"Den Balkan gibt es nicht": Erbschaften im südöstlichen Europa 9783412218997, 9783412225315

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"Den Balkan gibt es nicht": Erbschaften im südöstlichen Europa
 9783412218997, 9783412225315

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Martina Baleva | Boris Previšić (Hg.)

»DEN BALKAN GIBT ES NICHT« Erbschaften im südöstlichen Europa

2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Reliefkarte der Volksrepublik Bulgarien, Detail, Sofia 1983, Privatbesitz und Foto von Martina Baleva

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Kornelia Trinkaus, Meerbusch Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-22531-5

Inhalt Martina Baleva und Boris Previšić Les Balkans n’existent pas! Plurale Erbschaften und interdisziplinäre Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Maurus Reinkowski Verlustsache Rumelien. Türkische Erinnerungskulturen zu Südosteuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Elke Hartmann Sehnsucht, Zuflucht, Schreckbild. Der Balkan im Blick armenischer Revolutionäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Daniel Ursprung Südosteuropa als Kommunikationsregion. Reichweite und Randzonen eines historischen Raumes am Beispiel Albaniens und Rumäniens . . . . . . . 59 Boris Previšić Karl May und seine Rezeption auf dem Balkan. Im Widerstreit imperialer und nationaler Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Martina Baleva Den männlichen Balkan gibt es nicht. Überlegungen zum visuellen Balkanismus als bildgeschichtliche Kategorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Tanja Zimmermann »Wenn noch irgendein ›Balkan‹ im früheren Sinne dieses Wortes existiert, so bestimmt nicht hier auf dem Balkan«. Archaisierung und Antikisierung im Kampf gegen den Orientalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Karl Kaser Gibt es den Balkan doch? Krieg und visuelle Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Louisa Avgita Den Balkan gibt es nicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Nada Boškovska Skopje 2014. Makedonien auf der Suche nach seiner Vergangenheit . . . . . . 170

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Inhalt

Samuel M. Behloul Zwischen Balkan-Hypothek und Balkan-Bonus. Identitätsbildung der muslimisch-jugoslawischen Diaspora in der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Andreas Ernst Ein halbherziger Hegemon. Überlegungen zum europäischen Konfliktmanagement auf dem Balkan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Bildnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

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Les Balkans n’existent pas! Plurale Erbschaften und interdisziplinäre Herausforderungen

Verneinung und Erweiterung von Selbstbildern 1992 läutete der provokative Slogan »La Suisse n’existe pas« an der Weltausstellung in Sevilla eine nachhaltige Aufarbeitung der Schweizer Geschichte und des Schweizer Fremd- und Selbstbildes im öffentlichen Bewusstsein ein, das sich von seinen Helden und Mythen verabschieden durfte, um sich mit Fantasie und Weltoffenheit der Zukunft zu stellen. Verfolgt man die damals entbrannten Diskussionen, sind zwei Reaktionsmuster auszumachen. Die einen sahen sich wortwörtlich in ihrer Existenz bedroht, da sie ihre Mythen von heiler Bergwelt und unschuldiger Neutralität, welche man ein Jahr zuvor anlässlich der 700 Jahre Eidgenossenschaft noch beschworen hatte, nicht wiederfanden. Die anderen begrüßten die Tabula rasa, denn mit der Negation der Klischees wurde es möglich, die jüngere Vergangenheit und insbesondere die unrühmliche Rolle der offiziellen Schweiz gegenüber den Juden im Zweiten Weltkrieg sowie die Fichen-Affäre nachhaltig aufzuarbeiten. Auch wurden andere Daten der Schweizer Geschichte in Erinnerung gerufen, die für die moderne Schweiz prägender waren als 1291. Namentlich war es das Jahr der Gründung der Helvetischen Republik 1898, sowie das Jahr 1848, in dem die Schweiz als moderner Bundesstaat gegründet wurde. Nicht zuletzt konnte man nun auch neue Rollenbilder für die Schweiz in einer globalisierten Welt nach der politischen Wende im Ostblock entwerfen. Konservative Bilder gerieten zunehmend in Konkurrenz zu einem neuen Nationalstolz, der explizit auf eine humanitäre Tradition und liberale Vorbildfunktion der Schweiz verwies, welche im Zeichen von Globalisierung und Migration ein demokratisch gewachsenes multikulturelles Modell liefern konnte. Gleichzeitig erfolgte die ökonomisierte Verwertung dieser ›Marke‹ unter dem Label »Swissness«. Die nationale Werteskala wurde durch die ironische Verneinung ihrer Existenz stark erweitert.

