liedern Die junge Nonne und Pensée d’amour (vermutlich Liebesbotschaft). Wie bereits zwei Jahre zuvor, als Nourrit im Conservatoire die Orchester-Fassung des Liedes Die junge Nonne aufgeführt hatte, zeigte sich Berlioz auch von der Originalversion tief beeindruckt, deren Tremolandi Liszt gewiss sehr effektvoll auszuführen wusste: „La Religieuse surtout, admirablement accompagnée par Litz, a vivement ému l’auditoire. Une jeune nonne, seule dans sa cellule, écoute avec terreur les mugissements de la amer qui, battue 52 53

54 55

Geraldine Keeling, „Liszt’s Appearances in Parisian Concerts, 1824–1844, Part 2: 1834–1844“, in: The Liszt Society Journal 12 (1987), S. 8–22, S. 10. Die Schubert-Lieder können nur noch ansatzweise rekonstruiert werden. Realisiert wurden Die Gestirne (Nourrit/Liszt), „Les premières Amours“ / „Sois mes Amours“ (vermutlich Sei mir gegrüßt, Nourrit/Liszt), Die junge Nonne und „Pensée d’Amour“ (vermutlich Liebesbotschaft, Méquillé/Liszt) und durch einen jungen deutschen Sänger zwei nicht bezeichnete SchubertLieder. Vgl. ebd., S. 13–15. Liszts nicht ganz fehlerfreies Französisch wird in allen Zitaten original übernommen. RGMdP vom 19. Februar 1837.

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I Liszts Wege zu Schubert par les vents, vient se briser au pied de la tour où veille la recluse. Agité par une passion secrète, son cœur enferme un orage plus effrayant encore. Elle prie, la foudre lui répond. Son agitation et ses terreurs redoubleent, quand l’hymne de ses compagnes réunies pour prier dans la chapelle du couvent monte jusqu’à elle; sa voix s’unit à ces chants religieux, et le calme du ciel rentre dans son âme. Tel est le sujet du petit poëme que le compositeur avait à développer. Il en a fait un chef-d’oeuvre. Ces tremulandi continuels des parties supérieures, cette phrase sinistre des basses, répondant à chacune des interjections de la nonne, ces grands accords lugubres comme les cris de la tempête qui semblent vouloir étouffer les accents de la plainte sans y parvenir, et surtout la magnifique expression de la partie de chant, tout cela est d’un pathétique achevé et d’une haute inspiration poétique; tranchons le mot: c’est sublime.“56

Das Duo Nourrit/Liszt führte mit Schuberts Gesängen die deutsche Lied-Kunst in Frankreich ein und löste in diesem Land, das sich bislang vor allem für modische Opernarien und Romanzen begeistert hatte, eine unvergleichliche Schubert-Begeisterung aus. Nourrits unermüdliches Engagement für die Beziehung zwischen Wort und Ton scheint sich auf Liszt übertragen zu haben: Er wies die Verleger seiner späteren Liedtranskriptionen explizit an, die Originalverse exakt in den Notentext einzuarbeiten.57 ARRANGIEREN UND BEARBEITEN BEI LISZT „Aber wo beginnt die Bearbeitung?“58 Diese Frage stellte sich der italienische Pianist und Komponist Ferruccio Busoni (1866–1924), dessen Bearbeitungen ebenfalls einen wichtigen Bestandteil seines Œuvres ausmachen. Busonis Antwort fiel so einfach wie einleuchtend aus: „Jede Notation ist schon Transkription eines abstrakten Einfalls.“59 In seinem Aufsatz „Wert der Bearbeitung“ schrieb er gegen die Vorurteile gegenüber einer Gattung an, deren ästhetischer Rang zumindest in Frage stand, und ergriff damit nicht zuletzt Partei für sein großes Vorbild Franz Liszt. Busonis Votum fiel in eine Zeit, in der dieser Aspekt von Liszts Schaffen völlig ausgeblendet wurde. Eindrückliches Zeugnis dieser bewussten Ausklammerung gibt die zwischen 1901 und 1936 bei Breitkopf und Härtel erschienene Liszt-Gesamtausgabe in 34 Bänden, in der die Transkriptionen einfach übergangen wurden. Transkriptionen waren im späteren 18. und im 19. Jahrhundert ein wichtiges Mittel, bedeutsame Werke der musikalischen Literatur mit einfachen Mitteln zum Klingen zu bringen. Dabei handelte es sich in der Regel um Opern, Oratorien oder größere Orchesterwerke, die für Klavier oder Kammermusikbesetzungen arrangiert 56

57 58 59

Ebd. Da Liszt vor dem abschließenden Beethoven-Trio eine Pause benötigte, sang ein gewisser Herr Hüner spontan zwei Schubert-Lieder: „Après un entr’acte assez long, nécessité par l’extrême fatique de Liszt, et pendant lequel un jeune Allemand, que le programme n’annonçait pas, est venu chanter d’une voix faible et mal assurée deux chansonnettes des Schubert […].“ Ebd. Vgl. dazu diese Arbeit, S. 63. Ferruccio Busoni, „Wert der Bearbeitung“, in: Von der Einheit der Musik, Verstreute Aufzeichnungen, Berlin 1922, S. 147–153, S. 149. Ebd., S. 150.

Arrangieren und Bearbeiten bei Liszt

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wurden. Abgesehen von der rein pragmatischen Umsetzung war das Bearbeiten fremder Werke jedoch auch eine gängige Konzertpraxis, mit der sich die reisenden Virtuosen von der erheblichen Zahl ihrer Berufskollegen abzuheben versuchten. Zum „Reiserepertoire“ der Pianisten gehörten Kompositionen mit „nationaler Charakteristik“, deren Bezug zu Orten und Landschaften eine Hommage an das Publikum der jeweiligen Länder und Menschen darstellte. Besonders in Wien und Paris gehörte die Präsentation traditionellen Melodieguts zum Standardprogramm führender Klavierkomponisten.60 Mit einer musikalischen Kunde über ein anderes Land (Souvenir de …, Soirée de …) konnte auch des Virtuosen „Flair der Internationalität“ demonstriert werden.61 Liszts Klavierbearbeitungen von Werken anderer Komponisten sind weit zahlreicher als seine Originalkompositionen, denn die schier unerschöpfliche Lust, Vorhandenes umzuformen, war eine zentrale Komponente seiner Kreativität.62 Die Schubert-Bearbeitungen stammen zwar aus verschiedenen Schaffensperioden, doch fällt auf, dass ihre Genese meist an biografischen Schnittstellen liegt. Dieser Umstand trägt viel zur neuen Kontextualisierung bei, die Liszts Schubert-Liederzyklen im Speziellen auszeichnet. Dass viele Liedbearbeitungen in verschiedenen Fassungen überliefert sind, zeugt von der Bedeutung, die der Autor ihnen beimaß.63 In ihnen erhob Liszt den Prozess des Bearbeitens zu einer schöpferischen Tätigkeit, bei der er das frühromantische Ideal einer universalen poetischen Kunstsprache zu realisieren versuchte.64 Dazu bedurfte es der hervorragenden Instrumente, die Liszt mit den Erardschen Flügeln zur Verfügung standen: „Im Umfang seiner sieben Oktaven umschließt es den ganzen Umfang eines Orchesters und die zehn Finger eines Menschen genügen, um die Harmonien wiederzugeben, welche durch den Verein von hunderten von Musicirenden hervorgebracht werden.“65

In seinen Übertragungen der Berliozschen Sinfonie fantastique und der Sinfonien Beethovens liegt der Fokus auf eben diesem Anspruch, alle Orchesterstimmen mit zwei Pianistenhänden zum Klingen zu bringen. Dieses Streben drückt sich allein schon in der von Liszt erfundenen programmatischen Bezeichnung partition de 60 61 62

63 64 65

Gerhard J. Winkler, „Die ‚Soirées de Vienne‘: Gibt es ein ‚Österreichisches‘ in Franz Liszts Schubert-Bearbeitungen?“, in: ders., Liszt und die Nationalitäten. Bericht über das internationale musikwissenschaftliche Symposion Eisenstadt, 10.–12. März 1994, S. 74–97, S. 81. Ebd. Vgl. Jacques Drillon, Liszt Transcripteur ou la charité bien ordonnée, Arles 2005, S. 17 f. Über die Anzahl der Bearbeitungen herrscht in der Literatur kein Konsens. Gemäß Walker belaufen sich Liszts Bearbeitungen auf etwa 700 Werke. Vgl. Alan Walker, „Liszt and the Schubert Song Transcriptions“, in: Musical Quarterly 67 (1981), S. 50–63, S. 51. Da Liszt seine Kompositionen häufig in mehreren Fassungen hinterließ, können die numerischen Unterschiede je nach Zählweise beachtlich sein. Außerdem ergibt eine Aufspaltung der Zyklen in Einzelnummern eine wesentlich höhere Gesamtzahl. Sieghart Döhring, „‚Réminiscences‘. Liszts Konzeption der Klavierparaphrase“, in: Jürgen Schläder / Reinhold Quandt (Hg.), Festschrift Heinz Becker zum 60. Geburtstag, Laaber 1982, S. 131–151, S. 131. Ebd. Franz Liszt, Essays und Reisebriefe eines Baccalaureus der Tonkunst, in: Lina Ramann (Hg.), Gesammelte Schriften von Franz Liszt, Bd. 2, Leipzig 1881, S. 152.

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I Liszts Wege zu Schubert

piano aus.66 In diesen Klavierpartituren wollte Liszt dem Publikum die ganze Tiefe des Originals vermitteln, denn er war von der Gleichberechtigung von Orchesterund Klavierkomposition überzeugt.67 Mehr Freiheiten als in den notengetreuen Klavierpartituren boten sich dem Bearbeiter in seinen Liedtranskriptionen. Zwar sind diese textlich und inhaltlich an die Vorlage gebunden, doch erlaubte sich Liszt bisweilen, eine zusätzliche Strophe einzufügen oder eine klavieristische Ausdeutung der im Original angelegten Ideen vorzunehmen. Oftmals verleiht die Variantentechnik seinen ent-texteten Liedern die Struktur eines von Strophe zu Strophe fortschreitenden Variationenzyklus. Auch die extremen Lagen des Konzertflügels dienten ihm als dramaturgisches Steigerungsmittel. In seinen Opernparaphrasen ging Liszt noch einen Schritt weiter, da es zusätzlich zu Musik und Text noch die Ebene der szenischen Handlung einzuflechten galt. Keineswegs beschränkte er sich darauf, den Stoff „in nuce“ wiederzugeben; vielmehr griff er Motive und Personenkonstellationen heraus, die ihn interessierten und die seine persönliche Befindlichkeit darstellten.68 Das Spektrum von Liszts Bearbeitungsvorlagen reicht von populären „Meisterwerken“ bis hin zu völlig unbekannten Kompositionen. Durch den Verweis auf eine hinlänglich bekannte Thematik gelang es ihm, einen „Kommunikationsvorgang“ mit dem Publikum in Gang zu bringen. Dieser Wiedererkennungseffekt machte auch den Erfolg einer weiteren Lisztschen Spezialität aus: Improvisationen über Themen aus dem Publikum. In derartigem Spiel mit dem Bekannten wurde laut Peter Gülke „das Gesellschaftliche des musikantischen Umgangs mitkomponiert.“69 Dass sich der berühmte Klaviervirtuose kraft seines Renommees auch für die Musik noch unbekannter Zeitgenossen einsetzte, schien seine Beschäftigung mit einem umstrittenen Genre zu legitimieren. Doch wird Liszts Anliegen wohl nicht in erster Linie in der Popularisierung verborgener Musik bestanden haben. Vielmehr regten ihn die vielfältigen Stile dazu an, bereits im Werk angelegte Erfindungskerne weiterzuentwickeln. Eine solche Art der „Werk-Modernisierung“ ermöglichte es ihm, in den Kompositionen Dritter einen „eigenen Standpunkt zu formulieren.“70 Sein Schüler August Stradal fasste diesen Prozess der Aneignung in folgende Worte: „In der Verbindung und Verschmelzung der objektiven und subjektiven Interpretation sah Liszt allein das Heil einer grossen Vortragskunst. […]. Im Lisztschen Vortrage waren aber beide Methoden vereint und so wurde er nicht nur dem Denken und Fühlen des Komponisten, den er vortrug, ganz und gar gerecht, sondern verwob auch sein eigenes grosses ‚Ich‘ in die Gefühlswelt des Dargestellten. Produzieren und Reproduzieren waren eben im Spiele Liszts vereint.“71 66 67 68 69 70 71

Hinrichsen, „Rezeption als Selbstverständigung“, S. 122. Helmut Loos, Zur Klavierübertragung von Werken für und mit Orchester des 19. und 20. Jahrhunderts (=Schriften zur Musik Bd. 25), München/Salzburg 1983, S. 467. Michael Heinemann, „Der Bearbeiter als Autor. Zu Franz Liszts Opernparaphrasen“, in: HansJoachim Hinrichsen / Klaus Pietschmann (Hg.), Jenseits der Bühne. Bearbeitungs- und Rezeptionsformen der Oper im 19. und 20. Jahrhundert, Kassel 2011, S. 88–92, S. 88. Gülke, Schubert und seine Zeit, S. 208. Heinemann, „Der Bearbeiter als Autor“, S. 88. Stradal, Erinnerungen, S. 161.

Arrangieren und Bearbeiten bei Liszt

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Liszts Modus der Bearbeitung war stets einem Prozess unterworfen, dessen verschiedene Stadien mit Phasen seiner eigenen Entwicklung korrespondierten. Dies zeigt sich bereits im Lied Die Rose, der ersten im Druck erschienenen SchubertTranskription des 22-jährigen Pianisten.

II DIE LIEDTRANSKRIPTION ALS NEUE GATTUNG „Besonders gefielen die Variationen aus meiner neuen Sonate zu 2 Händen [a-Moll op. 42], die ich allein und nicht ohne Glück vortrug, indem mich einige versicherten, daß die Tasten unter meinen Händen zu singenden Stimmen würden, welches, wenn es wahr ist, mich sehr freut, weil ich das vermaledeyte Hacken, welches auch ausgezeichneten Clavierspielern eigen ist, nicht ausstehen kann, indem es weder das Ohr noch das Gemüth ergötzt.“1

Es ist wohl eher unwahrscheinlich, dass Liszt Schuberts heute oft zitierte Briefpassage vom 25. Juli 1825 an seinen Vater und die Stiefmutter gekannt hat. Dennoch stehen seine Transkriptionen ganz im Zeichen des „Singens am Klavier“. Von Liszts 140 Liedbearbeitungen entfallen allein 55 auf Schubert. Gemessen an der Anzahl Arrangements, hat er für keinen anderen Musiker ein solch lebhaftes Interesse gezeigt. Folgende Auflistung gibt einen Überblick über die Lisztschen Transkriptionen von Schuberts Liedern und das Jahr ihrer ersten Drucklegung ohne Berücksichtigung der verschiedenen Fassungen und Auflagen.2 1833 1838

1840

1840

1841

1 2

Die Rose (S 556, Schlesinger) Lob der Tränen (S 557, Haslinger) Ständchen (S 560 „Leise flehen“, Haslinger) Die Post (S 561, Haslinger) Aufenthalt (S 560, Haslinger) 12 Lieder von Franz Schubert (S 558, Diabelli) (Sei mir gegrüßt, Auf dem Wasser zu singen, Du bist die Ruh, Erlkönig, Meeresstille, Die junge Nonne, Frühlingsglaube, Gretchen am Spinnrade, Ständchen von Shakespeare, Rastlose Liebe, Der Wanderer, Ave Maria) Schwanengesang (S 560, Haslinger) (Die Stadt, Das Fischermädchen, Aufenthalt, Am Meer, Abschied, In der Ferne, Ständchen, Ihr Bild, Frühlingssehnsucht, Liebesbotschaft, Der Atlas, Der Doppelgänger, Die Taubenpost, Kriegers Ahnung) Winterreise (S 561, Haslinger) (Gute Nacht, Die Nebensonnen, Mut, Die Post, Erstarrung, Wasserflut,  Der  Lindenbaum,  Der  Leiermann,  Täuschung,  Das  Wirtshaus,  Der Stürmische Morgen, Im Dorfe) Franz Schuberts geistliche Lieder (S 562, Schuberth & Comp.) (Litanei, Himmelsfunken, Die Gestirne, Hymne) 6 Mélodies célèbres de François Schubert (S 563, Richault)

Deutsch, Dokumente, S. 299. Vgl. dazu auch die detaillierte Liste der wichtigsten Fassungen und der Erstdrucke im Anhang dieser Arbeit, S. 312 ff.

Die Rose – „toute ma vie de 16 à 19 ans“

1846 1846

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(Adieu / Lebe wohl!3, Les plaintes de la jeune fille / Mädchens Klage,  La cloche des agonisants / Das Zügenglöcklein, La fleur fanée / Trockne  Blumen, Toute ma vie / Ungeduld, La Truite / Die Forelle) Müller-Lieder von Franz Schubert (S 565, Diabelli) (Das Wandern, Der Müller und der Bach, Der Jäger, Die böse Farbe, Wohin?, Ungeduld) Die Forelle (Zweitfassung S 564, Diabelli)

Die Arrangements entstanden zwischen 1832 und 1846, wobei der größte Teil in den ersten Jahren von Liszts Virtuosenzeit im Druck erschien. In dieser Periode wurde Liszts persönliche und künstlerische Entwicklung durch das Zusammenleben mit der Gräfin Marie d’Agoult (1805–1876) geprägt. Viele der Schubert-Übertragungen haben nachweislich einen autobiografischen Bezug und stellen musikgewordene Erlebnisse und Reflexionen dieser problematischen Liaison dar. Von den Anfängen bis hin zum unglücklichen Ende begleiteten Schuberts Lieder das Paar und ermöglichten es ihrem Bearbeiter, sowohl die glückserfüllten Momente wie auch den schmerzlichen Bruch in Musik auszudrücken, während Marie ihre Emotionen schriftstellerisch verarbeitete.4 Den Grundstein zu Liszts TranskriptionenSerie legte jedoch ein Arrangement, das aus der Zeit unmittelbar vor der ersten Bekanntschaft der beiden stammt und nach Aussage des Verfassers ein Resümee seiner unglücklichen Teenager-Jahre bildet. DIE ROSE – „TOUTE MA VIE DE 16 À 19 ANS“ Wann Liszt Schuberts Rose (D 745) für Klavier arrangierte, kann nicht mehr genau eruiert werden. Günther Protzies’ Datierungsversuchen zufolge entstand die Transkription im Zeitrahmen von Ende März bis Anfang Dezember 1832.5 Im Jahre 1833 wurde sie als Einzelausgabe im Verlag von Maurice Schlesinger in Paris gedruckt. Die Klavierfassung berücksichtigt alle sechs Liedstrophen, nimmt sich aber besonders an den kadenzierenden Enden viele Freiheiten heraus. Von Beginn an wird deutlich zwischen den Gesangspassagen und den rein pianistischen Zwischenspielen unterschieden. Die Abkadenzierung der Melodie kennzeichnet Liszt mit einem länglichen Strich und der Anmerkung Decrescendo der Bewegung. Damit ist wohl eine Beruhigung für das folgende Klaviernachspiel und den entsprechenden Rollenwechsel gemeint. Von der zweiten Strophe an dominiert die Handschrift des jungen Bearbeiters. Variative Elemente wie nachschlagende Bässe, durchgehende Sechzehntelgänge und Umspielungen prägen die Takte 16 ff. (dolce grazioso). In Takt 20 ändert sich der Bewegungsfluss: Synkopierte Staccato3 4 5

Das Lied Lebe wohl! stammt nicht von Schubert, sondern vom 1788 in Riga geborenen Musiker und Dichter August Heinrich von Weyrauch. Siehe ebd., S. 154. Unter dem Pseudonym Daniel Stern publizierte sie 1846 ihren einzigen Roman Nélida, in dem sie ihre Beziehung zu Liszt (im Roman als Maler Guermann Regnier aus der Mittelschicht dargestellt) verarbeitet. Günther Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 103.

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II Die Liedtranskription als neue Gattung

klänge und wechselnde Tempi durchbrechen Schuberts Begleitduktus und verweisen auf die Tragik, die der reich mit Metaphern bestückte Text enthält („nun muss ich frühe welken, dem Leben schon entsagen“). Dem Schluss dieser Verszeile fügt Liszt sogar eine neue harmonische Wendung hinzu: Anstatt die Passage in die Tonika münden zu lassen, lenkt eine Zwischendominante zur dritten Stufe die Musik in Takt 24 nach h-Moll. Erst im Zwischenspiel gewinnt die Grundtonart nach einem virtuos ausgezierten Lauf wieder die Oberhand.

Liszt, Die Rose (Schubert), T. 19–27

In der dritten Strophe in D-Dur, die mit dem Dominant-Orgelpunkt im Bass anhebt, dichtet der Pianist eine verspielte Figur aus Wechselnoten für die linke Hand hinzu (delicato). Die dem Gedichtinhalt nach verhängnisvolle vierte Strophe, in der die heißen Sonnenstrahlen die Rose versengen, entfernt sich musikalisch am Weitesten vom Schubertschen Original. Liszt benötigt für seine dramatische Schilderung, in der dissonante Kleinsekund-Reibungen vorkommen, fast die doppelte Anzahl von Takten. Exakt an der Stelle, wo sich die sterbende Rose klagend an die Sonne wendet, verselbständigt sich die Klavierversion und baut in mehreren Anläufen einen großen Spannungsbogen auf. Dieser entlädt sich in einer ausgedehnten Fermate über der mollentlehnten Subdominante mit virtuoser Figuration bis in die höchsten Register, die wiederum im Dominantsept-Akkord, diesmal mit klagender kleiner None (piangendo), mündet.

Die Rose – „toute ma vie de 16 à 19 ans“

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Liszt, Die Rose, T. 50–52

Nach diesem Exkurs orientiert sich die in der Moll-Variante stehende fünfte Strophe (Poco meno allegretto, tristamente) wieder vermehrt am Lied. Nochmals biegt Liszt Schuberts V-I-Kadenzierung um, diesmal nach Es-Dur. Ein überraschender Wandel vollzieht sich in der Schlussstrophe, die zunächst im Gewand einer Variation erscheint. Nach vier Takten und einem ritenuto molto kommt die Musik in einer Generalpause zum Stillstand („bald wird mich Kälte nagen“). Die Melodie ist im Folgeabschnitt nur noch in Ansätzen erkennbar (Più animato, con agitazione), denn eine gewaltige Steigerung mit energischen Akkordrepetitionen führt bis ins dreifache Forte (molto fff passionato, marcatiss. senza tempo). Die Rückkehr nach G-Dur (T. 77) bringt einen Farbwechsel mit sich und leitet das dynamische Abschwellen ein (una corda, perdendosi). Auch dem Nachspiel drückt Liszt seinen Stempel auf: Anstelle der Dominante D-Dur breitet er einen Fis-Dur-Septimenakkord als virtuoses Arpeggio aus (T. 85), das sich nach H-Dur auflöst. Nun erst folgt mit dem Ganzschluss D-Dur/G-Dur die „richtige“ Abkadenzierung, wobei die ebenfalls aufgefächerte Dominante durch den zusätzlichen Ton Es eine Molltrübung beibehält.

Liszt, Die Rose, T. 83–88

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II Die Liedtranskription als neue Gattung

Es gibt einen konkreten Hinweis darauf, dass Liszt Schlegels Text mit seinem eigenen Leben in Beziehung setzte. In einem Brief an seine ehemalige Schülerin Valerie Boissier vom 12. Dezember 1832 merkte er zu seiner mit „petite Ballade“ bezeichneten Rose-Transkription an: „Veuillez bien aussi renouveler à Madame votre mère l’assurance d’une affection sincère; très prochainement je lui ferai parvenir une petite Ballade (qui par parenthèse est toute ma vie de 16 à 19 ans) que Schlesinger doit publier dans l’Album des Pianistes de 1833.“6

Für die Zeitspanne „de 16 à 19 ans“, die sich vom Tod seines Vaters bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr erstreckte, sah sich der junge Liszt rückblickend möglicherweise als „unglückliche Rose“. Nachdem er an seinen ersten Liebeserfahrungen mit seiner Schülerin Caroline de Saint-Cricq (1810–1872) fast zugrunde gegangen war, fand er bereits damals Trost in Schuberts Liedern. „JAMAIS GOETHE ET SCHUBERT N’ONT ÉTÉ COMPRIS AINSI“ – FRANZ LISZT UND MARIE D’AGOULT Marie de Flavigny wurde 1805 in Frankfurt am Main als Tochter des emigrierten französischen Aristokraten Alexandre de Flavigny und seiner Frau Maria Elisabeth Bethmann geboren. 1827 heiratete sie den Grafen Charles d’Agoult (1790–1875). Das Paar bekam zwei Töchter: Louise (1828–1834), die im Alter von nur sechs Jahren starb, und Claire (1830–1912). Die Ehe scheint nicht glücklich gewesen zu sein. Zur Zerstreuung lud das Paar die neue Künstlergeneration auf sein Landgut Château de Croissy ein, das es im April 1833 erworben hatte. Dass die Gastgeberin selbst eine talentierte Klavierspielerin war, soll den besonderen Reiz ihres Salons ausgemacht haben. In ihren Memoiren erwähnt die Gräfin, dass der Komponist und Pianist Johann Nepomuk Hummel (1778–1837) ihr einige Klavierstunden gegeben und sie zu eigenen Kompositionen ermutigt habe.7 Einer Aussage ihres Ehemannes zufolge lobte sogar Rossini ihr Spiel.8 Zur ersten Bekanntschaft zwischen Marie d’Agoult und dem um sechs Jahre jüngeren Liszt ist es vermutlich zu Beginn des Jahres 1833 gekommen.9 Nachträg6 7

8

9

Robert Bory (Hg.), „Diverses lettres inédites de Liszt“, in: Schweizerisches Jahrbuch für Musikwissenschaft, Bd. 3, Aarau 1928, S. 11. „Quand le célèbre Hummel vint à Paris, elle [die Mutter von Marie] me fit prendre de ses leçons. Hummel m’encouragea beaucoup dans mes études. Il me conseillait de m’essayer à la composition.“ Daniel Stern [= Marie d’Agoult], Mémoires, Souvenirs et Journaux I/II, hrsg. von Charles F. Dupêchez, Paris 1990, S. 110. In einer Fußnote merkt sie an: „Je me rappelle avoir composé plusieurs morceaux qui n’étaient pas sans charme: quelques valses très allemandes; le chant de la Lorelei par Heine; le chant de l’esclave dans la Lucrèce de Ponsard, etc. Je ne sais ce que tout cela est devenu.“ Ebd. „Indeed Charles d’Agoult recalled an evening during which Rossini heard her perform the ouverture of his opera Semiramis with such virtuosity that he declared it the best performance since its writing.“ Richard Bolster, Marie d’Agoult. The Rebel Countess, New Haven/London 2000, S. 110. Vgl. Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 34.

„Jamais Goethe et Schubert n’ont été compris ainsi“ – Franz Liszt und Marie d’Agoult

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lich schilderte Marie das Zusammentreffen in ihren zur Veröffentlichung bestimmten Memoiren folgendermaßen: „Je dis une apparition, faute d’un autre mot pour rendre la sensation extraordinaire que me causa, tout d’abord, la personne la plus extraordinaire que j’eusse jamais vue. Une taille haute, mince à l’excès, un visage pâle, avec de grands yeux d’un vert de mer où brillaient de rapides clartés semblables à la vague quand elle s’enflamme, une physionomie souffrante et puissante, une démarche indécise et qui semblait glisser plutôt que se poser sur le sol, l’air distrait, inquiet et comme d’un fantôme pour qui va sonner l’heure de rentrer dans les ténèbres, tel je voyais devant moi ce jeune génie, dont la vie cachée éveillait à ce moment des curiosités aussi vives que ses triomphes avaient naguère excité d’envie.“10

Unter dem Einfluss des umjubelten Virtuosen nahm Marie d’Agoult systematisch betriebene Klavierübungen auf. Außerdem sind Hinweise auf vierhändige Klavierwerke erhalten, welche die beiden spielten.11 Dem Briefwechsel lässt sich entnehmen, dass die Gräfin mit Begleitung von Liszt Lieder von Beethoven, Berlioz und Schubert sang. Beim Treffen vom 31. August 1833 etwa musizierten sie Schuberts Erlkönig: „Pourriez-vous me donner abri vers la fin de la semaine prochaine, dans quinze jours à peu près? … Vous avez été sublime samedi matin, oui tout bonnement sublime … Jamais Goethe et Schubert n’ont été compris ainsi … jamais émotion plus vaste n’avait transi mes entrailles et brûlé mon front … Oh! il faudrait mourir après ces heures d’enthousiasme, de délire. Quel Chant, quelle Poésie … Oui, je l’ai bien compris alors, l’Univers, c’est le vêtement, le voile … l’âme ce sera Dieu.“12

Auch bei weiteren Zusammenkünften stand Schuberts Musik im Zentrum, wie folgende Zeilen aus dem Jahre 1834 bezeugen: „Puisque vous voulez bien me donner une demi-heure ce matin, je ne manquerai certainement pas au rendez-vous – j’apporterai Schubert.“13 Die Gräfin besaß ebenfalls eine Ausgabe mit Schubert-Liedern, die zwischen den beiden ausgetauscht wurde: „Vous serait-il possible de me faire parvenir votre cahier de Schubert? – je ne le garderai pas plus de 8 jours.“14 Allmählich entwickelte sich zwischen den beiden schillernden Persönlichkeiten des Pariser Kultur- und Gesellschaftslebens eine Affäre, die nicht unbemerkt blieb. Doch erst im Jahre 1835, als Marie ihr erstes Kind von Liszt erwartete, führte sie den Bruch mit ihrem Ehemann herbei. Dem sich anbahnenden Skandal entfloh das Paar durch eine Schweizer Reise, deren erste Station die Rheinstadt Basel war. Nachdem Liszt privat beim Musikalienhändler Knopp musiziert hatte (der Überlieferung nach bis die Saiten sprangen), bot ihm der Baumwollfabrikant und Musikliebhaber Daniel Heusler-Thurneysen (1812–1874) sein eigenes Instrument an. Im Tagebuch hielt er fest: „Bei mir spielt er Fantaisie von Schubert, Thalberg, Concerto und Etudes von Chopin, von Moscheles. Das Entzücken raubte mir die Sprache, ich bin entmuthigt,

10 11 12 13 14

Stern, Mémoires I, S. 299 f. Siehe Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 35. Brief von Franz Liszt an Marie d’Agoult vom 2. September 1833, zit. in: Serge Gut / Jacqueline Bellas (Hg.), Franz Liszt – Marie d’Agoult. Correspondance, Paris 2001, S. 85. Brief von Franz Liszt an Marie d’Agoult vom 17. Oktober 1834, zit. ebd., S. 109. Undatierter Brief von Franz Liszt an Marie d’Agoult (wohl zwischen Januar und April 1834), zit. ebd., S. 189.

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II Die Liedtranskription als neue Gattung

ich spiele verächtlich schlecht […].“15 Heusler-Thurneysen reiste noch im Herbst desselben Jahres für einige Monate nach Paris und nahm dort Unterricht bei Chopin.16 Der Basler Tagebuch-Eintrag nennt eine Komposition von Liszts fast gleichaltrigem Konkurrenten Sigismund Thalberg. Dabei dürfte es sich um dessen NormaFantasie op. 12 gehandelt haben, die damals als einziges Klavierwerk in einer Pariser Ausgabe vorlag.17 THALBERG UND LISZT: ZWEI RIVALEN SINGEN SCHUBERTS LIEDER AM KLAVIER In der Zeit von Liszts Abwesenheit kämpfte in Paris eine außergewöhnlich hohe Anzahl Pianisten um die Gunst des Publikums. Allein in der Saison 1835/36 sollen in den „Showrooms“ von Erard und Pleyel über zweihundert Konzerte veranstaltet worden sein.18 Ein österreichischer Klaviervirtuose zog bald die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich: Am 24. Januar 1836 debütierte Sigismund Thalberg (1812– 1871) im Rahmen des ersten Konservatorium-Konzertes der aktuellen Saison vor einem großen Publikum. Dafür wurde eigens die strenge Regelung der Konzertreihe gelockert, die sonst keine ausländischen Virtuosen im Programm vorsah. Die Rezension von Berlioz lässt erahnen, welch durchschlagenden Erfolg der 24-jährige Pianist mit dem Solobeitrag seiner Grande Fantaisie op. 22 erzielte: „M. Thalberg, dès les premières mesures, s’est montré un des trois ou quatre grands pianistes de l’Europe; après quelques développements, il s’est emparé complétement [sic] de l’assemblée et l’a promenée haletante, de merveilles en merveilles, jusqu’au dernier accord où cet immense enthousiasme, si péniblement contenu, a enfin éclaté. La salle en tremblait. Je n’ai jamais vu que Listz [sic] produire un effet pareil. Ces deux talents, cependant, n’ont point ensemble de rapports sur lesquels il soit possible d’établir une comparaison sérieuse. M. Thalberg est plus calme, moins audacieux que M. Listz, les difficultés qu’il exécute sont d’une nature moins éclatante, harmoniques plus que mélodiques. Ses broderies, toujours fines et d’un ton imprévu, se rapprochent plutôt des bonds capricieux, des charmantes mutineries, des folâtreries spirituelles de Chopin, si justement nommé le Trilby des pianistes. Quant à son mécanisme, il n’est personne qui ne l’ait de prime abord reconnu prodigieux. L’usage fréquent qu’il fait de deux doigts de la main droite (l’annulaire et le petit), pour des chants et même des traits de la plus grand rapidité, pendant que les trois autres exécutent des accompagnements fort compliqués, autorise presque à dire, que M. Thalberg a trois mains au lieu de deux. […].“19 15

16 17 18 19

Zit. in: Hans Peter Schanzlin, „Liszt in Basel und die Liszt-Dokumente in der Universitätsbibliothek Basel“, in: Serge Gut (Hg.), Liszt-Studien 2, Kongressbericht Eisenstadt 1978, München/Salzburg 1981, S. 163–171, S. 163. Ob es sich bei der „Fantaisie von Schubert“ vielleicht um die Wandererfantasie handelte oder doch eher um eines der wenige Monate zuvor bei Richault veröffentlichten Impromptus (D 899), wie Günther Protzies vermutet, muss offenbleiben. Vgl. Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 184. Vgl. dazu Niklaus Röthlin, „Drei Briefe von Clara Schumann an den Basler Fabrikanten Daniel Heusler-Thurneysen“, in: Mitteilungen der Paul Sacher Stiftung, Nr. 3, Januar 1990, S. 37–41, S. 37. Siehe Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 184. Walker, The Virtuoso Years, S. 235. RGMdP vom 31. Januar 1836. Einem späteren Bericht von Joseph d’Ortigue in der RGMdP ist zu entnehmen, dass Thalberg damals seine Grande Fantaisie op. 22 gespielt hat. Vgl. dazu auch Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 188.

Thalberg und Liszt: Zwei Rivalen singen Schuberts Lieder am Klavier

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Das Erscheinen dieses ernst zu nehmenden Rivalen stellte für Liszt eine Herausforderung dar. Aus der Korrespondenz mit Marie d’Agoult geht hervor, dass der Name Thalberg für ihn zu einer Idée fixe geworden war.20 Ein knappes Jahr nach Thalbergs Pariser Debüt veröffentlichte Liszt in der RGMdP vom 8. Januar 1837 eine polemisierende Kritik über die Grande Fantaisie, die vom musikalisch-analytischen Standpunkt her allerdings nicht ganz unbegründet ist.21 Eine Anmerkung des Herausgebers der RGMdP, der sich im Namen der Redaktion vom Inhalt der Rezension distanzierte, lässt vermuten, dass Schlesinger von einer Veröffentlichung abgeraten hatte.22 „[…] Des arpéges, partout des arpéges, rien que des arpéges! quelle merveilleuse unité! et puis voyez, chaque accord a sa mesure, chaque phrase sa variation en arpéges ou en octaves, chaque trait son crescendo, sa prolongation, son développement indéfini. Quelle belle largeur de style. Ne dirait-on pas le fameux secret du componium* (*Le componium, machine à improvisation, exposée dans les salons de M. Dietz, en 1824); enfin trouvé, et ses brillantes improvisations mises à la portée de la tourbe vulgaire des pianistes?“23

Trotz des übertriebenen Vorwurfs, das Werk bestünde nur aus Arpeggien, ist es durchaus denkbar, dass Thalbergs op. 22 als Demonstrationsobjekt des kantablen Klavierspiels auf Liszt und seine späteren Lied- und Opernparaphrasen abfärbte. Schließlich hatten Berlioz’ Schilderung zufolge bereits die ersten Takte, die lediglich aus schlicht begleiteten Melodiephrasen in langen Notenwerten bestehen, das Publikum aufhorchen lassen. Auch Robert Schumanns Urteil fiel verhalten positiv aus: „Die Phantasie Opus 22 besteht aus einer Menge kleiner Abtheilungen, die sich um einige Grundharmonieen bewegen, aus denen sich hier und da auch recht schöne Melodieen entwickeln. Sie enthält manches Anmuthige und Zarte, so schwierig und vollstimmig sie geschrieben ist. Ein mus. Blatt enthielt jüngst bei Besprechung Thalbergischer Compositionen die Bemerkung, daß man beim Anhören freilich um die Hälfte des Genusses käme, wenn man die Augen zudrücke, d. h. wenn man sie sich vierhändig gespielt dächte. Ich meine aber, daß es nicht gering anzuschlagen ist, wenn ein Einzelner vollbringt, wozu sonst Zwei gehören. Dies könnte also die Achtung nur erhöhen. Daß aber bei Thalberg, wie bei Herz und Czerny, das Hand- und Fingerwerk Hauptsache bleibt und daß er mit glänzenden Mitteln über oft schwächliche Gedanken zu täuschen weiß, könnte zu einem Zweifel veranlassen, wie lange die Welt an solcher mechanischen Musik Gefallen finden möchte. […].“24

Am 18. Mai 1836, Thalberg war bereits in die Sommerfrische verreist, spielte Liszt in den Salons Erard ein bemerkenswertes Programm. Er präsentierte nicht nur seine neusten Genfer Kompositionen, sondern auch Beethovens Hammerklaviersona20 21 22 23 24

Rainer Kleinertz, „Subjektivität und Öffentlichkeit. Liszts Rivalität mit Thalberg und ihre Folgen“, in: Gottfried Scholz (Hg.), Der Junge Liszt. Referate des 4. Europäischen Liszt-Symposions. Wien 1991, München/Salzburg 1993, S. 58–67, S. 58. LSS 1, S. 351–357. Walker zufolge, der sich auf die Skizzenbücher der Gräfin beruft, tragen die in der RGMdP erschienenen Artikel unter Liszts Namen deutlich die Handschrift von Marie d’Agoult. Vgl. dazu Walker, The Virtuoso Years, S. 236 Fn. 10. Vgl. dazu Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 197. Protzies hält fest, dass Liszts Rezension mehr als einen Monat vor dem Erscheinen der Grande Fantaisie veröffentlicht wurde. Offenbar hatte dieser einen Vorabdruck erhalten und mit äußerster Spontaneität reagiert. Siehe ebd. Zit. in LSS 1, S. 354. NZfM vom 30. Juni 1837.

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II Die Liedtranskription als neue Gattung

te.25 Dies war und blieb vorerst ein singuläres Ereignis, da Aufführungen von Sonaten in Konzerten bislang die Ausnahme bildeten. Als Clara Wieck beispielsweise im Rahmen ihrer umjubelten Wiener Konzerte zu Beginn des Jahres 1838 zweimal Beethovens Appassionata aufs Programm setzte, entflammte eine heftige Diskussion darüber, ob Sonaten für den Vortrag im Konzertsaal überhaupt geeignet seien oder nicht. Auch die Art und Weise der Wieckschen Interpretation, ihre hart am Limit gewählten Tempi, begeisterte und befremdete zugleich und wurde kontrovers beurteilt.26 In Liszts Pariser Beethoven-Interpretation dagegen registrierten die Zeitgenossen eine bislang für den Pianisten ungewöhnlich enge Orientierung am Notentext.27 Mit dieser neuen Positionierung als seriöser Interpret unter Einbezug Beethovenscher Kompositionen präsentierte sich Liszt als ernsthafter Künstler, der die Herausforderung durch Thalberg nicht allein als Virtuose, sondern auch durch „einen höheren Standpunkt einzunehmen“ gedachte.28 Im sogenannten „Reue-Brief“, der am 12. Februar 1837 in der RGMdP abgedruckt wurde, fasste er die angestrebten Veränderungen an seinem künstlerischen Erscheinungsbild für die Öffentlichkeit in Worte.29 Hochgeschaukelt von der Presse, kam es schließlich am 31. März 1837 im Salon der italienischen Freiheitskämpferin Cristina Belgiojoso (1808–1871), die mit dieser Einladung den Coup der Saison gelandet hatte, zum berühmten „Duell“ der beiden Antipoden. Obwohl ihre Vortragsart diametral verschieden war, wurden Liszt und Thalberg in klaviertechnischer Hinsicht von den Zeitgenossen als ebenbürtig eingestuft. Während Liszt als Komponist jedoch kaum Anerkennung bekam, fanden die Werke 25 26 27

28 29

Vgl. dazu Axel Schröter, Der Name Beethoven ist heilig in der Kunst. Studien zu Liszts Beethoven-Rezeption, Sinzig 1999, S. 68 ff. Vgl. dazu Janina Klassen, Clara Schumann: Musik und Öffentlichkeit, Köln 2009, S. 101. „Je citerai à l’appui de mon opinion, celle de toutes les personnes qui lui ont entendu exécuter la grande sonate de Beethoven, ce poème sublime qui, pour la presque totalité des pianistes, n’était jusqu’à ce jour que l’énigme du Sphinx. Nouvel Œdipe, Listz [sic] l’a expliquée, de manière à ce que l’auteur, s’il a pu l’entendre, a dû frémir de joie et d’orgueil dans sa tombe. Pas une note n’a été omise, pas une note n’a été ajoutée (je suivais des yeux la partition), pas une altération n’a été apportée au mouvement qui ne fût indiquée dans le texte, pas une inflexion, pas une idée n’a été affaiblie ou détournée de son vrai sens. […].“ RGMdP vom 12. Juni 1836. Kleinertz, „Subjektivität und Öffentlichkeit“, S. 58. Darin sind folgende Sätze zu lesen, die einer Beichte ähneln: „J’exécutais alors fréquemment, soit en public, soit dans des salons (où l’on ne manquait jamais de m’observer que je choisissais bien mal mes morceaux), les œuvres de Beethoven, Weber et Humel [sic], et, je l’avoue à ma honte, afin d’arracher les bravos d’un public toujours lent à concevoir les belles choses dans leur auguste simplicité, je ne me faisais nul scrupule d’en altérer le mouvement et les intentions; j’allais même jusqu’à y ajouter insolemment une foule de traits et de points d’orgue, qui, en me valant des applaudissements ignares, faillirent m’entraîner dans une fausse voie dont heureusement je sus me dégager bientôt. Vous ne sauriez croire, mon ami, combien je déplore ces concessions au mauvais goût, ces violations sacriléges de l’ESPRIT et de la LETTRE, car le respect le plus absolu pour les chefs-d’œuvre des grands maîtres a remplacé chez moi le besoin de nouveauté et de personnalité d’une jeunesse encore voisine de l’enfance.“ RGMdP vom 12. Februar 1837.

Thalberg und Liszt: Zwei Rivalen singen Schuberts Lieder am Klavier

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seines Kontrahenten reißenden Absatz.30 Eduard Hanslick gibt in seiner Geschichte des Concertwesens in Wien dem Kapitel über die Virtuosenzeit 1830–1848 den Untertitel „Epoche Liszt-Thalberg“. Er berichtet: „Ueberall spielte man Thalberg, und Alles von Thalberg, während von Liszt nur sehr wenige Stücke (Lucia-Phantasie, Galop chromatique, einige Schubert-Paraphrasen) von der übrigen Pianistenschaar adoptirt wurden.“31 Doch schon bei Erscheinen seines Buches im Jahre 1869 waren die Thalbergschen Kompositionen aus dem Repertoire verschwunden – „mit einigem Unrecht“, wie Hanslick bedauernd hinzufügte.32 Der Autor bezeichnet Thalberg als eigentlichen Vater einer neuen Klavierschule, deren Charakter die „elegante Romantik“ und deren „glücklichste Erfindung die Führung der Melodie in der Mittelstimme, umspielt von reichen Passagen“ sei.33 Dieser bereits von Berlioz beobachtete Effekt, der die Illusion einer dritten Pianistenhand kreiert, findet sich besonders anschaulich in der Moses-Fantasie op. 33.34 Dabei handelte es sich jedoch nicht um Thalbergs Erfindung. Der Pianist orientierte sich maßgeblich an der neuen Spielweise des englischen Harfenvirtuosen Elias Parish-Alvars (1808–1849), den Berlioz als „Liszt der Harfe“35 bezeichnete, und übertrug sie auf das Klavier. Besonders deutlich wird dies im Vergleich der beiden Fantasien über die berühmte Gebets-Arie aus Rossinis Oper Moses in Ägypten, deren Ähnlichkeit sich allein schon auf dem Papier zeigt (siehe Notenbeispiele auf der nächsten Seite). Thalbergs Kombination von müheloser klaviertechnischer Perfektion und singendem Spiel wurde auch in der zeitgenössischen Presse viel Beifall gezollt. „Es ist die vollendetste Nachahmung des Gesanges, die man sich denken kann.“36 So lautete das Lob des Rezensenten der Leipziger AmZ vom Januar 1839 nach dem Konzert vom 19. Dezember 1838 in Dresden, bei dem der k. und k. österreichische Kammervirtuose auch sein Schlachtross, die Moses-Fantasie, zu Gehör gebracht hatte. Vom „Sänger am Klavier“ sind auch einige Bearbeitungen von Schubert-Liedern erhalten, denen allerdings eine deutlich pädagogische Prägung zugrunde liegt. Thalbergs Arrangement von Der Müller und der Bach etwa erschien 1853 in L’art du chant appliqué au piano: 2. série op. 70. Im Vergleich zur Lisztschen Transkrip30 31 32 33 34 35

36

In Thalbergs Œuvre, das fast ausschließlich Klavierkompositionen und Lieder umfasst, sind insbesondere die zahlreichen Opernparaphrasen (meist über italienische Motive), die über das Potpourri hinausgehen, von Bedeutung. Hanslick, Geschichte des Concertwesens in Wien, S. 331. Ebd., S. 332. Ebd., S. 331. Thalberg brachte diese Novität ab 1837 zu Gehör. Zwei Jahre später erschien das Werk im Druck. Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 188. Berlioz hielt in seinen Mémoiren fest: „In Dresden lernte ich den außergewöhnlichen englischen Harfenisten Parish-Alvars kennen […]. Das ist der Liszt der Harfe! Man kann sich nicht vorstellen, welch liebliche und kraftvolle Effekte, welch eigenwillige Tonfolgen, welch unerhörte Klangfülle er aus seinem in gewisser Hinsicht so beschränkten Instrument herauszuholen versteht. […]. Der Vorteil der modernen Harfen, mittels eines Doppeltritts des Pedals zwei Saiten auf denselben Ton stimmen zu können, hat ihn auf Tonkombinationen gebracht, die einem, wenn man sie notiert sieht, absolut unspielbar erscheinen.“ Hector Berlioz, Memoiren, hrsg. von Frank Heidlberger, Kassel 2007, S. 360. Rezension von Karl Borromäus von Miltitz in der AmZ vom 2. Januar 1839.

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II Die Liedtranskription als neue Gattung

Parish-Alvars, Preghiera aus Rossinis Mosè in Egitto, T. 39–40

Thalberg, Moses-Fantasie op. 33, T. 295–296

tion37 zeigt sich auf Anhieb, dass die beiden Virtuosen unterschiedliche Ziele verfolgen: Thalberg konzentriert sich ausschließlich auf das Zelebrieren der Melodiestimme und überträgt den originalen Notentext exakt auf die Tastatur. Abweichungen wie einzelne zusätzliche Vorschlagnoten, die wiederholte Aufforderung, an 37

Vgl. dazu diese Arbeit, S. 138 f.

Thalberg und Liszt: Zwei Rivalen singen Schuberts Lieder am Klavier

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sensiblen Stellen das una corda-Pedal zu verwenden, die Verdopplung der Sechzehntelbegleitung ab Takt 62 und die hinzugefügte chromatische Mittelstimme in Takt 79 sind die Ausnahme. Liszts Konkurrent setzt konsequent auf originale Tonhöhen und verzichtet auf eine Auslotung der verschiedenen Klavierregister. Das stete Verweilen in der Mittellage und der damit verbundene Verlust der verschiedenen Klangfarben fordern vom Interpreten besonders viel Fantasie. Zwar erlaubt es Thalbergs „handgerechter“ Satz dem Spieler, seinen Fokus vollumfänglich auf die Phrasierung der Melodiestimme zu richten. An manchen Stellen mutet die Textur allerdings wenig pianistisch an, so etwa in Takt 35 zum Liedtext „Ein Sternlein, ein neues, am Himmel erblinkt“, wo sich das Sänger-Cis eigentümlich am C der Klavierbegleitung reibt. Der Vergleich mit Liszts Lösung zeigt dies anschaulich.

Thalberg, Le meunier et le torrent (Schubert), T. 32–3538

Liszt, Der Müller und der Bach (Schubert), T. 33–38

Im Vorwort von L’art du chant formuliert Thalberg mehrere „goldene Regeln“ zur Ausführung der einzelnen Nummern. Ein besonderes Anliegen ist es ihm, überflüssige Spannungen in den Vorderarmen zu vermeiden und das Niederdrücken der Tasten als erweiterte Bewegung von Armen und Körper zu verstehen. Zudem distanziert er sich von der verbreiteten Manier des verzögerten Melodieeintritts. Unabdingbar für das Singen am Klavier ist ein differenzierter Gebrauch des sogenannten rechten Fortepedals, das die Töne verlängert und sie durch die ungedämpften Schwingungen anderer Saiten anreichert. Der Pedalgebrauch inklusive der Verwendung des dämpfenden una corda-Pedals ist daher deutlich gekennzeichnet. 38

Bayerische Staatsbibliothek München, Musikabteilung, Sign.: 4 Mus.pr. 22362, 2-2.

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II Die Liedtranskription als neue Gattung

Ein ähnliches Bild zeigt sich in den Trois Mélodies de Fr. Schubert op. 79 (Die Neugierige, Täuschung und Die Post) aus dem Jahre 1862. Kompositorisch interessanter gestaltet sich Thalbergs Fantaisie sur des Mélodies de Schubert aus dem Jahre 1847. Dieses wiederum zu Schulungszwecken verfasste Werk bildet die fünfte Nummer einer zehnteiligen Serie mit dem Titel Decameron/Dix morceaux servant d’Ecole préparatoire à L’Etude de ses grandes Morceaux op. 57. Darin werden Ausschnitte von Schubert-Liedern zu einem Potpourri verarbeitet und mit einer Einleitung und Übergängen versehen, was wiederum an Czernys SchubertFantasien erinnert.39 Die 32 Takte umfassende Introduktion zu Gretchen am Spinnrade führt die motorische Sechzehntelbewegung von Schuberts Begleitung stockend und im Quintabstand sequenzierend ein.

Thalberg, Fantaisie sur des Mélodies de Schubert, T. 1–10

Bezeichnenderweise transponiert der Bearbeiter das Lied nach es-Moll und lässt es somit einen Halbton höher erklingen. Die Tastenverteilung liegt dadurch ähnlich bequem wie in Schuberts Ges-Dur-Impromptu. Während die Melodie und die pulsierende Mittelstimme der rechten Hand vorbehalten sind, widmet sich die linke der Begleitung. Unmittelbar vor weiten Basssprüngen setzt die Bewegung jeweils eine Sechzehntel-Pause lang aus.

Thalberg, Fantaisie sur des Mélodies de Schubert, T. 33–3640 39 40

Vgl. diese Arbeit, S. 20 ff. Vgl. auch den Beginn von Liszts Gretchen-Transkription ebd., S. 78.

Thalberg und Liszt: Zwei Rivalen singen Schuberts Lieder am Klavier

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Nach nur einer Strophe leitet die Musik in den zweitletzten Vierzeiler „Mein Busen drängt sich nach ihm hin“ und somit in das Finale des Liedes über. Diesem drastischen Schnitt fällt nicht zuletzt Schuberts Pointe zur imaginären Kussstelle, in der das Spinnrad zum Stillstand kommt, zum Opfer. In einer chromatisch aufwärts geführten Überleitung, die mit dem Liedthema kokettiert, bereitet der Bearbeiter modulierend die neue Tonart B-Dur und den nächsten Charakter vor. Thalbergs Sei mir gegrüßt wirkt wie ein langsamer Satz zwischen zwei raschen Eckteilen. Auch hier bearbeitet er nicht alle Liedstrophen, sondern spart einzelne Teile aus. Den mollgetrübten Mittelteil („Zum Trotz der Ferne, die sich, feindlich trennend, hat zwischen mich und dich gestellt“) begleiten elegante Arpeggien aus Sechzehnteln, die von einer Hand in die andere wandern. Entgegen dem Liedverlauf hebt die b-Moll-Melodie nochmals an, diesmal als Oberstimme der linken Hand in Basslage. Dies ist der Beginn einer Serie von zweitaktigen Abspaltungen und Sequenzierungen, die sich zunächst über dem tonikalen Orgelpunkt B, danach über H accelerierend entfaltet. Der nahtlose Übergang zur Post ist klug gelöst: Noch innerhalb dieser virtuosen Steigerung führt Thalberg den punktierten Rhythmus des folgenden Liedes ein. Die Tonart Es-Dur wird zunächst über eine chromatische Verschiebung im Bassverlauf angepeilt, dann jedoch mittels des Terzschrittes G-Es überraschend mediantisch lanciert.

Thalberg, Fantaisie sur des Mélodies de Schubert, T. 157–166

In Die Post löst Thalberg die Reprise des A-Teils mit einer filigran-diminuierten Begleitung vom Original los und steuert einem wirkungsvollen ff-Schluss entgegen. Liszts der Vorlage wesentlich getreuer folgendes Arrangement enthält zwar kurz vor Schluss ebenfalls vier hinzugefügte Takte, die den gebrochenen Es-DurAkkord alternierend in beiden Händen von der hohen zur tiefen Lage führen (precipitato), doch gibt er dem Lied letztlich die Schubertsche Intimität – vermengt mit etwas Registerglanz – zurück.

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II Die Liedtranskription als neue Gattung

Thalberg, Fantaisie sur des Mélodies de Schubert, T. 232–236

Liszt, Die Post (Schubert), T. 88–98

Erst in neuerer Zeit wurde die Rivalität zwischen den beiden Klaviervirtuosen aufgearbeitet,41 doch hat die spärliche Quellenlage zur Folge, dass eine Auseinandersetzung unvermeidlich asymmetrisch ausfallen muss.42 Von Thalberg sind keine öffentlichen Stellungnahmen gegen die bitteren Lisztschen Sticheleien erhalten. Auf den Reisen der beiden Virtuosen durch Europa soll es immer wieder zu Begegnungen gekommen sein, wobei Thalberg der Möglichkeit eines direkten Vergleichs konsequent aus dem Weg gegangen ist. Trotz oder vielleicht gerade wegen der spannungsvollen Konkurrenz hat Liszt auch Thalbergsche Kompositionen in seine Programme aufgenommen.43 Mit der von der Prinzessin Belgiojoso in Auftrag gegebenen Gemeinschaftskomposition Hexaméron über Bellinis Marsch aus der Oper I puritani beispielsweise feierte er große Erfolge. Den Löwenanteil des Variationenwerks steuerte Liszt bei, von Thalberg stammt die erste Variation, weitere Beteiligte 41 42 43

Vgl. dazu Ian G. Hominick, Sigismund Thalberg (1812–1871), Forgotten piano virtuoso: His career and musical contributions, Dissertation der Ohio State University 1991. Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 179. Alan Walker verzeichnet ein Konzert in London vom 12. Juni 1841, in dem Liszt Thalbergs Norma-Fantasie für zwei Klaviere mit Julius Benedict vorgetragen haben soll. Walker, The Virtuoso Years, S. 243, Fußnote 23.

Zu Papier gebrachte Improvisationen

53

waren Czerny, Chopin, Herz und Pixis.44 Selbst Thalbergs Opernparaphrasen, die er als „médiocre“ taxierte, spornten Liszt zu Neukompositionen an: Auf dessen Hugenotten-Fantasie antwortete er unmittelbar mit einer eigenen Version. Das intensive Studium von Thalbergs Werken zeugt davon, dass Liszt vom gesanglichen Spiel seines Konkurrenten profitiert hat, was nicht zuletzt auch sein eigenes Vorgehen bei den Schubert-Transkriptionen beeinflusst haben dürfte. ZU PAPIER GEBRACHTE IMPROVISATIONEN Anfang Mai 1837 begab sich Liszt gemeinsam mit der Gräfin d’Agoult nach Nohant im Département Indre, wo das Paar bis Ende Juli im Hause der Schriftstellerin George Sand (1804–1876) logierte. Lina Ramann hält in ihrer Liszt-Biographie fest, dass es während dieses Sommer-Aufenthalts zur Niederschrift einiger Schubert-Transkriptionen kam: „Auch noch andere kleine Arbeiten [neben den Transkriptionen der Symphonien Beethovens] nahm er hier vor. Sein Enthusiasmus für die Lieder Franz Schubert’s trieb ihn, auch sie dem Klavier zu erobern. Das erste Heft der von ihm übertragenen Lieder dieses Meisters, unter ihnen der ‚Erlkönig‘, gehört ebenfalls seinem Sommeraufenthalt in der Berry an.“45

Auch George Sand berichtet in ihren Entretiens journaliers davon, dass Liszt sich in Nohant mit dem Arrangieren von Schubert-Liedern beschäftigt habe. Ihr Eintrag vom 12. Juni 1837 lautet: „Ce soir-là, pendant que Franz jouait les mélodies les plus fantastiques de Schubert, la princesse [Marie d’Agoult] se promenait dans l’ombre autour de la terrasse; elle était vêtue d’une robe pâle, un grand voile blanc enveloppait sa tête et presque toute sa taille élancée. […] Nous étions tous assis sur le perron, l’oreille attentive aux phrases tantôt charmantes, tantôt lugubres d’Erlkœnig, engourdis comme toute la nature dans une morne béatitude, nous ne pouvions détourner nos regards du cercle magnétique tracé devant nous par la muette sibylle au voile blanc. Elle se ralentit peu à peu lorsque l’artiste passa par une série de modulations étrangement tristes à la tendre mélodie Sey mir gegrüst [sic].“46

Sands poetische Tagebuchnotiz veranschaulicht aus erster Hand, dass die zu Papier gebrachten Schubert-Transkriptionen als Improvisationen am Klavier entstanden. Diese Komponierweise entspricht der Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts, als die Pianisten in improvisierten Anfängen, Zwischenspielen und Übergängen zwischen den einzelnen Nummern ihre Geschicklichkeit zeigen konnten.47

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Die Erstausgabe erschien 1839 bei Haslinger mit der Pl.-Nr. T. H. 7700. Später bearbeitete Liszt das Werk für Klavier und Orchester sowie für zwei Klaviere. Lina Ramann, Franz Liszt. Als Künstler und Mensch, Bd. 1: Die Jahre 1811–40, Leipzig 1880, S. 452. George Sand, „Entretiens journaliers“, in: Œuvres autobiographiques II, Paris, 1971, S. 976– 1018, S. 989 f. Vgl. dazu Kenneth Hamilton, After the golden age. Romantic Pianism and Modern Performance, New York 2008.

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II Die Liedtranskription als neue Gattung

Der früheste Hinweis auf eine Niederschrift findet sich in einem Brief vom 29. Juli 1837. Aus Lyon schrieb Liszt dem belgischen Violinisten Lambert Massart48 (1811–1892), der ihn in Geschäftsangelegenheiten vertrat, dass in Kürze eine Sendung mit seinen Kompositionen in Paris eintreffen werde. Darunter befänden sich „Sept mélodies de Schubert“ für den Pariser Verleger Richault: „Les sept mélodies de Schubert sont destinées à Richault qui me les a demandées. Il n’y a pas entre lui et moi de marché précisément; cependant, je ne voudrais pas lui en faire cadeau. Le moins que j’en puisse accepter, c’est 300 francs. Si vous pouvez m’en faire avoir 400, ce sera tant mieux.“49

Günther Protzies konnte ermitteln, dass es sich bei den Sept mélodies50 um folgende Transkriptionen handelt: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

La Sérénade (Ständchen) Sois toujours mes seuls amours (Sei mir gegrüßt) Le Roi des Aulnes (Erlkönig) La Poste (Die Post) L’Attente (Du bist die Ruh’) Barcarolle (Auf dem Wasser zu singen) La Mer calme (Meeresstille)

Liszt hatte klare Vorstellungen davon, wie die Veröffentlichung dieser Sept mélodies ausfallen sollte. In der Fortsetzung seines Schreibens an Massart wird deutlich, dass er die Serie als lose Sammlung von Einzelliedern betrachtete: „Je désirerais qu’elles fussent publiées en Albums cartonnés et aussi chacune séparément comme des romances. Si je ne me trompe, ce recueil assez soigneusement transcrit pourra avoir du succès et se vendre considérablement.“51

Ein zweiter Brief an Massart vom Oktober 1837 zeigt auf, dass Liszt mit dem Ausgang der Verhandlungen zufrieden war und Richault zusätzliche Bearbeitungen wünschte: „Je suis très content de votre négociation avec Richault; c’est beaucoup mieux que je ne m’attendais. D’ici à un mois, vous recevrez les quatre mélodies supplémentaires. Ce seront: La Religieuse, Marguerite, La Rose et une autre petite. Quant aux ‚Plaintes d’une jeune fille‘ (I) que Richault me demande, je les laisserai de côté et, pour ce qui est de la ‚Truite‘, vous pouvez lui dire que j’en mange de très fraîches, de très excellentes, mais que je n’en arrange point. C’est mon cuisinier qui se charge de cette besogne.“52

Liszt wird die zu diesem Zeitpunkt abgelehnten Lieder Des Mädchens Klage und Die Forelle später dann doch noch bearbeiten. Um auf ein Dutzend zu kommen, 48 49 50 51 52

Massart hatte beim Konzert vom 31. März 1837 im Salon der Prinzessin Christina di Belgiojoso sowie an Liszts Abschiedskonzert am 9. April 1837 mitgewirkt. Vgl. dazu Keeling, „Liszt’s Appearances in Parisian Concerts“, S. 16. Jacques Vier (Hg.), Franz Liszt. L’artiste – Le clerc. Documents inédits, Paris 1950, S. 30. Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 107. Mit Ständchen ist Schuberts RellstabVertonung „Leise flehen meine Lieder“ gemeint. Vier, L’artiste, S. 30. Ebd., S. 34 f.

Schubert-Lieder im Konzertsaal: Liszts Wiener Konzerte von 1838

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was der damals gebräuchlichen Editionspraxis entsprach, fehlten jedoch nicht nur vier, sondern fünf Bearbeitungen. Protzies erklärt diese Differenz damit, dass Liszt bis Oktober 1837 bereits eine achte Nummer (Frühlingsglaube) an Richault gesandt hatte. Den Platz der „autre petite“ nahm die Übertragung des Liedes Lob der Tränen ein. Da der Verleger die im Sommer 1837 vom Komponisten erhaltenen sieben Stücke offenbar bereits gestochen hatte, ordnete er Die junge Nonne, Gretchen am Spinnrade, Lob der Tränen und Die Rose unter den letzten vier Nummern ein. Bis zum Erscheinen der kompletten französischen Ausgabe sollte jedoch noch mehr als ein Jahr vergehen.53 Schubert-Lieder im Konzertsaal: Liszts Wiener Konzerte von 1838 SCHUBERT-LIEDER IM KONZERTSAAL: LISZTS WIENER KONZERTE VON 1838 Damit sich die Liedtranskription als „konzertante Gattung eigenen Rechts“54 etablieren konnte, bedurfte es erst eines äußeren Anlasses. Rückblickend erzählte Liszt seinem Schüler August Göllerich, was sich im Frühjahr 1838 zugetragen hatte: „Ich hatte vor, eine Reise durch Griechenland zu unternehmen. Am Wege dahin erkrankte die Gräfin d’Agoult sehr schwer und wir wurden dadurch in Venedig zurückgehalten. Im ‚Café Florian‘ am Markusplatze las ich in den Zeitungen von der furchtbaren Überschwemmung in Ungarn. Früher schon wollte Haslinger, der Wiener Verleger, der Sachen von mir verlegt hatte, die ich kaum öffentlich vortrug, dass ich meine Werke doch spielen solle, um zu zeigen, dass sie überhaupt spielbar seien. Und zwar sollte ich es in Wien tun. Es passte mir aber schlecht und ich wollte damals nicht. Nun, als ich die Berichte von meinen bedrängten Landsleuten las, schrieb ich sofort an Haslinger: ich komme! So kam das erste meiner Wiener Konzerte zustande. In diesem gingen während des Spieles drei Streicherflügel kaput. […] ‚Sonnambula‘und ‚Puritaner‘-Phantasie, dann ‚Pastoral-Symphonie‘, Schubert-Lieder und Hummels Septett waren dabei meine Hauptstücke.“55

In der Donaustadt schlug Liszt eine Welle der Sympathie entgegen. Hanslick notierte ironisch: „die Damen verloren ihr Herz – und die Kritiker den Kopf. Die Wiener Journalistik leistete das Ueberschwängliche.“56 Aus den ursprünglich geplanten zwei Konzerten (das erste als Benefiz-Veranstaltung, das zweite zur Deckung der Reisekosten) wurde eine Serie von acht Konzerten, die sich vom 18. April bis 25. Mai erstreckte. Zusätzlich wirkte der umjubelte Pianist nachweislich bei vier weiteren Veranstaltungen mit.57 Liszts Auftritte wurden vom Musikverleger Tobias Haslinger (1787–1842) organisiert. Dass einige der zur Aufführung gebrachten Werke wenig später im Notendruck greifbar waren, erstaunt daher kaum.

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Die Verlagsanzeige erschien erst am 15. November 1838. Vgl. dazu Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 106 und diese Arbeit, S. 66. Hinrichsen, „Rezeption als Selbstverständigung“, S. 123. Göllerich, Franz Liszt, S. 81. Liszt irrte sich rückblickend: Seine Bearbeitung von Beethovens 6. Sinfonie spielte er erst 1839 in Wien. Hanslick, Geschichte des Concertwesens in Wien, S. 335. Dezső Legány, Franz Liszt. Unbekannte Presse und Briefe aus Wien 1822–1886, Wien 1984, S. 27.

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II Die Liedtranskription als neue Gattung

Im ersten Konzert am 18. April 1838 im Musikvereinssaal58 erklang noch keine Schubert-Transkription. Nach den unmittelbar vorangegangenen Auftritten von Thalberg und Clara Wieck galt es zunächst, den Rang als erster Virtuose zu sichern. Dazu verhalfen Liszt nebst dem Konzertstück für Klavier und Orchester von Weber insbesondere seine Opernparaphrase Réminiscences des Puritains (Bellini) und seine eigenen Werke Grande Valse di bravura und die g-Moll Etüde aus den Grandes Etudes, die später zu Vision aus den Etudes d’exécution transcendante umgearbeitet wurde.59 Bereits im ersten Konzert wird Liszts Anspruch deutlich, das Publikum nicht allein durch eine noch nie dagewesene Spieltechnik zu beeindrucken. Alle vorgetragenen Eigenkompositionen basieren auf eingängigen Melodien, die den Flügel zum Singen bringen. Zwischen Puritaner-Fantasie und Bravour-Walzer begleitete er den Dilettanten Benedikt Franz Groß beim Beethoven-Lied Adelaide, das er später transkribieren sollte. Den Schritt von Beethoven zu Schubert vollzog Liszt im zweiten Konzert am 23. April, in dem er ganz auf Kammermusik und Lieder setzte. Die Mischprogramme der damaligen Zeit boten eine ideale Ausgangslage dafür, die Schubert-Transkriptionen als ruhige Intermezzi zu platzieren: Hummel Langer Lachner Schubert/Liszt Pacini Liszt

58 59

60

Septett Die Declamation (Gedicht) Waldvöglein (Lied) Lob der Tränen Ständchen60 Cavatine I tuoi frequenti palpiti Divertissement sur la cavatine „I tuoi frequenti palpiti“

Der 1831 bezogene Saal an den Tuchlauben umfasste 700 Plätze. Vgl. https://www.musik verein.at/dermusikverein/geschichte.php, Stand November 2018. Bei Liszts Vortrag sprangen die Saiten der Flügel, ein Umstand, dem bereits im Vorfeld mit der Präsenz von drei Instrumenten Rechnung getragen wurde. Den Presseberichten zufolge handelt es sich nicht etwa um Instrumente von Andreas Streicher, wie sich Liszt nachträglich zu erinnern glaubte, sondern um ein Exemplar von Erard aus Paris, das Thalberg mitgebracht hatte, und zwei Flügel aus der Werkstatt des Klavierbauers Konrad Graff. Vgl. Legány, Unbekannte Presse und Briefe, S. 26 f. Augenzeuge Heinrich Adami notierte dazu: „Übrigens wurde auch Lißt dadurch nicht im Mindesten in Verlegenheit gebracht, er brach das letzte Stück an passender Stelle ab, und begann es dann noch einmal auf einem neuen Instrumente.“ Ebd. Da Liszt zwei verschiedene Schubert-Lieder dieses Titels bearbeitet hat, besteht bisweilen Verwechslungsgefahr. Günther Protzies zufolge handelt es sich hier um „Leise flehen“, da diese Transkription weniger als drei Wochen später von Haslinger, allerdings noch ohne die spätere Ossia-Variante, herausgegeben wurde. Vgl. Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 106. Gemäß Lina Ramann trat Liszt hingegen mit dem Ständchen von Shakespeare erstmals an die Öffentlichkeit: „‚Lob der Thränen‘ und das Ständchen: ‚Horch, horch! Die Lerch’ im Ätherblau‘ – waren die Erstlinge, mit denen er durch die hervorgerufene Wirkung erprobte, wie sehr er die Seele germanischen Gemüthes in ihrem geheimsten Wesen verstanden und wie sehr sie in seinem eigenen Wesen lebte; denn das musikalische Lied ist das echte Kind deutscher Seele, deutschen Gemüths, deutschen Traumes, vielleicht das einzige, das auch in keiner seiner Fasern germanischen Boden streitig gemacht werden kann, das aber auch nur von Künstlern sich wiedergeben lässt, die es mit einem Gleichlaut eigenen Herzens in sich aufgenommen haben.“ Ramann, Franz Liszt, Bd. 1, S. 503.

Schubert-Lieder im Konzertsaal: Liszts Wiener Konzerte von 1838

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Nach dem Hummelschen Septett op. 74 für Flöte, Oboe, Horn, Viola, Violoncello, Kontrabass und Klavier, das Liszt auswendig gespielt haben soll und später für Klavier solo bearbeitete, sprach Marie Denker das Gedicht „Die Declamation“ von Johann Langer. Danach sang die „böhmische Nachtigall“ Jenny Lutzer (1816– 1877) das Lied Waldvöglein von Franz Lachner, sekundiert von Richard (Hornist) und Karl (Pianist) Lewy. Bei der Pacini-Cavatine wurde sie von Liszt persönlich begleitet, der danach in seine Niobe-Fantasie über dasselbe Thema überleitete. Unmittelbar zuvor erklangen erstmals in Wien zwei Lisztsche Schubert-Transkriptionen. Der Rezensent Adami hielt seine Eindrücke in der Allgemeinen Theaterzeitung vom 25. April 1838 fest: „Originell sind die Schubertschen Lieder für das Piano gesetzt. Es sind nicht so sehr brillante Concertstücke, wie man sie etwa heut zu Tage haben will, sondern vielmehr musikalische Impromptus, in welchen das zum Motive gewählte Lied die Folie bildet. Lißt scheint hiebei die Absicht zu haben, sein Talent zur Composition auch in einem anderen, als im Concertstyle darzuthun, und zugleich zu erweisen, daß er mit seinen Tönen auch die Herzen zu rühren wisse. Wer Musik liebt, dem müssen diese Lieder mit ihrer reizenden Ideenfolge so werth gewesen seyn, als Lißts kühnstes Bravourspiel.“61

Das bis auf den letzten Platz gefüllte Konzert, bei dem auch zahlreiche Vertreter des Hofes – darunter Erzherzogin Sophie – anwesend waren, war ein ungeheurer Erfolg. Liszt wurde zu einem „Mann der Mode“, sein Portrait war ab sofort bei Haslinger erhältlich. Noch am gleichen Abend richtete er sehnsuchtsvolle, mit Lyrik Schubertscher Lieder durchtränkte Zeilen an Marie: „Pardonne-moi de te parler encore de mes succès viennois: tu sais que je suis peu enclin à m’exager [sic] l’effet que je produis; mais ici c’est une fureur, une rage dont tu ne peux pas te faire idée. […] Je n’ai pas le sens commun ce soir. Ma tête me fait horriblement mal … Ach! könte [sic] ich ihn küssen und fassen ihn!62 Un instant je t’ai vue en Gondole ce soir lorsque je me suis [sic] au Piano! Ce dont je suis bien heureux, c’est de penser qu’avec le peu d’argent que je viens de gagner ici nous pourrons vivre tranquillement cet été … […] Tu es ma patrie, mon ciel, et mon unique repos.“63

In den folgenden Konzerten trat der Virtuose als Begleiter renommierter SchubertSänger wie Benedikt Randhartinger (1802–1893) und Ludwig Titze (1797–1850) auf.64 Dem Publikum wurde diese Auswahl geboten: Liebesbotschaft, Erlkönig, Das Fischermädchen, Der Kreuzzug, Die Forelle, Ständchen, Der Hirt auf dem Felsen, Der Wanderer, Auf dem Strom und Die Post. Daneben waren auch die Vokalquartette Widerspruch und Gondelfahrer zu hören, deren Begleitung allerdings von anderen Pianisten ausgeführt wurde. An Lisztschen Schubert-Transkriptionen kamen in dieser ersten Wiener Konzertserie Ständchen, Lob der Tränen, 61 62 63 64

Legány, Unbekannte Presse und Briefe, S. 29. Die entsprechende Zeile aus „Gretchen am Spinnrade“ lautet korrekt folgendermaßen: „Ach dürft ich fassen und halten ihn. Und küssen ihn …“ Brief von Franz Liszt an Marie d’Agoult vom 23. April 1838, zit. in: Gut/Bellas, Correspondance, S. 318 f. Vgl. dazu die Rezension in dieser Arbeit, S. 71.

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II Die Liedtranskription als neue Gattung

Erlkönig, Die Post und Sei mir gegrüßt zur Aufführung. Mit seinem Schubert-Vortrag traf Liszt beim Wiener Publikum genau den „richtigen Ton“ und löste eine veritable „Liszt-Schubert-Begeisterung“65 aus. Einige Rezensenten waren sogar der Meinung, dass Schubert erst durch Liszts Spiel verständlich werde.66 Liszt blieb weit länger als geplant in Wien. Mehrfach hatte ihn die erkrankte Gräfin gebeten, unverzüglich zu ihr zurückzukehren: „Je vous attends. Je ne puis encore quitter ma chambre. Au nom du ciel ne tardez plus.“67

Da der gefeierte Virtuose jedoch so sehr von der Wiener Gesellschaft in Anspruch genommen wurde, beauftragte er den jungen Venezianer Emilio Malazzoni, sich um Marie zu kümmern. Dies führte zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen dem Paar, wobei die Schubert-Lieder erneut eine wichtige Rolle spielten: „Je ne conçois pas ce qui a pu vous faire une si profonde peine dans ma lettre à Emilio. Elle était, je crois, bonne et sincère pour lui. Il est vrai que je n’aurais pas dû écrire et partir immédiatement – on m’en a empêché. L’autre soir j’avais entendu chanter à un ami de Schubert ses Lieder … je n’en ai écouté que 5 ou 6 – puis je suis rentré et j’ai fondu en larmes; 2 personnes qui avaient été surprises de mon départ si précipité vinrent me trouver, et ont depuis répondu dans toute la ville que vous me rendiez prodigieusement malheureux, etc. etc. Je ne sais pourquoi cette publicité de mes émotions les plus sacrées m’a tant fâché.“68

Bereits zu diesem Zeitpunkt begann sich abzuzeichnen, dass Liszt zwischen den Verpflichtungen als Familienvater und dem Konzertbetrieb hin- und hergerissen war: „Mais voyez-vous, je suis malheureux de n’être pas toujours et exclusivement occupé de vous, et de vous seule. Les nécessitées, les choses positives, les soucis inévitables de cette pauvre vie me font beaucoup souffrir. Pourquoi ne vous ai-je pas conduite dans quelque solitude inconnue au reste des hommes? pourquoi me suis-je trompé sur nos véritables besoins? …“69

Doch die Würfel waren gefallen. Der sensationelle Erfolg in Wien markierte einen Wendepunkt in Liszts Leben und stellte die Weichen für seine Karriere als reisender Virtuose.

65 66 67 68 69

Otto Brusatti, Schubert im Wiener Vormärz. Dokumente 1829–1848, Graz 1978, S. 91. Vgl. ebd. Brief von Marie d’Agoult an Franz Liszt vom 24. Mai 1838, zit. in: Gut/Bellas, Correspondance, S. 335. Brief von Franz Liszt an Marie d’Agoult vom 14. oder 15. Mai 1838 aus Wien, zit. ebd., S. 330. Brief von Franz Liszt an Marie d’Agoult vom 11. Januar 1838, zit. ebd., S. 303.

„Weder Variationen noch Potpourris“ – Problematik einer Typologie

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„WEDER VARIATIONEN NOCH POTPOURRIS“ – PROBLEMATIK EINER TYPOLOGIE August Stradal gab rückblickend Auskunft über die technischen Aspekte von Liszts „Gesang am Flügel“, dem etwas „Transzendentales, Ueberirdisches und Sphärenhaftes“ eigen war.70 Das Geheimnis seines „unerreichten pastosen Gesangstons“71 lag Stradals Einschätzung zufolge im subtilen Pedalgebrauch: „Liszt forderte natürlich grösste Plastik, Reinheit und Klarheit des Vortrages, wobei er verlangte, dass der Schüler auf den Tasten singe, d. h. so gesanglich wie möglich auf dem Klavier spiele. Um diesen schönen singenden Ton zu erzeugen, verlangte er eine bis in das kleinste Detail gehende künstlerische Behandlung des Pedales, wobei er die Verschiebung, da sie den gesanglichen Ton ‚verdünnt‘ und hindert, nur in äussersten Fällen nehmen liess und lieber ohne Verschiebung ein grösseres pianissimo machte.“72

In der Vereinigung von französischem Melos und Kantilenen deutscher Prägung schuf Liszt eine neue Ausdrucksweise, für die es keinen direkten Vorläufer gab und für die er, im Gegensatz zu seinen auf Ablehnung stoßenden „französisch-romantischen“ Kompositionen, viel Lob erntete. Das hohe Maß an Kantabilität, das er in den Schubert-Transkriptionen erzeugte, war eine Novität: „Diese naiv-melancholischen Melodien, für die Menschenstimme erdacht, sangen und klangen unter Liszt’s Fingern, schwebten in den Lüften, wie selige Geister, und senkten sich zu süßem Trost in die Herzen der lauschenden Menge.“73

In den zeitgenössischen Rezensionen zeigt sich eine gewisse Unbeholfenheit bei der Bezeichnung des neuen Genres. Im romantisch-verklärten Bericht anlässlich Liszts zweitem Wiener Konzert heißt es: „[…] Lieder von Schubert (das Ständchen, die Thränen), für Pianoforte gesetzt, und vorgetragen vom Concertgeber. Dieß waren weder Variationen noch Potpourris, es waren die einfachen, herrlichen Lieder des herrlichen Dahingeschiedenen, aus deren Motiven der größte Tonkünstler dem geliebten, großen Liederdichter sinnige, einfache, und doch so kunstvolle Blumen auf das thränenbefeuchtete Grab streute.“74

Die Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode vom 7. Dezember 1839 weist dagegen ausdrücklich auf die Geburt einer neuen Gattung hin und bezeichnet die Stücke als „Übertragungen“: „[…] In den Übertragungen Schubert’scher Lieder hat er eine neue Gattung geschaffen. Es ist dieß der gelungene Versuch, die melodische und harmonische Schönheit des neuen classischen Liedes, als lyrisch Ganzes auf dem Clavier allein wiederzugeben, und dieses in der Macht des Gesanges und der Declamation zu vervollkommnen, ohne etwas von seinem Tastenreichthum dabey vergeben zu lassen. Die kunstreiche, characteristische und geschmackvolle Behandlung des Componisten, haben diese Piecen fast aller Orten zu Lieblingsvorträgen erhoben. Die un70 71 72 73 74

Stradal, Erinnerungen, S. 124. Ebd. Ebd., S. 159. Rezension vom 21. Juni 1838 im Allgemeinen musikalischen Anzeiger, zit. in: Brusatti, Schubert im Wiener Vormärz, S. 96. Kritik zum Konzert vom 23. April 1838, ebd., S. 90.

60

II Die Liedtranskription als neue Gattung sterblichen Gesänge Schubert’s werden nun nicht mehr das Eigenthum gebildeter Sänger seyn. – Carlo“75

Da der Begriff „Übertragung“ eher auf eine notengetreue Bearbeitung als auf eine Neuschöpfung mit höherem künstlerischem Anspruch hinweist, sprach die Musikschriftstellerin, Pädagogin und Klavierlehrerin Lina Ramann (1833–1912) in ihrer zwar umstrittenen, aber von Liszt autorisierten Biographie Franz Liszt als Künstler und Mensch von „Übersetzung“: „Es war nicht ein Recept, eine Schablone, eine Methode, nach denen er arbeitete – nein, das Merkwürdige ist, dass er bei jeder Übertragung aus dem Geist und den Intentionen des Komponisten, sowie aus dem jedesmaligen Stoff und der Gattung, der sie angehörte, schuf. Er hatte das angeborene ‚Recht der Übersetzung für alle Länder.‘“76

Ramann erkannte, dass Liszt seine Transkriptionen stets individuell differenzierend gestaltete. Gerade in diesem selbständigen künstlerischen Anspruch liegt die Herausforderung für jeden Versuch einer distinkten Gattungssystematik. Angeblich hatte Liszt während der Lektüre des ersten Bandes von Ramanns Biographie in den Randglossen „mit besonderer Befriedigung“ festgestellt, dass er die Worte „transkribiert“ und „Transkription“ als Erster gebraucht hätte.77 Weiter heißt es bei Raabe: „Es lag nun einmal in der Gewohnheit der Fortschrittsmänner und überhaupt in der Sitte ihrer Zeit, für eine neue Sache auch möglichst einen neuen Namen zu erfinden. […] Es ist kaum zu bezweifeln, dass er mit dem Worte ‚Transkription‘ etwas bezeichnen wollte, das zwischen einer mehr oder minder strengen Bearbeitung und einer freien ‚Fantasie‘ steht. Und gerade deshalb hat er sich offenbar über das Finden eines neuen Namens gefreut.78

Folgenreicher als die neue Namensgebung war jedoch der Wechsel des sozialen Milieus: Der Transfer von der „Schubertiade“ und dem geselligen Musizieren im kleinen Kreise in den „von der Figur des Virtuosen beherrschten Konzertsaal“79 mit großer Zuhörerschaft war nicht nur für Liszts, sondern auch für Schuberts wachsenden Ruhm von kaum zu überschätzender Bedeutung. Zwar genossen Schuberts Lieder in Wien bereits einen gewissen Bekanntheitsgrad, doch gerade in anderen europäischen Musikstädten wirkte die konzertante Präsentation durch Liszt wie ein Katalysator für deren Popularisierung. Allerdings beschränkte sich seine Auswahl auf eine Handvoll Schubert-Lieder und somit nur auf einen Bruchteil der zu Papier gebrachten Arrangements. 75 76 77 78 79

Ebd., S. 107. „Carlo“ ist das Pseudonym von Karl Kunt. Lina Ramann, Franz Liszt, Bd. 1, S. 503. Peter Raabe, Liszts Schaffen, Tutzing 1968, S. 8 f. Ebd., S. 9. Hinrichsen, „Rezeption als Selbstverständigung“, S. 127. Es ließen sich auch kritische Stimmen vernehmen: „Ja als wollte er irgend ein stillgeborenes, bescheidenes Liedchen recht zu hohen Ehren und Würden bringen, gefällt er sich darin, es mit dem Purpurmantel seines Genies zu bekleiden, und läßt es dann stolz, Tausende entzücken. Welche Wirkung bringt er in dieser Beziehung mit dem einfach varirten [sic] Vortrage Schubert’scher Gesänge, ja Reimund’scher Volkslieder hervor.“ Rezension vom 5. Mai 1838 in der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur und Mode, zit. in: Brusatti, Schubert im Wiener Vormärz, S. 93.

„Von Fr. Liszt in seinen Concerten mit außerordentlichem Beifalle vorgetragen“

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Auch andere reisende Virtuosen konnten sich dem gefragten Genre nicht entziehen und spielten entweder wie Clara Schumann80 Liszts Übertragungen oder fertigten nach seinem Vorbild eigene Transkriptionen an (darunter Anton Rubinstein, Sigismund Thalberg81, César Franck, Stephen Heller82 und Robert Franz). Liszts Schüler Carl Tausig und August Stradal führten diese Tradition weiter. Manchmal wurden selbst die Lisztschen Transkriptionen zum Gegenstand erneuter Bearbeitung durch andere Komponisten.83 „VON FR. LISZT IN SEINEN CONCERTEN MIT AUSSERORDENTLICHEM BEIFALLE VORGETRAGEN“ – HASLINGER, DIABELLI & CO. EDIEREN IM EILTEMPO Da als unmittelbare Reaktion auf Liszts Konzerte ein gesteigertes Interesse am Klavierspiel festzustellen war, stieg auch die Nachfrage nach Musikdrucken und insbesondere nach den neuen Stücken.84 Die ersten beiden Schubert-Transkriptionen, die Liszt in Wien öffentlich spielte, waren Ständchen85 und Lob der Tränen (23. April 1838). Bei dieser Wahl scheint der Verleger Haslinger seine Hand im Spiel gehabt zu haben, denn nur zwei Tage nach dem Konzert erschien in der WZ die Annonce, dass die Noten von Lob der Tränen in seiner Musikalienhandlung zu erwerben seien.86 Liszts Bearbeitung dieses Liedes ist eine seiner notengetreusten Schubert-Übertragungen. Doch selbst hier finden sich Hinweise auf eine wirkungs80

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„Vor einigen Tagen fand hier ein glänzendes Concert der Dlle. Clara Wieck statt. […] Von ungeheurer Wirkung war ihr Vortrag von F. Schubert’s Composition des ‚Erlkönigs‘ nach Lisztschem Arrangement für das Piano; man war von der Geistergewalt des Gedichts ergriffen.“ Diese Kritik erschien am 6. Oktober 1840 in der Zeitschrift Der Wanderer, zit. ebd., S. 121 f. „So spielte er noch als Zugabe […] Schubert’s wunderliebliches ‚Ave Maria‘, transponiert von ihm für’s Fortepiano.“ Kritik von Athanasius [Karl Gross] in der Allgemeinen Wiener Musikzeitung vom 1. Mai 1841, zit. ebd., S. 132. Vgl. dazu das Kapitel über Stephen Hellers Schubert-Bearbeitungen in dieser Arbeit, S. 168 ff. Zum Beispiel Leopold Jansas 1843 arrangierte Winterreise und Schwanengesang für Violine (alternativ auch für Violoncello oder Flöte) und Pianoforte. Siehe ebd., S. 164 f. Leopold Jansa (1795–1875) zählte zu den bedeutendsten Violinvirtuosen seiner Zeit. Er war Mitglied der k. k. Hofkapelle und seit 1834 Musikdirektor und Violin-Professor an der Universität Wien. Vgl. Ernst Hilmar / Margret Jestremski (Hg.), Schubert-Lexikon, Graz 1997, S. 217 f. Brusatti, Schubert im Wiener Vormärz, S. 91. Die Kompositionen älterer Meister, die Liszt vortrug, wurden von den Verlegern oftmals innert kürzester Zeit nachgedruckt. Ein Beispiel für eine Inverlagnahme einer ganzen Lisztschen Programmserie ist die „Anthologie classique“ des Berliner Verlegers Schlesinger, die reißenden Absatz gefunden haben muss. Vgl. dazu Christiane Wiesenfeldt, „Eine Laune des ‚anbetungswürdigen Fingerhelden‘? Liszts Variationen über Sarabande und Chaconne aus Händels Almira“, in: Hans Joachim Marx / Wolfgang Sandberger (Hg.), Göttinger Händel-Beiträge XIII, Göttingen 2012, S. 63–78. Vgl. dazu diese Arbeit, S. 56, Fußnote 60. WZ vom 25. April 1838: „Lob der Thränen. Lied von Fr. Schubert. Uebertragen für das Pianoforte (ohne Worte) von Franz Liszt. […] Unterzeichneter gibt sich die Ehre, einem hohen Adel und geehrten Publicum vorläufig anzuzeigen, daß von dem berühmten Piano-Virtuosen Franz Liszt in kurzer Zeit mehrere interessante Musikwerke (darunter dessen große Etuden) mit Eigenthumsrecht in seinem Verlag erscheinen werden. Tobias Haslinger, k. k. Hof- und priv.

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II Die Liedtranskription als neue Gattung

mächtige Aufführung im Konzertsaal. Die letzte Strophe ist mit einer walzerartig nachschlagenden Begleitung ausgestattet, die in ein großes Crescendo bis zum ff con anima des vermeintlich schwungvollen Abschlusses führt. Unvermutet kommt die Musik in einer Fermate zum Stillstand, in der Liszt Schuberts Nonenvorhalt H-A durch einen zusätzlichen Halbtonschritt auskostet. Erst nach dieser Kunstpause löst der Bearbeiter die Spannung „in das Meer der Liebe“ auf.

Liszt, Lob der Tränen (Schubert), T. 58–64

Aufgrund der großen Nachfrage nach den gedruckten Noten wurde Liszt von den Verlegern Diabelli und Haslinger bis zum Überdruss genötigt, die gewünschten Bearbeitungen niederzuschreiben: „J’ai parcouru les Lieder que vous avez eu la bonté de m’adresser – je m’occuperai certainement de l’Adelaïde [Beethoven]; quelque difficile qu’elle me paraisse à transcrire simplement et élégamment. Pour les autres, je crains ne pas trouver le temps nécessaire. Le bon Haslinger d’ailleurs m’accable de Schubert. Je viens de lui envoyer encore 24 nouveaux Lieder [Schwanengesang und Winterreise] et pour le moment je me sens un peu fatigué de cette besogne.“87

Trotz ihrer hohen technischen und musikalischen Anforderungen erwies sich die Inverlagnahme der Lisztschen Schubert-Transkriptionen als lohnend. Die Verlage produzierten eine Fülle von Ausgaben, allen voran Einzelnummern aus der Sammlung 12 Lieder. Ernst Hilmar zufolge war die Nachfrage so groß, dass man „20–30 Jahre nach Entstehen der Transkriptionen und deren Drucklegung noch laufend Nachdrucke produzierte.“88 Hilmar machte allein in der Wiener Stadtbibliothek

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Kunst- und Musikalienhändler.“ Das Ständchen, Die Rose und Die Post waren ab dem 12. Mai 1838 greifbar. Vgl. dazu auch den Anhang dieser Arbeit, S. 312. Brief von Franz Liszt an Breitkopf & Härtel vom Juni 1839 aus Mailand, zit. in: La Mara, Liszt’s Briefe, Bd. 1, S. 29. Ernst Hilmar, „Kritische Betrachtungen zu Liszts Transkriptionen von Liedern von Franz Schubert: Allgemeines und Spezielles zur Niederschrift des ‚Schwanengesangs‘“, in: Wolfgang Suppan (Hg.), Liszt-Studien 1, Kongress-Bericht Eisenstadt 1975, Graz 1977, S. 115–123, S. 115 f.

„Von Fr. Liszt in seinen Concerten mit außerordentlichem Beifalle vorgetragen“

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neun verschiedene Auflagen von Du bist die Ruh’, zehn unterschiedliche Drucke von Ave Maria und vierzehn Erlkönig-Versionen aus, die von der Anzahl der Lob der Tränen-Editionen noch überboten werden.89 Die Nachfrage nach bestimmten Transkriptionen war somit größer als jene nach der Originalfassung der Lieder.90 In Paris (Richault), Mailand (Ricordi) und Deutschland wurden die Bearbeitungen oftmals parallel ediert. Je nach Edition sind die Kompositionen mit dem originalen oder einem französischen Titel versehen, wobei letzterer wohl von den Verlegern stammt und oft völlig vom ursprünglichen Sinn abweicht.91 So lautet beispielsweise die vielsagende Überschrift des Liedes Wohin? aus der Schönen Müllerin in der Übersetzung Au bord de la fontaine, wobei die von Wilhelm Müller intendierte politische Doppelbödigkeit verloren geht. Hinsichtlich des Liedtextes ging Liszt keine Kompromisse ein und verlangte, dass die Worte akribisch in seine Transkriptionen eingefügt würden, damit der Interpret die entsprechende Passage aus dem Gedicht immer vor Augen habe: „Schon im Jahre 39 veranlasste ich Haslinger zu einer derartigen Edition der Schubert’schen Lieder [einzeln, im Klein-Oktav-Format] – was damals eine fast bedenkliche Neuerung schien. Gleichfalls die Text-Beifügung unter den Noten. Ich wünsche sie, zu Gunsten des poetischen Vortrags, bei sämmtlichen Liedern, Adelaide ausgenommen, weil das Gedicht gar zu rococo herumschweift.“92

Liszts Wünschen ungeachtet erschienen die Erstdrucke der Winterreise und des Schwanengesangs mit vorangestelltem Text.93 Ernst Hilmar zufolge bemühte sich Liszt auch um Textvermittlung beim Publikum, in der Hoffnung, diesem damit das Verständnis zu erleichtern.94 Trotz dieser Anstrengungen scheinen die unbekannteren Schubert-Lieder bei Publikum und Presse weit weniger gut angekommen zu sein, wie diese Konzertkritik von 1840 zeigt: „Die Uibertragung [sic] der Schubertschen Lieder ist als eine der glücklichsten Ideen des Virtuosen anerkannt, nur hören wir hier jetzt so selten Schubertsche Sachen, daß ein sehr großer Theil des Publikums das für das Clavier übertragene Lied gewöhnlich zum ersten Male hört, und daher auch ganz natürlicher Weise, weil ihm der Text, und somit auch die Absicht des Tonsetzers fremd ist, nicht den innigen Antheil an dem Vortrage nehmen kann, wie Andere, welche ein solches Lied genau kennen, und sich bei jeder Note mit lebhafter Begeisterung an das Original erinnern.95

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Die Auflagen unterscheiden sich meist nur durch geringfügige Änderungen wie etwa die Farbe oder Gestaltung des Titelblattes, ebd. Ebd., S. 116. „Es ist bekannt, dass Liszt Titelbezeichnungen mitunter dem Verleger überlassen hat.“ Ebd., S. 121. Brief Liszts vom 24. November 1874 an Breitkopf & Härtel, zit. in: La Mara, Liszt’s Briefe, Bd. 2, S. 212. Vgl. dazu auch NLA, Serie II, Bd. 21, S. XIII. Hilmar, „Kritische Betrachtungen zu Liszts Transkriptionen von Liedern von Franz Schubert“, S. 117. Rezension von Heinrich Adami vom 4. Februar 1840, zit. in: Brusatti, Schubert im Wiener Vormärz, S. 115.

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II Die Liedtranskription als neue Gattung

Bei den „unbekannten“ Nummern handelte es sich immerhin um Gute Nacht, Der stürmische Morgen und Im Dorfe aus der Winterreise.96 ERSTE MISSTÖNE Waren die Schubert-Transkriptionen zunächst der umjubelte Höhepunkt der Lisztschen Konzerte, so wurden ab 1841 vermehrt kritische Stimmen laut. Ein Rezensent der Wiener Theaterzeitung bemängelte etwa Liszts freies Rubato-Spiel: „[Es kamen] Schubert’s ‚Ständchen‘ und ‚Ave Maria‘. Hier erlaube uns der Meister eine Bemerkung, wir wünschten, daß er bei diesen zarten Melodien die Stärke seiner Rührung etwas bezwänge, und nicht mit mathematischer Berechnung, aber doch so dieselben vortrage, daß das Ohr den wiederkehrenden Rhythmus zu fassen vermöge.“97

Am Ende seiner Virtuosenlaufbahn, im Jahre 1846, gab Liszt in Wien nochmals mehrere Konzerte, bei denen er mitunter die Wandererfantasie präsentierte. Nun äußerten die Journalisten Bedenken gegenüber den einst umjubelten Bearbeitungen: „Liszt war groß im Vortrage jedes einzelnen Stückes … während wir nicht unbemerkt lassen können, daß die Verlängerungen und Beigaben, welche wir an den beiden Schubertschen Werken bemerkten [Ave Maria und Erlkönig], uns unangenehm berührten, um so mehr, da einer so echt künstlerischen Natur, wie Franz Liszt, jedes geistige Eigenthum helig [sic] und unantastbar erscheinen muß. Die unsterblichen Lieder Schubert’s können durch Zugabe nie gewinnen – und wären sie noch so genial.“98

Die Aufnahme von Schuberts Musik in seine Konzertprogramme war für Liszt ein Kontrapunkt zur Virtuosenliteratur. Sein berühmter Ausspruch „Je suis le serviteur du public, cela va sans dire“ zeigt, dass der Pianist im „Virtuosenklischee“ gefangen war.99 Durch den Einbezug von Kompositionen älterer Meister in ihr Repertoire konnten die Pianisten den verbreiteten Vorurteilen entgegenwirken. Mit ihrem Anspruch auf Seriosität und der Orientierung an Vergangenem trugen diese Programmpunkte dazu bei, die Präsentation des auftretenden Musikers zu „legitimieren“. Über den Zwiespalt des Virtuosen zwischen künstlerischem Anspruch und der Erwartungshaltung des Publikums dachte ein Rezensent im Rahmen von Liszts Wiener Konzert vom 8. März 1846 nach: „Er hatte es diesmal auf den Enthusiasmus aller Parteien abgesehen: der classischen und der romantischen. Jene entzückte er durch die geistreiche Auffassung der alten Meister, diese durch eine Reihe der brillantesten Bravourstücke. Mit welcher Innigkeit der Empfindung spielte er 96 97 98 99

Vgl. dazu diese Arbeit, S. 319. Wiener Theaterzeitung vom 16. April 1841, zit. in: Brusatti, Schubert im Wiener Vormärz, S. 132. Ebd., S. 183. Diesen Satz hielt Richard Wagner in seinem Bericht über das Konzert vom 25. April 1841 in der Dresdener Abendzeitung vom 14. Juni 1841 fest. Liszt und Berlioz traten an diesem Abend gemeinsam auf, um Geld für das Beethoven-Monument in Bonn zu sammeln. Trotz des „reinen“ Beethoven-Programmes forderte das Publikum Liszt auf, seine neuen und bereits höchst populären Réminiscences de Robert le diable zu spielen.

Erste Misstöne

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die Beethovensche Sonate, wie klar und correct die Bachsche Fuge, sich so mit ganzer Seele in den Geist dieser Tonstücke vertiefend. Das eben ist das Bewunderungswürdige in seinem Spiele, dass es im gleichen Grade die künstlerischen Tendenzen der älteren Schule, wie des modernen Virtuosenthums zu vertreten weis [sic].“100

Diese große Bandbreite an verschiedenen Stilen wurde jedoch auch heftig kritisiert. Ein Rezensent der AmZ bemängelte den Programm-Mix – mit einem Seitenhieb auf Liszt – als Modeerscheinung: „Große Pianisten wählen jetzt zu ihren Concertvorträgen Etüden, die eigentlich nie der Oeffentlichkeit geboten werden sollten; Lieder, ursprünglich für eine Singstimme gesetzt, um auf dem gesanglosen Instrumente Gesang zu fingiren; nichtssagende Veränderungen über nichtsversprechende Themen; einen Teufelsgalopp, Hexentanz, und schliesslich eine Bach’sche, Händel’sche Komposition, um ihre Vielseitigkeit zu beweisen. Der entzückte Verehrer eines solchen ‚anbetungswürdigen‘ Fingerhelden beeilt sich, die Uebungsstücke, wie die Valse infernale, den textlosen Erlkönig, wie die Veränderungen, aber nicht Verbesserungen einer Kantilene auf sein ungeöffnetes Piano auszubreiten. […] Was sollen da wohl diese und jene Fehler dem Ganzen schaden? Steht doch auf dem Titelblatte der Name eines Scarlatti, Händel, Bach, und auf der innern Seite: exécutée aux Concerts par Fr. Liszt.“101

Wenn Liszt ältere Musik in seine Programme integrierte, folgte er jedoch keineswegs einer bloßen „Laune“. Nur ein ausgewähltes Publikum kam beispielsweise in den Genuss seiner Vorträge Bachscher Musik: „Da, wo eine wohlsituierte BachPflege vorzufinden war und zudem eine Serie von Konzerten durchgeführt wurde, nimmt Liszt Bachs Werke in eigene Programme auf.“102 Dasselbe gilt auch für seine Schubert-Transkriptionen, mit denen er nicht nur dem Publikumsgeschmack huldigte. Wie Michael Heinemann überzeugend darlegen konnte, griff Liszt stets nur jene Momente in Werken Dritter auf, die er auf seine eigene Biografie beziehen konnte.103 Liszts Schubert-Interpretation kann somit durchaus als eine Art Selbsterforschung gewertet werden, wobei seine Auswahl an Schubertschen Werken seinen individuellen Zugang zum Wiener Komponisten offenlegt.

100 Rezension von Heinrich Adami, zit. in: Legány, Franz Liszt – Unbekannte Presse und Briefe, S. 89 f. 101 AmZ Bd. 44 (Juni 1842), Sp. 461 f. 102 Michael Heinemann, Die Bach-Rezeption von Franz Liszt, Köln 1995, S. 48. 103 Vgl. Michael Heinemann, „Am Ende: Der stürmische Morgen. Zu Liszts Transkriptionen der Winterreise“, in: Schubert : Perspektiven 2 (2001), S. 190–196.

III HÖHEPUNKTE DER FRÜHEN SCHUBERT-REZEPTION: 12 LIEDER VON FRANZ SCHUBERT Im September 1838 lag Liszts Sammlung mit dem Titel 12 Lieder von Franz Schubert komplett im Diabelli-Verlag vor.1 Da die Rechtsverhältnisse in Mailand mit denjenigen in Wien verknüpft waren, erschien die Ricordi-Ausgabe wohl ebenfalls in dieser Zeit.2 Zwei Monate später ließ Richault seine 12 Mélodies folgen, die bereits seit längerer Zeit in Planung waren.3 Zwischen der Wiener und der Pariser Ausgabe gibt es erhebliche Abweichungen sowohl in der Liedwahl als auch in der Anordnung: Diabelli 12 Lieder Richault 12 Mélodies 1. Sei mir gegrüßt 1. La Sérénade („Leise flehen“) 2. Auf dem Wasser zu singen 2. Sois toujours mes seuls amours (Sei mir gegrüßt) 3. Du bist die Ruh’ 3. Le Roi des Aulnes (Erlkönig) 4. Erlkönig 4. La Poste (Die Post) 5. Meeresstille 5. L’Attente (Du bist die Ruh’) 6. Die junge Nonne 6. Barcarolle (Auf dem Wasser zu singen) 7. Frühlingsglaube 7. La Mer calme (Meeresstille) 8. Gretchen am Spinnrade 8. Le Printemps (Frühlingsglaube) 9. Ständchen von Shakespeare 9. La jeune Religieuse (Die junge Nonne) 10. Rastlose Liebe 10. Marguerite (Gretchen am Spinnrade) 11. Der Wanderer 11. Eloge des larmes (Lob der Tränen) 12. Ave Maria 12. La Rose (Die Rose) Im Vergleich mit den 12 Mélodies fehlen bei Diabelli die Stücke Lob der Tränen, Ständchen („Leise flehen“), Die Rose und Die Post, die alle zuvor schon von Haslinger veröffentlicht wurden. Anstelle dieser Transkriptionen enthält die Wiener Ausgabe Bearbeitungen der Lieder Ständchen, Rastlose Liebe, Der Wanderer und Ave Maria.4 Diabellis Zusammenstellung, die Eingang in die NLA fand, weist eine klar erkennbare Gruppierungstendenz mit wechselnden Tempi auf: Auf spannungs1

2 3 4

Vgl. dazu Alexander Weinmann, Verlagsverzeichnis Anton Diabelli & Co. (1824–1840), Wien 1985, S. 412. Anton Diabelli selbst hatte in den Jahren 1837/38 unter dem Titel Wiener Lieblingsstücke der neuesten Zeit eigene Liedbearbeitungen, darunter Schuberts Der Wanderer, Ave Maria, Ungeduld, Lob der Thränen, Die Forelle und Wohin?, sowie das Vokalquartett Der Gondelfahrer veröffentlicht. Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 107. Vgl. dazu diese Arbeit, S. 54 f. Bei Ricordi erschienen die Liedbearbeitungen in zwei Heften mit jeweils sieben Stücken. Der Inhalt des ersten Hefts stimmt mit den Nummern 1–7 der Richault-Ausgabe überein. Das zweite Heft enthält die folgenden Lieder: 8. La Sérénade de Shakespeare (Ständchen von Shakespeare), 9. Le Pellerin (Der Wanderer), 10. Rastlose Liebe, 11. Die Rose, 12. Espoir dans le printemps (Frühlingsglaube), 13. La Religieuse (Die junge Nonne), 14. Marguerite (Gretchen am Spinnrade). Vgl. Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 107.

III Höhepunkte der frühen Schubert-Rezeption: 12 Lieder von Franz Schubert

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geladene Lieder folgen intime, deutlich auf Liszts biografische Situation Bezug nehmende Nummern, die der Sammlung auch den Rahmen verleihen. Sei mir gegrüßt als Lisztsches Liebesständchen Liszts 12 Lieder eröffnen mit einer Komposition, die den Trennungsschmerz und die Hoffnung auf dessen Überwindung durch die Macht der Liebe besingt. Friedrich Rückerts Zeilen orientieren sich an der Struktur der lyrischen Gedichtform Ghasel aus dem persischsprachigen Raum.5 Die zahlreichen Reime auf das Wort „Kusse“ im ersten Vers weben ein Gedicht von höchster sprachlicher Artifizialität. Schubert bricht die Textstruktur auf und lässt sie neu entstehen, was mit Hans Bredekamps Begriff der „produktiven Zerstörung“ zutreffend beschrieben werden kann.6 Der Refrain, der sich aus den jeweils letzten beiden Zeilen bildet, hält alle fünf Strophen (A-B-A’-B’-A’’) zusammen. Während „Sei mir gegrüßt“ von g-Moll nach D-Dur schreitet (mit dem Terzton Fis in der Melodie), rückt Schubert die Zeile „Sei mir geküsst“ mit einem F-Dur-Septimenakkord mediantisch zurück nach B-Dur (wobei Fis chromatisch zu F abgesenkt wird). Die Abspaltung dieser kunstvollen Kadenz dient zur Festigung der wiedererlangten Ausgangstonart. Bemerkenswerterweise wird dieser alles verbindende Refrain jedes Mal von einer anderen harmonischen Richtung her erreicht. Auch dass die nachschlagende Klavieroberstimme die Singstimme nachzeichnet, ist eine Schubertsche Neuerfindung, die Schule gemacht hat. In den ersten drei Strophen hält sich der Bearbeiter noch eng an das Original und lässt die Melodie in der sonoren Mittellage erklingen. Von der zart beginnenden, inhaltlich rückwärts gerichteten vierten Strophe an wandert die Melodie akkordisch verstärkt in die Oberstimme. Nach dem ausgiebigen Klaviergesang in Mittellage erzeugt dieser Registerwechsel eine besondere Wirkung (sotto voce con molto sentimento). Beim Kehrvers wechselt die Melodie ein letztes Mal ins „Brustregister“ und wird dabei von spielerischen auf- und absteigenden Akkordumkehrungen umrankt (T. 72 ff., con abbandono). Während Schubert die Schlussstrophe unmittelbar folgen lässt, fügt Liszt einen zusätzlichen Takt als Verschnaufpause ein. „Ein Hauch der Liebe“ ist in der Transkription un poco ritenuto il tempo, dolcissimo teneramente zu spielen, wobei Vorschlagnötchen und Arpeggien der synkopierten Begleitung besondere Betonung verleihen.

Liszt, Sei mir gegrüßt (Schubert), T. 77–80 5 6

Ghasel wird mit „Gewebe“, „Gespinst“ oder „Liebesworte“ übersetzt. Horst Bredekamp, Sankt Peter in Rom und das Prinzip der produktiven Zerstörung, Berlin 2000.

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III Höhepunkte der frühen Schubert-Rezeption: 12 Lieder von Franz Schubert

Den Höhepunkt erreicht das Lied beim Vers „Ich halte dich in dieses Arms Umschlusse“. Schuberts an dieser Stelle gewählte Tonart Ces-Dur (als „ver-rücktes“ B-Dur) scheint die Überwindung von „Räum’ und Zeiten“ zu hinterfragen.7 In Liszts Version gehen diese Takte mit großer Steigerung und Beschleunigung einher (animato, ff con passione, pesante molto), wobei die Melodie zugunsten einer Imitations-Figur verändert wird. Nicht der doppeldeutige Ces-Dur-Takt ist bei Liszt Kulminationspunkt, sondern der ekstatisch angesteuerte letzte Kehrvers (fff ritenuto molto avec exaltation), den Schubert schon längst wieder in ein leises pp abgesenkt hat.

Liszt, Sei mir gegrüßt, T. 85–95

Auf dem Wasser zu singen: Barcarole mit zusätzlicher Strophe Bereits das Vorspiel mit schaukelnder Sechzehntel-Begleitung und GondelliedCharakter ruft das Bild eines sanft dahingleitenden Kahns hervor. Die Vorzeichnung dieses Schubert-Liedes lässt auf die Tonart As-Dur schließen, doch dominiert zunächst die Mollvariante as-Moll. Erst durch die Abspaltung der letzten Verszeile („tanzet das Abendrot rund um den Kahn“) zeigt sich die Grundtonart. Die Modulation vollzieht sich auf das Wort „tanzet“, das Schubert über zwei Takte hinweg 7

Dürr/Kube/Schweikert/Steiner (Hg.), Schubert Liedlexikon, S. 589.

III Höhepunkte der frühen Schubert-Rezeption: 12 Lieder von Franz Schubert

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dehnt und zunächst mit der Dominante zur Moll-Tonika, dann mit der Dominante zur Dur-Tonika unterlegt. Allerdings bringt bereits das Zwischenspiel die Wende zurück nach as-Moll. Auch in dieser Transkription beginnt die Melodie in der Mittellage. Damit der tiefe Klaviergesang besser zur Geltung kommt, verzichtet Liszt zunächst auf Schuberts Begleitakkorde. In der zweiten Strophe, deren Lyrik offenkundige religiöse Züge trägt, notiert Liszt die Spielanweisung animez peu à peu jusqu’à la fin. Die Vermengung der Melodie in Originalhöhe mit der überhöhenden Begleitung gestaltet sich durch das Ineinandergreifen der Stimmen nicht unproblematisch, da beides von der rechten Hand ausgeführt werden muss. Nochmals um eine Oktave erhöht präsentiert sich die Melodiestimme der dritten Strophe. An dieser Stelle vertauscht Liszt die zuvor von der linken Hand gespielten Akkorde mit der Sechzehntelbewegung der rechten Hand. Unter Weglassung von Schuberts Zwischentakt 73 geht die Klavierfassung direkt in die Coda über. Dort verdoppelt Liszt die Sechzehntelbegleitung, während der Liegeton Es („selber“) spielerisch über die hohen Register verteilt wird.

Liszt, Auf dem Wasser zu singen (Schubert), T. 76–81

Nun wäre das Lied eigentlich zu Ende, doch dauert die Klavierversion überraschenderweise noch an. Nochmals trübt Liszt die Harmonie nach as-Moll und fügt eine dramatische zusätzliche Strophe mit oktaviertem Gesang und arpeggierter Begleitung hinzu (molto agitato). Nach dem klanglichen Höhepunkt im dreifachen Forte entschwindet die Musik im As-Dur-Akkord (smorzando). „Un instant je t’ai vue en Gondole ce soir“.8 Hatte Liszt, die Barcarole weiterdichtend, an Marie d’Agoult gedacht?

8

Vgl. dazu diese Arbeit, S. 57.

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„Et quelquefois les larmes me viennent aux yeux“ – Du bist die Ruh’ Der tiefere Sinn, der in der zusätzlichen Strophe von Auf dem Wasser zu singen aufscheint, wird in der Transkription des Liedes Du bist die Ruh’ dank eines Briefes greifbar, den Liszt zu Beginn seiner Wiener Konzerte an die Gräfin d’Agoult richtete: „Vous devinez bien que je n’ai pas une minute, pas une seconde à moi. Tout le monde veut me voir et m’avoir. Je suis exactement le même qu’à Paris l’hiver dernier. Je maigris, je m’ennuie et quelquefois les larmes me viennent aux yeux. Du bist die Ruhe, der Friede mild.9

Die Assoziation dieses Liedes mit Marie d’Agoult zeigt den Wunsch nach Ruhe und Ausgleich vor dem Hintergrund seiner zunehmenden Popularität. Die persönliche Note, die Liszt dem Lied beimaß, findet sich in den vom Original abweichenden Passagen der Liedbearbeitung wieder. Ausnahmsweise verzichtet Liszt auf Schuberts siebentaktiges Vorspiel und beginnt seine Transkription gleich mit dem Eintritt des Sängers. Da die Melodie wiederum zunächst in die Mittellage eingebettet ist, wandelt Liszt die Sechzehntelbegleitung G-B in die abwärts gerichtete Terz G-Es um. Schuberts Kadenz zu den Worten „voll Lust und Schmerz“ in Takt 11 f. erhält in der Klavierfassung eine besondere Betonung, da der Dominant-Tonika-Bassgang auf dem bislang unbenutzten oberen System notiert ist. Ähnlich verhält es sich mit der Abspaltung der Worte „mein Aug und Herz“. Der Tonfall direkter Aufforderung „kehr ein bei mir“ wird durch tiefe Bässe unterstützt, die im schwebenden Original nicht vorkommen. Zudem überkreuzt die linke Hand in aufsteigenden Akkordbrechungen die verstärkte Melodie der rechten Hand. Auch in der Gesangslinie ist eine leichte Abweichung festzustellen: Der Takt 31 („Treib andern Schmerz“) verbleibt nicht auf dem repetierten Ton C, sondern schwingt sich wie in den entsprechenden Folgetakten bei Schubert zur Wechselnote D auf. Nun fügt Liszt als Intermezzo eine zusätzliche Strophe ein und dichtet den Gesang weiter (ben pronunziato il canto). Obwohl diese Lisztsche Improvisation aus aufsteigenden Akkorden, die abwechselnd von beiden Händen gespielt werden, besteht, soll keine Steigerung eintreten (senza agitazione, sempre dolce e legato molto). Sprechende Portati imitieren den Gesang auf dem Klavier, der von wogenden Ak9

Brief von Franz Liszt an Marie d’Agoult vom 21. April 1838, zit. in: Gut/Bellas, Correspondance, S. 317. Für die Bearbeitung dieses Liedes liegt ein Hinweis auf die Existenz einer Frühfassung vor. Peter Raabe schrieb über die Malédiction (S 121) für Klavier mit Streichorchester: „Aus der Handschrift der sogenannten Malédiction ist eine Anzahl von Takten herausgeschnitten, die einen Übergang zu Schuberts Lied Du bist die Ruh enthielten, und dadurch ist auch ein Teil der Liedübertragung selbst verlorengegangen. Liszt hat später wohl mit Recht geglaubt, dass dieses plötzliche Zurücksinken in die Stimmung des Schubert’schen Liedes verfehlt sei.“ In einer Anmerkung Raabes heißt es noch: „Das Lied befand sich zwischen dem letzten Takt von S. 25 und dem ersten von S. 26 der GA. Es war zuerst für Cello und Klavier gesetzt; dann wurde ein Teil vom Klavier allein gespielt und schließlich vom Streichorchester mit arpeggierter Klavierbegleitung.“ Raabe, Liszts Schaffen, S. 55. In den ersten acht Takten der zweiten Strophe, die für Klavier allein gesetzt ist, lässt sich Günther Protzies zufolge in den aufsteigenden Arpeggienfiguren eine gewisse Ähnlichkeit mit der Setzweise in der später veröffentlichten Liedbearbeitung erkennen. Er datiert die Skizzen auf den Sommer 1834. Vgl. dazu Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 109 f.

III Höhepunkte der frühen Schubert-Rezeption: 12 Lieder von Franz Schubert

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korden unterstützt wird. Schuberts überraschende Wendung nach Ces-Dur, das zur Grundtonart Es-Dur im Großterz-Verhältnis steht, unterlegt Liszt mit einem mächtigen Crescendo bis hin zum fff. Nach einer wirkungsvollen Generalpause setzt die Melodie leise wieder ein. Im Abgesang scheint Liszt durch sein Spiel mit den verschiedenen Klavierregistern einen Kommunikationsvorgang zu initiieren (dolce semplice) und vielleicht sogar einen Dialog mit der geliebten Gräfin zu führen.

Liszt, Du bist die Ruh’ (Schubert), T. 85–95

Erlkönig „mit dem Zaubermantel der Romantik“ Schuberts Erlkönig scheint eines der Lieblingslieder von Marie d’Agoult gewesen zu sein, das sie selbst in eigener Übersetzung gesungen haben soll.10 Im Jahre 1834 wurde Adolph Nourrit in einem Pariser Salon Zeuge von Liszts Erlkönig-Improvisation.11 Es folgten gemeinsame Konzerte mit Schubert-Liedern, in denen auch diese Ballade eine wichtige Rolle spielte.12 Am 29. April 1838 präsentierten Liszt und Titze dem Wiener Publikum das Original, drei Tage später erklang Liszts Klaviertranskription (als Zugabe) erstmals in der Donaustadt. Bereits die Begleitung des Liedes durch den Virtuosen löste Bewunderung aus: „Welche Poesie hat nicht Liszt in den Schubert’schen ‚Erlkönig‘ zu bringen gewußt! Hat man das Lied je so vortragen gehört? In diesem Tempo, mit diesem Colorite, mit diesem Zaubermantel der Romantik?“13

Einen Eindruck von der Wirkung der Transkription auf die Konzertbesucher gibt Heinrich Adami wieder: 10 11 12 13

Ebd., S. 118 f. Vgl. dazu diese Arbeit, S. 43. Ebd., S. 30. Rezension im Telegraph vom 5. Mai 1838, zit. in: Brusatti, Schubert im Wiener Vormärz, S. 93.

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III Höhepunkte der frühen Schubert-Rezeption: 12 Lieder von Franz Schubert „Ich glaube nicht, dass der ‚Erlkönig‘ jemals, selbst noch so meisterlich gesungen, einen so tiefen und gewaltigen Eindruck auf seine Zuhörer gemacht hat, als hier, wo Hauptstimme und Begleitung als ein Ganzes unmittelbar aus einer begeisterten Künstlerseele hervorgingen. […] So vorgetragen, wie wir es jetzt von Liszt hören, bedürfen die Schubertschen Lieder wahrhaftig nicht der Textworte zu ihrer Erklärung, aber auch nur so vortreffliche, im Geiste musikalischer Wahrheit geschaffene Dichtungen machen eine solche Behandlung möglich …“14

Liszt dürfte Schuberts hämmernde Achteltriolen in Kombination mit den oktavierten Bässen seiner Bearbeitung in einem atemberaubenden Tempo ausgeführt haben. Die drei Akteure ahmt er durch verschiedene Register und charakteristische Begleitmuster nach. Nach den donnernden Oktaven der linken Hand erklingt die beruhigende Stimme des Vaters als tiefer Bass.

Liszt, Erlkönig (Schubert), T. 32–40

Das verängstigte Kind antwortet in hoher Stimmlage, die zunächst ebenfalls von der linken Hand ausgeführt wird.

Liszt, Erlkönig, T. 41–44

Die schmeichelnde Stimme des Erlkönigs zeichnet sich durch weit aufgefächerte Arpeggien im ppp misterioso in hohen Lagen aus, die vom Interpreten eine hohe Treffsicherheit verlangen: 14

Wiener Theaterzeitung vom 21. Mai 1838, zit. ebd., S. 94.

III Höhepunkte der frühen Schubert-Rezeption: 12 Lieder von Franz Schubert

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Liszt, Erlkönig, T. 54–62

Mit seiner Erlkönig-Bearbeitung schuf Liszt ein Meisterwerk, das nicht nur in seiner eigenen Repertoireliste ganz oben stand, sondern auch von vielen seiner Pianistenkollegen gespielt wurde. Die Nachfrage beim Publikum war so überwältigend, dass Liszt es zunehmend als unangenehm empfand, stets dieselbe Schubert-Transkription spielen zu müssen. In einem Brief an Marie von Kalergis aus dem Jahre 1868 beklagte er sich: „Was ist das doch für eine widerliche Notwendigkeit in dem Virtuosenberufe – dieses unausgesetzte Wiederkäuen derselben Sachen!“15 Meeresstille mit Untertönen Die Gegensätze zwischen den beiden Goethe-Vertonungen Erlkönig und Meeresstille könnten kaum größer sein: Schuberts atemlos peitschende Triolen weichen beklemmend langen Melodietönen und Akkorden. Goethe ergänzte seinen Achtzeiler Meeres Stille mit dem komplementären Gedicht Glückliche Fahrt. Beide Texte haben ihren Ursprung in einer gefahrvollen Überfahrt des Dichters von Messina nach Neapel.16 Schubert verzichtete auf die Vertonung des optimistischen zweiten Teils und beschränkte sich auf die Schilderung des reglosen Meeres, dessen spiegelglatte Fläche und ungeheure Weite als Metapher für Stillstand und Tod stehen. Zur schaurigen Eindringlichkeit tragen die regelmäßigen trochäischen Vierheber bei, deren Versfüße im Lied taktweise deklamiert werden. Unterlegt wird dieser beklemmende Sprechgesang mit leisen Arpeggien im Klavier, die eine innere Erregung vermitteln. Schubert fügt seiner Tempoangabe sehr langsam das Adjektiv

15 16

Zit. in: Bruno Voelcker, Franz Liszt. Der große Mensch. Ein Charakterbild aus Zeugnissen seiner Zeit, Weimar 1955, S. 194. Dürr/Kube/Schweikert/Steiner (Hg.), Schubert Liedlexikon, S. 152.

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III Höhepunkte der frühen Schubert-Rezeption: 12 Lieder von Franz Schubert

ängstlich bei. Während sich Liszt für seine Vortragsbezeichnungen oft solcher Zusätze bedient, ist dies beim Wiener Komponisten weit seltener der Fall. Zwar beginnt und endet das Lied in C-Dur, doch stellen die gehäuft auftretenden Versetzungszeichen die Grundtonart bald in Frage. Bereits im achten Takt kadenziert Schubert ins großterzverwandte E-Dur. Der nächste Achttakter wendet sich nach FDur, das durch den dominantisierenden verminderten Septimenakkord E-G-B-Des bekräftigt wird. In den Versen 5 und 6 kulminiert das Gedicht in die Ausrufe „Keine Luft von keiner Seite! Todesstille fürchterlich!“ Schuberts Komposition steuert hier dem Höhepunkt entgegen: Ab Takt 17 schreiten Ober- und Unterstimme des Klaviers chromatisch auseinander bis hin zum Quartsextakkord von fis-Moll, der die „Todesstille“ umschreibt. Durch ihren Tritonus-Abstand zur Grundtonart ist diese Harmonie besonders spannungsgeladen. Die Phrase endet in einer Fermate über dem H-Dur-Akkord. Erst in den letzten vier Takten gelingt die Rückkehr nach C-Dur: Die Medianten e-Moll und C-Dur folgen unmittelbar aufeinander, wobei sich der Liegeton G in der Melodie vom Terz- zum Quintton wandelt. Liszt reichert Schuberts Oktavbässe mit zusätzlichen Akkorden an, wodurch im Bassregister eine reiche Klangfülle entsteht. Zudem sind seine Arpeggien vorgezogen und münden in die jeweiligen Melodietöne. Im zweiten Achttakter wird der Gesang überkreuzend von der linken Hand ausgeführt und ab „glatte Fläche“ zu Oktaven verdoppelt. An zwei Schlüsselstellen bietet Liszt eine alternative Lesart für die linke Hand an. Dies betrifft zum einen die Takte 17–24, wo anstelle der ziemlich notengetreuen Übertragung umfangreiche Arpeggien das um eine Oktave nach unten erweiterte Bassregister zum Klingen bringen. Den fis-Moll-Höhepunkt („Todesstille fürchterlich!“) markieren wahlweise chromatische, mit Lisztschem Fingersatz versehene Bassläufe.

Liszt, Meeresstille (Schubert), T. 20–25

III Höhepunkte der frühen Schubert-Rezeption: 12 Lieder von Franz Schubert

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Diese Bearbeitung stellt den (unterschwelligen) Ruhepol der 12 Lieder dar. Als einzige Komposition steht sie in „neutralem“ C-Dur, nachdem bereits vier Transkriptionen mit b-Vorzeichnung vorangegangen und mit zwei Ausnahmen alle weiteren Nummern ebenfalls in diesen abgedunkelten Tonarten notiert sind. Die junge Nonne mit Erlösungsschluss Die Hinwendung zur Religion aus enttäuschter Liebe ist ein typisch romantischer Topos, dem der Dichter Jakob Nicolaus Craigher de Jachelutta (1797–1855) durch unregelmäßige Formung der Verse und Strophen ein Gefühl spontanen und leidenschaftlichen Ausdrucks verlieh. Ein frappierend ähnlicher Wortlaut findet sich auch in Marie d’Agoults Roman Nélida, in dem die Gräfin die gemeinsamen Lebensjahre mit Liszt verarbeitete. Die Protagonistin Nélida erhält ihre Ausbildung im Couvent des Annonciades unter besonderer Obhut der Äbtissin, die von der Autorin folgendermaßen charakterisiert wird: „[…] tout en elle portait la trace d‘une lutte violente de passions dominées plutôt qu‘apaisées. Lorsqu‘elle allait au chœur, grande et un peu ployée sous ses longs voiles noirs, sa croix d‘argent brillant sur sa poitrine, on éprouvait en la voyant un sentiment mélangé de respect, d‘étonnement, de curiosité et de crainte; on sentait là une force cachée qui attirait et repoussait tout à la fois; il semblait qu‘on eût la révélation d‘une grande destinée brisée.“17

Schuberts Vertonung, die eine Mischform zwischen Durchkomposition und variierter Strophenform darstellt, setzt Craigher de Jacheluttas bildhafte Sprache musikalisch um. Durchgehende Tremoli in der rechten Klavierhand zeichnen sowohl die aufgewühlte Natur wie auch die innere Unruhe der Protagonistin nach. Immer wieder erklingt in Schuberts Klavierpart ein Glöcklein, das von der überkreuzenden linken Hand gespielt wird. In Takt 69 ff., wo der Text direkten Bezug auf die Glockenklänge nimmt („Horch, friedlich ertönet das Glöcklein vom Thurm!“), fügte Liszt zweimal die Bezeichnung cloche in Klammern hinzu. Der Klaviervirtuose übertrug dieses Schubert-Lied ziemlich notengetreu. In den ersten drei Versen werden der linken Hand alternierend die oktavverstärkte Melodie und die Basseinwürfe zugeteilt. Dabei kommt es zu einer Vermengung und Überkreuzung mit dem Tremolo der rechten Hand. Dieser sprunghaften Bewegung in der linken Hand gebietet die Passage zu den Worten „und finster die Nacht“ Einhalt: Die nur auf den drei Tönen D, Des und C deklamierende Singstimme (canto sotto voce) spannt in ihrem chromatisch abwärtsschreitenden Gang einen weiten Bogen. Zusätzlich wird die spannungsvolle Atmosphäre durch die chromatische (Ver-)Rückung vom verminderten Septimenakkord über Gis zu demjenigen über G unterstrichen. Unmittelbar vor der zweiten Strophe verlangsamt der Bearbeiter das Tempo: Die Kadenzierung zurück zur Ausgangstonart f-Moll bei den Schlüsselworten „wie das Grab“ erfährt eine leichte Verzögerung (poco riten.). Auch die lichte Wende nach F-Dur beim Seufzer „immerhin“ ist mit un poco rall. überschrieben. Umso dramatischer wirken das Stringendo und Crescendo subito mit der überraschenden Molltrübung, auf welche die zweite Strophe folgt. Nun erklingt die Melodie in voll17

Daniel Stern (=Marie d’Agoult), Nélida, Paris 1866, S. 12.

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griffigen Akkorden in der Oberstimme und wird vom Tremolo der linken Hand und neuen aufsteigenden Figurationen angestachelt (molto agitatio ed appassionato). Schuberts Kombination zweier enharmonisch verwechselter Akkorde in Takt 39 fällt in Liszts Transkription besonders ins Gewicht: Die Kreuztonart fis-Moll in der linken Hand reibt sich optisch mit dem ges-Moll-Akkord in der Melodie. In der dritten Strophe in strahlendem F-Dur (con exaltazione) scheint die Nonne ihre innere Zerrissenheit überwunden zu haben. Liszt verstärkt die aufsteigenden Melodieachtel der Takte 54 ff. mit hellen, von der linken Hand ausgeführten Akkorden im hohen Register. Auch die anschließenden mediantischen Sequenzierungen, die das Warten auf den himmlischen Bräutigam reflektieren, schmückt der Bearbeiter mit umspielenden, die Melodielinie in oktavierter Lage nachzeichnenden Akkorden. Schuberts finale Strophe erklimmt in der Hoffnung auf Ruhe und Erfüllung im Jenseits hohe Lagen bis hin zum Spitzenton Ges’’. Liszts eigene Religiosität verbalisiert sich in den Zusätzen sotto voce ardentemente und calmato religiosamente. Das abschließende Alleluja endet im Lied beide Male auf dem Terzton. Die Transkription bekräftigt diesen Ausruf dadurch, dass der zweite Alleluja-Ruf mit dem von C-D-C-A zu C-D-F-E-F geänderten Melodieverlauf in einen vollkommenen Ganzschluss mündet. Dieselbe Abweichung findet sich auch im mehr als zwanzig Jahre später entstandenen Orchesterlied.18

Liszt, Die junge Nonne (Schubert), T. 89–91

Während Schuberts exaltierte Schlussstrophe mit dem unvollkommenen Ganzschluss möglicherweise darauf hindeutet, dass die Zuflucht in die Religion und den Tod keinen Seelenfrieden garantieren, scheint Liszts Version zuversichtlicher. Frühlingsglaube ohne Einschränkung Obwohl im zugrunde liegenden Gedicht von Ludwig Uhland der Glaube an die Ankunft des Frühlings vorhanden ist, wirft der Erzähler einen ängstlichen Blick in die Zukunft. Der Text kann durchaus politisch gelesen werden: Im Entstehungsjahr 1812 hoffte man auf das Ende der Napoleonischen Herrschaft. Nur acht Jahre später litten Schubert und seine Zeitgenossen unter dem restriktiven Metternich-Regime.19 Schuberts einzige Uhland-Vertonung transportiert den Frühlingsgedanken in Sechzehntelwerten und Melismen, die Liszts Version auskostet. Das fünftaktige 18 19

Zu Liszts orchestrierter Fassung vgl. diese Arbeit, S. 32. Vgl. dazu Walther Dürr / Michael Kube / Uwe Schweikert / Stefanie Steiner (Hg.), Schubert Liedlexikon, Kassel 2012, S. 541.

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Vorspiel ist im Nachsatz gedehnt: Im vierten Takt bringt ein eingefügtes Fes sowohl eine Molltrübung wie auch eine Verzögerung mit sich. In der Wiederholung der Worte „o neuer Klang“ schwingt eine gewisse Skepsis mit. Liszt nutzt diese Takte, um die Melodie von der rechten in die tiefere Lage der linken Hand wechseln zu lassen. Dadurch wandelt sich das Es’’ der Schubertschen Begleitung in der Transkription zu einem prominenten Glockenton. Nach der Molltrübung zu den Worten „nun, armes Herze“ folgt der dringende Wunsch „nun muss sich alles wenden“. Die Klavierfassung verdoppelt hier die Repetitionen des Liedes, was einer Bestätigung der Aussage gleichkommt. Eine Beschleunigung zur Wiederholung dieser Worte, gefolgt von einem retardierenden Moment auf Schuberts mit Melismen ausgezierter Kadenz, beschließt diese erste Bearbeitungsstrophe auf rhetorische Weise. Während Liszts Melodie in der erste Strophe zunächst in Originallage erklang und wenige Takte später in die Tenorlage wechselte, verhält es sich mit der Folgestrophe genau umgekehrt. Im anfänglichen „Brustregister“ erzeugt Liszt in der Verszeile „das Blühen will nicht enden“ durch die synkopierten triolischen Umspielungen in der rechten Hand einen schwebenden Augenblick (T. 34). Die folgenden leggiermente-Fiorituren stellen eine weitere Erfindung des Bearbeiters dar. Sie umranken die Melodie (cantabile sempre tranquillo), die sich in weiten Dezimengriffen präsentiert. Ab Takt 43 („nun muss sich alles wenden“) hat die rechte Hand nicht nur die nachschlagenden Melodietöne im Daumen, sondern auch große Sprünge von teilweise über zwei Oktaven zu bewältigen. Nach dem eindringlichsten Moment in Schuberts Vertonung, der Subdominante auf das abgespaltene Wörtchen „alles“, fügt Liszt überraschend eine umfangreiche Kadenz ein. Sein Des-DurAkkord erklingt mit Sixte ajoutée und führt mit absteigenden chromatischen Figurationen zum kadenzierenden Quartsextakkord hin.

Liszt, Frühlingsglaube (Schubert), T. 43–47

Diese verspielte Schlusswendung könnte darauf hinweisen, dass sich der Glaube an den Frühling im Laufe der Transkription zur freudigen Gewissheit wandelt.

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Gretchen am Spinnrade mit gesteigerter Herzfrequenz Bekanntermaßen hat Schubert seine Vertonung, die von der Nachwelt als „Geburtsstunde des Deutschen Liedes“20 gefeiert wurde, im Jahre 1816 erfolglos an Goethe gesandt. Hätte sich der Dichterfürst damit auseinandergesetzt, wäre ihm möglicherweise die Verquickung der „naturalistischen“ Darstellung des Spinnvorgangs mit den Emotionen seiner Protagonistin aufgefallen. Die in der rechten Pianistenhand monoton durchlaufenden Sechzehntel sind gleichzeitig Symbol für die mechanische Bewegung des Rades wie auch des Verfallenseins. Dagegen zeichnet die linke Hand das mechanische Klappen des Fuß-Tritts sowie Gretchens pochenden Herzschlag nach. Goethe verlieh Gretchens Monolog zahlreiche metrische Unregelmäßigkeiten, wodurch sich ein fast zwanghaft pulsierender Rhythmus einstellt. Schubert hat in seiner Vertonung viele intensivierende Wiederholungen eingeführt, insbesondere in der Schlussstrophe, wo die beiden Eröffnungsverse zur Hervorhebung des inneren Zwiespaltes noch einmal zitiert werden. Bei einer solch virtuosen Begleitung stellt sich die Frage, wie die Singstimme auf elegante Art und Weise eingearbeitet werden kann. Liszt lässt Schuberts motorische Bewegung konsequent durchlaufen, wodurch sich die Melodie häufig um ein Sechzehntel nach hinten verschiebt und arpeggiert wirkt.

Liszt, Gretchen am Spinnrade (Schubert), T. 1–6

Mit Ausnahme der Schlussstrophe hält sich die Melodie der Klavierfassung an die Originallage des Liedes. Die erste hörfällige Veränderung stellt die doppelte Begleitung mit ihrer unabhängigen, oft gegenläufigen Stimmführung dar (T. 22 ff.). Es handelt sich um die hohe Gesangspassage, wo Gretchen den Verstand zu verlieren glaubt („mein armer Kopf ist mir verrückt, mein armer Sinn ist mir zerstückt“). Liszt steigert die Dramatik, indem er den Orgelpunkt E mit der (Ver-)Rückung nach F durch ein crescendo agitato antreibt. Die „Zerstückung“ wird in der Transkrip20

Vgl. dazu Peter Josts Artikel „Lied“ in: Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Sachteil Bd. 5, Kassel etc. 21997, Sp. 1292.

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tion noch dadurch veranschaulicht, dass die pochenden Achtelnoten im Bass wechselweise in der unteren und oberen Oktave erklingen. An der Stelle, wo sich die Protagonistin den Geliebten vergegenwärtigt, wendet sich Schuberts Musik von a-Moll in die Mediante F-Dur. Diesen wirkungsvollen Terzgang unterstreicht Liszt erneut durch Verdoppelung der Sechzehntelbegleitung und den Gebrauch des Pedals. Unaufhaltsam eilt die Musik dem Höhepunkt, der Erinnerung an den Kuss, entgegen. Auch beim Stillstand der Bewegung, die in eine Fermate mündet, hält sich die Transkription eng an die Vorlage. Nachdem das Spinnrad allmählich wieder in Gang gebracht worden ist, ergänzt Liszt in der drängenden neunten Strophe die repetierenden Achtel zu überkreuzenden Akkorden (T. 86 ff.). Durch diese Überhöhung scheint sich auch die Herzfrequenz der Melodie zu steigern. Erst in Goethes Schlussstrophe durchbricht der Klaviervirtuose Schuberts originale Stimmlage: Die Melodie der leidenschaftlichen, imaginierten Kussszene ertönt im hohen Register und mit Akkordtönen verstärkt, zudem spinnen beide Hände die Begleitfiguration weiter (legato molto appassionato). Der Liszt-Schüler Carl Lachmund (1853–1928) schildert, wie sein Lehrer seine eigene Gretchen-Transkription (improvisierend) gespielt hat: „Die Schülerin hatte kaum ein paar Notenzeilen gespielt, als er sie schon unterbrach: ‚Nein, nein – versuchen Sie ja nicht, da irgendeinen besonderen Glanz hineinzulegen. Denken Sie stets, Sie selbst seien das Gretchen! Spielen Sie also in einer schüchternen und schlichten Art, und sitzen Sie möglichst ruhig, wenn Sie ein derartiges Werk vortragen!‘ […] Liszt spielte dann selbst dieses Stück, doch nicht genau nach dem Vordruck. Er wiederholte das Vorspiel, bevor er an die zweite Strophe ging. Das war eine gute Zugabe und beseitigte alle Zusammenhanglosigkeit und Schroffheit.“21

Spiel mit den Registern im Ständchen von Shakespeare Das Ständchen ist eines von drei Shakespeare-Liedern, die Schubert im Juli 1826 schuf. Bei dieser Komposition handelt es sich um eines seiner heitersten Werke überhaupt. Der Überlieferung zufolge entstand es im Garten des Gasthauses „Zum Biersack“, das sich gleich neben der Wohnung von Schuberts Freund Franz von Schober (1796–1882) befand.22 Die beschwingte Rhythmusfolge „zwei Sechzehntel-Viertel“, die das gesamte Lied prägt und an die Gitarrenmusik anknüpft, scheint diese These zu stützen. In Shakespeares Drama Cymbeline bringt ein Verehrer der Prinzessin Imogen ein Ständchen dar. Als Textvorlage diente Schubert die wortgetreue Übersetzung August Wilhelm von Schlegels. Die beiden weiteren Strophen wurden erst im Jahre 1832 für die Erstausgabe von Friedrich Reil dazugedichtet.23 Die auftaktigen Jamben verleiteten Schubert zur Komposition eines schnellen Walzers. Überraschend ist die Modulation ab Takt 19 über Es- nach As-Dur. Aus dieser Abdunkelung in die b-Tonarten führt ein übermäßiger Quintsextakkord hinaus, der die Weichen zurück 21 22 23

Carl V. Lachmund, Mein Leben mit Franz Liszt, Eschwege 1970, S. 31. Vgl. dazu Deutsch, Dokumente, S. 367. Schober schrieb an Bauernfeld, dass neben dem Garten seiner Wohnung ein Gasthausgarten liege, wo Trompetenmusik und anderer Lärm ihn störten. Ebd. Vgl. Dürr/Kube/Schweikert/Steiner (Hg.), Schubert Liedlexikon, S. 739.

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zur strahlenden Ausgangstonart C-Dur stellt („mit allem, was da reizend ist“). Wie Weckrufe wirken die gehäuft auftretenden Wiederholungen des Imperativs „steh auf“, was sich auch in der Dynamik widerspiegelt. Sowohl die Lisztsche Ständchen-Transkription wie auch die etwas spätere Fassung seines Zeitgenossen Stephen Heller präsentieren sich in B-Dur statt originalem C-Dur.24 Dies dürfte mit Diabellis zweiter Ausgabe des Liedes aus dem Jahre 1832 zusammenhängen, die um einen Ganzton tiefer transponiert ist.25 Schon von Beginn an zeichnet sich in Liszts Fassung ein Register-Spiel mit prägnanten Gitarren-Rhythmen ab. Während diese zunächst abwechselnd in oktavierter und originaler Lage erklingen, entfallen ihretwegen in der ersten Strophe sogar die Melodietöne zu den Worten „die Lerch“ und „Ätherblau!“. Ab Takt 11 wird der Rhythmus aufgefächert und in höchste Lagen geführt. Von nun an verselbständigt sich die Begleitung spielerisch und umrankt die wechselweise von beiden Händen ausgeführte Melodie. Den Ruf „steh auf“ steigert die Bearbeitung bis ins ff con fuoco, danach hält sie sich an Schuberts Decrescendo und lässt die Strophe in der leicht retardierten V-I-Kadenz in hoher Lage arpeggiert enden. Die zweite Klavierstrophe stellt eine freie Variation des ersten Teils dar und leitet zugleich den Schluss ein, da Liszt die dritte Strophe nicht berücksichtigt hat. Zunächst webt der Bearbeiter eine Kette aus Sechzehntelwerten zu einer Mittelstimme, die bei der Textzeile „der Sterne lichtes Heer“ aufsteigt und mit Vorschlagnötchen versehen ist. Die Wiederholung der begehrenden Worte „so hoffen sie noch mehr“ leitet über in eine fünftaktige Passage von Liszts Erfindung: Mächtige Akkordumkehrungen (molto fuocoso, marcatiss.) verlängern den F-Dur-Akkord und markieren eine deutliche Zäsur vor der zweiten Strophenhälfte.26 Diese QuasiFermate wirkt sich auf den Übergang zum terzverwandten Septimenakkord DesDur aus, der in der Klavierfassung richtiggehend ausgekostet wird. Da Liszts Version schon zu Beginn in einer b-Tonart steht, ist die Wirkung der Modulation hier jedoch eine völlige andere als im Lied. Nochmals erklingt ein neues Begleitmuster: Die rechte Hand führt leichtfüßige, halbtaktig aufsteigende Figurationen aus (brillante leggiero), während der Daumen der linken Hand die Singstimme möglichst melodiös nachzuzeichnen hat (ma ben articolato il canto). Liszt inszeniert die Imperative „Du süsse Maid, steh auf!“ als energiegeladene Schlussapotheose. Vor der allerletzten Wiederholung des Verses lädt eine Generalpause zum Atemholen ein. Nun löst sich die Fassung von der Vorlage und deklamiert die einzelnen Worte und Silben gedehnt (dolciss. rallent. poco a poco). Auch die unterlegten Harmonien sind neu, worunter die chromatische Mittelstimme zu „süße Maid“ besonders hervorsticht. Das Ständchen am Klavier benötigt fünf weitere Takte, um die Tonika verklingen zu lassen.27 24 25 26 27

Zu Hellers Ständchen siehe diese Arbeit, S. 176. Vgl. dazu den kritischen Bericht von Walther Dürr, in: NSA, IV, Bd. 14, S. 55. Die entsprechenden Takte der Cranz-Ausgabe (ca. 1890?) weichen von Diabellis Erstdruck ab. In der späteren Fassung nehmen die zusätzlichen Takte eine vermittelnde Funktion zwischen den beiden Strophenhälften wahr. Vgl. dazu Kabisch, Liszt und Schubert, S. 79 f. Die spätere Cranz-Ausgabe präsentiert einen alternativen, motivisch orientierten Schluss. Vgl. ebd., S. 83.

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Liszt, Ständchen von Shakespeare (Schubert), T. 71–78

Die freie Behandlung dieses Schlusses legt erneut eine außermusikalische Deutung nahe. Besonders die Textzeile „Du süße Maid, steh auf“ könnte eine Anspielung auf ein Liebeslied für Marie d’Agoult sein. Liszts Ständchen in B-Dur steht auf derselben tonalen Ebene wie das Eröffnungslied Sei mir gegrüßt und der Schlussgesang Ave Maria mit gleichfalls autobiographischen Zügen. Rastlose Liebe mit Geschwindmarsch Schuberts durchkomponierte Vertonung des Goethe-Gedichts „Rastlose Liebe“ zeichnet sich durch das Fehlen von Liedhaftigkeit und das Vorherrschen unregelmäßiger Taktgruppierungen aus.28 Der Sturm-und-Drang-Manier folgend, setzt die auftaktige Melodie nach einem atemlosen, sechstaktigen Vorspiel verfrüht ein. Die erste Strophe enthält keine einzige Pause. Stets drängt die ruhelose, aus abwärts geführten Akkordbrechungen bestehende Begleitung in rasantem Tempo vorwärts. Die bereits im Gedicht wiederholten Worte „immer zu“ versieht Schubert mit einer Liegestimme über E in der Melodie und mit dem übermäßigen Quintsextakkord Ais-C-E-G, der allerdings nicht in die Dominante H-Dur, sondern direkt in die Tonika geführt wird. Nach der Konfrontation mit den entfesselten Naturgewalten in der Eröffnungsstrophe beschließt der Protagonist, sich lieber den bedrohlichen Elementen als den „Freuden des Lebens“ zu stellen. Zwar wendet sich die Musik nach dem ersten Vierzeiler der zweiten Strophe nach G-Dur. Für kurze Zeit verlangsamen sich die Sechzehntelwerte zu sanften Triolen. In dieser Passage kommt die Ambivalenz zwischen der Liebe und dem Schmerz zur Sprache („Alle das Neigen von Herzen zu Herzen, ach, wie so eigen schaffet es Schmerzen!“). Doch es gibt keinen Ausweg: Nach nur zwölf Takten verfällt die Begleitung erneut ins frühere Muster und lenkt die Musik nach cis-Moll („alles vergebens!“). Dieser „Rückfall“ in den Anfangsgestus markiert 28

Vgl. dazu Thrasybulos Georgiades’ Kapitel „Über Gerüstbau und Periode“, in: Schubert. Musik und Lyrik, Göttingen 31992, S. 69 ff.

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unvermittelt den Beginn der Schlussstrophe. Wieder prägt ein hoher Liegeton die Melodiestimme: Nach mehrmaligem Singen des Tones G’’ stößt der Sänger chromatisch nach Gis’’ vor. In den vielen folgenden Wiederholungen scheint sich Schuberts Protagonist damit abzufinden, dass das Wesen der Liebe ein „Glück ohne Ruh“ sei. Liszts Transkription fällt durch die Tonart E-Dur aus dem Rahmen. Dem musikantischen Ständchen steht die Rastlose Liebe im Tritonus-Abstand gegenüber und distanziert sich dadurch nicht nur inhaltlich von der Vorgängerin. Eine Besonderheit dieses Klavierwerkes liegt in der einfallsreichen Variation der Begleitung. Schon zu Beginn der ersten Strophe weicht Liszt vom Original ab und teilt Schuberts Vierergruppierungen in Zweierbindungen auf, die abwechselnd von beiden Händen gespielt werden. Nach dem ersten Achttakter fügt er eine Mittelstimme aus Triolen ein, die sich mit den binären Achteln der Bässe reibt (ff precipitato). Die Triolen des G-Dur-Teils (pp amoroso non troppo agitato) sind nachschlagend und in beiden Händen verdoppelt notiert. Zusammen mit der oktavierten und teilweise zusätzlich mit Terzen versehenen Melodie erweckt diese Textur den Anschein eines Ländlers. Ebenfalls an eine Schrittfolge erinnern die Takte 72 ff. („Krone des Lebens“): Hier lassen die binären Notenwerte mit den nachschlagenden Achteln jedoch viel eher an einen Marsch denken (f sempre marcatissimo), der nach einem strepitoso in eine Schlussstretta des Klaviers führt (fff Ancora più presto).

Liszt, Rastlose Liebe (Schubert), T. 72–87

III Höhepunkte der frühen Schubert-Rezeption: 12 Lieder von Franz Schubert

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Tremolierende Geisterstimmen in Der Wanderer Die Textincipits der Rastlosen Liebe und des Wanderers lesen sich ähnlich. „Dem Schnee, dem Regen, dem Wind entgegen, im Dampf der Klüfte, durch Nebeldüfte“ singt der Protagonist im einen Fall, „Ich komme vom Gebirge her, es dampft das Tal, es braust das Meer“ heißt es im anderen Lied. Beide Erzähler sind ruhelose, getriebene Wanderer, die sich einer entfesselten, wild-romantischen Natur stellen. Der Wanderer ist dasjenige Schubert-Lied, das bis zum Jahre 1848 am häufigsten in den Konzertprogrammen zu finden war und sogar den Erlkönig auf den zweiten Platz verwies.29 Da es für Liszts Schaffen eine besondere Bedeutung hatte, lohnt sich ein ausführlicher Blick auf die Entstehungshintergründe. Das Gedicht über den heimatlosen, unglücklichen Fremdling stammt vom deutschen Arzt und Gelegenheitsdichter Georg Philipp Schmidt (1766–1849), der sich nach seiner Vaterstadt auch Schmidt von Lübeck nannte.30 Mit der Vertonung dieses Stoffes traf Schubert wohl den eigentlichen Nerv im Metternichschen Überwachungsregime. Schuberts Lied bewegt sich zwischen den beiden polarisierenden Tonräumen cis-Moll und E-Dur, die auch in der Winterreise verschiedene Welten bezeichnen: die unschöne Gegenwart (cis-Moll) und eine unerreichbar ferne Traumwelt (E-Dur, „geliebtes Land“).31 Bezeichnenderweise beginnt das Wanderer-Vorspiel mit einem Cis-Dur-Akkord, der sich bald als Dominante von fis-Moll herausstellt. Bei der Textwiederholung „es braust das Meer“ wird die Musik fast gewaltsam nach cis-Moll gerückt und wendet sich beim nächsten Zwischenspiel in die Mediante EDur („ich wandle still“). Beim dritten Anlauf kann sich cis-Moll immerhin als Grundtonart der zweiten Strophe etablieren. Hierfür greift der Komponist erneut auf eine Wortwiederholung zurück, denn die einmalige Frage nach dem „wo“ reicht nicht aus. Musikalisch untermalt Schubert diese Schlüsselstelle der Takte 20/21 mit einer phrygischen Kadenz. Der aufgewühlte Liedbeginn mit seiner rezitierenden Melodieführung, den unregelmäßigen Phrasen mit triolischem Begleitmuster und den harmonisch changierenden Tonarten steht in größtmöglichem Kontrast zur zweiten Liedstrophe. CisMoll wird erst gegen Strophenende verlassen, wobei das terzverwandte E-Dur durch einen Zusatztakt bekräftigen werden muss. Besonders ins Gewicht fällt der daktylische Rhythmus, den die Musik den jambischen Zeilen fast brachial auferlegt. Der Daktylus scheint in mehreren Schubertschen Werken, darunter im Lied und Streichquartett Der Tod und das Mädchen, mit Todesvorstellungen verknüpft zu sein. Die dritte Strophe („Wo bist du, wo bist du, mein geliebtes Land?“) hebt hoffnungsvoll an und wird von einer lebhaften, punktierten Begleitung unterstützt. Am 16. Juni 1841 richtete Liszt aus London folgende Zeilen an die Gräfin d’Agoult:

29 30 31

Vgl. dazu Ahrens, „Liszts Transkriptionen – Wegbereiter der Rezeption von Schuberts Liedern?“, S. 27. Michael Raab, Franz Schubert. Instrumentale Bearbeitungen eigener Lieder, München 1997, S. 94. Vgl. ebd., S. 98.

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III Höhepunkte der frühen Schubert-Rezeption: 12 Lieder von Franz Schubert „Ô ma belle et sereine Marie avec son regard si profond et ses larmes plus profondes encore! ‚Wo bist du ? Wo bist du ?‘“32

Doch die Stimmung schlägt bald nach Moll um („und nie gekannt“) und stürzt sich in den Zeilen 3 und 4 in einen tänzerischen 6/8-Takt. Schubert kombiniert hier die thematisch zusammenhängenden Gedichtstrophen (mit ihren „überstürzt gesprochenen Worten in unlogischer Reihung“33) und erzielt dadurch eine atemlose Beschleunigung der Ereignisse. Abrupt gestoppt wird dieser Taumel durch einen übermäßigen Sextakkord (F-A-Dis) zur aussagekräftigen Frage „O Land, wo bist Du?“.34 Nach dieser neuerlichen phrygischen Kadenz in a-Moll wendet sich das Zwischenspiel nach E-Dur und lässt die endgültige, ernüchternde Antwort auf alle Fragen erklingen. „Im Geisterhauch“ ertönt in gespenstischen Unisono-Oktaven, während ein weiterer übermäßiger Akkord das von Schubert wiederholte Schlüsselwort „dort“ („ist das Glück“) fast höhnisch untermalt. Liszt hat dieses Lied nachweislich am 8. Mai 1838 im Saal des Musikvereins in Wien begleitet.35 Noch im selben Jahr fertigte er seine Transkription für Klavier an, die – für den Konzertsaal geschrieben – weit wirkungsmächtiger und klanggewaltiger angelegt ist als das Original. Vieles deutet bereits auf das sinfonische Klavierkonzert hin, das ein gutes Jahrzehnt später entstehen sollte.36 Textausdeutungen wie das Brausen des Meeres oder der tremolierende Geisterhauch sind zusammen mit den ausgezierten Fermaten typische Merkmale dieser Musiksprache. Die zweite Strophe erscheint im Verhältnis zu den Rahmenteilen, die über die gesamte Tastatur schweifen, als schlichtes Rezitativ: molto accentuato il canto, gli accompagnamenti p staccati e sempre arpeggati steht in den Noten. Doch auch hier verfehlen kleine Tremoli und Triller in der linken Hand und ein leittöniges Fisis anstelle eines Fis in der Melodie („die Blüte welk“) ihre Wirkung nicht. Gegen Ende der zweiten Strophe, wo sich die Tonart im Zusatztakt nach E-Dur wendet (T. 33), setzt sich der Bearbeiter über die Vorlage hinweg. Liszts Wanderer verfehlt wortwörtlich sein Ziel, indem der Dominantseptimenakkord nicht wie bei Schubert in die Tonika aufgelöst wird, sondern in eine Generalpause mündet. Den Höhepunkt des Liedes („o Land, wo bist du?“) präsentiert Liszt in donnernden Oktaven (precipitato). Ebenso stehen die tremolierenden Geisterstimmen (misterioso) zu Schuberts fahlen Oktaven in eigentümlichem Kontrast.

32 33 34 35 36

Zit. in: Gut/Bellas (Hg.), Correspondance, S. 828. Raab, Franz Schubert. Instrumentale Bearbeitungen eigener Lieder, S. 97. Dies ist die einzige Verszeile, die Schubert vollständig abgewandelt hat. Bei Schmidt von Lübeck heißt es: „Und alles hat was mir gebricht“. Ahrens, „Liszts Transkriptionen – Wegbereiter der Rezeption von Schuberts Liedern?“, S. 13. Der Sänger wird nicht genannt. Siehe auch den Anhang dieser Arbeit, S. 319. Siehe ebd., S. 233 ff.

III Höhepunkte der frühen Schubert-Rezeption: 12 Lieder von Franz Schubert

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Schubert, Der Wanderer, T. 62–7238

Liszt, Der Wanderer (Schubert), T. 67–68

37

Abdruck aller Notenbeispiele aus der Neuen Schubert-Ausgabe mit freundlicher Genehmigung durch den Bärenreiter-Verlag.

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III Höhepunkte der frühen Schubert-Rezeption: 12 Lieder von Franz Schubert

Die unheimliche Geisterrede „Dort, wo du nicht bist, dort ist das Glück“ erhält vor dem Hintergrund der sich immer problematischer gestaltenden Beziehung zu Marie d’Agoult eine neue Perspektive. Ave Maria – idealisiertes Portrait Marie d’Agoults Widmungsträgerin der Ave Maria-Transkription in der italienischen Ricordi-Ausgabe ist „Madame la Comtesse Marie d’A.“, bei Richault lautet es expliziter „à Mme. la Comtesse Marie d’Agoult.“38 Die französische Edition ist mit einer Vignette geschmückt, die eine Szene in der Kirche darstellt: Eine Mutter kniet mit ihrem Baby vor der Marienfigur mit Jesus-Kind und fleht sie inbrünstig an.

Vignette der Richault-Ausgabe von Liszts Ave Maria-Transkription

Bei der hier abgebildeten Marien-Anbeterin könnte es sich im übertragenen Sinn um die Gräfin handeln. Für Liszts religiöses Empfinden war es von besonderer Bedeutung, dass Marie und die beiden Töchter Blandine und Cosima um die Weih-

38

Vgl. NLA, Serie II, Bd. 20, S. XIV.

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nachtszeit geboren wurden.39 Seine Briefe geben Zeugnis davon, dass er seine idealisierte Geliebte bisweilen sogar als Verkörperung der Mutter Gottes betrachtete. Auch ein Zitat aus dem Jahre 1839 zeigt, dass er das von ihm immer wieder öffentlich gespielte Ave Maria mit der Gräfin assoziierte: „Quant à L’ave Maria je l’ai joué pour vous – en priant. Quelquesuns seulement ont senti cela – les autres ont applaudi.“40

Selbst Marie d’Agoult verknüpfte die Protagonistin – und dadurch sich selbst – ihres autobiographischen Romans Nélida mit dem Maria-Topos: „Nélida, dans sa robe de nuit, était agenouillée au pied du crucifix, les mains jointes, les yeux levés, le visage baigné de larmes. Ses cheveux dénoués tombaient en larges ondes sur son vêtement blanc; ses deux pieds nus passaient à demi sous les chastes plis qui l’enveloppaient tout entière; une petite lampe posée à terre l’éclairait d’une lueur vacillante, et dessinait sa silhouette incertaine sur le fond sombre de la cellule; on eût dit l’une des Marie éplorée auprès du sépulcre vide […].“41

Abgesehen vom Einfluss der damaligen Romansprache auf die wechselvolle Beziehung der beiden finden sich auch musikalische Hinweise auf die Doppeldeutigkeit, die das Schubertsche Original für Liszt besaß. Er bearbeitete das Lied besonders sorgfältig und notierte seine Transkription über weite Strecken auf drei Systemen, wobei subtile Veränderungen in der Begleitung die fehlenden stimmlichen Variationsmöglichkeiten ersetzen und das Gefühl hervorrufen, Liszt begleite einen imaginären Sänger. Bereits von Beginn an erklingen Schuberts harfenartige Sextolen-Gruppen in beiden Händen und umrahmen die in Mittellage einsetzende Melodiestimme, deren Töne abwechselnd von beiden Händen angeschlagen werden. Im zweiten Achttakter der ersten Strophe ergänzt Liszt die Singstimme durch Oktaven, während ein Sprung innerhalb der Begleitfigur diese in Zweier- und Dreiergruppierungen unterteilt und Schuberts Gegenrhythmen dadurch deutlich kennzeichnet. In der zweiten und zugleich letzten Strophe wird die Ausführung der Melodie bis Takt 23 ganz dem Daumen der linken Hand überlassen, da die Oberstimme mit spielerischen Zweiunddreißigstel-Figurationen (dolciss. delicatamente) beschäftigt ist. Eine nochmalige Steigerung der Virtuosität liefern die vier letzten Verszeilen. Die drei Systeme verdeutlichen die verschiedenen klanglichen Ebenen in optisch übergroß wirkenden Takten: Erstens die wellenförmig auf- und absteigende Oberstimme aus Zweiunddreißigsteln, die mit staccato-Punkten und leggierissimo-Vorzeichnung versehen ist, zweitens die zu Oktaven verdoppelte Mittelstimme, deren Ausführung je nach Möglichkeit der einen oder anderen Hand zufällt und drittens 39

40 41

An Weihnachten 1838, wenige Monate nach der Publikation der 12 Lieder, schrieb Liszt an die Gräfin: „Je lis l’article de Quinet sur le livre de docteur Strauss qui m’émeut et m’attriste profondément, j’entre dans une église – j’en ressors cinq minutes après. La naissance du Christ me préoccupe – Le vrai et le faux me répugnent également – Je repasse dans mon cœur une partie de notre vie passée – et puis un rayon de soleil me vient à l’âme – je tâche d’imaginer ce que vous faites à ce moment, à cette heure, à ce jour. La naissance de nos pauvres filles!! Toutes les deux au mois de Décembre!! – vous aussi, née à la fin de Décembre!! Je me mets à pleurer – je me sens un peu soulagé.“ Brief von Franz Liszt an Marie d’Agoult vom 26. Dezember 1838, zit. in: Gut/Bellas, Correspondance, S. 362 f. Brief von Franz Liszt an Marie d’Agoult vom 19. November 1839, zit. ebd., S. 417. Stern, Nélida, S. 12 f.

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III Höhepunkte der frühen Schubert-Rezeption: 12 Lieder von Franz Schubert

das untere System mit den sonoren Oktaven im Bass und portato zu spielenden Akkordumkehrungen. Ihren Höhepunkt erreicht die Transkription im letzten AveMaria-Anruf, der, von harfenartigen Akkordbrechungen aus Vierundsechzigstelwerten flankiert, alle Register des Flügels in Schwingung versetzt.

Liszt, Ave Maria (Schubert), T. 27

Im Nachspiel entfernt sich Liszt von den Harmonien der Vorlage und fügt zwei neue Subdominant-Akkorde über Schuberts Orgelpunkt ein. Zum einen handelt es sich um den verminderten Dreiklang Des-E-G auf die vierte Zählzeit des Taktes 29, der enharmonisch verwechselt als hochalterierte zweite Stufe interpretiert werden kann, zum andern um die mollentlehnte zweite Stufe in Takt 30, die durch chromatische Verschiebung erreicht wird. Die bei Richault erschienene Bearbeitung überrascht mit einem völlig anders gestalteten Abgesang, der zunächst die Akkordfolge B-Dur/Ges-Dur/B-Dur/esMoll als klangvolles Harfenspiel ertönen lässt. Darauf folgt während 19 Takten das zum Choral, Rezitativ und Orgel-Postludium umgemünzte „Ave Maria-Thema“, das in seiner Schlichtheit wie ein abschließendes Gebet anmutet (religioso). Die kreisenden Akkordfolgen um die harmonischen Zentren G- und B-Dur erinnern an den Alleluja-Ruf in Die junge Nonne.42 42

Vgl. diese Arbeit, S. 76.

III Höhepunkte der frühen Schubert-Rezeption: 12 Lieder von Franz Schubert

Liszt, Ave Maria, letzte Seite der Richault-Ausgabe

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Mit der Transkription des Ave Maria schließt sich der Kreis zum Eröffnungslied. Ob Liszt in seiner Wahl den Ansichten Schubarts folgte, der B-Dur als Tonart der „Hoffnung“ und des „Hinsehnens nach einer besseren Welt“ charakterisierte, muss offen bleiben.43 Die problematische Verbindung mit Marie d’Agoult war jedenfalls nicht von Dauer und zerbrach im Jahre 1844 endgültig.

43

Christian Friedrich Daniel Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, Wien 1806, S. 377.

IV SCHUBERTS LIEDERZYKLEN NEU KOMPONIERT Als erster Liederzyklus überhaupt und absolutes Referenzwerk für diese Gattung gilt Beethovens An die Ferne Geliebte op. 98 aus dem Jahre 1816. Dieser aus sechs Nummern bestehende Zyklus mit seiner planvollen Anordnung der Tonarten dürfte Schubert mit Sicherheit als Vorbild gedient haben. Obwohl die großen Schubertschen Liederzyklen Winterreise, Schwanengesang und Die schöne Müllerin zu Beginn von Liszts Karriere im Konzertleben noch nicht präsent waren, arrangierte sie der Virtuose in neuer Gruppierung und Auswahl für Klavier solo und projizierte sich mit seiner französischen Ästhetik in diese Musik hinein. SCHWANENGESANG MIT SCHAURIGEM ANFANG UND ENDE Im Januar 1829, nur zwei Monate nach Schuberts Tod, gab der Verleger Tobias Haslinger eine „Pränumerations-Anzeige“ auf, worin er Schuberts Schwanengesang als dessen letztes Werk ankündigte.1 Die Idee der heute bekannten zyklischen Gestaltung stammt nicht vom Komponisten selbst, sondern geht auf Haslinger zurück. Der Verleger hatte von Ferdinand Schubert sieben Rellstab- und sechs HeineLieder sowie Die Taubenpost (Oktober 1828) käuflich erworben.2 Die Rellstab- und Heine-Lieder sind in einer Reinschrift als fortlaufend geschriebenes Manuskript überliefert, wobei die Liebesbotschaft als erstes Lied der Reihe mit August 1828 datiert ist. Das Heine-Heft endet mit dem düsteren Doppelgänger. Elmar Budde wies darauf hin, dass die Lieder im Manuskript zwar nacheinander notiert, jedoch nicht wie etwa im Falle der Winterreise durchnummeriert wurden.3 Dass Schubert dem Leipziger Verleger Heinrich Albert Probst am 2. Oktober 1828 die Heine-Lieder angeboten hatte, lässt ebenfalls darauf schließen, dass ihm kein zyklischer Plan wie in Die schöne Müllerin oder in der Winterreise vorgeschwebt hatte, sondern zwei separate Liederhefte.4 Erst durch Haslingers Initiative wurde aus den zwei Sammlungen der heute bekannte Zyklus, dessen Titel der Verleger aus programmatischen Gründen gewählt haben dürfte: In der nordischen Mythologie gilt der Schwan als weissagender Vogel, der im Sterben seine Stimme zum Todesgesang erhebt.5 Durch Hinzufügen der 1

2 3 4 5

Siehe Deutsch, Dokumente, S. 573 f. Am 30. Januar 1829 hatte Johann Vogl zwei Lieder aus dem Zyklus, die Taubenpost und den Aufenthalt, anlässlich des Privatkonzertes „zur Errichtung eines Monumentes für den verstorbenen Kompositeur Franz Schubert“ im Saal des Musikvereins vorgetragen. Der Taubenpost liegt ein Gedicht von Johann Gabriel Seidl (1804–1875) zugrunde. Elmar Budde, Schuberts Liederzyklen, München 2003, S. 97. Vgl. ebd., S. 100. Bereits im Jahre 1823 hatte Schubert ein Gedicht seines Freundes Johann Chrysostomus Senn (1795–1857) vertont, dem er die Überschrift Schwanengesang gab. Es erschien bei Sauer & Leidensdorf als op. 23/3.

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IV Schuberts Liederzyklen neu komponiert

heiteren Taubenpost als Schlussstück verlieh Haslinger dem Werk eine neue Aussage. Liszts Neuarrangement orientiert sich dagegen an Schuberts Intention: Sein Schwanengesang endet mit dem Unheil verkündenden Lied Kriegers Ahnung. Liederfolge bei Schubert/Haslinger

Liszts Schwanengesang

1. Liebesbotschaft 2. Kriegers Ahnung 3. Frühlingssehnsucht 4. Ständchen 5. Aufenthalt 6. In der Ferne 7. Abschied 8. Der Atlas 9. Ihr Bild 10. Das Fischermädchen 11. Die Stadt 12. Am Meer 13. Der Doppelgänger 14. Die Taubenpost

1. Die Stadt c-Moll 2. Das Fischermädchen As-Dur 3. Aufenthalt e-Moll 4. Am Meer C-Dur 5. Abschied Es-Dur 6. In der Ferne h-Moll 7. Ständchen d-Moll 8. Ihr Bild b-Moll 9. Frühlingssehnsucht B-Dur 10. Liebesbotschaft G-Dur 11. Der Atlas g-Moll 12. Der Doppelgänger h-Moll 13. Die Taubenpost G-Dur 14. Kriegers Ahnung c-Moll

G-Dur c-Moll B-Dur d-Moll e-Moll h-Moll Es-Dur g-Moll b-Moll As-Dur c-Moll C-Dur h-Moll G-Dur

Liszts Zusammenstellung ist wohl in zwei Etappen entstanden, wie die Untersuchungen von Ernst Hilmar sowie auch die neuere Forschung zeigen konnten.6 Dies hatte auch Auswirkungen auf die Publikation: Die Transkription des Liedes Aufenthalt etwa erschien laut einer Anzeige in der WZ bereits am 26. November 1838 bei Haslinger in Wien und fast gleichzeitig bei Schlesinger in Paris.7 Das Ständchen („Leise flehen“) war schon im Mai 1838 während Liszts erster Wiener Konzertserie greifbar.8 Liszts Brief an Breitkopf & Härtel von Anfang Juni 1839, in dem er aus Rom berichtet, dass er eben 24 (bezeichnenderweise durchnummerierte) neue Bearbeitungen von Liedern aus dem Schwanengesang und der Winterreise an Haslinger geschickt habe, markiert die äußerste Grenze für die Fertigstellung der kompletten Zyklen.9 Als der Virtuose zum Jahreswechsel 1839/1840 erneut in der Donaumetro6

7 8 9

Hinter die in der Forschung generell mit 1838 und 1839 angegebene Datierung des Lisztschen Schwanengesangs setzte Ernst Hilmar als Erster ein Fragezeichen. Seine Recherchen anhand der in der Wiener Stadtbibliothek vorhandenen autographen Nummern ergaben, dass es sich um zwei Manuskriptteile handelt. Die Unterschiede im Duktus der Handschrift der beiden Abteilungen seien so verschieden, dass sie nicht zur gleichen Zeit entstanden sein dürften. Während der erste Teil um 1838 komponiert und vor der Drucklegung 1840 nochmals korrigiert wurde, datiert Hilmar die Transkriptionen der Lieder Ihr Bild, Frühlingssehnsucht und Der Doppelgänger früher. Nach seiner mit 1835 angegebenen Schätzung würden diese Bearbeitungen nach der Rose zu den ersten Lisztschen Schubert-Transkriptionen gehören. Hilmar, „Kritische Betrachtungen zu Liszts Transkriptionen von Liedern von Franz Schubert“, S. 118 f. Laut Jonathan Kregor handelt es sich weniger um einen großen Zyklus als um zwei kleinere Gruppierungen „with a strongly unified first half and an impressionistic, pastiche second half.“ Jonathan Kregor, Liszt as Transcriber, New York 2010, S. 83. Vgl. dazu Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 119. Vgl. dazu diese Arbeit, S. 56, Fußnote 60. Ebd., S. 62.

Schwanengesang mit schaurigem Anfang und Ende

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pole konzertierte, ließ er sich gleich mit fünf Nummern aus dem Schwanengesang hören (Die Stadt, Das Fischermädchen, Aufenthalt, Der Atlas und Taubenpost). Interessenten konnten die ersten drei Lieder bereits am 29. November 1839, nur zwei Tage nach Liszts Vortrag, bei Haslinger erwerben.10 Bei der französischen Ausgabe gestaltete sich die Situation problematischer. Günther Protzies konnte ermitteln, dass ein Verleger-Wechsel von Schlesinger, der auf die technisch anspruchsloseren Schubert-Bearbeitungen von Stephen Heller setzte, zu Richault, der im Februar 1840 ein Belegexemplar von Liszts Ausgabe des Schwanengesangs hinterlegen konnte, stattgefunden hatte.11 Die endgültige Anordnung scheint darauf hinzuweisen, dass Liszt den losen Zusammenhalt des Originals verdichten wollte. Wie bereits in den 12 Liedern stehen die Rahmenlieder in derselben Tonart (c-Moll), dazwischen findet sich als Neuerung eine Kopplung zweier Nummern (Ihr Bild und Frühlingssehnsucht). Anhand von Terzverwandtschaft und Varianttonart lassen sich zudem deutliche Kompositionspaare ausmachen. Überhaupt entwirft Liszt in seiner Neudisposition ein völlig verändertes Bild des Schwanengesangs. Während die Rellstab-Serie mit der heiteren Liebesbotschaft in G-Dur eröffnet, setzt der Bearbeiter die beklemmende Liedkomposition Die Stadt, in welcher der Verlust einer geliebten Person beklagt wird, an den Beginn. In ähnlicher Stimmung endet der Klavierzyklus mit diesen Worten aus Kriegers Ahnung: „Bald ruh’ ich wohl und schlafe fest, Herzliebste – gute Nacht!“. Bemerkenswerterweise beginnt die Lisztsche Winterreise, die im Anschluss an den Schwanengesang im fortlaufenden Manuskript notiert ist, in exakt derselben Stimmung und mit demselben Wortlaut (Gute Nacht).12 Im Gegensatz zum Schwanengesang war Liszt sowohl in der Winterreise wie auch in Die schöne Müllerin bestrebt, der Hoffnungslosigkeit mit einem trotzigen oder offenen Ende entgegenzuwirken. Die Stadt als eruptiver Klagegesang „Am fernen Horizonte erscheint, wie ein Nebelbild, Die Stadt mit ihren Türmen, in Abenddämmerung gehüllt. Ein feuchter Windzug kräuselt die graue Wasserbahn; Mit traurigem Takte rudert der Schiffer in meinem Kahn. Die Sonne hebt sich noch einmal leuchtend vom Boden empor Und zeigt mir jene Stelle, wo ich das Liebste verlor.“

Die Stadt mit ihrer harmonischen Erstarrung auf einer einzigen Dissonanz ist eines der bedrückendsten und zugleich kühnsten Schubert-Lieder. Anstelle der Tonika entfaltet das Klaviervorspiel dreimal den doppeldominantischen verminderten Septimenakkord Fis-A-C-Es als Arpeggio über einem bebenden Orgelpunkt, verschwommen („con pedale“) und ohne Auflösung. Dass Liszt diesen Einstieg für seinen Schwanengesang wählte, zeugt nicht nur von seiner Motivation zur Neu10 11 12

Ebd., S. 314 und zur Transkription von Aufenthalt S. 92 und 313. Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 122 ff. Vgl. auch diese Arbeit, S. 170. Vgl. dazu Kregor, Liszt as transcriber, S. 83.

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IV Schuberts Liederzyklen neu komponiert

erzählung, sondern offenbart auch seine Faszination für dieses Schubert-Lied. Sein Tremolo wirkt noch unheilverkündender als im Original, da es eine Oktave tiefer erklingt. Ähnlich wie in der Lisztschen Bearbeitung des Wanderers wird auch die folgende, leise deklamierende Melodie mit einer kargen Staccato-Begleitung unterlegt. Daraus resultiert ein auf das klangliche Minimum reduziertes, „unpianistisches“ Rezitativ.13

Liszt, Die Stadt (Schubert), T. 7–10

Der Windhauch, der die Wellen kräuselt, setzt sich in der Transkription aus einer raffinierten Kombination von Begleitung und Melodie zusammen: Die linke Hand spielt sowohl die in Oktaven geführte und durch Punktierungen akzentuierte Melodie wie auch die tremolierende Begleitung. In einer großen Steigerung verselbständigt sich die virtuose Figuration und mündet in Takt 27 in einen chromatischen Abgang. In der Schlussstrophe, die im Gegensatz zu den leise zu deklamierenden Vorgängerstrophen stark zu interpretieren ist, entfernt sich Liszt noch weiter vom Original: Schuberts doppelpunktierte Akkorde (mit dem schmerzlichen neapolitanischen Sextakkord in Takt 32 bei „und zeigt mir jene Stelle“) werden mit drei Punkten versehen und mit überbordend-virtuosen Kaskaden ausgefüllt, was zu einer immensen Klangfülle (fff molto energico e deciso) führt. Trotz dieser dynamischen Ausreizung legt der Bearbeiter Wert auf eine strikte Einhaltung des 3/4-Taktes und betont zweimal, dass der Ausführende „den Takt immer sehr markieren“ soll. Gänzlich unterschiedlich präsentiert sich auch der Kulminationspunkt des Liedes im Original und in der Transkription: Schubert beruft sich auf den Effekt, den der Spitzenton G’’ hervorbringt. Liszt hingegen lässt den c-Moll-Akkord über dem Wort „Liebste“ in hervorstürzender Chromatik über die ganze Klaviatur donnern (fff il più presto possibile). In einer Notenseite wie dieser fällt es sicherlich schwer, Schuberts Lied auf Anhieb wieder zu erkennen:

13

Auffällige Abweichungen im melodischen Duktus sind der auf ein Achtel verkürzte Nonenvorhalt auf „Horizonte“ und der abgeänderte Auftakt As-C statt C-C zu „die Stadt“.

Schwanengesang mit schaurigem Anfang und Ende

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Liszt, Die Stadt, T. 33–35 (mit Ossia-Variante)

Wildes Aufbäumen und immense Virtuosität stehen einer gespenstischen, durch den Gebrauch schlichter Mittel umso berührenderen Vorlage gegenüber. Während Schuberts Trauer einer durch Nebel verschleierten Erinnerung gleicht, markiert Liszts eruptiver Gefühlsausbruch einen völlig konträren Interpretationsansatz. In Schuberts Anordnung folgt nun das Lied Am Meer, das direkt an den verminderten Septimenakkord der Stadt anknüpft. Durch enharmonische Umdeutung und Tiefalteration von A zu As münzt er den Akkord zu Dis-Fis-As-C um, dessen Leitund Gleittöne nach E und G und somit zu einem C-Dur-Akkord streben. Zwar geht dieses verbindende Element in Liszts Zyklus durch die veränderte Reihenfolge verloren, doch greift seine letzte Transkription Kriegers Ahnung diesen charakteristischen Vierklang wieder auf, wodurch Liszts Schwanengesang seine eigene, „besondere Färbung“ erhält.14

14

Hinrichsen, „Rezeption als Selbstverständigung“, S. 127.

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IV Schuberts Liederzyklen neu komponiert

Das zerstreute Fischermädchen Liszts Klavierzyklus setzt auf große musikalische Kontraste. Die unheimliche Stimmung im Eröffnungslied weicht der heiteren Welt des Fischermädchens in As-Dur mit tänzerischem 6/8-Takt. Der subjektive Anspruch des Bearbeiters offenbart sich schon zu Beginn: poeticamente soll die Melodie erklingen, die wie Schuberts Singstimme in einem eigenen System notiert ist und von zwei Begleitstimmen flankiert wird. Die drei Systeme umfassende Akkolade sowie der Höreindruck durch die in Tenorlage erklingende Melodie vermitteln scheinbar ein Spiel mit drei Händen. Da Liszt diese mittlere Lage für die ersten beiden Verspaare beibehält, heben sich die um ein bis zwei Oktaven höher notierten Zwischenspiele des Klaviers deutlich ab. Erst nach dem Exkurs in die terzverwandte Tonart Ces-Dur und der Wiedererlangung der Ausgangstonart As-Dur präsentiert sich der Gesang im Diskantregister. In Takt 71 angelangt, wird der Interpret vor die Wahl gestellt, das Lied entweder originalgetreu zu beenden oder durch eine zweite Strophe zu erweitern. Entscheidet er sich zu dieser Fortspinnung mit der Spielanweisung „wie mit Zerstreuung fortfahrend“, wird das Original um mehr als zwanzig Takte verlängert.

Liszt, Das Fischermädchen (Schubert), T. 68 ff.

In der figurativen Auflösung der Melodie und einer (Zer-)Streuung über mehrere Register der Klaviatur verfolgt Liszt nicht nur eine dramaturgische Steigerung durch Variation, sondern auch eine „eigenständige Ausdeutung des Liedgehalts“.15 In diesem Sinne birgt die poetische Improvisation einige Überraschungen wie etwa die Molltrübungen des Klavierechos in Takt 75 und des ausklingenden Nachspiels in Takt 89 oder das kurze Innehalten auf den Fermaten der Takte 81 und 84. In Liszts Lied Der Fischerknabe (S 292 Nr. 1) finden sich Parallelen zu Schuberts Fischermädchen. Es entstand 1845 und wurde vierzehn Jahre später nochmals grundlegend überarbeitet. Beiden Kompositionen ist nicht nur der rhythmische Schwung des 6/8-Taktes eigen, sondern auch die aussagekräftige mediantische Tonartenkonstellation. Die von Schubert durchschrittenen Tonräume As-Dur/CesDur spiegeln sich in der Ges-Dur/A-Dur-Konstellation des Fischerknaben. 15

Ebd., S. 123.

Schwanengesang mit schaurigem Anfang und Ende

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Aufenthalt mit Herzklopfen Auf die poetische Fortspinnung im Fischermädchen folgt die Klavierfassung des Liedes Aufenthalt. Den Hörer erwartet entgegen der Verheißung durch den Titel eine aufgewühlte Musik, denn der Schmerz des Protagonisten wird mit Naturgewalten verglichen. Diese setzt Liszt hörbar in Musik um: Das Rauschen des Stromes und das Brausen der vom Wind bewegten Wälder lassen auch den Flügel erbeben. Die rechte Hand agiert in ständiger Überkreuzung und führt zum einen die chromatischen Figurationen im tiefen Bassregister (und dadurch gewissermaßen die brandenden Wellen) aus, verstärkt zum anderen aber auch die Melodie im hohen Register mit ihren Intervallsprüngen, die sich von der kleinen Sexte bis zur kleinen None ausweiten.

Liszt, Aufenthalt (Schubert), T. 22–30

Die Tonart G-Dur der freundlicher gefärbten zweiten Strophe („Hoch in den Kronen“) wird mittels des übermäßigen Quintsextakkordes Es-G-B-Cis zur Dominante erreicht. Wie wiederholt in Liszts Bearbeitungen anzutreffen, hat sich die Melodie nun deutlich als Oberstimme etabliert. Die nachschlagenden Achtel der Begleitung scheinen das „unaufhörliche“ Herzklopfen des Protagonisten zu imitieren. Angestachelt durch den Querstand, der aus der unmittelbaren Gegenüberstellung der Har-

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IV Schuberts Liederzyklen neu komponiert

monien e-Moll (T. 123) und c-Moll (T. 124) resultiert, entfaltet Liszt eine geradezu überbordende Klangwucht. Für die letzte Gesangsphrase „Brausender Wald mein Aufenthalt“ knüpft Schubert an das Klaviervorspiel an, das sich nun auch in der Bearbeitung als abschließende Vokalise vernehmen lässt. Tränenreiches Rezitativ Am Meer Auf den alterierten Dominantklang zu Beginn des Liedes Am Meer und seine Bedeutung innerhalb des originalen Zyklus wurde bereits hingewiesen.16 Während dieser Septimenakkord im Lied Die Stadt keine Auflösung fand, wendet er sich nun nach C-Dur. Dieses harmonische Ereignis vollzieht sich gleich zweimal, als wolle ihm Schubert besonderes Gewicht verleihen. Liszt weicht von der originalen Anordnung der Töne und Aufteilung auf beide Hände ab und überlässt die Ausführung der linken Hand. Zudem notiert er ein Es anstelle von Dis. Ob es sich um eine bewusste enharmonische Verwechslung handelt, welche die Trübung nach c-Moll des zwölften Taktes andeutet, kann nicht eindeutig beantwortet werden. In den Schlusstakten übernimmt Liszt Schuberts Schreibweise des Akkordes jedenfalls exakt. Das aus zwei Strophen bestehende Lied mit seiner Periodenstruktur knüpft zunächst an die Fischermädchen-Idylle an. Schubert entfaltet in den dramatischen Zeilen eine unterschwellig brodelnde Tremolo-Begleitung, die Liszt jedoch nicht ausreizt. Die Pointe der beiden Strophen fällt auf die jeweils letzten Verszeilen „fielen die Tränen nieder“ und „vergiftet mit ihren Tränen“. Hier nimmt Schubert wiederum Bezug auf den alterierten Akkord des Beginns. Der verminderte Septimenakkord Cis-E-G-B über dem Basston F ist nun eine Dominante zur zweiten Stufe (d-Moll). In den Schlusstakten der Transkription erscheinen diese Akkorde als mit esclamato bezeichnete Arpeggien. Der tränenreich rezitierte Klagegesang spiegelt sich im Lisztschen Notenbild.

16

Vgl. diese Arbeit, S. 95 und Thomas Gerlich, „Am Meer: Ein ‚romantisches Detail‘ bei Schubert wiedererwogen“, in: Schubert : Perspektiven 1 (2001), S. 197–218.

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Liszt, Am Meer (Schubert), T. 37–45

Abschied: „Humoristisch vorzutragen“ Schuberts Abschied erklingt in Es-Dur und somit in einer Tonart, die viele Assoziationen weckt. Auch Beethovens Sonate „Les Adieux“ op. 81a ist in Es-Dur notiert. Johann Mattheson (1681–1764) stellte in seiner Schrift Das neu-eröffnete Orchestre fest, Es-Dur habe „viel pathetisches an sich; will mit nichts als ernsthafften und dabey plaintiven Sachen gerne zu thun haben“.17 Schuberts und Liszts Es-Dur ist jedoch voller Ironie und folgt dem Ton des enttäuschten Liebhabers bei Rellstab: „Du hast mich wohl niemals noch traurig gesehn, So kann es auch jetzt nicht beim Abschied gescheh’n.“ Schubert bildet diese erzwungene Fröhlichkeit im Klaviervorspiel ab, das mit seinen pendelnden Staccato-Akkorden an das lustig scharrende Rösslein gemahnt. Liszt verstärkt den ironischen Unterton durch die Spielanweisung „humoristisch vorzutragen“. Dadurch, dass er die Melodie zunächst um eine Oktave tiefer erklingen lässt, gelingt es ihm, Schuberts anspruchsvollen Klavierpart komplett in die Transkription einzuarbeiten. Diesen dichten Satz notiert er auf drei Systemen, wobei die Melodietöne von beiden Händen ausgeführt werden müssen.

17

Johann Mattheson, Orchestre 1 pars tertia, judicatoria. Oder Wie eines und anderes in der music zu beurtheilen, Hamburg 1713, S. 248.

100

IV Schuberts Liederzyklen neu komponiert

Liszt, Abschied (Schubert), T. 5–14

Liszt arrangierte alle sechs Strophen, weshalb der 167 Takte umfassende Abschied zu seinen längsten Lied-Transkriptionen zählt. Der tänzerische Gestus der zweiten Strophe enthält die gesamte Bitterkeit der Abschiedsworte, welche die Klavierversion durch viele Betonungen und Rinforzandi (etwa auf dem Spitzenton As’’ in Takt 47) unterstreicht. Die „schelmisch lockenden“ Blicke der Mädchen, die der Bearbeiter durch neckische Arpeggien veranschaulicht, können den enttäuschten Liebhaber in der dritten Strophe nicht zurückhalten. Diese Passage ist durch Akkordumkehrungen und weite Sprünge in der Begleitung geprägt und kulminiert in ein forte energico. Im Schubert-Lied entspricht die vierte exakt der zweiten Strophe. Dies gilt nicht für die Bearbeitung, die das Original mit viel Einfallsreichtum variiert und mit wogenden Achtelbegleitungen die hohen Klavierregister erklimmt. Als Abschiedsgruß dient die mächtige Steigerung der Takte 101–104 (con bravura), die in ein rinforzando energico gipfelt. Die neue Triolenbegleitung der fünften Strophe kommt einer dramaturgischen Beschleunigung gleich, die durch ein zusätzliches Accelerando auf die letzte Verszeile in den Takten 124 ff. bis ins fortissimo precipitato gesteigert wird. Die Variation der Schlussstrophe besteht im Kern aus einer Drei-gegen-zwei-Bewegung (T. 128 ff.). Auch Schubert variiert das Finale seines Liedes: Bereits das Klavierzwischenspiel erfährt eine Molltrübung und wendet sich anschließend nach CesDur. Für einmal lässt der scheidende Liebhaber hinter seine Maske blicken: „Des Fensterlein trübes, verschimmerndes Licht ersetzt ihr unzähligen Sterne mir nicht“. Liszt interpretiert dieses Geständnis sempre p sotto voce und mit chromatisch abwärtsschreitenden Triolen im Bass (T. 139). Die Treulosigkeit seiner Angebeteten vertreibt den Protagonisten endgültig aus der Stadt, was den Virtuosen zu einem strepitoso con bravura über dem letzten „Ade“-Ruf veranlasst.

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Klangliche Extreme In der Ferne Die Quintessenz des Liedes In der Ferne, das Gefühl der Entfremdung vom heimatlichen Boden, bildet Schubert durch einen klagenden „Passus duriusculus“ in den Takten 17 ff. und 46 ff. ab. Der chromatisch durchschrittene Quartgang H-Fis setzt auf die Worte „Mutterhaus hassenden“ mit einer Rückung von h-Moll nach B-Dur ein, was eine abrupte Abwendung von der Ausgangstonart h-Moll zur Folge hat. Liszt setzt diese Passage in vollgriffige Arpeggio-Akkorde, die nach der spärlichen, mit Keilen versehenen Begleitung umso wirkungsvoller erscheinen. Mit dieser Musik, deren Nähe zum Lied Der Wanderer unüberhörbar ist, scheint sich der entwurzelte Künstler unmittelbar identifiziert zu haben.

Liszt, In der Ferne (Schubert), T. 13–20

In der zweiten Strophe füllt Liszt die langen Melodietöne mit virtuosen Akkordbrechungen aus, die den Harfenklang zu imitieren scheinen. Auf die Worte „Abendstern, blinkender, hoffnungslos sinkender“ tritt ein klanglicher Bruch ein: Das una corda-Pedal unterstützt das geforderte piano flebile cantando mit delikat zu spielenden Sextolen in der rechten Hand. Quasi arpa und non troppo presto sind Liszts Figurationen zu spielen (T. 53 ff.). Die auf den damaligen Instrumenten noch realisierbare Anweisung poco a poco tre corde lässt erahnen, dass der Klaviervirtuose das ganze Spektrum an Klangfarben ausschöpfte. Vor der Schlussstrophe erscheint bei Schubert nochmals das Klaviervorspiel. Liszt versieht dieses Intermezzo mit einem energischen Tremolo für die rechte Hand und leitet dadurch die dritte Strophe in der Varianttonart H-Dur ein. Die dynamische Bandbreite reicht nun vom zarten ppp dolciss. con intimissimo sentimento ab Takt 66 bis hin zu einem orchestralen sempre fff marcatiss. appassionato assai in den Takten 100 ff. Liszts In der Ferne ist eines seiner dynamisch facettenreichs-

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ten Schubertschen Klaviergemälde, das den kargsten Satz mit der figurativ zerstäubten Virtuosenpassage und das innigste dreifache piano mit dem apotheotischen forte fortissimo vereint. Ständchen im Duett Am schon damals populären Ständchen („Leise flehen“) mit seinem serenadenhaften Ton scheint Liszt die Kommunikation zwischen Melodie und Begleitung fasziniert zu haben. Die Gesangslinie wird in seiner Bearbeitung von vier bis fünf Nebenstimmen umrahmt, die auf beide Hände verteilt sind (gli accompagnamenti sempre staccato e pp). Schuberts Imitation des Gitarrenklangs erweitert sich dadurch gewissermaßen zu einem kleinen Gitarren-Ensemble, welches das „abendliche intime Werben“18 kommentiert und reflektiert. Bereits nach vier Melodietakten, in denen die Lieder in schwebender Drei-gegen-zwei-Bewegung durch den Nachthimmel wehen, lässt Schubert ein zweitaktiges Zwischenspiel folgen, das gleich einem Echo die Takte 3 und 4 abspaltet. Dieses Zwiegespräch setzt sich in den folgenden Zeilen und Strophen fort, erfährt jedoch Veränderungen. Die Abspaltungen in den Strophen 2 und 4 werden vom Sänger und Pianisten gemeinsam ausgeführt, wobei das Klavier die Melodie um eine Terz überhöht. In der Bearbeitung verweilt das Zwischenspiel um einen Takt länger auf dem D-Dur-Akkord, wodurch das eigentümliche Changieren zwischen Dur und Moll zusätzlich betont wird. In der nächsten Doppelstrophe vermengt Liszt Melodie und Begleitung: Der Nachtigallenschlag erklingt nun eine Oktave tiefer (quasi Violoncello), wodurch sich die Zwischenspiele in originaler Tonlage merklich abheben. Anstatt nun wie in der Vorlage direkt in die Schlussstrophe überzugehen, folgt in der Transkription erneut das Klavierzwischenspiel. In der leichteren Ossia-Fassung mündet dieses in einen frühzeitigen Schluss. Wer die längere Version wählt, findet sich nach dem Intermezzo in einer Variation der ersten Strophe mit Echo-Effekt wieder, wodurch die Musik scheinbar aus verschiedenen Räumen ertönt. Dieses zarte Echo beeinflusst die Taktstruktur: Während die Phrasen bislang eine Gliederung von 4+2 Takten aufwiesen, entfallen die beiden reinen Instrumentaltakte zugunsten stringenteren Voranschreitens. Gleichzeitig übermittelt Liszts Neuerung, dass das Werben im Kanon in der Oktave auf Gehör zu stoßen scheint.

18

Dürr/Kube/Schweikert/Steiner (Hg.), Schubert Liedlexikon, S. 817.

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Liszt, Ständchen (Schubert), T. 67–76

Die spielerischen Echos setzen sich auch in Liszts Bearbeitung der Schlussstrophe fort, in der Schubert das Klavier in Engführung auf den Gesang reagieren lässt (T. 62 ff.). Die klangvollen Terzen und Sexten beim Anruf „Komm, beglücke mich“ scheinen bei Liszt eine „ekstatische Wiedervereinigung“ zu imaginieren, die Schuberts leise Hoffnung auf Erfüllung in eine freudige Gewissheit wandelt.19 In der NLA kann der Interpret nach Belieben eine Kadenz, „welche der Meister bei seinem Vortrag des ‚Ständchen’s‘ zu spielen pflegte“, anstelle des chromatischen Laufes in Takt 106 einfügen.20

19 20

Vgl. dazu Kregor, Liszt as transcriber, S. 77. NLA, Serie II, Bd. 21, S. 53. August Stradal bemerkte dazu: „So spielte er seine Bearbeitung von Schuberts Lied ‚Leise flehen meine Lieder‘ (Ständchen) mit einer Kadenz, welche in dem gedruckten Exemplar nicht vorhanden ist.“ Stradal, Erinnerungen, S. 123. Diese Kadenz wurde von Lina Ramann und August Stradal im Liszt-Pädagogium (Breitkopf & Härtel) veröffentlicht.

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IV Schuberts Liederzyklen neu komponiert

Liszts Kadenz zum Ständchen

Für Liszts Geschmack scheinen solche Varianten eine Notwendigkeit gewesen zu sein, um der Gefahr von „Langeweile“ zu entgehen: „Liszts Hausgott war Schubert, den er tief verehrte, wenn er auch nicht alle seine Werke auf gleiche Höhe stellte. Oft sagte er, Schubert ‚jodelt‘ manchesmal, sowohl in einzelnen Liedern, z. B. im ‚Mein‘ und auch in manchen Klavierkompositionen. Durch viele Wiederholungen werde oft das Schönste bei Schubert langweilig, so bei dem G-Dur-Impromptu, deshalb habe er eine Variante der Begleitung in der linken Hand gemacht.“21

21

Stradal, Erinnerungen, S. 74 f. Gemeint ist das Impromptu Ges-Dur (D 899/3). Vgl. dazu das Notenbeispiel in dieser Arbeit, S. 303.

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Ihr Bild als langsame Einleitung zu Frühlingssehnsucht Mit der Aneinanderkopplung der gegensätzlichen Lieder Ihr Bild und Frühlingssehnsucht erreicht Liszts gestalterisches Eingreifen in den Schwanengesang einen Höhepunkt. Die Heine-Vertonung wirkt dadurch wie eine langsame Einleitung zum stürmischen Gegenpart. Als wollte der Pianist dem Sänger den Anfangston soufflieren, erklingt bei Schubert zu Beginn zweimal der Grundton von b-Moll. Liszts Bearbeitung setzt hingegen direkt mit dem beklemmenden Unisono ein, das die dunklen Träume umschreibt. Dem mittleren Verspaar „Um ihre Lippen zog sich ein Lächeln, wunderbar, Und wie von Wehmutstränen erglänzte ihr Augenpaar“ fügt er in der rechten Hand eine überhöhende Gegenstimme bei, die zunächst die Melodie in der linken Hand zu imitieren scheint. In Takt 15 (teneramente) geht die Gesangslinie kurzfristig verloren, da sowohl Schuberts Kontrapunkt wie auch die Verselbständigung von Liszts zusätzlicher Stimme überhand nehmen. Noch verstrickter gestaltet sich Takt 19, wo die Melodie in der linken Hand in der zweitobersten von vier Stimmen verborgen ist. Zum wiederkehrenden Unisono ab Takt 23 gesellen sich fakultative kontrapunktische Gegenstimmen.

Liszt, Ihr Bild (Schubert), T. 20–27

Liszts Version endet auf einem öffnenden Halbschluss in F-Dur. Anstatt die Kadenz in die b-Moll-Tonika münden zu lassen, folgt die B-Dur-Einleitung von Frühlingssehnsucht. Dieser nahtlose Übergang in ein hoffnungsvolles Sehnen tröstet über den schmerzlichen Verlust hinweg. Schuberts Fermate über dem As-Dur-Akkord zur Frage „Wie habt ihr dem pochenden Herzen getan?“ wird von Liszt auskomponiert und um zwei Takte erweitert. Die Antwort „Es möchte euch folgen auf luftiger Bahn!“ erfolgt in einem fortissimo energico, die Wiederholung erklingt sogar um eine Terz überhöht. Die jeweils letzten Verszeilen der fünf Strophen bestehen aus den wiederholten Ausrufen: „Wohin? Wohin?“, „Hinab? Hinab?“, „Warum? Warum?“, „Und du? Und du?“, die ihre Antwort im „Nur du! Nur du!“ der finalen Strophe finden. In der Bearbeitung werden diese innehaltenden Rufe durch Arpeggien und Fermaten versehen. Liszt führt mit einer aus drei staccatierten Achteln bestehenden capriccioso-Figur, die den Ton Es im Oktavabstand auf- und absteigen lässt, ein neues spielerisches Element ein, das sich später in abgewandelter Form auch in der ersten Forelle-Fassung wiederfindet.22 Nach den Zeilen „So dränget sich alles zum bräutlichen Licht; es schwellen die 22

Ebd., S. 166.

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IV Schuberts Liederzyklen neu komponiert

Keime, die Knospe bricht; sie haben gefunden, was ihnen gebricht: und du? und du?“ kann sich Liszt einen musikalischen Kommentar nicht verkneifen: Im Klavierzwischenspiel verwandelt er Schuberts verminderten Septimenakkord über E enharmonisch zu Ais-Cis-E-Fisis und leitet Fisis in den Terzton Gis von E-Dur. In Takt 105 folgt erneut der verminderte Septimenakkord, diesmal allerdings mit G, und wird überraschend nach b-Moll aufgelöst. Das kapriziöse Motiv bekräftigt die chromatische Modulation nach F und führt zurück in die Ausgangstonart B-Dur.

Liszt, Frühlingssehnsucht (Schubert), T. 96–111

In den letzten Takten weicht der Bearbeiter nochmals erheblich von der Vorlage ab. Der Pointe des Liedes, „Nur du befreist den Lenz in der Brust“, verlieh Schubert eine neue Melodielinie, die sich bis zum Spitzenton A’’ hinaufschwingt. Die Transkription indes beruft sich ab Takt 140 auf die Klavierbegleitung, die sich von der Melodie zu emanzipieren scheint und fanfarengleich die Liebeserklärung verkündet. Frei ist auch die Behandlung der Verszeile „Nur du, nur du!“, worin Liszt Schuberts Akkorde ausdehnt und mit der capriccioso-Figur versieht. Chromatisch aufsteigende Akkorde als letzte Steigerung (animato) stehen im Gegensatz zum abschließenden Diminuendo des Liedes. Liebesbotschaft als Liebestraum Sowohl die Liebesbotschaft als auch das Lied Wohin? aus Die schöne Müllerin besingen den Bach als Weggefährten und Überbringer von Nachrichten. Nicht nur inhaltlich sind die beiden Lieder miteinander verwandt, sie ähneln sich auch in ihrem musikalischen Gestus und stehen beide in G-Dur. Liszts Liebesbotschaft erklingt während zwei Strophen in Tenorlage und muss geschickt auf beide Hände aufgeteilt werden, damit Schuberts virtuose Begleitung in die Klavierversion übernommen werden kann. Mit dolce amorosamente und pp armonioso umschreibt er

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die zweite Strophe in C-Dur („All ihre Blumen, im Garten gepflegt, Die sie so lieblich am Busen trägt“). Als Textausdeutung ist auch das Ritenuto der ersten acht Takte der dritten Strophe zu verstehen („Wenn sie am Ufer in Träume versenkt, meiner gedenkend das Köpfchen hängt“). In dieser entrückten, zwischen Moll und Dur pendelnden Passage hat die Melodie die Oberhand gewonnen, die Begleitstimmen sind sotto voce untergeordnet. Zur hoffnungsvollen Aussicht, dass ein baldiges Wiedersehen zwischen den Liebenden greifbar wird, belebt sich die Musik erneut: Schuberts entrücktes H-Dur wird in der Klavierfassung mit einer doppelten, auf beide Hände verteilten Begleitung versehen (appassionato con tenerezza).

Liszt, Liebesbotschaft (Schubert), T. 39–44

Nach diesem klangvollen Ausbruch kehren in einer Art Wiegenlied die leisen Töne zurück. Die rechte Hand muss nun weite Dezimengriffe, die linke Hand wellenförmige Akkordbrechungen bewältigen. Arpeggien erinnern an die Harfenklänge der Nixen in Wohin?. Ein erneutes Rallentando zur Abspaltung der Textzeile „flüstre ihr Träume der Liebe zu“ verzögert das Erwachen aus dem Traum. Das um zwei Takte verlängerte Nachspiel erinnert an das auskomponierte Weiterwandern des Müllergesellen.23 Gleich einem Glockenschlag ertönt in der Bearbeitung sechsmal ein D in Oktaven auf die dritte Zählzeit. Beim letzten Schlag löst sich der Quintton kadenzartig in den Grundton auf, was gleich darauf im Bass nochmals bekräftigt wird. Des Atlas Liebesleid Dem Liebesgruß in G-Dur schließt sich der Leidensweg der mythologischen Figur Atlas an. Diesen hatte Zeus als Strafe für seine Teilnahme am Kampf der Titanen gegen die Götter dazu verdammt, den Himmel für alle Zeiten auf seinen Schultern 23

Vgl. dazu diese Arbeit, S. 137 f.

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IV Schuberts Liederzyklen neu komponiert

zu tragen. Der Klagegesang des Atlas über die unerträgliche Last und seine nie endenden Schmerzen dient Heine als Metapher für das Liebesleid. Aus einer Doppelgänger-Perspektive heraus gibt er die tragische Szene mit ironischer Brechung wieder. Schubert verwandelt das aus zehn sehr unregelmäßig gebauten Verszeilen bestehende Gedicht durch zahlreiche Abspaltungen in eine A-B-A’-Form. Die Begleitung der Rahmenteile besteht aus einem groß angelegten, den Weltschmerz zum Ausdruck bringenden Tremolo, das in der Lisztschen Fassung allerdings erst im A’-Teil zum Tragen kommt.24 In den Takten 1–17 wählt Schubert eine Sextolenbegleitung mit chromatischer Umspielung des Quinttones. Sie wird von beiden Händen parallel ausgeführt, wobei die jeweils unterste Stimme den charakteristischen Bass enthält. Dieser markiert den prominenten übermäßigen Dreiklang B-D-Fis, der in der Einleitung nicht nur den Schmerzen des Atlas Ausdruck verleiht, sondern auch für metrische Verwirrung sorgt. Liszt verstärkt von Anfang an sowohl die Begleitung wie auch die Melodie. Letztere erscheint in beiden Händen als Oktaven und mit fortissimo e marcatiss. sempre überschrieben. Einen ersten Höhepunkt markiert die Vertonung der Zeilen „Ich trage Unerträgliches, Und brechen will mir das Herz im Leibe“. Schubert verleiht dem Unmöglichen durch eine kühne harmonische Fortschreitung Ausdruck. Von g-Moll rückt er chromatisch in den verminderten Septimenakkord Gis-H-D-F vor, der sich in Takt 18 auf den letzten Viertel überraschend durch einen übermäßigen Sekundschritt in der Melodie zu Eis-Gis-H-D und somit zur Doppeldominante von h-Moll wandelt. Die Klavierfassung mündet an gleicher Stelle bereits in den H-Dur-Akkord, den Schubert erst zwei Takte später eintreten lässt. Den ironisch anmutenden Mittelteil in H-Dur lockert eine tänzerische Triolenbegleitung auf. In der Melodie (fieramente  „Du stolzes Herz“) nimmt sich Liszt einige Freiheiten heraus, wie etwa den Verzicht auf den Nonenvorhalt Cis in Takt 28 oder die rhythmischen Veränderungen in Takt 30. Der Gegensatz zwischen „unendlich glücklich, oder unendlich elend“ tritt in der Bearbeitung nicht durch ein Absinken ins pp zutage, sondern wird mit chromatischen Läufen hervorgehoben (T. 31 ff.). Die Modulation zurück nach g-Moll und die Passage „jetzo bist du elend“ nutzt Liszt vollumfänglich zu eigenständiger Ausdeutung aus.

24

Ein vereinfachendes Ossia beruft sich bereits von Beginn an auf das Tremolo des Liedes.

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Liszt, Der Atlas (Schubert), T. 36–40

Minimalistischer Doppelgänger Schubert hat kein beklemmenderes und radikaleres Lied geschrieben als den Doppelgänger. Eine karge, in sich kreisende Begleitung steht einer Melodie gegenüber, die sich fast rezitierend um den Quintton Fis der Grundtonart h-Moll bewegt. Die Basis bildet ein Ostinato im Passacaglia-Stil aus vier Akkorden: Ein leerer QuintOktavklang über H schreitet chromatisch in den Sextakkord von Fis-Dur, worauf eine Tonika in erster Umkehrung ohne Grundton erklingt. Die Phrase wird mit einer öffnenden Dominante ohne Terzton komplettiert, die wiederum in die Tonika des neuen Viertakters leitet. Das Besondere an diesem zwischen Tonika und Dominante pendelnden Vorspiel ist die von der Sopranstimme gezeichnete Linie, deren Abfolge H-Ais-D-Cis an das B-A-C-H-Motiv erinnert.

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Schubert, Der Doppelgänger, T. 1–6

Liszt reduziert diese minimalistische, an den Leiermann gemahnende Begleitung in seinem Doppelgänger zunächst auf drei statt fünf Stimmen. Das allmähliche Hinzufügen der Stimmen dient in dieser auffallend notengetreuen Transkription der Steigerung. Ab Takt 15 wird die chromatische Begleitstimme durch die Notation in einem eigenen System besonders hervorgehoben. An dieser Stelle überhöht sie die Melodie, die ihrerseits fast wie gesprochen wirkt (declamato pp sotto voce).

Liszt, Der Doppelgänger (Schubert), T. 9–22

Erst in der zweiten Strophe der Transkription ist die Begleitung vollstimmig, der Gesang in Oktaven verstärkt. Den Worten „vor Schmerzensgewalt“ unterlegt Schubert den übermäßigen Terzquartakkord Fis-Ais-C-E mit tiefalteriertem Quintton C im Bass (T. 32) und steigert diese Passage bis zum forte fortissimo. Beim zweiten Ausbruch in Takt 41 wird dem lyrischen Ich bewusst, dass es sich beim händerin-

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genden Menschen um seine eigene Person handelt. Die Melodie erklimmt an dieser Stelle den Spitzenton G’’, den die Begleitung im nächsten Takt zu einem Fis abwandelt. Der Schlussstrophe fügt Liszt eine alternative Tremolo-Begleitung hinzu. Lässt man diese unberücksichtigt, folgt er streng den ganztaktigen Notenwerten des chromatisch voranschreitenden Basses. Schuberts kühne Harmonien dürften Liszt beeindruckt haben: In Takt 47 („was äffst du nach“) ist ein dis-Moll-Akkord erreicht, dem die Dominante in Ais-Dur („Liebesleid“) folgt. Mittels des übermäßigen Quintsextakkordes G-H-D-Eis moduliert das Lied zurück in die Ausgangstonart hMoll. Zum Schluss ertönen nochmals die Einleitungsakkorde, die sich nun überraschend nach C-Dur wenden, von dort in einen H-Dur-Septimenakkord übergehen und schließlich in reinem H-Dur verklingen. Treuegelöbnis Taubenpost? Liszts verspielte Bearbeitung der Taubenpost mit ihrem überquellenden Variantenreichtum mutet nach dem reduzierten Klaviersatz des Doppelgängers besonders üppig an. Seidls letzte Gedichtzeilen enthalten die Quintessenz, denn erst hier wird dem Leser bewusst, dass es sich bei der Brieftaube um eine Metapher handelt: „Sie heißt: die Sehnsucht – kennt ihr sie?“ Schubert führt die entsprechende musikalische Passage von C-Dur über E-Dur nach A-Dur („Sehnsucht“). In der Transkription erscheinen fermatenähnliche „Ruhepunkte“25 und Verzögerungen, um die Wirkung des im Lied soeben gelüfteten Geheimnisses zu verstärken. Die Wiederholung der gesamten Strophe gestaltet sich hier als ein animato con fuoco mit virtuosen Akkordbrechungen. Liszts zusätzliche Takte vor der allerletzten Auflösung in die Tonika sind ein Indiz dafür, dass er Schuberts Lied kommentiert. Vielleicht stellt die Molltrübung der bis ins höchste Register aufsteigenden Figuration, die in ein Tremolo mit weiten Sprüngen im Bass mündet, das Treuegelöbnis in Frage?

25

Vgl. NLA, Serie II, Bd. 21, S. 84.

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Liszt, Taubenpost (Schubert), T. 102–112

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Kriegers Ahnung – verzweifelte Schlussnummer „Bald ruh ich wohl und schlafe fest, Herzliebste – gute Nacht!“

Mit diesen beiden Zeilen aus Rellstabs Feder endet Liszts Schwanengesang. Sie werden von einem Soldaten gesprochen, dessen Gedanken am Vorabend einer Schlacht zurück zu seiner Geliebten schweifen, wobei ihm eine unheilvolle Vorahnung seinen eigenen Tod verkündet. Sowohl durch den ausweglosen Stimmungsgehalt wie auch durch die Tonart c-Moll und die bedeutungsvolle Positionierung des verminderten Septimenakkordes schließt sich der Kreis zum Eröffnungslied. Schubert charakterisiert das Vorspiel durch auffällige Doppelpunktierungen in der Begleitung und ein unheimliches pp. Liszts Harmonien haben einen größeren Ambitus und verdoppeln den sensiblen Terzton. Ahnungsvoll hebt seine Melodie in Tenorlage an und betont mit dem Oktavsprung A-a innerhalb des verminderten Septakkordes zur Dominante das Wort „Waffenbrüder“. Die Schubertschen Harmoniefolgen entsprechen den schweifenden Gedanken des Soldaten. Sehnsuchtsvoll möchte sich die Musik ins terzverwandte Es-Dur wenden, doch wiederum mündet der Effort in eine verminderte Harmonie (T. 21). Diesen spannungsvollen Akkord A-C-Es-Ges, der als Trugschluss erreicht wird, lässt Liszt wie im Lied über vier Zählzeiten erklingen. Erst die Auflösung mittels einer Dominante zum vorenthaltenen B-Dur-Akkord sowie den Übergang in den charakteristischen übermäßigen Quintsextakkord fächert er virtuos auf und lässt die Stelle in einer Generalpause verebben. Ebenfalls über einen Trugschluss wird die neue Tonart As-Dur erreicht, welche die Träume des Protagonisten reflektiert. Liszt interpretiert diese Takte con amore und arpeggiert. Kleine Fermaten an den Phrasenenden scheinen das Atemholen des Sängers zu imitieren. Doch die pochenden Repetitionen im Bass ab Takt 44 bereiten der erträumten Idylle ein vorzeitiges Ende. Des wandelt sich enharmonisch zu Cis, die Melodie verbirgt sich unter chromatischen Sechzehntel-Figuren. Die Liebesglut verwandelt sich in die düsteren Flammen des Lagerfeuers, dessen fahler Schein sich in den Waffen reflektiert. Liszt zerstäubt die beiden fis-Moll-Akkorde auf die Worte „düstrer Schein“ und „Waffen“ zu ungestümen Skalen. Um die Einsamkeit des Kriegers zu veranschaulichen, entfernt sich das Lied noch weiter von den bislang durchschrittenen Harmonien. Allein der 49. Takt enthält drei verschiedene Akkorde, die durch chromatische Veränderung erreicht werden: Schubert schreitet vom fis-Moll-Akkord mit Terz im Bass zum übermäßigen Dreiklang F-A-Cis hin zu einem F-Dur-Sextakkord, der sich im Folgetakt nach aMoll wandelt („ganz allein“). Noch eindringlicher gestaltet sich die harmonische Fortsetzung, in der sich die Akkorde a-Moll und f-Moll gegenüberstehen (T. 52 f.). Liszt versieht diese prägnante Passage, die von der emotionalen Isolation des Soldaten kündet, mit zwei virtuosen chromatischen Terzgängen.

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IV Schuberts Liederzyklen neu komponiert

Liszt, Kriegers Ahnung (Schubert), T. 52–54

F-Moll vermag sich in den nächsten Takten als Tonika zu etablieren, weshalb der Ges-Dur-Sextakkord auf die Silbe „Weh“(-mut) in Takt 55 als neapolitanischer Sextakkord wahrgenommen wird. Die dritte Strophe kommt als aufgewühlte Passage im 6/8-Takt daher. In der Klavierbearbeitung wirkt sie noch unruhiger, da die Sextolenfigur von beiden Händen verdoppelt wird (molto animato con agitazione). Eine Steigerung bis ins fortissimo begleitet den Schlachtruf, wobei sich die Sextolen über mehrere Register verselbständigen. Nach diesem Ausbruch fügt Liszt eine Generalpause ein, die der nachfolgenden Zeile „Bald ruh ich wohl“ eine fast gespenstische Wirkung verleiht. In dem Moment, wo der Krieger ein letztes Mal an seine Geliebte denkt („Herzliebste, gute Nacht!“), lässt Schubert nochmals die Tonart As-Dur aufscheinen (T. 108 ff.). Wenige Takte später wandelt sich der As-Dur Septimenakkord in einen übermäßigen Quintsextakkord, der die Wiederholung der letzten Verszeile zurück nach c-Moll führt. In der Klavierbegleitung erklingt nochmals das leicht abgeänderte Vorspiel, während die Singstimme um den leeren Quintton kreist. Liszts Fassung verklingt sotto voce mit einem letzten verzweifelten Aufbäumen in Gedanken an die „Herzliebste“. Liszts Schwanengesang, der zwischen Hoffnung und Resignation pendelt, endet in düsterster Stimmung. Beim Vergleich mit dem lyrischen Ich, das seine Ge-

Pianistische Neuinszenierung der Winterreise

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liebte verliert, drängen sich Parallelen zu Liszts privater Krisensituation der Jahre 1838/39 auf. PIANISTISCHE NEUINSZENIERUNG DER WINTERREISE Im Urania Almanach auf das Jahr 1823 wurden die ersten zwölf Gedichte aus der „Winterreise“ unter folgendem Namen veröffentlicht: „Wanderlieder von Wilhelm Müller. Die Winterreise. In 12 Liedern“. Zehn weitere Winterreisegedichte erschienen daraufhin in den „Deutschen Blättern für Poesie, Literatur und Theater“. Erst 1824 wurden sie zu einem Zyklus zusammengefasst und um zwei Gedichte („Die Post“ und „Täuschung“) erweitert. Daraus resultierte das zweite Bändchen der „Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten. Lieder des Lebens und der Liebe. Dem Meister des deutschen Gesanges Carl Maria von Weber als Pfand seiner Freundschaft und Verehrung gewidmet von dem Herausgeber“.26 Schubert fühlte sich von den Texten unmittelbar angesprochen und vertonte sie im Todesjahr Wilhelm Müllers. Seine Vorstellung des Wanderns hatte nichts mehr mit dem traditionellen Gedankengut von Aufbruch und Ziel zu tun; Schuberts Musik schreitet scheinbar ziellos umher und bewegt sich im Kreise. Während der Müllerbursche aus Die schöne Müllerin im Tod Erlösung findet, ist sein Leidensgenosse aus der Winterreise zum orientierungslosen Umherirren verurteilt. Auch Liszt identifizierte sich mit Schuberts Wanderer, fühlte er sich doch als reisender Pianist selbst entwurzelt. In seinem Œuvre spiegelt sich die eigene unruhige Wanderschaft, darunter etwa in den Années de pèlerinage. Aus Schuberts 24 Nummern umfassender Winterreise hat er eine Auswahl von 12 Liedern getroffen und diese ganz neu zusammengestellt. Auffällig ist, dass viele Lieder in Moll entfallen (das Original besteht zu zwei Dritteln aus Moll-Kompositionen) und ein möglichst ausgewogener Wechsel der beiden Tongeschlechter anstrebt wird. Eine bemerkenswerte Lücke entsteht durch das Weglassen der Nummern 7–12, worunter sich die verweilenden Lieder Rückblick und Rast befinden. In dieselbe Kategorie lässt sich auch der Frühlingstraum einordnen, die einzige der acht Dur-Kompositionen in Schuberts Winterreise, die Liszt nicht transkribiert hat. In seinem Konzept scheint es keinen Raum für Rast und Träume zu geben. Das Lied Im Dorfe betont dies gegen Ende der pianistischen Winterreise nachdrücklich: „Ich bin zu Ende mit allen Träumen, was will ich unter den Schläfern säumen?“. Auch schwermütige Klagegesänge wie etwa die drei aufeinanderfolgenden Lieder Der greise Kopf, Die Krähe und Letzte Hoffnung mit ihren ausweglosen Texten („wie weit noch bis zur Bahre“ und „wein auf meiner Hoffnung Grab“) werden ausgeklammert. Zwar hat Liszt durchaus einige melancholische Gesänge wie etwa die Nebensonnen, Wasserflut und den Leiermann bearbeitet. Die letzten beiden erscheinen jedoch auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Länge reduziert und nie folgen mehrere resignierende Lieder nacheinander. Die trotzig-rebellierenden Ausbrüche (allen voran in Mut und Der stürmische Morgen) nehmen den Faden immer wieder auf und treiben Liszts Wanderer vorwärts. 26

Zit. in: Budde, Schuberts Liederzyklen, S. 70. Dass Schubert zunächst nur die Gedichte der Urania-Ausgabe kannte und erst im Spätsommer 1827 auf die restlichen zwölf Dichtungen stieß, muss bei der Entstehungsgeschichte des musikalischen Zyklus berücksichtigt werden.

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IV Schuberts Liederzyklen neu komponiert

Wie bereits für die 12 Lieder und den Schwanengesang aufgezeigt wurde, kann auch diese einschneidende musikalisch-kompositorische Umgestaltung mit ihrem rebellischen Charakter in direkten Bezug zu Liszts Lebenssituation gebracht werden. Die Entstehungszeit der Winterreise-Transkriptionen war geprägt von Spannungen mit seiner Lebensgefährtin Marie d’Agoult, für die Liszt in den SchubertBearbeitungen ein Ventil fand. Liszts Winterreise gestaltet sich folgendermaßen (in Klammern die Reihenfolge und abweichenden Tonarten bei Schubert): 1. Gute Nacht (1) 2. Die Nebensonnen (23) 3. Mut (22) 4. Post (13) 5. Erstarrung (4) 6. Wasserflut (6) 7. Der Lindenbaum (5) 8. Der Leiermann (24) 9. Täuschung (19) 10. Das Wirtshaus (21) 11. Der stürmische Morgen (18) 12. Im Dorfe (17) (11.) Der stürmische Morgen

d-Moll B-Dur (A-Dur) g-Moll (ursprünglich a-Moll) Es-Dur c-Moll e-Moll E-Dur a-Moll (ursprünglich h-Moll) A-Dur F-Dur d-Moll D-Dur d-Moll

Eine solch einschneidende Modifizierung kommt einer „Relektüre“ der literarischen Vorlage gleich. Denn obwohl den Winterreise-Gedichten keine strikt zusammenhängende Handlung zugrunde liegt, besteht der Zyklus nicht bloß aus einer lockeren Fügung einzelner Bilder und Empfindungen. Die verschiedenen Wanderetappen und Stimmungsschwankungen sind mit fortschreitender Geschichte deutlich erkennbar: In der Nacht verlässt der betrogene Liebhaber das Haus der Geliebten und zieht zur Stadt hinaus. Vorbei an der Linde vor dem Stadttor wandert er dem vereisten Bach entlang. Dem Bergstrom durch tiefe Felsengründe folgend, gelangt er in das Haus eines Köhlers, wo er Obdach findet. Doch es treibt ihn weiter wie eine trübe Wolke, und er zieht seine Straße dahin. Das unvermutet erklingende Posthorn der Kutsche aus der Stadt bringt nur einen kurzen lichten Moment. Der Wanderer kommt an Herbstbäumen vorbei, deren letzte Blätter zu Boden fallen. Bei Nacht betritt er ein Dorf und wird wiederum von bellenden Hunden verjagt. Der anbrechende Morgen beginnt stürmisch. Ein Irrlicht lockt den Jüngling zu einem vermeintlich hellen, warmen Haus „mit einer lieben Seele drin“, doch leider handelt es sich nur um eine Täuschung. Viel begangene Wege meidend, sucht er sich versteckte Stege durch verschneite Felsenhöhn. Schließlich kommt er auf einen Friedhof, der ihn jedoch nicht aufnimmt. Hinter dem Dorf begegnet er einem Leiermann, dem Endpunkt seiner Reise. Auch Liszt beginnt seine Winterreise mit dem Eröffnungslied Gute Nacht. Doch bereits das zweite Lied, die Wetterfahne, lässt er unberücksichtigt, weil es möglicherweise nicht zu seiner eigenen Lebenssituation passt: In diesem Gedicht nimmt die Angebetete einen reichen Mann zum Bräutigam. Liszts Beziehung zu

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Marie ist jedoch nicht am Standesunterschied zwischen den beiden zerbrochen. Stattdessen folgt das bei Schubert an zweitletzter Stelle platzierte Lied Die Nebensonnen. Ein Grund mag in der Kontrastbildung zur Eröffnungsnummer liegen: Erst bei Tag und durch die ihn anstierende(n) Sonne(n) beginnt der betrogene Liebhaber zu realisieren, was er in der vergangenen Nacht endgültig verloren hat. Über das reflektierende Lied Gefrorne Tränen setzt sich Liszt hinweg und stellt dem Weltschmerz seiner Nebensonnen die trotzige Suche nach neuen Perspektiven im Lied Mut (ohne Ausrufezeichen) gegenüber, wobei seine Anordnung spiegelverkehrt zur Schubertschen und inhaltlich logischer erscheint. Schuberts Mut! stand ursprünglich in a-Moll und wurde wohl, gleich dem in h-Moll intendierten Leiermann, vom Verleger Haslinger um eine große Sekunde nach unten transponiert.27 Liszt bedient sich ebenfalls der Transposition, um eine planvolle harmonische Disposition zu erwirken. Seine Nebensonnen in B-Dur verhalten sich mediantisch zu den Liedern Gute Nacht und Mut. Die Post reiht sich mit der Horntonart Es-Dur ebenfalls nahtlos in diesen Terzgang ein, der in Erstarrung fortgesetzt wird. Diese neugestifteten Zusammenhänge kompensieren originale Verflechtungen (etwa in der Trias Erstarrung – Der Lindenbaum – Wasserflut), die durch die geänderte Abfolge entfallen.28 Mit Wasserflut in e-Moll stellt sich die erste Unregelmäßigkeit in der harmonischen Disposition ein. Erstmals treffen zwei Moll-Tonarten aufeinander. Hätte Liszt der Schubertschen Anordnung Folge geleistet, wäre die Kontinuität mit dem Anschluss des in E-Dur stehenden Lindenbaums in jeder Hinsicht gewährleistet gewesen.29 Dieser erscheint jedoch erst nach der Wasserflut, die sowohl inhaltlich wie auch musikalisch einen Kontrast zur Erstarrung bildet. Liszt scheint seinen Lindenbaum bewusst an siebter Stelle zu positionieren, denn dadurch rückt dieses „Schlüssellied“ mit seiner Verlockung zum Suizid genau in die Mitte seines Zyklus. Dass sich E-Dur sekundverwandt zu d-Moll, der vorherrschenden Tonart in der Winterreise, verhält, unterstreicht den träumerischen Charakter des Liedes auch auf tonaler Ebene. Einen schwerwiegenden Eingriff stellt Liszts Entschluss dar, das Lied Der Leiermann auf seine Lindenbaum-Transkription folgen zu lassen und den Schubertschen Epilog somit vollständig in den Ablauf zu integrieren. Auch inhaltlich ist diese Neugestaltung von höchster Konsequenz. Der resignierende Leiermann, den keiner hören und ansehen mag, erscheint hier nicht am Ende, sondern mitten im Zyklus. Liszts Transkription bricht nach nur zwei Strophen ab und geht nahtlos in das Lied Täuschung über. Doch weder die Illusion noch der besetzte „WirtshausFriedhof“ lassen seinen Wanderer verzagen. Das letzte Wort erhält Der stürmische Morgen, was wohl die markanteste Änderung dieser neu interpretierten Winterreise ist. Liszt fasst die beiden Lieder Der stürmische Morgen und Im Dorfe zu einer Bogenform (A-B-A’) zusammen, ein 27 28 29

Vgl. ebd., S. 72. Budde vermutet, dass der Verleger aus stimmlagentechnischen Gründen gehandelt habe. Siehe dazu diese Arbeit, S. 124 ff. Der Lindenbaum erscheint bei Schubert im Anschluss an eine Serie von vier Moll-Liedern. Die Wirkung im Zusammenhang kommt dadurch einer entrückten Vision gleich.

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Verfahren, das er später auch in Die schöne Müllerin wieder aufgreifen wird. Zum einen stellt sich durch die Reprise von Der stürmische Morgen beim Hörer sofort ein Wiedererkennungseffekt ein. Dieses Wiederaufgreifen in Kombination mit der Kopplung zweier Lieder wirkt zudem dramaturgisch wie eine Schlusssteigerung. Dass ein solch effektvolles Finale für den Virtuosen Liszt weit wirkungsvoller als der in sich kreisende Leiermann ist, liegt auf der Hand. Durch die Reprise schließt sich auch der Tonartenkreis zum Eröffnungslied, was den gesamten Zyklus abrundet.30 Auf die Nacht des Anfangs folgt der (wenngleich stürmische) Morgen. Der Klaviervirtuose gibt nicht dem Leiermann das letzte Wort, sondern dem sich in der Natur spiegelnden Kampf der Seele: „Mein Herz sieht an dem Himmel gemalt sein eignes Bild, es ist nichts als der Winter, der Winter kalt und wild.“ Bei Liszt steht folglich nicht das Ende am Schluss, sondern ein Neuanfang ohne Suizidgedanken. Gute Nacht – kapriziöse Klaviervariationen Bereits das erste gesungene Wort offenbart das Motto der gesamten Winterreise: „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus.“ Doch dieses semantisch stark konnotierte Schlüsselwort setzt als verfrühter Auftakt in metrisch schwacher Senkung ein. Schuberts Sänger muss somit schon vom ersten Ton an gegen das Metrum kämpfen. Die absteigende kleine Terz F-E-D, mit der die Melodie anhebt, ist eigentlich eine dem Seufzermotiv verwandte Schlussfloskel.31 Auch die starr durchlaufenden Achtel der Begleitung erwecken den Eindruck, als handle es sich hier gar nicht um einen Anfang, geschweige denn um ein Eröffnungslied. Dieser für einen Liederzyklus höchst ungewöhnliche Beginn erklingt bei Liszt im tiefen, düster-resonierenden Bassregister. Da das ganze Vorspiel um eine Oktave nach unten versetzt ist, hebt sich die in Takt 7 in Originalhöhe einsetzende Melodie (parlante) deutlich von der Klavierbegleitung ab. Die Passage in F-Dur mit der Erinnerung an vergangene Tage („das Mädchen sprach von Liebe, die Mutter gar von Eh“), notiert Liszt auf drei Systemen. Beim Wechsel nach Moll setzt er die Melodie in Oktaven und durchwandert somit bereits in der ersten Strophe die ganze Palette von Klavierregistern. Es ist unklar, ob bei Liszt nun die zweite oder dritte Strophe folgt, denn in seiner Bearbeitung entfällt eine davon. In Takt 39 verschiebt sich der Auftakt um ein Sechzehntel nach vorne, was eine Kettenreaktion auslöst, in deren Folge alle Hauptnoten synkopiert und mit nachschlagender Oktave erklingen. Die Stelle ist mit capricciosamente überschrieben und könnte die Textgrundlage „Ich kann zu meiner Reisen nicht wählen mit der Zeit“ ironisch kommentieren:

30 31

Auch hierin unterscheiden sich die beiden Winterreisen wesentlich voneinander. Schuberts Zyklus endet offen, es gibt bei ihm weder einen Ausweg noch eine Verbindung zum Anfang. Budde, Schuberts Liederzyklen, S. 94.

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Liszt, Gute Nacht (Schubert), T. 36–40

Ab Takt 48 setzt ein neues Figurenwerk mit Triolen und chromatischen Mittelstimmen ein, was sich klangmalerisch auf den „Mondenschatten“ oder zynisch auf die Feststellung „die Liebe liebt das Wandern“ beziehen könnte. Die Dominante in Takt 70 löst sich erst nach einer eintaktigen Generalpause, welche die wegfallende Strophe kompensiert, auf. Während Schubert das starre Begleitmuster aus Achteln konsequent weiterführt, unterlegt Liszt der Melodie der Schlussstrophe eine flirrende Triolen-Begleitfigur. Zunächst webt er über zwei Takte einen zarten Teppich im Quint-Oktav-Klang („will dich im Traum nicht stören“). Die Singstimme erscheint, wie von einer dritten Hand gespielt, in Mittellage und wird von gebrochenen Akkorden umrankt.

Liszt, Gute Nacht, T. 72–75

Das Lisztsche Nachspiel ist mehr als doppelt so lang wie seine Vorlage und mit unruhigen Synkopen und der Anweisung un poco più animato versehen. Nach dem Verklingen im ppp morendo erscheint gleich einem Nachwort der Melodiekopf in einer abwärts geführten Linie, die im wiederholten Ton D endgültig versiegt. Dieses Zitat der Eröffnungsphrase schlägt den Bogen zurück zum Anfang. Die Nebensonnen weitergedichtet Die Nebensonnen-Transkription ist einer der seltenen Fälle, in denen Liszt die Vorlage nicht kürzt, sondern verlängert und dadurch gewissermaßen weiterdichtet. Der Inhalt des Gedichtes scheint ihn dazu veranlasst zu haben, in diesem Trauergesang um die verlorene Geliebte seinen eigenen Reflexionen über Schubert hinaus Ausdruck zu verleihen. Nebensonnen entstehen, so lautet die nüchterne physikalische Erklärung des optischen Naturphänomens, durch die Brechung von Licht in horizontal schwebenden, flachen Eiskristallen und treten paarweise auf. Wilhelm Müller

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benutzt dieses Bild als Metapher für die Augen der Geliebten. Schubert verwandelt die fünf sich reimenden Verspaare in eine dreiteilige Liedform mit einem Umfang von 32 Takten. Das viertaktige Vorspiel nimmt die erste Verszeile vorweg und führt den markanten punktierten Rhythmus ein. Eine Besonderheit dieser rhythmischen Figur besteht darin, dass das zweite Glied exakt die Verdopplung der Länge des ersten ausmacht. Verbunden mit dem im Sarabandengestus schreitenden Rhythmus klingen die fallende Sekunde und das Seufzermotiv hier wie ein wehmütiges Lebewohl an. Die im engen Quartambitus schreitende Melodie der ersten beiden Viertakter ist identisch, wobei die Harmonie bei „und sie auch standen da so stier, als wollten sie nicht weg von mir“ in die Mollparallele kippt. Hier ändert Schubert den Text: Während Müllers Vers „als könnten sie nicht weg von mir“ lautet, ersetzt er das Wort „könnten“ mit dem stärkeren „wollten“. Dadurch erhält die Entscheidung der Angebeteten, die Verbindung aufzulösen, besonderen Nachdruck. Auch in der Lisztschen Transkription klingt diese mit massiven Akkorden bestückte Stelle hartnäckig. Die Verzweiflung des Protagonisten findet dort ihren Höhepunkt, wo sich die Phrase zurück in die Grundtonart wendet („nicht weg von mir“). Einmal mehr erscheint in Schuberts Musik der DurCharakter noch schmerzhafter als die Moll-Passagen. Mit dem dritten Verspaar beginnt der kontrastierende Mittelteil, in dem die Nebensonnen direkt angesprochen werden. Schubert verleiht ihm einen rezitierenden Charakter mit Tonrepetitionen in der Melodie und halben Notenwerten in der Begleitung, die zwischen Tonika und Dominante pendeln. Dieses rhetorische Element greift Liszt auf und übersetzt es in ein freies, äußerst gesteigertes Rezitativ. Ein sonorer, gebrochener b-Moll-Dreiklang übernimmt die (Cembalo-)Begleitung, über der die oktavierte Gesangsstimme virtuos deklamiert. Dieses Aufbäumen mutet wie ein Befreiungsschlag von den fix am Himmel stehenden Sonnen an, wenngleich mit einer Tendenz zur dramatischen Überhöhung.

Liszt, Die Nebensonnen (Schubert), T. 40–41

In der Fortsetzung dieses Gesangs von der verlorenen Liebe finden sich weitere Ausdeutungen des Bearbeiters. Im vierten Verspaar, das bei Schubert im Stile einer

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Scheinreprise in C-Dur einsetzt, ergibt sich für die Singstimme eine hohe Lage bis zu F’’. Bei „nun sind hinab die besten zwei“ sinkt die Linie, quasi Abschied nehmend, schrittweise eine Quinte ab und mündet über a-Moll in einen Trugschluss. Somit durchschreitet die Melodie den Umfang einer kleinen Sexte (F’’-A’). Diesen Intervallrahmen auf dem Klavier exakt abzubilden, würde nicht dieselbe Wirkung wie im Falle der Singstimme erzielen. Deshalb bestückt Liszt die Takte unter Einbezug der tiefen Bassregister mit vollgriffigen Akkorden (ff con passione) und fügt auf einem gesonderten System den prägnanten punktierten Rhythmus bei. Statt beim Trugschluss getreu der Vorlage in ein pianissimo abzusinken, steigert er die Stelle bis ins fortissimo und ins viergestrichene Oktavregister. In der Rückleitung zum A’-Teil führt Liszt den tänzerischen Siziliano als neues rhythmisches Element ein und verändert dadurch den schlichten Lied-Charakter grundlegend. Im Original wird die fixe Idee der drei Sonnen nämlich durch eine ostinate Begleitung realisiert, die sich unerschütterlich das ganze Lied hindurch hält. Liszts Siziliano scheint den Text „Ging nur die dritt’ erst hinterdrein, im Dunkeln wird mir wohler sein“ ironisch zu brechen. Im Nachspiel verselbständigt sich der punktierte Triolenrhythmus auf spielerische Art und Weise. Auf die verklingenden Triolen der rechten Hand folgt eine eintaktige Generalpause. An dieser Stelle enden Schuberts Nebensonnen. Bei Liszt tritt der rezitierende Mittelteil erneut ein, diesmal in gesteigerter Expressivität, wodurch seine Transkription das neue Formschema A-B-A’-B’-A’ erhält. Durch diese Erweiterung geht die im Lied omnipräsente Dreiersymbolik verloren. Doch gerade mit dem überraschenden Wiedereintritt des klanglich überbordenden B’-Teils scheint Liszt etwas sagen zu wollen, das über Schuberts Lied hinausgeht. Die Bezeichnung pronunciato assai verbalisiert diese Absicht in dieser Transkription, die zugleich Choralgesang, freies Rezitativ und Tanzmusik ist. Michael Heinemann zufolge bringt Liszt an solchen Stellen sein Selbst am deutlichsten in die Lieder ein: „Gerade solche Interpolationen außerhalb metrischer Ordnung und verbindlicher Melodik kennzeichnen in Liszts Œuvre vielfach die Stellen, wo Subjektivität eindringt und eine hermeneutische Dimension sich eröffnet.“32 Den Grund für diese bedeutende Akzentuierung sieht Heinemann in der Lebenssituation des Komponisten: „Dieser Text ist für Liszt nicht leidenschaftslos umzusetzen, zu dicht berührt diese Thematik seine eigene, aktuelle Situation, als daß eine schlichte pianistische Fassung des Kunstliedes denkbar wäre.“33 Mut – Klanggewalt mit Durschluss Schuberts Mut! ist geprägt von abrupten Dur-Moll-Konfrontationen, einem typischen Stilmerkmal seiner Musik. In der ersten Strophe geht dieser Charakterwandel Hand in Hand mit dem Wechsel zwischen passivem Geschehen (Moll: „fliegt der Schnee mir ins Gesicht“ und „wenn mein Herz im Busen spricht“) und aktivem Handeln (Dur: „schüttl ich ihn herunter“ und „sing ich hell und munter“) einher. 32 33

Heinemann, „Am Ende: Der stürmische Morgen“, S. 196. Ebd.

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Liszts Transkription umfasst nur 55 Takte und somit 9 Takte weniger als das Original. Einerseits verzichtet er auf das Nachspiel, denn in der Bearbeitung siegt der Dur-Charakter (während Schuberts Nachspiel in g-Moll den Triumph von Dur über Moll in Frage stellt). Weitere Takte entfallen andererseits in der Schlussstrophe durch die Überlappung der originalen Klaviernachspiele mit den Gesangspassagen. In der ersten Strophe antworten die Klavierzwischenspiele auf die klanglich bereits durch Oktavverdoppelung erweiterte Singstimme in ungestümen, überhöhenden Oktaven. In der zweiten Strophe stürmen die Antworten des betrogenen Liebhabers und diejenigen des Klaviers in ohrenbetäubendem („habe keine Ohren“) ff fuocoso und accellerierenden Läufen auf den schlicht deklamierten, chromatisch durchsetzten Vordersatz ein. Bei der dritten Strophe verschränkt Liszt dagegen die in einer Klaviertranskription eigentlich widersinnigen Klaviernachspiele mit der Melodie, wodurch sich eine Straffung zum Schluss hin ergibt. Um nochmals eine Steigerung zu realisieren, verwendet der Bearbeiter das Mittel der Tonrepetition in Oktaven. Die ostinaten 16tel-Repetitionen formen die Schlussstrophe zu einem Marsch mit Aufbruchgestus („lustig in die Welt hinein, gegen Wind und Wetter!“).

Liszt, Mut (Schubert), T. 33–43

Vom anfänglichen mf vibrato über rinforzandi zum più forte bis hin zum fff verfolgt Liszt auch in dieser Bearbeitung eine lineare Klangsteigerung. Die letzten drei Takte sind a capriccio zu spielen, wobei die beiden auf einen ganzen Takt ausgeweiteten Schlussakkorde den endgültigen Charakter besiegeln.

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Die Post – rhetorisches Klavierspiel Jede zweite Zeile im Lied Die Post endet mit der Anrede „mein Herz“. Diese gehäuft auftretenden, mal fragenden, mal exklamierenden Abspaltungen markieren auch die Spaltung des Ichs in Herz und Verstand. Schuberts erste Strophe steht ganz im Zeichen des erklingenden Posthorns, dem das Lied die Horntonart Es-Dur und seine Grundstimmung verdankt. Das (Natur-)Horn galt als das romantische Instrument schlechthin, denn sein Klang aus weiter Ferne vermochte nostalgische Gefühle zu erwecken. Horntypisch ist auch das neuntaktige Vorspiel mit seiner Dreiklangsbrechung und den punktierten, schmetternden Rhythmen. Ein 6/8-Takt und die Vortragsbezeichnung etwas geschwind kurbeln das Pferdegetrappel an. Liszt greift den spielerischen Witz in der Post auf subtile Art und Weise auf, ohne das Lied gravierenden Veränderungen zu unterwerfen. Dem imaginierten Horn fügt er zwei weitere Instrumente bei, die in Terzen, Quinten und Sexten sekundieren. Seine Begleitung mit pendelnden Oberstimmen wirkt beweglicher als diejenige Schuberts.

Schubert, Die Post, T. 6–10

Liszt, Die Post (Schubert), T. 6–11

Der nachdenkliche B-Teil (tristemente, pp rubato) der Lisztschen Transkription ist weitgreifend im eigentlichen Wortsinn. Wieder wartet der Bearbeiter mit Verzierungen und Varianten auf. Dies ist etwa in Takt 36 beim Klavierecho auf „mein Herz“ der Fall. Diese kleine Variation ist genau notiert und mit einer Fermate über einer winzigen 32stel-Pause versehen. An solchen Stellen wird Liszts rhetorisch-improvisiertes Klavierspiel greifbar. Auch das Ritenuto in Takt 32 und die Nachdruck verleihenden Tenuti sind sprechende Passagen. Die Anweisung, die drei aufeinanderfolgenden Melodieachtel in T. 74 („hinüber sehn“) mit dem kleinen Finger der rechten Hand zu spielen, erinnert an die entsprechenden Takte im Erlkönig. Der leggerissimo-Lauf in Takt 81 ist ebenfalls ein ausdeutendes Element. Der Herzschlag kommt hier, nach einem Ritardando und einer „Minipause“, fast zum Stillstand. Zwar räumt

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Liszt der virtuosen Schlusspassage eine Art Kadenzfunktion ein, doch gibt er dem Lied letztlich seine Intimität durch ein zartes Ausklingen in hoher Lage zurück.34 Die Transkription von Die Post ist ein Beispiel dafür, wie akkurat Liszt seine Improvisationen schriftlich zu fixieren versuchte. Selbst wenn seine Vorträge jedes Mal anders geklungen haben mögen, bemühte er sich bei der endgültigen Niederschrift sehr, eine möglichst genaue Vorstellung der Wiedergabe zu vermitteln. Dies trifft auch auf die Tempoangaben zu: un poco vivo, rubato, a capriccio und precipitato zeichnen den labilen Zustand des Wanderers eindringlich nach. „Ver-rückte“ Erstarrung Aktive Suche und Auflehnung gegen den erstarrten Jetzt-Zustand prägen den Liedtext von Erstarrung. Durch die Gegensatzpaare grüne Flur/Schnee und heiß/eisig wird die Erinnerung an den vergangenen Sommer mit der blühenden Liebe der Gegenwart gegenübergestellt. Die dritte Strophe beginnt mit zwei Fragen: „Wo find ich eine Blüte, wo find ich grünes Gras?“, gefolgt von der enttäuschten Feststellung, dass die Blumen „erstorben“ sind und der Rasen „blass“. In der vierten Strophe sinniert der Wanderer über die Zukunft nach: „Soll denn kein Angedenken ich nehmen mit von hier?“. In der Schlussstrophe kommt es zur Verschmelzung von äußerem und innerem Zustand: Die eisige Winterlandschaft nimmt Besitz vom Herzen des Liebhabers, in dem das Bild der Geliebten zur Fratze erstarrt („mein Herz ist wie erstorben, kalt starrt ihr Bild darin“). Die Schwierigkeit einer Transkription liegt hier im Vereinen aller Stimmen. Zu Schuberts virtuosen Triolen gesellt sich eine Melodie, die sehr bewegt und mit weiten Sprüngen durchsetzt ist. In der ersten Strophe webt Liszt die Melodie in Tenorlage kunstvoll zwischen Begleitung und Bass ein. Da die Triolen die Melodie überhöhen, müssen sie besonders leise gespielt werden. Bei genauerem Hinschauen fällt auf, dass es Liszt nicht nur um die motorische Bewegung ging: Die Melodie ist als jeweiliger Spitzenton in die Triolen eingearbeitet, wodurch ein subtiles Echo entsteht. Dieses Verfahren scheint direkt von Schubert inspiriert, der in den ersten beiden Takten von Erstarrung mit der linken Hand die (nachschlagende) Melodie des LindenbaumVorspiels nachzeichnet. Ab Takt 9 wandert Liszts Melodie stellenweise in die ternäre Bewegung der rechten Hand und erklingt sogar nach dem eigentlichen Echo.

Liszt, Erstarrung (Schubert), T. 7–10 34

Vgl. dazu das Notenbeispiel in dieser Arbeit, S. 52.

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Die Wiederholung der zweiten Strophe wird bei Liszt zum desperaten Kampf (ff disperato). Donnernde Oktaven lassen Melodiestimme und Klavierecho zu einem imitierenden Gebilde verschmelzen und sich gegenseitig zu enormer Klangfülle aufwiegeln. „Mit meinen heißen Tränen“ (con somma passione) ist mit massiven, weitgriffigen Akkorden in der linken Hand versehen. Zu Beginn des träumerischen As-Dur-Teils findet sich eine auffällige Literarisierung des Notentextes: ritenuto il tempo, a capriccio, dolciss. con amore und una corda. Zunächst soll Liszts Vision folglich im Tempo etwas zurückgehalten erklingen. Die beiden überleitenden Fragen erscheinen wieder im ersten Tempo und in aussagekräftigem pianissimo sotto voce. Auch hier ist die Melodie in die Triolenbewegung eingewoben und erscheint jeweils auf die zweite Triolenachtel, wodurch sie ein wenig unscharf wahrgenommen wird. Bei der Reprise des A-Teils ab Takt 66 spielt Liszt erneut mit synkopierter Verrückung: Die in Oktaven ausgeführte Gesangsstimme rutscht noch um eine Achtel weiter nach hinten und erklingt zusammen mit der letzten Triolenachtel. Die linke Hand vereinigt ehrgeizig und zumindest ansatzweise die kontrapunktische Linie des Anfangs mit einer weitgreifenden Triolenfigur. Diese kleinen metrischen Verschiebungen finden in Takt 80 ein abruptes Ende: „Wer sagt mir dann von ihr?“ wird nüchtern und wie aus einem Traum erwachend rezitiert. Impulsiv gestaltet sich der Beginn der Schlussstrophe. Als über die ganze Tastatur verteiltes Laufwerk werden die Triolen von massiven Akkordschlägen und Trillern der linken Hand begleitet. Mit Takt 97 ist der Höhepunkt des Liedes erreicht: „Schmilzt je das Herz mir wieder“ erklingt oktaviert und im ff disperato als Resultat eines durch eine Imitationsfigur zwischen Gesang und Klavier angestachelten Crescendos. Beim Hinauszögern von „ihr Bild“ fächert Liszt den verminderten Septimenakkord der VII. Stufe weitmöglichst auf und lässt ihn ins Nichts hinabsinken. Das plötzliche Verstummen der Triolenbewegung in der Transkription ist von ungeheurer Wirkung. Liszts dramaturgische Gestaltung von Erstarrung ist in hohem Maße aufwühlend. Die Fülle von Angaben wie con somma passione, sempre più agitato und ff disperato zeugen davon, wie sehr ihn diese Thematik ergriffen hat. Für die Integration der Melodie in die triolische Begleitstruktur hat er in den minimalen Verschiebungen eine spieltechnische Lösung gefunden, die den natürlichen Fluss in keinem Augenblick störend unterbricht und das hektische, ziellose Umherirren des Gesellen auf erschütternde Weise schildert. Verhinderte Wasserflut Die Wasserflut ist das einzige Lied, das in beiden Winterreisen an derselben (sechsten) Position erscheint. Seine Wirkung im jeweiligen zyklischen Zusammenhang ist jedoch ganz verschieden. Der Schubertschen Wasserflut geht der Lindenbaum als Ruhepunkt voran: E-Dur und e-Moll prallen gleich zwei verschiedenen Welten aufeinander. Liszts Wasserflut wirkt hingegen selbst wie ein ruhiger Pol nach der Erschütterung durch die vorangegangene Erstarrung. Entsprechend unterschiedlich fallen die beiden Kompositionen aus. Während Schubert eine Steigerung bis hin zum forte verlangt und der Singstimme den Ver-

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merk „stark“ beifügt, geht Liszts Version kaum über ein piano hinaus. Seine Fassung erinnert an ein kurzes Intermezzo, denn sie beinhaltet nur zwei der vier Müllerschen Strophen. Dadurch kommt es bei Liszt nicht zur Wasserflut, die, Tränen und Schnee vereinend, als Bach durch das Dorf der Geliebten und an deren Haus vorbeifließt. Der Wanderer der Klavierfassung scheint sich nicht bewusst zu werden, dass der Frühling für ihn ebenso unerreichbar ist wie der „Liebsten Haus“. Dieses vergebliche Verlangen wird nur in der Schubertschen Wasserflut thematisiert. Möglicherweise hat die Schlussstrophe der Erstarrung Liszt zu dieser Kürzung bewogen. Diese prophezeit nämlich, dass mit der Schneeschmelze auch die Erinnerung an die Geliebte dahinfließt. Ob Liszt den Lauf der Dinge hinauszögern wollte? Seine Anordnung stellt eine natürliche Abfolge dar: Nach dem strengen Winter, der in die Erstarrung gipfelt, folgt der Frühling mit seinen zunächst noch lauen Winden in der Wasserflut, der dann im Lied Der Lindenbaum zu voller Blüte kommt. Der Lindenbaum mit flirrenden Trillerketten Der Lindenbaum ist die einzige Nummer der Winterreise, die scheinbar wärmere Temperaturen vermittelt und den ruhelosen Wanderer zum Verweilen einlädt. Unter dem schattenspendenden Baum, in dessen Rinde „so manches liebe Wort“ eingeritzt wurde, breiten sich die ersten beiden Strophen mit süßem Schwelgen in verflossenen Träumen aus. Die Linde, seit Walther von der Vogelweide Topos des geschützten Ortes für Liebende, ist hier Zuflucht und Trösterin zugleich.35 Mit der dritten Strophe geht ein abrupter Stimmungsumschwung einher, denn es ist plötzlich tiefe Nacht geworden. „Ich musst auch heute wandern“ spricht vom Zwang, rastlos umherzuirren. In diesem Unruhezustand schließt der Vertriebene die Augen und meint zu hören, wie die Zweige ihn herbeirufen. „Komm her zu mir Geselle, hier findst du deine Ruh“ kann durchaus als Verlockung zum Suizid gedeutet werden.36 Der Bursche geht jedoch nicht darauf ein und setzt seinen Weg, den kalten Winden trotzend, fort. Doch auch noch weit von der Linde entfernt meint er, deren Rauschen zu vernehmen. Im Verlauf des Liedes wird immer deutlicher, dass der Wanderer nur bei der Linde zur Ruhe käme: „Du fändest Ruhe dort“ oder, wie es im Lied Der Wanderer heißt: „Dort wo Du nicht bist, dort ist das Glück“. Schuberts Vertonung mit ihrem strophischen Verlauf und der melodischen Schlichtheit erscheint im Gewand eines Volksliedes. Dieser Schein ist jedoch trügerisch: Bereits das virtuose achttaktige Klaviervorspiel, dessen an Zithermusik erinnernde Sechzehnteltriolen die rauschenden Zweige des Baumes vergegenwärtigen, stellt den volksliedhaften Charakter in Frage. Zudem spielt die Einleitung mit der metrischen Ungewissheit, ob es sich um einen 6/8- oder einen 3/4-Takt handelt, was erst mit dem Eintritt der Melodie geklärt wird. Im zweiten Takt kommt es mit einem kurzen Innehalten auf dem Quintton H mit neckischem Sextvorhalt zur dominantischen Öffnung. An dieser Stelle könnte der Gesang beginnen, doch die rauschende Begleitung kommt ihm zuvor, bis in Takt 7 erneut die Dominante erreicht ist. Als 35 36

Siehe Nonnenmann, Winterreisen, S. 71. Ebd., S. 72.

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hätte der Sänger auch diesen Einsatz verpasst, erklingt einen Takt später dieselbe auffordernde Dominantfigur erneut, allerdings im dreifachen ppp. Wahrlich kein Anfang für ein Volkslied! Die Transkription des Lindenbaums gibt eindrücklich Zeugnis davon, wie Liszt Schuberts höchst artifizielles Volkslied auf dem Klavier zu orchestrieren verstand. Bereits zu Beginn erklingen (pauken-)wirbelnde Trillerketten in tiefen Lagen. Das auffordernde Echo vor dem Einsetzen der Singstimme stößt dagegen in die hohen Regionen der Tastatur vor. Eine kurze Generalpause lässt diese Flötentöne verklingen und schafft Raum für die als Cellokantilene konzipierte, komplett in die Begleitung integrierte Melodie.

Liszt, Der Lindenbaum (Schubert), T. 8–12

In der zweiten Strophe lässt Liszt das Rauschen der Zweige und das Bild der stürmischen Nacht durch chromatische Bass-Skalen in seine Übertragung einfließen (rinforz. tempestuoso), in denen bisweilen sogar die Melodie verloren geht. Im Zwischenspiel verselbständigen sich die ungestümen Triolen in beiden Händen. Vier Takte lang wandert der Dominantseptakkord durch alle Register und wird überdies mit einem Tremolo versehen, dessen Ausführung eine völlige Unabhängigkeit aller Finger voraussetzt. Das Tremolo mutiert schließlich zum Triller, der fast ununterbrochen die Schlussstrophe dominiert und einen der erlesensten Klangeffekte in Liszts Schubert-Transkriptionen darstellt. Seine Illusion des (Todes-) Idylls stellt nicht zufällig höchste technische Anforderungen an den Interpreten.

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IV Schuberts Liederzyklen neu komponiert

Liszt, Der Lindenbaum, T. 61–66

„Keiner will ihn hören“: Der Leiermann in Kurzfassung Die Erstarrung einer ganzen Generation nach dem enttäuschenden Ausgang des Wiener Kongresses bildet den Subtext des Leiermanns. Dessen fast avantgardistisch anmutendes Satzbild stellt einen ungeheuren Kontrast zum Lindenbaum dar. Die einzige Gemeinsamkeit besteht in der Quintverwandtschaft der beiden Transkriptionen (E-Dur/a-Moll), die sich auch in der leeren Bordun-Quinte der Drehleier widerspiegelt. Dieser minimalistische Stil scheint Liszt besonders fasziniert zu haben, kehrt er doch in seinem eigenen Spätstil wieder.37 Durch die Instruktion, das una corda-Pedal zu verwenden, gesteht Liszt seinem Leiermann noch weniger Klang zu. Die Singstimme in Baritonlage überantwortet er so oft wie möglich dem Daumen. Daraus resultiert ein Portatospiel, das den Gesang parlante zum Vortrag bringt und ihn von der Klagemelodie der Drehleier nicht nur durch die verschiedenen Register, sondern auch durch präzise Artikulation abhebt.

37

Ein schönes Beispiel stellt Liszts Komposition Nuages gris (S 199) dar.

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Liszt, Der Leiermann (Schubert), T. 9–14

Bezeichnenderweise bricht die Transkription nach nur zwei Strophen ab. Die beiden rhetorischen Fragen „Wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehn? Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn?“, die den erschütternden Schluss der Winterreise bilden, stellt Liszt nicht. Dadurch entfällt auch das im Original implizierte Duett der Takte 53 ff. Dies veranlasste Michael Heinemann zu folgendem Deutungsversuch: „Das Phlegma der anschließenden Verse wie auch die potenzielle Perspektive gemeinsamen Musizierens in einer sozial niederen Sphäre unter Einschluss der Gefahr, ‚wunderlich‘ zu werden, stellt sich Liszt ebenso wenig in der Transkription wie in der Wirklichkeit.“38 Die Leier läuft bereits nach der Hälfte des Liedes aus, wobei die dreifache Wiederholung von Takt 29 fast wie die Wiedergabe auf einem Plattenspieler anmutet, dessen Nadel hängen geblieben ist. Auf den gedehnten Vorhalt F zur Dominante und dessen „Auflösung“ in den noch dissonanteren Leitton Gis folgt ein seltsamer attacca-Übergang in die Täuschung, die mit einer Generalpause beginnt. Liszt täuscht die Hörerwartungen: Zur Auflösung in den Grundton A kommt es nur indirekt im dritten Takt, wo im tänzerischen Grundrhythmus des Liedes statt des erwarteten a-Moll die Varianttonart A-Dur erscheint.

Liszt, Übergang zwischen Der Leiermann und Täuschung, T. 27–37

38

Heinemann, „Am Ende: Der stürmische Morgen“, S. 194.

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Täuschung als Spiel mit der Erwartung Während das inhaltlich verwandte Irrlicht im 3/8-Takt steht, notiert Schubert die Täuschung im 6/8-Takt mit dem Vermerk „etwas geschwind“. Er bringt das Lied vom tänzelnden Irrlicht, das den Wanderer in die gefährlichen Felsen lockt, in eine dreiteilige A-B-A’-Form, die aus zahlreichen Tücken besteht und den Zuhörer geschickt täuscht. Bereits das Vorspiel droht im dritten Takt durch einen Dominantseptakkord zur sechsten Stufe in die Mollsubdominante abzugleiten. Gerade noch rechtzeitig schreitet die fünfte Stufe der Grundtonart A-Dur kadenzierend ein, wodurch die ungerade Taktzahl des Vorspiels (und somit ein weiteres charakteristisches Stilmittel Schuberts) zustande kommt. Liszt versieht seine Täuschung, deren Melodiestimme in einem gesonderten System verläuft, mit neuen klanglichen Details wie etwa den kleinen Arpeggien in der linken Hand, welche die süße Verlockung akzentuieren. Eine besondere Note verleiht er dem plötzlich in die Mollvariante a-Moll wechselnden Mittelteil, der den Protagonisten abrupt aus seiner Traumwelt in die Wirklichkeit versetzt. Dem Ausruf „Ach! Wer wie ich so elend ist“ wird ein neuer Kontrapunkt aus Terzen, Quinten und Sexten zur Seite gestellt, der das Elend zu unterstreichen scheint. In den Überleitungstakten zur Reprise schreibt der Bearbeiter kleine Tempoverzögerungen vor, die eine Stauung vor dem Wiedereinsetzen des Anfangsthemas verursachen. Die in hoher Lage aufblitzenden Akkorde der rechten Hand auf die dritte und vierte Zählzeit beleuchten die „Nacht“ und den „Graus“ scheinbar unbekümmert.

Liszt, Täuschung (Schubert), T. 63–66

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Das „schauerliche“ Wirtshaus „Auf einen Totenacker hat mich mein Weg gebracht, Allhier will ich einkehren, hab ich bei mir gedacht.“ Dass Liszt dieses „schauerliche“39 Lied in seinen Zyklus aufgenommen hat, regt zum Nachdenken an. Die Klavierbegleitung ist als Trauermarsch angelegt, dessen daktylischer Rhythmus auch in wesensverwandten Liedern wie etwa Der Tod und das Mädchen oder Der Wanderer wiederkehrt. Schubert verwendet ihn immer dann, wenn er den Tod als Erlösung darstellt. Liszts Vortragsbezeichnung con molto sentimento lässt erahnen, wie sehr ihn diese Komposition erschüttert hat. Vergleicht man die Noten des Originals und der Transkription, erschließt sich unmittelbar, dass es sich bei Liszts Wirtshaus nicht um eine schlichte Umsetzung der Vorlage handelt. Bereits in Takt 18 erscheinen schnelle Sextolenfiguren, die sich bei den Worten „bin tödlich schwer verletzt“ in Takt 21 f. zu absteigenden Trillern und zu einem klangreichen Tremolo („O unbarmherzge Schenke, doch weisest du mich ab?“) wandeln. Dieser Effekt findet im langsamen Satz von Schuberts Wandererfantasie eine Parallele und verdeutlicht, wie sehr Liszt in seiner musikalischen Ausdrucksweise von Schuberts orchestralem Klaviersatz beeinflusst wurde.

Schubert, Wandererfantasie, T. 236–238

39

Schuberts Freund und Förderer Joseph von Spaun berichtet in seinen Aufzeichnungen über meinen Verkehr mit Franz Schubert: „Schubert wurde durch einige Zeit düster gestimmt und schien angegriffen. Auf meine Frage, was in ihm vorgehe, sagte er nur: ‚nun, ihr werdet es bald hören und begreifen.‘ Eines Tages sagte er zu mir: ‚komme heute zu Schober, ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen. Ich bin begierig zu sehen, was ihr dazu sagt. Sie haben mich mehr angegriffen, als dieses je bei anderen Liedern der Fall war‘“, zit. in: Otto Erich Deutsch (Hg.), Schubert. Zeugnisse seiner Zeitgenossen. Ausgewählte Erinnerungen, Frankfurt a. M. 1964, S. 143.

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IV Schuberts Liederzyklen neu komponiert

Liszt, Das Wirtshaus (Schubert), T. 21–23

Der stürmische Morgen und Im Dorfe als dreiteiliges Finale In der Anlage eines Scherzos verknüpft Liszt die beiden Lieder Der stürmische Morgen und Im Dorfe zum fulminanten Finale seiner Winterreise. Die Melodie erscheint von Beginn an in Oktaven und ist mit ununterbrochen pulsierenden Sechzehnteln angefüllt. Die Synkopen der Takte 6 und 7 („umher in mattem Streit“) zerreißen das Satzbild richtiggehend. Der in B-Dur stehende Mittelteil beginnt in der instrumentalen Version nur mit forte, während Schubert ein fortissimo fordert. Dadurch entsteht Raum für die gewaltige Klangsteigerung bis hin zum fff strepitoso-Höhepunkt auf die fast schreiend vorgetragenen Worte „es ist nichts als der Winter“. Die eindringliche Schubertsche Begleitung besteht an dieser Stelle aus schnell repetierten, chromatisch verschobenen verminderten Septimen- und Dominantseptakkorden. In Liszts Übertragung droht die Melodie hingegen in einer furiosen Kaskade unter zu gehen.

Pianistische Neuinszenierung der Winterreise

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Schubert, Der stürmische Morgen, T. 16–17

Liszt, Der stürmische Morgen (Schubert), T. 16–19

Vor diesem stürmischen Hintergrund hebt sich Im Dorfe mit seinem akustisch kaum wahrnehmbaren 12/8-Takt entrückt ab. Die Ironie des Gedichts spiegelt sich in Schuberts Lied: „Träumen sich manches, was sie nicht haben, tun sich im Guten und Argen erlaben“ entfaltet sich über dem Dominantorgelpunkt, der die schwebenden Träume spiegelt, und wird von einem prägnanten Tritonusschritt in der Melodie kommentiert. Bei „und morgen früh ist alles verflossen“ wird aus D-Dur d-Moll, die Träume zerrinnen in einer ritardierten Schlussformel, die bei Liszt in einen chromatisch dahinperlenden Lauf mündet. Am Ende kommt es zu einem merkwürdigen Bruch innerhalb des Satzbildes. Dem Schlussvers, „was will ich unter den Schläfern säumen“, unterlegt Schubert einen sechsstimmigen Choralsatz, der, ohne regelkonform abkadenziert zu werden, mit einem Quartvorhalt auf der Dominante endet. Unvermittelt setzt die Begleitfigur des Anfangs wieder ein. Die anschließende Textabspaltung bringt eine Variante der soeben gehörten Takte mit sich. In dieser variierten Fassung weitet Schubert den dem Wort „säumen“ unterlegten Choral zu einer typischen Orgelfloskel aus. Der kadenzierende Quartsextakkord wird nach Moll gelenkt und geht in die Dominante mit Quartvorhalt über. Erwartungsgemäß löst sich der Vorhalt in die Terz auf, die

134

IV Schuberts Liederzyklen neu komponiert

zusätzlich mit der unteren Wechselnote umspielt wird. Jedoch kommt es auch an dieser Stelle nicht zur korrekten Auflösung: Zum zweiten Mal hebt die unruhige Anfangsbegleitung an, die das Lied nach vier Takten in einem D-Dur-Akkord zum Verklingen bringt.

Schubert, Im Dorfe, T. 43–46

Liszt lässt es nicht zur Auflösung in die Tonika kommen. Der energische Wiedereintritt von Der stürmische Morgen verunmöglicht jedes weitere Säumen.

Liszt, Übergang von Im Dorfe zur Reprise von Der stürmische Morgen, T. 64–70

Dass es bei der Wiederholung dieses Bravour-Stücks nicht um bloße Effekthascherei geht, bringt die harmonische Disposition ans Licht. Der Tonartenplan von Im Dorfe (D-Dur/d-Moll/D-Dur) spiegelt sich nicht nur in der übergreifenden Bogenform der beiden letzten Lieder (d-D-d), sondern nimmt auch unverkennbar Bezug auf die tonale Anlage des Eröffnungsliedes (d-D-d). Durch diese ineinandergreifenden harmonischen Verbindungen zwischen Eröffnungslied und Finale bekräftigt Liszt die formale Geschlossenheit seines Zyklus und hebt ihn von der spiralförmigen Anlage der Schubertschen Winterreise ab. Die wirkungsvolle Trias Gute Nacht, Der stürmische Morgen und Im Dorfe brachte Liszt am 2. Februar 1840 im Rahmen seiner zweiten Konzertserie in Wien

Die schöne Müllerin in Suitenform

135

zur Aufführung. Die Presse-Rezensionen fielen sehr unterschiedlich aus. Während der eine Kritiker die „Einfachheit [!] und Gediegenheit“ lobte und Liszt attestierte, dass er „am meisten Schubert’s Geist veranschaulichen“ könne, kritisierten andere Journalisten die Auswahl der Lieder, die „keine zweckmäßige genannt werden kann, indem dieselben zu wenig populär sind: ‚Erlkönig‘, ‚Ständchen‘, ‚Forelle‘, ‚Normann’s Gesang‘, ‚Wanderlieder‘, ‚Post‘ u. a. m. wären interessanter, wie auch bekannter und beliebter gewesen“.40 Dass Liszts Repertoire nur eine Handvoll Schubert-Transkriptionen enthielt, scheint durchaus dem Geschmack des damaligen Publikums geschuldet zu sein, das sich „bei jeder Note mit lebhafter Begeisterung an das Original erinnern“41 wollte. DIE SCHÖNE MÜLLERIN IN SUITENFORM Liszts Zyklus Müller-Lieder von Franz Schubert ist ein Nachzügler aus dem Herbst des Jahres 1846, in dem er an den Bearbeitungsmodus seiner Winterreise anknüpft.42 In beiden Fällen hat er eine Auswahl getroffen, die sich im zwanzig Lieder umfassenden Zyklus Die schöne Müllerin sogar auf nur sechs Nummern beschränkt. Ein weiteres Müllerinnen-Lied, Trockne Blumen, fand mit der ersten Fassung der Ungeduld Eingang in seine 6 Melodien von Franz Schubert von 1844.43 Bei näherer Betrachtung wird in den Müller-Liedern ein „deutlicher Wille zu zyklischer Ordnung“44 erkennbar: 1. 2. 3. 4. (3. 5. 6.

Das Wandern (1) Der Müller und der Bach (19) Der Jäger (14) Die böse Farbe (17) Der Jäger Wohin? (2) Ungeduld (7)

B-Dur g-Moll/G-Dur c-Moll C-Dur (statt H-Dur) c-Moll) G-Dur B-Dur (statt A-Dur)

Die offenkundige Symmetrie der Anlage ist das Ergebnis eines sorgfältigen Tonartenplans. Während sich die Rahmenlieder des originalen Zyklus in der extremen Tritonus-Spanne gegenüberstehen, konstruiert Liszt in den Müller-Liedern erneut ein harmonisch geschlossenes Ganzes. Durch die Überbrückung des Tritonus-Abstandes verabschiedet er sich von der „Schubert-Müllerschen Liebesgeschichte mit letalem Ausgang.“45 Der Bearbeiter scheut auch hier nicht davor zurück, zwei Lieder zu einer Bogenform zusammenzufügen.46 Aufgrund der Reprise des Jägers bildet Die böse Farbe nicht nur den Mittelpunkt, sondern verhält sich auch wie eine Spiegelachse. Damit sich das Lied harmonisch einfügt, musste es von H-Dur nach C-Dur transpo40 41 42 43 44 45 46

Vgl. dazu Brusatti, Schubert im Wiener Vormärz, S. 115 f. Ebd. Am 16. Dezember 1846 erschien in der AmZ eine Annonce. Vgl. auch diese Arbeit, S. 315. Vgl. ebd., S. 152 ff. Vgl. Hinrichsen, „Rezeption als Selbstverständigung“, S. 127 f. Ebd. Zur Bogenform in der Winterreise vgl. diese Arbeit, S. 132 ff.

136

IV Schuberts Liederzyklen neu komponiert

niert werden. Während die ersten zwei und die letzten beiden Nummern im Terzverhältnis zueinander stehen, wird die Quintverwandtschaft zwischen Der Müller und der Bach und Der Jäger durch eben diese Quinte reflektiert, mit der Letzterer beginnt. Die Schubert-Müllersche Handlung zeigt einen jungen Wanderer, der einem rauschenden Bach ins Tal folgt. Dort gelangt er zu einer Mühle, die für ihn zum neuen Arbeitsplatz wird. Bald verliebt sich der Müllerbursche in die Tochter seines Arbeitgebers, die seine Liebe zunächst zu erwidern scheint. Im Verlauf der Erzählung wird jedoch klar, dass sie sich in den Jäger verliebt hat, der einen sozial höheren Rang bekleidet. Als der betrogene Liebhaber merkt, dass er gegen seinen Konkurrenten nicht ankommen kann, ertränkt er sich im Bach. Liszt stellt die beiden Anwärter um die attraktive Müllerstochter in seiner radikal umcodierten Geschichte in je zwei Liedern vor. Das Wandern und Der Müller und der Bach bilden die Ouvertüre des Lehrlings. Wie bereits in der Winterreise setzt Liszt auch hier jenes Lied an die zweite Stelle, das im originalen Zyklus die vorletzte Position einnimmt. Dass es sich dabei um den folgenschweren Zwiegesang Der Müller und der Bach handelt, in dem sich der Geselle mit Suizidgedanken trägt, scheint vor diesem Hintergrund allerdings etwas übereilt. In Schuberts abschließendem Wiegenlied des Baches finden diese Absichten ihre traurige Bestätigung („Wandrer, du müder, du bist zu Haus“). Liszt verhindert dies durch den Auftritt des Jägers, der sich in der pianistischen Neuinszenierung mit dem Lied, das ihm Schubert zugedacht hat, und vertreten durch Die böse Farbe präsentiert. Die vorletzte Transkription Wohin? stellt ein leise bangendes Intermezzo dar. Bei Schubert folgt es direkt auf den Eröffnungsgesang Das Wandern. Dort führt der Bach den wanderlustigen Gesellen zur Mühle, wo die tragische Liebesgeschichte ihren Lauf nimmt. Liszt verdreht den chronologischen Ablauf komplett. Die Antwort auf die Frage „Wohin?“ liefert bei ihm die Ungeduld, ein hoffnungsfrohes Bekenntnis zur ewigen Liebe. Dem ungeduldigen Verlangen fällt auch das letzte Wort zu: „Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben“. Das Wandern – Auftritt des Müllerburschen Zum Zeitpunkt der Entstehung der Müller-Lieder war das Reisen für Liszt längst zu einem festen Bestandteil seines Lebens geworden. Entsprechend nimmt die Thematik des Wanderns einen hohen Stellenwert in seinem kompositorischen Schaffen ein. Das lyrische Ich im Eröffnungslied des Zyklus um die schöne Müllerin scheint, insbesondere in der divergierenden französischen Übersetzung, mit der Liszt vertraut gewesen sein dürfte, direkt auf ihn zugeschnitten.47 Liszts Klaviertranskription von Schuberts Strophenlied erscheint im Gewand einer Variationenfolge. Seine Vor- und Zwischenspiele erweisen sich als elegante Übertragung von Schuberts fast brachialem, gegen den Takt geschriebenen WanderGestus. In der zweiten Strophe löst der Virtuose die Melodie in aufwärtsweisende 47

Vgl. dazu Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 175 ff. Die Übersetzung lautet folgendermaßen: „Moi, le repos me fatique et m’ennuie, errer toujours est ma plus douce envie, un long voyage a tant d’attraits! à voyager je passerai ma vie! ma vie! ma vie!“ Ebd., S. 176.

Die schöne Müllerin in Suitenform

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Akkordbrechungen auf und versieht sie mit einer verspielten 32stel-Figur. Die Wiederholung des Stollens bringt einen Registerwechsel in höchste Lagen mit sich.

Liszt, Das Wandern (Schubert), T. 21–30

Beim Abgesang wechselt die Melodie in die linke Hand (T. 33 ff.), während die rechte die Töne D und C in Oktavbrechungen hinauf und hinunter wandern lässt. Diese Passage bildet die Verszeile „Das hat nicht Rast bei Tag und Nacht“ treffend ab. Die Melodie der dritten Strophe ist in sonorer Tenorlage angesiedelt und teilt sich auf beide Hände auf. Dazu erscheint virtuos gesetzt die rechte Hand, die mit ihren 16tel-Figurationen die höchsten Register des Klaviers erklimmt. Als ob Liszt nicht genug von diesem Aufbruchsruf bekommen könnte, verlängert er den viermaligen Ausruf „das Wandern“ im Schlussritornell um vier weitere Takte (T. 61–64). Der bewegte Wandergestus kommt erst nach mehreren Wiederholungen und Abspaltungen zum Stillstand und bringt hörbar zum Ausdruck, dass sich der Protagonist entfernt.

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IV Schuberts Liederzyklen neu komponiert

Liszt, Das Wandern, T. 61–75

Verlängerter Zwiegesang in Der Müller und der Bach In der Richault-Ausgabe lautet Der Müller und der Bach treffend La voix enchanteresse. Liszt realisiert diesen nixenhaften, verlockenden Gesang im Wechsel mit den Klagen des Müllerburschen durch die Verwendung der verschiedenen Klavierregister. Zunächst erklingt der Gesang eine Oktave tiefer über einem Bordun, der an die Drehleier aus der Winterreise erinnert. Ein Neapolitanischer Sextakkord verstärkt die Worte „Lilie“, „Tränen“ und „singen“ in ihrem schmerzlichen Ausdruck. Die Antwort des Baches con intimo sentimento in originaler G-Dur-Tonlage wirkt wie der Eintritt eines zweiten Sängers. In der Folge erweitert der Bearbeiter den Satz auf vier Stimmen und passt ihn dem mit Diminutiven bestückten Text kunstvoll an: Das „Sternlein“ in Takt 33 erglänzt durch arpeggierte Dezimen im Bass, während die synkopierten Sechzehntel den „springenden Rosen“ (T. 41 ff.) einen walzerhaften Charakter verleihen. Um noch etwas länger im lichten Dur zu verweilen, zögert Liszt die Rückkehr nach Moll um zwei Takte hinaus. Die beiden letzten vom Gesellen gesungenen Strophen scheint er regelrecht zu orchestrieren. Malinconico espressivo, quasi flauto soll die Melodie, nun um eine Oktave erhöht, interpretiert werden, während die Begleitung quasi pizzicato zu spielen ist (zur Wahl stünde auch eine NonolenBegleitung).

Die schöne Müllerin in Suitenform

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Als Vorlage diente Liszt die Diabelli-Ausgabe von 1830, die mehrere melodische Ausschmückungen des Sängers Johann Michael Vogl enthält.48 Ein Beispiel von Vogls Vortragsweise findet sich in Takt 82: Die letzte Wiederholung des Wortes „Bächlein“ scheint der Bariton mit einer Triole ausgeschmückt zu haben, worin er den Spitzenton G’’ einbettete. Am Ende des Liedes kommt es überraschenderweise zu einem erneuten Übergang nach g-Moll. Wo die originale Komposition aufhört, dichtet Liszt noch zwei zusätzliche Strophen hinzu. An dieser Stelle reizt die Bearbeitung die klanglichen Möglichkeiten des Klaviers durch ein expressives, an das Wirtshaus-Arrangement erinnerndes Tremolo aus. In diesem improvisierten Weiterdichten reagiert Liszt auf die Suizidgedanken des Müllerburschen und legitimiert seinen Anspruch an die Transkription als „konzertante Gattung eigenen Rechts“.49

Liszt, Der Müller und der Bach (Schubert), T. 89–98

Der Jäger und Die böse Farbe als tollkühnes Scherzo Auf das verinnerlichte Zwiegespräch folgt das virtuose Scherzo Der Jäger (A) – Die böse Farbe (B) – Der Jäger (A’), in dem die beiden wortreichen Strophen des Jägers als Klammern dienen. Zunächst scheint es, als würde die Transkription vorlagengetreu mit dem viertaktigen imitierenden Vorspiel beginnen. Im dritten Takt 48

49

Vgl. dazu Walther Dürr, (Hg.), Die schöne Müllerin von Franz Schubert, Faksimile der bei A. Diabelli & Co. erschienenen Ausgabe von 1830, Kassel 1996 und Joseph R. Matson, Johann Michael Vogl‘s alterations to Schubert‘s „Die schöne Müllerin“, Doktorarbeit der Universität Iowa, 2009. Hinrichsen, „Rezeption als Selbstverständigung“, S. 123.

140

IV Schuberts Liederzyklen neu komponiert

wird jedoch klar, dass die Melodie bereits in vollem Gange ist. Schuberts sprunghaft zwischen c-Moll und Es-Dur pendelnde Harmonik wie auch das stete Auf und Ab der Melodieführung veranschaulichen die Wut des Jünglings auf den verhassten Nebenbuhler. Als Sänger und Begleiter zugleich gelingt es Liszt, den Jäger zu foppen. Sein graziles Rehlein, das nichts anderes als eine Metapher für die Müllerin ist, ziert sich in einer tänzerischen Triolenfloskel bei divergierenden Händen.

Liszt, Der Jäger (Schubert), T. 10–12 („Und willst du das zärtliche Rehlein sehn“)

In Takt 20 verwandelt sich der Reigen in einen zickigen Synkopen-Galopp.

Liszt, Der Jäger, T. 19–21 („Sonst scheut sich im Garten das Rehlein fürwahr“)

Die Wiederholung dieser Zeile erscheint in massiven nachschlagenden Akkorden, die das Reh in ein bockiges Tier verwandeln.

Liszt, Der Jäger, T. 22–24

Auch beim Übergang zum Lied Die böse Farbe verzichtet Liszt auf das zwischen Dur und Moll changierende Vorspiel: Der Gesang setzt nahtlos in einem ff vibratoUnisono ein. Während sich die extrovertierten H-Dur-Passagen im Original vor allem durch dynamische Unterschiede von den verinnerlichten Stellen in h-Moll abheben, sind die Stimmungsschwankungen in der Transkription durch Agogik und wechselnde Begleitungen gekennzeichnet. Die Phrase „Ich möchte die grünen Grä-

Die schöne Müllerin in Suitenform

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ser all weinen ganz totenbleich“, die bei Schubert durch parallele Verschiebung in einem Neapolitanischen Sextakkord kulminiert, gestaltet sich in beiden Versionen völlig unterschiedlich. Gleich einem Sänger artikuliert Liszt jede Note von Takt 17 („weinen ganz totenbleich“) und untermauert den Klagegesang mit einem vibrierenden Tremolo. Diese Stelle ist ein schönes Beispiel für Liszts Bestrebung, den Klavierton der menschlichen Stimme anzunähern.

Schubert, Die böse Farbe, T. 19–22

Liszt, Die böse Farbe (Schubert), T. 16–18

Im anschließenden B-Teil reduziert sich das Satzbild auf pochende, verselbständigte Tonrepetitionen. In den Takten 39 ff. lässt Liszt die Jagdhörner erschallen: Der Nebenbuhler tritt auf den Plan.

Liszt, Die böse Farbe, T. 38–43

142

IV Schuberts Liederzyklen neu komponiert

Kurz vor der Reprise des Jägers scheint Liszts Sänger jedoch die Stimme zu versagen. Er kommt nicht dazu, den Satz „Ade, ade! Und reiche mir zum Abschied deine Hand“ zu Ende zu singen (T. 58). Die hingehaltene Hand über dem (unaufgelösten) Dominantseptakkord wird vom Jäger musikalisch abrupt in den Hintergrund gedrängt. Die Eifersucht, das zentrale Thema dieser beiden prominent positionierten Lieder, war Liszt keineswegs fremd. Sein sprühendes Scherzo verweist den (imaginären) Nebenbuhler jedoch schlagfertig in die Schranken. Wohin? mit auskomponiertem „Sich-Entfernen“ Wohin? distanziert sich von den vorangegangenen Emotionen. Liszts Vorspieltakte wirken transparent, da die Triolen abwechselnd von linker und rechter Hand in unterschiedlicher Lage gespielt werden. Sie zeichnen das immerwährende Murmeln des Baches nach.

Liszt, Wohin? (Schubert), T. 1–4

Das Gedicht ist reich an romantischen Topoi wie Bächlein, Felsenquell, Wanderstab und (be-)rauschenden Nixen. Diese akustischen Signale nutzt Liszt für seinen sprechenden Klaviergesang: Der Bach plätschert dolcissimo murmurando im Hintergrund, worüber sich die Melodie schlicht und con grazia ausbreitet. Bereits zu Beginn der zweiten Strophe macht sich Beklemmung bemerkbar: Den Auftakt zu Takt 12, „Ich weiß nicht, wie mir wurde“, zieht Liszt zu zwei Sechzehnteln zusammen, der Atem wird hörbar kürzer. Dunklere Stimmungen und tiefere Register werden hinzugezogen („Hinunter und immer weiter“). Verunsicherung erfasst den jungen Wanderer: „Ist das denn meine Strasse? O Bächlein, sprich, wohin?“ Diese Verwirrung spiegelt sich im Klaviersatz, in dem die Melodie abwechselnd von der rechten und der übergreifenden linken Hand gespielt wird. Nach einiger Reflexion kommt der Wanderer zum Schluss, dass ihn die Flussnixen berauscht haben. In der Transkription erscheint diese Passage mit harfenähnlichem Klangbild (T. 62 ff.), während sich die Mühlräder in gebrochenen Dreiklängen nach oben wälzen (T. 75 ff.). Liszts Bearbeitung endet mit einem auskomponierten „Sich-Entfernen“ des Gesellen (poco a poco perdendo) – einer hörfälligen Parallele zum Eröffnungslied. Mit diesem inszenierten Abgang wird das stürmische Finale eingeleitet, das den glanzvollen Abschluss der Müller-Lieder markiert.

Die schöne Müllerin in Suitenform

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Liszt, Wohin?, T. 89–97

Ungeduld als Programm Ungeduld ist das eigentliche Herzstück des Schubertschen Zyklus, nach dessen Präsentation die Geschichte ihren Lauf nimmt. Bei Liszt werden die entfesselten Empfindungen zum rebellierenden Schlusspunkt. Oftmals hatte er Marie d’Agoult gegenüber betont, dass er sich von ihr verkannt fühlte. Noch im Januar 1846 schrieb er: „Nous étions de nobles natures l’un et l’autre – et vous m’avez maudit – et je me suis banni de votre cœur parce que vous aviez méconnu le mien.“50 Wie Günther Protzies entdeckt hat, heißt es in gewisser Entsprechung im Müllerschen Gedicht:51 „Ich meint, es müßt in meinen Augen stehn, Auf meinen Wangen müßt man’s brennen sehn, Zu lesen wär’s auf meinem stummen Mund, Ein jeder Atemzug gäb’s laut ihr kund, Und sie merkt nichts von all dem bangen Treiben: Dein ist mein Herz, und soll es ewig bleiben.“

Der Titel ist Programm, denn Ungeduld macht sich gleich mehrfach bemerkbar. Zur galoppierenden Triolenbegleitung der Einleitung, die sich zu Strophenbeginn in einen schnellen Walzer wandelt, gesellt sich ein fragmentarischer Kontrapunkt. Die rezitierende Melodie mit linear ansteigenden Spitzentönen erklingt jeweils auftaktig und in kurzatmigen, zweitaktigen Melodiephrasen. Einzige Ausnahme bildet die letzte Verszeile „Dein ist mein Herz“, für die Schubert, dem Versmaß entsprechend, auf einen Auftakt verzichtet. Die unerwartete Abtaktigkeit erweckt den Eindruck, als käme dieser refrainartige Ausruf verfrüht. Eine sprunghafte Harmonik verstärkt die aufgewühlte Stimmung: Bereits das Vorspiel durchwandert die Stationen BDur, F-Dur, f-Moll und Es-Dur. 50 51

Brief von Franz Liszt an Marie d’Agoult vom 23. Januar 1846, zit. in: Gut/Bellas, Correspondance, S. 1114. Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 161.

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IV Schuberts Liederzyklen neu komponiert

Von den vier Strophen transkribiert Liszt nur drei und stattet sie mit völlig unterschiedlichen Begleitungen aus. Zunächst verstärken nachschlagende Akkorde den tänzerischen Liedcharakter.

Liszt, Ungeduld (Schubert), T. 8–11

Die Begleitung der zweiten Strophe mit Melodie in Mittellage erscheint in grazilen Arpeggien („Ich möcht mir ziehen einen jungen Star“). Dazu verselbständigen sich die Triolenachtel der rechten Hand in aufsteigender Anordnung.

Liszt, Ungeduld, T. 32–35

Die „Vier gegen drei“-Bewegung der „Morgenwinde“-Strophe durchbricht die pulsierende Triolenmotorik, und Pizzicati in den Bässen lassen die Musik quasi schwerelos erscheinen.

Liszt, Ungeduld, T. 59–61

Das Finale der Müller-Lieder endet nicht in einem fulminanten Fortissimo, sondern verklingt nach zweimaligem Echo („ewig bleiben“) mit einem leuchtenden Arpeggio in öffnender Quintlage. Liszt verzichtet bewusst auf Schuberts sf-Schlussakkord und gibt seinem konzertanten Zyklus dadurch ein Stück seiner ursprünglichen kammermusikalischen Intimität zurück.52 52

Vgl. dazu die Schlüsse der beiden Ungeduld-Fassungen in dieser Arbeit, S. 160 ff.

V ZWEI SCHUBERT-SAMMLUNGEN ALS ZEUGEN EINER GESCHEITERTEN BEZIEHUNG „JE VOUS AIME RELIGIEUSEMENT“ – FRANZ SCHUBERTS GEISTLICHE LIEDER „Dans cette fièvre religieuse, il se souvint un jour qu’il était musicien, car la musique n’était pas lui. Il projeta de composer de la musique religieuse, la musique appelée ainsi de nos jours ne lui paraissant pas être avec toute raison la forme de la pensée humaine, il fut frappé de l’idée qu’il créerait une musique sacrée.“1

Diese Passage stammt aus der ersten Biografie über Franz Liszt aus dem Jahre 1835. Ihr Verfasser, Joseph d’Ortigue (1802–1866), kannte den jungen Pianisten persönlich und wusste von dessen tiefer Religiosität. Nach dem überraschenden Tod seines Vaters wurde Liszt durch die Bewegung des Saint-Simonismus und die Schriften des Abbé Félicité de Lamennais geprägt. Die Wochen, die er mit Lamennais auf dessen Landsitz „La Chênaie“ in der Bretagne verbrachte, veränderten sein politisches, religiöses und vor allem musikalisch-ästhetisches Denken grundlegend. Klavierwerke wie die Harmonies poétiques et religieuses reflektieren seine Idee einer neuen „humanitären Musik“. Während seiner Virtuosenzeit entdeckte Liszt ein Album geistlicher SchubertLieder, das ihn zur Bearbeitung inspirierte.2 Er transkribierte daraus die Strophenlieder Litanei, Himmelsfunken und Die Gestirne und fügte dieser Trias noch eine vierte Komposition mit dem etwas irreführenden Titel Hymne bei. Dabei handelt es sich um den sogenannten „Geisterchor“ aus Schuberts Schauspielmusik zu Rosamunde (D 797). Die Erstausgabe erschien im Herbst 1841 bei Schuberth in Leipzig.3 Fünf Jahre später veröffentlichte der Londoner Verlag Wessel & Co. Liszts Transkriptionen zusammen mit dessen Beethoven-Bearbeitungen Sechs Geistliche Lieder von Gellert unter dem Titel Rêveries religieuses de Schubert et Beethoven.4 Liszt hatte die Beethoven-Lieder wohl unmittelbar vor den Schubert-Liedern im Herbst des Jahres 1 2

3 4

Joseph d’Ortigue über Liszt in Gazette musicale de Paris vom 14. Juni 1835, S. 197–204. Die im Jahre 1831 im Verlag A. Diabelli & Co. in Wien erschienene Sammlung enthielt folgende Kompositionen: Dem Unendlichen (D 291), Die Gestirne (D 444), Das Marienbild (D 623), Vom Mitleiden Mariä (D 632), Litaney auf das Fest aller Seelen (D 343), Pax vobiscum (D 551), Gebeth während der Schlacht (D 171) und Himmelsfunken (D 651). Siehe John Reed, The Schubert Song Companion, Manchester 1997, S. 506. Vgl. auch die (unvollständige) Ankündigung vom 1. März 1831 bei Brusatti, Schubert im Wiener Vormärz, S. 48. Zur Datierung siehe den Anhang in dieser Arbeit, S. 314. Vgl. auch Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 129 f. Auch die verbesserte Neuauflage durch J. Schuberth & Co. aus dem Jahre 1877 vereinte die beiden Werkgruppen als Concert-Transcriptionen über 10 geistliche Lieder von Beethoven & Schubert in zwei Bänden.

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V Zwei Schubert-Sammlungen als Zeugen einer gescheiterten Beziehung

1840 arrangiert. Bei den Beethoven-Bearbeitungen hielt Liszt zwar an der Tonart der einzelnen Lieder fest, veränderte aber ihre Reihenfolge zugunsten folgender in Terz- und Quintgängen verbundener, in sich geschlossener Neugestaltung: Beethovens Anordnung 1. Bitten 2. 3. 4. 5. 6.

Liszts Anordnung

1. Gottes Macht und Vorsehung Die Liebe des Nächsten Es-Dur 2. Bitten Vom Tode fis-Moll 3. Bußlied Die Ehre Gottes aus der Natur C-Dur 4. Vom Tode Gottes Macht und Vorsehung C-Dur 5. Die Liebe des Nächsten Bußlied a-Moll/ 6. Die Ehre Gottes A-Dur aus der Natur E-Dur

C-Dur E-Dur a-Moll/A-Dur fis-Moll Es-Dur C-Dur

Dass Liszts Arrangement nicht mit der Beichte und Bitte um Vergebung der Sünden endet, sondern mit dem abschließenden Dankgebet, lässt Raum für Spekulationen. Die Transkriptionen entstanden in einer Zeit, in der Marie d’Agoult und Liszt hoffnungsvoll Heirats- und Niederlassungspläne hegten. Im Winter 1839/40 hatte sich das Paar auf einen Neuanfang geeinigt, demzufolge Liszt im Zeitraum von etwa anderthalb Jahren mit Konzerten Kapital erwirtschaften sollte. Der gemeinsame Plan sah vor, sich danach dauerhaft in Italien niederzulassen. Briefpassagen belegen, dass Liszt die neuen Beschlüsse als entscheidenden Wendepunkt betrachtete: „Au nom du Ciel, au nom de notre amour que nous n’avons jamais pu trahir, quoi que nous ayons fait, prenez soin de vous. Nous avons encore de bien belles années devant nous. Que dis-je encore! il me semble que ce devrons être les seules belles, pures, tendres, reposées, indéfinis.“5

In dieser Zeit nahm Liszt die Lektüre der Bibel wieder auf, besann sich auf die in der Artikelserie „De la situation des artistes“ vertretenen Ideale und fertigte neue Skizzen für den Zyklus Harmonies poétiques et religieuses an.6 Auch die Briefe an Marie enthalten religiös motivierte Passagen: „Je suis frappé d’une chose: c’est la première fois que nous nous quittons sans déchirement ni angoisse – je ne puis penser que ce n’est là qu’un simple accident, un hasard … Non, je sens qu’à cette heure nous sommes profondément certains, convaincus l’un de l’autre – et ce sentiment m’enorgueillit et me rend heureux. Dites-moi encore que vous le partagez entièrement, sans restriction aucune. Je vous aime tendrement, religieusement. Adieu.“7

Liszt zeigte sich ernsthaft entschlossen, „durch ein Bekennen von Sünden und die Rückbesinnung auf die Bibel diejenigen Aspekte seiner Lebensführung abzulegen,

5 6 7

Brief von Franz Liszt an Marie d’Agoult vom 1. September 1840, zit. in: Gut/Bellas, Correspondance, S. 632. Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 134. Brief von Franz Liszt an Marie d’Agoult vom 19. Oktober 1840, zit. in: Gut/Bellas, Correspondance, S. 653.

„Je vous aime religieusement“ – Franz Schuberts geistliche Lieder

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die in den zurückliegenden Jahren in der Zweierbeziehung mit Marie d’Agoult belastend gewesen waren.“8 Doch es stellten sich seitens Maries Familie und ihres Mannes Charles d’Agoult Widerstände gegen eine Scheidung ein, zudem musste Liszt auf seiner EnglandTournee 1840/41 schmerzhafte finanzielle Defizite hinnehmen. Seine Neuorientierung – vorderhand scheinbar nur für die Sommermonate 1841 – belastete die PaarBeziehung: „Il me faut réputation et argent, et, autant que faire se peut, les deux à la fois. […] J’ai aussi mes superstitions – et même mieux, j’ai une foi en vous et en moi, complète, infaillible. Oui, nous devons vivre ensemble, car nous ne pouvons vivre qu’ensemble. Encore un peu de courage, encore quelques jours d’ennui et d’amertume sans doute, et nous serons tout entiers l’un à l’autre et l’un par l’autre. Laissez-moi croire et espérer encore. Le poids du jour est lourd à porter – mais le soir sera beau, bien beau – et les rêves de la nuit divins.“9

Anstelle „weniger Tage“ standen Liszt allerdings noch mehrere Jahre als reisender Konzertvirtuose bevor. Die in dieser Zeit der beruflichen und privaten Weichenstellung komponierten geistlichen Schubert-Transkriptionen scheinen am idealisierten und aus Liszts Sicht möglicherweise bereits hinfällig gewordenen Rückzug in die Einsamkeit mit Marie festhalten zu wollen.10 Litanei der betrogenen Mädchen Liszt bestimmte Schuberts strophische Vertonung der Allerheiligen-Litanei, die Anrufungen und Fürbitten verbindet, zum Eröffnungslied. Unter Schuberts langen melodischen Bögen gehen die Worte „banges Quälen“ nahtlos über in den „süßen Traum“, „Dornen“ weichen dem „reinen Himmelslicht“, und die „unzähligen Tränen“ betrogener Mädchen strafen den „falschen Freund“. Musikalisch untermalt wird der Schmerz zum einen durch die schneidende Dissonanz der großen Septime G-Fis, die auf den übermäßigen Quintsextakkord As-C-Es-Fis im fünften Takt folgt. Zum anderen deutet Schubert den Text durch einen chromatisch absteigenden Quartgang in der Basslinie, den sogenannten Passus duriusculus, aus (T. 4–5). Liszts mit Adagio religioso überschriebene Fassung (langsam und andächtig lautet es bei Schubert) enthält lediglich zwei der drei originalen Strophen. Der Gesang erscheint zunächst mf molto espressivo – Schubert schreibt für die gesamte Melodie piano vor – und auf einem gesonderten System um eine Oktave tiefer. Die Passus-duriusculus-Takte versieht der Bearbeiter mit weiten Dezimengriffen im Bass und einer Doppelpunktierung in der Melodie. Die Transkription der zweiten Strophe zeigt sich als behutsame Variation der Vorgängerin. Die Melodie erklingt als Oberstimme in Oktaven, die Sechzehntelbegleitung angereichert durch parallele Sexten. Erneut ist es die Schlüsselstelle mit 8 9 10

Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 135. Brief von Franz Liszt an Marie d’Agoult vom 14. Juni 1841 aus London, zit. in: Gut/Bellas, Correspondance, S. 825 f. Protzies zeigte auf, dass in Liszt bereits im Mai/Juni 1841 der Entschluss zur Fortsetzung seiner Konzertserie gereift war, was er in den Briefen an d’Agoult verschwieg. Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 144.

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dem Passus duriusculus, die Liszt zur pianistischen Deutung verleitet: „Liebevoller Mädchen Seelen, deren Tränen nicht zu zählen, die ein falscher Freund verließ, und die blinde Welt verstieß“. Weite Arpeggien in der rechten Hand gehen mit den Tränen der betrogenen Frauen einher. Ob Liszt hier wohl das sich abzeichnende Schicksal Marie d’Agoults beweint?

Liszt, Litanei (Schubert), T. 15–17

Himmelsfunken – der Odem Gottes Von ähnlichem Stimmungsgehalt ist Schuberts Lied Himmelsfunken. Liszts Bearbeitungsweise zeigt wiederum den gleichen Aufbau: Aus dem schlichten fünfstrophigen Lied wählt er drei Strophen aus und gestaltet sie als Thema mit zwei Variationen. Nach vier Einleitungstakten, die den wiegenden Rhythmus „Halbe-Viertel“ sowie die gedämpfte sotto voce-Stimmung bei una corda-Pedal etablieren, hebt der Gesang in Mittellage an. Die pianistische Textur zu den Worten „Der Odem Gottes weht“ konstituiert sich aus weiten Intervallbrechungen, die sich in der linken Hand zwischen Bass- und Melodiestimme ergeben.

Liszt, Himmelsfunken (Schubert), T. 1–7

Bei Schuberts überraschender Wendung nach B-Dur mittels eines Trugschlusses handelt es sich ebenfalls um eine Textausdeutung: Es ist die erwachende Sehnsucht, die den Gesang in die Medianttonart lenkt. Die Musik der Verszeilen 3 und 4 verweilt unschlüssig auf dem B-Dur-Dreiklang und dem Septimenakkord von G-Dur, der sich schließlich durch den chromatischen Bassschritt G-Gis in einen verminderten Septimenakkord wandelt. Die Liegestimme auf dem Melodieton H („vergeht in

„Je vous aime religieusement“ – Franz Schuberts geistliche Lieder

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wundersüßem Ach!“) verstärkt die beklemmende Statik. Erst die Wiederholung der beiden Zeilen findet durch einen übermäßigen Quintsextakkord den Weg zurück in die Ausgangstonart. Während sich die Melodie der zweiten Bearbeitungsstrophe als Oberstimme in ausdrucksvollen Legatobögen entfaltet, ist die Begleitung in kontrastierendem staccato zu spielen. Auf diese klanglich reduzierte Variation folgt die Schlussstrophe mit durchgehenden, wellenförmigen Achteln in der Begleitung und akkordisch verstärkter Melodie. Zwar stellt die Liegeton-Passage mit ihren in beiden Händen chromatisch aufsteigenden Achteln eine Intensivierung dar (poco a poco cresc.). Liszt geht jedoch in seiner transparenten Transkription, in der die Bezeichnungen sempre dolcissimo und pp vorherrschen, dynamisch nicht über dieses vage Anschwellen hinaus. Die Gestirne als orchestrale „Concerttranskription“ Die dritte Nummer hebt sich allein schon ihrer großformalen Anlage wegen von den beiden Vorgängerinnen ab. Liszt formt Schuberts fünfzehn (!) Strophen umfassende Klopstock-Vertonung in 81 Takten in eine veritable „Concerttranskription“ mit orchestralem Anspruch um. Den Beginn macht eine 24-taktige Introduction, deren chromatisch die kleine Sexte C-As durchwandernder Basstriller wie ein Paukenwirbel klingt. Darüber breiten sich fanfarenartige Akkorde in triolischem Rhythmus aus, die den Inhalt der ersten Strophe vorwegnehmen: „Es tönet sein Lob Feld und Wald, Tal und Gebirg; Das Gestad hallet, es donnert das Meer dumpfbrausend Des Unendlichen Lob, siehe, des Herrlichen, Unerreichten von dem Danklied der Natur!“

Liszt, Die Gestirne (Schubert), T. 1–6

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Obwohl diese Einleitung Liszts eigene Erfindung ist, hat er die konstituierenden Elemente wie den Triller, den Triolenrhythmus, die Molltrübung und die Chromatik dem Original entnommen. Mit einem kleinen Glissando setzt das eigentliche Klaviervorspiel ein. Der anschließende Gesang beginnt in originaler, durch Akkorde verstärkter Tonhöhe und soll gemäß Bearbeiter con solennità präsentiert werden. Das hallende Gestade und das brausende Meer kommen wirkungsvoll zur Geltung: Schuberts Triller der Takte 7 und 9 erschallen bei Liszt um eine Oktave tiefer im „dumpfbrausenden“ Register. Die zweite Strophe erscheint im Gewand einer Variation mit oktavierter Melodie. Dem Text folgend, schwingt sich der Gesang in hohe Register empor („Die Luft weht es zu dem Bogen mit auf! Hoch in der Wolke ward der Erhaltung und der Huld Bogen gesetzt“). Die repetierenden Begleitakkorde und die nun gehäuft auftretenden Bass-Triller tragen zur weiteren Steigerung bei. Noch variantenreicher gestaltet sich der virtuose Schlussteil, den Liszt in Verschränkung mit der zweiten Strophe ohne die einleitenden Klaviertakte unmittelbar einsetzen lässt. Aufsteigende Triolenakkorde bis in die höchsten Lagen begleiten die nun pathetisch erschallende Melodie. Ab Takt 60 lassen wellenförmig auf- und absteigende Nonolenfiguren aus Sechzehnteln die Harmonien anstelle der Melodie in den Vordergrund treten. Seinen Abschluss findet Liszts Lobgesang auf Gott in einer Coda, die ein rhapsodisches Gegengewicht zur Einleitung bildet. Die Grundtonart wird zunächst durch plagale Kadenzierungen (B-Dur/b-Moll – F-Dur) umspielt, bevor Liszt überraschend nach H-Dur moduliert (T. 72). Diese drei Ganztöne entfernte Tonart wird indes bereits im Folgetakt zugunsten der Ausgangstonart wieder verlassen, die sich in einem furiosen Finale endgültig etabliert. Hymne – gespenstische Ruhe nach dem Sturm Liszt beendet seine kleine Sammlung geistlicher Schubert-Lieder nicht mit der effektvollen Gestirne-Bearbeitung, sondern fügt ihr den choralhaften Geisterchor aus der Bühnenmusik zum Schauspiel Rosamunde bei. In dieser Nummer für Männerchor und Blechbläser kommentiert Schubert die Giftmischerei des Fulgentius, der Rosamunde, die Prinzessin und rechtmäßige Herrscherin von Zypern, beseitigen will. Liszt dürfte sich der eigentlichen Funktion des Geisterchores nicht bewusst gewesen sein. Er hat den Text wohl vielmehr im übertragenen Sinn verstanden und somit unfreiwillig umgedeutet. Dafür sprechen zum einen die Titel Hymne und Esprit Saint der deutschen und französischen Ausgabe. Zum anderen passt der Akt des Giftmischens überhaupt nicht zu den spirituellen Gedichten der vorangegangenen Lieder. Der Grund dieses Missverständnisses ist in der komplizierten Rezeptionsgeschichte des Rosamunde-Schauspiels zu suchen. Während die Partitur 1866 erstmals erschien, wurde Helmina von Chézys Originaltext erst im Jahre 1996 wiedergefunden.11 11

Vgl. dazu Till Gerrit Waidelich, „Die vermeintlich verschollene Rosamunde. Zur Quellenlage von Helmina von Chézys Schauspiel und Franz Schuberts dazugehöriger Schauspielmusik“

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Zum Zeitpunkt der Lisztschen Auseinandersetzung mit dem Geisterchor lag dieser sowohl in einzelnen Stimmen12 wie auch in einer eigenen Bearbeitung von Schubert für Singstimme und Klavier vor.13 Verschiedene Anhaltspunkte lassen darauf schließen, dass Liszt sich auf die klavierbegleitete Fassung stützte. Zunächst verzichtet seine Version auf den eröffnenden D-Dur-Akkord, den die Blechbläser präsentieren. Außerdem wird die homophone Satzstruktur immer wieder durch lineare Achtel in der Bassstimme durchbrochen. Dennoch bleiben die typischen Charakteristika des Chorliedes wie die deutliche Gliederung in Phrasen, die meist in einen ausgehaltenen ff-Akkord münden, erhalten. Die Passage „Wer vom Licht sich abgewendet, der bewillkommt froh die Nacht, dass sie seltene Gabe spendet, ihn belohnt mit dunkler Macht“ steigert Liszt auf dem verminderten Septimenakkord Ais-Cis-E-G bis ins forte fortissimo (T. 16 f.). Die anschließende Szene, in welcher der Statthalter das Gift mischt, schwankt zwischen den Harmonien H-Dur und a-Moll, wobei die Chor- und Bläserstimmen dieses Pendeln durch paarweise Imitation noch verstärken. Eine wörtliche Klavierübertragung dieser an Zischlauten reichen Partie wäre wirkungslos. Liszt bedient sich daher eines Kunstgriffs und fügt eine durchlaufende Sextolen-Figur ein, die der Stelle Zusammenhalt und pianistischen Glanz verleiht.

Schubert, Geisterchor, T. 22–26

12 13

(Teil 1), in: Sullivan-Journal. Magazin der Deutschen Sullivan-Gesellschaft e. V. Nr. 11 (Juni 2014), S. 63–72. Siehe Deutsch, Schubert Verzeichnis, S. 499. Gesänge zum Drama Rosamunde, M. J. Leidesdorf, Wien, Juli 1828. Ebd.

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Liszt, Hymne (Schubert), T. 19–25

EINBLICK IN LISZTS WERKSTATT: 6 MELODIEN VON FRANZ SCHUBERT Erst drei Jahre nach dem Erscheinen der Geistlichen Lieder wurden neue SchubertTranskriptionen von Liszt greifbar. 1844 gab der Pariser Verleger Simon Richault die 6 Mélodies célèbres de François Schubert heraus.14 Der Titel der deutschen Schlesinger-Ausgabe, 6 Melodien von Franz Schubert, mit der für den deutschen Sprachraum wenig gebräuchlichen Bezeichnung „Melodien“ anstelle von „Liedern“ weist darauf hin, dass es sich beim deutschen Titel um eine Übersetzung der französischen Ausgabe handelt.15 Die neuen Klaviertranskriptionen entstanden in einer Zeit, in der das SchubertLied in Frankreich eine enorme Popularität erlangt hatte. Bis zum Jahre 1845 sollen allein bei Richault 336 Lieder in französischer Übersetzung erschienen sein.16 Liszts neue Sammlung vereint die beiden Kompositionen Trockne Blumen und Ungeduld aus Die schöne Müllerin mit den Einzelliedern Die Forelle, Des Mädchens 14

15 16

Bezeichnenderweise hatte der Verlag bereits zehn Jahre zuvor unter dem gleichen Titel die Schubert-Lieder Die Post, Ständchen („Leise flehen“), Am Meer, Das Fischermädchen, Der Tod und das Mädchen sowie das Schlaflied mit französischen Texten von Bélanger veröffentlicht. Siehe dazu Bibliothèque nationale de France, Sign. D. 13983: „Six Mélodies / Célèbres / de / François Schubert / avec / Paroles Françaises / de / Mr Bélanger / Dédiées à Monsieur Adolphe Nourrit / Par l’Auteur des Paroles.“ Dieses Heft hatte sich als Initialzündung für die Schubert-Lied-Rezeption in Frankreich entpuppt. Vgl. dazu Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 145. Vgl. Xavier Hascher, „Schubert’s reception in France: a chronology (1828–1928)“, in: Christopher H. Gibbs (Hg.), The Cambridge Companion to Schubert, Cambridge 1997, S. 263–269, S. 265.

Einblick in Liszts Werkstatt: 6 Melodien von Franz Schubert

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Klage, Das Zügenglöcklein und Lebe wohl!. Während die beiden Lieder aus dem Zyklus um die schöne Müllerin sowie die Forelle zum Zeitpunkt der Bearbeitung wohl zu Recht als „célèbre“ bezeichnet werden durften, trifft dieses Attribut auf die andere Hälfte nur bedingt zu.17 Dem von Abschied und Tod geprägten Inhalt der Lieder 1 bis 4 stehen zwei Transkriptionen gegenüber, deren heitere Aussage im Kontext geradezu ironisch anmutet. Bezeichnenderweise wird Liszt eben diese beiden Schlussnummern zwei Jahre später erneut bearbeiten. Sowohl die Zusammengehörigkeit als auch der inhaltliche Bruch spiegeln sich im harmonischen Konzept: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Lebe wohl! Mädchens Klage Das (Zügen-)Sterbeglöcklein Trockne Blumen Ungeduld Die Forelle

Es-Dur c-Moll As-Dur c-Moll (statt e-Moll) F-Dur (statt A-Dur) Des-Dur

Durch die Terzverwandtschaft der ersten vier Lieder (in Trockne Blumen folgt Liszt der transponierten Diabelli-Ausgabe) ergibt sich eine symmetrische Gruppierung um die Tonart c-Moll. Mit Ungeduld gerät das harmonische Gerüst aus den Fugen. Liszt transponierte die Komposition von A-Dur nach F-Dur, wodurch sie im Quintabstand zum Vorgängerlied steht und sich mediantisch zur Schlussnummer verhält. Da sich die beiden Rahmenlieder im Großsekund-Abstand gegenüberstehen, schließt sich der Kreis in den 6 Melodien nicht. Nach einer Bemerkung Lina Ramanns soll es sich bei dieser Sammlung um eine etwas eilige Arbeit gehandelt haben, die Liszt im Gespräch als überladen bezeichnete.18 Seine spätere komplette Überarbeitung zweier Lieder spräche für eine überstürzte Genese. Günther Protzies konnte den zeitlichen Entstehungsrahmen auf den 13. bis 25. August 1844 eingrenzen, was mit Ramanns Überlieferung ebenfalls übereinstimmt.19 In den 6 Melodien kann wiederum ein unmissverständlicher Bezug zu Liszts biografischer Situation gefunden werden. Dass er sie mit dem Lied Lebe wohl! eröffnet, reflektiert die definitive Trennung von Marie d’Agoult.

17

18 19

Vgl. dazu Ahrens, „Liszts Transkriptionen – Wegbereiter der Rezeption von Schuberts Liedern?“. Für die Forelle konnte Christian Ahrens bis zum Jahre 1844 zehn gesicherte Aufführungen nachweisen, zwei davon in Wien mit Liszt und Benedikt Randhartinger. Die Ungeduld stand bis Ende 1844 mindestens siebenmal auf den Konzertprogrammen, wobei zusätzlich zweimal die Bezeichnung Div. Müllerlieder auftauchte. Das Lied Trockne Blumen wurde gemäß Ahrens in den Jahren 1842 und 1843 viermal im Konzert gegeben, darunter zweimal in Prag. Die erste nachweisliche Aufführung von Mädchens Klage fand im September 1844 in Wien statt. Für das Zügenglöcklein ist eine einzige Präsentation am 6. Dezember 1842 im Wiener Musikvereinssaal durch François Wartel verzeichnet. Wartel sang am 7. März 1843 in Wien auch das vermeintliche Schubert-Lied Adieu! (Lebe wohl! ). Vgl. dazu Raabe, Liszts Schaffen, S. 283. Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 146.

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Lebe wohl! – ein Missverständnis Für die Ouvertüre hat sich Liszt irrtümlicherweise ein Lied ausgesucht, das gar nicht von Schubert stammt. Lebe wohl! geht auf den Musiker und Dichter August Heinrich von Weyrauch (1788–1865) zurück. Weyrauchs Vertonung von Karl Friedrich Gottlob Wetzels Gedicht „Nach Osten geht, nach Osten der Erde Flug“ war 1824 im Selbstverlag mit dem Titel Nach Osten! erschienen. Die falsche Zuordnung ist wohl Richault zuzuschreiben, der das Lied um 1835 unter Schuberts Namen veröffentlichte.20 Der Berliner Verleger Schlesinger brachte die Komposition acht Jahre später als Klavierversion von Theodor Döhler mit unterlegtem deutschem Text auf den Markt.21 Noch im Jahre 1893 beklagte sich Max Friedlaender über die falsche Autorschaft, die dem Werk „noch immer in sämmtlichen französischen, russischen und italienischen Schubert-Sammlungen und leider auch in vielen englischen und deutschen Ausgaben“ anhafte.22 Doch erst die Übersetzung ins Französische bescherte diesem unscheinbaren Lied Erfolg. Ein Vergleich zwischen den jeweiligen ersten Strophen von Wetzels Gedicht, der französischen Übersetzung durch Bélanger sowie der nachträglichen Übertragung der französischen Version in die deutsche Sprache fördert überraschenderweise drei völlig verschiedene Inhalte zu Tage. Der originale Wortlaut liest sich folgendermaßen: „Nach Osten geht, nach Osten, Der Erde stiller Flug Da wohnt das Licht – nach Osten, Auch meiner Liebe Zug. Dort über jenen Bergen, Dort über’m blauen Wald, Da wohnt – wie sollt’ ich’s bergen? Die himmlische Gestalt.“23

Auch die beiden Liedtexte unterscheiden sich erheblich voneinander im idiomatischen Duktus: „Voici l’instant suprême: L’instant de nos adieux! Ô toi! seul bien que j’aime! … sans moi retourne aux cieux! La mort est une amie qui rend la liberté Au Ciel reçois la vie Et pour l’éternité!“

20 21 22 23

„Schon naht, um uns zu scheiden, der letzte Augenblick, in’s Paradies der Freuden kehr ohne mich zurück. Der Tod kann Freiheit geben mit milder Freundeshand, geh ein zu neuem Leben in jenes bessre Land.“

Vgl. dazu Deutsch, Schubert Verzeichnis, S. 657. Mehrere Komponisten haben dieses vermeintliche Schubert-Lied bearbeitet, darunter auch Stephen Heller. Max Friedlaender, „Fälschungen in Schubert‘s Liedern“, in: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft, Leipzig, Breitkopf & Härtel, 9 (1893), S. 169–188, S. 182. Zacharias Funck (= Carl Friedrich Kunz) (Hg.), F. G. Wetzel’s gesammelte Gedichte und Nachlaß, Leipzig 1838, S. 58.

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Der harmonisch interessanteste Abschnitt von Weyrauchs Vertonung besteht in den Liegeton-Takten über As mit chromatisch aufsteigender Basslinie („La mort est une amie qui rend la liberté“ und „Adieu jusqu’à l’aurore du jour en qui j’ai foi“). Im ersten Durchgang versieht Liszt diese Stelle mit aufsteigenden, in beiden Händen gespiegelt angeordneten Akkorden. Bei der Wiederkehr in der zweiten Bearbeitungsstrophe beschleunigt er seine filigrane Achteltriolen-Begleitung zu aufsteigenden, gebrochenen Akkorden in Sechzehntelwerten. Das Thema „Trennung im irdischen Leben und Vereinigung im Himmel“ liegt auch dem nachfolgenden Lied Mädchens Klage zugrunde. Mädchens Klage als virtuose Überwucherung? Schuberts Vertonung von Theklas Klagegesang über ihren in der Schlacht gefallenen Geliebten ist ein einziger auskomponierter Affekt. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass Liszt diese große tragische Szene zu einer seiner virtuosesten und eigenständigsten Transkriptionen überhaupt ausgearbeitet hat. Dass hinter dieser Fassade ein tieferer Sinn als die Lösung rein spieltechnischer Aufgaben verborgen ist, ergibt sich aus Liszts Verständnis einer „poetischen Musik“.24 Den Schlüssel zur ästhetischen Rechtfertigung könnte Schillers zweite Strophe liefern, in der die heilige Maria angerufen wird. Eine Bezugnahme Liszts auf die Trennung von Marie d’Agoult, die er mehrfach mit der Gottesmutter assoziierte,25 scheint in diesen Versen geradezu greifbar: „Das Herz ist gestorben, die Welt ist leer, Und weiter gibt sie dem Wunsche nichts mehr; Du Heilige, rufe dein Kind zurück, Ich habe genossen das irdische Glück, Ich habe gelebet und geliebet.“26 Die musikalische Umsetzung gestaltet sich als dramatische Variation des Originals. Anders als zu Beginn liegt die Melodie nun in Mittellage und wird von wellenförmigen agitato-Figurationen beinahe zugedeckt. Besonders die repetitiven chromatischen Zweiunddreißigstel mit halbtaktig anschwellender Gruppierung sorgen für einen mächtigen Klangrausch.

24 25 26

Hinrichsen, „Rezeption als Selbstverständigung“, S. 123. Vgl. dazu beispielsweise die Ave Maria-Transkription in dieser Arbeit, S. 86 ff. Adelbert von Chamisso scheint sich im letzten Lied von Robert Schumanns Zyklus Frauenliebe und -leben op. 42 an Schillers Gedicht zu orientieren: „Es blicket die Verlassne vor sich hin, / Die Welt ist leer. / Geliebet hab ich und gelebt, ich bin / Nicht lebend mehr.“

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Liszt, Mädchens Klage (Schubert), T. 19–24

Tatsächlich gelingt es Liszt, die technischen Anforderungen in der dritten Strophe noch zu steigern. Ausgedehnte Tremoli mit bis zu vier Balken schwärzen das Notenbild und füllen die Melodietöne aus, die allein ihrer hohen Lage wegen überhaupt noch wahrnehmbar sind. Das Zügenglöcklein mit Lindenbaum-Assoziation Das Zügenglöcklein ist eine weniger bekannte Komposition des Duos Schubert/ Seidl als etwa die Taubenpost oder Wanderer an den Mond. Im österreichischen Sprachgebrauch bedeutet der Begriff „Zügenglocke“ soviel wie Sterbeglocke. Sie läutete entweder als Trost für jemanden, der „in den letzten Zügen“ lag oder für einen kurz zuvor Verstorbenen, dessen Ableben durch das Glockengeläut bekanntgegeben wurde. Seidls Glocke wird für einen unbekannten Sterbenden in Schwingung versetzt, über dessen Charakter und Leben der Erzähler mutmaßt. Schubert lässt sie auf dem Quintton Es von As-Dur erklingen. Liszt räumt diesem Glockenton eine noch prominentere Stellung ein. Seine Cloche wird zunächst alleine vorgestellt und mit einem Auftakt versehen, der im Verlauf der Transkription eine wichtige Rolle einnimmt. Er weitet Schuberts vier Einleitungstakte auf neun Takte aus und lässt den Glockenton ins Bassregister wandern, wo er als Orgelpunkt agiert.

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Liszt, Das Zügenglöcklein (Schubert), T. 10–12

Für die Dauer der ersten Strophe notiert Liszt das Sterbeglöcklein auf einem gesonderten System als verspieltes Echo, das die in Originallage erklingende Melodie überhöht. An der sensiblen Übergangsstelle zur zweiten Strophe in Takt 20 schweigt Liszts Glocke. Dafür wird das Geläut in der Folge zu einer filigranen Sextolenfigur ausgebaut, als deren Spitzenton noch immer Es’ ’ ’ fungiert. In den Versen „Zog er gern die Schelle? Bebt er an der Schwelle, wann ‚Herein‘ erschallt?“ pendeln Schuberts Harmonien unschlüssig zwischen Ces-Dur und as-Moll. Liszt unterstreicht diese Frage mit schroffen dynamischen Wechseln und virtuos ausfigurierten Umspielungen in der rechten Hand, die sich emanzipieren und in ein kadenzartiges Zwischenspiel münden. Aus der Kadenz entwächst eine repetitive, die dritte Strophe charakterisierende Triolenbewegung. Die Quintessenz dieser Verse besteht darin, dass trotz anfänglicher Zweifel kein gottloser, sondern ein gläubiger Mensch sein Leben beschließt. Die Musik beginnt in as-Moll, erreicht dann mittels Sequenzierung die Tonart CesDur und via Dominantseptimen-Akkord die Ausgangstonart As-Dur. Diese Wiedererlangung der Grundtonart gestaltet sich bei Liszt als triumphale Rückkehr (f energico con somma passione). Entsprechend der Verszeile „aber ist’s ein Müder“ wählt Liszt ein etwas gemächlicheres Tempo für die vierte Strophe (un poco ritenuto il tempo). Eine durchgehende Trillerkette, die an seine Lindenbaum-Transkription erinnert, lässt den Glockenton vibrieren. Ab Takt 48 verselbständigt sich der Triller, die Satzstruktur wird im wahrsten Sinne spielerisch aufgelockert, was jedoch vom Interpreten höchste technische Brillanz voraussetzt.

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Liszt, Das Zügenglöcklein, T. 48–51

Mit der letzten Strophe geht ein Taktwechsel einher. Liszt hatte bereits von Beginn an auf Schuberts Alla-Breve-Vorzeichnung zugunsten eines 4/4-Taktes verzichtet. Nun wandelt er – wie früher bereits in den Nebensonnen – die binäre in eine tänzerische ternäre Taktstruktur um. Dadurch bekommt die Schlussstrophe eine ganz eigene Färbung: „Ist’s der Frohen einer, der die Freuden reiner Lieb und Freundschaft teilt, gönn ihm noch die Wonnen unter dieser Sonnen [!], wo er gerne weilt.“ Trockne Blumen – kein Sakrileg! „Der erste und bei weitem radikalste Bearbeiter Schuberts aber war Schubert selbst […].“27 Dies lässt sich mit einem Blick auf Schuberts Variationen über Trockne Blumen für Flöte und Klavier (D 802) leicht verifizieren. Die hochvirtuose Behandlung des Flöten- und Klavierparts überrascht deswegen so sehr, weil Schubert eines seiner schlichtesten und traurigsten Lieder als Grundlage gewählt hat. In der fünften Variation umspielt die Flöte die vom Klavier vorgetragene Melodie mit höchst artistischen Figurationen:

27

Hinrichsen, „Rezeption als Selbstverständigung“, S. 121.

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Schubert, Variation Nr. 5 aus Introduktion und Variationen über „Trockne Blumen“

Alfred Einstein kommentierte Schuberts Variationen kritisch: „Es betrübt den Verehrer Schuberts, ein Lied so einziger Innigkeit und Verhaltenheit überhaupt einer virtuosen Behandlung ausgesetzt zu sehen und schließlich verwandelt in einen triumphalen Marsch – ein Sakrileg, das sich niemand anders gestatten durfte als Schubert selbst.“28 Nur zwanzig Jahre nach der Entstehung der Flötenvariationen setzte sich auch Franz Liszt schöpferisch mit dem Lied auseinander. Obschon sein Umgang damit weit respektvoller und zurückhaltender ist, warfen ihm Kritiker eine pietätlose Herangehensweise an Schuberts Lieder vor. Doch von einem „Sakrileg“ kann in seiner Klaviertranskription keineswegs die Rede sein. Die nähere Beschäftigung zeigt, dass sich Liszt auch für dieses Lied aus dem Zyklus Die schöne Müllerin der Diabelli-Ausgabe bediente. Zum einen verrät dies die Tonart c-Moll, die der Verleger zugunsten einer weniger exponierten Stimmlage wählte (anstelle des Schubertschen Spitzentones Gis’’ braucht der Vortragende nur das zweigestrichene E zu erklimmen). Zum anderen enthält die Fassung aus dem Jahre 1830 an einigen Stellen eine leicht modifizierte, auf Johann Michael Vogl zurückgehende Melodieführung, die der Bearbeiter genau befolgt.29 Der zusätzliche Nonenvorhalt in Takt 5 etwa nimmt Schuberts ausdrucksstarke Dissonanz im neunten Takt vorweg. Auch die Triolen auf die Worte „so weh“ (T. 8) und „wie blass“ (T. 12) entpuppen sich als Ausschmückungen, die nach Schuberts Tod hinzugefügt wurden. Zunächst wandelt Liszt Schuberts Vortragsbezeichnung Ziemlich langsam in ein Andante malinconico um. Den Rezitativ-Charakter des Beginns verstärkt er mit harfentypischen Arpeggien. Unmittelbar vor der zweiten Strophe erklingt der fragende Zwischentakt mit dem übermäßigen Quintsextakkord um eine Oktave erhöht (T. 15). Danach wird die noch immer in Originalhöhe gesetzte Melodie durch Ok28 29

Alfred Einstein, Schubert. Ein musikalisches Porträt, Zürich 1952, S. 282. Siehe dazu diese Arbeit, S. 139.

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taven verdoppelt, wobei die nachschlagende und überkreuzende Begleitung den Vortrag belebt (poco agitato). Gegen Strophenende verlangsamt sich das Tempo durch mehrere Ritenuti und spannungsvolle Fermaten. Obwohl Liszt den C-Dur-Teil zur klanglichen Steigerung nutzt (fortissimo con slancio und dreifaches forte), wartet man vergebens auf einen über die ganze Tastatur verteilten Ausbruch. Seine Übertragung bleibt vielmehr der originalen Disposition treu. Bei den Versen „Und wenn sie wandelt am Hügel vorbei und denkt im Herzen, der meint’ es treu!“ spielt sich die sanfte Musik im hohen Register ab (dolcissimo armonioso).

Liszt, Trockne Blumen (Schubert), T. 29–34

Von der Schlüsselstelle mit dem verminderten Septimenakkord Fis-A-C-Es zum kadenzierenden Quartsextakkord in Takt 35 ff. an bewegt sich Liszts Version vorwärts (stringendo, più crescendo ed appassionato). „Dann Blümlein alle, heraus, heraus“ gipfelt im Ausruf: „Der Mai ist kommen, der Winter ist aus“, der nach mehrmaliger Wiederholung im forte fortissimo erschallt. Das sotto-voce-Nachspiel übernimmt Liszt bis auf die Kürzung um einen Takt wörtlich, wodurch die zwischen Hoffnung und Resignation bangende Aussage des Liedes beibehalten wird. „Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben!“ Drei Ungeduld-Schlüsse im Vergleich Mit der Ungeduld ändert sich der Tonfall. „Dein ist mein Herz, und soll es ewig bleiben“ ist die kämpferische Parole des Protagonisten um die Gunst seiner nichts ahnenden Geliebten („Und sie merkt nichts von all dem bangen Treiben“). Auch Liszt scheint mit dem Lied gerungen zu haben, denn zwei Jahre nach der Erstfassung unterzog er diese für seine Müller-Lieder einer Überarbeitung.30 30

Zur Erstfassung vgl. ebd., S. 143 ff.

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Die letzten Takte der Müller-Lieder sind der sanften Stimmung der vorangegangenen Bearbeitungs-Strophe (amoroso) verpflichtet. Nach einem zweimaligen Echo („ewig bleiben“), das im drittletzten Takt gemäß Schuberts Klaviernachspiel in die Oberstimme und danach als Lisztsche Erfindung in die Mittelstimme eingebettet ist, verklingt die Transkription mit einem Arpeggio in öffnender Quintlage. Der Bearbeiter verzichtet somit auf Schuberts wirkungsvollen f-Schlussakkord.

Schubert, Ungeduld, T. 47–52

Liszt, Ungeduld (Müller-Lieder), T. 74–78

Der Schluss der Erstfassung hat dagegen wenig mit dem originalen Liedende gemein. Über dem Orgelpunkt F breitet Liszt die aus dem Mollkontext entlehnte Subdominante b-Moll aus und fügt abschließend den Ton Ges mit Fermate hinzu, was zu einem Dominantseptnonen-Akkord führt. Dieses Ende mutet wie ein Choral an,

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der die Unvergänglichkeit des Beschlusses „Dein ist mein Herz und soll es ewig bleiben“ zu untermauern scheint.

Liszt, Ungeduld (6 Melodien), T. 75–79

Dass die Bearbeitung bei Liszt ein nicht abschließend fixierbarer Prozess war, zeigen auch die verschiedenen Werkstufen seiner Auseinandersetzung mit dem Lied Die Forelle. Die Forelle im Doppelpack Am 14. Mai 1838 und am 2. Dezember 1839 brachte Liszt gemeinsam mit dem Tenor Benedikt Randhartinger nebst anderen Schubert-Liedern das damals bereits im Konzertleben präsente und in Notendrucken verbreitete Lied Die Forelle im Wiener Musikvereinssaal zu Gehör.31 Bevor der Klaviervirtuose mit seinen eigenen Forelle-Arrangements auftrat, spielte er nachweislich die Fassung von Stephen Heller.32 Dass Liszt im Zeitraum von 1844–1846 zwei völlig unterschiedliche Transkriptionen angefertigt hat, ermöglicht einen unmittelbaren Einblick in seine Werkstatt.33 Von Schubert sind mehrere Vertonungen ohne Vorspiel überliefert. Heute allgemein verbreitet ist die fünfte Fassung mit Diabellis Einleitung.34 Obwohl kein originales Vorspiel vorhanden ist, hat Schubert, dem damaligen Usus in der Liedbegleitungspraxis folgend, mit Sicherheit vor dem Einsatz des Sängers improvisiert.35 Dies rechtfertigt wiederum Liszts Bearbeitungsverfahren, dem eine puritanische Urtext-Huldigung fern steht. In der ersten, mit Allegretto scherzando con capriccio überschriebenen Transkription wird das Diabelli-Vorspiel in den Kontext eines öffnenden Orgelpunkts auf der Dominante gestellt. Dabei steigt der akzentuierte Ton in Terzschritten an und mündet in einen perlenden pentatonischen Lauf über die schwarzen Tasten, der im siebten Takt in einer fragenden Kurz-Fermate zum Stillstand kommt. 31 32 33

34 35

Ahrens, „Liszts Transkriptionen – Wegbereiter der Rezeption von Schuberts Liedern?“, S. 16 f. Siehe dazu diese Arbeit, S. 172. Am 9. Mai 1846 kündigte Diabelli die zweite Version von Liszts Forelle-Bearbeitung in der WZ an. Siehe ebd., S. 315. In ein Exemplar der Version von 1846 trug Liszt später Änderungen und Ergänzungen ein, was als Grundlage einer Neuausgabe diente. In der NLA sind diese handschriftlichen Zusätze berücksichtigt. Vgl. dazu NLA, Serie II, Bd. 7, S. XIV ff. Zur Problematik der verschiedenen Fassungen siehe NSA, IV, Bd. 2a, Vorwort S. XXII. Ebd., S. XIV.

Einblick in Liszts Werkstatt: 6 Melodien von Franz Schubert

163

Liszt, Die Forelle (Schubert), 1. Fassung, T. 1–8

In der Zweitfassung (siehe Notenbeispiel auf der nächsten Seite) stellt der Bearbeiter dem Lied mehr als die doppelte Anzahl an einleitenden Takten voran, die das Diabellische Vorspiel zu einer kleinen Ouvertüre erweitern und das Lied im Kern vorstellen. Zunächst verzichtet Liszt auf den Impuls auf der ersten Zählzeit und überlässt die „Pfeilfigur“36 sich selbst. Das Vorspiel durchläuft innerhalb von nur sechs Takten die drei weit voneinander entfernten Stationen Des-Dur, fis-Moll und D-Dur. Ab Takt 7 erklingt eine Vorschau der changierenden Akkorde der dritten Strophe. Erst in Takt 10 werden die Basstöne enharmonisch zu Es und Ges umgedeutet und dem As-Dur-Septimenakkord der rechten Hand angepasst. Die wiedererlangte Dominante resultiert wie bereits in der ersten Fassung in eine pentatonische Skala, deren Fluss jedoch keine repetierten Noten mehr aufhalten (siehe Notenbeispiel auf der nächsten Seite). Eine besondere Herausforderung stellt die Bewältigung der virtuosen Begleitstimme der Forelle 1 dar. Dazu bemerkt Liszt: „Die 16tel müssen immer ein wenig beschleunigt werden während der ganzen Melodie“. Ganz im Sinne eines drängenden Capriccios verkürzt er auch einzelne Melodieauftakte zu kurzatmigen Zweiunddreißigsteln. Klavierstimme und Melodie dieser Erstversion sind eng ineinander verzahnt und dennoch in weitem Ambitus zusammengefasst, da das „Pfeilmotiv“ taktweise das Register wechselt und gelegentlich sogar noch mit einer zweiten Stimme versehen wird („des muntern Fischleins Bade“). In der Zweitfassung bewegt sich die gesamte Passage im selben Register, was die Hervorhebung der Melodie vereinfacht.

36

Udo Zilkens, Franz Schubert. Vom Klavierlied zum Klavierquintett. Die Forelle im Spiegel ihrer Interpretationen, Köln, 1997, S. 20.

164

V Zwei Schubert-Sammlungen als Zeugen einer gescheiterten Beziehung

Liszt, Die Forelle, 2. Fassung, T. 1–13

Einblick in Liszts Werkstatt: 6 Melodien von Franz Schubert

165

In der zweiten Strophe der Forelle 1 erscheinen in beiden Händen gleichzeitig regelmäßige Sechser- und Vierer-Gruppierungen (l’accompagnamento scherzando e vivace). Wie mehrfach in den 6 Melodien anzutreffen, exponiert Liszt auf die erste Zählzeit jeweils nur den Melodieton und spart den Bass aus. In der Forelle 2 verleihen die Bässe auf den Taktanfang den Boden, den die Urfassung vermissen lässt. Das Wunschdenken des Betrachters („So fängt er die Forelle mit seiner Angel nicht“) drückt sich in beiden Transkriptionen in einem Klangwechsel aus. Die 1844 komponierte grazioso-Melodielinie wird sowohl von Akkorden als auch von einer filigranen Begleitung unterstützt. Zwei Jahre später setzt Liszt auf explizite Dynamikangaben: Ein Crescendo leitet ins forte der Verszeile „So lang dem Wasser Helle, so dacht’ ich, nicht gebricht“, das bei „So fängt er die Forelle mit seiner Angel nicht“ in ein piano subito absinkt. Die Wiederholung präsentiert sich in trotzig triumphierendem forte, worauf das Zwischenspiel ins hohe Register wandert und im ppp verklingt. An dieser Stelle fügt Liszt beiden Transkriptionen eine zusätzliche Dur-Strophe hinzu – als ob er der Forelle vor ihrem unweigerlich nahenden Ende einen Aufschub gewähren wolle. Dem Interpreten der älteren Fassung wird das Äußerste abverlangt: Die Melodie erklingt in Baritonlage, während die rechte Hand waghalsige Oktavbrechungen (leggiero con bravura) zu bewältigen hat. Ein vereinfachendes Ossia, das im Ambitus statt der Oktaven „nur“ Sexten und Quinten umfasst, bringt nur scheinbare Erleichterung. Ab Takt 63 fordert Liszt ein ff brioso oder alternativ eine (keineswegs einfacher auszuführende) durchgehende Trillerkette. Die entsprechende Passage in der Forelle 2 ist mit vollgriffigen Akkorden in der linken und einer leichter ausführbaren brioso-Figur in der rechten Hand ausgestattet. Mit Verspätung schlägt die Stimmung nun auch in den Lisztschen Arrangements um, was mit einem Tempowechsel einhergeht. In der ersten Version wird der ganze Ambitus der Tastatur ausgeschöpft. An der Stelle, wo der Angler listig das Wasser trübt, übertönt die Begleitung die Melodie und kulminiert in einem rasanten Abgang, der in die Doppeldominante mündet. Zwar löst sich auch die zweite Bearbeitung ins Rhapsodische auf, doch erweist sich die Struktur dort insgesamt als weniger ungestüm.37 Auch die zaghaften, in die Stille der Generalpause hineinspielenden Pizzicati – eine Idee Stephen Hellers38 – greift Liszt später nicht mehr auf. Es ist, als ob der Interpret an dieser Stelle zu realisieren begänne, dass die List gelungen ist.

37 38

Die Textunterlegung in der NLA ist in beiden Bearbeitungen falsch platziert: „Und eh ich es gedacht“ sollte erst nach dem più stringendo ab Takt 90 erfolgen, resp. beim capriccioso in T. 94 unterlegt sein. Vgl. dazu diese Arbeit, S. 172.

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V Zwei Schubert-Sammlungen als Zeugen einer gescheiterten Beziehung

Liszt, Die Forelle, 1. Fassung, T. 85–90

Die letzte Nennung des Wortes „die Betrogne“ ist in beiden Bearbeitungen ausgeschmückt. In Takt 108 der Forelle 2 rieselt ein verminderter Septimenakkord über A in Sexten von oben herab und kommt in einer Fermate auf der Dominante zum Stehen. Mit dem siebentaktigen Nachspiel geht eine letzte Beschäftigung mit der imitierenden Begleitfigur einher, die in einen dolcissimo-Lauf auf den schwarzen Tasten verklingt. Am Ende mimt die große Terz neckisch das Thema der Anfangstakte. Die „Betrogne“ der ersten Version zeigt sich in perlenden Sextolen, die in Zweiunddreißigstel-Werten von höchsten Regionen in die Mittellage fließen. Das imitierende Nachspiel erweist sich als würdiger Abschluss dieser insgesamt technisch sehr anspruchsvollen Aufgabe. Da Liszts Forelle-Urfassung bereits zu Beginn eine hohe Materialdichte aufweist, bleibt in den Variationen nur wenig Raum zur Entfaltung. Durch die vielen verschiedenen Einfälle und die zahlreichen Ossias droht die Transkription überdies in Einzelteile zu zerfallen. Thomas Kabisch sieht im „inflationären Gebrauch immer neuer Begleitfiguren“ und der „mangelnden Ökonomie in der Entwicklung der

Einblick in Liszts Werkstatt: 6 Melodien von Franz Schubert

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Varianten“ eine der evidentesten Schwächen der Forelle 1.39 Dagegen soll der Virtuose in der verspielten und pianistischen zweiten Fassung „praktische Selbstkritik“ an seiner Erstfassung üben.40 Die Überarbeitung war wohl eher pragmatischer Natur und darauf zurück zu führen, dass sich Liszt die Komposition für bevorstehende Aufführungen als Konzertstück neu einrichtete.41 Auch die Neufassung blieb jedoch nicht vor kritischen Stimmen verschont. Wenn Peter Raabe behauptet, dass sich Liszt in solchen Passagen wie der eingefügten Kadenz unverzeihlich ins Spielerische verliere,42 darf nicht vergessen werden, dass der große Virtuose des 19. Jahrhunderts nicht mit den Bewertungskriterien aus der Mitte des 20. Jahrhunderts gemessen werden darf. Denn gerade in solch geschmackvollen und ästhetisch legitimierten Ausdeutungen fern philologischer Notentreue lässt sich Liszts Qualität erkennen. Das gleichnishafte Bild mit dem tückischen „Betrug“ mag Liszts eigenen Empfindungen entsprochen haben. In der Zeit der Auseinandersetzung mit Marie d’Agoult, die zur endgültigen Trennung führte, war Liszt der Meinung, dass seine Gefährtin durch Gerüchte und Fehlinformationen zu seinem Lebenswandel getäuscht worden sei.43 Im Frühjahr 1844 schrieb er ihr: „Quant à mes amis plus intimes je ne leur ai point fait de mensonges. Je leur ai dit tout bonnement que vous désapprouviez et condamniez ma vie orgiaque -partant que vous m’aviez signifié qu’il valait mieux ne pas nous voir et qu’ainsi nous ne nous voyions plus.“44

Marie d’Agoults Roman Nélida, der, nur vordergründig chiffriert, die problematische Liaison zwischen ihr und dem nicht gerade schmeichelhaft dargestellten Liszt schildert, erschien in mehreren Folgen zwischen dem 25. Januar und 10. März 1846 in der Revue Indépendante. Liszts Antwort auf die ihn peinlich berührende Veröffentlichung kann durchaus in seiner neuen Forelle-Transkription gefunden werden.

39 40 41 42 43 44

Kabisch, Liszt und Schubert, S. 89. Ebd. Am 22. März 1846 spielte Liszt seine Forelle-Transkription nachweislich in Wien. Danach ist sie immer wieder in seinen Konzertprogrammen anzutreffen. Raabe, Liszts Schaffen, S. 7 f. Siehe dazu die Ausführungen von Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 159. Brief von Franz Liszt an Marie d’Agoult vom 12. oder 13. April 1844, zit. in: Gut/Bellas, Correspondance, S. 1098.

VI EXKURS: DIE SCHUBERT-BEARBEITUNGEN STEPHEN HELLERS Sowohl hinsichtlich der biographischen Eckdaten wie auch bezüglich seiner Schubert-Begeisterung ist Stephen Hellers (1813–1888) Werdegang demjenigen von Liszt erstaunlich ähnlich. Doch während der eine zum berühmtesten und schillerndsten Klaviervirtuosen des 19. Jahrhunderts avancierte, musste der andere ein Leben lang um seine Existenz kämpfen. Heller wurde am 15. Mai 1813, zwei Jahre nach Liszt, ebenfalls in Ungarn (Pest) geboren und starb wie sein Landsmann im Alter von 74 Jahren. Triebfeder für die Laufbahn beider Pianisten waren ihre fordernden Väter, die den eigenen Beruf aufgaben, um sich der Karriere ihrer Sprösslinge zu widmen. Im Unterschied zu Benedict Ignaz Heller war Adam Liszt jedoch selbst Musiker und kannte sich in diesen Kreisen aus. Beide Knaben wurden in der Musikmetropole Wien vom renommierten Klavierpädagogen Carl Czerny unterrichtet, wobei Franz bei Stephens Ankunft bereits nach Paris weitergezogen war. Heller blieb nur kurze Zeit bei Czerny und wechselte danach zu Anton Halm (1789–1872), der mit Beethoven befreundet war. Auch den Unterricht des Geigers und Pianisten Carl Maria von Bocklet (1801–1881), der zum Schubert-Kreis zählte, hat Heller zeitweise in Anspruch genommen.1 Jahre später schwärmte er in einem Brief an Robert Schumann über seine Wiener Ausbildungszeit, in der er sowohl Beethoven als auch Schubert kennengelernt habe: „J’ai vu Beethoven, j’ai vu Schubert, et souvent, à Vienne; j’y ai entendu la meilleure troupe d’opéra italien, et quelle conjonction d’œuvres et d’interprètes: les quatuors de Mozart et de Beethoven joués par Schuppanzigh et consorts, les symphonies de Beethoven par l’Orchestre de Vienne. Tout de bon, honorée confrérie [les Davidsbündler], ne suis-je pas un voyant exceptionnel et privilégié, un auditeur favorisé du destin?“2

Insgesamt zeugen 55 Transkriptionen von Schubert-Liedern, die mehrheitlich in den Jahren 1839–1849 entstanden, von Hellers Begeisterung für den Wiener „Liederfürsten“. Auch hierbei handelt es sich um eine merkwürdige Parallele, denn diese Zahl ist deckungsgleich mit der Anzahl Bearbeitungen aus Liszts Feder. Nach einer dreijährigen Ausbildungszeit brachen Vater und Sohn Heller zu einer großen Tournee durch Europa auf, die nach Ungarn, Siebenbürgen, Polen (in 1

2

Schubert widmete Carl Maria von Bocklet seine D-Dur-Sonate (D 850). Anlässlich der letzten Schubertiade vom 28. Januar 1828 bei Josef von Spaun, die zu Ehren von dessen Braut in seiner Amtswohnung, den „Klepperställen“ in der Teinfaltstraße, gegeben wurde, ist bei Deutsch zu lesen: „Schubert brachte Bocklet, Schuppanzigh und Linke mit zur Aufführung eines seiner zwei Klaviertrios (wahrscheinlich das in Es-Dur) und spielte hinreißend mit Bocklet vierhändige Variationen über ein eigenes Thema (wohl die in As-Dur); Bocklet soll Schubert danach geküßt haben. Schubert und Gahy haben dann wohl auch zum Tanze aufgespielt.“ Deutsch, Dokumente, S. 486. Brief von Stephen Heller an Robert Schumann vom 14. Februar 1836, zit. in: Stephen Heller, Lettres d’un musicien romantique à Paris, hrsg. von Jean-Jacques Eigeldinger, Paris 1981, S. 90, Fußnote 90.

VI Exkurs: Die Schubert-Bearbeitungen Stephen Hellers

169

Warschau kam es zu einer Begegnung mit Chopin), weiter nach Sachsen bis Hannover und Hamburg und danach über Kassel, Frankfurt und Nürnberg Richtung Süden führte. In Augsburg erlitt der junge Pianist einen Zusammenbruch, der das Ende seiner Karriere als Klaviervirtuose markierte. Damals reifte in ihm der Entschluss, sich ganz der Komposition zu widmen.3 In dieser Zeit trat er mit Robert Schumann in brieflichen Kontakt und wurde zum Augsburger Korrespondenten der NZfM ernannt. Schumann besprach einige von Hellers Werken lobend und führte ihn beim Leipziger Verleger Kistner ein. Der junge Musiker blieb der Stadt, in der er durch Friedrich Graf Fugger-Kirchheim-Hoheneck gefördert wurde, bis 1838 erhalten. In diesem Jahr traf er den Pianisten Friedrich Kalkbrenner (1785–1849), der Heller einlud, ihm nach Paris zu folgen. Im Herbst traf der 25-Jährige in der französischen Hauptstadt ein und erlebte sogleich eine bittere Enttäuschung, die er rückblickend in seinen Memoiren festhielt. Nach einem Rundgang, auf dem Kalkbrenner dem Studenten seine kostbare Einrichtung präsentierte, und einem Besuch beim Verleger Maurice Schlesinger wurden dem fast mittellosen Heller folgende Bedingungen unterbreitet: „Tous les huit jours, je vous donnerai une leçon, moi-même. Si j’en étais empêché, un de mes meilleurs élèves, Camille Stamaty, me remplacerait. D’abord, un petit examen avant de commencer: avez-vous assez d’argent pour me payer les quinze cents francs pour trois ans que doivent me payer tous les élèves qui se destinent à l’art? Si vous n’avez pas d’argent comptant à me donner – 500 francs d’avance – vous me souscriez un papier de ce genre: Vous me donnez votre parole d’honneur de ne jamais professer une autre méthode que la mienne. Si vous composez quelque chose, vous ne le donnerez à aucun éditeur sans ma permission. Je ne veux pas que mes élèves me compromettent, en livrant à la publicité des compositions médiocres ou mauvaises. Vous n’accepterez point d’élèves, sous aucune condition, sans ma permission.“4

Auf Kalkbrenners egoistische Forderungen konnte und wollte Heller nicht eingehen. Dennoch verblieb er bis an sein Lebensende in der Seine-Stadt, wo er Freundschaft mit Berlioz schloss und die Bekanntschaft vieler Literaten und Musiker, darunter auch Liszt, machte. Hellers Urteil über den deutlich erfolgreicheren Pianistenkollegen fiel gegenüber seiner Förderin Jenny Montgolfier jedoch nicht besonders schmeichelhaft aus: „L. ne m’a jamais touché, et certes je ne suis pas difficile à émouvoir par la musique. Mais, la main sur la conscience, devant Dieu et les hommes, je déclare que j’ai toujours écouté Liszt avec la meilleure volonté de tomber en syncope aussi bien que les deux tiers de l’Europe; et je n’ai jamais pu atteindre qu’a [sic] un étonnement (modéré) pour la vitesse de tel trait, et la hardiesse de telle gamme en octaves ou double tierces.“5

Dennoch fand er für Liszt auch lobende Worte, wie die überschwängliche Besprechung von dessen Ständchen-Transkription in der RGMdP vom 23. Dezember 1838 und die (verkaufsfördernde) Widmung des Scherzos op. 24 „à son ami F. Liszt“ aus dem Jahre 1841 zeigen.6 Auch Liszt verhielt sich gegenüber seinem Kollegen soli3 4 5 6

MGG2, Personenteil 8, Sp. 1246. Heller, Lettres d’un musicien, S. 81. Marc Pincherle, Musiciens peints par eux-mêmes (1771–1910), Paris 1939, S. 128. Scherzo/pour/Le Piano/dédié/à son ami F. Liszt/par/Stéphen Heller. Zur Datierung vgl. die Rezension von Maurice Bourges in der RGMdP vom 25. April 1841. Siehe auch den Brief an

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VI Exkurs: Die Schubert-Bearbeitungen Stephen Hellers

darisch und spielte dessen Scherzo öffentlich in Lyon, worüber sich der Autor nicht wenig erstaunt zeigte.7 Da Heller in den Salons und in der Konzertwelt nicht Fuß fassen konnte, hielt er sich zunächst durch Unterricht und Modearrangements für Schlesinger über Wasser. Dass er unter dieser monotonen Arbeit litt, verrät das Prädikat „Sklave der Schlesingerschen Notenraffinerie“, das er sich selbstironisch verlieh.8 Zu diesen Fleißarbeiten zählen auch die 30 Schubert Lieder, die der RGMdP zufolge bereits am 7. Juli 1839 zur Hälfte greifbar waren.9 Darin folgt der Bearbeiter (wohl auf Wunsch des Verlegers) den beliebtesten bei Richault veröffentlichten Schubert-Transkriptionen Liszts und liefert einen technisch anspruchsloseren Gegenentwurf dazu.10 Knapp zwei Jahre später gelangte eine zweite Serie von zwölf Hellerschen Schubert-Bearbeitungen zum Druck, die auch weniger bekannte Lieder wie den Alpenjäger (D 524), das Jagdlied (D 521) für Männerchor und Klavier und Im Haine (D 738) mit seinen auffälligen melismatischen Verzierungen enthielt.11 Im Jahre 1842 war die Sammlung – ergänzt durch Das Echo (D 990), Drang in die Ferne (D 770) und Im Dorfe aus der Winterreise – als Kompendium von dreißig Transkriptionen im Handel käuflich. 1. Lebewohl12 2. Die Gestirne 3. Schlummerlied [Schlaflied (D 527)] 4. Der Tod und das Mädchen 5. Die junge Mutter [Wiegenlied (D 498)] 6. Rosamunde [Ariette aus Rosamunde (D 797, 3b)] 7. Ständchen („Leise flehen“) 8. Ave Maria [Ellens Gesang III (D 839)] 9. Das Zügenglöcklein 10. Auf dem Wasser zu singen 11. Lob der Thränen 12. Die junge Nonne 13. Gretchen am Spinnrad[e] 14. Die Post 15. Erlkönig

7 8 9 10 11 12

16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30.

Der Alpenjäger Du bist die Ruh Im Haine Des Mädchens Klage Ungeduld Morgengruß Abschied Der Wanderer Die Forelle Sei mir gegrüßt Der Fischer Lied der Jäger [Jagdlied] Das Echo Drang in die Ferne Im Dorfe

Jenny Montgolfier vom 12. Juli 1844, zit. in: Robert Caillet, „Quarante ans d’amitié sans nuage: lettres de Stephen Heller à Bonaventure Laurens“, in: La Revue Musicale, Februar 1934, S. 135–148, S. 144. Heller selbst erachtete dieses Werk „unter dem Gesichtspunkt des Humors und der Prägnanz“ als eines seiner besten Stücke. Vgl. dazu den Brief von Stephen Heller an Jean-Joseph Bonaventure Laurens vom 12. Juli 1844, zit. ebd., S. 142. Ursula Müller-Kersten, Stephen Heller, ein Klaviermeister der Romantik. Biographische und stilkritische Studien (=Europäische Hochschulschriften Reihe 36 Musikwissenschaft, Bd. 16), Frankfurt a. M. 1986, S. 48. Vgl. Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 123. Hellers erster Serie von SchubertTranskriptionen wurden 12 Liedbearbeitungen von Czerny zur Seite gestellt. Letztere scheinen in Paris jedoch wenig Anklang gefunden zu haben (vgl. ebd., Fußnote 675). Zum Verlegerwechsel Liszts von Schlesinger zu Richault vgl. diese Arbeit, S. 93. RGMdP vom 28. März und 25. April 1841. Dieses Lied stammt von Weyrauch. Vgl. dazu diese Arbeit, S. 154 f.

VI Exkurs: Die Schubert-Bearbeitungen Stephen Hellers

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In allen Arrangements sind Melodie und Begleitung vollständig in den Klaviersatz integriert.13 Ein solcher Bearbeitungsmodus barg zwar keine besonderen Überraschungen, stellte aber wohl gerade deswegen einen verkaufstechnisch lukrativen Kontrapunkt zu Liszts technisch anspruchsvollen Schubert-Bearbeitungen dar, die beim Konkurrenz-Verlag Richault publiziert wurden. Im Gegensatz zu diesen Transkriptionen war Hellers vereinfachter Klaviersatz für geübte Laien nämlich durchaus spielbar und die Nachfrage entsprechend groß. Wie ein Werbetext liest sich denn auch die ausgesprochen positive Besprechung durch Schlesingers „Hausübersetzer“ Maurice Bourges in der RGMdP: „Dans le temps où elles [les délicieuses conceptions de Schubert] commencent à devenir la pâture des impitoyables arrangeurs, de ces dépeceurs affamées, véritables ogres qui flairent avec avidité toute musique fraîche, comment ne pas rendre grâce à l’homme de goût assez intelligent pour avoir su respecter l’individualité d’un grand modèle, tout en le faisant passer de la voix à l’instrument? C’est en effet chose bien rare qu’un arrangeur résolu à s’effacer de tout point devant l’original. […] M. Heller a fait tout au rebours de la coutume; et M. Heller a fort bien fait.“14

Zu den verurteilten „impitoyables arrangeurs“ zählte nach dem Maßstab des Rezensenten (und möglicherweise auch Schlesingers) wohl auch Liszt mit seiner Transkriptionsästhetik.15 Im Jahre 1843 erschienen beim Lyoner Verlag Benacci et Peschier und bei Schlesinger in Berlin vier Hellersche Gegenentwürfe zu den 30 Liedern mit ihrer notengetreuen Übertragungsphilosophie.16 Die vier Capricen op. 33–36 über Schuberts Lieder Die Forelle, Erlkönig, Post und Lob der Tränen nehmen eine Sonderstellung im Œuvre des Komponisten ein. Das pianistisch attraktive Forelle-Arrange-

13

14

15 16

Diese vordergründigste Bearbeitungstechnik wird auch als „Colla-Parte-Typus“ bezeichnet. Vgl. dazu Müller-Kersten, Stephen Heller, S. 90. Ähnlich verfährt Heller in den Trois mélodies op. 55b (Die Nebensonne, Der Müller und der Bach und Die liebe Farbe). Zu dieser Opus-Zahl gesellten sich später Wohin als op. 55 und Liebesbotschaft als op. 55a. RGMdP vom 5. Januar 1840. Maurice Bourges (1812–1881) war Komponist, Kritiker und Dichter. Vgl. dazu John Michael Cooper, „‚For You See I Am the Eternal Objector‘: On Performing Mendelssohn’s Music in Translation“, in: Siegwart Reichwald (Hg.), Mendelssohn in Performance, Bloomington 2008, S. 207–248, S. 223. Zu den Rechten der einzelnen Pariser Verleger an den verschiedenen Liedern vgl. auch Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 123 ff. Der Überlieferung zufolge sind die Capricen aus einer Notsituation heraus entstanden. Moritz Hartmann berichtet im Jahre 1869, Heller habe nach beendeter Arbeit Maurice Schlesinger aufgesucht und ihm die vier Werke vergeblich für 400 Francs angeboten. Daraufhin soll sich die Pianistin und Liszt-Freundin Jenny Montgolfier (ca. 1790–1879) in Lyon für den bedürftigen Komponisten eingesetzt und das Interesse der ansäßigen Verleger Benacci et Peschier geweckt haben. Aus Dankbarkeit widmete Heller ihr sein Opus 33. Vgl. dazu Müller-Kersten, Stephen Heller, S. 93, Fußnote 8. Maurice Schlesingers Bruder Heinrich hat sich die deutschen Rechte gesichert. Zu Jenny Montgolfier und ihrer Freundschaft mit Liszt vgl. Charles Suttoni, „Young Liszt, Beethoven and Madame Montgolfier“, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae 28/1–4 (1986), S. 21–34.

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VI Exkurs: Die Schubert-Bearbeitungen Stephen Hellers

ment wurde von Liszt sogar mehrmals öffentlich gespielt, bevor es durch seine eigene Transkription abgelöst wurde.17 Wie der Titel Caprice brillant[e] nahelegt, handelt es sich bei der Hellerschen Forelle weniger um eine Übertragung als vielmehr um eine freie Fantasie über Schuberts Lied. Dies findet in der 18 Takte umfassenden, dreiteiligen Introduktion eine erste Bestätigung. Über dem Dominantorgelpunkt entfaltet sich eine chromatische Verschiebung der Harmonien von As zu C mit suchendem, fast theatralischem Charakter. Drei Anläufe nimmt die Transkription, die zweimal in staccatierten Achteln ins Leere läuft. Auch in Liszts erster Forelle-Transkription erklingen zur Illustration der gelungenen List solch absteigende „Pizzicati“.18

Heller, Die Forelle, Caprice brillant[e] op. 33, T. 1–18

Der weitere Verlauf ist in jeder Hinsicht unerwartet: Heller lässt die erste, in Baritonlage gespielte Phrase auf dem As-Dur-Septimenakkord enden. Darauf folgt die wörtliche Wiederholung des Achttakters mit Ganzschluss. Durch diesen Eingriff verändert sich auch die Handlung: Der Fischer tritt verfrüht auf und lässt den Erzähler in den Hintergrund rücken. Exakt an der Stelle, wo die Falle zuschnappt, weicht der Bearbeiter vollends von der Vorlage ab: Den Mittelteil beherrschen durchführungsartige Elemente wie Abspaltung, Sequenzierung und Fortspinnung.

17 18

Liszt spielte die Hellersche Caprice am 5. Juli 1844 in Lyon, am 29. Juli in Marseille und am 13. August in Montpellier. Danach verschwand das Stück aus seinen Konzertprogrammen. Vgl. Müller-Kersten, Stephen Heller, S. 146. Siehe diese Arbeit, S. 166.

VI Exkurs: Die Schubert-Bearbeitungen Stephen Hellers

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Selbst in der Reprise dienen die eingestreuten Schubertschen Motive nur noch als Zitate und Erinnerungen. Die brillante Coda bestätigt die Gewissheit, dass Heller hier das Original weit eher als theatralische Paraphrase denn als Liedtranskription behandelt. Auch seine Erlkönig-Caprice, die das Original um mehr als 100 Takte übertrifft, weist dramatische, bisweilen fast orchestrale Züge auf. Während Liszt von den galoppierenden Tonrepetitionen fasziniert war und diese durch Oktavierung noch verdoppelte, umgeht Heller die sperrigen Repetitionen elegant durch komplementäre Achtel in beiden Händen. Das Klanggefüge wird dadurch nicht nur aufgelockert, sondern auch noch durch den Terzton B erweitert.

Heller, Erlkönig, Ballade op. 34, T. 1–3

Den Beginn der Ballade kommentieren synkopierte Akkordschläge in der rechten Hand, die an eine Bläserfanfare gemahnen. Noch bevor der Erzähler seine Einführung beendet hat, improvisiert Heller neue Melodielinien, die das Geschehen sequenzierend beruhigen. Es scheint, als würde dabei die innige Beziehung zwischen Vater und Sohn reflektiert. Umso stürmischer bricht die Wiederaufnahme des Pferdegetrappels herein, das die düstere Realität zurückbringt. Wie bereits in der Forelle-Transkription verändert der Bearbeiter nun den Verlauf der Ballade und lässt anstelle des Vaters den Sohn zu Wort kommen. Dies geschieht durch einen vierstimmigen „Bläsersatz“, der, vom aufsteigenden Triolenmotiv des Beginns durchbrochen, rhythmisch verschleiert wird. Wieder entfaltet sich ein beruhigendes Verbindungsstück, das den Erlkönig sogar dazu verführt, seine Phrasen zunächst in der falschen Tonart A-Dur zu singen. Nachdem die Musik nach B-Dur gerückt werden konnte, gibt Heller dem Tod zusätzlichen Raum, seine Lockung frei fantasierend auszudehnen.

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VI Exkurs: Die Schubert-Bearbeitungen Stephen Hellers

Heller, Erlkönig op. 34, T. 82–97

Schuberts eindringliches Schluss-Rezitativ, das mit einer zwingenden V-I-Kadenz den Tod des Knaben konstatiert, bleibt in Hellers Arrangement auf dem Dominantakkord mit anschließender Fermate stehen. Nun folgt eine 37 Takte umfassende Coda mit vollgriffigen, in ihrer Stimmführung an einen Choral erinnernden Akkorden aus ganzen Noten, die durch die aufsteigenden Triolen der Klavierbegleitung ausgefüllt werden.

Heller, Erlkönig op. 34, T. 211–218, Rezitativ und Beginn der Coda

VI Exkurs: Die Schubert-Bearbeitungen Stephen Hellers

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Drei Jahre nach dem Erlkönig gab Heller eine weitere Caprice brillante heraus, diesmal über Schuberts Wohin? aus Die schöne Müllerin.19 Diese hochvirtuose Transkription ist stark von Liszt beeinflusst, wie das verspielte Laufwerk und die eingefügte Kadenz zeigen:20

Heller, Wohin? (Lied der Müllerin) La fontaine de F. Schubert, Caprice brillant[e] op. 55, T. 127–14620 19 20

Vgl. dazu Hofmeister, Musikalisch-literarischer Monatsbericht 1846, S. 72. Bayerische Staatsbibliothek München, Musikabteilung, Sign.: 4 Mus.pr. 22797.

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VI Exkurs: Die Schubert-Bearbeitungen Stephen Hellers

Mit dem Ständchen op. 68 („Horch, horch, die Lerch’ im Ätherblau“) erschien 1849 beim Berliner Verlag Bote & Bock Hellers vorerst letzte Bearbeitung eines Schubert-Liedes. Sie ist wie die Lisztsche Version in B-Dur statt C-Dur notiert.21 Der anonyme Rezensent der NZfM lobte die persönliche Note durch die Handschrift des Bearbeiters: „St. Heller ist immer liebenswürdig; sei es nun, daß er Eigenes giebt, oder sei es, daß er Fremdes uns vorführt. […] So auch bei vorliegendem Stücke. Der Componist giebt uns das liebliche Lied nicht in einer bloßen Uebertragung, sondern er benützt es zugleich als Folie, um die einmal angeregte Empfindung zu verfolgen und breiter auszusprechen.“22

Gegen Ende der 1840er-Jahre war die Gattung der Liedtranskription bereits aus der Mode gekommen. Liszt hatte zu diesem Zeitpunkt als Weimarer Kapellmeister seine Aufmerksamkeit von Schuberts Kleinformen auf dessen sinfonisches Werk und die Oper Alfonso und Estrella verlagert.23 Im Gegensatz zu seiner vergleichsweise ganzheitlichen Schubert-Rezeption beschränkte sich Hellers Auseinandersetzung mit Schubert ausschließlich auf dessen Liedschaffen. In seiner letzten Schaffensperiode kam der zunehmend vereinsamte Komponist nochmals auf dieses Genre zurück. 1880 schuf er einen Nachzügler-Zyklus von 15 Nummern, der einen „Lebensrhythmus“ zu umfassen scheint und mit dem beklemmenden Geistertanz schließt.24 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

Heidenröslein Wanderers Nachtlied [„Der du von dem Himmel bist“ (D 224)] Nähe der Geliebten [Nähe des Geliebten (D 162)] Das Wandern Halt Der Schmetterling Zur guten Nacht [für Bariton und Männerchor (D 903)] Wasserfluth Am See Irrlicht [Täuschung] Am Meer

21

Vgl. diese Arbeit, S. 80. Auch dieses schlichte Lied wird zu einem großangelegten Konzertstück von über 150 Takten mit Variationen, diminuierten Notenwerten in der Begleitung und wirksamen Steigerungen ausgebaut. Während die Strophen 1 und 2 das Original verspielt nachzeichnen, löst sich der Bearbeiter für die Schlussstrophe wieder vom Text und ersinnt neue Melodien und Harmonien. Dieser frei fantasierende, hochvirtuose Abschnitt, der in einen 3/4Takt übergeht (doppio movimento) und in donnernden B-Dur-Dreiklängen endet, entspricht vom Umfang her dem vorangegangenen Teil. NZfM vom 18. November 1849. Siehe dazu diese Arbeit, S. 247 ff. Das Hofmeister-Verzeichnis nennt als Publikationsdatum 1882 und als Herausgeber den Schlesinger-Nachfolger Brandus. Vgl. dazu Müller-Kersten, Stephen Heller, S. 298 und Hofmeister, Musikalisch-literarischer Monatsbericht 1882, S. 131.

22 23 24

VI Exkurs: Die Schubert-Bearbeitungen Stephen Hellers

12. 13. 14. 15.

177

Der Leyermann Romanze des Ritter Toggenburg [Ritter Toggenburg (D 397)]25 Abendstern Der Geistertanz

In den meisten dieser Transkriptionen geht Heller einen Mittelweg zwischen den akribisch bearbeiteten 30 Liedern und den fantasieartig-schweifenden Capricen, die sich bisweilen nur noch entfernt an Schubert anlehnen. Eine originelle Lösung variativer Gestaltung findet sich im Lied Das Wandern, dessen dritte Strophe quasi als Wiener Walzer mit Stolperfalle erklingt und die den Hörer zur Annahme verleitet, er bekäme die Schubertsche Post zu Gehör.

Heller, Das Wandern, T. 40–4726

Auch der Leiermann zeigt sich keineswegs im Gewand von Schuberts (und Liszts) bewusst minimalistisch gehaltenem Klaviersatz. Von der dritten Strophe an fächert Heller die Singstimme in figurative, absteigende Triolensechzehntel auf, die keine Melodie mehr erkennen lassen. Die Drehleier kulminiert schließlich in einem ffTriller auf dem Dominantseptimenakkord und mündet in einen Abgesang. Während Stephen Hellers Kompositionen um die Mitte des 19. Jahrhunderts internationale Anerkennung fanden und von Interpreten wie Franz Liszt, Clara Schumann und Anton Rubinstein gespielt wurden, ist er heute höchstens noch als Autor von Etüden und Studienwerken bekannt. Doch gerade in seinen Schubert-Transkriptionen mit ihrem auffällig breiten Spektrum von verschiedenen Bearbeitungsstufen zeigt sich, dass Heller diese Gattung durch einen „eigenen Ton“ bereichert und in lyrische Klavierstücke verwandelt hat, die der Wiederentdeckung harren.

25 26

Heller hat nur den als Strophenlied vertonten Schlussteil der Ballade bearbeitet. Dokumentationsbibliothek Walter Labhart, Endingen AG.

VII WIENER „BACKHÄNDEL“: DIE SOIRÉES DE VIENNE IN DOPPELAUTORSCHAFT SCHUBERT/LISZT „Er besuchte manchmal Hausbälle in vertrauten Familienkreisen; er tanzte nie, war aber stets bereit, sich ans Klavier zu setzen, wo er stundenlang die schönsten Walzer improvisierte; jene, die ihm gefielen, wiederholte er, um sie zu behalten und in der Folge aufzuschreiben.“1

Diese Erinnerung Leopold Sonnleithners (1797–1873) verrät, dass die rund 650 überlieferten Tänze, die Schubert als Gebrauchsmusik für die biedermeierlichen Wiener Salons niederschrieb, das Ergebnis seiner Interpretationskunst sind. Schuberts Ländler, Deutsche und Walzer entsprechen einem Tanztypus, der bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Wien modern zu werden begann und der „musikalisches Resultat eines sozialen Emanzipationsprozesses“2 war, da er die Ablösung von den höfischen Tanzformen markierte. Der Mode seiner Zeit folgend, veröffentlichte Schubert insgesamt acht Sammlungen seiner besten Tanzmusik.3 Diese kleinen Stücke weisen ein breites Spektrum verschiedener Charaktere auf: Tänze, die in der Dreiklangsmelodik und im Schwerpunkt des 3/4-Taktes verhaftet sind, stehen harmonisch, rhythmisch und melodisch komplexen Gebilden gegenüber. Dadurch kommt in ihnen sowohl die kunstvolle wie auch die „ländlerisch-derbe“4 Seite zum Tragen. Da sich eine exakte terminologische Abgrenzung der verschiedenen Tänze schwierig gestaltet, verwenden Schubert und seine Verleger die Titel quasi synonym. Die meisten der zwei- oder dreiteiligen Kompositionen fallen mit 16, 24 oder 32 Takten sehr kurz aus. Dass viele von Schuberts Tanzmanuskripten durchnummeriert sind und einem Tonartenplan folgen, lässt auf einen zyklischen Zusammenhang zwischen den einzelnen Nummern schließen. Walzerfolgen und die damit verbundene spezifische Melodik, wie sie für den „Wiener Walzer“ in der Prägung von Joseph Lanner (1801–1843) und Johann Strauss Vater (1804–1849) üblich sind, gab es bei Schubert jedoch noch nicht. Als Resultat von Liszts Beschäftigung mit diesen Miniaturen entstanden in den Jahren 1846–1852 neun Walzerfolgen nach Schubertschem Vorbild, deren Titel die „imaginäre Szenerie eines Salons“5 hervorruft: Soirées de Vienne – Valses-caprices d’après François Schubert (S 427). Liszt bezeichnete die Soirées, mit denen er sich in den Pariser und Wiener Salons hören ließ, später als „Backhändel“, was er mit dem Wortspiel „sans Bach ni Händel“ begleitete.6 Die Serie kam 1852/53 in neun 1 2 3 4 5 6

Zit. in: Deutsch, Erinnerungen, S. 102. Winkler, „Die ‚Soirées de Vienne‘“, S. 85. Vgl. Hilmar/Jestremski, Schubert-Lexikon, S. 456. Winkler, „Die ‚Soirées de Vienne‘“, S. 87. Ebd., S. 74. „Madame la Princesse, Oserai-je dire à Votre Altesse mon chagrin! Je ne passerai guère par Vienne cet hiver. En surplus, je me sens décidément trop vieux pour fatiguer encore le public

VII Wiener „Backhändel“: die Soirées de Vienne in Doppelautorschaft Schubert/Liszt 179

Heften beim traditionsreichen Wiener Musikverlag C. A. Spina heraus. Das Prinzip dieser Suiten ist die meist nahtlose Kombination mehrerer originaler Tänze bei wiederkehrenden Abschnitten, wobei der Bearbeiter in der Regel Stücke aus mehreren Opera zusammenfügte. Insgesamt verwendet Liszt 34 Zitate aus folgenden Sammlungen:7 – – – – – –

36 Originaltänze für Klavier op. 9 (D 365), erschienen 1821 in zwei Heften, Wien, Cappi & Diabelli 12 Walzer, 17 Ländler und 9 Ecossaisen für Klavier op. 18 (D 145), erschienen 1823 in zwei Heften, Wien, Cappi & Diabelli8 16 Deutsche und 2 Ecossaisen für Klavier op. 33 (D 783), erschienen 1825, Wien, Cappi & Diabelli 34 Valses sentimentales für Klavier op. 50 (D 779), erschienen 1825 in zwei Heften, Wien, A. Diabelli & Co. 16 Ländler und 2 Ecossaisen („Hommage aux belles Viennoises. Wiener Damen-Ländler“) für Klavier op. 67 (D 734), erschienen 1826, Wien, A. Diabelli & Co. 12 Walzer für Klavier („Valses nobles“) op. 77 (D 969), erschienen 1827, Wien, Tobias Haslinger

In den einzelnen Nummern werden bis zu sieben Themenzitate verarbeitet. Eine Ausnahme bildet das Schlussstück, bei dem es sich um eine Variationenfolge über den Trauerwalzer handelt.9 Liszt erzielt in seinen Soirées durch Gruppierungen und wiederkehrende Abschnitte plastische Formabläufe, die oftmals von einer Einleitung und Coda umrahmt werden. Seine Versionen der Tänze weisen sehr unterschiedliche Bearbeitungsgrade auf, deren Bandbreite vom originalgetreuen „Schubertschen Ton“ bis zum virtuosen Walzer chopinscher Prägung reicht. Die folgende Tabelle bietet eine Übersicht über die Zitate und das Tonartengefüge.

7 8 9

de mon pianotement auquel on n’a prêté que trop d’indulgence. Celle de Votre Altesse me reste extrêmement précieuse, et j’espère qu’Elle daignera me la continuer en mémoire des Backhändel (sans Bach ni H ändel), que se trouvait heureux de vous servir à Paris et à Vienne / Votre très humble et tout reconnaissant serviteur, F. Liszt / Rome, 12. Décembre 1875“. Brief von Franz Liszt an die Fürstin Pauline Metternich-Sandor, die Gattin des damaligen österreichischen Botschafters in Paris, zit. in: La Mara, Liszt’s Briefe, Bd. 8, S. 303. An die Fürstin Carolyne zu Sayn-Wittgenstein schrieb er am 10. März 1866 aus Paris: „Jeudi soir, j’ai accepté exceptionellement l’invitation de la Psse Metternich. La réunion se composait d’une quinzaine de personnes. J’ai joué les Légendes de St François, les ‚poulets frits‘, comme réminiscence; et par ordre – le Sanctus et le Credo de la Messe, à 4 mains, avec Saint-Saëns, musicien de premier ordre.“ La Mara, Liszt’s Briefe, Bd. 6, S. 98. Vgl. dazu Winkler, „Die ‚Soirées de Vienne‘“, S. 84 f. In Diabellis Erstdruck sind nur die zur jeweiligen „Tanz-Gruppe“ gehörenden Stücke durchnummeriert. Vgl. dazu auch diese Arbeit, S. 20 ff.

180 VII Wiener „Backhändel“: die Soirées de Vienne in Doppelautorschaft Schubert/Liszt Soirée Nr. 1 As-Dur

Op. 9 Nr. 22 (As-Dur statt H-Dur) Op. 67 Nr. 14 (H-Dur) Op. 33 Nr. 15 (As-Dur)

Soirée Nr. 2 As-Dur

Op. 9 Nr. 1 (As-Dur) Op. 18 „Ländler“ Nr. 3 (As-Dur) T. 1–8 Op. 9 Nr. 6 (As-Dur) T. 1–8 Op. 18 „Ländler“ Nr. 4 (Des-Dur) T. 1–8 Op. 18 „Ländler“ Nr. 5 (Des-Dur ➝ As-Dur) T. 1–8 Op. 9 Nr. 32 (E-Dur statt F-Dur)

Soirée Nr. 3 E-Dur

Op. 18 „Walzer“ Nr. 1 (E-Dur) Op. 33 Nr. 4 (E-Dur statt G-Dur) Op. 9 Nr. 19 (E-Dur statt G-Dur) Op. 9 Nr. 20 (E-Dur statt G-Dur) Op. 9 Nr. 25 (E-Dur) Op. 18 „Walzer“ Nr. 6 (cis-Moll statt h-Moll) Op. 18 „Walzer“ Nr. 9 (fis-Moll)

Soirée Nr. 4 Des-Dur

Op. 9 Nr. 29 (Des-Dur statt D-Dur) Op. 9 Nr. 33 (A-Dur statt F-Dur)

Soirée Nr. 5 Ges-Dur

Op. 9 Nr. 14 (Ges-Dur statt Des-Dur) Op. 77 Nr. 3 (H-Dur statt C-Dur)

Soirée Nr. 6 a-Moll/A-Dur

Op. 77 Nr. 9 (a-Moll) Op. 77 Nr. 10 (F-Dur) Op. 50 Nr. 13 (A-Dur)

Soirée Nr. 7 A-Dur/a-Moll

Op. 33 Nr. 1 (A-Dur) Op. 33 Nr. 7 (A-Dur statt B-Dur) Op. 33 Nr. 10 (fis-Moll statt a-Moll)

Soirée Nr. 8 D-Dur

Op. 33 Nr. 9 (D-Dur statt C-Dur) Op. 77 Nr. 11 (D-Dur statt C-Dur) Op. 77 Nr. 2 (D-Dur statt A-Dur, Fortsetzung in B-Dur) Op. 33 Nr. 5 (B-Dur statt D-Dur) Op. 33 Nr. 14 (Ges-Dur/Es-Dur statt As-Dur/F-Dur) Op. 33 Nr. 13 (Es-Dur statt C-Dur) Op. 33 Nr. 2 (H-Dur statt D-Dur)

Soirée Nr. 9 As-Dur

Op. 9 Nr. 2 (As-Dur)

Durch die Quint- und Terzschritte erwirkt der Bearbeiter einen inneren Zusammenhang, der sich als „eigene, aber durchaus nicht eigenwillige Deduktion aus den Elementen von Schuberts Stil“ ableitet.10

10

Hinrichsen, „Rezeption als Selbstverständigung“, S. 132.

VII Wiener „Backhändel“: die Soirées de Vienne in Doppelautorschaft Schubert/Liszt 181

Soirée Nr. 1 – Walzer, Ländler und Deutscher als rondoartige Suite Die erste Soirée zeigt Liszt als pianistischen Dramaturgen, der die drei Formzäsuren (A, B und C) bildenden Tänze nicht nur aneinanderreiht, sondern originell gruppiert, gewichtet und inszeniert: Einleitung – A (a-b-a’) – B (c-d) – A’ (a-b) – B’ – Überleitung – C (e-f-e-f) – Überleitung – B’ – Schluss Nach einer 22 Takte umfassenden Einleitung erscheint der Walzer op. 9 Nr. 22. Schuberts kleine Komposition weist eine kunstvolle harmonische Struktur auf: Während die Tonart H-Dur des ersten Teiles durch Molltrübungen in Frage gestellt wird, steht der zweite Abschnitt in der Mollparallele gis-Moll. Liszt transponiert die Vorlage von H-Dur nach As-Dur und fächert den für den Walzer typischen „hm-tata“-Rhythmus in Achtelwerte auf, was wegweisend für die Begleitung der weiteren Nummern wird.11 Harmonische Stabilität bringt die Erweiterung von der zweiteiligen zur dreiteiligen Form, was durch die Reprise des A-Teils zu einem abgerundeten Dur-Schluss führt. Der Übergang zum zweiten Zitat in originalem H-Dur erfolgt durch enharmonische Umdeutung der Schlussquarte Es-As zu den auftaktigen Achteln Dis-Gis des Ländlers op. 67 Nr. 14, wodurch der B-Teil scheinbar in KleinterzVerwandtschaft zum A-Teil steht (As-Dur/„Ces-Dur“).

Liszt, Soirée de Vienne Nr. 1, T. 58–69

Dieser Ländler kehrt mehrmals in verschiedenen Tonarten wieder. Nach der Reprise des Walzers etwa folgt die Wiederholung des B-Teils überraschend in As-Dur. Diese harmonische Variante kommt dadurch zustande, dass Liszt den A’-Abschnitt in seiner originalen Zweiteiligkeit und somit auf f-Moll enden lässt. Erneut wird durch das resultierende Terzverhältnis ein harmonischer Zusammenhang gestiftet. Das eigentliche Kernstück der ersten Soirée bildet jedoch das dritte Zitat (CTeil), das rückblickend erkennen lässt, woher das Material der Ein- und Überleitung 11

Winkler, „Die ‚Soirées de Vienne‘“, S. 87.

182 VII Wiener „Backhändel“: die Soirées de Vienne in Doppelautorschaft Schubert/Liszt

stammt und das für die Satzbezeichnung Allegretto malinconico verantwortlich zeichnet. Bei diesem Deutschen kann von Melodieführung im eigentlichen Sinne keine Rede mehr sein, denn die ersten Takte bestehen nur aus zwei Tönen: C schwingt sich als Quintton von f-Moll mehrmals zu Des empor, um jedoch gleich wieder zurückzufallen. Der Orgelpunkt unterstreicht die fruchtlosen Bemühungen zur Melodiebildung. Dieses Moment greift Liszt auf und versieht nicht nur den Vorhalt Des mit zusätzlichen Akzenten, sondern fügt im zweiten Teil in As-Dur weitere Dissonanzen bei. Nun könnte die Reprise des B-Teils folgen, doch lässt der Bearbeiter zunächst die Wiederholung des C-Teils im Quintabstand nach a-Moll (T. 172), e-Moll (T. 179) und h-Moll (T. 187) modulieren. Erst durch eine erneute enharmonische Umdeutung von E zu Fes werden die Kreuztonarten verlassen und As-Dur wiedererlangt. Bei diesem spielerischen Umgang mit der harmonischen Disposition verfolgt Liszt ein zwar eigenständiges Konzept, das aber durchaus in Schuberts Musik angelegt ist. Soirée Nr. 2 mit neuer Coda im Schubertschen Ton Die zweite Soirée basiert auf der doppelten Anzahl Schubertscher Tänze und bedient sich dafür zweier Opera. Das fast nahtlose Ineinandergreifen der Zitate wird wiederum durch planvoll gewählte Tonarten und enharmonische Umdeutungen legitimiert. Liszt eröffnet die Komposition mit dem ersten von Schubert publizierten Walzer op. 9 Nr. 1 (con gusto) und webt aus der schlichten Begleitung ein schwebendes Gebilde mit Mittelstimmen und Binnenmelodik.

Schubert, Walzer op. 9 Nr. 1, T. 1–5

Liszt, Soirée de Vienne Nr. 2, T. 1–5

VII Wiener „Backhändel“: die Soirées de Vienne in Doppelautorschaft Schubert/Liszt 183

Vom nachfolgenden Ländler verwendet der Bearbeiter nur die ersten acht Takte und interpretiert das etwas derbe originale Accompagnement scherzando. Die Gegenüberstellung zweier solch unterschiedlicher Begleitmuster auf engem Raum unterstreicht die folkloristische Färbung des Ländlers humorvoll. Anschließend folgen die Takte 1–8 des Walzers op. 9 Nr. 6, die an die erste Nummer aus op. 9 erinnern und als Quasi-a’-Teil eine Brücke zum Anfang schlagen. Nun verarbeitet Liszt wiederum die ersten Hälften zweier Tänze zur dreiteiligen Form. Obwohl beide Originale in Des-Dur stehen, transponiert er den Beginn des Mittelteils nach A-Dur, um im fünften Takt mittels eines übermäßigen Quintsextakkordes wieder nach Des-Dur zu modulieren. Die nun sämtlich wiederkehrenden Abschnitte präsentieren sich mit variierter Begleitung, wobei Liszt den Ländler op. 18 Nr. 3 ab Takt 72 auf den ersten beiden Zählzeiten des Taktes augenzwinkernd ohne Bass notiert. Gegen Ende erklingt über dem gedehnten Orgelpunkt As plötzlich eine neue achttaktige Melodie (amabile), die nicht Schuberts überlieferter Tanzmusik entnommen ist (T. 267 ff.). Mit ihrem „Schubertschen Ton“ und den Reminiszenzen aus den zuvor zitierten Tänzen12 scheint diese Coda die Vorlage weiterdichtend zu reflektieren.

Liszt, Soirée de Vienne Nr. 2, Beginn der Coda T. 263–275

Soirée Nr. 3 – dreiteilige Form mit Schlussstretta Während die ersten beiden Soiréen in einheitlichem Tempo gestaltet sind, gliedert Liszt die dritte Nummer in drei unterschiedliche „Sätze“ mit Schlussstretta: Allegro vivace – Moderato con sentimento – Vivace – Coda: più animato, presto, prestissimo

12

Dazu zählen der Quintolen-Auftakt, die Triolenfigur und das mit einem übermäßigen Quintsextakkord harmonisierte Anfangsthema ganz zum Schluss.

184 VII Wiener „Backhändel“: die Soirées de Vienne in Doppelautorschaft Schubert/Liszt

Die akkordische Setzweise der ersten beiden Deutschen13 regte den Bearbeiter dazu an, das Allegro vivace als volltönendes Orchestertutti zu gestalten. Eine mit „Trompeten-Stößen“ durchsetzte Einleitung mit Material aus dem ersten Tanz von op. 18, der im Anschluss nahezu unbearbeitet erscheint, eröffnet diese Soirée. Das dritte Themenzitat geht mit dem Ausführungshinweis marcatissimo, quasi tromba einher und weicht nach 16 Takten einer pianistischen Faktur mit verspielten Auf- und Abwärtsskalen. An einer Stelle nimmt sich Liszt die Freiheit, den nahtlosen Fortgang zu unterbrechen: Mitten im Walzer op. 9 Nr. 20 wendet sich die Harmonie chromatisch zur Dominante von H-Dur und kommt zum Stillstand (T. 117). An dieses schwebende Moment knüpfen die ersten vier Takte des Walzers op. 9 Nr. 25 über einem verheißungsvollen Orgelpunkt an. Da auch ein zweiter Anlauf fruchtlos bleibt, werden die eingewobenen Takte fortgesponnen und in 19 Takten atemlos ad absurdum vorangetrieben.

Schubert, Walzer op. 9 Nr. 20

Schubert, Walzer op. 9 Nr. 25, T. 1–8

13

Der Walzer op. 18 Nr. 1 befindet sich zusammen mit anderen Tänzen auch in einem mit Sechs Atzenbrugger Deutsche betitelten Originalmanuskript vom Juli 1821. Die Sammlung entstand vermutlich anlässlich von Geselligkeiten der Schubertianer in Atzenbrugg, einem Gut in der Nähe von Wien, das Franz von Schobers Onkel Josef Derffel zu verwalten hatte. Schubert war dort in den Sommermonaten mehrmals zu Gast. Vgl. dazu NSA, VII, Bd. 2/7a, S. IX.

VII Wiener „Backhändel“: die Soirées de Vienne in Doppelautorschaft Schubert/Liszt 185

Liszt, Soirée de Vienne Nr. 3, T. 106–132

Der ausgedehnte langsamere Mittelteil in cis-Moll (moderato con sentimento) hebt sich deutlich von den flankierenden Eckteilen ab. Hier schöpft Liszt Atem für die bevorstehende Schlussstretta, die sich bis hin zum fulminanten prestissimo steigert. In ihrer Virtuosität ist diese Soirée mit den Nummern 6 und 8 zu vergleichen. Soirée Nr. 4 mit Beethoven-Zitat Liszts vierte Soirée überrascht mit einer offenkundigen Reverenz an Beethoven.14 In einer 16-taktigen Einleitung (Andantino a capriccio), die sich suchend an die Grundtonart Des-Dur und an den Walzer op. 9 Nr. 29 herantastet, konstruiert der Bearbeiter eine Parallele zwischen dem Schubertschen Tanz und dem Beginn von Beethovens Klaviersonate Es-Dur op. 31 Nr. 3. Dafür manipuliert er nicht nur deren rhythmisch markante Anfangstakte, sondern benutzt auch die vorhandenen Dissonanzen, um Beethovens subdominantischen Quintsextakkord Schuberts vermindertem Sep14

Gerhard Winkler beschrieb dies bereits in seinem Essay „Die ‚Soirées de Vienne‘“ auf S. 89.

186 VII Wiener „Backhändel“: die Soirées de Vienne in Doppelautorschaft Schubert/Liszt

timenakkord (T. 18) gegenüberzustellen. Hierbei handelt es sich um ein besonders schönes Beispiel für Liszts schöpferisches Vorgehen in seinen Bearbeitungen.

Beethoven, Beginn des 1. Satzes der Klaviersonate Es-Dur op. 31 Nr. 3, T. 1–715

Liszt, Beginn der Soirée de Vienne Nr. 4, T. 1–23

Der fragende Charakter dieser Sonateneröffnung beeinflusst zunächst auch die Transkription des Walzers, den Liszt zögernd und ohne den Schwung verleihenden Bass auf der ersten Zählzeit präsentiert. Con intimo sentimento fordert er vom Interpreten für diesen tentativen Anfang – eine Bezeichnung, die bei ihm stets mit tiefen Emotionen einhergeht. Erst der zweite Teil des Walzers, dessen Bässe zu Taktbeginn nun die nötigen Impulse beisteuern, bringt einen energischen Stimmungswechsel. Die Verbindung zum zweiten und bereits letzten Schubert-Zitat op. 9 Nr. 33 leitet Liszt durch einen Halbschluss über einer Fermate ein. Nach dieser Kunst15

Mit freundlicher Genehmigung durch den G. Henle Verlag.

VII Wiener „Backhändel“: die Soirées de Vienne in Doppelautorschaft Schubert/Liszt 187

pause rückt er den As-Dur-Septimenakkord chromatisch nach A-Dur und unterstreicht die klangliche Wirkung mit dem una corda-Pedal. Wie schon zu Beginn tastet sich der Bearbeiter auch an diesen Walzer heran, der sich gemäß der Vorlage meist im p und pp-Bereich bewegt. Im weitesten Sinne handelt es sich auch bei diesem Tanz um ein Zitat, und zwar um ein Eigenzitat. Zu Beginn der 1830er-Jahre hatte Liszt genau diesen Walzer in seinen visionären Apparitions schon einmal bearbeitet und nach aller „Regellosigkeit“ seiner jugendlichen Pianistik verändert.16 In den Soirées de Vienne, dem Nachzügler seiner Schubert-Transkriptionen, fällt die Behandlung des Originals fast zwanzig Jahre später zwar weit weniger radikal aus, bleibt aber dennoch nicht ohne Parallelen zur Arbeitsweise des jungen Pianisten. In der dritten Apparition erklingt das Zitat nach einer ausgiebigen Fermate und kurz vor dem brillanten Finale als andächtiges Thema mit nur spärlicher Bewegung (p religiosamente). Innerhalb weniger Takte wird es modulierend durch die quintund terzverwandten Tonarten B-Dur, Es-Dur und Ges-Dur/Fis-Dur geführt. Liszt reizt harmonisch aus, was sich bereits im Original verbirgt.

Liszt, Apparition Nr. 3, T. 172–190

Ein ähnliches Bild zeigt sich in der vierten Soirée, die eine Seite vor Schluss nach einem leidenschaftlichen Höhepunkt in Des-Dur in einer Generalpause endet. In diese Stille hinein erklingt Schuberts Walzer, mediantisch nach A-Dur gerückt, in zartem dolcissimo und mit Melodiestimme in Binnenlage. Der zweite Achttakter moduliert entsprechend Schuberts Intention ins terzverwandte Cis-Dur. Danach wird Gis zu As umgedeutet und das Thema in Des-Dur mit changierendem E-Dur wiederum mediantisch fortgeführt. 16

Vgl. dazu diese Arbeit, S. 28 ff.

188 VII Wiener „Backhändel“: die Soirées de Vienne in Doppelautorschaft Schubert/Liszt

Liszt, Soirée de Vienne Nr. 4, T. 210–224

Der virtuose Umgang mit harmonischen Verwandtschaften, wie ihn die Coda der vierten Soirée bereits vorwegnimmt, wird in der Folgenummer noch zwingender weiterverfolgt. Soirée Nr. 5 als auskomponiertes „Raisonnement von Enharmonik“ Die Eigenständigkeit der fünften Soirée, die das Mittelstück des Zyklus bildet, zeigt sich bereits im Notenbild. Lange Bögen und Kantilenen bestimmen die ersten drei Seiten, die moderato cantabile con affetto zu spielen sind. Wie ihre Vorgängerin basiert auch diese Soirée lediglich auf zwei Schubertschen Tänzen. Liszts Zitat von op. 9 Nr. 14 scheint durch die langen Liegetöne in der Begleitung und die Tonart Ges-Dur beinahe zu schweben.

Schubert, Walzer op. 9 Nr. 14, T. 1–5

Liszt, Soirée de Vienne Nr. 5, T. 1–5

VII Wiener „Backhändel“: die Soirées de Vienne in Doppelautorschaft Schubert/Liszt 189

Mit seiner kurzgliedrigen Struktur bildet das dritte Stück aus den Valses nobles op. 77 einen Kontrast zu den langen Kantilenen. Liszt verlässt an dieser Stelle die b-Tonarten und wendet sich über die enharmonische Verwechslung von Ges zu Fis nach H-Dur. Dieser Wandel vollzieht sich fließend in den Einleitungstakten von op. 77 Nr. 3. Raffiniert gestaltet der Bearbeiter auch die Rückführung zum A-Teil: Das Thema erklingt zunächst in der „falschen“ Tonart gis-Moll (T. 160 ff.). Erst nach 16 Takten können die Kreuze wieder mit den b-Vorzeichen vertauscht werden. Die Reprise des B-Teils bringt eine harmonische Variante mit sich, die sich nur noch anhand der Graphie nachvollziehen lässt: Eine enharmonische Verwechslung leitet die Musik unmerklich von Ges-Dur zurück nach Fis-Dur.

Liszt, Soirée de Vienne Nr. 5, T. 209–216

Schubert, Berthas Lied in der Nacht, T. 7–11

190 VII Wiener „Backhändel“: die Soirées de Vienne in Doppelautorschaft Schubert/Liszt

Mit diesem „auskomponierten Raisonnement über den Zusammenhang von Enharmonik“17 spinnt Liszt einen stilistischen Faden Schuberts weiter. Dieses Verfahren der in der fünften Soirée kaum hörbaren enharmonischen Verwandlungen ist beispielsweise auch in Berthas Lied in der Nacht (D 653) (siehe Notenbeispiel auf Seite 189) zu finden, dessen graphische Mutation von es-Moll/Ges-Dur nach FisDur sich rein akustisch nicht nachvollziehen lässt.18 Soirée Nr. 6 – Liszts Lieblingsnummer mit Varianten Es ist überliefert, dass Liszt mit Vorliebe das sechste Stück der Serie spielte. Noch bei seinem letzten öffentlichen Konzert am 19. Juli 1886 ist es als finaler Programmpunkt aufgelistet.19 Dennoch hat er die Soirées de Vienne wohl weniger für den eigenen Gebrauch als für seine Schüler geschrieben, wie eine Variante der sechsten Nummer mit einer technischen Steigerung für seine begabte Lieblingsstudentin Sophie Menter (1846–1918) aus dem Jahre 1869 nahelegt.20 Die ursprüngliche Version enthielt vor dem Poco allegro, das Schuberts op. 50 Nr. 13 paraphrasiert, lediglich eine Generalpause. Für seine Schülerin und in der späteren Revision füllt Liszt diese Stille durch brillante Kadenzen aus.

Liszt, Kadenzeinschub Soirée de Vienne Nr. 6 für Sophie Menter (1869)21 17 18

19 20 21

Hinrichsen, „Rezeption als Selbstverständigung“, S. 132. Vgl. dazu Hans-Joachim Hinrichsen, „‚Berthas Lied in der Nacht‘“. Schubert, Grillparzer und das Wiener Volkstheater“, in: Walther Dürr / Siegfried Schmalzriedt / Thomas Seyboldt (Hg.), Schuberts Lieder nach Gedichten aus seinem literarischen Freundeskreis. Auf der Suche nach dem Ton der Dichtung in der Musik, Frankfurt a. M. 1999 (=Kongreßbericht Ettlingen 1997), S. 135–155. NLA, Serie II, Bd. 10, S. XII. Vgl. dazu Michael Short (Hg.), Liszt Letters in the Library of Congress (=Franz Liszt Studies Series Nr. 10), Hillsdale 2003, S. 174. ML96.L58. Music Division, Library of Congress, Washington D. C.

VII Wiener „Backhändel“: die Soirées de Vienne in Doppelautorschaft Schubert/Liszt 191

Rekonstruktion der Lisztschen Kadenz für Sophie Menter22

22

Mit freundlicher Genehmigung von Leslie Howard.

192 VII Wiener „Backhändel“: die Soirées de Vienne in Doppelautorschaft Schubert/Liszt

Liszt, Kadenz der zweiten Fassung der Soirée de Vienne Nr. 6, T. 147–164

Diese und weitere Varianten sind in abgewandelter Form in Liszts revidierter, bei Cranz vermutlich in den 1880er-Jahren publizierten Version zu finden.23 An der sechsten Soirée verblüfft die ausgeklügelte Dramaturgie der einzelnen Tanzabfolgen. Der verschleierte Anfang sorgt dafür, dass sich der Themeneintritt ganz unbemerkt vollzieht: Zwar eröffnen die ersten beiden Takte der Valse noble Nr. 9 das Geschehen, doch erklingen sie vom Ton Dis aus und somit um einen Tritonus höher als das Original. Schon im dritten Takt verhindert ein verminderter Septimenakkord, der sich später als hochalterierte II. Stufe von C-Dur erweisen wird, die Fortsetzung. Nach einer Pause hebt das Thema erneut an, diesmal eine übermäßige Sekunde tiefer von C aus. Doch auch diese Anstrengung bleibt fruchtlos. Der dritte Anlauf, nun von A aus, ist zugleich der Beginn des Schubertschen Walzers, der nun wörtlich und in der originalen Tonart zitiert wird.

23

Vgl. dazu den Anhang dieser Arbeit, S. 317.

VII Wiener „Backhändel“: die Soirées de Vienne in Doppelautorschaft Schubert/Liszt 193

Liszt, Soirée de Vienne Nr. 6, T. 1–18

Wie bereits Schubert in seinem Zyklus lässt auch Liszt nun die Valse noble Nr. 10 folgen (scherzando con grazia). Nach der variierten Reprise des A-Teils folgt eine der spärlichen Kadenzen, die zur Valse sentimentale Nr. 13 aus op. 50 überleitet. Diesen hemiolisch gegen den Takt geschriebenen Walzer verwendet der Bearbeiter als kontrastierendes Mittelstück. Danach folgt eine virtuose Variation mit ornamentaler Diminution der Melodie (Triolenfiguration), die an das Verfahren in den Lisztschen Liedtranskriptionen erinnert. Am Ende klingt das zweite Themenzitat aus den Valses nobles wie aus der Ferne nochmals an. Soirée Nr. 7 mit „Valse mélancolique“ Im Gegensatz zur sechsten Soirée setzt die Folgenummer nicht auf brillante Spieltechnik. Zu Beginn dominiert vielmehr der schwungvolle Rhythmus „punktierte Viertel-Achtel-Viertel“ der beiden Tänze op. 33 Nr. 1 und 7. Nur die Hinweise Allegro spiritoso und amorosamente lassen eine fremde Komponistenhand erahnen. Im Deutschen op. 33 Nr. 10 in fis-Moll (T. 44 ff.) verfeinert Liszt die Begleitung und präsentiert eine veritable „Valse mélancolique“.24

Liszt, Soirée de Vienne Nr. 7, T. 44–51 24

Winkler, „Die ‚Soirées de Vienne‘“, S. 87.

194 VII Wiener „Backhändel“: die Soirées de Vienne in Doppelautorschaft Schubert/Liszt

Die weitere Gruppierung dieser drei Tänze gestaltet sich unkonventionell, wobei dem mittleren Zitat besonderes Gewicht verliehen wird: A (op. 33 Nr. 1) – B (op. 33 Nr. 7) – C (op. 33 Nr. 10 „Valse mélancholique“) – B’ (in Moll, mit Arpeggien-Begleitung) – A (ohne Wiederholungen) – B – C’ (nur 2. Teil, Melodie in der linken Hand) – B’’ (in Dur, mit Arpeggien-Begleitung) – C (nur noch in Anklängen)

Das letzte Wort fällt dem Thema der „Valse mélancholique“ zu. Nachdem der BTeil in gebrochenen Akkorden (perdendo) und einer Fermate zum Stillstand gekommen ist, erklingt es in fis-Moll über dem Orgelpunkt A. Nach acht Takten wendet es sich nach Fis-Dur, um nach vier weiteren Takten mit dem verminderten Septimenakkord Ais-Cis-E-G einen unerwarteten Akzent zu setzen. Dieser wandelt sich zu einem Dominantseptakkord auf E, dessen Auflösung in a-Moll einen überraschenden Schlusspunkt setzt. Soirée Nr. 8 als virtuoses Schaustück In der achten Soirée kehrt Liszt unverhüllt die virtuos-technische Schauseite heraus. Die Überschrift Allegro con brio stellt gewissermaßen das Programm für die gesamte Nummer dar, die mit einer immensen Klangfülle und farbigen orchestralen Effekten aufwartet. Dass sich der Bearbeiter eine überbordende, die Grenzen des Klaviers sprengende Klanglichkeit wünscht, zeigen die Anweisungen vibrato assai (T. 26), die brausende Oktavenstelle in der linken Hand (T. 58 ff. und in der Stretta) und der Hinweis quasi trombe (T. 89). Diesen aus den Valses nobles geschöpften „Bläser-Satz“ verteilt Liszt wirkungsvoll auf beide Hände.

Liszt, Soirée de Vienne Nr. 8, T. 89–96

Einen weiteren Spezialeffekt erzielen die in op. 33 Nr. 14 eingefügten Echos (T. 167 ff.), in denen Liszt das originale Material „konzertierend“ durch verschiedene Register führt und variiert. Dieses Wechselspiel setzt sich im nachfolgenden Tanz op. 33 Nr. 13 insofern fort, als die Melodie alternierend von beiden Händen transparent vorgetragen wird. Allmählich verklingen Schuberts Themen im piano pianissimo quasi niente, aus dessen Stille ein Finale anhebt, das mit seinen Oktavketten der linken Hand den Gesamtsatz „folgerichtig in eine übergipfelnde Stretta von höchster Effektivität“ kulminieren lässt.25 25

Hinrichsen, „Rezeption als Selbstverständigung“, S. 132.

VII Wiener „Backhändel“: die Soirées de Vienne in Doppelautorschaft Schubert/Liszt 195

Liszt, Soirée de Vienne Nr. 8, T. 375–380 der Schlussstretta

Soirée Nr. 9 – Trauerwalzer mit Teufelslachen Das Schlussstück der Soirées de Vienne verarbeitet nur einen einzigen Schubertschen Walzer, den Trauerwalzer op. 9 Nr. 2, und ist daher nicht als Suite, sondern als Variationenfolge konzipiert. Möglicherweise orientierte sich Liszt an einer Komposition seines ehemaligen Lehrers Carl Czerny aus dem Jahre 1821. Dieser hatte das 16-taktige Original zur Vorlage seiner Variationen op. 12 gewählt und ebenso wie später sein Schüler mit einer virtuosen Einleitung versehen.26 Liszts finale Soirée ist folgendermaßen aufgebaut: Preludio a capriccio Thema Var. 1 Var. 2 Var. 3

Beschleunigende Einleitung mit angedeutetem Thema und chromatischer Binnenmelodik Andante con sentimento in Originalgestalt Aufteilung des Themas auf beide Hände, die Melodie erfährt durch zusätzliche Leittöne eine neue Prägung Più mosso rubato Melodie in der Oberstimme, die chromatische Binnenmelodik der Einleitung erscheint erneut Andantino (languendo) Erinnert an Paganinis Caprice Nr. 13 („Teufelslachen“), verwendet jedoch Sexten anstelle von Terzen.

Paganini, Capriccio 13, Ricordi-Erstausgabe, T. 1–5

Liszt, Soirée de Vienne Nr. 9, Beginn von Variation 3, T. 68–72 26

Vgl. dazu diese Arbeit, S. 22.

196 VII Wiener „Backhändel“: die Soirées de Vienne in Doppelautorschaft Schubert/Liszt

Var. 4

Animato (leggiero volante) Offenkundige Anspielung auf Chopins F-Dur-Etüde op. 10 Nr. 8

Chopin, Etüde op. 10 Nr. 8, T. 1–2

Liszt, Soirée de Vienne Nr. 9, Beginn von Variation 4, T. 84–85

Var. 5 Var. 6

Coda

Tempo del Tema Schlichte Variation mit dem Thema in der linken Hand mit vorgezogenen und verlängerten Phrasen-Anfangstönen dolce amoroso Thema in der Mittelstimme. Verschiebungen durch ternäre und binäre Rhythmen sowie Überbindungen, um zwölf Takte verlängert (Steigerung bis zum f agitato) più ritenuto il tempo Ausklang mit verzögerten Melodietönen auf den letzten Triolenachteln und überraschenden harmonischen Rückungen

Die Soirées de Vienne, diese klug disponierte und subtile Hommage à Schubert, enthalten eine große Bandbreite verschiedener dramaturgischer Konzepte, harmonischer Dispositionen und einfallsreicher Variationen. Jede Nummer trägt den Stempel von Liszts individueller und pianistisch attraktiver Aneignung der Vorlage, die gewissermaßen als Akt der Selbstfindung zu werten ist.27 Die Reverenz an Wien

27

Vgl. dazu Hinrichsen, „Rezeption als Selbstverständigung“, S. 132.

VII Wiener „Backhändel“: die Soirées de Vienne in Doppelautorschaft Schubert/Liszt 197

und an Schubert setzte Liszt in seinen Konzertvorträgen gezielt ein, wie etwa beim Besuch der Erzherzogin Valerie und ihrer Cousine, der Prinzessin Amélie von Bayern, im Dezember 1884: „Voll Bewunderung hörten die Lauschenden die XIII. Rhapsodie, die er ganz spielte. Beim Schluß sagte er nochmals halblaut, wie zu sich selbst: ‚Ja – der klassische Zigeuner.’ – Die Erzherzogin war ganz begeistert, und als der Meister einige Minuten mit ihr conversirt, neigte er sich graziös und fragte lächelnd: ‚Noch ein kleines Souvenir de Vienne?‘ und ließ die 6. Soirée de Vienne in der neuen Bearbeitung hören. – – Seine Eintheilung: zuerst die Etude [Etude de concert Nr. 3], um das Können und, wie er sagte, das ‚aufwarten‘ zu bezeichnen, dann das Bild seiner Heimat, Ungarn – und schließlich das Compliment für Wien, waren, obwohl momentane Eingebung, doch bewußt. Denn über dem allen leuchtete die Liszt’sche Ironie! Er selbst freute sich dieser Stufenfolge.“28

In dieser distanzierten Ironie spiegelt sich Liszts gesamtes oszillierendes Wesen, das aufgrund der konstruierten nationalen Identitäten des quasi Heimatlosen kaum zu erfassen ist. Auch in seinem Œuvre führt der Kosmopolit diese Rollenspiele fort, indem er etwa die Gattungen Lied und Klavierstück zu Transkriptionen vermengt und identitätsstiftende Serien wie die Soirées de Vienne oder die Ungarischen Rhapsodien kreiert. Das folgende Kapitel beschäftigt sich eingehend mit diesen imaginierten Konstruktionen, für die Adorno den Begriff „Dialekt ohne Erde“ prägte.29

28 29

Zit. in: Lina Ramann, Lisztiana. Erinnerungen an Franz Liszt (1873–1886/7), Mainz 1983, S. 282. Lina Ramann beruft sich auf Auguste Rennebaum, der wiederum die Erzählung eines Augen- und Ohrenzeugen wiedergab. Vgl. dazu diese Arbeit, S. 205.

VIII SCHUBERTS UND LISZTS UNGARISCHER TON „PHANTASIEUNGARN“ NACH SCHUBERT Obwohl Schubert während seines kurzen Lebens nur selten reiste, weilte er zweimal im damals zu Ungarn gehörenden Zseliz, dem heutigen Zeliezovce in der Slowakei, auf dem Gut des Grafen Johann Karl Esterházy von Galántha (1775–1834). Die beiden Aufenthalte in Ungarn fielen auf die Sommer- und Herbstmonate der Jahre 1818 und 1824.1 Schuberts Aufgabe war es, die beiden Töchter Marie und Caroline zu unterrichten und den Grafen, der eine sonore Bass-Stimme hatte, am Klavier zu begleiten. Für den 21-Jährigen stellte die erste Sommerfrische auf dem Land eine willkommene Abwechslung vom ungeliebten Schulunterrichtsalltag dar, den er im Herbst 1817 wieder aufgenommen hatte. Außerdem war der Dienst bei der Grafenfamilie mit hohem Ansehen und einem stattlichen Einkommen verbunden.2 In einem Brief vom 4. August 1818 an seine Freunde äußert sich Schubert enthusiastisch über seine neue Anstellung: „Ich befinde mich recht wohl. Ich lebe und componire wie ein Gott, als wenn es so seyn müßte. Mayrhofer’s ‚Einsamkeit‘ [D 620] ist fertig, und wie ich glaube, so ist’s mein Bestes, was ich gemacht habe, denn ich war ja ohne Sorge. Ich hoffe, daß ihr alle recht gesund und froh seyd, wie ich es bin. Jetzt lebe ich einmal, Gott sey Dank, es war Zeit, sonst wär’ noch ein verdorbener Musikant aus mir geworden.“3

Die Briefe aus der zweiten Zselizer Zeit lesen sich nüchterner als sechs Jahre zuvor. Franz von Schober erhielt folgende Zeilen:

1

2

3

Schuberts Passgesuch vom 7. Juli 1818 ist im Archiv der Stadt Wien erhalten: „7. July 818 / Schubert Franz / Rossau / im Schulhaus No. 81 / Bei seinem Vater Franz Schullehrer allda / (Geburtsort) Thury / (Land) N.Oe / (Alter) 21 / (Charakter oder Profession) Musikmeister bei Joh. Esterhazzy / (ledig) / (Reiset nach) nach Zselesz in Hungarn / (Dauer des Passes) 5 Monate.“ Siehe Deutsch, Dokumente, S. 61. Der Musiklehrer der gräflichen Familie hatte standesgemäß aufzutreten, weshalb Schubert seine Stiefmutter nach einigen Wochen um einen Nachschub an Kleidern bat: „Meiner Mutter berichte, daß meine Wäsche sehr gut besorgt wird, daß mir Ihre Sorgfalt mütterlich wohl thut. (Wenn ich aber noch Wäsche haben könnte, so wär es mir außerordentlich angenehm, wenn Sie mir einen Nachtrab von Schnupftüchern, Halstüchern und Strümpfen schickten. Auch brauchte ich sehr nothwendig zwey Paar – casimirne Beinkleider, das Maß kann der Hart [der Schneider Bartholomäus Hardt] nehmen, wo er will. Das Geld dafür würde ich sogleich schicken.) Für den Monath July nahm ich samt dem Reisegeld 200 fl [Gulden] ein.“ Brief von Schubert an seinen Bruder Ferdinand vom 24. August 1818, ebd., S. 64. Laut Otto Erich Deutsch kostete die Reise von Wien nach Zseliz mit dem Postwagen etwa 5 Gulden Konventionsmünze. Für sein möbliertes Zimmer am Glacis bezahlte Schubert 1825 monatlich 10 Gulden Konventionsmünze. Vgl. ebd., S. XIV. Ebd., S. 64.

„Phantasieungarn“ nach Schubert

199

„Nun sitz ich allein hier im tiefen Ungarlande in das ich mich leider zum 2ten Mahle locken ließ, ohne auch nur einen Menschen zu haben, mit dem ich ein gescheidtes Wort reden könnte.“4

Auch seinem Bruder Ferdinand klagte er sein Leid: „Freylich ists nicht mehr jene glückliche Zeit, in der uns jeder Gegenstand mit einer jugendlichen Glorie umgeben scheint, sondern jenes fatale Erkennen einer miserablen Wirklichkeit, die ich mir durch meine Phantasie (Gott sey’s gedankt) soviel als möglich zu verschönern suche! Man glaubt an dem Orte, wo man einst glücklicher war, hänge das Glück, indem es doch nur in uns selbst ist […].“5

Schubert scheint darunter gelitten zu haben, dass er lediglich der Dienerschaft angehörte. Sein niedriger sozialer Status dürfte ihm wohl besonders im Vergleich mit der nun 19-jährigen Caroline Esterházy (1805–1851) bewusst geworden sein. Eduard von Bauernfeld notierte im Jahre 1828 in sein Tagebuch: „Schubert scheint im Ernst in die Comtesse E. verliebt. Mir gefällt das von ihm. Er gibt ihr Lection.“6 Ein weiterer Hinweis auf diese Schwärmerei findet sich auch in Schuberts Brief an Moritz von Schwind: „Ich bin noch immer Gottlob gesund u. würde mich hier recht wohl befinden, hätt’ ich Dich, Schober u. Kupelwieser bey mir, so aber verspüre ich trotz des anziehenden bewußten Sternes manchmahl eine verfluchte Sehnsucht nach Wien.“7

Trotz oder vielleicht gerade wegen Schuberts offenkundiger Desillusionierung gingen aus seinem zweiten Ungarn-Aufenthalt bedeutende Kompositionen hervor. Für die Comtessen Marie und Caroline schuf er drei Werke für Klavier zu vier Händen: das Grand Duo (D 812), die Acht Variationen über ein eigenes Thema in As (D 813) und das erst nach seiner Rückkehr entstandene und 1826 veröffentliche Divertissement à l’hongroise (D 818). Letzteres basiert auf der Ungarischen Melodie (D 817), die Schubert noch in Zseliz niedergeschrieben haben soll. Anselm Hüttenbrenner erinnerte sich rückblickend, dass sich sein Freund damals begeistert über die sogenannte „Zigeunermusik“ geäußert hatte: „Bei einem Grafen Esterházy verlebte er höchst angenehme Tage in Ungarn. Da sammelte er den Stoff für das späterhin erschienene vierhändige, ziemlich gedehnte ungarische Rondo. – Er erzählte mir, daß ihn die Zigeunermusik sehr interessiert habe.8 4 5 6

7 8

Brief von Franz Schubert an Franz von Schober vom 21. September 1824, zit. ebd., S. 238. Brief von Franz Schubert an Ferdinand Schubert vom 16./18. Juli 1824, zit. ebd., S. 250. Walburga Litschauer, Neue Dokumente zum Schubert-Kreis. Aus Briefen und Tagebüchern seiner Freunde, Wien 1986, S. 68. Später, im Jahre 1858, schrieb Bauernfeld folgenden Vierzeiler im Stile Heinrich Heines nieder: „Verliebt war Schubert; der Schülerin / Galts’, einer der jungen Comtessen; / doch gab er sich einer – ganz Andern hin, / um die – Andere zu vergessen.“ Rusticocampius [Pseudonym Eduard von Bauernfelds], Buch von uns Wienern in lustigen gemütlichen Reimlein, Leipzig 1858, zit. in: Max Friedlaender, Beiträge zur Biographie Franz Schubert’s, Inaugural-Dissertation der Universität Rostock, Berlin 1887, S. 39. Siehe auch Deutsch, Dokumente, S. 256. Bauernfeld spielt auf die Beziehung zum Zimmermädchen Pepi [Josepha Pöcklhofer] an. Vgl. dazu Rita Steblin, „Schubert’s Pepi: his love affair with the chambermaid Josepha Pöckelhofer and her surprising fate“, in: The Musical Times 2008, S. 47–69. Brief von Schubert an Moritz von Schwind vom August 1824 aus Zseliz, zit. in: Deutsch, Dokumente, S. 255. Deutsch, Erinnerungen, S. 54.

200

VIII Schuberts und Liszts ungarischer Ton

In Zseliz lernte Schubert den Sänger Karl Freiherr von Schönstein (1796–1876) kennen, der mehr als 30 Jahre später festhielt, wie es angeblich zur Niederschrift der Ungarischen Melodie gekommen sein soll: „Das Thema zu dem Divertissement à la Hongroise (Opus 54), welches der Frau v. Lászny, geb. Buchwieser, dediziert ist, ein ungarisches Lied, holte sich Schubert zu Zseliz in der Küche des Gr. Esterházy, woselbst es eine ungarische Küchenmagd sang, und Schubert, welcher eben mit mir von einem Spaziergang nach Hause kam, es im Vorübergehen hörte. Wir lauschten längere Zeit dem Gesang, Schubert hatte offenbar Wohlgefallen an dem Liede, brummte es lange noch im Weitergehen vor sich hin, und siehe da, im nächsten Winter erschien es als Thema im erwähnten Opus 54, eines seiner herrlichsten Klavierstücke.“9

Es ist nicht erstaunlich, dass dieses angebliche Zitat von der ungarischen Volksliedforschung nicht identifiziert werden konnte: Mit seiner sprunghaften Melodik und den kurzen Vorschlagnoten eignet es sich nicht als schlichtes Volkslied, das eine Küchenmagd vor sich hin trällern würde. Dennoch scheint Schubert in Ungarn tatsächlich jene Inspiration für ein ihm bislang unbekanntes Melodiegut und exotisch anmutende Klänge gefunden zu haben, wie sie auf seine Ungarische Melodie abfärbten. Bereits im achten Takt wird der charakteristische übermäßige Sekundschritt in den melodischen Spitzentönen exponiert. Das melancholische, auffallend repetitive Thema besteht in erster Linie aus rasch ausgeführten Intervallsprüngen, die sich, ausgehend von der Quarte, immer weiter ausdehnen und sich schließlich bis zur Oktave aufschwingen. Die rhythmischen Akzente auf unbetonte Zählzeit kurbeln das musikalische Geschehen an. Eine solche Melodieführung ist eher für ein Saiteninstrument als für die Singstimme denkbar:

Schubert, Ungarische Melodie, T. 1–9

Schuberts Erfahrungen mit dem „ungarischen Stil“ gehen bis ins Jahr 1814 zurück. Damals ergänzte er das 1807 vom böhmischen Gitarristen Wenzel Thomas Matiegka (1773–1830) komponierte Notturno für Flöte, Viola und Gitarre op. 21 durch Hinzufügen einer Violoncellostimme zu einem Quartett.10 Der vierte Satz ist mit 9 10

Ebd., S. 86. Ebd., S. 61. Möglicherweise schrieb er die zusätzliche Cellostimme für seinen Vater. Das Werk wurde lange für eine Komposition Schuberts gehalten.

„Phantasieungarn“ nach Schubert

201

Zingara überschrieben und weist interessante Parallelen zur Ungarischen Melodie auf. Hier finden sich in der Flötenstimme gehäuft auftretende Vorschlagnötchen zur seufzerartig absteigenden Melodie wieder, wobei der Gitarre – klanglich durch Pizzicati des Cellos verstärkt – eine ähnliche Funktion wie der linken Hand im Klavierstück zukommt.

Matiegka, Zingara aus dem Notturno für Flöte, Viola und Gitarre op. 21, T. 9–16

Schubert, Ungarische Melodie, T. 82–85

Synkopierte Rhythmen in der Viola, die unmittelbare Gegenüberstellung von Dur und Moll, abrupte dynamische Wechsel, anschwellende Triller und eine spielerische Sextolenbewegung im b-Teil der Zingara wirken rückblickend wie tentative Vorboten des knapp 20 Jahre später entstandenen Divertissement à l’hongroise.

Matiegka, Zingara, T. 17–24

Noch weiter zurück als Matiegkas Zingara-Satz gehen Joseph Haydns Finalsätze des als „Zigeunertrio“ bekannt gewordenen Klaviertrios G-Dur Hob. XV:25 und des Klavierkonzertes D-Dur Hob. XVIII:11. Beide sind als feurige Rondi „in the Gypsies’ style“11 / „all’ungarese“ gestaltet.12 Diesen Sätzen verleihen Vorschläge, Schleifer, Kleinsekund-Reibungen, bestechend schnelle Tempi, abrupte Dur-Moll11 12

Das Erfolgsgeheimnis der höchst populären Londoner Erstausgabe scheint nicht zuletzt auch im doppelt fremdländischen Kontext zu liegen: Sowohl Haydn wie auch die Zigeuner galten in der Themsestadt als Exoten. Auch das Menuett des Streichquartetts D-Dur op. 20 Nr. 4 ist mit alla zingarese überschrieben.

202

VIII Schuberts und Liszts ungarischer Ton

Wechsel, kühne Modulationen und synkopierte Rhythmen eine charakteristische Färbung. Haydn ließ sich dafür von den Zigeunerkapellen inspirieren, die am Hof der Fürsten Esterházy aufspielten. Im Zentrum seiner adaptierten Volksmusik steht der exotisch-klangliche Effekt und keineswegs eine authentische Wiedergabe von ungarischem Liedgut, von dessen Existenz der Westen damals noch keine Kenntnis hatte. Die austauschbaren Satzbezeichnungen „alla zingarese“ und „all’ungarese“ begreifen dieses später insbesondere Liszt angekreidete Missverständnis bereits im Kern. Im 18. Jahrhundert war ein musikalischer Nationalstil weniger ein „ethnischer Charakter, in den ein Komponist hineingeboren wurde, als vielmehr eine Schreibweise, die er wählen und mit einer anderen vertauschen konnte.“13 Anders gestaltete sich die Situation im folgenden Jahrhundert, in dem sich die Vorstellung durchsetzte, dass „originelle Nationalität“ in der Musik „von innen heraus“ wirksam sei: „Damit wuchs die ästhetische Bedeutung des Nationalen, während es andererseits die feste Bestimmtheit der Umrisse einbüßte.“14 Zwar ist Schuberts Divertissement à l’hongroise noch ganz der westlichen „all ungarese“-Tradition mit ihrem verspielt-exotischen Kolorit verpflichtet, doch ebnen seine drei „national“ gefärbten und artifiziell überhöhten Sätze bereits den Weg für Komponisten wie Liszt und Dvořák und deren politisch konnotierte Schreibweise. Ob die Titelgebung von op. 54 auf den Autor oder den Verleger zurückgeht, ist ungewiss.15 Analog zum italienischen „Divertimento“ wurde seit dem 18. Jahrhundert die Bezeichnung „Divertissement“ in Titeln kammermusikalischer Werke leichten und unterhaltsamen Charakters verwendet. Allein schon die überaus virtuose Behandlung des Primo-Parts ist indes ein Indiz dafür, dass Schuberts dreisätzige Komposition weit mehr als einen bloßen „Zeitvertrieb“ darstellt. Der 1. Satz in g-Moll präsentiert sich als mehrteilige, rhapsodisch angelegte Struktur mit rondoartig wiederkehrendem Hauptthema, das aus einem prägnanten, mit Vorschlägen versehenen Themenkopf besteht, der zunächst ziellos um den Quintton D kreist. Die ersten beiden fünftaktigen Phrasen kommen jeweils auf der vermollten Dominante zum Stillstand. Beim dritten und vierten Anlauf wird die Tonart G-Dur erreicht und mit kräftigen Tremoli bestätigt. Elegant schließt sich die tänzerische Fortsetzung im terzverwandten Es-Dur mit abgewandeltem Themenkern an. Schubert verknüpft die einzelnen Teile fast theatralisch. Die beiden Kadenzen, die zum Anfangsthema zurückleiten, treten wie entfesselte Improvisationen aus flirrenden Tremoli hervor (T. 79 ff./135 ff.). Der spontane Charakter dieser Passagen wird beim ersten Auftreten durch verspielte Fiorituren noch verstärkt. Sowohl das Tremolo über dem Dominantorgelpunkt durch den zweiten Spieler, die Tonleitergänge mit Betonung des kleinen Nonenvorhalts Es mittels Triller, wie auch das wiederholte An- und Abschwellen der absteigenden Zweiunddreißigstel-Figuration mit dem übermäßigen Sekundschritt Es-Fis und anschließendem Verebben auf dem 13 14 15

Carl Dahlhaus, „Nationalismus und Folklore“, in: ders., Zwischen Romantik und Moderne. Vier Studien zur Musikgeschichte des späteren 19. Jahrhunderts, München 1974, S. 82–87, S. 83. Ebd. Vgl. dazu Walther Dürr / Andreas Krause (Hg.), Schubert-Handbuch, Kassel etc. 1997, S. 405.

„Phantasieungarn“ nach Schubert

203

Ton D erinnern an eine Partitur für ein mit Klöppeln geschlagenes Saiteninstrument wie das Zymbal.

Schubert, Divertissement à l’hongroise, 1. Satz, T. 73–82

Schuberts ausschweifender Übergang zum Anfangsthema erweist sich jedoch nicht nur als Effekt, sondern auch als harmonische folgerichtige Schlüsselstelle. Das

204

VIII Schuberts und Liszts ungarischer Ton

Changieren zwischen den Stationen D-Dur und Es-Dur wird kurz zuvor in Form einer Bordun-Passage auf die Spitze getrieben. In Takt 71 rückt Schubert die Musik mittels Quinten nahezu gewaltsam chromatisch nach Es-Dur, die jedoch nach zwei Takten bereits wieder zurück nach D-Dur sinkt und in einer ersten kleinen Fermate pausiert. Nochmals reißt Es-Dur das Zepter an sich, bevor sich die Dominante der Grundtonart in der Kadenz durchsetzen kann. Im Zentrum von op. 54 steht ein auffallend schlichter, kurzer c-Moll-Marsch in klassisch dreiteiliger Menuett-Form. Hier liegen die Feinheiten in kleinen formalen Unregelmäßigkeiten wie etwa im durch Abspaltung um zwei Takte verlängerten Nachsatz, der nach As-Dur ausschert und die Tonart des Trios vorwegnimmt. Im zweiten Teil der Marcia erklingt As-Dur während vier Takten erneut – diesmal in exakt derselben Funktion wie in der oben beschriebenen Gegenüberstellung von D-Dur und Es-Dur im ersten Satz. Der Secondo-Spieler gibt mit einer pulsierenden Begleitung aus Synkopen den Takt und den ländlerhaft anmutenden Triogestus vor. Fast schon sinfonische Ausmaße nimmt dagegen der tänzerische Finalsatz an. Als Ausgangspunkt diente Schubert der erste Teil seiner Ungarischen Melodie, die er von h- nach g-Moll transponierte. Der synkopierte Achtelpuls und Intervalle wie der übermäßige Sekundschritt oder die markanten Tritoni sind die präzis eingesetzten technischen Mittel, welche die Konnotation „ungarisch“ hervorrufen. Hinzu kommt, dass auf kleinstem Raum dynamische Extreme miteinander kontrastieren. Während sich in der Vorlage nun ein etwas heiterer Dur-Teil anschließt, wendet sich Schubert zugunsten einer dramatischen Steigerung von der originalen Melodie ab. Im Terzgang werden in rascher Folge die harmonischen Stationen d-Moll, f-Moll, As-Dur, C-Dur, Es-Dur und g-Moll durchschritten. Ein abrupter Szenenwechsel vollzieht sich im marschartigen Zwischenteil ab Takt 65, der sich weit vom auftaktig fließenden Melodierhythmus der vorangegangenen Passage entfernt. Dieser in sich dreiteilige Einschub in c-Moll ist durch trommelähnliche Triolenwirbel, Staccati und scharfe Punktierungen charakterisiert. Dazwischen erklingen sanfte Töne mit figurativen Triolenketten in hoher Lage. Nachdem der Anfangsteil ohne Wiederholungen nochmals zitiert wurde, folgt ein zweiter Einschub in B-Dur, der wiederum ein Mittelstück umrahmt. Dieser fast orchestrale fis-Moll-Mittelteil ist reich an assoziativen Anklängen wie den repetierten Noten und Paukenschlägen im Bass und den vielen Vorschlagnoten, mit deren Ausführung auch ein Piccolo betraut werden könnte. Im Anschluss an die letzte Wiederkehr des Hauptthemas knüpft Schubert nochmals an seine Ungarische Melodie an, lässt deren ornamentreiche Seufzertakte mit den schneidenden Dissonanzen folgen (T. 446 ff.) und den Satz in Dur verklingen. Für Schubert war der ungarische Ton als musikalisches Material sicherlich reizvoll. Keineswegs dürfte es ihm – wie später Bartók oder Kódaly – um die Auseinandersetzung mit echter Folklore gegangen sein. Theodor W. Adorno hat Schuberts Verfügung über das „ungarische“ Idiom (das er auch im Seitenthema der C-Dur-

„Alla zingarese“ – Liszts produktives Missverständnis

205

Sinfonie und im späten A-Dur-Rondo nachklingen hörte16) als „Traumsteppe“ und „Phantasieungarn“ bezeichnet. Um diese Phantasmagorie von handfester Folklore zu unterscheiden, prägte er den Begriff „Dialekt ohne Erde“17, der für ihn – mit einer absichtsvoll paradoxen Formulierung – eine nur imaginierte, also „mythisch echte Folklore“ bezeichnet. „ALLA ZINGARESE“ – LISZTS PRODUKTIVES MISSVERSTÄNDNIS Liszts Bezüge zu Ungarn sind komplexer als diejenigen von Schubert. Im Jahre 1873 bekannte der Klaviervirtuose seinem ungarischen Freund Baron Antal Augusz: „Man darf mir wohl gestatten, dass ungeachtet meiner beklagenswerthen Unkentniss der ungarischen Sprache, ich von Geburt bis zum Grabe im Herzen und Sinne, Magyar verbleibe, und demnach die Cultur der ungarischen Musik ernstlich zu fördern wünsche.“18

Zwar wurde Liszt im damals westungarischen Raiding geboren (heute österreichisches Burgenland). Bereits als 10-jähriger Knabe kam er jedoch nach Wien und wuchs dann in Paris auf. Während seine eigentliche Muttersprache das Deutsche war, kommunizierte er später in erster Linie französisch. Erst nach seiner teilweisen Übersiedlung nach Ungarn in den 1870er-Jahren bemühte er sich ernsthaft, die Landessprache zu lernen. Das Schlüsselerlebnis, das Liszt an seine Wurzeln erinnerte, war die Überschwemmungskatastrophe von Pest im März des Jahres 1838.19 Eindrückliches Zeugnis seiner Betroffenheit gibt der in der RGMdP am 2. September 1838 abgedruckte Reisebrief an Lambert Massart. Neben dem oft zitierten Bekenntnis „O ma sauvage et lointaine patrie!“ enthält der mehrere Seiten umfassende Bericht eine Betrachtung über den reisenden, heimatlosen Virtuosen (musicien-voyager), den der Verfasser mit der Figur des Schubertschen Wanderers assoziiert: „En rentrant chez moi, je m’assis au piano; le chant du Wanderer me revint à la mémoire; ce chant si triste, si poétique me frappa plus qu’il n’avait fait jusqu’alors. Il me sembla reconnaître

16

17 18 19

Adorno schreibt in seinem Essay über Schuberts Rondo A-Dur (D 951): „Der gesamte Überleitungsteil gehört zu jenen ungemein charakteristischen Nebenthemen Schuberts, die sich nach Moll, gewissermaßen in den Schatten, wenden und dort, im Geheimen, Verborgenen, eine rätselhafte, es darf wohl gesagt sein: mythisch echte Folklore zitieren – so auch der Seitensatz der ersten Sätze der C-Dur-Sinfonie und des Oktetts. Hier ist eine ‚ungarische‘ Tönung unverkennbar; eine Zweiunddreißigstelquintole mahnt ans Zimbal; aber es ist ein Phantasieungarn, eine Traumsteppe, mehr unter der Erde gelegen, durch Schluchten zu betreten, als auf ihr.“ Theodor W. Adorno, „Franz Schubert: Großes Rondo A-Dur, für Klavier zu vier Händen, op. 107“, in: ders., Gesammelte Schriften Band 18, hrsg. von Rolf Tiedemann u. a., Frankfurt a. M. 1970– 1986, S. 189–194, S. 191. Theodor W. Adorno, „Schubert“, in: ders., Moments musicaux. Neu gedruckte Aufsätze 1928– 1962, Frankfurt a. M. 1964, S. 18–33, S. 18 ff. Brief von Franz Liszt an Baron Antal Augusz vom 7. Mai 1873, zit. in: Hans Rudolf Jung (Hg.), Franz Liszt in seinen Briefen, Frankfurt a. M. 1988, S. 237. Vgl. dazu Joseph von Sonnenfels, Scenen aus Pesth: Schilderung der verheerenden Ueberschwemmung am 12., 14., 15. und 16. März 1838; Mit einem Rückblick auf Ofen, Wien 1838.

206

VIII Schuberts und Liszts ungarischer Ton une lointaine et secrète analogie entre les harmonies de Schubert et celles que j’avais entendues dans mon rève.“20

Es ist sicher nicht belanglos, dass in dieser retrospektiven Stilisierung Schuberts Musik und das Innewerden der eigenen Wurzeln zu einer Art Urszene zusammentreten. Bezeichnenderweise erreichte die Nachricht des Unglücks von Pest Liszt zu einem Zeitpunkt, als er die Weichen für seine Zukunft stellen musste. In dieser Phase privater und beruflicher Unsicherheit traf ihn, der einst als Wunderkind in der vornehmen Gesellschaft Europas herumgereicht worden war, die Erkenntnis, gebürtiger Ungar zu sein, wie ein Blitz. „Ce fut par ces émotions, par ces élans, que le sens du mot patrie me fut révélé. Je fis un retour subit sur le passé; je descendis dans mon coeur, et j’y retrouvai avec une joie inexprimable le trésor intact et pur des souvenirs d’enfance. Un paysage grandiose s’éleva devant mes yeux: c’était la forêt bien connue, retentissant du cri des chasseurs; c’était le Danube précipitant son cours à travers les rochers; c’était les vastes prairies où paissaient librement les troupeaux pacifiques; c’était la Hongrie, ce sol robuste et généreux qui porte de si nobles enfants; c’était mon pays enfin; car moi aussi, m’écriai-je dans un accès de patriotisme qui vous fera sourire, moi aussi j’appartiens à cette antique et forte race; je suis un des fils de cette nation primitive, indomptée, qui semble réservée pour de meilleurs jours!“21

In der Fortsetzung seines Briefes nimmt der Verfasser ahnungslos vorweg, was sich die ungarische Bevölkerung von ihm erhoffte: „[…] mais qu’une voix puissante les réveille, oh! comme leur esprit s’emparera de la vérité! comme ils lui feront dans leur poitrine un redoutable asile! comme leurs bras nerveux sauront la défendre! Un glorieux avenir les attend, parce qu’ils sont bons et forts, et que rien n’a usé leur volonté, ni fatigué vainement leur espérance.“22

Im Jahre 1839, als Liszt für seine zweite Konzertserie in Wien weilte, erreichte ihn eine Einladung aus Pest. Erstmals seit seiner Kindheit trat er wieder in Ungarn auf und wurde auf seiner Tournee durch das Land frenetisch gefeiert. Dass der Klaviervirtuose vom ungarischen Publikum wie ein Held verehrt wurde, lässt sich durch das im Vormärz aufblühende ungarische Nationalbewusstsein erklären. Mit Liszt lenkte ein international gefeierter Star die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf eine Nation, die nach staatlicher Eigenständigkeit strebte (wie sie dann 1867 im ungarisch-österreichischen „Ausgleich“ mit der staatsrechtlichen Konstruktion der Doppelmonarchie erreicht wurde). Seine Auftritte fielen exakt in die vormärzliche, weitgehend vom Adel getragene Phase der ungarischen Nationsbildung. Mehrfach intonierte Liszt in seinen Konzerten den Rákóczi-Marsch, der von den Österreichern aufgrund seiner revolutionären Sprengkraft verboten worden war.23 Nach dem Konzert vom 4. Januar 1840, zu dem Liszt in ungarischer Nationaltracht er20 21 22 23

RGMdP vom 2. September 1838, S. 350. Ebd., S. 350 f. Ebd., S. 351. Vgl. dazu Walker, The Virtuoso Years, S. 320. Franz II. Rákóczi (1676–1735) war Anführer des nach ihm benannten Aufstandes von 1703–1711, der letzten und größten Erhebung ungarischer Adliger gegen die Habsburger. Erste Versionen seines angeblichen „Lieblings-Marsches“ gehen auf das Jahr 1730 zurück. Auch der Roma-Geiger János Bihari, den Liszt kannte und schätzte, hatte den Marsch im Repertoire. Er galt den Ungaren als inoffizielle Hymne.

„Alla zingarese“ – Liszts produktives Missverständnis

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schien, wurde er mit dem Ehrensäbel – dem Attribut des ungarischen Adels – ausgezeichnet. In seiner Dankesrede soll der Klaviervirtuose zum Kampf gegen die Unterdrückung bis zum letzten Blutstropfen für Freiheit, König und Land aufgerufen haben.24 Erstaunlicherweise hatte diese öffentliche Kundgebung für Liszt trotz der angespannten politischen Lage keinerlei Konsequenzen. Im Gegenteil: Die Ehrerweisung veranlasste den Westen zu spöttischen Karikaturen wie etwa dieser am 8. Juli 1842 in der Pariser Satirezeitschrift Le Charivari erschienenen Lithographie. Die spöttischen Zeilen unter der Zeichnung lauten: „Entre tous les guerriers, Litz est seul sans reproches, / Car malgré son grand sabre, on sait que ce héros / N’a vaincu que des double-croches / Et tué que des pianos.“25

24 25

Ebd., S. 326. Ebd., S. 327. Die Karikatur stammt von Alcide Joseph Lorentz (1813–1891). Bibliothèque nationale de France, département Musique, Est.LisztF.045.

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VIII Schuberts und Liszts ungarischer Ton

Während Liszts Beschäftigung mit Ungarn in den Augen des magyarischen Adels deutlich nationalistisch gefärbt war, ging es ihm nicht nur um eine patriotische Demonstration. Seine vielschichtigen Beiträge für die ungarische Musiktradition sind als eine Form von Identitätsbildung zu werten, deren Konstruktionscharakter jedoch nicht übersehen werden darf. Wie intensiv Liszt sich mit der vermeintlichen ungarischen Volksmusik auseinandersetzte, zeigt seine im Jahre 1859 erschienene, mehr als 300 Seiten umfassende Abhandlung Des Bohémiens et de leur musique en Hongrie, die ursprünglich als Vorwort und ästhetisches Programm zu den 15 Ungarischen Rhapsodien gedacht war.26 Der zentrale Gedanke der Schrift ist der eines musikalischen Nationalepos, das Liszt mit den Rhapsodien vorgelegt zu haben beanspruchte. In der Kunst der Zigeuner, die er als „Barden Ungarns“ betrachtete, sah er eine Möglichkeit zur Rekonstruktion dieses Epos. Für Liszt waren die Zigeuner weit mehr als einfache Spielleute: „Sie sind Dichter in Tönen, die ein Motiv gleichsam als ‚texte de discours‘ aufgreifen und deren Musik, deren Tondichtungen entsprechend zu würdigen seien.“27 Diese „Tondichtungen“ wollte er keineswegs bloß imitieren, sondern sich künstlerisch aneignen. Im Gegensatz zur durchdachten Kunstmusik fesselte ihn die Freiheit, mit der Zigeuner musizierten: „Ihre Regel ist Regellosigkeit“,28 wobei sich die extremen und unmittelbaren Gefühlsausbrüche vorwiegend auf die Empfindungen Stolz und Schmerz stützten. Ihre „Mollscala“ mit übermäßiger Quarte und großer Septime, die Lina Ramann als „ungarische Skala“29 bezeichnete, enthielt für Liszt einen „seltsamen Schimmer, ja einen blendenden Glanz“.30 Und die „Mannichfaltigkeit und Geschmeidigkeit ihrer Rhythmen“ vom „im Mondschein auf Wiesen geschlungenen Elfenreigen zum bacchischen Gesang“ hielt er für geeignet, „poetische Anschauungen im Geiste zu erwecken“.31 Der besondere Reiz der ungarischen Zigeunermusik lag wohl auch darin, dass sich Liszt durch sie an seine Kindheit erinnert fühlte. Liszts Buch hat nicht zuletzt in Ungarn viel Unmut hervorgerufen, denn der Autor wurde zu Recht mit dem Vorwurf konfrontiert, die ungarische Volksmusik mit der Zigeunermusik gleichgesetzt zu haben.32 Es ist jedoch durchaus ein Trugschluss zu vermuten, dass sich Liszt keine Gedanken über eine ursprüngliche Volksmusik gemacht hätte: 26

27 28 29 30 31 32

Vgl. dazu Benedikt Jäker, Die Ungarischen Rhapsodien Franz Liszts, in: Musik und Musikanschauung im 19. Jahrhundert, Bd. 9, Sinzig 2009, S. 153. Klára Hamburger schreibt die Autorschaft der Schrift aufgrund von „Anlage und Stil“ allerdings der Fürstin Carolyne zu SaynWittgenstein zu. Vgl. dazu Klára Hamburger, „Franz Liszt und die Zigeuner“, in: Liszt und die Nationalitäten. Bericht über das Internationale musikwissenschaftliche Symposion 1994, hrsg. v. Gerhard J. Winkler (=Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland 93), Eisenstadt 1996, S. 62–73, S. 63 f. Jäker, Die Ungarischen Rhapsodien Liszts, S. 162. Franz Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn, in: La Mara (Hg.), Gesammelte Schriften von Franz Liszt, Bd. 3, Leipzig 1910, S. 111. Ramann, Franz Liszt, Bd. 2, S. 20. Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik, S. 109. Ebd., S. 111. Vgl. dazu auch Bálint Sárosi, Zigeunermusik, Zürich 1977, S. 150 ff.

„Echt nationelle Auffassung“ – über das ungarische Idiom in der Musik

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„Alle einheimische ungarische Musik zerfällt natürlich ursprünglich in das gesungene Lied und in die Tanzmelodie, zwischen welchen eine nahe Charakterverwandtschaft, um nicht zu sagen Identität herrscht. Auf den ersten Blick möchte es scheinen, als hätten die Zigeuner auf die Vokalmusik keinen Rechtsanspruch; denn die Lieder haben ungarischen Text, werden nur von Magyaren gesungen und gemeiniglich Schäfern oder Kriegern dieser Rasse und Sprache zugeschrieben. Über die Tanzmelodien erhebt sich, in Ermangelung von Argumenten ad rem und ad hoc, minderer Streit. Worauf sollte sich in der That eine Erörterung darüber stützen, ob die Ungarn ihre choreographischen Übungen nach der von den Zigeunern mitgebrachten Musik einrichteten, oder daß die letzteren unzweifelhaft weder eigne Tänze noch eigne Musik besaßen und beides, wenigstens Melodien und Rhythmen, von den Ungarn entlehnten? Unsres Wissens existieren keine ausreichenden Beweise, nach denen eine dieser beiden Meinungen auf anerkannten Tatsachen fußen könnte. […] Wäre es denn nun so gar zu seltsam und unmöglich daß die Magyaren, aus dem überlegenen Talent ihrer Gäste Nutzen ziehend, unmerklich ihre Tänze mit Einteilung und Takt der Zigeunermelodien in Übereinstimmung gebracht hätten und mit der Zeit ihre Aneignung eine so vollständige geworden wäre, daß jede Spur dieser Verschmelzung sich verloren, und beide nun wie unzertrennliche Zwillinge erscheinen? Wer vermag heute zu entscheiden, ob die Zigeuner ihre Melodien bei den Ungarn gelernt, um sie ihnen aufzuspielen, oder ob das magyarische Volk sich nach den Zigeunermelodien gerichtet hat?“33

Liszts fehlerhafte Folgerung, dass sich die ungarische Volksmusik mit der Musik der Zigeuner zu einem untrennbaren Ganzen verschmolzen hätte, wurde von Kodály später als „unsterblicher Irrtum“34 bedauert. Woher hätte der Klaviervirtuose auch von der viel älteren, von fremden Einflüssen kaum berührten heimischen Musiktradition der Bauern wissen können, die erst nach seiner Zeit systematisch erforscht wurde? Er empfand den Instrumentalstil des „Verbunko“ (Werbungstanz), den daraus entwickelten „Csárdás“ und die ab den 1840er-Jahren aufkommende volkstümliche Liedmusik wie die meisten seiner Zeitgenossen als authentisch ungarisch. Carl Dahlhaus zufolge muss dieser „historische Irrtum […] als ästhetische Wahrheit beim Wort genommen werden, denn die nationale Prägung hängt von einer kollektiven Entscheidung ab, einer Entscheidung, die im 19. Jahrhundert unter dem Einfluß des Nationalbewußtseins – als des Willens zum Nationalen – stand.“35 „ECHT NATIONELLE AUFFASSUNG“ – ÜBER DAS UNGARISCHE IDIOM IN DER MUSIK Kurz vor seiner Abreise nach Ungarn spielte Liszt am 14. Dezember 1839 „eine Phantasie nach Schubert‘s ungarischen Melodien“ im Wiener Musikvereinssaal.36 Dabei dürfte es sich um einen der Sätze seiner noch unveröffentlichten Mélodies hongroises d’après Schubert gehandelt haben.37 „[…] Liszt [spielte] eine Phantasie nach Schubert‘schen ungarischen Melodien mit jenem melancholischen Ausdruck und hinreißenden Feuer, welches die Auffassung derlei nationeller 33 34 35 36 37

Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn, S. 132 f. Zoltán Kodály, Die Ungarische Volksmusik, Budapest 1956, S. 5. Dahlhaus, „Nationalismus und Folklore“, S. 84. Vgl. Brusatti, Schubert im Wiener Vormärz, S. 109. Die ersten beiden Hefte erschienen im Januar 1840 bei Diabelli. Siehe dazu den Anhang dieser Arbeit, S. 313.

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VIII Schuberts und Liszts ungarischer Ton Ton-Kobolde bedingt. […] Die elegante Spielweise bei dieser Nummer und die echt nationelle Auffassung erregten einen gerechten Beifallssturm, der nicht eher verhallte, bis eine Wiederholung geleistet wurde. Die Composition selbst ist sehr schön, mit wundervollen Arabesken verziert, und der nationelle Typus immer vorherrschend.“38

Dass der Berichterstatter dreimal das Adjektiv „nationell“ verwendete, zeugt von der Wirkung und Assoziation, welche die Folklore als nationales Merkmal beim Zuhörer des 19. Jahrhunderts auszulösen vermochte. Gerade durch solche Kritiken wurde die allgemeine Wahrnehmung jedoch auch beeinflusst: „Die nationale Bedeutung oder Färbung eines musikalischen Phänomens ist zu einem nicht geringen Teil eine Sache der Auffassung und der Übereinkunft; der Rezeptionsweise, die aber ‚zur Sache selbst‘ gehört.“39 Dieser Befund bestätigt die Resultate der neueren Nationalismusforschung: Nach der berühmten These von Benedict Anderson sind Nationen in erster Linie „imagined communities“, ohne dadurch an Realität und Geschichtsmächtigkeit das Geringste einzubüßen.40 Hinter Liszts „nationellen Ton-Kobolden“ verbarg sich weit mehr als nur eine romantische Schwärmerei, die sich – wie die Rezension nahelegt – im Entlegenen und Pittoresken zu erschöpfen scheint. Im Zeitalter der Revolutionen bildete sich ein politischer Nationalismus heraus, dessen Überzeugung es war, dass es „die Nation sei – und nicht die Konfession, die Klasse oder die Dynastie –, der der Bürger bei einem Konflikt der Pflichten die primäre Loyalität schulde.“41 Die Entstehung einer Nationalmusik war deshalb auch zumeist Ausdruck eines politisch motivierten Bedürfnisses, das „eher in Zeiten der erstrebten, verweigerten oder gefährdeten als der erreichten oder gefestigten nationalen Selbständigkeit“ hervortrat,42 wobei zusätzlich zu bedenken ist, dass allein schon die Nationsbildungsprozesse innerhalb der Habsburgermonarchie (ungarische, tschechische, kroatische etc.) erhebliche typologische Unterschiede aufweisen.43 Die Rolle der Komponisten in diesem Prozess der kulturellen Nationsbildung ist ambivalent. „So ist es […] durchaus zweifelhaft, in welchem Maße die Individualität eines Komponisten durch die musikalische Substanz einer Nation oder umgekehrt die musikalische Substanz einer Nation durch die Individualität eines Komponisten geprägt wird. Wurden das Polnische und das Tschechische in der Musik durch Chopin und Smetana ans Licht gebracht und artifiziell gefaßt oder umgekehrt 38 39 40 41 42 43

Rezension vom 19. Dezember 1839 im Wanderer, zit. in: Brusatti, Schubert im Wiener Vormärz, S. 109 f. Carl Dahlhaus, „Die Idee des Nationalismus in der Musik“, in: ders., Zwischen Romantik und Moderne. Vier Studien zur Musikgeschichte des späteren 19. Jahrhunderts, München 1974, S. 74–82, S. 80. Benedict Anderson, Die  Erfindung  der  Nation.  Zur  Karriere  eines  folgenreichen  Konzepts, Frankfurt a. M. 21996; engl. Originalausgabe: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983. Carl Dahlhaus, „Nationalismus und Universalität“, in: ders., Zwischen Romantik und Moderne, S. 44–51, S. 50. Ebd., S. 48. Miroslav Hroch, Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schichtung der patriotischen Gruppen, Prag 1968.

Liszts Mélodies hongroises d’après Schubert

211

die individuelle Signatur der Chopinschen und der Smetanaschen Musik durch Akklamation als Nationaleigentum erklärt?“44 Carl Dahlhaus weist auch auf die grundsätzliche Problematik hin, die sich ergab, wenn man der artifiziellen Musik durch Rückgriff auf die Folklore eine nationale Prägung verleihen wollte: „Einmal ist Volksmusik – Bartók würde präziser sagen: Bauernmusik – weniger national als regional und sozial bestimmt und begrenzt; und das Repertoire der fahrenden Spielleute war – jenseits nationaler Determinierung – international zusammengestückt. Zum anderen zeigte sich immer wieder, daß das bloße Zitieren von Folklore […] nicht genügte, um einen authentischen Nationalstil, in dem eine Nation sich wiederzuerkennen vermochte, zu begründen.“45 Wodurch zeichnet sich denn der „ungarische nationelle Typus“ aus? Die nationale Substanz eines musikalischen Stils mit greifbaren Kriterien dingfest zu machen, ist ein schwieriges Unterfangen. Die Problematik liegt darin, „ein bestimmtes Detail – die Dudelsack-Quinte, die lydische Quarte oder ein rhythmisch-agogisches Muster – als spezifisch polnisch zu reklamieren, ohne daß es in anderen Zusammenhängen als skandinavische Eigentümlichkeit erscheint […].“46 Paradoxerweise ist es gerade diese Akzentuierung des national Unterscheidenden, das sich letztlich nicht eindeutig in seiner Besonderheit bestimmen lässt.47 Doch haftet nationale Färbung nicht an einzelnen, isolierbaren Merkmalen, sondern am Zusammenhang, in dem sie stehen.48 Dazu gehört allen voran die geschichtliche Funktion, in der ästhetische und politische Momente ineinander übergehen. Insofern ist, so Dahlhaus, der Nationalstil kein „Substanz-“, sondern ein „Funktionsbegriff“.49 Musikalisch bezeugt wird dies etwa im von Liszt mehrfach intonierten Rákóczi-Marsch, in dem sich die (zunächst vorwiegend adelige) Trägerschaft des erwachenden ungarischen Nationalgefühls wiedererkannte. LISZTS MÉLODIES HONGROISES D’APRÈS SCHUBERT Die Vignette auf dem Titelblatt der Diabelli-Erstausgabe von Liszts Mélodies hongroises d’après Fr. Schubert (S 425) aus dem Jahre 1840 zeigt eine stilisierte, in Ungarn angesiedelte Tanzszene mit Zigeunerkapelle. Darin ist jedoch (ganz abgesehen von der unnatürlichen Haltung der Streicher) ein Fehler enthalten: Das von einem sitzenden Musikanten gezupfte Instrument im Vordergrund sollte wohl ein Zymbal darstellen. Dem Illustrator war die in Wien verbreitete Zither offensichtlich vertrauter als das mit Klöppeln geschlagene Zymbal.

44 45 46 47 48 49

Dahlhaus, „Nationalismus und Universalität“, S. 47 f. Ebd., S. 48. Ebd. Siehe dazu für den tschechischen Kontext auch Michael Beckerman, „In Search of Czechness in Music“, in: 19th-Century Music, Bd. 10 Nr. 1 (1986), S. 61–73. Dahlhaus, „Nationalismus und Folklore“, S. 86. Ebd., S. 83.

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VIII Schuberts und Liszts ungarischer Ton

Liszt, Mélodies hongroises d’après Fr. Schubert, Diabelli-Erstausgabe

Die Lisztsche Transkription für Klavier zu zwei Händen mit ihren insgesamt über 900 Takten übertrifft das vierhändige Original nicht nur an Ausdehnung, sondern ist auch mit einer Fülle spieltechnischer Herausforderungen versehen, die damals abgesehen vom Urheber wohl kaum jemand bewältigen konnte. Als Reaktion auf die komplexe Erstbearbeitung brachte Diabelli 1846 eine Zweitfassung mit dem Titel Schuberts Ungarische Melodien auf eine neue leichtere Art gesetzt auf den Markt. Liszt vereinfachte darin nicht nur die Struktur der Ecksätze, sondern nahm einschneidende Kürzungen vor und goss das Stück in eine neue Form. Die revidierte Version ist gegenüber der Erstausgabe von 1840 um mehr als die Hälfte gekürzt. Dennoch liegen die Ansprüche noch immer weit außerhalb der Skala häuslichen Musizierens. Eröffnungssatz mit Vorgeschmack auf die Ungarischen Rhapsodien In der Erstfassung fordert Liszt von nur einem Pianisten nicht nur die Kombination aller Stimmen und Register, sondern nahezu die Verkörperung eines ganzen Orchesters. Dieser Anspruch wird schon in den ersten Takten deutlich, in denen Dezimen-Griffe und weite Akkordbrechungen vorherrschen. Der Vergleich mit der vereinfachten Version zeigt dies besonders plastisch.

Liszts Mélodies hongroises d’après Schubert

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Liszt, Mélodies hongroises d’après Schubert, 1. Satz Erstfassung, T. 1–11

Liszt, Schuberts Ungarische Melodien, 1. Satz Zweitfassung, T. 1–10

Liszt greift Schuberts Innehalten und Atemschöpfen vor einem neuen Abschnitt auf und wandelt die Übergänge in wirksame Passagen mit reicher Materialfülle um. Als Beispiel mag die erste Fermate dienen, aus deren Tremolo eine fließende, transzendierende Klangverlängerung entwächst. Bereits an dieser Stelle erscheint der charakteristische übermäßige Sekundschritt Es-Fis in der wogenden Skala der linken Hand (T. 19).

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VIII Schuberts und Liszts ungarischer Ton

Liszt, Schuberts Ungarische Melodien, 1. Satz Zweitfassung, T. 16–20

Der nachfolgende Es-Dur-Teil der Erstfassung ist mit zahlreichen technischen Schwierigkeiten bestückt. So gilt es, in der Melodie in rascher Folge Dezimen zu meistern und in zwei Händen ein Klangvolumen zu vereinen, das sogar zwei Pianisten ausreichend beschäftigen würde. Die klangliche Verspieltheit führt ab Takt 70 zur „Zerstreuung“ der Melodie.50 Flirrende Triller und Passagen, die leggierissimo, dolcissimo und delicatamente zu spielen sind, weben einen nuancenreichen Klavierklang. Ansätze dazu finden sich freilich bereits in den Sextolen-Verzierungen der Schubertschen Takte 64 und 66.

Schubert, Divertissement à l’hongroise, 1. Satz, T. 62–66 50

Vgl. dazu auch die Transkription des Fischermädchens in dieser Arbeit, S. 96.

Liszts Mélodies hongroises d’après Schubert

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In der Lisztschen Transkription erklingt gegen Ende des verlängerten Taktes 71 das eingeflochtene Motiv der absteigenden kleinen Terz Es-D-C-C, das, nach a-Moll transponiert und anders harmonisiert, auf den nur wenige Jahre später entstandenen Themenkopf von Schumanns Klavierkonzert vorauszuweisen scheint.

Liszt, Mélodies hongroises d’après Schubert, 1. Satz Erstfassung, T. 71–72

Einen abrupten Charakterwechsel bringt der folkloristische Bordun Es-B mit sich. Bei Schubert hält das Wechselspiel zwischen den Tonräumen Es-Dur und D-Dur und das dadurch entstehende Spannungsverhältnis zwischen den Tönen Es und Fis über die gesamte Kadenz hinweg an. Liszt greift diese Anregung auf und setzt sie in noch aufgewühltere, von beiden Händen ausgeführte Skalen um. Insbesondere die Passage vor dem letzten Themen-Zitat ist an Virtuosität kaum zu überbieten und liefert einen Vorgeschmack auf die Ungarischen Rhapsodien, die zu diesem Zeitpunkt bereits in einem ersten, freilich noch ziemlich unspektakulären Stadium vorlagen.

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VIII Schuberts und Liszts ungarischer Ton

Liszt, Mélodies hongroises d’après Schubert, 1. Satz Erstfassung, T. 147–154

Liszts Mélodies hongroises d’après Schubert

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Ungarischer Marsch „ganz nach Liszts Herzen geschaffen“ Vom zweiten Satz fertigte Liszt nicht weniger als sieben51 Versionen für Solo-Klavier und ein Arrangement für großes Orchester an, was sowohl von der Beliebtheit dieses Marsches bei der Käuferschaft als auch von dessen Bedeutung für Liszt spricht. Noch gegen Ende seines Lebens revidierte er ihn grundlegend. Sein Schüler Carl Lachmund berichtet über eine Klavierlektion vom 2. Mai 1882: „In der nächsten Unterrichtsstunde sollte ich zum ersten Male vor der Klasse spielen. Ich wählte die Liszt’sche Transkription des Ungarischen Marsches in c-Moll von Schubert, dasselbe Stück, das ich schon bei meinem ersten Besuch beim Meister vorgetragen hatte. Als er die mitgebrachten Noten ergriff, verfiel er in Erinnerungen. ‚Ah, ich muß eine neue Fassung dieses Marsches herausgeben‘, sagte er, ‚denn ich spiele ihn jetzt völlig anders. Dieser Marsch war immer eines meiner Lieblingsstücke, und ich spielte ihn gewöhnlich bei Hof. Der König von Preußen, Friedrich Wilhelm IV., liebte ihn auch. […]‘ Als ich zum Endtakt eines Teiles gelangt war, der eigentlich wiederholt werden mußte, hielt er mich an und sagte: ‚Lassen Sie mich diese Wiederholung für Sie spielen!‘ Er schob mich sanft vom Stuhl und spielte die Wiederholung. Dann aber begann er in großen Variationen donnernd über die Tasten zu stürmen, während sein Antlitz in jugendlichem Feuer erstrahlte, als er sich seiner früheren Triumphe mit diesem selben Marsch erinnerte, diesem Werk, das ganz nach seinem Herzen geschaffen war.“52

Liszt, Marche hongroise 3ème édition (1883), T. 1–22 51 52

Vgl. dazu The Liszt society journal 2006, music section, S. II und die von Leslie Howard rekonstruierte Version für Liszts Schülerin Sophie Menter, ebd., S. 21–30. Zu den Varianten der sechsten Soirée de Vienne für Sophie Menter siehe auch diese Arbeit, S. 190 f. Lachmund, Mein Leben mit Franz Liszt, S. 48.

218

VIII Schuberts und Liszts ungarischer Ton

Liszt, Ungarischer Marsch für Orchester, T. 1–6

Liszts Mélodies hongroises d’après Schubert

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Tatsächlich erschien im folgenden Jahr bei Cranz eine Neuausgabe mit dem Vermerk „revue et augmentée“, die hält, was sie verspricht.53 Zunächst stellt der Bearbeiter ein 18 Takte umfassendes Vorspiel voran, das sich suchend an die Tonart cMoll herantastet und dabei Idiome wie das bebende Zymbal-Tremolo und die übermäßigen Sekund- und Quartschritte einführt (siehe Notenbeispiel auf Seite 217). Auch der Beginn der Orchesterparaphrase ist unkonventionell, denn Liszt weitet hier die beiden Eröffnungstakte seiner Klavier-Arrangements um einen zusätzlichen Takt aus. Durch diese ungerade Taktgruppierung scheint die Melodie, die von den zweiten Violinen in tiefstmöglicher Lage ausgeführt wird und deren inexistentes kleines Es von der Bratsche übernommen werden muss, verspätet einzusetzen (siehe Notenbeispiel auf Seite 218). Sowohl in der Cranz-Ausgabe wie im Orchesterwerk findet sich unmittelbar vor Beginn des Trios eine genuin Lisztsche Überleitung. Der Mittelteil wird – in einem Falle nur imaginiert, im anderen klingend realisiert – von einer viertaktigen Trompetenfanfare eingeleitet, in der sich der Wechsel von c-Moll nach As-Dur vollzieht.

Liszt, Marche hongroise 3ème édition, T. 70–80

53

Vgl. dazu auch den Anhang dieser Arbeit, S. 317.

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VIII Schuberts und Liszts ungarischer Ton

Liszt, Ungarischer Marsch für Orchester, T. 38–51

Liszts Mélodies hongroises d’après Schubert

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Im zweiten Teil des orchestrierten Trios treten erstmals Sextolen-Rouladen in den Streicherstimmen auf, die Reprise des Themas wird vom Tamburin untermalt. Um das Da Capo einzuleiten komponiert Liszt eine Streicher-Überleitung aus wogenden, staccato gespielten Tonleitern. Mittendrin taucht durch Alteration des Tones B zu H plötzlich der charakteristische übermäßige Sekundschritt H-As auf. Dieser lenkt die Musik in Form einer phrygischen Skala zurück in die Ausgangstonart c-Moll.54

Liszt, Ungarischer Marsch für Orchester, T. 86–89

Diesen Intervallschritt mit Signalwirkung verwendet Liszt auch im Orchesterarrangement des Trauermarsches.55 Zoltán Gárdonyi wies bereits in den 1930er-Jahren darauf hin, dass bei Liszt die Kultivierung seines Ungartums und die marschartige Thematik eng miteinander verwoben sind.56 In der Reprise legt Liszt den Violoncelli die chromatische Triolen-Bewegung der ersten Klavierfassung zugrunde (sotto voce tempestoso), was dem unterschwelligen con moto-Charakter bei Schubert eine nach außen gekehrte emotionale Unruhe verleiht.

54 55 56

Siehe dazu auch Mária Eckhardt, „Liszts Bearbeitungen von Schuberts Märschen“, in: Studia Musicologia Academiae Scientiarum Hungaricae 26, Budapest 1984, S. 133–146, S. 144. Siehe diese Arbeit, S. 267 f. Vgl. Zoltán Gárdonyi, Die ungarischen Stileigentümlichkeiten in den musikalischen Werken Franz Liszts, Berlin 1931.

222

VIII Schuberts und Liszts ungarischer Ton

Liszt, Ungarischer Marsch für Orchester, T. 95–98

Liszt, Mélodies hongroises d’après Schubert, 2. Satz Erstfassung, T. 91–93

Auch im weiteren Verlauf finden sich klangliche Parallelen zwischen der ersten Klavierübertragung und der Orchestertranskription. Die chromatischen Linien steigern sich zu energischen Sexten- und Oktavläufen, die den Flügel bei viermaliger rinforzando-Aufforderung erbeben lassen. Im Orchestersatz gehen die mit Halbtonschritten bestückten Figurationen ebenfalls mit einem großangelegten Crescendo einher. Hier greift Liszt zusätzlich zum Mittel der erweiterten Harmonik: In den Takten 137–149 verschiebt er die Bässe halbtönig von A aufwärts zu C. In der Klavierbearbeitung genügt dafür ein einziger Takt mit einem Oktaven-Glissando in beiden Händen.

Liszts Mélodies hongroises d’après Schubert

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Liszt, Mélodies hongroises d’après Schubert, 2. Satz Erstfassung, T. 118–120

Auf das brachiale Glissando folgt ein neuer, con tutta forza auszuführender Schlussteil. Wenn man mit Liszts Bearbeitungen von Schuberts Märschen vertraut ist, stellt die triumphale apotheotische Coda in C-Dur keine allzu große Überraschung mehr dar.57 Doch liegt auch hier die Besonderheit in der imaginierten Erweiterung des Klaviertones zur Klangvielfalt eines Sinfonieorchesters. Der direkte Vergleich anhand der Partitur zeigt, dass die entsprechende Passage nicht nur in voller Besetzung gespielt wird, sondern dass Tamburin, Triangel, Becken und große Trommel für zusätzliches folkloristisches Kolorit sorgen, dessen Farbigkeit weit über die Möglichkeiten eines Orchesters zu Schuberts Zeiten hinausgeht. Ein Detail dieser Coda demonstriert anschaulich, mit welchen Mitteln Liszt dem Klavier neue Klangräume eröffnet. In den Takten 128–131 der Erstbearbeitung sorgen ein Tremolo und eine gleichzeitig zu spielende Trillerkette für eine Überlagerung zweier „Schweberegister“, was zusätzlich zur Ausführung der Melodie- und Bassstimme koordinativ kaum zu bewältigen ist. Ein ähnliches Verfahren wendet Liszt in seiner Transkription des Lindenbaums an, die etwa zeitgleich entstand.58

Liszt, Mélodies hongroises d’après Schubert, 2. Satz Erstfassung, T. 127–131

Dieser in allen Fassungen triumphale Schluss verändert die Aussage des ursprünglichen Mittelsatzes grundlegend und verwandelt ihn in ein in sich geschlossenes, wirkungsvolles Einzelstück.

57 58

Siehe dazu auch das Kapitel über die Marschbearbeitungen in dieser Arbeit, S. 264 ff. Vgl. ebd., S. 127 f.

224

VIII Schuberts und Liszts ungarischer Ton

Finale mit „zigeunerhafter Leidenschaft“ Zeitgenössischen Schilderungen ist zu entnehmen, dass Liszt auch das Finale seiner Bearbeitung des Schubertschen Divertissements bis ins hohe Alter mit einer beispiellosen Leichtigkeit spielte: „An einem Vormittag (ca. 1885) fand zu Ehren Liszts bei Goldschmidt eine Matinée statt, an welcher alle tonangebenden Kreise Wiens teilnahmen. Man sah Johann Strauss, Karl Goldmark, Hellmesberger, Bruckner, viele Koryphäen der Hofoper, des Burgtheaters, Schriftsteller. Liszt spielte hier […] seinen zweiten Liebestraum und seine Mélodies hongroises d’après Fr. Schubert, und zwar das dritte Heft. […] Mit zigeunerhafter Leidenschaft spielte er, kühn wie ein Jugendlicher, in unerreichter Weise die Mélodies hongroises, die schwierigsten technischen Probleme mit Leichtigkeit lösend.“59

Welche Fassung der Virtuose anlässlich dieser Matinee spielte, lässt sich nicht rekonstruieren. Während die Erstbearbeitung das umfangreiche Schubertsche Finale noch um etwa 100 Takte übertrifft, kürzt Liszt sein zweites Arrangement rigoros. Die Streichung erfolgt bereits nach dem abgeschlossenen ersten Teil in Takt 93, wo der Bearbeiter direkt in die Coda überleitet. Dagegen folgt die Urfassung dem originalen Verlauf, wobei die zusätzlichen Takte durch teilweise ausgeschriebene, kunstvoll variierte Wiederholungen und eingefügte Kadenzen entstehen. Beim rondoartig wiederkehrenden Thema setzen beide Komponisten jeweils auf ein neues Begleitmuster. Liszts letzte Reprise bringt Schuberts Melodie gar in virtuoser Zymbal-Manier zu Gehör.

Schubert, Divertissement à l’hongroise, 3. Satz, T. 384–393

59

Stradal, Erinnerungen, S. 92.

Liszts Mélodies hongroises d’après Schubert

225

Liszt, Mélodies hongroises d’après Schubert, 3. Satz Erstfassung, T. 456–461

Anhand solcher Variationen wird Liszts Bearbeitungsmodus noch einmal anschaulich greifbar. Er übersetzt die bei Schubert entdeckte ungarisierende Musik in seine eigene expressive Klangsprache und bringt sie konzertierend an die Öffentlichkeit. Die für das eigene Œuvre folgenreiche Entdeckung der ungarischen VerbunkosMusik wird in den virtuosen Zigeunerspielweisen seiner Ungarischen Rhapsodien zum „planvoll gepflegten Markenzeichen Liszts“60 werden. SCHUBERTS SPUREN IN DEN UNGARISCHEN RHAPSODIEN Liszt hatte bereits während der frühen 1830er-Jahre begonnen, systematisch „Nationalmelodien“ verschiedener Völker Europas zu sammeln.61 Lange vor seinem ungarischen Erweckungserlebnis befand sich auch schon ungarisches Liedgut auf der Liste seiner verschiedenen Projekte. Doch erst ab 1839 war der Klaviervirtuose bestrebt, eine poetisch erzählende Nationalmusik zu schaffen. Noch vor seiner Abreise nach Ungarn im Dezember 1839 drängten die Verleger Haslinger und Diabelli auf ungarische Melodien. Die ersten sieben Nummern der elf Ungarischen NationalMelodien (Magyar Dallok) wurden umgehend veröffentlicht und erwiesen sich als Verkaufserfolg. Hingegen war die Drucklegung des Rákóczi-Marsches von der österreichischen Zensurbehörde verboten worden.62 Liszt war sich des politischen Symbolgehaltes und der semantischen Ebene seiner Marsch-Vertonung, die er während seiner Tournee mit außergewöhnlichem Erfolg vortrug, durchaus bewusst und nannte die Komposition in einem Schreiben an Marie d’Agoult am 6./7. Januar 1840 „[une] 60 61 62

Hinrichsen, „Rezeption als Selbstverständigung“, S. 129. Gerhard J. Winkler, „,Soirées de Vienne‘ und ‚All’Ongarese‘. Eine ‚österreichische‘ Dreiecksbeziehung Schubert – Liszt – Brahms“, in: MusikJahrhundert Wien 1797–1897. Ausstellung der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien 1997, S. 37–45, S. 40. Jäker, Die Ungarischen Rhapsodien Liszts, S. 44.

226

VIII Schuberts und Liszts ungarischer Ton

sorte de Marseillaise aristocratique hongroise“.63 1846 folgten die zweite Ungarnreise und die Veröffentlichung weiterer Kompositionen, nun erstmals unter dem Namen Rhapsodien (Magyar Rhapsódiák), unter denen sich auch der Rákóczi-Marsch einreihte. Während Liszts Weimarer Zeit entwickelten sich daraus die 15 Ungarischen Rhapsodien (1851–53). Gegen Ende seines Lebens, in den Jahren 1882–1886, kamen als Nachzügler noch die Rhapsodien Nr. 16–19 hinzu. Die Entstehung der Ungarischen Rhapsodien von der ersten Fassung bis zum Erscheinen der letzten Komposition in Liszts Sterbejahr umfasst somit eine Spanne von nahezu fünfzig Jahren. August Stradals Vermutung, dass Schuberts Divertissement à l’hongroise eine wichtige Inspirationsquelle für die Weimarer Rhapsodien-Folge war,64 wurde von der Forschung bislang weitgehend ignoriert. In den virtuosen Passagen und der kühnen Formgebung von Schuberts op. 54 fand Liszt für seine Adaptionen von Zigeunerweisen jedoch nachweislich zahlreiche Anregungen. Auch das nahezu gleichzeitige Erscheinen der beiden Notenausgaben Magyar Rhapsódiák und Schuberts Ungarische Melodien im Jahre 1846 dürfte kein Zufall sein. Exemplarische Parallelen finden sich in der mehrteiligen, ganz dem Gestus der Improvisation verpflichteten ersten Rhapsodie. Der rezitierende, klagende Beginn mündet in einen vibrierenden Triller, aus dem Liszt wie zuvor in seiner Bearbeitung des Schubertschen Divertissement-Kopfsatzes eine Skala entwachsen lässt. Diese ausgeschmückte Fermate etabliert auch hier den prägnanten übermäßigen Sekundschritt. Als noch spezifischere, an der ungarischen Sprache mit ihrer charakteristischen Betonung auf der ersten Silbe orientierte Konnotation kann der synkopierte Rhythmus zur Taktmitte gewertet werden.65 Diese hörfällige Betonung findet in Form von Vorschlägen und Akzenten eine Entsprechung in Schuberts Thema. Sie lässt sich mit einer typischen rhythmischen Formel des Verbunkos in Verbindung bringen, die Klára Hamburger als „Hackenzusammenschlagen“ bezeichnet.66

Liszt, Ungarische Rhapsodie Nr. 1, T. 1–3

63 64

65

66

Gut/Bellas, Correspondance, S. 483. „Diese Übertragung [Finale des Divertissement à l’hongroise] stand später noch oft auf Liszts Programm, und es ist nicht auszuschliessen, dass Schuberts Komposition Liszt bei der Abfassung seiner eigenen ungarischen Rhapsodien und Phantasien beeinflusst hat.“ Stradal, Erinnerungen, S. 92. Liszt bezieht sich hier (und ab T. 80 ff. noch deutlicher) tatsächlich auf ein volkstümliches ungarisches Lied, das vermutlich auf Gáspár Bernát zurückgeht und 1847 erstmals erschien. Vgl. dazu Zoltán Gárdonyi, „Paralipomena zu den Ungarischen Rhapsodien Franz Liszts“, in: Klára Hamburger (Hg.), Franz Liszt. Beiträge von ungarischen Autoren, Budapest 1978, S. 197–225, S. 204. Hamburger, Liszt und die Zigeuner, S. 68.

Schuberts Spuren in den Ungarischen Rhapsodien

227

Schubert, Divertissement à l’hongroise, 1. Satz, T. 1–5

Sowohl Schubert wie auch Liszt behandeln das Thema als Erfindungskern und wandeln es variierend ab, was zahlreiche Verknüpfungen und Rückbezüge ermöglicht. Eine solch enge Verwandtschaft der Motive verleiht den beiden Kompositionen trotz ihrer Mehrteiligkeit eine motivisch-thematische Geschlossenheit, die gerade für Liszts Weimarer Rhapsodien bezeichnend ist.67 Schuberts variantengenerierte Form im Divertissement à l’hongroise, die sich weit von den klassischen Formvorstellungen entfernt, entspringt direkt der Improvisation:

Schubert, Divertissement à l’hongroise, T. 1

Schubert, Divertissement à l’hongroise, T. 21

Schubert, Divertissement à l’hongroise, T. 93

67

Vgl. dazu auch Jäker, Die Ungarischen Rhapsodien Liszts, S. 98 ff.

228

VIII Schuberts und Liszts ungarischer Ton

Auch in Liszts erster Rhapsodie finden sich formbildende Themenabwandlungen:

Liszt, Ungarische Rhapsodie Nr. 1, T. 1

Liszt, Ungarische Rhapsodie Nr. 1, T. 23

Liszt, Ungarische Rhapsodie Nr. 1, T. 77–81

Weitere ungarisierende Idiome in der ersten Rhapsodie sind eine „Glöckchenpassage“ mit durchgehenden Trillern in höchster Lage (T. 158 ff.) sowie die absteigende, staccato gespielte Begleitung aus Terzen der Takte 272 ff., die an die Sextengänge von Liszts Erstbearbeitung des Schubertschen Eröffnungssatzes erinnern.

Liszt, Ungarische Rhapsodie Nr. 1, T. 272–276

Schuberts Spuren in den Ungarischen Rhapsodien

229

Liszt, Mélodies hongroises d’après Schubert, 1. Satz Erstfassung, T. 45–46

Eine spezifisch Lisztsche Errungenschaft stellt die ausgereifte Zymbal-Adaption für Klavier dar. In der Schrift Des Bohémiens et de leur musique en Hongrie unterstreicht der Virtuose die Bedeutung dieses mit Klöppeln geschlagenen Saiteninstrumentes, dem er im Verein mit der Violine die führende Rolle im „Zigeunerorchester“ zuspricht: „Des Zymbalisten Rolle ist es, diesen Lauf zu rhythmisieren, Beschleunigung und Verzögerung, Energie oder Weichheit des Taktes hervorzuheben. Er handhabt die kleinen Holzhämmer, durch welche bei dieser primitiven Skizze des Klaviers die kompliziertere Mechanik ersetzt wird, indem er die Messing- und Stahlsaiten anschlägt, mit einer merkwürdigen Behendigkeit, einer jongleurhaften Raschheit.“68

Passagen, die nicht selten mit dem Zusatz „quasi zimbalo“ versehen sind, finden sich zwar in nahezu allen Rhapsodien, werden aber für völlig verschiedene Stimmungslagen eingesetzt. Dem eröffnenden Tremolo der elften Nummer haftet ein klagender Charakter an, der insbesondere durch die ausklingende Quarte (dolcissimo) über dem Dominantklang an das Thema von Schuberts Ungarischer Melodie erinnert.

68

Liszt, Die Zigeuner und ihre Musik, S. 122.

230

VIII Schuberts und Liszts ungarischer Ton

Liszt, Ungarische Rhapsodie Nr. 11, T. 1–7

Dagegen präsentieren sich die Repetitionen im Vivace-Teil der dreizehnten Rhapsodie durchaus als „jongleurhafte“ Themen-Umspielung. Liszts Fingersatz, der nacheinander die Fingerfolge 3-2-1 / resp. 4-3-2-1 auf die Tasten schnellen lässt, ermöglicht eine deutliche Trennung zwischen den einzelnen Anschlägen. Die Akkordbegleitung auf unbetonte Zählzeit und die synkopenbestückte Melodie entziehen diesen Takten den rhythmisch gefestigten Boden.

Schuberts Spuren in den Ungarischen Rhapsodien

231

Liszt, Ungarische Rhapsodie Nr. 13, T. 165–174

Eine geradezu orchestrale Kombination von Tremoli, Schleifern und Tonrepetitionen führen die beiden Interpreten der dramatischen fis-Moll-Passage in Schuberts Finale aus.

Schubert, Divertissement à l’hongroise, 3. Satz, T. 288–294

Neben dem Zymbal ist der Einfluss des Primgeigers der Zigeunerkapelle auf Liszts Tonsatz ohrenfällig. Die zwölfte, nicht zufällig dem Geiger Joseph Joachim gewidmete Rhapsodie eröffnet mit einem kraftvollen Motiv aus vorschlagbestückten Oktaven, die auf der Geige energische Auf-Ab-Striche des Bogens erfordern würden. Nach der Einleitung erklingt ein Allegro zingarese, dessen Melodie mit ihrer dreimalig-beharrlichen Tonrepetition, den Vorschlägen im Bass und zahlreichen Abspaltungen in der Melodie an Schuberts Allegretto-Thema erinnert.

232

VIII Schuberts und Liszts ungarischer Ton

Liszt, Ungarische Rhapsodie Nr. 12, T. 35–40

Schubert, Divertissement à l’hongroise, 3. Satz, T. 1–10

Mit seinem bahnbrechend neuen Klaviersatz demonstrierte Liszt höchste ästhetische Ansprüche an den Konzertflügel, den er zum Träger seines „Zigeuner Epos“ erkor. Seine poetischen Weiterdichtungen des Schubertschen „Phantasieungarn“ waren nicht nur ein Akt der Selbstfindung, sondern wurden auch rasch zu seinem Markenzeichen: „Er sang den ganzen Schmerz des Lebens, Erinnerungen an selige Zeiten zogen vorüber. Und nun gar das Friska. Es war, als wenn ein ganzes Heer wilder Zigeuner auf feurigen Rossen über die Puszta raste.“69 69

Stradal, Erinnerungen, S. 53 f.

IX KAPELLMEISTER LISZTS ORCHESTRALER ZUGANG ZU SCHUBERT „AB IMO PECTORE“: DIE WANDERERFANTASIE ALS KLAVIERKONZERT „Fantasie aus C Dur; Schubert wollte hier ein ganzes Orchester in zwey Händen vereinen u. der begeisterte Anfang ist eine Serapshymne [sic] zum Lobe der Gottheit; man sieht die Engel beten; das Adagio ist eine milde Reflexion über das Leben u. nimmt die Hülle von ihm herab; dann donnern Fugen ein Lied von der Unendlichkeit des Menschen u. der Töne.“1

Diese Zeilen notierte Robert Schumann am 13. August 1828, noch zu Schuberts Lebzeiten, in sein Tagebuch. Der Hinweis auf die orchestrale Qualität der Wandererfantasie hat nicht nur bezüglich Schuberts „Weg zur großen Sinfonie“2 volle Gültigkeit, sondern erweist sich als ebenso zutreffend für Liszts Rezeption dieses Werks. Die latente Orchestralität inspirierte den Virtuosen dazu, die Wandererfantasie fast 30 Jahre nach ihrer Veröffentlichung in ein Klavierkonzert umzuwandeln. Schuberts C-Dur-Fantasie op. 15 (D 760) erschien im Februar 1823 als erstes größeres Instrumentalwerk des Komponisten beim Wiener Verlag Cappi & Diabelli.3 Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung hielt sich der 11-jährige Liszt in Wien auf und wurde von Carl Czerny unterrichtet. Möglicherweise hat Czerny, der „Wert auf die Kenntnisse der aktuellsten kompositorischen Erzeugnisse seiner Zeitgenossen legte“,4 seinem begabten Schüler die Neupublikation zum Blattspielen vorgelegt. Eine frühe Bekanntschaft könnte Liszts auffällige Rezeption der Fantasie erklären, die seinen Werdegang wie kaum eine andere Komposition prägte. Aus einem Bericht in der Wiener AmZ vom 30. April 1823 lässt sich entnehmen, dass die Neuerscheinung von der zeitgenössischen Presse ausgesprochen positiv aufgenommen wurde:

1 2 3

4

Robert Schumann, Tagebücher, Bd. 1, 1827–1838, hrsg. von Georg Eismann, Basel und Frankfurt a. M. 1971, S. 113. Zit. nach Deutsch, Dokumente, S. 235. Im Anhang der WZ vom 24. Februar 1823 liest man folgende Annonce: „Bey Cappi und Diabelli, Kunst- und Musikhändlern, am Graben Nr. 1133, ist neu erschienen und zu haben: Fantaisie pour le Pianoforte, composée et dediée à Monsieur Em. Noble de Liebenberg de Zittin par François Schubert. Oeuvre 15. Pr. 4 fl. W. W.“ Zit. ebd., S. 185 f. Über die nähere Beziehung zum Widmungsträger und vermutlich zugleich Auftraggeber, Emanuel Liebenberg Ritter von Zittin (1797–1855), ist nur bekannt, dass er ein Gutsbesitzer und als Schüler von Johann Nepomuk Hummel ein ausgezeichneter Pianist war. Schubert schrieb am 7. Dezember 1822 folgende Zeilen an Josef von Spaun: „Nebst diesen habe ich auch eine Fantasie fürs Pianoforte auf 2 Hände componirt, welche ebenfalls im Stich erscheint und einem reichen Particulier gewidmet ist.“ Ebd., S. 172 f. Vgl. dazu Hilmar, „Das Schubert-Bild bei Liszt“, S. 59 und diese Arbeit, S. 17.

234

IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert „[…] Da nun ein Tonsetzer, wie Herr Schubert, der schon früher in seinen allgemein geschätzten Liedercompositionen ein tiefes Gemüth verrieth, mit einem solchen Seelengemälde auftritt, kann es der musikalischen Welt nicht anders als erfreulich sein. Die oben angezeigte Fantasie beginnt im Allegro con fuoco. Den Eingang bezeichnet ein einfacher, kurzer Satz, welcher dem ganzen Tonwerke zur Unterlage dienet, und fast neckend, bald verschwindet, bald wieder ganz unerwartet, aber stets überraschend, ans Licht tritt, und endlich von einem Adagio ersetzt wird, worin der Verfasser in lieblichen Melodien hervortritt, und nebenbei sowohl in diesem als auch in dem darauf folgenden Presto, ¾ Takt, dem Klavierspieler Gelegenheit gibt, seine Fertigkeit auf die glänzendste Weise zu erproben. Der Tonsatz ist ziemlich rein, nur sei es erlaubt, dem geschätzten Verfasser zu bemerken, daß er in Hinsicht der guten Akkordenfolge hier und da doch zu weit gegangen und selbe nicht jedem Gehör erträglich sein dürfte […].“5

Dem Rezensenten war aufgefallen, dass der gesamten Fantasie ein „kurzer Satz“ zugrunde liegt. Damit ist der prägnante „Wanderer-Daktylus“ der langsamen Liedstrophe gemeint (Viertel-Achtel-Achtel), der sich als rhythmische Keimzelle durch die vier Sätze zieht. Diese revolutionäre Neuerung der satzübergreifenden thematisch-motivischen Vereinheitlichung findet sich später in den Sinfonischen Dichtungen Liszts wieder. Überraschenderweise bleibt das Schluss-Allegro, das die Virtuosität des Scherzos noch übersteigt, im Zeitungsbericht unerwähnt. Sieht man vom Passus ab, einige harmonische Wendungen seien „nicht jedem Gehör erträglich“,6 beurteilte der Kritiker die neue Komposition sehr wohlwollend. Dies verdient insofern Beachtung, als die Veröffentlichung von Opus 15 zu einer Zeit erfolgte, in der Schuberts Instrumentalmusik noch keineswegs die Anerkennung und Verbreitung fand, die seinen Liedern zuteil wurde. Aus heutiger Sicht mag es verwundern, dass auf den verkaufsfördernden Hinweis der Lied-Vorlage verzichtet wurde und lediglich von „lieblichen Melodien“ die Rede ist. Allerdings erfolgte die Drucklegung des im Jahre 1816 komponierten Liedes Der Wanderer erst 1821. Selbst wenn bereits Kopien davon im Umlauf waren, konnte dieses Werk im Frühjahr 1823 noch nicht allgemein bekannt sein.7

5 6

7

Deutsch, Dokumente, S. 191 f. Der Rezensent bemängelt die sich durch Vorhalte ergebenden Dissonanzen der Takte 6, 8 und 91 ff. und fügt gleich Verbesserungsvorschläge an: „wie sich z. B. gleich anfangs auf der zweiten Zeile, im zweiten und vierten Takt zeiget, welche Stelle später wiederholt wird, sowie auch das stete Anschlagen des A auf der sechsten Seite, Zeile 2–3, nicht auf harmonische Grundsätze gebaut ist und sich füglich durch andere Töne ersetzen ließe, wie z. B. die halbe Note A im letzten Takte der zweiten Zeile durch G, weil dadurch ein dahin gehöriger Sechsten-Akkord bezeichnet wird usw., denn diese ganze Stelle läßt sich auf keinen Fall auf ein Tastosolo oder einen Orgelpunkt zurückleiten.“ Deutsch, Dokumente, S. 192. Gülke, Schubert und seine Zeit, S. 201. Von diesem Schubert-Lied existieren drei Fassungen. Christian Ahrens unternahm den Versuch, die Aufführungen Schubertscher Lieder im Zeitraum von 1819–1848 zu dokumentieren. Bis zur Veröffentlichung der C-Dur-Fantasie listet er lediglich zwei Wiener Aufführungen von Der Wanderer auf. Am 19. Januar 1821 wurde Schuberts Vertonung anlässlich einer Abendunterhaltung bei Ignaz Sonnleithner gegeben, die jedoch nur einem ausgewählten Hörerkreis zugänglich war. Ebenfalls einer erlesenen Gesellschaft vorbehalten war die Aufführung im Rahmen einer privaten Musikgesellschaft im Saal „Zum Römischen Kaiser“ vom 18. November 1821. Der Wanderer benötigte erst eine gewisse Anlaufzeit, um sich in den kommenden Jahren zu einem von Schuberts bekanntesten Liedern zu etablieren.

„Ab imo pectore“: die Wandererfantasie als Klavierkonzert

235

Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurde op. 15 als Wandererfantasie bekannt, wobei dieser Beiname möglicherweise sogar auf Liszt zurückzuführen ist.8 Was mag Schubert dazu bewogen haben, die schlichten Takte seines Liedes zum Ausgangspunkt virtuoser Variationen zu machen? Vordergründig legen praktische Erwägungen eine Isolierung des fast regelmäßig gebauten, in sich ruhenden Neuntakters nahe. Darüber hinaus schien für Schubert der musikalische und semantische Gehalt der markanten Lied-Passage noch nicht erschöpfend verarbeitet: „Die Strophe läßt nicht nur den Hörer nicht los; schon den Komponisten hat sie nicht losgelassen.“9 Dafür bedurfte es erst einer zyklischen Form „unter größtmöglichem Aufgebot“.10 In dieser völlig neuen formalen Gestalt liegt wohl auch die bedeutendste Innovation. Hinter dem Gattungsnamen „Fantasie“ verbirgt sich weit mehr als ein „von den Fesseln der Form“ losgelöstes Konzept, wie es der Werbetext zum Erstdruck vermuten lässt: „Die Fantasie ward von jeher als jene Gattung der Tonstücke anerkannt, in welcher die Kunst des Tonsetzers sich, von den Fesseln der Form befreyt, am deutlichsten entfalten, und ihren Werth ganz erproben kann.“11

Die Wandererfantasie, deren vier Sätze zu einer übergeordneten, jedoch deutlich in vier Teile gegliederten Einheit verschmelzen, ist in hohem Maße dem Sonatenprinzip verpflichtet. Ein Allegro con fuoco ma non troppo repräsentiert den Kopfsatz, die Variationen (Adagio) übernehmen die Funktion des langsamen Satzes, das Presto kommt einem Scherzo gleich und das abschließende Allegro stellt ein furioses Finale dar. Spinnt man diesen Gedankengang weiter, so können außerdem der 1. Satz als Exposition und Durchführung, der langsame Teil als Fortsetzung der Durchführung, das Scherzo als (auch tonartlich) variierte Reprise und das Finale als freie Reprise mit Rückkehr zur Tonika sowie als nahezu sinfonische Coda gedeutet werden.12 Dieses Experimentieren mit der Mehrsätzigkeit in der Einsätzigkeit verfolgte Liszt später in seiner h-Moll-Sonate konsequent weiter. Auch die harmonischen Pfeiler des Sonatensatzes finden sich in op. 15 wieder, wenn auch in kühner neuer Deutung. Statt der gewohnten Tonika-Dominant-Spannung zwischen den beiden Themen des ersten Satzes dominieren mediantische Verhältnisse. Wie bereits gezeigt wurde, sind diese schon im Lied angelegt, dessen zwischen cis-Moll und E-Dur changierende Grundtonart nicht eindeutig festgelegt

8

9 10 11 12

Vgl. Ahrens, „Liszts Transkriptionen – Wegbereiter der Rezeption von Schuberts Liedern?“, S. 5–27. Dürr/Krause, Schubert-Handbuch, S. 401. In seinen instrumentalen Kompositionen griff Schubert mehrmals auf eigene Lieder zurück, die er kunstvoll auf verschiedene Gattungen übertrug und umgestaltete. Zumeist dienten die Originalthemen als Ausgangspunkt für einen Variationensatz. Mit der Adaption der Vorlage und der Auswahl der entsprechenden Zitate wurde der kompositorische Prozess bereits wesentlich vorgeprägt. Vgl. dazu Raab, Franz Schubert. Instrumentale Bearbeitungen eigener Lieder, S. 14 f. Ebd. Gülke, Schubert und seine Zeit, S. 202. Deutsch, Dokumente, S. 186. Vgl. dazu auch Robert Schumanns C-Dur-Fantasie op. 17 sowie das Finale seiner d-Moll-Sinfonie, das die Funktion einer Reprise erfüllt.

236

IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

werden kann.13 Mit dem Halbschluss auf E-Dur in Takt 17 klingt die besondere harmonische Disposition ein erstes Mal an. Doch erst mit Eintritt des Seitenthemas in Takt 47 erhält das zur Grundtonart großterzverwandte E-Dur breiten Raum. Abermals durch eine mediantische Rückung tritt (wie im Sonatenrondo) mit der Wiederkehr des Hauptthemas in der Tonika überraschend die Durchführung ein. Sie leitet aus Haupt- und Seitenthema ein drittes Thema (T. 112 ff.) in Es-Dur ab; damit führt Schubert auch die kleinterzverwandte Tonart ein, die sich zwölf Takte später nach As-Dur wendet, das sich zur Grundtonart wiederum mediantisch verhält. Schuberts harmonisches Konzept spiegelt sich auch in der großformalen Struktur. Dem C-Dur des Kopfsatzes steht die im Quintenzirkel weit entfernte Tonart cisMoll (Mollparallele der Seitensatztonart E-Dur) der Variationen gegenüber. Das Presto in As-Dur unterstreicht erneut die Bedeutung der Mediante, während das abschließende Allegro in C-Dur den Bogen zurück zum Anfang spannt. Die Wandererfantasie entstand in einer Phase von Schuberts Leben, in der sich der Komponist mit den Bearbeitungen seiner Opern-Ouvertüren für Klavier vierhändig beschäftigte. Aus dieser Auseinandersetzung resultierte ein moderner Klaviersatz, der alle klanglichen Möglichkeiten des Instruments auszuschöpfen suchte. Paul Badura-Skoda entdeckte, dass Schubert für die chromatische Skala der linken Hand zu Beginn der Fantasie (ab T. 15) ursprünglich Oktaven vorgesehen hatte, die im Allegro-Tempo praktisch unspielbar wären.14 Unter Pianisten berüchtigt ist der Finalsatz, zu dem eine Anekdote aus Schuberts Umfeld überliefert ist. Leopold Kupelwieser erinnert sich: „Als Schubert einmal die Fantasie Op. 15 im Freundeskreis spielte und im letzten Satz stecken blieb, sprang er von seinem Sitz mit den Worten auf: ‚Das Zeug soll der Teufel spielen!‘ (Kupelwieser, Spaun und Gahy waren Zeugen dieser Produktion.)“15

Diese oft zitierten Zeilen beweisen jedoch keineswegs, dass Schubert nur ein mittelmäßiger Klavierspieler war, wie ihm die Nachwelt gerne attestiert. Dennoch können seine pianistischen Fähigkeiten wohl kaum mit denjenigen eines Franz Liszt verglichen werden, der sich seine Fingerfertigkeit bereits auf der nächsten Generation von Konzertflügeln erarbeiten konnte. Bevor es zur Umarbeitung in ein Klavierkonzert kam, erprobte Liszt das Werk, das mit seinen vielfältigen spieltechnischen Klippen für einen Virtuosen wie geschaffen ist, mehrfach auf seinen Tourneen. Am 7. März 1846 ließ er sich damit im Saal des Wiener Musikvereins hören. Mehrere Journalisten äußerten sich begeistert über seine Interpretation dieser Fantasie, die man bislang in der Donaustadt kaum wahrgenommen hatte: „Dies war der Culminationspunkt der Produktion. Es schien, als ob der Geist Schuberts sich mit Liszt amalgiert hätte. Liszt hat ein Meisterwerk der unverdienten Vergessenheit entrissen.“16 13 14 15 16

Siehe dazu diese Arbeit, S. 83. Vgl. dazu Franz Schubert, Fantasie C-Dur. Erste Ausgabe nach dem Autograph; herausgegeben und mit Fingersätzen versehen von Paul Badura-Skoda, Wien: Wiener Urtext Edition, 1965. Deutsch, Erinnerungen, S. 165. Brusatti, Schubert im Wiener Vormärz, S. 186. Die Rezension von Ignaz Lewinsky wurde am 10. März 1846 in der Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode abgedruckt. In

„Ab imo pectore“: die Wandererfantasie als Klavierkonzert

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Allein schon das Großaufgebot an Kritikern – Brusatti listet sechs Besprechungen auf – gibt Zeugnis von Liszts beeindruckender Breitenwirkung. Ein Rezensent stufte Liszts Darbietung gar als Höhepunkt seiner bisherigen Auftritte ein: „Dieses Stück war der Glanzpunkt des heutigen Konzertes, das wieder den Höhepunkt aller Clavierkonzerte bildet, denen ich noch beigewohnt, selbst die mit eingerechnet, die Liszt je vor diesem gegeben. Ich habe den großen Künstler nie mit solcher Inspiration spielen gehört wie heute, aber auch nie einen so lauten, anhaltenden Jubel eines begeisterten Publikums vernommen.“17

Zu diesem Zeitpunkt standen die Berichterstatter Liszts Interpretation fremder Werke generell kritischer gegenüber als noch wenige Jahre zuvor. Im Falle der Wandererfantasie wurde sein Vortrag jedoch besonders hervorgehoben: „Ich habe sie nie früher gehört, mag sie auch von Niemand wieder spielen hören als von Liszt. Ich will auch nicht ängstlich danach forschen, was Liszt in augenblicklicher Inspiration dazugedichtet und wie es ursprünglich Schubert componirt […].“18

Die Wandererfantasie war für Liszt in verschiedenen Phasen seines Lebens ein unerschöpfliches Studienwerk, mit dem er sich in kreativer Weise auseinandersetzte. Nachdem er seine Karriere als reisender Künstler zugunsten einer Hofkapellmeisterstelle in Weimar aufgegeben hatte, widmete sich Liszt dieser Komposition erneut. Dass aus seiner ersten Phase der orchestralen Auseinandersetzung nicht nur ein effektvolles orchesterbegleitetes Konzertstück, sondern ein geradezu sinfonisch konzipiertes Klavierkonzert resultierte, wird schon aus der Behandlung des Beginns ersichtlich. Der Bearbeiter nutzt die von Schubert auskomponierte Themenwiederholung zur typischen Abfolge Orchesterexposition – Soloexposition.19 Nach dem klangvollen Halbschluss auf E-Dur gestaltet sich der Eintritt des Solisten mit dem pp gespielten Thema in C-Dur überraschend „unsolistisch“.

17 18 19

Brusattis Dokumentensammlung findet sich außerdem eine Besprechung vom 30. April 1834, die über ein Konzert der Czerny-Schülerin Josephine Eder berichtet. Anlässlich eines Privatkonzertes im Saale der Gesellschaft der Musikfreunde trug sie die Wandererfantasie sehr zum Befremden des Rezensenten auswendig vor: „Dlle. Eder trug die Phantasie eben so poesie- und geistreich vor, wie es der Composition angemessen war, doch sehen wir nicht ein, warum das Auswendigspielen bei einer fremden Composition angenommen wurde, es sey denn, daß es zum guten Clavierspielertum gehörte.“ Ebd., S. 62. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war der Bezug zwischen Opus 15 und dem Lied bekannt: „Die Composition ist gemäß mit abwechselnden Liedermotiven aus dem „Wanderer“ von Schubert u. s. w. durchgeführt […].“ Ebd. Zit. ebd., S. 184 f. Die Rezension von August Schmidt wurde am 7. März 1846 in der Allgemeinen Wiener Musikzeitung abgedruckt. Zit. in: Brusatti, Schubert im Wiener Vormärz, S. 184. Vgl. dazu Hinrichsen, „Rezeption als Selbstverständigung“, S. 141.

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IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

Schubert/Liszt, Wandererfantasie, T. 12–2220 (mit Schuberts kleingestochener Originalstimme)

20

Mit freundlicher Genehmigung von SCHOTT MUSIC, Mainz.

„Ab imo pectore“: die Wandererfantasie als Klavierkonzert

239

Indem er den pianistischen Satz durch eine Verflechtung der verschiedenen Motive verdichtet, folgt Liszt den Spuren Schuberts. Als Beispiel dafür mag die Hinleitung zum zweiten Thema dienen. Der von der Pauke in Takt 33 eingestreute „WandererRhythmus“ wird zunächst von der linken Pianisten-Hand, dann von der Viola mit Pizzicati aufgegriffen. Während die Soloflöte das aufsteigende Sechzehntel-Motiv des zweiten Taktes einstreut, unterstützt das erste Cello den Pianisten in der Melodieführung. Sowohl das zweite Thema in E-Dur wie auch das dritte in Es-Dur werden vom Klavier solistisch vorgestellt. Vor der Es-Dur-Themengruppe erlaubt sich Liszt den einzigen Eingriff in den Originaltext, indem er die Überleitung zu einer kleinen Kadenz ausweitet und die neue b-Tonart etwas hinauszögert. Was in der originalen Komposition vom Interpreten im Alleingang bewältigt werden muss, wird in der Lisztschen Bearbeitung oftmals auf mehrere Instrumentengruppen aufgeteilt. Dies ist beispielsweise in der virtuosen Passage ab Takt 83 der Fall. Während die Streicher den Puls markieren, kann sich das Klavier den absteigenden Tonleitern in Oktavverdopplung widmen. Mit den Sforzati der Bläser erreicht Liszts Konzert seinen ersten Höhepunkt. Die unmittelbare Reaktion des Pianisten auf diese prägnanten Akzente verleiht der Stelle eine zusätzliche rhythmische Komponente. Zu einer Angelegenheit für das gesamte Orchester werden auch Schuberts kühne Oktaven ab Takt 159. Liszts neue Klavierstimme beschränkt sich auf den schlichten Akkordsatz mit Betonung des neapolitanischen Sextakkordes. Während sich die aufsteigenden Sechzehntel dialogisierend auf die Holzbläser und Streicher verteilen, sind die Blechbläser und die Pauke mit der Ausführung des Daktylus betraut. Die Eindringlichkeit dieses voluminösen Tuttis wird dadurch verstärkt, dass in Takt 163 lediglich die Klarinette aus der Klangfülle hervorgeht und zum langsamen Satz überleitet. Durch diese Umverteilung erfährt Schuberts schwieriger Klavierpart eine wesentliche Vereinfachung (siehe Notenbeispiel auf der nächsten Seite). Dass Schubert einen Ausschnitt eines seiner erschütterndsten Lieder zum „Kristallisationskern“ dieses Virtuosenstücks gemacht hat, könnte der Auslöser für Liszts Idee zur Liedtranskription gewesen sein.21 Tatsächlich knüpft der Bearbeiter im Adagio an die Prinzipien seiner früheren Liedarrangements an. In einer Randglosse der nahezu zeitgleich zum Klavierkonzert entstandenen Fassung für zwei Klaviere formulierte er sein Verständnis dieser Variationen: „Meines Erachtens nach sollte dieser Satz sehr langsam, pathetisch, ab imo pectore vorgetragen werden.“22 In beiden Partituren finden sich weitere Interpretationshinweise, die auf eine besondere Gefühlsregung Liszts schließen lassen. Eine solche Literarisierung der Musik kann durchaus als Schlüssel zu Liszts Schubert-Verständnis gewertet werden. Im Klavierkonzert bleibt die eigentümlich fahle Wirkung dieses choralartigen, im Vergleich zum Lied „entkolorierten“23 Beginns zunächst erhalten, da das Klavier sowohl das Thema wie auch die erste Variation solistisch und originalgetreu 21 22 23

Hinrichsen, „Rezeption als Selbstverständigung“, S. 141. Dieser Hinweis findet sich auch in Liszts Interpretationsausgabe der Wandererfantasie bei Cotta. Vgl. diese Arbeit, S. 292. Hinrichsen, „Rezeption als Selbstverständigung“, S. 103.

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IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

Schubert/Liszt, Wandererfantasie, T. 159–164

vorträgt. Erst in der zweiten Variation in cis-Moll (T. 204 ff.) setzt das Orchester mit klagenden Holzbläsern sowie gedämpften Streicherklängen ein und untermalt die chromatischen Läufe des Klaviers. Die gesteigerte Virtuosität einer solchen Pas-

„Ab imo pectore“: die Wandererfantasie als Klavierkonzert

241

sage gibt eindrucksvoll Zeugnis davon, wie Liszt die scheinbar äußerliche Schauseite in den Dienst der Expressivität stellt.

Schubert/Liszt, Wandererfantasie, T. 204

Beim Wechselspiel über dem Dominantorgelpunkt (T. 208 ff.) treten Liszts neu erworbene Dirigierkenntnisse in Erscheinung, wie die Anweisung „in Achteln zu taktieren“ zeigt. Die anschließende Variation, die sich von Cis-Dur (T. 213 ff.) nach cis-Moll (T. 217 ff.) wendet, ist wiederum dem Solisten vorbehalten. Im folgenden – nun wieder nach Dur aufgehellten – Abschnitt verwandelt sich die Klavierstimme in eine leicht wogende Harfenbegleitung, die das mit der Ausführung der Melodie beschäftigte Solo-Cello umrankt (ab T. 221). Während das Thema bei Schubert ab Takt 225 nur noch im Daumen der linken Hand präsent ist und sich allmählich ganz in Figurationen auflöst, überträgt Liszt die Melodiestimme dem Hornisten. Im Gegensatz zum stilistischen Mittel der „Zerstreuung“, das er bisweilen in seinen Liedtranskriptionen anwendet, setzt er hier und in der gesamten Schlusssteigerung auf die Rückgewinnung der Gesangsmelodie. Dadurch geht

242

IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

Liszt – die Grenze zur Trivialität streifend – den üblichen Weg des Bearbeiters in umgekehrter Richtung.24

Schubert/Liszt, Wandererfantasie, T. 225

Ein ausklingender E-Dur-Akkord markiert, der Vorlage folgend, den Übergang zum Scherzo. Paul Badura-Skoda stellte bei der Durchsicht des erst Mitte des 20. Jahrhunderts wiederentdeckten Autographs eine bedeutende Abweichung fest: „Bei der 5. Gruppe der l. H. [Takt 56 Mitte] steht ein deutlich lesbares ♮ vor dis; […]. Dieses Auflösungszeichen fehlt im Erstdruck und in allen späteren Ausgaben. Daß es sich dabei um einen Druckfehler und nicht etwa um eine nachträgliche Korrektur Schuberts handelt, zeigt der Vergleich von Autograph und Erstdruck. […] Durch diese bisher unbekannte Version gewinnt der Schlußtakt des Adagios eine völlig andere Bedeutung: Nicht völliges Ausklingen wie früher, sondern harmonische Überleitung zum As-Dur-Teil. Der Septimenakkord auf E wird enharmonisch in den übermäßigen Quintsextakkord von As-Dur umgedeutet […]. Das Kühne an dieser Modulation ist nun, daß Schubert die zwei letzten Kadenzschritte ausläßt und völlig überraschend gleich in As-Dur einsetzt.“25

Im Presto wendet der Bearbeiter das konzertierende Prinzip in spielerischer Weise auf die verschiedenen Registergruppen an, die in rascher Folge miteinander „wetteifern“. Auf die wellenförmigen Streicher-Achtel zu Beginn antworten zunächst die Klarinetten und Fagotte mit dem tänzerisch-punktierten Rhythmus. In den folgenden drei Takten leitet das Klavier zur Dominante über, worauf ihm die Streicher24 25

Vgl. dazu ebd., S. 141. Franz Schubert. Fantasie C-Dur. Erste Ausgabe nach dem Autograph; herausgegeben und mit Fingersätzen versehen von Paul Badura-Skoda, Kritischer Bericht, S. VI.

„Ab imo pectore“: die Wandererfantasie als Klavierkonzert

243

gruppe ins Wort fällt. Den Nachsatz eröffnen die Holzbläser, die aber alsbald vom Klavier abgelöst werden. Erneut fällt das letzte Wort den Streichinstrumenten zu.

Schubert/Liszt, Wandererfantasie, T. 243–259

244

IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

Zum Walzerthema des Scherzos (T. 329 ff.) wurde Schubert vermutlich durch Wenzel Müllers „Praterlied“ aus dem Zauberspiel Aline, oder Wien in einem anderen Weltteil inspiriert. Am 19. Oktober 1822 besuchte er gemeinsam mit Josef Hüttenbrenner eine Vorstellung im Theater in der Leopoldstadt. Das Duett „Was macht denn der Prater, sag’, blüht er recht schön?“ mit dem Refrain „Ja, nur ein’ Kaiserstadt, ja nur ein Wien!“ wurde damals gewissermaßen zum Volkslied.26 Schubert bbb 3 ™ j bœ ™ œ œ œ ™ œ œ b˙ ™ b & 4 bœ œ œ J J

b3 &b 4 œ

W. Müller

œ™™ œR œ œ™™ œR œ

œ™™ œR œ

Was macht denn der Pra - ter, sag, blüht

b œ™™ œ œ &b R (Refrain)

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m

er nicht schön?

œ™™ œr œ

Kai - ser- stadt, ja

m

nur ein

œ Œ Wien!

Das zweite Seitenthema in Des-Dur münzt Liszt bei seiner Wiederkehr ab Takt 486 tatsächlich in einen veritablen Wiener-Walzer um, den das Klavier mit Girlanden und Arpeggien ausschmückend begleitet. Originalgetreu präsentiert der Solist dagegen die ersten 33 Takte des brachialen Schluss-Fugatos im Alleingang.27 An der harmonisch instabilen Stelle, wo C-Dur verlassen wird, setzt das Orchester ein. Con bravura kann sich der Pianist nun, befreit vom pochenden „Wanderer-Rhythmus“, den figurativ aufgelösten verminderten Septimenakkorden widmen.

26 27

Vgl. dazu Hans Költzsch, Franz Schubert in seinen Klaviersonaten (=Sammlung musikwissenschaftlicher Einzeldarstellungen, 7. Heft), 2. Nachdruck der Leipziger Ausgabe von 1927, Hildesheim etc. 2002, S. 25. Abbildung ebd., neu gesetzt. Vgl. dazu das alternative Finale mit tiefenoktavierten Bässen in Liszts Wandererfantasie-Ausgabe in dieser Arbeit, S. 295.

„Ab imo pectore“: die Wandererfantasie als Klavierkonzert

245

Schubert/Liszt, Wandererfantasie, T. 629–632

Mehrmals setzt Schubert vor der furiosen Schlusssteigerung zum Atemholen an. Der Lisztsche Klaviersatz erweist sich dank der Stimmenverteilung als weniger strapazierend, wie etwa jene apotheotischen Takte mit Pauken und Trompeten kurz vor Schluss demonstrieren.

246

IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

Schubert/Liszt, Wandererfantasie, T. 709–713

„Ab imo pectore“: die Wandererfantasie als Klavierkonzert

247

Im Zusammenhang mit seiner Interpretationsausgabe der Wandererfantasie bei Cotta im Jahre 1868 bezeichnete Liszt seinen wirkungsvollen und das Original gleichzeitig vereinfachenden neuen Klaviersatz stolz als „technique pianistique moderne“.28 Seinem bedeutenden Schüler und späteren Schwiegersohn Hans von Bülow (1830–1894) ist es zu verdanken, dass das Arrangement Einzug in die großen Säle hielt. Bülow war in rund vierzig Aufführungen der orchestrierten Wandererfantasie zu erleben und spielte die Bearbeitung somit häufiger als Liszts Klavierkonzerte.29 In den 1870er-Jahren besann man sich auf Schuberts Originalkomposition, wodurch das Interesse an der Transkription schwand. Durch die Popularisierung der Fantasie entzog sich die Lisztsche Version somit paradoxerweise den eigenen Boden unter den Füßen. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Wandererfantasie als eigenständiges Klavierkonzert wiederentdeckt. BLOSS EIN „ACT KÜNSTLERISCHER PIETÄT“? LISZTS URAUFFÜHRUNG DER OPER ALFONSO UND ESTRELLA „Was mit meinen Opern geschehen wird, weiß der Himel“,30 klagte Schubert am 21. September 1824, während seines zweiten Aufenthalts im ungarischen Zseliz, seinem Freund Franz von Schober. Jener hatte das Libretto zur „großen romantischen Oper“ Alfonso und Estrella (D 732) verfasst, die Schubert für sein gelungenstes und am besten zur Darstellung geeignetes Bühnenwerk hielt.31 Für dessen Erschaffung hatten sich die beiden Freunde im Herbst 1821 auf Schloss Ochsenburg bei St. Pölten, das einem Verwandten von Schober gehörte, in Klausur begeben. „Es ist wunderbar, wie reich und blühend er wieder Gedanken hingegossen hat“,32 schwärmt Schober in einem Brief an Josef von Spaun. Diese auffallend enge Zusammenarbeit zwischen Komponist und Librettist gerät vor der Folie der generellen Kritik am Text nur allzu gerne in Vergessenheit. In Alfonso und Estrella geht Schubert neue Wege. Seine „große Oper“ weist nicht die damals üblichen gesprochenen Dialoge, Rezitativ-Szenen oder „Nummern“-Komplexe auf, sondern ist – nach dem Vorbild der französischen Tragédie lyrique und der sogenannten Gluckschen „Reform“-Oper – durchgehend vertont und orchestriert.33 Wäre das Werk damals aufgeführt worden, hätte es Carl Maria

28 29 30 31

32 33

Vgl. La Mara, Liszt’s Briefe, Bd. 2, S. 133 und diese Arbeit, S. 297. Hinrichsen, „Rezeption als Selbstverständigung“, S. 141. Deutsch, Dokumente, S. 258. Siehe Nachruf auf Franz Schubert von Leopold Sonnleitner vom Februar 1829, in: Till Gerrit Waidelich (Hg.), Franz Schubert, Dokumente 1817–30, Bd. 1, Tutzing 1993, S. 483. Die Dresdener Abendzeitung kündigte bereits am 29. Juli 1821 an, dass sich Schubert mit einer „großen romantischen Oper“ beschäftige. Deutsch, Dokumente, S. 124. Ebd., S. 139. Vgl. Till Gerrit Waidelich, Franz Schubert. Alfonso und Estrella. Eine frühe durchkomponierte deutsche Oper. Geschichte und Analyse (Veröffentlichungen des Internationalen Franz Schubert Instituts 7), Tutzing 1991, S. 15.

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IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

von Webers Euryanthe das nachträglich verliehene Prädikat „erste durchkomponierte Oper“ streitig gemacht.34 Schuberts Klagen aus Ungarn waren durchaus berechtigt. Ein an Freund Spaun adressierter Brief verrät, wie sehr der Komponist darunter litt, dass Alfonso und Estrella nicht gespielt wurde: „Mir ging[e] es sonst ziemlich gut, wenn mich nicht die schändliche Geschichte mit der Oper so kränkte.“35 Von Schober ist ein Schreiben an Ferdinand Schubert überliefert, in dem er die vergeblichen Bemühungen beider Autoren um eine Aufführung schildert: „Acht Jahre habe ich mich vereint mit ihrem sel. Bruder vergebens bemüht, sie auf die Bühne zu bringen, u. unter so günstigen Verhältnissen, als sie nie wieder kehren, bei den Theatern von Wien, Dresden, Berlin, Prag, Pest, Graz etc. umsonst sollizitiert. Es ist nicht so leicht, als sie zu glauben scheinen, eine Oper zur Aufführung zu bringen, u. jetzt hundertmal schwerer als damals. Und vollends diese Oper, die wir vor 30 Jahren in sehr glücklicher Schwärmerei, aber in sehr großer Unschuld des Herzens u. des Geistes schufen!“36

In „sehr großer Unschuld des Herzens u. des Geistes“ entstand ein Ende des achten Jahrhunderts, zur Zeit der Reconquista, im Königreich León im Nordwesten Spaniens angesiedeltes Libretto. Schobers Erzählung setzt ein, nachdem König Froila durch den Usurpator Mauregato und dessen Feldherrn Adolfo ins Exil getrieben und entthront wurde. Letzterer erbittet sich Estrella, die Tochter des neuen Herrschers, zur Braut. Doch sie weist ihn ab, erkennend, dass Adolfo nur den Thron erobern will. Als sie nach einer Jagd in Fels und Wald umherirrt, lernt Estrella Froilas Sohn Alfonso kennen und lieben. Nach einigen Umwegen durch Verrat und der Zuspitzung des Konflikts zu einem Bürgerkrieg kommt es zur Versöhnung zwischen den Königen und zur Thronbesteigung Alfonsos. Große Hoffnung setzte Schubert in die Sopranistin Anna Milder-Hauptmann (1785–1838) mit ihren Beziehungen zur Berliner Hofoper. Auf ihre Nachfrage nach seinen Opern und dem Vorschlag, bei der Intendanz zu vermitteln, sandte Schubert ihr unverzüglich eine Kopie der Partitur von Alfonso und Estrella zu. Doch nach Sichtung des Manuskripts schrieb ihm die Sängerin folgende abschlägige Antwort: „Was Alfonso und Estrella Ihrer [sic] Oper anbelangt, ist es mir unendlich leid, bemerken zu müssen, daß das Buch hievon den [sic] hiesigen Geschmack nicht entspricht, man ist hier die große, hoch tragische Oper gewöhnt oder die französische komische Oper. Nach diesem Ihnen hier beschriebenen Geschmack werden Sie selbst einsehen, daß Alfonso und Estrella durchaus kein Glück hier machen würde. Sollte ich die Freude haben, in einer Ihrer Opern darstellen zu können, so müßte es wohl für meine Individualität berechnet sein, z. B. die Rolle einer Königin, Mutter oder Bäuerin. Ich würde daher raten, etwas Neues zu machen und womöglich in einem

34 35 36

In einem verlorengegangenen Schreiben an Josef Hüttenbrenner soll sich Carl Maria von Weber im Herbst 1822 „vielversprechend“ über Alfonso und Estrella geäußert haben. Vgl. dazu Deutsch, Dokumente, S. 168. Ebd., S. 173. Brief von Franz von Schober an Ferdinand Schubert vom 18. März 1848, zit. in: Deutsch, Erinnerungen, S. 369. Schober fühlte sich von Schuberts Bruder Ferdinand in seinen Rechten als Librettist übergangen. Dieser wollte die Partitur vorrangig an die Verleger (Breitkopf & Härtel) und nicht an die Theater vermitteln.

Bloß ein „Act künstlerischer Pietät“?

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Akt, und zwar ein orientalisches Sujet, wo der Sopran die Hauptperson, dies müßte Ihnen ganz vorzüglich geraten; so wie ich aus Goethens Divan ersehe.“37

Dass die Partie der Estrella für einen dramatischen Sopran nicht geeignet ist, hatte die Schreiberin natürlich auf den ersten Blick erkannt. Es ist daher wenig erstaunlich, dass sie nicht bereit war, sich für die Uraufführung einzusetzen. Auch Johann Michael Vogl, für den die Partie des Froila konzipiert war, konnte dem Werk wenig abgewinnen. Er warf Schubert vor, mit „Schobers Oper“ auf „ganz falschem Weg“ zu sein.38 Selbst wenn in dieser Aussage persönliche Ressentiments gegenüber dem Verfasser des Librettos mitschwangen, darf man das Urteil eines „Opernpraktikers der damaligen Zeit nicht unterbewerten, wenn man die stete Ablehnung der Oper durch die Verantwortlichen der verschiedenen […] Theater verstehen will.“39 Doch Schubert gab nicht auf und erkundigte sich noch in seinem Sterbejahr nach den Möglichkeiten einer Grazer-Aufführung: „Wie steht es mit der Oper? Sind gute Sänger und Sängerinnen in Grätz? Ich kann mein Opernbuch noch immer nicht von dem bestialen Gottdank erhalten, doch will ich jetzt massive Mittel anwenden, denn mir scheint, es ist nichts als eine Bosheit.“40

Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann man sich mit Alfonso und Estrella auseinanderzusetzen, jedoch mit starken Eingriffen in die Substanz, da man der Komposition keinen Erfolg zutraute. Vorreiter war auch hier Franz Liszt, der die Oper im Jahre 1854 in seiner Funktion als Kapellmeister in Weimar uraufführte. Liszts Auseinandersetzung mit der Gattung Oper war ein Prozess, der sich über sein ganzes Leben erstreckte. Bei seiner ersten und einzigen Oper Don Sanche (S 1) handelt es sich um ein Jugendwerk, das 1824/25 unter der Anleitung seines Lehrers Ferdinando Paër in Paris entstanden war. Erst in seiner Weimarer Zeit beschäftigte sich Liszt erneut mit Plänen, eigene Bühnenwerke zu komponieren. Zwar wurden diese nicht umgesetzt, doch zeugen die zahlreichen Opernparaphrasen für Klavier und seine Abhandlungen über Fragen der Opernästhetik von einer intensiven Beschäftigung mit diesem Genre. In seinem „Nationaltheater“ strebte der neue Kapellmeister eine Spielplangestaltung an, die „ausschließlich von künstlerischen Prinzipien bestimmt sein sollte“.41 Was sich in den großen europäischen Musikzentren nicht durchsetzen ließ, wollte er in der Provinz realisieren und Weimar dadurch zu einer Pilgerstätte der Kunst erheben. Erste Hinweise darauf, dass Liszt Schuberts Oper zu inszenieren beabsichtigte, finden sich bereits im Jahre 1848. Im Februar schrieb er der Fürstin Carolyne zu Sayn-Wittgenstein: „[…] peut-être y aura-t-il encore le temps de mettre en scène un opéra inédit de Schubert Alphons [sic] und Estrella, dont le texte est de mon ami

37 38 39 40 41

Brief von Anna Milder-Hauptmann an Franz Schubert vom 8. März 1825, zit. in: Deutsch, Dokumente, S. 280. Ebd., S. 161. Waidelich, Alfonso und Estrella, S. 30 f. Zit. ebd., S. 34. LSS 5, S. IX.

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IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

Schober.“42 Franz von Schober zufolge bedurfte es in einer Zeit der Wagnerschen Musikdramen eines „halben Wunders“, um die Uraufführung überhaupt noch zu realisieren: „Wie verwandelt ist seitdem der musikalische Boden. Nur ein halbes Wunder kann jenes verspätete Kind der Vergangenheit der Öffentlichkeit zuführen, ohne es zu verderben. Dies halbe Wunder ereignet sich, weil eben ein Mann der Wunder, Liszt, sich der Sache annimmt. Die Oper soll auf einem geachteten Hoftheater erscheinen.“43

Die Freundschaft zwischen Liszt und Schober, der 1844 als Legationsrat nach Weimar berufen worden war, bestand zu diesem Zeitpunkt schon seit mindestens zehn Jahren.44 In der Dreiecksbeziehung „Schubert-Schober-Liszt“ kann Schober durchaus als Bindeglied zwischen dem früh verstorbenen Wiener Komponisten und dem Klaviervirtuosen bezeichnet werden. Allerdings war das Verhältnis zwischen Liszt und Schober gegen Ende der 1840er-Jahre getrübt. Dass der Kapellmeister nach den ersten Klavierproben im Frühling 1849 mit dem Gedanken spielte, die Musik mit einem neuen Libretto zu unterlegen, dürfte den Dichter gekränkt haben. Im Briefwechsel mit dem Musikverlag Breitkopf & Härtel äußerte Liszt seine Bedenken: „[…] Quant à l’opéra de Schubert / ‚Alfonso und Estrella‘ / , une récente expérience m’a confirmé entièrement dans l’opinion que j’avais déjà prise lors des premières répétitions au piano que nous en fimes le printemps dernier: c’est que la délicate et interéssante Partition de Schubert se trouve comme écrasée par le poids du libretto. Toutefois je ne désespère pas de faire donner cet ouvrage avec succès – mais ce succès ne me paraît possible qu’à une seule condition: celle d’adapter un autre libretto à la musique de Schubert. Et puisque par un sort particulier dont je n’ai guère à me plaindre une partie de l’héritage de Schubert est devenue mon domaine, je m’occuperai volontiers en temps et lieu opportun du travail préparatoire et de la mise en scène de cet opéra, pour lequel il serait un avantage à mon sens d’être produit en premier lieu à Paris […].“45

Sowohl die Pläne einer Pariser Aufführung wie auch die Absicht, dem Werk einen neuen Text zu unterlegen, zerschlugen sich. Selbst die Weimarer Einstudierung wurde mehrfach angesetzt und wieder verschoben.46 Am 24. Juni 1854 kam es anlässlich des Geburtstags des Großherzogs Carl Alexander endlich zur Uraufführung, wobei die Premiere allerdings zugleich auch die Derniere war. Till Gerrit Waidelich betont, dass es sich dabei keineswegs um einen gemeinsam getragenen freundschaftlichen Akt zwischen Liszt und Schober, sondern vielmehr um eine „heikle Bewährungsprobe eines Zusammenwirkens“ handelte.47 42 43 44 45 46 47

Brief von Franz Liszt an die Fürstin Carolyne zu Sayn-Wittgenstein vom 28. Februar 1848, zit. in: La Mara, Liszt’s Briefe, Bd. 4, S. 24. Brief von Franz von Schober an Ferdinand Schubert vom 18. März 1848, zit. in: Deutsch, Erinnerungen, S. 369. LSS 5, S. 239. Schober begleitete Liszt auf einigen Reisen. Brief von Franz Liszt an Breitkopf & Härtel vom 24. Februar 1850, zit. in: Deutsch, Erinnerungen, S. 372. Vgl. dazu Waidelich, Alfonso und Estrella, S. 37 ff. Till Gerrit Waidelich, „‚Torupson‘ und Franz von Schober – Leben und Wirken des von Frauen, Freunden und Biographen umworbenen Schubert- und Schwind-Freundes“, in: Schubert : Perspektiven 6 (2006), S. 3–237, S. 183.

Bloß ein „Act künstlerischer Pietät“?

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Die Rezension von Heinrich Gottwald, die am 1. Juli 1854 in der NZfM veröffentlich wurde, antizipiert nahezu alle späteren Einschätzungen dieser Schubert-Oper: „Nach vielen seiner außerordentlichen, oft so dramatisch bearbeiteten Liedern, war man berechtigt von Schubert auf dem Gebiet der Oper das Bedeutendste zu erwarten. Leider aber vereinigte sich in dieser Oper der poetische tiefinnerliche Liedercomponist mit einem vollkommen prosaischen Dichter: dieß der Grund wenn Schubert’s Oper für die Folge keine Lebensfähigkeit haben kann. Der äußerst magere Stoff der Handlung, der jeden Interesses bar, weder spannende Situationen noch wirklich dramatische Effecte erlaubt, muß auf den Zuhörer eben so erlahmend und abschwächend einwirken, als die über alle Gebühr ausgedehnten und festgehaltenen subjectiven Stimmungen und lyrischen Ergüsse. Diese letztern bilden so eigentlich das Element dieser Oper, (die man nicht mit Unrecht als Liederoper bezeichnen dürfte –) daher Schubert fast durchgehends zum Reinmelodischen, das oft über die einfachste Liedform mit musikalischen Phrasen von 2 zu 2, 4 zu 4 Tacten nicht hinauskommt, immer wieder gedrängt werden mußte. Die unausbleibliche Folge ist die im Drama sich wohl am meisten rächende Monotonie, die selbst Schubert mit seinem Melodienreichthum nicht zu bannen vermochte. […] Durch die Aufführung dieser im Jahre 1818 componirten und bis jetzt noch nirgends zur Darstellung gelangten Oper unseres Liederfürsten Franz Schubert, hat sich Liszt, der Kunsterglühte – dem es bei seiner seltenen künstlerischen Energie nur allein möglich war diesen Act künstlerischer Pietät zur Ausführung zu bringen – unstreitig ein neues und großes Verdienst gesammelt […].“48

Liszt hat nicht gezögert, Schuberts Partitur tiefgreifend zu verändern. Seine Wahrnehmung, dass der „in kleinerem Rahmen so große Schubert […] in weiterem Raum viel von seiner natürlichen Größe“49 einbüße, kann auch auf sein Verständnis der Liedtranskriptionen ausgeweitet werden, die Liszt mit podiumswirksamen Elementen auszustatten wusste. Den potentiellen Verlegern des Klavierauszugs legte er gar nahe, seine Bearbeitung zu übernehmen – mit der Empfehlung, die gestrichenen Szenen im Anhang wiederzugeben: „Wir haben bisher ein Halbdutzend Proben abgehalten, die klar eine genügend große Zahl von Strichen ergeben haben, die ich nicht gezögert habe auszuführen, und wenn Sie später die Absicht hätten, den Klavierauszug zu veröffentlichen, so würde ich Sie selbst veranlassen, Ihre Ausgabe unserer Aufführung entsprechend zu gestalten, – vorbehalten, die unterdrückten Stellen am Schluß als Anhang anzufügen.“50

Till Gerrit Waidelich hat Liszts in der Österreichischen Nationalbibliothek aufbewahrte Dirigierpartitur und das im Archiv des Weimarer Theaters gelagerte Aufführungsmaterial eingehend untersucht. An dieser Stelle werden daher nur die wichtigsten Eingriffe nachgezeichnet. Waidelich attestiert vielen von Liszts Strichen eine musikdramaturgische Notwendigkeit „gegen die Musik und für das Theater“.51 Solchen „Theater-Strichen“ 48

49 50 51

NZfM vom 1. Juli 1854, S. 11. Der Schlesier Heinrich Gottwald (1821–1876) war ein Waldhorn-Virtuose, Literat, Dirigent und Komponist. Gottwald zitiert im letzten Passus genau denselben Wortlaut, den Liszt in seinem Artikel „Schubert’s Alfons und Estrella“ verwendet („Act künstlerischer Pietät“). Zudem übernimmt er die falsche Datierung der Oper (1818). LSS 5, S. 65. Brief von Franz Liszt an Breitkopf & Härtel vom 27. Mai 1854, zit. in: Deutsch, Erinnerungen, S. 375. Waidelich, Alfonso und Estrella, S. 42 ff.

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IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

fallen jedoch bisweilen auch Schuberts Tonartendispositionen zum Opfer, wie etwa im Finale des ersten Aktes, worin das zweite Auftreten des imitatorisch-kontemplativen Ensembles samt rezitativischer Einleitung einem holprigen harmonischen Anschluss weicht (F-Dur/E-Dur-Sextakkord). Trotz radikaler Kürzungen zögerte Liszt nicht, im ersten Akt ein Ballett einzufügen. Im Zuge der generellen Straffung der Originalpartitur entfallen auch inhaltliche Aspekte wie etwa Mauregatos Schwur gegenüber dem Feldherrn Adolfo, dessen mangelnder Anspruch auf Estrellas Hand ihn zum „konventionellen Theaterbösewicht“ abstempelt.52 Einige Aussparungen sind jedoch nicht auf dramaturgische Erwägungen zurückzuführen, sondern wurden hinsichtlich der personellen Gegebenheiten des Weimarer Ensembles vorgenommen. Mauregatos Gesang im zweiten Akt etwa wurde ersatzlos gestrichen, was möglicherweise an den sängerischen Qualitäten des Bass-Baritons August Höfer (1812?– 1875) lag. Gottwald erwähnt in seiner Rezension, dass gerade bei ihm „manches zu wünschen übrig blieb“.53 Im Vergleich zu späteren, weit radikaleren Bearbeitungen kann im Falle von Liszts Version noch immer von einer „Fassung“ der Schubertschen Oper gesprochen werden, denn seine Eingriffe sind „trotz etlicher schmerzlicher Verluste […] unter aufführungsspezifischen Kriterien und dem Blickwinkel einer historischen Operneinrichtung vertretbar, zuweilen straffen sie die Partitur positiv.“54 Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass sich die Handlung in Weimar noch stärker auf die Hauptpersonen konzentrierte und sämtliche Nebenfiguren zu bloßen „Stichwortgebern“ degradiert wurden.55 Seltsamerweise fehlt in Liszts Bearbeitung das Lied vom Wolkenmädchen, das den eigentlichen Kern der Oper bildet. Es eröffnet den zweiten Akt mit ungewöhnlichen harmonischen Rückungen und einer auffälligen Instrumentalbesetzung mit Harfenbegleitung. Diese in Szene gesetzte Aufführung von Froilas „Repertoirestück“ gemahnt an den Loreley-Mythos: Das Wolkenmädchen verlockt den Jäger dazu, ihm in das „vielgetürmte goldne Schloß“ zu folgen. Bezeichnenderweise unterlegt Schubert die Szene mit genau derselben Musik, die er später im Lied Täuschung seines Winterreise-Zyklus wiederverwenden sollte. Im Lied vom Wolkenmädchen wird – unter Beschwörung der innewohnenden Gefahr – Alfonsos Begegnung mit Estrella vorweggenommen. Laurenz Lütteken deutet diese Schlüsselszene als Versuch, die „Bedingungen von Kunst und Leben unter den neuen Bedingungen einer eigenen Poetik des Liedes im Kunstwerk zu erkunden.“ Schubert und Schobers Kunstbegriff könne somit als Durchdringung und Versöhnung von Wirklichkeit gedeutet werden.56 Diese Interpretation ermöglicht einen Gegenentwurf zur unglücklich verlaufenen Rezeptionsgeschichte der Oper, in der stets Schobers mangelndes dramatisches Talent beklagt wurde: „Dass das eine, das Lied, in der Wirkung erfolg52 53 54 55 56

Ebd., S. 43. Vgl. NZfM vom 1. Juli 1854. Waidelich, Alfonso und Estrella, S. 46. Ebd. Laurenz Lütteken, „Die ‚seelenvolle Weise‘ als Poetik des Musikalischen. Erinnerung und Gegenwart im Lied vom Wolkenmädchen“, in: Ivana Rentsch / Klaus Pietschmann (Hg.), Schubert: Interpretationen (Schubert : Perspektiven – Studien 3), Stuttgart 2014, S. 57–68, S. 66.

Bloß ein „Act künstlerischer Pietät“?

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reich war, das andere dagegen, die Oper, nicht, ist offenkundig ein Problem der Rezeptionsgeschichte, nicht aber des Gegenstands“.57 Über die Gründe, die Liszt dazu bewogen haben, ausgerechnet das Lied vom Wolkenmädchen aus seiner Fassung zu verbannen, kann nur spekuliert werden. Da er sich ohnehin auf eine Straffung der Dramaturgie konzentrierte, dürfte ihm diese Nummer als besonders retardierendes und daher in diesem Gattungszusammenhang deplatziertes Moment erschienen sein. Trotz dieser Eingriffe in die Originalsubstanz ist Liszts Uraufführung von Alfonso und Estrella weit mehr als das Abtragen einer „Ehrenschuld“ oder ein „Act künstlerischer Pietät“, zu dem sich Liszt gegenüber seinem Vorbild verpflichtet fühlte.58 Mit der Weimarer Inszenierung hat der Wegbereiter für die Wagnerschen Musikdramen in Deutschland auch eine Lanze für Schuberts Opernschaffen gebrochen, dessen Rezeption bislang freilich stiefmütterlich verlaufen ist. „LIEDERSTAMMELN“ UND „ORCHESTERGESUMME“ – ORCHESTRIERTE SCHUBERT-LIEDER FÜR EMILIE GENAST Schuberts Gesänge reizten Komponisten schon früh zur Umarbeitung in Orchesterlieder. Bereits Ferdinand Schubert instrumentierte eine Reihe von Liedern seines Bruders für verschiedene Ensembles, darunter Die junge Nonne, Erlkönig und Ellens Gesang III (Ave Maria). Als sich die beiden Brüder einst während des gemeinsamen Musizierens der vielstrophigen Jugend-Ballade Der Taucher (D 77) über eine Instrumentierung mit zusätzlichem Chor unterhielten, soll Schubert der Überlieferung zufolge geäußert haben: „Der Gedanke ist nicht übel; aber ich werde das nicht thun, das kan̅ st Du thun! Die Zeit, die ich zum Instrumentieren brauche, kan̅ ich dazu verwenden, um wieder was Neues zu componiren.“59 Im Jahre 1860 entstanden die berühmten Erlkönig-Adaptionen von Hector Berlioz und Franz Liszt. Während der Erlkönig Berlioz’ einzige Schubert-Transkription blieb, setzte Liszt auch noch Die junge Nonne, Gretchen am Spinnrade, Lied der Mignon, Der Doppelgänger und Abschied orchestral um, wobei die beiden letztgenannten Arrangements ungedruckt blieben.60 Die erst 1871 unter dem Namen Vier Lieder von Franz Schubert für eine Singstimme mit kleinem Orchester publizierte 57 58 59 60

Ebd. LSS 5, S. 63. Dass Liszt Schuberts Oper in seinem Aufsatz fälschlicherweise mit 1818 datierte, könnte dazu beigetragen haben, dass die Oper noch als Jugendwerk und somit in der Folge für minder bedeutsam eingestuft wurde. Zit. in: Brusatti, Schubert im Wiener Vormärz, S. 44. Vgl. dazu Jay Rosenblatt, „Orchestral Transcriptions“, in: Ben Arnold (Hg.), The Liszt Companion, Westport CT, 2002, S. 309–331, S. 321. Das Arbeitsmanuskript von Liszts Doppelgänger-Orchestrierung liegt unter der Signatur GSA 60 / Q 6 im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar. Das Lied Abschied wird in Raabes Werkverzeichnis als „nicht auffindbar“ aufgelistet. Vgl. Raabe, Liszts Schaffen, S. 356. Außerdem existiert eine Lisztsche Transkription des Schubert-Liedes Die Allmacht für Tenor-Solo, Männerchor und Orchester, die im Jahre 1871 bei Schuberth in Leipzig gedruckt wurde. Liszt erwähnte sie in seinem Schreiben vom Juli 1879 an Musikdirektor August Manns in London: „[…] wohl aber veröffentlichte J. Schuberth’s Verlag, Leipzig, meine Bearbeitung für Orchester, Männerchor und Orgel des herrlichen Liedes von

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IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

Emilie Merian-Genast61

Sammlung ist der Weimarer Mezzosopranistin Emilie Merian-Genast (1833–1905) gewidmet, die sich besonders als Interpretin von Schumanns und Schuberts Liedern einen Namen gemacht hatte. Marie Lipsius beschrieb ihre Stimme als „weiche[n] Mezzosopran, nicht groß, von edler, sympathischer Klangfarbe, ihr Vortrag, durch und durch beseelt, voll poetischen Zaubers.“62 Richard Wagner und Hans von Bülow waren so sehr von ihr angetan, dass sie die Sängerin spontan für einen Vortrag der Wesendonck-Lieder „zur einstweiligen Beschwichtigung des auf die Meistersinger vorschießenden Verlegers [Schott]“ aufboten.63 Für Liszt war die um 22 Jahre jüngere Emilie Genast in einer Zeit des Umbruchs, in der er seinen Weimarer Taktstock niedergelegt hatte und seine Lebensgefährtin Carolyne zu Sayn-Wittgen-

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Franz Schubert Die Allmacht. Es verlangt einen mächtigen lyrischen Tenor. Das Tempo soll maestoso, maßvoll, ruhig gehoben genommen werden. In Wien hörte ich eine würdige Aufführung dieser Fassung der Allmacht.“ Zit. in: La Mara, Liszt’s Briefe, Bd. 2, S. 351. Universitätsbibliothek Basel, Portr BS Genast E 1833, 2. La Mara, „Emilie Merian-Genast“, in: dies., Liszt und die Frauen, Leipzig 21919, S. 205–220. Vgl. Klára Hamburger, „Franz Liszts Briefe an Emilie Merian-Genast aus den Beständen des Goethe- und Schiller-Archivs, Weimar, Teil 1“, in: Studia Musicologica, Vol. 48, No. 3/4 (Sept. 2007), S. 353–390, S. 355 f.

„Liederstammeln“ und „Orchestergesumme“ – orchestrierte Schubert-Lieder

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stein bereits nach Rom gereist war, Muse und Geliebte zugleich.64 Viele seiner eigenen Lieder sind der von der zeitgenössischen Presse hochgelobten Sängerin gewidmet und wurden von ihr aufgeführt (darunter Mignon und Die Loreley). Wie aus den fast einhundert an Emilie Genast gerichteten Liszt-Briefen ersichtlich wird, bat er sie auch um gesangstechnische Ratschläge.65 Aus Liszts schwärmerischem Brief an Emilie Genast vom 3. November 1860 geht hervor, dass die Instrumentierung zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen war: „Möge diese kleine Arbeit zu Ihrer Zufriedenheit ausgefallen sein. Während ich die orchestration niederschrieb hörte ich Sie immer singen – In Cöln und die ganze Rheingegend sind natürlich diese Partituren nicht zu gebrauchen, und wenn Sie dieselben späterhin irgendwo probiren bitte ich Sie ausdrüklich und dringend meinen Nahmen nicht zu erwähnen –“.66

Liszts Orchestrierung hat fast kammermusikalischen Charakter, umso mehr, als die einzelnen Instrumente ausgesprochen klangmalerisch eingesetzt werden. In Die junge Nonne intonieren zunächst solistische Holzbläser das durch den Sturm dringende Glöcklein, während klagende Seufzer in den Fagotten, Streichertremoli und gestopfte Hörner die finstere Nacht nachempfinden. Der Paukenwirbel ist als bedrohlicher Donner nahezu immer präsent (weshalb eine schnelle Umstimmung von F nach Fis und zurück erforderlich wird). Der tobende Sturm macht sich auch in den crescendierten Sechzehnteln der Violinen (heftig) bemerkbar, die ihre Entsprechung in den drängenden Oktavbrechungen der Klaviertranskription finden.67 Mit der Erwähnung des himmlischen Bräutigams setzt die Soloflöte in hoher Lage ein und führt gemeinsam mit Solostimme, Oboe und Klarinette einen spielerischen Kanon aus, der ebenfalls bereits in der Klavierbearbeitung von 1838 durch die überkreuzende linke Hand vorweggenommen wird.

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Vgl. ebd. Die Fürstin Carolyne zu Sayn-Wittgenstein äußerte sich noch Jahre später abschätzig über ihre einstige Rivalin. Am 30. Mai 1875 schrieb sie an Eduard Liszt: „Puisqu’il suffit qu’un homme ait possédé une femme pour qu’elles lui fassent faire toutes sortes de sottises […] comme Mici Genast à Weimar, la Janina à Pesth, la Meyendorff à présent.“ Ebd., S. 354. Etwa für die Gestaltung der Titelpartie in der Legende von der heiligen Elisabeth (S 2). Ebd., S. 356. Liszt hat auch ihr Gedicht Legende von der heiligen Cäcilie („gedichtet von Madame Emile de Girardin“) als Kantate Die heilige Cäcilia (S 5, 1874) vertont. Zit. in: Hamburger, „Liszts Briefe an Emilie Merian-Genast, S. 381. Liszt hatte die Anfeindungen des Musikdirektors Ferdinand Hiller anlässlich der Aachener Musiktage von 1857 in Köln, wohin die Sängerin inzwischen gezogen war, nicht vergessen und wollte offenbar vermeiden, sich dort erneut zu exponieren. Vgl. dazu diese Arbeit, S. 75 f.

256

IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

Liszt, Die junge Nonne (Schubert), T. 55–5768 68

Universitätsbibliothek Basel, Sign. UBH kk XVII 4754.

„Liederstammeln“ und „Orchestergesumme“ – orchestrierte Schubert-Lieder

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Liszt, Die junge Nonne, T. 55–58

Nach der Textzeile „erlöse die Seele von irdischer Haft“ tritt die Harfe dazu, die mit ihren Klängen auf die himmlische Sphäre verweist. Der Klavierfassung folgend, lässt Liszt auch hier den letzten Alleluja-Ruf als vollständigen Ganzschluss in den Oktavton münden.69 In Gretchen am Spinnrade erscheint der charakteristische Harfenklang, der auch in Liszts Faust-Sinfonie eine wichtige Rolle spielt, erneut. Diese auffällige, die Vision des Geliebten („Sein hoher Gang“) untermalende Passage wünschte Liszt ausdrücklich „sehr ruhig zu halten“.70 Sein Spinnrad benötigt eine längere Anlaufzeit als dasjenige von Schubert: Dem Orchesterarrangement ist eine viertaktige Einleitung vorangestellt, die sich aus zögerlichen Pizzicati in den Bässen, einem Orgelpunkt in der Hornstimme und derselben halbtaktigen Sechzehntelbewegung mit übermäßigem Sekundschritt zusammensetzt, mit der Schubert nach Gretchens ekstatischer Erinnerung an die Kussszene das stockende Rädchen wieder in Gang setzt (siehe Notenbeispiel auf der nächsten Seite). Zwei zusätzliche Takte und eine Fermate verlängern den verzweifelten Ausruf der Protagonistin beim Spitzenton A’ ’  und ermöglichen der Solistin, mit ihrer „Höhe“ zu glänzen.71

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Vgl. diese Arbeit, S. 76. Siehe Hamburger, „Liszts Briefe an Emilie Merian-Genast“, S. 383. Dazu bemerkte Liszt im Brief vom 6. November 1860 an Emilie Genast: „In der Jungen Nonne sind zwei Takte Pausen in der Singstimme hinzugekommen nach dem Vers ‚erlöse die Seele von irdischer Haft‘ – und im Gretchen ein Takt mit Fermate am Schluß – Die zwei kleinen fermaten – (eigentlich nur colla parte’s) im Erlkönig sind im Orchester nur angemerkt um den Gesang gänzlich frei zu laßen. Fällt es Ihnen ein gar nicht zu ritardiren, so hat der Dirigent nur Ihnen zu folgen.“ Zit. ebd. Die angeblichen zusätzlichen Takte in Die junge Nonne sind jedoch bereits im Original enthalten (ebenso in Liszts Klaviertranskription).

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IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

Liszt, Gretchen am Spinnrade (Schubert), T. 1–471 72

Bayerische Staatsbibliothek München, Musikabteilung, Sign. 4 Mus.pr. 22140-2.

„Liederstammeln“ und „Orchestergesumme“ – orchestrierte Schubert-Lieder

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Im Jahre 1876 legte Liszt der Erfurter Kammersängerin Marie Breidenstein (1842– 1892), die zugleich seine Klavierschülerin war, das noch nicht „abgedroschene“ Lied der Mignon nahe: „‚Gretchen‘ und ‚Erlkönig‘ sind vielfach verbraucht und abgedroschen. Nicht so ganz gang und gäbe bleibt die ‚junge Nonne‘, und Mignon’s wunderbares Lied: ‚So lasst mich scheinen bis ich werde‘ ist kaum gehört – noch empfunden!“73

Es handelt sich um das einzige der vier orchestrierten Lieder, das nicht als Lisztsche Klaviertranskription vorliegt. Allerdings ergänzte er die Partitur durch ein als Orchester-Ersatz dienendes „Clavier-Arrangement“ (eine Art Klavierauszug). Durch seinen ruhigen Charakter und den Dur-Modus hebt sich das Lied der Mignon von den flankierenden dramatischen Balladen ab. Bezeichnenderweise senkte der Bearbeiter die originale Tonart H-Dur um einen Halbton nach B-Dur ab, wodurch sich die Nummer ins übergeordnete Terzgang-Gefüge einreiht. 1. 2. 3. 4.

Die junge Nonne Gretchen am Spinnrade Lied der Mignon Erlkönig

f-Moll d-Moll B-Dur g-Moll

Liszts Mignon-Fassung enthält mehrere kleine Zwischenspiele, die das Arrangement weniger atemlos erscheinen lassen als das Original.74 Die mit „schwebend“ überschriebene Einleitung wird von einem synkopierten Orgelpunkt der Hörner verschleiert und um drei Takte gedehnt. Ein solistisch hervortretendes Cello bekräftigt mit eindringlichem Echo der Melodie die Modulationen nach Des-Dur/des-Moll, wofür jeweils ein zusätzlicher Takt benötigt wird. In diesen beiden Schlüsselstellen schildert Goethe einerseits Mignons Vision ihrer „Auferstehung“, andererseits ihre schmerzliche innere Zerrissenheit, an der sie schließlich zugrunde geht. Zwischen der dritten und vierten Strophe finden sich zwei zusätzliche Instrumentaltakte, welche die Schilderung des Himmels einleiten (sehr ruhig). Den größten Eingriff stellen der Wechsel vom 3/4- zum 4/4-Takt und der neue Schluss dar. Durch die Takterweiterung um einen Viertelschlag entsteht nicht nur eine Atempause zwischen den unmittelbar aufeinanderfolgenden Versen „Vor Kummer altert’ ich zu frühe“ und „macht mich auf ewig wieder jung“, sondern auch eine pathetisch anmutende Dehnung des Wortes „ewig“. Abschließend lässt Liszt die Sängerin die letzte Zeile mit einer neuen, auf Schlusswirkung abzielenden Melodie wiederholen.

73 74

La Mara, Liszt’s Briefe, Bd. 2, S. 242. Liszt erwähnt diese Änderungen Marie Breidenstein gegenüber in seinem Brief vom 18. September 1876: „NB. Die Instrumentirung nöthigte mich zu ein paar kleinen Varianten in den vier Liedern Schubert’s: deswegen hat sich die Sängerin nach meiner Partitur-Ausgabe zu richten betreffs der Pausen und der sehr geringen Änderungen.“ Zit. ebd., S. 242 f.

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IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

Liszt, Lied der Mignon (Schubert), T. 52–5675 75

Bayerische Staatsbibliothek München, Musikabteilung, Sign. 4 Mus.pr. 22140-3.

„Liederstammeln“ und „Orchestergesumme“ – orchestrierte Schubert-Lieder

261

Selbst wenn dieser Ausklang Gefahr läuft, ins Plakativ-Banale abzugleiten, legt er doch eindringlich Zeugnis davon ab, wie Liszt dieses damals „kaum gehört[e] – noch empfundene“ Schubert-Lied auf ganz persönliche Art und Weise interpretierte. Berlioz’ Erlkönig-Adaption, die auf der freien französischen Übersetzung von Édouard Bouscatel basiert, entstand durch Anregung des mit ihm befreundeten Tenors Gustave-Hippolyte Roger (1815–1879). Die Uraufführung fand am 27. August 1860 in Baden-Baden mit Roger als Solist statt, noch im gleichen Jahr erschien die Partitur beim Pariser Verlag Onésime Legouix. Dass Liszt das Werk seines Komponisten-Kollegen zumindest zur Kenntnis genommen hatte, geht aus dem Brief an Emilie Genast vom 6. November 1860 hervor. Darin deutet der Verfasser an, dass er seine eigene Bearbeitung keineswegs gering einschätzte: „Von Berlioz ist auch eine Instrumentation des Erlkönigs kürzlich erschienen. Die beiden Stellen ‚du liebes Kind, komm geh mit mir‘ und ‚Willst feiner Knabe mit mir gehen‘ glaube ich nicht verdorben zu haben. Wenn Sie je diese Instrumentirung probiren empfehlen Sie blos den Dirigenten die Begleitung an beiden Stellen sehr ruhig zu halten.“76

Die beiden Erlkönig-Transkriptionen sind sehr unterschiedlich ausgefallen. Bei Berlioz liegt der Fokus auf der Dramatik, die, unterstützt durch Stimmenverdopplung, Verwendung langer Liegetöne in den Bläsern und markante Hervorhebung der motorischen Triolenbegleitung, sinfonische Klangfülle annimmt. Die impulsiven Anfangstakte erinnern an das Vorspiel zu Wagners Walküre, der darin seinerseits das berühmte Schubert-Lied modernisierend paraphrasiert hat. Dagegen wirkt Liszts Fassung mit ihren punktuellen instrumentalen Einwürfen schlanker und beweglicher. Die eröffnende Frage des Vaters, „Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht?“, demonstriert dies exemplarisch. Berlioz stellt dem Gesang ein Englischhorn zur Seite, das die Melodie parallel nachzeichnet. Liszt begleitet die Frage des besorgten Vaters hingegen mit gezupften Cellosaiten. Es scheint ihm ein besonderes Anliegen gewesen zu sein, das „Gemisch von Declamation und Gesang (den[n] der Erlkönig allein singt melodisch) wie es Schubert richtig empfunden und als Meisterwerk hingeschrieben“77 auch in der Orchesterfassung zu übermitteln. Entsprechend farbenprächtig sind die Schmeicheleien des Erlkönigs, die mit Harfenklängen, solistisch hervortretenden Bläsern und einer von den Streichern transparent aufgeteilten Triolenbegleitung angereichert sind.

76 77

Zit. in: Hamburger, „Liszts Briefe an Emilie Merian-Genast“, S. 383. Brief von Franz Liszt an Emilie Genast vom 8. November 1860, zit. ebd., S. 385 f.

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IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

Liszt, Erlkönig (Schubert), T. 55–59

„Liederstammeln“ und „Orchestergesumme“ – orchestrierte Schubert-Lieder

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Auch Berlioz’ Orchesterfassung ist weit mehr als eine bloße Übertragung. Dem Gesang des Erlkönigs fügt er neue, schmeichelnd sekundierende Kantilenen in den Violinen hinzu. Zudem begleitet er die Personifizierung des Todes mit tiefen Streicher-Pizzicati und nachschlagenden Triolenachteln in den Holzbläsern. Allein schon vom Notenbild her präsentiert sich sein lockender Erlkönig als klanglich homogenere Version:

Berlioz, Erlkönig (Schubert), T. 55–5978

Liszts Vier Lieder von Franz Schubert erschienen erst elf Jahre nach ihrer Entstehung im Druck. In der Zwischenzeit hatte Emilie Genast den Basler Notar und Direktor der Basler Versicherungs-Gesellschaft Emil Merian (1827–1873)79 geheiratet. Nach fünf Jahren in Basel übersiedelte das Paar nach Weimar, wo sich ihr Haus als ein Treffpunkt für Künstler etablierte.80 Dass die Freundschaft zwischen dem 78 79 80

Mit freundlicher Genehmigung durch den Bärenreiter-Verlag. Emil Merian starb nach nur zehn Ehejahren an einem unheilbaren Rückenleiden. Zu den weiteren biografischen Ausführungen siehe Hamburger, „Liszts Briefe an Emilie Merian-Genast“ und La Mara, „Emilie Merian-Genast“, S. 205–220. In ihrem Salon verkehrten neben Liszt und Wagner Künstler wie Tausig, Saint-Saëns, Rubinstein, Pauline und Louis Viardot, Iwan Turgenjew und Joachim Raff (dessen Frau, die Schauspielerin Doris Genast, war Emilies Schwester).

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IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

berühmten Pianisten und der renommierten Sängerin durch die Heirat nicht getrübt wurde, belegt die Widmung der Orchesterlieder, die Liszt mit folgenden Zeilen begleitete: „Mittlerweile erlaubte ich mir etwas drucken zu lassen, und bitte Sie, die Widmung der orchestrirten Schubert’schen Lieder gnädig aufzunehmen. So wie an meinem ganzen Liederstammeln, tragen Sie auch die meiste Schuld an diesem Orchestergesumme. Verzeihen Sie gütigst meiner Ungeschicklichkeit, Ihrem lyrischen Genius, der mich fortdauernd innig anwandelt, nichts Würdigeres darzubieten.“81

ALLEGRO TRIONFANTE – SCHUBERTS MÄRSCHE IN LISZTSCHER MANIER Schuberts vierhändige Märsche und Tänze waren von ihrem ersten Erscheinen an beliebte Vorlagen für Bearbeitungen in verschiedenen Besetzungen.82 Auch Franz Liszt beschäftigte sich mit dem Marsch als Kunstgattung, wie er ihn bei Schubert vorfand. Im Jahre 1846 gab er bei Richault eine Serie von drei zweihändigen Schubert-Märschen für Soloklavier heraus, die 1847 auch bei Diabelli in Wien erschien (Franz Schuberts Märsche S 426).83 In diesen Transkriptionen aus seiner Virtuosenzeit weicht Liszt teilweise erheblich vom Originaltext ab. Noch in späteren Jahren war seine Begeisterung für Schuberts Märsche ungebrochen, wovon die 1859– 60 entstandenen und um den Mittelsatz des Divertissement à l’hongroise zu vier Märschen erweiterten Orchesterarrangements zeugen.84 Dass Liszt aus seinen Orchesterübertragungen nachträglich eine Fassung für Klavier zu vier Händen extrahierte, liefert ein weiteres Beispiel seiner schier unerschöpflichen kreativen Schaffensfreude.85 Die Orchesterpartituren wurden erst ein gutes Jahrzehnt nach ihrer Entstehung von Adolph Fürstner in Berlin verlegt. Grund für diese Verzögerung war die Weige81 82

83

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Brief von Franz Liszt an Emilie Merian-Genast vom Oktober 1871 aus Rom, zit. in: La Mara, Liszt’s Briefe, Bd. 8, S. 233 f. Anonyme Klaviertranskriptionen wie etwa die 1826 bei Anton Pennauer in Wien erschienenen Fassungen der Märsche D 859 für Klavier zu zwei Händen waren zu Schuberts Zeit üblich und wurden möglicherweise mit Billigung des Komponisten veröffentlicht. Auch Arrangements für Harmonie-Musik und sogar eine freie Bearbeitung lassen sich bereits zu Schuberts Lebzeiten nachweisen. Vgl. dazu NSA, VII, Bd. 1/4, S. IX. Die Titel der Richault-Ausgabe lauten: Grande marche funèbre de François Schubert, Grande marche de Fr. Schubert op. 40 und Grande marche caractéristique de François Schubert op. 121. Die Diabelli-Edition betitelt nur die erste Nummer mit Trauermarsch. Zur Datierung vgl. den Anhang dieser Arbeit, S. 315. Zum orchestrierten Ungarischen Marsch vgl. ebd., S. 218 f. In einem Brief vom 9. Oktober 1870 schrieb Liszt an Gottschalg: „Wenn es Fürstner genehm ist, transcribire ich gerne später, bei Durchsicht der Correcturen von der Partitur, die 4 Märsche 2 oder vierhändig und schike ihm dies neue arrangement nebst den revidirten Correcturen.“ Zit. in: Carl Alfred René (Hg.), Franz Liszt in Weimar und seine letzten Lebensjahre. Erinnerungen und Tagebuchnotizen von A. W. Gottschalg, Berlin 1910, S. 94. Die vierhändige Transkription wurde tatsächlich bei Fürstner realisiert (vgl. dazu das Exemplar in der Staatsbibliothek zu Berlin, Sign. Mus. 12421).

„Liederstammeln“ und „Orchestergesumme“ – orchestrierte Schubert-Lieder

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rung von Diabellis Nachfolger Spina, der als Verleger die Publikationsrechte für Liszts Schubert-Märsche innehatte.86 Im Vorfeld dieser Veröffentlichung unterzog Liszt die einzelnen Stimmen nochmals einer gründlichen Revision.87 Am 9. Oktober 1870 schrieb er seinem Freund Alexander Wilhelm Gottschalg (1827–1908), seines Zeichens Kantor, Organist und Komponist, folgende Zeilen: „Die Revision der instrumentierten 4 Schubert’schen Märsche verlangte einige Tage Arbeit. Nun denke ich daß der Verleger und das Publikum damit zufrieden sein können. Es sind wirklich belebte, geistvolle, kernige und glänzende Musikstücke.“88

Der Verfasser hält als ersten für die Abschrift zu beachtenden Punkt fest, dass alle „mit Ziffern oder Buchstaben und Bis bezeichneten Wiederholungen überall in Noten aus[zu]schreiben, und nur die Wiederholungen der ganzen 1ten und 2ten Theile der Märsche wie im Manuscript, mit Repetitions Zeichen an[zu]geben“ seien.89 Ausgeschriebene Wiederholungen sind in Liszts Marschbearbeitungen wichtig, denn wie in den Liedern nutzt er auch hier die wiederkehrenden Formteile zur Variation. Gelegentlich nimmt er sich sogar die Freiheit, manche Repetitionen ganz auszusparen und umgeht dadurch das bisweilen stereotyp anmutende originale Formschema mit seinem dreiteiligen Muster mit ternärer Binnenstruktur: Marcia ( a   b a’) – Trio ( c   d c’ ) – Marcia da Capo. Eine weitere Parallele zu Liszts Liedtranskriptionen bilden auch hier die Zusätze des Bearbeiters. Sie finden sich hauptsächlich unmittelbar vor dem Wiedereintritt der Marcia und am Ende in Form einer oftmals ausgiebigen thematischen Coda in Dur bei maximaler Lautstärke. Solche Apotheosen repräsentieren in Liszts Œuvre einen Archetyp, der mit „per aspera ad astra“ charakterisiert werden könnte.90 Gerade in den Sinfonischen Dichtungen lässt sich der Weg von der Finsternis zum Licht besonders anschaulich nachvollziehen. Trauermarsch mit und ohne Apotheose Die von Liszt mit Trauermarsch betitelte Bearbeitung geht auf die Nummer 5 der Six grandes marches op. 40 (D 819) von Schubert zurück. Der Name ist Programm: Gleich zu Beginn der mit Andante mesto bezeichneten Marcia stellt die überkreuzende rechte Hand im Bassregister die schreitende Bewegung des Trauerzuges dar. In der ersten Reprise des Themas verbinden Trillerketten die einzelnen „Schritte“,

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Vgl. dazu Mária Eckhardt, Liszt’s Music Manuscripts in the National Széchényi Library (=Studies in central and eastern european music 2), Budapest 1986, S. 146. „Die Partituren der Schubert’schen Märsche muß ich noch sorgfältig revidiren bevor sie dem Stich zu übergeben. Schiken sie mir sofort das Manuscript und sagen Sie Fürstner meinen Dank für das empfangene Schreiben und Honorar.“ Brief von Franz Liszt an Alexander Wilhelm Gottschalg vom 16. September 1870, zit. in: René, Franz Liszt in Weimar, S. 92. Zit. ebd., S. 93. Ebd. Vgl. dazu Gernot Gruber, „Zum Formproblem in Liszts Orchesterwerken – exemplifiziert am ersten Satz der Faust-Symphonie“, in: Wolfgang Suppan (Hg.), Liszt-Studien I, Kongreß-Bericht Eisenstadt 1975, Graz 1977, S. 81–96.

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IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

deren Vibrato eine emotionale Erschütterung auszudrücken scheint.91 Auch die Streicher versehen diese Passage mit Trillern und Tremoli, womit sie die von den Bläsern ausgeführte Melodie fleblile, dolente und gemendo untermalen. Obwohl die Klavierübertragung nur für einen Pianisten geschrieben ist, wirkt sie durch den Einbezug aller Register stellenweise „vierhändiger“ als Schuberts Vorlage. In der Orchesterversion sorgen die verschiedenen Instrumentengruppen mit ihrer spezifischen Färbung für ein klangliches Relief. Den Hörnern kommt eine Signalwirkung zu, die bereits in Liszts viertaktiger Einleitung den Ton angibt. Darin wird der punktierte Themen-Rhythmus durch Gegenüberstellung von Hörnern, Fagotten und Kontrabass-Pizzicati exponiert.92 Den charakteristischen Klang der gezupften Saiten setzt der Bearbeiter auch weiterhin ein. Tiefe Streicher-Pizzicati führen zunächst das „Schreitmotiv“ aus und lassen den b-Teil gemeinsam mit den geteilten Violinen als kleine Serenade erklingen. Dass die einzelnen Instrumente auch immer wieder solistisch hervortreten – wie beispielsweise das Fagott nach einer originären Lisztschen Idee in den Takten 80 ff. (dolente) – erhöht die Farbigkeit des Arrangements. Mit der Ausführung der Triomelodie, die vom Pianisten ausdrucksvoll con intimo sentimento und mit überkreuzten Händen gespielt werden soll, betraut Liszt die warm tönenden Violoncelli. Diese Kantilene (molto espressivo lagrimoso) wird wiederum von einer gezupften Begleitung umrahmt. Danach wandert das Thema weiter in die Violinen und von dort in die Bläserstimmen. Das Verfahren, die Melodie in Mittelstimme anheben und später in die hohe Lage aufsteigen zu lassen, ist ebenfalls ein Stilmerkmal von Liszts Liedtranskriptionen.

Liszt, Trauermarsch (Schubert), T. 87–91 (Trio-Thema)

91 92

Vgl. dazu das Notenbeispiel in dieser Arbeit, S. 267. Vgl. auch den Beginn des Ungarischen Marsches ebd., S. 218.

Allegro trionfante – Schuberts Märsche in Lisztscher Manier

267

Liszt, Trauermarsch, T. 101–105 (Trio-Thema)

In beiden Bearbeitungen erscheint die Wiederholung des Trio-Themas (armonioso) als Variation, wobei sich die Klaviervariante verspielter und virtuoser zeigt. Die Triolenläufe der Flötenstimme scheinen geradezu vom Lisztschen Klaviersatz beeinflusst. Da sowohl das variative Element wie auch das Mittel der klanglich differenzierenden Instrumentation bereits ausgereizt sind, entfällt die zweite Wiederholung im Trio. An deren Stelle tritt als Übergang zum Da Capo eine typisch Lisztsche Klavierkadenz auf dem Dominantseptimenakkord mit mollgetrübter None.

Liszt, Trauermarsch, T. 150–154 (Übergang zum Da Capo)

Der entsprechende Übergang in der Orchesterfassung ist zwar weniger spektakulär, enthält dafür jedoch eine Zusammenhang stiftende Komponente. Dem verminderten Septimenakkord D-F-As-Ces, der im Wechsel mit dem B der Pauke zweimal ertönt, schließt sich ein absteigender Tonleitergang mit übermäßiger Sekunde an.

268

IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

Dieses charakteristische Unisono mit „ungarischem“ Anklang stellte bereits in der Marcia den Übergang zum a’-Teil her.93

Liszt, Trauermarsch, T. 166–172 (Übergang zum Da Capo) 93

Auch in Liszts Orchester-Arrangement des Ungarischen Marsches kommt die übermäßige Sekunde prominent zum Einsatz. Siehe ebd., S. 221 sowie Eckhardt, „Liszts Bearbeitungen von Schuberts Märschen“, S. 144.

Allegro trionfante – Schuberts Märsche in Lisztscher Manier

269

Im Da capo der Klavierversion werden lediglich die a’-Takte mit überkreuzenden Händen und Trillern zitiert, die in ein an die Wanderer-Transkription gemahnendes Tremolo übergehen und in eine Codetta mit strahlendem Es-Dur-Schluss münden. Zwar endet die spätere Orchesterfassung ebenfalls in Dur, setzt aber, eines Trauermarsches würdig, auf leise Töne, die in zwei pp gespielten Paukenschlägen verebben. Grande marche mit weitergedichtetem Trio Liszts Grande marche geht auf die dritte Nummer der Six grandes marches op. 40 (D 819) zurück. Seine energische Interpretation der im Jahre 1846 noch mit Allegretto fuocoso bezeichneten Marcia ist sowohl in der Klavier- wie auch in der Orchesterfassung von Beginn an mit verspielten Vorschlagnoten versehen, wobei die auffälligen triolischen Einwürfe des Piccolos (Takt 29 ff.) den feurigen Charakter noch verstärken.

Liszt, Grande marche (Schubert), T. 1–12

270

IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

Liszt, Grande marche, T. 1–5

Der Übergang zum Trio birgt eine Besonderheit: Liszt erweitert ihn auf acht anstelle von vier Takten und zelebriert den H-Dur-Akkord in einem Bläsersatz mit Hörnern, Trompeten, Tenorposaunen sowie mit Unterstützung von Holzbläsern und Pauke. Der Hinweis quasi Trombi in der Klaviertranskription zeigt, dass er sich schon um 1846 eine ähnliche Klangwirkung vorgestellt hatte. Im Trio kehrt in beiden Bearbeitungen vorerst etwas Ruhe ein – più moderato tempo rubato und dolce con intimo sentimento heißt es in der Klavierfassung, un poco meno allegro im Orchestertrio. Letzteres wird zunächst wieder von den Violoncelli angeführt (cantando espressivo). Die erste Wiederholung nutzt Liszt auch hier zur Variation: Die Klaviermelodie erklingt, flankiert von Arpeggien und Akkorden,

Allegro trionfante – Schuberts Märsche in Lisztscher Manier

271

um eine Oktave erhöht (dol. armonioso), was in der Themen-Fortführung durch die Violinen eine orchestrale Entsprechung findet. Im zweiten Trio-Abschnitt werden Schuberts massive Akkorde von wirkungsvollem Laufwerk eingefasst. Eine vergleichbare Expressivität zeigt sich auch im späteren Orchesterarrangement, wo die Streichergruppe aufsteigende Sextolen aus Sechzehnteln spielt. Anstatt direkt in die Reprise der Marcia zu leiten, zitiert Liszt im Klavierarrangement überraschend das Trio der Grande marche funèbre op. 55 (D 859).94 Ein kunstvolles Bindeglied vermittelt durch enharmonische Verwechslung nicht nur zwischen den im Quintenzirkel weit voneinander entfernten Tonarten H-Dur und As-Dur (der Terzton Dis wird zum neuen Quintton Es umgedeutet), sondern führt mit einer Trompetenfanfare auch den prägnanten Rhythmus des neuen Trios ein. Dieser mit Andante sostenuto, solenne überschriebene Einschub fehlt im späteren Orchesterwerk.

Liszt, Grande marche, T. 212–226

Dadurch, dass Liszt beim Scharnier zwischen dem Ende des regulären Trios und dem Da capo thematisch abweichendes Material einfügt, stellt sich nicht nur eine „Multiplikation des Trio-Abschnittes“95 ein, sondern auch ein poetisches Weiterdichten im Stil des Lisztschen Fischermädchens. Tatsächlich erinnert das feierliche Andante an eine Liedbearbeitung aus der Feder des Klaviervirtuosen: ben marcato 94

95

Der Trauermarsch wurde anlässlich des Todes des Zaren Alexanders I. veröffentlicht. Alexander I., der während des Wiener Kongresses in der Donaumetropole populär geworden war, starb am 1. Dezember 1825. Es ist allerdings nicht gesichert, ob Schubert den Marsch tatsächlich auf dieses Ereignis hin komponierte. Vgl. dazu NSA, VII, Bd. 1/4, S. XI. Eckhardt, „Liszts Bearbeitungen von Schuberts Märschen“, S. 142.

272

IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

la melodia und l’accompagnamento sempre p e quieto sind Anweisungen, die in fast jedem Lisztschen Schubert-Lied erscheinen. Obwohl der Bearbeiter später auf eine Orchestrierung dieses Trios verzichtet, deutet insbesondere der zweite Teil auf den orchestralen Klang hin, den Liszt dem Konzertflügel entlocken wollte. Zwölf Takte lang ist die Musik auf drei Systemen notiert: Schuberts zweiter Klavierpart wird aufgefächert und sein fanfarenartiger Triolen-Rhythmus glockenartig ins hohe Register gesetzt, während die Primo-Stimme in die Mittellage eingebettet ist. Die Anweisungen quasi Timpani und sempre vibrato könnten nicht deutlicher vom Versuch der klanglichen Annäherung an das Orchester sprechen. Der prägnante Marsch-Rhythmus verdichtet sich mit zunehmendem Crescendo zu Akkorden in beiden Händen. Nach erreichtem Höhepunkt (sempre ff energico) beginnt die Musik zu verklingen, als ob sich die Militärkapelle allmählich entfernte. Am Ende bleibt nur noch das Fanfaren-Motiv übrig, das den Übergang zurück in die Marcia da Capo einleitet. Nach diesem Exkurs sind Klavier- und Orchesterarrangement wieder am selben Punkt angelangt. Doch auch in der Orchesteradaption ließ sich Liszt zu eigener Ausdeutung inspirieren. Sein Da Capo folgt keineswegs dem vorgegebenen Muster: Die Reprise setzt nicht mit dem Anfang der Marcia, sondern gleich mit dem b-Teil ein, der sich zudem in der falschen Tonart C-Dur präsentiert. Dafür bedurfte es eines Übergangs in Schuberts Takt 41. Liszt erhöht hier das im Marsch-Rhythmus repetierte Fis um einen Halbton nach G und erklärt dieses zur Dominante der neuen Tonart. Erst sechzehn Takte später kehrt die Ausgangstonart h-Moll zurück, wobei die Hörner durch den Terzgang Es-G ihres repetitiven Fanfaren-Motivs die Brücke hin zum Leitton Ais der Holzbläser schlagen. Für Verwirrung sorgt das nochmalige Zitieren des Trio-c’-Teils: Das Thema hebt in Es-Dur in einem Streichersatz an, wird jedoch bereits nach drei Takten modulierend fortgeführt und kulminiert in einem triumphalen H-Dur-Schluss, bei dem nun erstmals das Becken zum Einsatz kommt. In der Reprise des Klaviermarsches setzt nach der Wiederkehr des a- und bTeils der Marcia anstelle von a’ eine klanggewaltige Coda in H-Dur ein (Allegro trionfante). In den jeweiligen Spitzentönen der von beiden Händen im Wechsel ausgeführten aufsteigenden Akkorde verbirgt sich die kaum wieder zu erkennende Melodie des Trauermarsch-Trios.

Liszt, Grande marche, T. 350–353

Allegro trionfante – Schuberts Märsche in Lisztscher Manier

273

Auch den Schluss des Trios aus dem h-Moll-Marsch (c’) zitiert Liszt nochmals (più moderato sempre ff giubiloso). Durch den volltönenden Satz und die Sextolenfigur der linken Hand hat er sich jedoch ebenfalls weit vom originalen Schubert-Thema entfernt. Reiter-Marsch als kunstvolles Klavier-Potpourri Zwar trägt Richaults Erstdruck die Überschrift Grande marche caractéristique de François Schubert, doch ist diese Bezeichnung nicht ganz korrekt. Liszt beruft sich in seiner Klavierbearbeitung auf nicht weniger als vier verschiedene Vorlagen aus zwei Marsch-Zyklen. Ein vergleichbarer „Potpourri-Charakter“ findet sich sonst nur in den Soirées de Vienne.96 Der Untertitel Reiter-Marsch geht auf die spätere Orchesterbearbeitung zurück. Die Takte 1–177 (Marcia und Trio) transkribieren die erste Nummer der Deux marches caractéristiques op. post. 121 (D 886). Besonders das Trio trägt Liszts Handschrift: Schuberts wiegender 6/8-Takt wird zum serenadenhaften Siciliano mit neuem Taktgefüge umgedeutet.

Liszt, Grande marche caractéristique (Schubert), T. 127–138

Harfenartig gestaltet sich der Wiedereintritt des Trio-Themas (c’) mit Verschiebungs-Pedal und Arpeggien in der linken Hand (sentimentale). Fünf Takte vor Schluss bricht Liszt auf dem E-Dur-Septimenakkord ab, worauf – analog zur Grande marche – ein weiteres Trio folgt. Diesmal bedient er sich des Mittelteils von Schuberts Folgenummer op. 121 Nr. 2, der ebenfalls in a-Moll und im selben tänzerischen Rhythmus komponiert ist, und versieht ihn mit spielerischen Pralltrillern.

96

Vgl. diese Arbeit, S. 178 ff.

274

IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

Liszt, Grande marche caractéristique, T. 174–183

Dem zweiten Trio schließt sich eine Coda mit dem Material des ersten Trios an, allerdings in d-Moll und über dem Dominant-Orgelpunkt A. Doch das Da Capo lässt weiterhin auf sich warten: Anstatt nun den Beginn von op. 121 Nr. 1 zu zitieren, greift Liszt auf die Marcia der Six grandes marches op. 40 Nr. 2 zurück. Um Trioschluss und Marschreprise in ein Terzverhältnis zu bringen, senkt er die ursprüngliche Tonart g-Moll um einen Halbton nach fis-Moll. Mit diesem Einschub geht auch erstmals ein Taktwechsel vom 6/8- zum 4/4-Takt einher. Dass sich daran ein weiteres Trio – mittlerweile das dritte – anschließt, ist nur folgerichtig. Dazu bedient sich Liszt des Mittelteils aus op. 40 Nr. 1, den er von As- nach Fis-Dur transponiert und volltönend ausschmückt (brillante, brioso). Nach der Wiederholung des zweiten Teils folgt eine virtuose Überleitung (vivacissimo, tumultoso con strepito), die nicht nur die pulsierenden Achtel des Anfangsmotivs wieder aufgreift, sondern auch den Tritonusabstand zwischen Fis-Dur und der Ausgangstonart CDur überbrückt. Das verkürzte Da Capo tritt mit stürmischer fff-Einleitung ein und zitiert hauptsächlich den a’-Teil. Nach rund 30 Takten wird die Marcia sequenzierend in eine klangvolle Apotheose in C-Dur geführt (tutta forza e tutto fuoco). In dieser wiederum mit Allegro trionfante bezeichneten Coda verfremdet der Bearbeiter das Trio-Thema aus op. 40 Nr. 1 und vollzieht einen erneuten Wechsel zum 4/4-Takt. Nach nur sieben Takten mit Trio-Anklängen wechselt das Taktmaß zurück zum ternären Puls. Die pochenden Achtel leiten in atemberaubendem Tempo (vivacissimo) hin zu einem fulminanten Schluss, dem der unmittelbare Publikumsapplaus gewiss ist.

Allegro trionfante – Schuberts Märsche in Lisztscher Manier

Liszt, Grande marche caractéristique, T. 368–386

275

276

IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über Liszts achtteilige Neuordnung: Marcia Trio Trio Coda Allegro Andantino un poco vivace con siciliano più mosso brio

Marcia Allegro ma non troppo

Trio Un poco meno mosso & Überl. vivacissimo

Marcia da Capo Prestissimo

Coda Allegro trionfantevivacissimo

op. 121/1

op. 121/1

op. 121/2

Trio op. 121/1

op. 40/2

op. 40/1

op. 121/1

Trio op. 40/1

C-Dur

a-Moll

a-Moll

OP A

fis-Moll

Fis-Dur

C-Dur

C-Dur

Liszts Reiter-Marsch ist keine Aneinanderreihung verschiedener Puzzleteile, sondern eine wohl überlegte Verknüpfung ausgewählter Passagen, die durch kunstvolle Übergänge und planvolle Harmonik miteinander in Beziehung gebracht werden. Der Bearbeiter führt das Schubertsche Terzverhältnis zwischen Marcia und Trio im zweiten (gespiegelten) Trio-Marcia-Glied (a-Moll/fis-Moll) fort. An der Stelle, wo die Grundtonart längst überfällig ist, signalisiert fis-Moll gleichzeitig auch weitest mögliche Entfernung zu C-Dur. Im Gegensatz zur fantasievollen Klaviertranskription orientiert sich Liszts spätere Orchesterfassung deutlich näher am Original. Die zahlreichen klanglichen Nuancen in der Instrumentation verraten jedoch auch hier die Handschrift des Bearbeiters und das Musikverständnis der Generation nach Schubert. Die auffälligen Einwürfe des Piccolos beispielsweise, die in Form von Rouladen auch von den anderen Instrumenten imitiert werden, fügen dem Marsch ein ganz spezifisches Kolorit bei (siehe Notenbeispiel auf der nächsten Seite). Die Trio-Melodie wird fast ausschließlich von solistisch hervortretenden Blasinstrumenten vorgetragen. Zunächst erschallt sie mit verlängertem Auftakt im Horn und geht nach acht Takten in die Solo-Oboe über. Hier verfährt Liszt wie in der Klavierversion: Statt Schuberts Melodie fortzusetzen, wiederholt er unmittelbar den ersten Achttakter. Anschließend wechseln sich Flöte und Klarinette mit ihren Themeneinwürfen ab. Wo die Klaviertranskription abbricht, hebt in den Streichern ein Tremolo über dem Orgelpunkt A an, über dem der Themenkopf dreimal fragend auf Cis endet. Fast unmerklich setzt die treibende Achtelbewegung der Marcia ein, die innerhalb von zwölf Takten auf das Anfangstempo beschleunigt wird. In dieser Überleitung lenkt Liszt die Harmonien von A-Dur in den übermäßigen Quintsextakkord Fis-AsC-Es um, die Doppeldominante von C-Dur. Die Auflösung in die Dominante entfällt zugunsten einer eintaktigen Generalpause, wonach die Reprise einsetzt. Singulär in Liszts Marschbearbeitungen erscheint das Da Capo, der eigentlichen Formidee folgend, als unausgeschriebene Wiederholung des Anfangs.

Allegro trionfante – Schuberts Märsche in Lisztscher Manier

Liszt, Reiter-Marsch, T. 40–48

277

278

IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

Zusammenfassend zeichnet sich der in den Märschen applizierte Bearbeitungsmodus in erster Linie durch Umgehung der starren Formschablone aus. Liszt nimmt sich die Freiheit, seine Wiederholungen zu variieren oder gegebenenfalls ganz auf sie zu verzichten. Abweichungen finden sich meist in Form freier Erweiterungen des Trios vor dem Da Capo und neuer Schlüsse mit wuchtigen Apotheosen. In Letzteren klingt stets die Melodie des Trios nochmals an – im Falle des h-Moll-Marsches sogar die Themen beider Trios. Dieses Zitat durchläuft jedoch eine derartige Veränderung, dass es kaum mehr zu erkennen ist. In den Klavierfassungen reizt Liszt viele orchestrale Effekte aus, die bei Schubert bereits latent vorhanden sind. Im Vergleich zu den stellenweise etwas derb anmutenden Orchestermärschen erweisen sich die Transkriptionen von 1846 als kühner und differenzierter. Liszt und Tausig: Marche militaire von Lehrer und Schüler im Vergleich In der Library of Congress in Washington wurde gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein Militär-Marsch (Marche militaire) von Liszt in einer Ausgabe von Kunkel Brothers St. Louis Missouri aus dem Jahre 1907 wiederentdeckt und vom Pianisten Leslie Howard eingespielt.97 Zur Entstehung dieser Transkription über die berühmte erste Nummer von Schuberts Trois marches militaires für Klavier zu vier Händen op. 51 (D 733) ist bislang nichts bekannt. In den zeitgenössischen Katalogen und Schriften findet sich kein Hinweis auf eine Veröffentlichung zu Liszts Lebzeiten. Margit Prahàcs entdeckte jedoch ein Dokument, das darauf schließen lässt, dass Liszt sein Arrangement gegen Ende seines Lebens vorgetragen hat. Die Komposition soll anlässlich seines letzten Konzertes im April 1885 im ungarischen Kalocsa für Kardinal Lajos Haynald erklungen sein: „Das Programm setzte sich aus den Lieblingsstücken des Kardinals zusammen: Mozart g-moll Streichquintett (KV 516), Liszt spielte Rossini: Caritas, Schubert: Divertissement hongrois und Marche militaire und schließlich die Ungarische Rhapsodie ‚Die Kraniche schweben hoch in den Lüften‘ […].“98

Während die Existenz von Liszts Transkription bis heute noch nicht ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen ist, erfreut sich die Bearbeitung seines Schülers Carl Tausig (1841–1871) großer Beliebtheit. Tausig widmete seinen 186899 von Bartholf Senff in Leipzig herausgebrachten Militär-Marsch Hans von Bülow, der damals Hofkapellmeister in München war. Aus demselben Jahr stammt ein Arrangement von Bülow über Beethovens Militär-Marsch für Orchester WoO 24, das ebenfalls bei Senff erschien und mit der Widmung „Herrn Carl Tausig / Königl. preuss. Hofpianist“ versehen ist. Tausig starb 1871 im Alter von nicht einmal dreißig Jahren an Typhus-Fieber. In seinem Nachruf lobte Liszt die Schubert-Transkription seines Schülers explizit:

97 98 99

Howard datiert die Transkription auf ca. 1870. Vgl. dazu den Booklet-Text von 1995 zur Hyperion-CD von Leslie Howard, Liszt. The Schubert Transcriptions II, S. 22. Vgl. dazu Prahács, Briefe aus ungarischen Sammlungen, S. 281 sowie die Anmerkung S. 445. Zur Datierung siehe Otto Erich Deutsch, Musikverlags Nummern, Berlin 1961, S. 25.

279

Allegro trionfante – Schuberts Märsche in Lisztscher Manier

„Von den Herausgaben Tausig’s wären hauptsächlich mit vollstem Lob zu betonen seine meisterhaften Bearbeitungen der Beethoven’schen Quartetten, der Toccata und Fuge von Bach (D moll), des Marschs von Schubert, […] die ‚Nouvelles Soirées de Vienne‘[…].“100

Es ist schwierig festzustellen, ob Liszts Arrangement als Vorbild für Tausigs Fassung diente, oder ob der Lehrer erst durch das Werk seines Schülers zur Bearbeitung animiert wurde. Ein Vergleich zwischen beiden Kompositionen deckt jedenfalls frappierende Ähnlichkeiten auf. Zunächst fällt auf, dass beide Versionen einen Halbton tiefer in Des-Dur statt originalem D-Dur notiert sind. Erste Unterschiede und Eigenheiten im individuellen Bearbeitungsstil zeigen sich ebenfalls bereits in den Eröffnungstakten. Liszts Fassung ist mit Tempo di Marcia bezeichnet und beginnt mit Einbezug des una corda-Pedals im ppp. Die Sechzehntel-Repetitionen der linken Hand umgeht der Bearbeiter elegant, indem er die beiden Oktavnoten nicht miteinander, sondern nacheinander notiert. Tausigs Version versucht, die beiden Parts des vierhändigen Originals zu vereinbaren, was zu sperrigen Akkord-Repetitionen in der linken Hand und – trotz pp – zu größerem Klangvolumen führt.

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Tempo di Marcia q = 108

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Liszt, Marche militaire (Schubert), T. 1–11101

100 Brief von Franz Liszt an Marie Lipsius vom 23. Juli 1871, zit. in: La Mara, Liszt’s Briefe, Bd. 2, S. 168. 101 Die Notenbeispiele zu Liszts Marche militaire wurden nach Vorlage des Exemplars in der Petrucci Music Library neu gesetzt. Siehe dazu http://hz.imslp.info/files/imglnks/usimg/8/81/ IMSLP75267-PMLP23461-Liszt_-_S426a_Marche_Militaire_(Kunkel).pdf, Stand November 2018. Nach Mitteilung der Library of Congress ist das Exemplar nicht mehr auffindbar (Stand Februar 2018).

280

IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

Tausig, Militär-Marsch (Schubert), T. 1–11

Auch in den zum ersten Zwischenteil überleitenden Fanfaren lässt sich eine Gemeinsamkeit erkennen. In ähnlicher Machart nutzen beide Pianisten hohe und mittlere Register im Wechsel, um starre Repetitionen zu umgehen. Von Schuberts Takt 31 an erscheint bei Tausig eine neue Figur aus aufsteigenden Sechzehnteln in Zweierbindung, die Dreiklänge nachzeichnet. Anstelle von Marsch-Rhythmen wählt Liszt für seine Wiederholung des Mittelteils Triolen mit in Daumenlage eingelassener Melodie. Innerhalb der Marcia lässt sich demonstrieren, wie frei sowohl Lehrer wie Schüler mit Schuberts dynamischen Vorgaben umgehen. Wo das Original leise Töne verwendet, steigern die beiden Virtuosen ihre Konzertparaphrase bis hin zu ff pomposo bzw. fff brioso (mit einem neuen Kontrapunkt in der linken Hand bei Tausig). Frappierende Übereinstimmung herrscht auch beim Übergang zum Trio: Beide Versionen sind auf sieben Takte erweitert und bedienen sich als Beigabe für den Dominantklang As-Dur einer auffälligen Dissonanz, die sich durch das gleichzeitige Anschlagen der Töne G und Ges hörbar macht. Danach gipfelt die Passage in einer virtuosen Brechung des Des-Dur-Akkordes, die in vier überleitende DesOktavschläge mündet:

281

Allegro trionfante – Schuberts Märsche in Lisztscher Manier The two notes, G§ and Gb, are struck simultaneously “” œ œ œ œ œœ œ œ œ œ œ bb œœ œ œœœ œ œ nœœØ œ œœœ œœ œœœ & b b b œœœ œœœ œ œ œ œ œJ œ œ nœœØ b b œ œJ ‰ œJ ‰ œ œ œ ff f j j œ ‰ œ nœœØ œ nœœØ b œ œ œœ œ b œ ? bb b ‰ œœ j j bb œ œ œ œ ‰ ‰ ‰ ‰ J ‰ œœ œ œœ J œ œJ œ œ œ œ

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Liszt, Marche militaire, T. 115–123 (Übergang zum Trio)

Tausig, Militär-Marsch, T. 108–123

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282

IX Kapellmeister Liszts orchestraler Zugang zu Schubert

Im Trio lehnen sich die Paraphrasen ebenfalls deutlich aneinander an. Un poco più tranquillo steht in beiden Arrangements geschrieben, bei Liszt noch durch das Verschiebungspedal abdämpft. Beide Melodielinien sind mit auf- und absteigenden Triolen angefüllt, wobei die Lisztschen ohne Positionsänderung bequemer ausführbar sind. Während Tausig die jeweils vier repetierten Melodietöne durch Terzen betont, akzentuiert Liszt den Bass, den er (wie sein Schüler) zum aufsteigenden Ges-Dur-Akkord abwandelt. Un poco più tranquillo

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Liszt, Marche militaire, T. 124–127

Tausig, Militär-Marsch, T. 124–126

Kurz vor der ersten Wiederholung sind neckische Zweiunddreißigstel, gefolgt von einer Sechzehntelpause, zu hören. Tausig variiert diesen Schluss in seiner Wiederholung, die er im Gegensatz zu Liszt ausschreibt, durch verspielte Triller. Diese Trillerketten prägen den weiteren Verlauf seiner technisch anspruchsvollen Bearbeitung. Liszt gewährt der rechten Hand durch wechselweisen Einsatz von Triolenfigur und Achtel mehr tänzerische Leichtigkeit.

Allegro trionfante – Schuberts Märsche in Lisztscher Manier

283

Die verblüffende Ähnlichkeit der Akkordfolgen des Schlusses lässt keine Zweifel mehr offen, dass sich eine der beiden Transkriptionen direkt auf die andere bezieht. Ab Schuberts Takt 55 modulieren sie in viertaktiger Themenabspaltung durch die harmonischen Stationen Des-Dur und Ges-Dur nach es-Moll. Die anschließende Orgelpunkt-Passage über As mündet bei beiden Pianisten nach einer virtuosen Diminution der Melodie in rauschende Oktavgänge, die in Liszts Fall in einem con anima aus aufsteigenden, den Des-Dur-Klang zelebrierenden Triolen enden. Im Vergleich zu Tausigs schwierig auszuführender Bearbeitung mit ihren weiten Sprüngen und dem vollgriffigen Akkordsatz präsentiert sich Liszts elegantleichtfüßiges Arrangement angenehm auf der Klaviatur verteilt.

X LISZT ALS HERAUSGEBER SCHUBERTS „DAS RESULTAT MEINES LANGJÄHRIGEN, LEIDENSCHAFTLICHEN VERKEHRS MIT SCHUBERT’S CLAVIERCOMPOSITIONEN“ Obwohl Liszt eine unglaubliche Fülle an Kompositionen und Bearbeitungen hervorbrachte, als umjubelter Virtuose halb Europa bereiste und in späteren Jahren als Kapellmeister und Lehrer agierte, fand er dank seiner nahezu unerschöpflichen Schaffenskraft immer wieder Zeit und Muße, sich der Herausgabe von Werken anderer Komponisten zu widmen.1 Im Jahre 1868 kam er mit dem Cotta-Verlag in Stuttgart überein, in dessen neuer Reihe Instructive Ausgabe klassischer Klavierwerke Kompositionen von Beethoven, Weber und Schubert zu edieren. Das Haus Cotta war eigentlich ein traditioneller Buchverlag, dem Carl von Cotta gegen Ende der 1860er-Jahre eine Musikalienabteilung angliederte.2 Mit seiner neuartigen Form der Notenedition, die 1869 mit einer ausführlich kommentierten und durch detaillierte Spielanweisungen ergänzten Haydn-Ausgabe lanciert wurde, knüpfte der Verlag an seine Konzeption literarischer Klassiker-Ausgaben an. Was zunächst primär als musikalische Anleitung für die Schüler und Studenten des Stuttgarter Konservatoriums gedacht war, fand rasch größere Verbreitung, denn Cottas ebenso anspruchsvolle wie innovative Neuerung entsprach dem zunehmenden Bildungsbedürfnis der bürgerlichen Gesellschaft.3 Im Jahre 1871 wurden die „Instruktiven Bearbeitungen“ zum ausführlich gewürdigten Thema eines mehrere Seiten umfassenden Leitartikels der NZfM.4 Bis zur Jahrhundertwende war ein Kanon von zwölf Komponisten zwischen Bach und Mendelssohn in über einhundert Bänden vertreten, die in vier verschiedenen Sprachen bis in die 40er-Jahre des 20. Jahrhunderts in zahlreichen Wiederauflagen erschienen.5

1

2 3

4 5

Mária Eckhardt wies auf die Clementi-Liszt-Ausgabe hin, die der Pianist schon im Alter von vierzehn Jahren in Kombination mit zwölf eigenen Etüden veröffentlichte (Muzio Clementi: Préludes et exercices, corrigés et marqués au métronome par le jeune Liszt, suivis de douze de ses études, Paris, Dufaut et Dubois, 1825). Vgl. dazu Mária Eckhardt, „L’édition des œuvres de Franz Schubert par Franz Liszt. La Fantaisie Wanderer: une transcription de piano pour piano“, in: Jean-Michel Place (Hg.), Franz Liszt Ostinato rigore: revue internationale d’études musicales, Paris 2002, S. 69–84, S. 69. Carl von Cotta leitete das Verlagshaus von 1863–1888. Vgl. dazu Lajos Gracza, „Franz Liszt und das Verlagshaus Cotta in Stuttgart“, in: Studia Musicologia Academiae Scientiarum Hungaricae 2004, S. 407–434, S. 407. Annette Oppermann, Musikalische Klassiker-Ausgaben des 19. Jahrhunderts: eine Studie zur deutschen Editionsgeschichte am Beispiel von Bachs „Wohltemperiertem Clavier“ und Beethovens Klaviersonaten (=Abhandlungen zur Musikgeschichte, Band 10), Göttingen 2001, S. 212. NZfM 1871, S. 453 f. und S. 466–468. Vgl. dazu Oppermann, Musikalische Klassiker-Ausgaben des 19. Jahrhunderts, S. 221.

„Das Resultat meines leidenschaftlichen Verkehrs mit Schubert’s Claviercompositionen“ 285

Die Gesamtleitung der später auch Edition Cotta genannten Reihe wurde dem Musikpädagogen und Mitbegründer der Stuttgarter Musikschule Sigmund Lebert (1821–1884) anvertraut. In einem Vorwort legte er die anspruchsvolle Zielsetzung dar, „allen, die sich mit dem Klavierspiel auf den verschiedensten Stufen der Ausbildung lernend oder lehrend befassen, die möglichste Anleitung und Erleichterung für eine kunstgerechte technische Ausführung, wie für ein richtiges geistiges Verständnis und einen sinngemäßen Vortrag“ zu bieten.6 Außerdem versprach er Fingersätze, genaue Phrasierungs- und Artikulationsbezeichnungen, differenzierte Dynamik- und Metronomangaben sowie einen „musikwissenschaftlichen Commentar“.7 Durch die Verpflichtung berühmter Pianisten-Herausgeber wie Franz Liszt, der damals noch immer als höchste Autorität für alle technischen und intellektuellen Anforderungen des Klavierspiels galt,8 und Hans von Bülow sicherte sich Cotta klingende Namen, die für zusätzliche Attraktivität der neuen Editionen sorgen sollten. Liszt stürzte sich mit wahrem Feuereifer in die neue Aufgabe. In einem Brief vom 19. Oktober 1868 bat er Lebert um die Zusendung mehrerer Kompositionen von Schubert und kündigte seine Absichten als Herausgeber an: „Senden Sie mir nächstens […] sämmtliche Tänze (Walzer, Ländler, Eccossaisen von Schubert (Holle’s Auflage, von Markull revidirt). Da ich nun in Revisions-Zug gekommen bin, möchte ich sofort den Band Schubert zubereiten und Ihnen das Resultat meines langjährigen, leidenschaftlichen Verkehrs mit Weber’s und Schubert’s Claviercompositionen vor Ende November, vermittelst der Fingersätze, Pedal- und Vortrags-Bezeichnungen und Varianten anheimstellen. Den Schubert-Band beschränke ich auf: 3 bis 4 Sonaten, die grosse Fantasie [Wandererfantasie], etwa 8 Impromptus, Moments musicals [sic] und sämmtliche Tänze. Später können noch einige 4händige Stücke folgen, speziell die Märsche und das ungarische Divertissement.“9

Von den insgesamt fünf von Cotta herausgegebenen Schubert-Bänden erschienen 1870/71 zwei Sammlungen mit den Kompositionen Wandererfantasie (D 760), Sonate a-Moll (D 845), Sonate D-Dur (D 850), Sonate G-Dur (D 894), Moments musicaux (D 780), Impromptus (D 899 und 935) und diversen Tänzen. Diese Auswahl ist ein Spiegel von Liszts pianistischer und kompositorischer Erfahrung mit Schuberts Werken. Er lieh den Neuausgaben keinesfalls nur seinen berühmten Namen.10 Vielmehr setzte er sich zum Ziel, dass seine Arbeit „verständig, massvoll und für ordentliche 6 7 8 9 10

Vgl. dazu den Werbetext in der AmZ, Bd. 6 (1871), S. 765 f. In den Lisztschen Schubert-Ausgaben finden sich keine musikwissenschaftlichen Erörterungen. Vgl. dazu Eckhardt, „L’édition des œuvres de Schubert par Liszt“, S. 74. Eckhardt bezieht sich auf Leberts Vorwort vom Juli 1870 zum ersten Band der Schubert-Ausgabe. Brief von Franz Liszt an Sigmund Lebert vom 19. Oktober 1868, zit. in: La Mara, Liszt’s Briefe, Bd. 2, S. 129 f. Dass Liszt nicht bereit war, mit seinem Namen lediglich die Titelseiten der neuen Ausgaben zu zieren, zeigt auch seine deutliche Ablehnung des Angebots von Cotta, Chopins Werke neu zu edieren: „Kaum ein anderer Componist war so emsig als Chopin in den Bezeichnungen der crescendo, diminuendo, , legato, staccato, f, p, etc= und der Pedale. Zum Beispiel, in seiner reizenden, idealen, kurzen Berceuse finden sich etwa hundert Pedal Bezeichnungen, während bei Weber und Schubert, solche nur selten vorkommen. […] Veränderungen im Claviersatz möchte ich mir nicht erlauben: und über einige zweifelhafte Noten könnte nur der Componist

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X Liszt als Herausgeber Schuberts

Pianisten befriedigend und zweckdientlich ausfallen“ möge.11 Für die gründliche Bezeichnung des Notentextes investierte Liszt viel Zeit, was aus der folgenden, oft zitierten Briefstelle hervorgeht, die zugleich einiges über sein Schubert-Bild verrät: „Die Annotirungen zu Schubert’s Sonaten etc. verlangten mehr Zeit als ich dachte. Seit einigen Wochen arbeite ich fleissig daran; – nun ist die Sache ad unguem gefertigt. Unsere Pianisten ahnen kaum, welch herrlicher Schatz in den Claviercompositionen von Schubert zu heben. Die meisten durchspielen sie en passant, bemerken hier und da Wiederholungen, Längen, anscheinliche Nachlässigkeiten – und legen sie dann bei Seite. Allerdings trägt Schubert selbst etwas Schuld an der sehr ungenügenden Pflege seiner vorzüglichen Clavier-Werke. Er war übermässig productiv, schrieb unaufhaltsam, Geringfügiges und Bedeutsames, Hohes und Mittleres vermengend, scherte sich nicht um die Kritik und liess nur immerhin seine Schwingen walten. Wie der Vogel in der Luft, lebte er in der Musik und sang dabei Engelsweisen.“12

Zwar sprach Liszt gegenüber Lebert bescheiden von „unmassgeblichen Andeutungen meiner Vortragsweise“, doch täuscht dies nicht darüber hinweg, dass er die Verantwortung als Herausgeber sehr ernst nahm. Allein schon die große Bandbreite differenzierter Artikulationszeichen gibt Zeugnis davon: „Als Norm der mir zur Verantwortlichkeit übergebenen Cotta’schen Weber- und Schubert-Edition gilt: Integrale, sorgfältige Beibehaltung des Original-Textes nebst unmassgeblichen Andeutungen meiner Vortragsweise, behülfs unterschiedlicher Lettern, Noten und Zeichen, – über welche ich Sie bitte, den Stecher noch eigens vollständig aufzuklären.“13

Das herausragendste Merkmal der neuen Publikationen sind jedoch die Varianten, die der Herausgeber in kleinen Noten über den originalen Text drucken ließ. Stolz hielt Liszt im Zuge der Weber-Ausgabe fest, seine Ossias würden die pianistische Wirkung ohne Korrumpierung des Originals steigern: „In den Varianten finden Sie wahrscheinlich einiges nicht Unzutreffende; – ich schmeichle mir dadurch den Ausführenden mehr Spielraum zu geben und die Wirkung zu steigern, ohne Verunglimpfung oder Überladung des Weber’schen Styls.“14

Das Streben nach immer neuen Überarbeitungen ist eines der charakteristischsten Merkmale von Liszts künstlerischem Schaffen. Ein Brief aus dem Jahre 1863 an den Musiklehrer Karl Klauser (1823–1905), der gerade die Sinfonische Dichtung Les Préludes (S 97) zur höchsten Zufriedenheit des Komponisten für Klavier bearbeitet hatte, gibt einen Einblick in seine Werkstatt. Obwohl Liszt vom Ergebnis begeistert war, konnte er sich nicht enthalten, einige Änderungen an der Transkription vorzunehmen. Rechtfertigend fügte er folgende Erklärung hinzu:

11 12 13 14

selbst, endgültig entscheiden.“ Brief von Franz Liszt an den Cotta-Verlag vom 31. Dezember 1879, zit. in: Gracza, „Liszt und das Verlagshaus Cotta“, S. 427. Liszt fügte dem Schreiben noch folgenden interessanten, allerdings unverwirklichten Plan an: „Vielleicht versuche ich es schliesslich ein paar Werke Chopin’s (nicht die Concerte) zu orchestrieren, in der Weise wie ich Schubert’s Fantasie, und Weber’s Polonaise bearbeitete.“ Ebd., S. 428. Brief von Franz Liszt an Sigmund Lebert vom 19. Oktober 1868, zit. in: La Mara, Liszt’s Briefe, Bd. 2, S. 129 f. Brief von Franz Liszt an Sigmund Lebert vom 2. Dezember 1868, zit. ebd., S. 132. Brief von Franz Liszt an Sigmund Lebert vom 19. Oktober 1868, zit. ebd., S. 129 f. Ebd.

„Das Resultat meines leidenschaftlichen Verkehrs mit Schubert’s Claviercompositionen“ 287 „Le fait est que la passion des Variantes et de ce qui me paraît des améliorations du style, me posséde singulièrement et augmente avec l’âge. Je ne m’en excuse pas trop, car c’est la recherche persistante du mieux possible qui caractérise le véritable artiste.“15

Auch das Schreiben an den Verleger Julius Schuberth erhellt Liszts Arbeitsweise: „Nachdem ich das Stück [Klausers Les Préludes-Klavierbearbeitung] ein paarmal durchgespielt und allmählig [sic] eine Art von Vergnügen daran fand, schien es mir ersprießlich, dem Clavierspieler zuletzt freieren Lauf zu gönnen und einen mehr intensiven Souveränitäts-Effect zu gewinnen, als es die genaue Übertragung der Partitur gestattet. Daher die 6 neuen Seiten, wodurch, beiläufig gesagt, die Schwierigkeit der Ausführung keineswegs vermehrt, im Gegentheil etwas erleichtert wird.“16

In seinen Weber- und Schubert-Ausgaben verfolgte Liszt ebenfalls die Absicht, dem Interpreten durch Vereinfachung der Vorlage mehr Freiheiten bei gleichzeitig brillanterem Klavierpart zu gewähren. Der Erfolg ließ nicht auf sich warten: Aus dem Briefwechsel mit dem Verlagshaus geht hervor, dass sich die von Liszt autorisierten Notenhefte zum eigentlichen „Verkaufsschlager“ entpuppten. Zu Beginn des Jahres 1873 machte ein Schreiben aus Stuttgart den Pianisten darauf aufmerksam, dass „die Auslieferung in der eben verflossenen Weihnachtszeit uns.[ere] Vorräthe von Weber u. Schubert, so aufgeräumt hat, daß dieselben mit Riesenschritten zu Ende gehen.“17 In der Folge überarbeitete Liszt die Erstausgabe, worauf 1875 bereits eine revidierte Auflage der beiden Schubert-Bände erscheinen konnte.18 Auf dem Titelblatt der Neuauflage von 1884 führte Cotta stolz den Vermerk „Eingeführt in der Neuen Akademie der Tonkunst zu Berlin, sowie in den Conservatorien zu Wien und Stuttgart“ an. Angestachelt durch den Verkaufserfolg, bemühten sich die Verlagsleiter eifrig um weitere Editionen aus Liszts Feder. Sie unterbreiteten dem „hochverehrten Abbé“ sogar ein Angebot zur Fertigstellung von Schuberts unvollendeter C-Dur-Sonate („Relique“ D 840): „Ew. Hg. hatten sr. Zt. die Güte, Sich zur Ueberarbeitung weiterer Schubert’scher Werke zu 2+4 Händen geneigt zu erklären, auch einige derselben zu designiren. Wir beehren uns deshalb, Ihnen sowohl die genannten, wie auch etliche andere Stücke, namentlich aus Schubert’s höchst werthvollem Nachlaß zu übersenden, welche H. Prof. Lebert als besonders wünschenswerth vorschlägt. – Als ein unvergängliches Werk bezeichnet derselbe zumal die als ‚Reliquie‘ erschienene C dur Sonate, von welcher jedoch nur die beiden ersten Sätze vollendet sind. Auf gleicher Höhe würden die beiden letzten unvollendeten stehen, wenn die Lücken im Sinne des Autors durch die Hand eines demselben geistesverwandten, mit Liebe u. rechtem Verständniß zugewendeten Meisters ausgefüllt würden. Auf Sie Hochverehrt[er] H. Abbé, setzen wir die Hoffnung daß es gelingen werde uns. Ausgabe dadurch einen neuen unschätzbaren Vorzug zu geben, wenn Sie selbst dieser Aufgabe sich unterziehen möchten.“19

15 16 17 18 19

La Mara, Liszt’s Briefe, Bd. 8, S. 161. Ebd., S. 162 f. Brief vom 3. Januar 1873, zit. in: Gracza, „Franz Liszt und das Verlagshaus Cotta“, S. 420. Eckhardt, „L’édition des œuvres de Schubert par Liszt“, S. 72. Brief vom 24. November 1873, zit. in: Gracza, „Franz Liszt und das Verlagshaus Cotta“, S. 419 f.

288

X Liszt als Herausgeber Schuberts

Es ist leicht nachvollziehbar, weshalb Liszts Reaktion auf diesen Wunsch ausblieb.20 Im Frühjahr 1877 erkundigte sich der Verlag erneut nach weiteren LisztSchubert-Ausgaben.21 Bereits ahnend, dass dem erfolgreichen Musiker die Zeit dafür fehle, erhoffte man sich wenigstens Liszts „geniale Varianten u. Paraphrasen“: „Sollten Ew. H. diese Bitte in dem gegebenen Umfang unbescheiden finden, wie wir das allerdings zu sein fürchten, so sei doch die Bitte gestattet, hochdieselben möchten nur wenigstens wieder dero geniale Varianten u. Paraphrasen den genannten, oder unter diesen doch den unterstrichenen Piècen zu wenden. Im äußersten Falle wäre Profeßor Lebert gerne bereit, Fingersatz u. sonstiges Instructives beizufügen.“22

Zwar sicherte der Klaviervirtuose die Fortsetzung der Zusammenarbeit zu, doch ließ er am 10. Januar 1878 aus Budapest verlauten, dass „kaum ein paar Bogen [der vierhändigen Klavierwerke Schuberts] fertig [seien], wegen allerlei mich bedrückenden Abhaltungen […].“23 Dank der intensiven Zusammenarbeit mit Sigmund Lebert kündigte sich jedoch bereits ein paar Wochen später eine Lösung an: „Verehrter Freund, Ganz vortrefflich so. Theilen wir uns in die Revision der Cotta-Ausgabe des 4händigen Schubert, und besorgen Sie sämmtliche Sonaten, ‚Lebensstürme‘, Scherzi etc. – Wenn Sie es wünschen, sollen gerne einige Pedal-Bezeichnungen und Fingersätze den Variationen op. 10 und 82 beigefügt werden. Schicken Sie mir beide Werke nach Weimar, nebst den noch übrigen 4händigen Walzern von Schubert, welche mehr Erfindung zeigen als viele grosse Compositionen, – ältere oder neuere.“24

Schließlich erschienen im Jahre 1880 bei Cotta drei weitere Schubert-Bände mit zwei- und vierhändigen Werken, darunter die drei letzten Klaviersonaten.25 Liszts 20

21

22 23 24 25

In der Forschung gibt es mehrere Thesen, weshalb diese Sonate Fragment geblieben ist. Vgl. dazu Hans-Joachim Hinrichsen (Hg.), Franz Schubert. „Reliquie“. Sonate in C für Klavier D 840. Faksimile-Ausgabe nach den Autographen in Cambridge, Paris und Wien. Mit Beiträgen von K. H. Füssl, H.-J. Hinrichsen, A. Krause, E. Norman Mc Kay und G. Saba, Tutzing 1992. „Gestatten Sie mir, hochverehrter Herr, hienach diejenigen Werke zu bezeichnen, welche wir zunächst in Aussicht nehmen zu sollen meinen: 1.) Zweihändige: die Sonaten Op. 122, 143, 115, 141 u. 168, die drei Klavierstücke (es moll, Es dur u. C dur), die Ländler Op. 171 u. die zwei Scherzi. 2.) Vierhändige: die Variationen Op. 10, 35, 82, die Märsche Op. 27, 40, 51, 55, 66, u. 121, die Polonaisen Op. 61 u. 75, ferner Op. 54, 63, 84, 103, 107, 138, 140, 144 u. 152. Dann die Ländler.“ Brief vom 3. Mai 1877, zit. in: Gracza, „Franz Liszt und das Verlagshaus Cotta“, S. 423. Ebd. Ebd., S. 425. Brief von Franz Liszt an Sigmund Lebert vom 27. März 1878 aus Budapest, zit. in: La Mara, Liszt’s Briefe, Bd. 2, S. 266. Vgl. Eckhardt, „L’édition des œuvres de Schubert par Liszt“, S. 73. Es handelt sich um folgende zweihändige Schubert-Kompositionen: Allegretto c-Moll (D 915), 12 Ländler (D 790), Sonate a-Moll (D 784), Sonate c-Moll (D 958), Sonate A-Dur (D 959), Sonate B-Dur (D 960). Zudem gaben Liszt und Lebert folgende vierhändige Schubert-Literatur heraus: Vier kleine Ländler, Kinder-Marsch, Variationen über ein französisches Lied op. 10, Trois marches héroïques op. 27, Deutsche Tänze und Ecossaisen op. 33, Variations sur un thème original op. 35, Six grandes marches et trios op. 40, 3 Marches militaires op. 51, Divertissement à l’hongroise op. 54, Grosser Trauermarsch op. 55, Divertissement en forme d’une marche brillante op. 63, Grande marche héroique op. 66, Variationen (Thème de Marie de Hérold) op. 82,

„Das Resultat meines leidenschaftlichen Verkehrs mit Schubert’s Claviercompositionen“ 289

Anteil daran lässt sich nicht mit Bestimmtheit rekonstruieren. Tendenziell ist festzustellen, dass die 1880 herausgegebenen Bände über spärlichere Ossia-Varianten und Ausführungshinweise verfügen als die um zehn Jahre ältere Serie. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf einen Einblick in die vom wissenschaftlichen Standpunkt her ergiebigeren Editionen von 1870. Generell gilt für alle Ergänzungen des Herausgebers, dass sie klein und schwächer gedruckt sind als die originalen Bezeichnungen. Dem Vorwort ist außerdem zu entnehmen, dass Liszt Schuberts Staccati als Keile („lange Punkte“) wiedergibt, während die runden Punkte aus seiner Feder stammen. Wandererfantasie „selon la technique pianistique moderne“ Die Wandererfantasie erhielt nicht nur die prominente Position zu Beginn des ersten Schubertschen Cotta-Bandes, sie ist auch mit den meisten Ossias und Zusätzen des Herausgebers versehen. Über den kaum zu überschätzenden Stellenwert, den die Fantasie in Liszts künstlerischer Entwicklung und seinem kompositorischen Schaffen einnahm, wurde hier schon ausführlich berichtet.26 Es scheint, als wollte er die Erkenntnisse seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit diesem Werk in die Neuausgabe einfließen lassen. Bereits auf der ersten Notenseite werden grundlegende editorische Absichten deutlich. Zunächst fällt die großzügige Verwendung des Pedals auf, die den prägnanten Rhythmus der Eröffnungstakte zu verschleiern droht. Die daraus resultierende Klangfülle erinnert an das erste Tutti der Lisztschen Klavierkonzertfassung. In völligem Kontrast dazu heben sich die Takte 12 und 13 durch einen trockenen, vom Herausgeber noch mit zusätzlichen Staccati versehenen Klavierklang ab. Da Liszt die Pedalbezeichnungen in diesem Werk im Gegensatz zu vielen seiner anderen Ausgaben relativ konsequent und sorgfältig eintrug, kann davon ausgegangen werden, dass er die Fantasie selbst so interpretierte.27 Die vielen Ossias eröffnen völlig neue Höreindrücke, wie bereits die erste Variante zeigt: Der abrupte Wechsel der Register um eine Oktave nach unten zum plötzlichen piano (T. 14) und mittels eines Oktavsprungs zurück zu den mit ff marcatissimo bezeichneten Akkorden (T. 16) verleiht dieser Passage nicht nur reliefartige Konturen, sondern auch ein wirkungsvolles Crescendo, das durch die gebrochenen Oktaven in der linken Hand noch verstärkt wird.

26 27

Andantino varié et Rondeau brillant, composés sur des motifs originaux français op. 84, Fantasie in f-Moll op. 103, Deux marches caractéristiques op. 121, Grand Duo op. 140. Siehe diese Arbeit, S. 233 ff. Der Pianist Ignaz Moscheles und der Musikkritiker François-Joseph Fétis attestierten Liszt in ihrer Méthode des méthodes de piano im Jahre 1840 einen ausgiebigen Pedalgebrauch. Siehe François-Joseph Fétis / Ignaz Moscheles, Méthode des méthodes de piano, Paris 1840, Nachdruck 1973, S. 277. Den Schülerberichten zufolge scheint Liszts Art und Weise des Pedalisierens sehr ausgeprägt gewesen zu sein:„Accounts of Liszt’s playing and teaching show that his pedaling was subtle, sophisticated, and at variance with his own published indications.“ Hamilton, After the golden age, S. 248.

290

X Liszt als Herausgeber Schuberts

Liszts Ausgabe der Wandererfantasie, 1. Satz, T. 12–19

Während diese und alle folgenden Abweichungen vom „Urtext“ deutlich als solche gekennzeichnet sind, nimmt Liszt noch auf der ersten Seite stillschweigend eine empfindliche dynamische Änderung vor. Dort, wo in der Klavierkonzert-Fassung nach dem Halbschluss auf E-Dur unvermutet das Soloklavier eintritt (T. 18 ff.), notiert er anstelle eines pp ein kräftiges ff, dem die Tenuto-Akkorde der Takte 20 und 23 einem Echo gleich entgegengesetzt werden. Zu den auffälligen abweichenden Lesarten zählen auch die Takte 32 ff. Hier verleiht Liszt dem verminderten Septimenakkord durch einen Oktavbass anstelle einer Sechzehntelpause einen Impuls für den anschließenden virtuosen Lauf. Zudem hebt er einzelne Noten durch kleine Akzente und Bögen interpretierend hervor, darunter die bei Schubert verborgene Melodiestimme der Takte 36–37 / 42–43. Gegen Ende des ersten Satzes kann sich der Interpret für folgende signifikante Modifikation entscheiden: In den modulierenden Takten 133 ff. ersetzt Liszt Schuberts Sechzehntelketten durch aufsteigende, von beiden Händen abwechselnd ausgeführte Oktaven (strepitoso). Diese Veränderung, die zugleich eine technische Vereinfachung bietet, klingt hörbar anders als das Original.

„Das Resultat meines leidenschaftlichen Verkehrs mit Schubert’s Claviercompositionen“ 291

Liszts Ausgabe der Wandererfantasie, 1. Satz, T. 132–137

Unmittelbar vor der Überleitung zum langsamen Satz komponierte Schubert die wohl schwierigste Passage der ganzen Fantasie: die in beiden Händen abwechselnd in parallelen Oktaven ansteigenden Sechzehntelfigurationen der Takte 160 ff. Liszt verkürzt sie zu Triolen, was die Ausführung wesentlich erleichtert.

Liszts Ausgabe der Wandererfantasie, 1. Satz, T. 163–166

292

X Liszt als Herausgeber Schuberts

In den folgenden Variationen verdichten sich die gerade für die Lisztschen LiedTranskriptionen typischen Interpretationshinweise wie cantando dolente und l’accompagnamento pp e tranquillo, die im Original gänzlich fehlen. Schon Robert Schumann bemerkte die Abwesenheit von verbalen Präzisierungen bei Schubert: „Ein aeußerst charakteristischer Zug in Schuberts Polonaisen ist, wie auch in den meisten seiner übrigen Compositionen, daß er zu seinen schönsten Stellen nie ein Wort, wie: dolce, setzt […].“28 Liszt hingegen verbalisiert seine Emotionen. In einer Fußnote lässt der Herausgeber verlauten: „Meines Erachtens nach sollte dieser Satz sehr langsam, pathetisch, ab imo pectore vorgetragen werden.“ Auch seine Fingersätze, Phrasierungen und Artikulationen sind von diesem Streben geprägt. Um sicherzugehen, dass alle Benutzer der Ausgabe über die Lied-Vorlage Bescheid wissen, ließ er zu Beginn den Vermerk „(Der Wanderer)“ anbringen. Bezeichnenderweise stellt Liszt dem Satz anstelle der Schubertschen Alla breve-Vorzeichnung ein 4/4-Taktmaß voran. Seine erste Ossia-Variante dient dazu, die bei Schubert im Daumen der linken Hand versteckte Melodie der Takte 39 ff. hervorzuheben (cantando dolente), wofür bisweilen einzelne Bassnoten und Tonrepetitionen geopfert werden.

Liszts Ausgabe der Wandererfantasie, 2. Satz, T. 39–40

Die anschließende Variation (T. 43 ff.), die bereits in der Originalfassung alle Klaviersaiten in Schwingung versetzt, präsentiert sich in der Cotta-Edition durch tiefenoktavierte Bässe und hinzugefügte Akkorde noch klanggewaltiger. Auch hier greift Liszt auf das effektvolle Mittel der alternierenden Hände zurück. Die um eine 28

Tagebucheintrag von Robert Schumann vom 5. September 1828, zit. in: Schumann, Tagebücher, S. 124.

„Das Resultat meines leidenschaftlichen Verkehrs mit Schubert’s Claviercompositionen“ 293

Oktave abgesenkten und teilweise verdoppelten Bässe der tremolando-Schlusstakte verfehlen ihre Wirkung ebenfalls nicht. Das Presto bezeichnet Liszt mit dem nicht übermäßig schnellen Tempo 72 für die punktierte Halbe. Zur Ausführung des Themas schlägt er in kleineren Ziffern einen eigenen, für die linke Hand etwas gewöhnungsbedürftigen Fingersatz mit Daumenuntersatz vor. Eine Überraschung sind die Ossia-Takte 61 ff., deren von beiden Händen alternierend ausgeführte Akkorde (rinforz. molto energico) die Schubertsche Triolenpassage erleichtern und ihr mehr Kraft verleihen. Dafür nimmt der Bearbeiter eine völlig neue Klangkonstellation in Kauf, in welcher der ursprüngliche melodische Bogen verlorengeht.

Liszts Ausgabe der Wandererfantasie, 3. Satz, T. 59–65

Der Vordersatz des folgenden Walzers in Ces-Dur ist mit einem unerwarteten sempre staccato überschrieben, das Pedal wird für den mit einer Achtelbegleitung ausgeschmückten Nachsatz aufgespart. Auch das Ossia der modulierenden Takte 95 ff. stellt mit seinen etwas starren Akkordschlägen eine Erleichterung gegenüber dem Original dar. Anders verhält es sich mit den neckischen Vorschlagnötchen im Des-Dur-Thema (T. 199 ff.), die eine verspielte Ausschmückung einführen. Dieses Auszieren der langen Noten wird in den Takten 246 ff. in der rechten Hand durch Triolen (con grazia) und ab T. 257 in der linken Hand in Form einer neuen Achtelbegleitung mit eingearbeitetem Echo fortgesetzt.

294

X Liszt als Herausgeber Schuberts

Liszts Ausgabe der Wandererfantasie, 3. Satz, T. 240–264

Auch den Ausdauer erfordernden Triolen des Schlusses setzt der Herausgeber analog den Takten 61 ff. die einfachere Variante aus Akkorden gegenüber (energico assai). Das Finale der Wandererfantasie wartet nach der Wiedergabe des originalgetreuen Notentextes überraschend mit einem Neustich des gesamten Satzes auf („Liszt’sche Version des vorstehenden Schluss-Satzes“). In beiden Fassungen bezeichnet der Herausgeber Schuberts Allegro mit der gemütlich anmutenden Metronomangabe Viertel=108. Mächtig erklingt das Fugenthema in der neuen Version: Die Bässe sind durch die tiefe Oktave ergänzt, so dass zur Ausführung beide Hände benötigt werden. Zudem pedalisiert der Klaviervirtuose die Takte 1 und 3 ganztaktig und versieht sie mit Staccato-Punkten. Während Schubert zu Beginn lediglich ein f mit Steigerungspotenzial vorzeichnet, startet Liszts Version bereits forte fortissimo.

„Das Resultat meines leidenschaftlichen Verkehrs mit Schubert’s Claviercompositionen“ 295

Beginn der Lisztschen Version des Finales

Die markanten Änderungen am Notentext folgen beim Verlassen der Grundtonart ab Takt 34. Vielfach geht es um eine Entschleunigung der Begleitung, die anstelle von Sechzehnteln in Triolen oder Achteln erscheint.

Liszts Ausgabe der Wandererfantasie, 4. Satz, T. 43–45

Lisztsche Version des Finales, T. 43–46

Die gesamte letzte Seite präsentiert sich in Liszts Version als ein Stringendo mit alternierend von beiden Händen ausgeführten Achtelakkorden. Aufgrund der fehlenden Sechzehntelnötchen entfallen jedoch viele melodische Feinheiten zugunsten eines furiosen Finales. In der originalgetreuen Ausgabe verwirklicht Liszt seine Klangvorstellung während des fünftaktigen Zelebrierens des C-Dur-Akkordes durch ein gehaltenes Pedal.

296

X Liszt als Herausgeber Schuberts

Liszts Ausgabe der Wandererfantasie, 4. Satz, T. 113–123

Lisztsche Version des Finales, T. 111–123

„Das Resultat meines leidenschaftlichen Verkehrs mit Schubert’s Claviercompositionen“ 297

Mit seiner „Modernisierung“ der Wandererfantasie scheint Liszt sehr zufrieden gewesen zu sein, wie aus dem Schreiben an Sigmund Lebert vom 1. Dezember 1868 hervorgeht: „J’ai transcrit plusieurs passages et le Finale de la Fantaisie en ut majeur selon la technique pianistique moderne et je me flatte de croire que Schubert n’en serait pas mécontent.“29

In seiner Überarbeitung gelingt es Liszt, den schwierigen Originaltext gleichzeitig zu vereinfachen und dramaturgisch wirkungsvoll zu steigern. Diese Eingriffe verändern die Vorlage jedoch so sehr, dass man durchaus zum Schluss kommen kann, man höre „de la musique pure lisztienne“ oder sogar eine „transcription de piano pour piano“.30 Sonate a-Moll – „anmuthig auszuführen“ Im Vergleich zur Lisztschen Ausgabe der Wandererfantasie präsentiert sich Schuberts Sonate a-Moll (D 845) in der Cotta-Edition – dort fälschlicherweise mit Erste grosse Sonate C dur betitelt31 – in „verantwortungsbewußte[r] Akribie des Herausgebers und Interpreten […].“32 Liszts Zusätze im ersten Satz beschränken sich im Wesentlichen auf die Ergänzung der bereits in der Originalfassung volltönenden Schlusstakte. In den gesanglichen Variationen in C-Dur fordert der Herausgeber mehrfach eine sorgfältige Artikulation. Bereits zu Beginn begegnet dem Interpreten die Empfehlung, „die gestossenen Noten von den gehaltenen und gebundenen deutlich [zu] unterscheiden und alle zusammen anmuthig aus[zu]führen.“ Wiederholt legt Liszt in der dritten Variation in c-Moll Wert darauf, die mit schmerzlichen Vorhalten versehenen Akkorde bei oktavierter Melodie sostenuto, non staccato zu spielen. Die nachfolgende Variation steht mit filigranem, höchst virtuosem Passagenwerk (T. 102 legero) im Kontrast zu diesen kraftvollen Takten. Die abschließende Veränderung wird ausschließlich wegen des neuen legatissimo-Fingersatzes von zwei Ossias flankiert (T. 138/146). Eigene Ideen lässt der Herausgeber nur in die Sätze 3 und 4 einfließen. Sowohl im Scherzo (T. 118 f.) wie auch im Rondo (T. 51–52, 58–61, T. 486 ff.) erscheinen neue Mittelstimmen, die Schuberts Vorlage dezent verdichten. Liszts Schüler Hans von Bülow zählte zu den ersten Pianisten, die Schuberts Klaviersonaten öffentlich im Konzert präsentierten. Die a-Moll-Sonate trug er zwischen 1865–1892 und somit bis zum Ende seiner aktiven Pianistenlaufbahn insgesamt vierzehn Mal vor. Auch Clara Schumann nahm die Komposition in ihr Repertoire auf.33

29 30 31 32 33

La Mara, Liszt’s Briefe, Bd. 2, S. 133. Eckhardt, „L’édition des œuvres de Schubert par Liszt“, S. 82. Dass dieses Werk den Titel „Erste große Sonate“ trägt, liegt daran, dass es sich bei der im Frühling 1825 entstandenen Komposition um die erste von drei Sonaten handelt, die noch zu Schuberts Lebzeiten gedruckt wurden. Hinrichsen, Rezeption als Selbstverständigung, S. 138. Ebd., S. 136.

298

X Liszt als Herausgeber Schuberts

„Scharf, kühn und lebenslustig“ – Sonate D-Dur In der Sonate D-Dur (D 850), deren vier Sätze in einem engen motivischen Zusammenhang stehen, ist Liszts Handschrift wieder deutlicher zu erkennen. Bisweilen verdichtet der Herausgeber die thematischen Bezüge, wie etwa in T. 71 ff., wo homophone tiefe „Themenkopf-Achtel“ mit rf-Akzent die verspielten Triolen des Seitenthemas durchbrechen und diese in ihren plötzlichen ff-Ausbrüchen verstärken.34 Selbst der absteigende Bassverlauf erhält in der Lisztschen Variante mehr Gewicht.

Liszts Ausgabe der Sonate D-Dur (D 850), 1. Satz, T. 81–83

Vor dem Eintritt der Reprise erklingen in der linken Hand nicht nur Schuberts liegende Akkorde, sondern als zusätzliche Mittelstimme auch die Repetitionsachtel des Hauptthemas.

Liszts Ausgabe der Sonate D-Dur, 1. Satz, T. 142–145

Die zahlreichen verbalen Zusätze im zweiten Satz (con moto) zeugen davon, wie sehr dem Herausgeber an einer gründlichen Phrasierung und Artikulation gelegen ist. Das achttaktige Ossia zu Beginn dient nur dem Zweck, die angebundene zweite 34

Vgl. auch die Ausführungen von Kabisch, Liszt und Schubert, S. 122.

„Das Resultat meines leidenschaftlichen Verkehrs mit Schubert’s Claviercompositionen“ 299

Achtel verkürzt und von einer (nur im Ansatz gemeinten) Pause begleitet wiederzugeben. Eine in Worte gefasste Präzisierung verdeutlicht Liszts Intention: „und immer wo nur zwei Achtel mit dem Zeichen ︵ gebunden sind, die zweite Achtel etwas kürzer, doch ohne dieselbe trocken abzustossen.“

Liszts Ausgabe der Sonate D-Dur, Beginn des 2. Satzes

Mit Hilfe des Verschiebungspedals entrückt Liszt die pp-Passage (T. 51 ff.). Beim Übergang vom H-Dur-Septimenakkord (T. 57/58 ppp, smorzando, ritenuto) ins terzverwandte G-Dur hebt er die Dämpfung wieder auf. Die chromatisch absinkenden Akkorde der Takte 81–84 sind mit folgender Bemerkung versehen: „Alle Noten der Accorde immer vollständig wieder anschlagen, doch gebunden ︵ von dem Achtel zur Sechzehntel“. Zahlreiche Tenuto-Bezeichnungen mahnen den gesamten Satz über, die auffällig synkopierten Akkorde genügend lange auszuhalten. Kurz vor Satzschluss führen die gehäuft auftretenden Synkopen zu einem Höhepunkt. Liszt weist den Benutzer seiner Ausgabe auf diese Reibungen hin: „NB. Den syncopirten Rhythmus scharf markiren; die Accorde kräftigst anschlagen, gebunden oder abgestossen je nach den Bezeichnungen […].“ Auch in den Eckteilen des Scherzos (Allegro vivace) bilden die Synkopen einen auffälligen rhythmischen Baustein, den Liszt „scharf, kühn und lebenslustig“ interpretierte. Dies wird mit der Bezeichnung kernig noch unterstrichen, die in seiner Ausgabe gemeinsam mit zusätzlichen Sforzati auftaucht (T. 84 ff./295 ff.). Dagegen sind die bedächtigen Rahmenteile des Trios mit legato con anima und una corda (ad libitum) überschrieben. Im finalen Rondo weisen nur noch für Schubert gänzlich atypische Bezeichnungen wie dolce con tenerezza, con delicatezza und più appassionato auf Liszts Handschrift hin.

300

X Liszt als Herausgeber Schuberts

Licht und Schatten: Sonate G-Dur mit Pedaleffekt Der Titel „Fantasie oder Sonate“, welcher der Cotta-Edition der Schubertschen Sonate G-Dur (D 894) beigefügt ist, geht auf Haslingers Erstausgabe von 1827 zurück.35 Er scheint nicht zufällig gewählt, denn besonders der erste Satz mit seinem klanglichen Schwebezustand will nicht so recht dem Schema einer Sonateneröffnung entsprechen. Um diese Wirkung noch zu unterstreichen, setzt Liszt von Beginn an una corda- und tre corde-Effekte ein.36 Weitere Anmerkungen wie das sempre p beim tänzerischen Seitenthema über einem Orgelpunkt (T. 27 ff.) und dessen Variation (dolce quieto e sereno, T. 37 ff.) mit feingewobener Textur in der rechten Hand betonen den heiteren Charakter des Satzes. Wie bereits in der Wandererfantasie hebt Liszt auch hier die Melodie durch Verlängerung der Melodietöne hervor. Die absteigenden Tonleitern (T. 47 ff.), denen der Herausgeber ein volles Pedal beifügt, künden das Ende der Exposition an. In den Mollteilen des Andantes setzt er das Pedal ebenfalls gezielt ein. Allein schon beim Blick auf die Noten dieser Takte wird der Gegensatz zwischen den kantigen Akkordbrechungen über gehaltenem Pedal zur nachfolgenden, traumhaft entrückten Passage deutlich.

Liszts Ausgabe der Sonate in G-Dur (D 894), 2. Satz, T. 31–39

Im tänzerischen Menuetto wechseln sich Licht und Schatten besonders schnell ab. Das zarte Trio (ppp) mit den folkloristischen Elementen und dem Orgelpunkt mutet im Vergleich zum h-Moll-Thema mit seinen energischen Repetitionen fast unwirklich an. Auch hier setzt Liszt bewusst das linke Pedal ein.

35 36

Der Titel lautet: „Fantasie, / Andante, Menuetto und Allegretto / für das Piano-forte allein. / Dem hochwohlgebornen / Herrn Joseph Edlen von Spaun / gewidmet / von / Franz Schubert.“ Vor der ersten Akkolade des Eröffnungssatzes stehen die Worte „Fantasie oder Sonate.“ Liszts Tempoangabe „punktierte Viertel=63“ zeigt, dass er den Satz nicht so langsam spielte wie beispielsweise Sviatoslav Richter, in dessen Interpretation der Kopfsatz fast 25 Minuten dauert.

„Das Resultat meines leidenschaftlichen Verkehrs mit Schubert’s Claviercompositionen“ 301

Die Auftakte des Allegretto-Themas sind mit Ossias versehen, in denen die zweite Note zu einer Sechzehntel verkürzt wird, gefolgt von einer Pause gleichen Wertes. Daraus resultiert analog des langsamen Satzes der D-Dur-Sonate eine atmende Phrasierung. An besonders exponierten Stellen wie etwa dem beschwingten C-Dur-Teil ab T. 56 oder der klagenden Melodie in c-Moll T. 213 ff., die ad libitum mit einem Ritenuto eingeleitet werden kann, notiert Liszt seine für ihn typischen Zusätze con grazia und molto espressivo dolente. Über der anschließenden Variation im ff türmt sich ein auf drei Systeme verteiltes Ossia auf. Das in der linken Hand in Oktaven gesetzte Thema ist in Liszts Interpretation marcatissimo zu spielen, dazwischen erklingt der punktierte „Erfindungskern“ des Kopfsatzes.

Liszts Ausgabe der Sonate in G-Dur, 4. Satz, T. 229–233

Schuberts Impromptus in Lisztscher Interpretation Anders als in den beiden Rahmenstücken, die in Liszts Ausgabe abgesehen von einigen zusätzlichen Artikulations- und Dynamikbezeichnungen kaum vom originalen Text abweichen, finden sich in den Nummern 2 und 3 der vier Impromptus (D 899) verschiedene Anregungen des Herausgebers. Im Es-Dur-Impromptu mit seinen virtuosen Triolenketten wurden zahlreiche Passagen durch kleine Stichnoten zu einem vollstimmigeren Satz ergänzt. Die vielen Wiederholungen der dreiteiligen – und innerhalb dieser Abschnitte wiederum ternären – Komposition bieten Liszt ausreichend Gelegenheit zur Variation. Bereits an der Stelle, wo das Thema erstmals im hohen Register erklingt, werden die Synkopen der linken Hand zu Akkorden vervollständigt (T. 17 ff.). Zwei Takte später setzt eine neue chromatische Stimme ein.

302

X Liszt als Herausgeber Schuberts

Liszts Ausgabe des Impromptu Es-Dur (D 899/2), T. 15–24

Nahezu der gesamte Mittelteil in h-Moll wird in der Cotta-Ausgabe von Ossias mit vollgriffigen Akkorden anstelle leerer Oktaven und einer alternativ verdoppelten Triolenfigur auf die zweite Zählzeit flankiert. Dadurch verlagert sich der Schwerpunkt auf die erste Zählzeit, und die Synkope verschwindet.

Liszts Ausgabe des Impromptu Es-Dur, T. 83–89

Der Erstdruck des dritten Impromptu erfolgte erst knapp dreißig Jahre nach Schuberts Tod bei Carl Haslinger. Wahrscheinlich sorgte sich der Wiener Verleger aufgrund der ungewöhnlichen Tonart Ges-Dur mit ihren sechs Versetzungszeichen sowie der ebenso ausgefallenen 4/2-Taktbezeichnung um den Absatz des Werkes, denn er ließ es kurzerhand nach G-Dur transponieren und halbierte die Takte. Doch was als benutzerfreundliche Vereinfachung gedacht war, funktioniert nur auf den ersten Blick: Zwar lässt sich der Notentext einfacher erfassen, doch liegt das Stück in G-Dur – ganz abgesehen vom völlig veränderten Klangbild – weit weniger gut auf den Tasten verteilt als in Ges-Dur. Liszt übernimmt die Vorgaben des Verlegers

„Das Resultat meines leidenschaftlichen Verkehrs mit Schubert’s Claviercompositionen“ 303

inklusive der Alteration in Takt 10.37 Was seine Edition jedoch von der HaslingerAusgabe unterscheidet, ist die Reprise mit einer 24 Takte umfassenden Variante, die Schuberts lyrische Harfenklänge noch stärker hervorhebt (dolcissimo armonioso una corda). Zu den wellenförmigen Achtelfigurationen der linken Hand gesellen sich arpeggierte Akkorde, deren Spitzentöne die um eine Oktave höher erklingende Melodie nachzeichnen.

Liszts Ausgabe des Impromptu Ges-Dur (D 899/3), T. 110–113

Liszts Variation findet beim plötzlichen pp ein abruptes Ende, wodurch er der Originalkomposition das letzte Wort überlässt. Von den vier Impromptus des zweiten Zyklus (D 935) scheint sich Liszt mit der technisch anspruchsvollsten, ungarisch gefärbten Schlussnummer in f-Moll unmittelbar identifiziert zu haben. Auf wenigen Seiten vereint Schubert eine Fülle pianistischer Möglichkeiten mit Trillerpassagen, stellenweise in Oktaven geführtem Laufwerk und erlesenen rhythmischen und harmonischen Effekten. Das Finale der Cotta-Ausgabe enthält eine Vielzahl an Interpretationsideen, die sich insbesondere auf die Tempogestaltung auswirken. Schuberts Mittelteil, dessen Tonart As-Dur mehrmals durch Molltrübung in Frage gestellt wird, umranken filigrane Tonleitern in der rechten Hand. Liszt beschleunigt diese Figurationen und insbesondere das in parallelen Oktaven geführte Laufwerk. Auch hier unterstreicht ein ausgiebiger Pedalgebrauch die Wirkung der virtuosen Skalen, wobei kleine Betonungen die immer schneller werdenden Tonleitern gliedern. Liszts Ossia der letzten Takte lässt Schuberts Impromptu in einem schwungvollen Wiener Walzer aufgehen.

37

Haslinger ersetzte den G-Dur-Akkord in der zweiten Takthälfte durch einen H-Dur-Septimenakkord, wobei der Quintton im Bass als Durchgang fungiert.

304

X Liszt als Herausgeber Schuberts

Liszts Ausgabe des Impromptu f-Moll (D 935/4), Coda

„Das Resultat meines leidenschaftlichen Verkehrs mit Schubert’s Claviercompositionen“ 305

„Momens musicals“ – innige Gesangsmomente In thematischer Nähe zu den Impromptus stehen Schuberts Moments musicaux (D 780). Aus Liszts behutsamen Eintragungen in die fälschlicherweise mit „Momens musicals“ betitelte Cotta-Ausgabe von 1870 lässt sich erkennen, dass er diese poetischen Klavierstücke sehr gesanglich spielte. In der Eröffnungsnummer macht er die jeweils in den ersten Triolennoten versteckte Melodie durch Verlängerung auch visuell kenntlich. Für den fis-Moll-Teil der zweiten, mit innig und sehr gebunden überschriebenen Nummer fordert Liszt ein cantando-Spiel. Um den Kontrast zur nächsten, ab Takt 56 nunmehr im Forte auftretenden fis-Moll-Passage aufzuzeigen, verstärkt er die jeweils dritten Begleitachtel zu Akkorden (sempre marcato). Die berühmte dritte Komposition in f-Moll hebt mezza voce an und leitet in den anschließenden As-Dur-Abschnitt, der ein wenig markiert gespielt werden soll. Im vierten Moment musical setzt sich Liszt über Schuberts Tempovorgaben hinweg: „Den Cis moll Satz erlaubt sich der Herausgeber öfters, anstatt Moderato, – Vivacissimo agitato, – und den Des dur Satz Moderato (Allegretto) zu spielen“. Um die berauschende Wirkung der in seiner Interpretation höchst virtuosen Rahmenteile noch zu verstärken, ergänzt der Herausgeber beim letzten Auftreten des Themas die Bassstimme zu Oktaven (f marcato). Umso verträumter wirkt das Mittelstück in Des-Dur, das Schubert fünf Takte vor Schluss als leise Reminiszenz nochmals zitiert. Die virtuose fünfte Komposition der Moments musicaux zeichnet sich in der Cotta-Edition durch eine alternative Umverteilung der Stimmen auf beide Hände aus, womit Liszt unangenehme Tonrepetitionen elegant umgeht.

Liszts Ausgabe der Moments musicaux (D 780), Nr. 5, T. 1–8

Im Schlussstück kehrt der lyrische Ton zurück. Hier enthält Liszts Notenausgabe lediglich den Eintrag sostenuto molto im Des-Dur-Trio und eine Empfehlung zur Verwendung des linken Pedals.

306

X Liszt als Herausgeber Schuberts

Die assoziative Wirkung, die seine Interpretation der Moments musicaux bei den Zeitgenossen hervorrief, hielt Lina Ramann nach einem privaten Vorspiel im Jahre 1873 fest: „Es war 9 Uhr geworden. Er nahm vom Flügel einen Schubert-Band. Halb geschlossenen Auges, leise, langsam, traumhaft, um nicht zu sagen: visionär, spielte er den ‚Moment musical‘ [D 780/2] – so schön, so himmlisch innig, wie ich nie Ähnliches vernommen. Er reihte den kleinen charakteristischen ‚Moment‘ in F moll [D 780/3] daran, der uns wie unter Sternenhimmel in die Pußta trug. In sprachlosem Entzücken zeigte bald Ida, bald ich auf diesen, auf jenen Takt und er nickte und spielte ihn wieder – es waren auch seine Lieblingsstellen, wie er sagte.“38

„Juwelen feinster Sorte“ – Schuberts Tänze Mit Schuberts Tanzmusik, unter der er „Juwelen feinster Sorte“39 zu entdecken glaubte, beschäftigte sich Liszt in verschiedenen Phasen seines Lebens intensiv. Für Cotta brachte er von den rund 500 Tänzen für Klavier zu zwei Händen eine Auswahl in zwei Heften heraus. Eingang fanden 36 Originaltänze für Klavier op. 9 (D 365), 12 Walzer, 17 Ländler und 9 Ecossaisen für Klavier op. 18 (D 145), 16 Deutsche und 2 Ecossaisen für Klavier op. 33 (D 783), 34 Valses sentimentales für Klavier op. 50 (D 779), 16 Ländler und 2 Ecossaisen für Klavier op. 67 (D 734), 12 Grazer Walzer für Klavier op. 9140 (D 924) und Zwanzig Walzer für Klavier op. posth. 127 (D 146). Mit Ausnahme der letzten beiden Sammlungen nahm er aus allen Serien einzelne Nummern in seine Soirées de Vienne auf.41 Schuberts zweihändige Tänze sind meist kurz und einfach im formalen Aufbau. Oftmals umfassen sie nur 16 Takte, die in zwei Achttakter gegliedert sind. Durch die Wiederholung beider Teile stellt sich die für Tanzmusik typische repetitive Struktur ein. Die Einfachheit und Natürlichkeit dieser Kompositionen passte zur „Schlichtheit der Zimmer in den Wohnungen von Schuberts Freunden, wo man unter sich war und ohne allzu förmliche Etikette das Plaudern, Musizieren, Tanzen und Trinken genoß.“42 Doch obwohl diese Stücke als Gebrauchsmusik gedacht waren, enthalten sie manche Feinheiten, in denen die begrenzten Möglichkeiten ausgereizt werden. Im Rahmen der geselligen „Schubertiaden“ bestritt Schubert nicht selten ganze Abende mit der Improvisation von Walzern, Ländlern, Ecossaisen und anderen Tänzen am Klavier.43 Für die Publikation der kleinen Stücke in Sammlungen be38 39 40 41 42

43

Aus dem Tagebucheintrag vom 6. August 1873, zit. in: Ramann, Lisztiana, S. 25. Brief von Franz Liszt an Sigmund Lebert vom 2. Dezember 1868, zit. in: La Mara, Liszt’s Briefe, Bd. 2, S. 133. Im Verzeichnis der Cotta-Ausgaben fälschlicherweise als op. 92 bezeichnet. Vgl. diese Arbeit, S. 178 ff. Ulrich Mahlert, „Bodenhaftung und Transzendenz. Über Schuberts Tänze“, in: Ariane Jeßulat / Andreas Ickstadt / Martin Ullrich (Hg.), Zwischen Komposition und Hermeneutik, Festschrift für Hartmut Fladt, Würzburg 2005, S. 168–186, S. 168. Vgl. auch Litschauer, Walburga / Deutsch, Walter, Schubert und das Tanzvergnügen, Wien 1997. Vgl. dazu Hans-Joachim Hinrichsen, Franz Schubert, München 2011, S. 27. Hinrichsen weist darauf hin, dass Schubert unter allen befreundeten Intellektuellen, Literaten und bildenden Künstlern als seriöser Komponist geschätzt wurde. Und dies nicht nur in den Sparten Lieder

„Das Resultat meines leidenschaftlichen Verkehrs mit Schubert’s Claviercompositionen“ 307

mühte er sich um einen zusammenhangstiftenden roten Faden. Nach demselben Prinzip ging Liszt in den Soirées de Vienne vor, worin er die verschiedenen Ländler, Walzer und Deutsche miteinander verknüpfte und seiner Tonsprache anverwandelte. Obgleich viele Nummern aus Liszts Cotta-Ausgabe Einzug in seine Soirées gehalten haben, präsentiert sich die Notenedition unspektakulär und fast ausschließlich mit üblichen Angaben zu Dynamik, Artikulation, Fingersätzen und Pedalgebrauch. Nur hie und da lassen ein feurig, dolente oder zärtlich Liszts persönlichen Bezug zu dieser Musik erkennen. Die einzige aussagekräftige Ossia-Variante findet sich in dem als Trauerwalzer berühmt gewordenen Tanz op. 9 Nr. 2, den Liszt in der letzten Soirée de Vienne einem virtuosen Variationsprozess unterworfen hat.44 In den Takten 9–12 wandelt der Herausgeber Schuberts Quintgänge Es-As/H-E zur Basslinie G-As-Dis-E um.

Liszts Ausgabe des Trauerwalzers, T. 9–16

Für Robert Schumann stellte diese Komposition den Prototyp eines romantischen „Herzwalzers“ dar, wie aus seiner Rezension von 1836 hervorgeht: „Erste Walzer von Franz Schubert. Kleine Genien, die ihr nicht höher über der Erde schwebt als etwa die Höhe einer Blume ist, – zwar mag ich den Sehnsuchtswalzer, in dem sich schon hundert Mädchengefühle abgebadet und auch die drei letzten nicht, die ich als ästhetischen Fehler im Ganzen ihrem Schöpfer nicht verzeihe; – aber wie sich die übrigen um jenen herumdrehen, ihn mit duftigen Fäden mehr oder weniger einspinnen und wie sich durch alle eine so schwärmerische Gedankenlosigkeit zieht, daß man es selbst wird, und beim letzten noch im ersten zu spielen glaubt – ist gar gut.“45

Auch für Liszt scheinen der Reiz und die Poesie der einzelnen Tänze in ihrem Zusammenhang gelegen zu haben, wovon wiederum die Soirées de Vienne zeugen. Liszts Interpretationsausgaben Schubertscher Werke können als Vorläufer der späteren Urtext-Auffassung angesehen werden. Im Gegensatz zu den zeitgenössischen Editionen, darunter diejenigen seines Schülers Hans von Bülow,46 war er bemüht, sämtliche Zusätze des Herausgebers durch ihre Stichart kenntlich zu ma-

44 45 46

und Tänze, sondern auch in der Instrumentalmusik. „Er war also als musikalischer Diskurspartner in einer Weise geschätzt, über die noch nachzudenken sein wird.“ Ebd. Vgl. diese Arbeit, S. 195 f. Vgl. dazu NZfM vom 23. Februar 1836. Zu Bülows Editionen vgl. Hinrichsen, „Rezeption als Selbstverständigung“, S. 136 ff.

308

X Liszt als Herausgeber Schuberts

chen. Liszt lieferte dem Benutzer der Ausgabe einen nach den damaligen Möglichkeiten einwandfreien und durchschaubaren Text, den er durch die subjektiv gefärbte interpretatorische Tradition seiner Generation keineswegs willkürlich anreicherte.

XI „MEHR GETRÄUMT ALS BETONT“ – ÄSTHETIK UND DRAMATURGIE DES SCHUBERT-BILDES BEI LISZT In der Cranz-Neuedition des Gondelfahrers von 1883 steht die Spielanweisung: „Dieses ganze Stück ist sehr leise vorzutragen: meistens pp, und nur die Melodie etwas hervorhebend, – mehr geträumt als betont.“ Die wahrscheinlich bereits im Jahre 1838 entstandene Transkription über Schuberts klavierbegleitetes Männerquartett statuiert ein hervorragendes Exempel für Liszts Schubert-Verständnis.1 Mayrhofers Gedicht ist in Venedig angesiedelt – in einer Stadt, die für Franz Liszt und Marie d’Agoult eine besondere Bedeutung hatte. Nachdem die mitternächtlichen Glockenschläge verklungen sind („Vom Markusturme tönt / Der Spruch der Mitternacht“2), lässt sich Liszt zu einem freien Weiterfantasieren in den weichen b-Tonarten verleiten.3 Liszts reflektierende, frei-schöpferische Schubert-Transkriptionen spiegeln sein Schubert-Verständnis in vermittelter Form. Fern von den Arrangements seiner Zeitgenossen, darunter Czernys brillant-fantasierenden Potpourris, Thalbergs streng wörtlichen Übertragungen und Hellers bisweilen ausschweifenden Weiterdichtungen gelang ihm ein Mittelweg zwischen Texttreue und Verselbständigung, der die Bearbeitung dem Original als ebenbürtiges Kunstwerk zur Seite stellte. Der Pianist suchte den modernen Erardschen Flügeln durch eine neue Anschlagskultur, differenzierten Pedalgebrauch, weitausgreifenden Klaviersatz, volle Akkorde und häufige Registerwechsel bislang unerreichte Klänge und Farben zu entlocken. Um die Vorstellungskraft der Ausführenden anzuregen und ihnen zugleich seine eigene Interpretationsweise möglichst nahezubringen, behalf er sich zusätzlich mit der Literarisierung des Notentextes: Instruktionen wie „mehr geträumt als betont“, „wie mit Zerstreuung fortfahrend“ und „ab imo pectore“ sollten den Schlüssel zu den „vielen Geheimnisse[n], die das Pianoforte noch verbirgt“4 liefern. Diese auffällige Semantisierung lässt eine neue Ebene erkennen, die über das Original hinausgeht. Auch bei der in späteren Jahren oftmals kritisierten erheblichen Virtuosität der Liedtranskriptionen handelt es sich um eine Lisztsche Prägung, die nur vordergründig als Selbstzweck oder Lautmalerei dient. Sie ist vielmehr ein Mittel, um den

1 2 3 4

Liszt hörte dieses Werk am 24. Mai 1838 in Wien anlässlich eines Benefiz-Konzertes. Vgl. dazu den Anhang dieser Arbeit, S. 319. Von diesem Quartett existiert auch eine Fassung für eine Singstimme und Klavier von Schubert (Gondelfahrer D 808). Während dort die 12 Glockenschläge nummeriert und deutlich hörbar sind, erklingen im Quartett sechs zusätzliche Schläge. Seinem Schüler Göllerich soll Liszt gesagt haben: „das habe ich mir erlaubt dazuzusetzen, ich glaube Schubert hätte nichts dagegen, wenn er’s wüßte.“ NLA, Serie II, Bd. 7, S. XIII. Vgl. Robert Schumanns Rezension über Liszts Transkription der Sinfonie fantastique in NZfM vom 11. August 1835.

310

XI „Mehr geträumt als betont“ – Ästhetik und Dramaturgie des Schubert-Bildes

größtmöglichen, dem Original adäquaten Ausdruck zu erzielen und die Empfindungsqualität („Erfassung des Geistes“5) der Komposition zu erfassen. Für Liszt war der Bearbeitungsvorgang dieser aus der Improvisation hervorgegangenen Gattung mit der ersten vollständigen Niederschrift niemals abgeschlossen. Von vielen Transkriptionen existieren deshalb mehrere Fassungen, die von der Ernsthaftigkeit zeugen, mit welcher der pianistische Superstar seiner Zeit die Neuschöpfungen behandelte. Dass der Bearbeiter bei diesem ambitionierten SchubertProjekt keineswegs verkaufsstrategische Überlegungen in den Vordergrund stellte, sondern vielmehr einer musikalischen Notwendigkeit folgte, zeigt die Entwicklung innerhalb seiner Schubert-Lieder: Während die ersten Arrangements noch als Einzelnummern gedacht waren, folgten bald Sammlungen mit zunächst losen Gruppierungen bis hin zu harmonisch durchdachten Zyklen mit inhaltlicher Neuausrichtung. Zwar spielte Liszt diese Zyklen nie als Ganzes im Konzertsaal, doch hatte es seine Gründe, dass er Schuberts Geschichten „ent-textete“ und neu erzählte. Schubert war für Liszt nicht etwa nur ein Katalysator seiner Konzertkarriere, sondern vielmehr eine Art Sprachrohr, mit dem er gegenüber Marie d’Agoult seine Gefühle auszudrücken vermochte. Während Liedzitate im gegenseitigen Briefwechsel eine wichtige Rolle spielen, bergen die Lisztschen Schubert-Sammlungen in ihrer Auswahl, Gruppierung und Gewichtung unverkennbare Hinweise auf die private Situation ihres Verfassers. Das erste Album 12 Lieder von Franz Schubert enthält besonders viele Reverenzen an die Gräfin, darunter die beiden Ständchen, Sei mir gegrüßt und Ave Maria. Letzteres ist in der Richault-Einzelausgabe mit einer Widmung an d’Agoult und einer Vignette mit religiöser Anflehungsszene versehen und weist ein neues, reflektierendes Choral-Nachspiel von 19 Takten auf. Die Folgerung, dass Liszt in dieser Transkription seine Marie als heilige Maria geradezu idealisiert, liegt nahe. Die größte Lisztsche Eigendynamik ist in den Zyklen Winterreise und Die schöne Müllerin zu finden, denen der Bearbeiter eine von Grund auf neue Erzählstruktur unterlegt. Die Winterreise scheint dem Verfasser des Album d’un voyageur und der daraus resultierenden Années de pèlerinage besonders nahe gestanden zu haben. Die Kopplung der neu platzierten Lieder Der Leiermann und Täuschung sowie das trotzige Ende mit den unter einer Bogenform vereinten Nummern Der stürmische Morgen und Im Dorfe sind sprechend. Auch das euphorische UngeduldFinale des auf sechs suitenförmig angeordnete Lieder reduzierten Zyklus Die schöne Müllerin vermittelt eine komplett neue Gesamtaussage. Mit der Zeile „Dein ist mein Herz, und soll es ewig bleiben“ endet Liszts allerletzte Transkription eines Schubert-Liedes. Den Bearbeitungen von Schuberts Klavierwerken drückt Liszt, ausgehend von Schuberts Vorgaben, ebenfalls seinen eigenen Stempel auf. Die Walzerketten der Soi5

Im Vorwort zu Liszts Partition der fünften Beethoven-Sinfonie heißt es: „Je serai satisfait si j’ai accompli la tâche du graveur intelligent, du traducteur consciencieux qui saisissent l’esprit d’une œuvre avec la lettre, et contribuent ainsi à propager la conaissance des maîtres et les sentiment[s] du beau.“ Zit. in: Symphonies de Beethoven. Partition de Piano. Dediée à Monsieur Ingres. No. 5. Leipzig: B&H [1840]. Pl.-Nr. 6006. Vgl. auch Schröter, Der Name Beethoven ist heilig in der Kunst, S. 82.

XI „Mehr geträumt als betont“ – Ästhetik und Dramaturgie des Schubert-Bildes

311

rées de Vienne spinnen mit ihren auskomponierten mediantischen und enharmonischen Zusammenhängen einen vorhandenen stilistischen Faden weiter. Dass Liszt zu Beginn der vierten Soirée durch die prominente Platzierung eines Beethoven-Zitats seine beiden Idole zusammenführt, stellt eine besonders anrührende Hommage dar. Die Potpourris verschiedener Schubertscher Märsche für Orchester bilden das orchestrale Pendant zu den Soirées de Vienne. Der Bearbeiter umgeht starre Formstrukturen durch Hinzufügung neuer Zwischenteile (zumeist vor Wiedereintritt der Reprise) und oftmals triumphaler Apotheosen, die den akustischen Rahmen zu sprengen drohen. Dieser Lisztsche „per aspera ad astra“-Archetyp charakterisiert auch seine Sinfonischen Dichtungen, in denen sich der Weg von der Finsternis zum Licht besonders anschaulich nachvollziehen lässt. Ebenso wird das neuartige Formgebilde der Wandererfantasie durch Liszts Solo-Tutti-Disposition umcodiert. Im Kopfsatz nutzt der Bearbeiter etwa die von Schubert auskomponierte Themenwiederholung dazu, die typische Abfolge Orchesterexposition – Soloexposition zu verwirklichen. Im langsamen, bereits durch Schubert virtuos „vorbearbeiteten“ Wanderer-Herzstück setzt das Klavierkonzert mit Hilfe solistisch hervortretender Orchesterinstrumente – gegenläufig zur virtuosen Zerstäubung in vielen Liedtranskriptionen – auf die Rückgewinnung der Melodie. Schuberts Musik war für Liszts Leben und Schaffen identitätsstiftend. Die tiefgreifenden Erfahrungen, die er im Umgang mit dessen Liedgut, Lyrik, Klavierkompositionen und dem innovativen Umgang mit musikalischer Form und harmonischer Disposition machte, schlugen sich in den ästhetischen Konzepten seiner eigenen Werke nieder. Liszts oszillierende, kaum greifbare Persönlichkeit mit seinen angenommenen und konstruierten katholischen, ungarischen, deutschen und französischen Identitäten spiegelt sich auch in der Vermengung unterschiedlicher Gattungen, darunter in der Transkription als Schmelztiegel von Lied und Klavierstück. In der Weiterdichtung von Schuberts „Phantasieungarn“ aus dessen Divertissement à l’hongroise schuf er nicht nur die Ungarischen Rhapsodien mit ihrem unerhört neuen Klaviersatz, sondern zugleich und durchaus mit nostalgisch-ironischer Distanzierung eine Zugehörigkeit zu einer Heimat, der er als reisendes Wunderkind früh entrissen worden war.

ANHANG LISZTS SCHUBERT-TRANSKRIPTIONEN IM ÜBERBLICK Folgende Liste gibt eine Übersicht über die Erstdrucke und die verschiedenen Fassungen, sofern diese bedeutend voneinander abweichen. 1833

LA ROSE, / Poésie de Schlegel, Musique de / SCHUBERT, / Arrangée pour le Piano-Forte / ET DÉDIÉE A / Madame la Comtesse d’APPONY, / PAR / J. [sic] Liszt. Paris: Schlesinger, Pl.-Nr. M. S. 1352. S 556 Pflichtexemplar der Bibliothèque Nationale, Paris, mit Eingangsdatum „1833“ (L 15168).1

Oktober/November 1835

Apparitions / POUR / PIANO SEUL / PAR / F. LISZT. [Nr. 3] FANTAISIE / sur une Valse de Francois [sic] Schubert. Leipzig: Hofmeister, Pl.-Nr. 2241. Zeitgleich mit Schlesinger, Pl.-Nr. M. S. 1751.3. S 155 Hofmeister: Musikalisch-literarischer Monatsbericht 1835, S. 104.

April 1838

Lob der Thränen. / (Bénédiction des Larmes.) / LIED DE FR. SCHUBERT. / Transcrit pour / PIANO / par / FRANÇ. LISZT. Wien: Haslinger, Pl.-Nr. T. H. 7575. S 557 WZ 25. 4. 1838

Mai 1838

STÄNDCHEN. / (Sérénade). / LIED DE pour / PIANO / par / FRANÇ. LISZT. Wien: Haslinger, Pl.-Nr. T. H. 7576. S 560 WZ 12. 5. 1838

FR.

SCHUBERT. / Transcrit

DIE ROSE. / LIED de Fr. Schubert. / Transcrit pour / PIANO / par / FR. LISZT. / Seule Edition revue par l’Auteur. Wien: Haslinger, Pl.-Nr. T. H. 7577. S 556 WZ 12. 5. 1838 DIE POST. / LIED de Fr. Schubert. / Transcrit pour / PIANO / par / Franç. LISZT. Wien: Haslinger, Pl.-Nr. T. H. 7578. S 561 WZ 12. 5. 1838

1

NLA, Serie II, Bd. 20, S. X.

Liszts Schubert-Transkriptionen im Überblick

313

September 1838

[12] Lieder von Fr. Schubert. / Für das / PIANOFORTE / übertragen / von / FR. LISZT. Wien: Diabelli und Comp., Pl.-Nr. D. et C. No. 6531–6542. [1. Sei mir gegrüßt, 2. Auf dem Wasser zu singen, 3. Du bist die Ruh’, 4. Erlkönig, 5. Meeresstille, 6. Die junge Nonne, 7. Frühlingsglaube, 8. Gretchen am Spinnrade, 9. Ständchen von Shakespeare, 10. Rastlose Liebe, 11. Der Wanderer, 12. Ave Maria]. S 558 Die komplette Sammlung lag im September 1838 vor, vgl. Alexander Weinmann, Verlagsverzeichnis Anton Diabelli & Co. (1824–1840), S. 412 Gemäß WZ waren die Lieder 1–4 bereits am 23. 5. 1838 greifbar. Liszt spielte bei seinem Abschiedkonzert am 25. Mai u. a. Sei mir gegrüßt und Erlkönig.2 Die Lieder 5–8 waren der WZ zufolge seit dem 2. 6. 1838 erhältlich.

November 18383

12 / MÉLODIES / DE / FRANÇOIS SCHUBERT / transcrites / Pour PIANO Seul. / DÉDIÉES À MADAME / LA COMTESSE CHARLES D’ARAGON. / PAR / F. LISZT. Paris: Richault, Pl.-Nr. 3635–3646 R. [1. La Sérénade, 2. Sois toujours mes seuls amours, 3. Le Roi des Aulnes, 4. La Poste, 5. L’Attente, 6. Barcarolle, 7. La Mer calme, 8. Le Printemps, 9. La jeune Religieuse, 10. Marguerite, 11. Eloge des larmes, 12. La Rose] Pflichtexemplar der Bibliothèque Nationale, Paris, mit handschriftlichem Eintrag „Déposé à la Direction / Juin 1838“ (Ac. p. 1687).

November 1838

AUFENTHALT. / LIED / aus F. Schuberts Schwanengesang / für das PianoForte übertragen / von / FR. LISZT. Wien: Haslinger, Pl.-Nr. T. H. 7684. WZ 26. November 1838

[1838/1839]4

à M.me la Comtesse Marie d’Agoult. / AVE MARIA / Mélodie / de François Schubert. / transcrite POUR le Piano / par / F. Liszt. Paris: Richault, Pl. Nr. 3815 R.

Januar 1840

MÉLODIES HONGROISES / d’après / Fr. Schubert / pour PIANO seul / par / F. LISZT. Wien: Diabelli & Comp., Pl.-Nr. D. et C. No. 6958–6960. S 425 WZ 16. Januar 1840 (Hefte 1 und 2). Das 3. Heft erschien gemäß Hofmeisters Monatsbericht erst im Mai 1841.

Mai 1840

[14] Lieder / aus / Fr. Schubert’s Schwanengesang / für das Piano-Forte übertragen / von / F. LISZT.

2 3

4

Siehe diese Arbeit, S. 57 f. Die erste Anzeige erschien in der RGMdP vom 15. 11. 1838. Die Diskrepanz von mehreren Monaten zwischen dem mit Juni datierten Belegexemplar und der Verlagsanzeige könnte auf die rechtliche Situation zwischen Richault und Schlesinger zurück zu führen sein. Vgl. Protzies, Studien zur Biographie Franz Liszts, S. 107 ff. Zur Datierung vgl. Cecil Hopkinson, A dictionary of Parisian music publishers, 1700–1950, London 1954. Die Pl.-Nr. 3644 mit Mayseders Air varié op. 54 lässt sich auf 1837 datieren. Verrousts Caprice pour Hautbois et Piano op. 15 mit Pl.-Nr. 3915 wurde vermutlich 1841 publiziert. Vgl. dazu http://imslp.org/wiki/Richault, Stand November 2018.

314

Anhang Wien: Haslinger, Pl.-Nr. 7751–7764. [1. Die Stadt, 2. Das Fischermädchen, 3. Aufenthalt, 4. Am Meer, 5. Abschied, 6. In der Ferne, 7. Ständchen, 8. Ihr Bild, 9. Frühlingssehnsucht, 10. Liebesbotschaft, 11. Der Atlas, 12. Der Doppelgänger, 13. Die Taubenpost, 14. Kriegers Ahnung] S 560 Das Fischermädchen, Die Stadt und Aufenthalt wurden bereits am 29. November 1839 in der WZ angekündigt. Liszt hatte diese drei Transkriptionen zwei Tage zuvor in Wien gespielt.5 Die kompletten Zyklen Schwanengesang und Winterreise bewarb Haslinger ab 7. Mai 1840 in der WZ.6 [12] Lieder / aus / Fr. Schubert’s Winterreise. / Für das Piano-Forte übertragen / von / F. LISZT. Wien: Haslinger, Pl.-Nr. T. H. 7765–7774. [1. Gute Nacht, 2. Die Nebensonnen, 3. Mut, 4. Post, 5. Erstarrung, 6. Wasserflut, 7. Der Lindenbaum, 8. Der Leiermann, 9. Täuschung, 10. Das Wirtshaus, 11. Der stürmische Morgen, 12. Im Dorfe] S 561 Die aneinander gekoppelten Lieder Der Leiermann und Täuschung haben die Pl.-Nr. 7772, Der stürmische Morgen und Im Dorfe, von Liszt zu einer Bogenform verarbeitet, die Pl.-Nr. 7774. Die einzelnen Nummern des Schwanengesangs (1–14) und der Winterreise (15–24) sind in der Erstausgabe durchnummeriert. Zur Datierung vgl. Schwanengesang.

Herbst 1841

FRANZ SCHUBERT’S / GEISTLICHE LIEDER / für das Pianoforte übertragen / von / FRANZ LISZT. Hamburg und Leipzig: Schuberth & Comp., Pl.-Nr. 411–414. [1. Litanei, 2. Himmelsfunken, 3. Die Gestirne, 4. Hymne] S 562 Ankündigung im Intelligenzblatt der NZfM im Juli 1841. Hofmeister: Musikalisch-literarischer Monatsbericht Oktober 1841, S. 153.

1844

6 / MÉLODIES / célèbres / DE / François Schubert / transcrites / POUR PIANO SEUL / PAR / F. LISZT. Paris: Richault, Pl.-Nr. 6935. S 563 Eingangsvermerk „1844“ in einem Belegexemplar der Richault-Ausgabe.7

März 1846

6 / MELODIEN / von / Franz Schubert / für PIANO allein / von / F. LISZT, Berlin: A. M. Schlesinger, Pl.-Nr. S. 3186 1–6. [1. Lebe wohl!, 2. Mädchens Klage, 3. Das (Zügen-)Sterbeglöcklein, 4. Trockne Blumen, 5. Ungeduld (1. Fassung), 6. Die Forelle (1. Fassung)] WZ 18. März 1846

5 6

7

Siehe diese Arbeit, S. 93. In der WZ vom 20.–28. Juli 1840 finden sich Annoncen für je drei sukzessive Lieder des Schwanengesangs und der Winterreise. Weinmann datiert die Publikation der Lisztschen Winterreise deshalb wohl fälschlich auf Juli 1840. Vgl. Weinmann, Verlagsverzeichnis Haslinger Bd. 2, S. 105. Vgl. NLA, Serie II, Bd. 7, S. XI.

Liszts Schubert-Transkriptionen im Überblick

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SCHUBERT’S / Ungarische Melodien / aus dem ungarischen Divertissement / zu 4 Händen, Op. 54. / Zweihändig / auf eine neue leichtere Art / gesetzt / von / FRANZ LISZT. / Diese Melodien wurden von Franz Liszt / in seinen Concerten vorgetragen. Wien: Diabelli u. Comp., Pl.-Nr. 8353–8355. S 425 WZ 31. März 1846 Mai 1846

DIE FORELLE. / LIED VON FR. SCHUBERT. / Für das / PIANO / Zweite Version / von / FR. LISZT. Wien: Diabelli u. Comp., Pl.-Nr. 8376. S 564 WZ 9. Mai 1846

18468

à M.lle Rosalie Spina. / 6 / Mélodies / favorites / de / la belle Meunière, / de Fr. Schubert, / transcrites / POUR PIANO SEUL / PAR / F. LISZT. Paris: Richault, Pl.-Nr. 9590. [1. Fassung] S 565

Dezember 1846

MÜLLER-LIEDER / von / Franz Schubert. / Für das / Pianoforte / in leichteren [sic] Styl übertragen / von / FRANZ LISZT. Wien: A. Diabelli u. Comp., Pl.-Nr. 8451–8453. [1. Fassung] [1. Das Wandern, 2. Der Müller und der Bach, 3. Der Jäger, 4. Die böse Farbe, 5. Wohin?, 6. Ungeduld (2. Fassung)] Leipziger AmZ 16. Dezember 1846 à M.lle la Baronne / Flore de Koudelka / GRANDE / Marche funèbre / DE / François Schubert, / transcrite / POUR PIANO SEUL / PAR / F. LISZT. à Monsieur / Mortier de Fontaine. / Grande Marche / DE FR. SCHUBERT OP. 40. / transcrite / POUR PIANO SEUL / PAR / F. LISZT. à M.lle la Baronne / Flore de Koudelka / GRANDE / MARCHE / caractéristique / de François Schubert / (Op. 121) / transcrite / POUR PIANO SEUL / PAR / F. LISZT. Paris: Richault, Pl.-Nr. 12309–12311. R. S 426 Eingangsvermerk „1846“ in einem Belegexemplar der Richault-Ausgabe.9

Januar 1847

Herrn Mortier de Fontaine / SCHUBERT’S MÄRSCHE / FÜR DAS / Pianoforte solo / von / FRANZ LISZT. Wien: Diabelli & Co., Pl.-Nr. D. et C. No. 8454–8456. [No. 1. Trauermarsch, No. 2. Allegretto fuocoso., No. 3. Allegro vivace con brio] Hofmeister: Musikalisch-literarischer Monatsbericht 1847, S. 10.

1852/1853

SOIRÉES DE VIENNE / VALSES-CAPRICES / d’après / F. SCHUBERT / dedié à son ami / S. LÖWY / par / F. LISZT. Wien: C. A. Spina, Pl.-Nr. C. S. 9300–9308. S 427 Hofmeister: Musikalisch-literarischer Monatsbericht November 1852, S. 199, Dezember, S. 222, Februar 1853, S. 267 und März, S. 287.

8 9

Zur Datierung vgl. NLA, Serie II, Bd. 7, S. XIII, Anm. 11. Vgl. ebd., S. XV.

316

Anhang

Dezember 1858

FRANZ SCHUBERT / GROSSE FANTASIE / Op. 15 / Symphonisch bearbeitet für / Piano und Orchester / von / FRANZ LISZT. Wien: C. A. Spina, Pl.-Nr. C. S. 15,974. Hofmeister: Musikalisch-literarischer Monatsbericht 1858, S. 182.

März 1862

FANTASIE / von / FRANZ SCHUBERT. / Opus 15. / für Pianoforte / Symphonisch bearbeitet von F. LISZT. / Arrangement für 2 Pianoforte. Wien: Spina, Pl.-Nr. C. S. 17,233. I–II. Hofmeister: Musikalisch-literarischer Monatsbericht 1862, S. 45.

1870/1871

Franz Schubert’s Märsche [Trauer-Marsch, Marsch, Marsch (ReiterMarsch)] für das Orchester übertragen von F. Liszt. Berlin: Fürstner, Pl.-Nr. 192–194. S 363 Deutsch, Musikverlags Nummern, S. 12 (Pl.-Nr. 192, mit 1870 datiert). Hofmeister: Musikalisch-literarischer Monatsbericht Juni 1871, S. 106.

1871

Franz Schubert’s / DIVERTISSEMENT / à la hongroise / Op. 54 / Orchestrirt / von / Max Erdmannsdörfer [Sätze 1 und 3] und Franz Liszt. / No. 2. / Ungarischer Marsch. / (F. Liszt.), Berlin: Fürstner, Pl.-Nr. 195. Deutsch, Musikverlags Nummern, S. 12 (Pl.-Nr. 192 mit 1870 datiert). VIER LIEDER / von / Franz Schubert / für eine Singstimme / mit kleinem Orchester / Instrumentirt von / FRANZ LISZT. Leipzig: Forberg, Pl.-Nr. 1098–1101. S 37510 Hofmeister: Musikalisch-literarischer Monatsbericht Oktober 1871, S. 227.

November 1871

Die Allmacht / GEDICHT / von / Joh. Ladislaus Pÿrker / für eine / Tenorstimme / componirt von / Franz Schubert. / Für / Männerchor und Orchester / bearbeitet / von / Franz Liszt. Leipzig: Schuberth & Co., Pl.-Nr. 4935. S 376 Hofmeister: Musikalisch-literarischer Monatsbericht 1871, S. 253.

Mai/Juni 1877

Concert-Transcriptionen / über / 10 geistliche Lieder / von / BEETHOVEN & SCHUBERT / für Pianoforte von / FRANZ LISZT. Leipzig: Schuberth & Co., Pl.-Nr. 407–414. Hofmeister: Musikalisch-literarischer Monatsbericht 1877, S. 152.

März 1880

Vier Märsche / von / FRANZ SCHUBERT / orchestrirt von F. Liszt. / Transcription / für Pianoforte vierhändig / von / F. LISZT. Berlin: Fürstner, Pl.-Nr. F.2100–2103. Hofmeister: Musikalisch-literarischer Monatsbericht 1880, S. 83.

10

Searle führt insgesamt sechs Lieder auf. Der Doppelgänger ist allerdings nur als Fragment im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar unter der Signatur GSA 60/Q 6 erhalten und Abschied in Raabes Werkverzeichnis als „nicht auffindbar“ aufgelistet. Vgl. auch diese Arbeit, S. 253.

Liszts Schubert-Transkriptionen im Überblick

317

Beim Spina / Schreiber-Nachfolger August Cranz erfolgten nach 1878 einige Neudrucke der Lisztschen Schubert-Transkriptionen, darunter 12 Lieder und MüllerLieder, mit kleineren Varianten.11 Nachfolgend sind nur die Editionen aufgelistet, die wesentliche Veränderungen im Notentext enthalten. Die Ausgaben lassen sich nicht genau datieren. 1883

Marche hongroise / (Fr. Schubert) / transcrite et executée à ses / CONCERTS / par / F. LISZT. / Troisième Edition revue et augmentée. Hamburg: Cranz, Pl.-Nr. 35681. Die Pl.-Nr. bezeugt die zeitliche Nähe zur Gondelfahrer-Ausgabe. DER / GONDELFAHRER / Männer-Quartett / von / F. SCHUBERT. / für Pianoforte transcribiert von / F. LISZT. Hamburg: Cranz, Pl.-Nr. 35682. S 564 Nach Raabe bereits 1838 bei Spina in Wien gedruckt.12 Hofmeister: Musikalisch-literarischer Monatsbericht Juli 1883, S. 163.

1885?13

à son Altesse / MADAME LA PRINCESSE / Pauline de Metternich. / SOIRÉES DE VIENNE. / Valses-Caprices / d’après / F. SCHUBERT / par / F. LISZT. / En neuf Livraisons / […] / Nouvelle Edition augmentée par L’Auteur. Leipzig: Cranz, Pl.-Nr. C. 22720. [2. Fassung von Nr. 6. Die neuen Kadenzen basieren auf Varianten, die Liszt 1869 für seine Schülerin Sophie Menter anfertigte.14] Hofmeister: Musikalisch-literarischer Monatsbericht März 1885, S. 63.

190715

Marche Militaire / (Franz Schubert) / Grande paraphrase de concert / Franz Liszt. St. Louis: Kunkel Brothers, Pl.-Nr. 2017-11. S 426a

11 12 13 14 15

Zu den Abweichungen im Lied Ständchen vgl. ebd., S. 80, Fußnote 26. Vgl. NLA, Serie II, Bd. 2, S. XIII. Gegen die zeitliche Einordnung von Hofmeister spricht die wesentlich tiefere Pl.-Nr. im Vergleich zum Marche hongroise und zum Gondelfahrer. Eine systematische Erforschung der Cranz-Ausgaben stellt nach wie vor ein Desiderat dar. Vgl. diese Arbeit, S. 190 ff. Die Entstehung des Lisztschen Marche militaire liegt im Dunkeln. In der Library of Congress ist ein im Verlag Kunkel Brothers gedrucktes Exemplar vorhanden. Vgl. ebd., S. 278 ff.

318

Anhang

ECKPFEILER DER LISZTSCHEN SCHUBERT-REZEPTION Von Liszts Aufführung seiner Schubert-Transkriptionen sind – soweit bekannt und ohne Anspruch auf Vollständigkeit – nur die ersten öffentlichen oder besonders wichtige Präsentationen seiner Virtuosenzeit aufgeführt.16 1822/23

Liszt lernt im Unterricht bei Czerny Schubertsche Kompositionen kennen.

1824

Diabelli veröffentlicht 50 Veränderungen über einen Walzer für das PianoForte mit u. a. den Variationen von Liszt und Schubert.

1833

Beginn der persönlichen Bekanntschaft zwischen Liszt und der Gräfin Marie d’Agoult (gemeinsame Schubert-Begeisterung).

Herbst 1834

Liszt improvisiert im Salon von Josef Dessauer über den Erlkönig. Es kommt zur Wiederbegegnung mit Nourrit.

4. April 1835

Paris: Liszt und Nourrit präsentieren im Théâtre-Italien Schubert-Lieder.

4. Februar 1837

Paris: Liszt und Nourrit führen in den Salons Erard die Schubert-Lieder Les astres (Die Gestirne) und Les premières amours / Sois mes amours (vermutlich Sei mir gegrüßt) auf.

11. Februar 1837

Paris: Liszt begleitet ein Fräulein Méquillé bei Die junge Nonne und Pensée d’amour (vermutlich Liebesbotschaft). Da er aufgrund einer Erschöpfung eine längere Pause einlegen muss, singt ein „junger deutscher Sänger“ währenddessen zwei weitere Schubert-Lieder.

9. März 1837

Liszt und Nourrit führen den Erlkönig und Die Gestirne auf.

Mai 1837

Liszt improvisiert in Nohant über Schubert-Lieder (darunter Sei mir gegrüßt) und schreibt seine Transkriptionen nieder.

Liszts erste Wiener Konzertserie von April bis Mai 1838: 23. April 1838

Liszt spielt seine Transkriptionen Lob der Tränen und Ständchen17 (Musikvereinssaal).

29. April 1838

Titze und Liszt treten mit Erlkönig und Liebesbotschaft auf (Musikvereinssaal).

2. Mai 1838

Liszt spielt seinen Erlkönig als Zugabe und begleitet die Lieder Ständchen und Der Hirt auf dem Felsen (Musikvereinssaal).

16

17

Als Quellen dienten Ahrens, „Liszts Transkriptionen – Wegbereiter der Rezeption von Schuberts Liedern?“; Brusatti, Schubert im Wiener Vormärz; Keeling, Geraldine, „Concert Announcements, Programs and Reviews as Evidence for First or Early Performances by Liszt of His Keyboard Works to 1847“, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae 34, Budapest 1992, S. 398–401; Legány, Unbekannte Presse und Briefe. Vgl. dazu S. 56, Fußnote 60 dieser Arbeit.

Eckpfeiler der Lisztschen Schubert-Rezeption

319

8. Mai 1838

Liszt begleitet einen Dilettanten beim Lied Der Wanderer (Musikvereinssaal).

14. Mai 1838

Liszt und Randhartinger präsentieren Das Fischermädchen, Der Kreuzzug und Die Forelle (Musikvereinssaal).

15. Mai 1838

Im Konzert der Sängerin Angelika Lacy im Augartensaal spielt Liszt auch seine Transkription des Ständchens.

17. Mai 1838

Liszt spielt im Rahmen eines Hofkonzertes als Zugabe das Ständchen.

18. Mai 1838

Liszt und Lutz (k. k. Hofcapellsänger) präsentieren Auf dem Strom und Die Post. Liszt spielt seinen Erlkönig.

24. Mai 1838

Liszt wirkt im Benefizkonzert zugunsten des „Institutes der barmherzigen Schwestern“ mit und hört dabei Schuberts Männerquartett Der Gondelfahrer, das er noch im selben Jahr für Klavier transkribiert.

25. Mai 1838

Liszt spielt seine Transkriptionen Erlkönig, Die Post und Sei mir gegrüßt (Musikvereinssaal).

Liszts zweite Wiener Konzertserie von November 1839 bis Februar 1840: 19. November 1839

Liszt spielt seine Ave Maria-Transkription (Musikvereinssaal).

27. November 1839

Liszt spielt die ersten drei Transkriptionen seines Schwanengesangs: Die Stadt, Das Fischermädchen und Aufenthalt (Musikvereinssaal).

2. Dezember 1839

Liszt und Randhartinger interpretieren Die Forelle, Liszt spielt seine Bearbeitungen Der Atlas und Die Taubenpost aus dem Schwanengesang (Musikvereinssaal).

14. Dezember 1839

Liszt spielt seine Transkription (möglicherweise den zweiten Satz) von Schuberts Divertissement à l’hongroise (Musikvereinssaal). Die Hefte 1 und 2 waren ab dem 16. Januar 1840 greifbar.18

17. Dezember 1839

Liszt und Schmidtbauer geben zwei Lieder aus Die schöne Müllerin (Musikvereinssaal).

2. Februar 1840

Liszt spielt seine Winterreise-Transkriptionen Gute Nacht, Der stürmische Morgen und Im Dorfe (Musikvereinssaal).

18

Vgl. ebd., S. 209 f. In der WZ vom 16. Januar 1840 heißt es: „Diese Piecen wurden von dem berühmten Virtuosen Fr. Liszt in seinen Concerten in Wien, Preßburg und Pest, mit großem Beyfalle vorgetragen.“ Da das dritte Heft zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorlag, dürfte Liszt wohl nicht den dritten Satz gespielt haben, wie in der Literatur bisweilen vermutet wird. Vgl. Brusatti, Schubert im Wiener Vormärz, S. 110.

320

Anhang

Weitere Aufführungen: 16. März 1840

Dresden: Liszt und Schröder-Devrient führen den Erlkönig auf (Hôtel de Saxe).

18. Februar 1844

Weimar: Liszt dirigiert Schuberts Sinfonie C-Dur (D 944).

Mai 1844

Endgültige Trennung von Marie d’Agoult.

5. Juli 1844

Lyon: Liszt spielt Stephen Hellers Caprice op. 33 über die Forelle.

Liszts dritte Wiener Konzertserie von März bis Mai 1846: 1. März 1846

Liszt spielt seine Ave Maria- und Erlkönig-Transkriptionen (Musikvereinssaal).

5. März 1846

Liszt spielt Schuberts Wanderer-Fantasie (Musikvereinssaal).

8. März 1846

Liszt spielt einen „Ungarischen aus älterer Zeit“19 als Zugabe. Es scheint sich um einen Satz aus Schubert’s Ungarische Melodien zu handeln. Haslinger bewarb die drei Hefte am 31. März in der WZ.

11. März 1846

Liszt spielt (einen Satz?) aus Schubert’s Ungarische Melodien (Musikvereinssaal).

21. März 1846

Wohltätigkeitskonzert für den Kapellmeister Adalberg Gyrowetz: Liszt improvisiert spontan ein Potpourri, worin auch der Erlkönig vorkommt.20

22. März 1846

Liszt spielt seine Transkriptionen Das Zügenglöcklein und Die Forelle.

26. März 1846

Liszt und Hölzl führen Der Schiffer auf (Musikvereinssaal). Liszt und Schönstein präsentieren in den Appartements der Erzherzogin Sophie Auf dem Wasser zu singen, Die Taubenpost und Wohin?

Weitere Marksteine: 14. Dezember 1851

Wien: Uraufführung der Lisztschen Wandererfantasie mit dem Pianisten Julius Egghard (Musikvereinssaal).

24. Juni 1854

Uraufführung von Alfonso und Estrella durch Liszt in Weimar.

19 20

Vgl. dazu Legány, Unbekannte Presse und Briefe, S. 89. „Er begann mit dem Händelschen Allegrosatze und ging dann auf die Hauptmotive des ‚Erlkönig‘ über, und diese Motive alle verwebte er so kunstreich und effectvoll ineinander, bald das eine, bald das andere bringend, bald wieder zwei Themas zugleich zusammen verschmelzend, daß es eine wahre Freude war, einer so geistreichen Improvisation zu folgen, und man nur bedauerte, daß es keine musikalische Stenographen gibt, welche das Alles aufzuzeichnen wüßten.“ Ebd., S. 97.

Abkürzungsverzeichnis

321

1. Juni 1857

Liszt dirigiert in Aachen erneut Schuberts Sinfonie C-Dur.

1870–1871

Liszt gibt bei Cotta zwei Bände mit Schuberts zweihändiger Klaviermusik heraus.

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AmZ NSA NLA NZfM MGG RGMdP WZ

Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung Neue Schubert-Ausgabe Neue Liszt-Ausgabe Neue Zeitschrift für Musik Musik in Geschichte und Gegenwart Revue et gazette musicale de Paris Wiener Zeitung

MUSIKALIENVERZEICHNIS UND BIBLIOGRAFIE 1.1 Musikalien Beethoven, Ludwig van, Klaviersonaten II, Wissenschaftliche Gesamtausgabe, Abteilung VII, Bd. 3, hrsg. von Hans Schmidt, München: Henle, 1971. Berlioz, Hector, Le roi des aulnes, in: New Edition of the Complete Works, Arrangements of works by other composers II, Volume 22b, hrsg. von Joël-Marie Fauquet, Kassel etc.: Bärenreiter, 2004. Chopin, Frédéric, Etüden, hrsg. von Ewald Zimmermann, München: Henle, 1983. Czerny, Carl, Variationen über den beliebten Wiener Trauer-Walzer (von Fr. Schubert.) für das Piano-Forte, 12tes Werk, Dritte rechtmässige Original-Auflage, Wien: Haslinger, Pl.-Nr. 3377 [nach 1826]. –, Systematische Anleitung zum Fantasieren auf dem Pianoforte op. 200, Wien: Diabelli & Cappi, Pl.-Nr. 3270 [1829]. –, Drey brillante Fantasien über die beliebtesten Motive aus Franz Schubert’s Werken für das Pianoforte zu vier Händen op. 339, Wien: Diabelli und Comp., Pl.-Nr. 5481 [ca. 1835]. Diabelli, Anton, 50 Veränderungen über einen Walzer für das Piano-Forte, Wien: Diabelli et Comp., Pl.-Nr. 1381 [1824]. Heller, Stephen, Scherzo pour le Piano op. 24, Berlin: Schlesinger, Pl.-Nr. M. S. 3212 [1841]. –, Trente Mélodies de F. Schubert, Paris: Brandus et Dufour, keine Pl.-Nr. [1842]. –, Die Forelle – La Truite, de Fr. Schubert, Caprice brillant op. 33, Berlin: Schlesinger, Pl.-Nr. S. 2863 [1843]. –, Wohin? (Lied der Müllerin) La fontaine de F. Schubert, Caprice brillant op. 55, Berlin: Schlesinger, Pl.-Nr. S. 3232 [1846]. –, „Horch, horch die Lerch’ im Aetherblau“, Ständchen von F. Schubert op. 68, Berlin: Bote & Bock, Pl.-Nr. B.&B. 1318 [1849]. –, 15 Mélodies de F. Schubert, Paris: Brandus & Cie, Pl.-Nr. B & Cie 12,648, [1882]. –, Erlkönig (Fr. Schubert), Wien: Universal Edition, Pl.-Nr. U. E. 6231, 6234 [ca. 1915]. Liszt, Franz, Ave Maria – Mélodie de François Schubert, Paris: Richault, Pl.-Nr. 3815 [s. d.]. –, Soirée de Vienne Nr. 6, Kadenz [1869] für Sophie Menter, ML96.L58. Music Division, Library of Congress, Washington D. C. –, Franz Schubert’s Divertissement à la hongroise, orchestrirt von Max Erdmannsdörfer [Sätze 1 und 3] und Franz Liszt. No. 2. Ungarischer Marsch, Berlin: Fürstner, Pl.-Nr. 195 [1871].

322

Anhang

–, Vier Lieder von Franz Schubert für eine Singstimme mit kleinem Orchester, Leipzig: Forberg, Pl.-Nr. 1098–1101 [1871]. –, Marche hongroise (Fr. Schubert), troisième edition revue et augmentée, Hamburg: Cranz, Pl.-Nr. 35681 [1883]. –, Marche militaire (Franz Schubert), grande paraphrase de concert, St. Louis: Kunkel Brothers, Pl.-Nr. 2017-11 [1907]. –, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie I, Werke für Klavier zu 2 Händen, hrsg. von Antal Boronkay, Zoltán Gárdonyi, Imre Mező, Imre Sulyok, István Szelényi, Editio Musica Budapest und Bärenreiter Kassel etc., 1970–1985. –, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie II, Freie Bearbeitungen und Transkriptionen für Klavier zu zwei Händen, hrsg. von Péter Bozó, Györgyi Éger, Zoltán Farkas, Géza Gémesi, Adrienne Kaczmarczyk, István Kassai, Andreas Krause, László Martos, Imre Mező, Imre Sulyok, Katalin Szerző und László Vikárius, Editio Musica Budapest, 1986–2005. Der Gondelfahrer. Männerquartett von Franz Schubert (op. 28, D 809), Schuberts ungarische Melodien aus dem ungarischen Divertissement zu 4 Händen op. 54 (D 818) auf eine neue leichtere Art gesetzt, Mélodies hongroises d’après Schubert (Divertissement à la hongroise op. 54 D 818), in: Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie II, Bd. 3, Freie Bearbeitungen III. Konzerttranskriptionen über 10 geistliche Lieder von Beethoven und Schubert Bd. 1, Beethovens geistliche Lieder von Gellert, Bd. 2, Franz Schuberts geistliche Lieder, in: Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie II, Bd. 4, Freie Bearbeitungen IV. 6 Melodien von Franz Schubert, Müller-Lieder von Franz Schubert (2. Fassung), Die Forelle. Lied von F. Schubert (2. Fassung), Franz Schuberts Märsche, in: Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie II, Bd. 7, Freie Bearbeitungen VII. Soirées de Vienne. Valses-caprices d’aprés François Schubert, in: Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie II, Bd. 10, Freie Bearbeitungen X. Marche hongroise d’après Franz Schubert: Divertissement à la hongroise op. 54 Nr. 2 – D 818/2, in: Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie II, Bd. 15, Freie Bearbeitungen XV. Die Rose, Lob der Tränen, 12 Lieder von Franz Schubert, in: Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie II, Bd. 20, Transkriptionen V. Schwanengesang, Winterreise, in: Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Serie II, Bd. 21, Transkriptionen VI. Matiegka, Wenzel Thomas, Notturno für Flöte, Viola und Gitarre op. 21, Wien: Artaria, Pl.-Nr. 1926 [1807]. Paganini, Niccolò, 24 Capricci per violino solo, Mailand: Ricordi, Pl.-Nr. 403 [1820]. Parish-Alvars, Elias, Grande fantaisie pour la harpe sur des motifs de l’opéra Moïse de Rossini, Wien: Pietro Mechetti qm Carlo, Pl.-Nr. A. C. 11417 [s. d.]. Schubert, Franz, Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Kassel etc. 1964 ff. Schubert, Franz, Fantasie C-Dur. Erste Ausgabe nach dem Autograph; herausgegeben und mit Fingersätzen versehen von Paul Badura-Skoda, Wien: Wiener Urtext Edition, 1965. Schubert/Liszt, ‚Wanderer‘ Fantasy for Piano and Orchestra, London etc.: Eulenburg, 1980. Schubert, Franz, La Jeune Religieuse [Die junge Nonne], orchestrierte Fassung von 1835, rekonstruiert von Xavier Hascher, in: Hascher, Xavier, „Quand Schubert ‚entra dans la gloire‘: Nourrit et les versions orchestrées de La Jeune Religieuse et du Roi des Aulnes“, in: Cahiers Franz Schubert 17 [2009], S. 52–70. Tausig, Carl, Militär-Marsch von Franz Schubert, Leipzig: Senff, Pl.-Nr. 847 [1868]. Thalberg, Sigismund, Fantaisie sur des mélodies de Franz Schubert, aus: Décameron op. 57, Paris: Troupenas et Cie, Pl.-Nr. 2106 [1847]. –, Le meunier et le torrent de Schubert, in: L’art du chant appliqué au piano op. 70, Mainz: Schott, Pl.-Nr. 14666 [1853]. –, 3 Mélodies de Fr. Schubert op. 79, Mailand: Ricordi, Pl.-Nr. 35077–35079 [1864]. –, Fantaisie sur Moses de Rossini, op. 33, Leipzig: Breitkopf & Härtel, Pl.-Nr. V. A. 324 [ca. 1875]. Urhan, Chrétien, Études d’expression. 5 Mélodies de François Schubert, Paris: Richault, Pl.-Nr. R 4520 [ca. 1845].

Musikalienverzeichnis und Bibliografie

323

1.2 Liszt als Herausgeber Schuberts INSTRUCTIVE AUSGABE / KLASSISCHER KLAVIERWERKE. / AUSGEWÄHLTE / SONATEN UND SOLOSTÜCKE / für das / PIANOFORTE / von / FRANZ SCHUBERT. / BEARBEITET VON / FRANZ LISZT. Stuttgart: Cotta, 1870–1871. Fantasie C dur Op. 15, Erste grosse Sonate C Dur Op. 42 [recte a-Moll], Zweite grosse Sonate D dur Op. 53, Fantasie oder Sonate G dur Op. 78, Walzer und Ländler Op. 9, 18, 33, Valses sentimentales etc. Op. 50, 67, 92, 127, Impromptus Op. 90, Momens [sic] musicals Op. 94, Impromptus Op. 142.

2. Schriften Liszt, Franz, Essays und Reisebriefe eines Baccalaureus der Tonkunst, in: Lina Ramann (Hg.), Gesammelte Schriften von Franz Liszt, Bd. 2, Leipzig 1881. –, Die Zigeuner und ihre Musik in Ungarn, in: La Mara (Hg.), Gesammelte Schriften von Franz Liszt, Bd. 3, Leipzig 1910. LSS 1 Liszt, Franz, Sämtliche Schriften, Bd. 1: Frühe Schriften, hrsg. v. Rainer Kleinertz, Wiesbaden 1998. LSS 5 Liszt, Franz, Sämtliche Schriften, Bd. 5: Dramaturgische Blätter, hrsg. v. Dorothea Redepenning und Britta Schilling, kommentiert von Detlef Altenburg, Dorothea Redepenning und Britta Schilling, Wiesbaden 1989.

3. Sekundärliteratur Adorno, Theodor W., „Schubert“, in: ders., Moments musicaux. Neu gedruckte Aufsätze 1928–1962, Frankfurt a. M. 1964, S. 18–33. –, „Franz Schubert: Großes Rondo A-Dur, für Klavier zu vier Händen, op. 107“, in: ders., Gesammelte Schriften Band 18, hrsg. von Rolf Tiedemann u. a., Frankfurt a. M. 1970–1986, S. 189–194. Ahrens, Christian, „Liszts Transkriptionen – Wegbereiter der Rezeption von Schuberts Liedern?“, in: Schubert : Perspektiven 9 (2009), Heft 1, S. 1–42. Anderson, Benedict, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a. M. 21996; engl. Originalausgabe: Imagined Communities. Reflections on the Origin and  Spread of Nationalism, London 1983. Beckerman, Michael, „In Search of Czechness in Music“, in: 19th-Century Music, Bd. 10, Nr. 1 (1986), S. 61–73. Berlioz, Hector, Memoiren, hrsg. von Frank Heidlberger, Kassel 2007. Bolster, Richard, Marie d’Agoult. The Rebel Countess, New Haven/London 2000. Bory, Robert (Hg.), „Diverses lettres inédites de Liszt“, in: Schweizerisches Jahrbuch für Musikwissenschaft, Bd. 3, Aarau 1928. Bredekamp, Horst, Sankt Peter in Rom und das Prinzip der produktiven Zerstörung, Berlin 2000. Brusatti, Otto, Schubert im Wiener Vormärz. Dokumente 1829–1848, Graz 1978. Budde, Elmar, Schuberts Liederzyklen, München 2003. Busoni, Ferruccio, „Wert der Bearbeitung“, in: Von der Einheit der Musik, Verstreute Aufzeichnungen, Berlin 1922, S. 147–153. Caillet, Robert, „Quarante ans d’amitié sans nuage: lettres de Stephen Heller à Bonaventure Laurens“, in: La Revue Musicale, Februar 1934, S. 135–148. Carone, Angela, „Das Bekannte neu gestalten. Carl Czernys Drey brillante Fantasien über die beliebtesten Motive aus Franz Schubert’s Werken, op. 339“, in: Schubert : Perspektiven 12 (2012), Heft 1, Stuttgart 2015, S. 1–19. Claudon, Francis, „Schubert und Frankreich“, in: Schubert : Perspektiven 8 (2008), Heft 1, Stuttgart 2009, S. 102–120. Cooper, John Michael, ‚For You See I Am the Eternal Objector‘: On Performing Mendelssohn’s Music in Translation“, in: Siegwart Reichwald (Hg.), Mendelssohn in Performance, Bloomington 2008, S. 207–248.

324

Anhang

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Liszts planvoll zwischen den tradierten Gattungen changierende Klavier-Transkriptionen haben eine wechselhafte Rezeptionsgeschichte erfahren. Mit seinen Schubert-Bearbeitungen, die zunächst durchaus als konzertante Gattung eigenen Rechts gewürdigt wurden, feierte der Klaviervirtuose große Erfolge. Publikum und Presse waren einhellig der Meinung, dass Schuberts Musik erst durch Liszt verständlich werde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerieten die Arrangements

jedoch unter den Generalverdacht mangelnder Originalität, der das Liszt-Bild nachhaltig trübte. Dabei bilden gerade die Schubert-Bearbeitungen einen zentralen Baustein von Liszts musikalischem Weltbild. In seiner kreativen Beschäftigung mit dem einfachen Walzer sowie dem raffinierten Kunstlied bis hin zur komplexen Fantasie Schubertscher Prägung findet sich nicht nur der Schlüssel zu Liszts Schaffen, sondern auch ein Zugang zur Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-12137-8

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