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Das Motto »Les Balkans n’existent pas«, das dem vorliegenden Sammelband zugrunde liegt, greift diesen herausfordernden Gedanken auf.1 Die genauen Kenntnisse über den Balkan können dazu verhelfen, die zukunftsweisende Vielfalt und Einmaligkeit der Region jenseits von Fremd- und Eigenprojektionen ans Licht zu bringen. Die Stereotype zum Balkan sind zur Genüge bekannt. Sie sind erst vor dem Hintergrund der postjugoslawischen Kriege und der daraus entstandenen Emigrationen in den Westen seit den frühen 1990er Jahren zu verstehen. Dabei konnte man relativ leicht Projektionen der europäischen Großmächte reaktivieren, welche mit der ›Orientalischen Frage‹ im ausgehenden 19. Jahrhundert virulent wurden. Sie schienen sich mit den beiden Balkankriegen 1912/1913 und dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger in Sarajevo nur noch zu bestätigen. Seit längerem fragen die Area Studies danach, was hinter solchen Diskursen ›real‹ und regionsspezifisch sein könnte. Die Antwort darauf fällt nicht so einfach aus: Während eurozentristische Perspektiven den verzögerten Entwicklungsstand der Region unterstreichen, kommen komparatistische Ansätze zum Schluss, dass erst die spezifische historische Konstellation der neuen Weltordnung nach dem Ende des Kalten Kriegs zu einer Eigendynamik der Ereignisse geführt hat.

Balkan und die Pluralisierung von Raum und Zeit Mit der Verneinung des Balkans ist zu allererst die räumliche und historische Einheit zu hinterfragen, wobei der Akzent auf die Pluralisierung von Raum und Zeit in Räumen und Zeitschichten verlagert wird. In Bezug auf die räumliche Einheit ist in die Rechnung aufzunehmen, dass es auf der Balkanhalbinsel neben der Stara Planina (bulg. Altes Gebirge bzw. Balkangebirge), deren osmanisch-türkischer Name der Region den Namen gegeben hat, noch weit größere und höhere und somit auch topografisch wichtigere Gebirge gibt. So trennt das Dinarische Gebirge der Adriaküste entlang die mediterrane von der kontinentalen Klimazone. Es erstreckt sich von den Alpen bis nach Montenegro. Es folgen die mittelalbanische Gebirgszone und daran anschließend der Pindos-Gebirgszug. In Westmakedonien trifft man auf weitere Gebirge mit dem Olympos mit seinen fast 3000 Metern. Auf bulgarischem Territorium befinden sich die fast ebenso hohen Pirinund Rila-Gebirge, sodann das Rhodopen-Massiv, die Sredna Gora und nördlich der Stara Planina schließlich der Karpatenbogen, der von Rumänien bis in die 1 Der Titel geht zurück auf die gleichnamige Ringvorlesung des Kompetenzzentrums Kulturelle Topographien »Les Balkans n’existent pas. Bilder, Räume und Kulturen im Südosten Europas«, die im Herbstsemester 2013 an der Universität Basel stattfand. An ihr nahmen neben den an diesem Band beteiligten Autorinnen und Autoren ebenso Maria Todorova, Oliver Jens Schmitt, Barbara Schellewald, Ljiljana Reinkowski, Nataša Mišković sowie Tatjana Simeunović teil. Die Beiträge von Elke Hartmann und Louisa Avgita wurden eigens eingeworben.

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Slowakei reicht.2 Aus anderen Gebirgszonen wie den Alpen oder dem Kaukasus ist bekannt, dass diese geografische Kleingliedrigkeit sehr verschiedene Sprachen und Kulturen auf relativ engem Raum zulässt. Diese Vielfalt, welche sich durch Völkerwanderungen, die traditionellen Wanderbewegungen der Hirten und den imperialen Zugriffen zusätzlich durchmischt, ist ein wichtiges Merkmal nicht nur der ganzen Halbinsel, sondern – wie das Fernand Braudel nachzeichnet – für den ganzen Mittelmeerraum.3 Der historische Rückblick macht deutlich, dass die topografischen Voraussetzungen in engem Zusammenhang mit den verschiedenen Einflusszonen von Byzanz bis Österreich-Ungarn stehen. Man kann also von spezifischen ›historischen Chronotopoi‹ des Balkans sprechen, welche erst mit spezifischen Peripherisierungstheorien beschreibbar werden. Geschichte wird hier nicht als teleologische Folge im Sinne von Aufklärung und Modernisierung, Nationalisierung und Industrialisierung gedacht. Vielmehr ist je nach imperialer Zugehörigkeit oder Eigenständigkeit von verschiedenen ›Eigenzeiten‹ und von ›Zeitschichten‹ zu sprechen.4 Kennzeichnend für die historischen Entwicklungen auf dem Balkan sind die Brüche, die in eigenartiger Korrelation zur Topografie stehen. Der ›historische Chronotopos‹ des Balkans ist somit immer von zwei Seiten, vom zergliederten Raum und von den historischen Brüchen her zu denken. Zu Recht weist Karl Kaser darauf hin, dass das einstige byzantinische und zum Teil auch noch osmanische ökonomische Süd-Nord-Gefälle in ein Nord-Süd-Gefälle kippt, das mit der Historiografie Hand in Hand geht. Es geht bis in das 11. Jahrhundert und damit auf Byzanz zurück, als einzelne nationale Zentren im Norden – wie in Kroatien, Ungarn und in serbischen Gebieten – entstehen, die sich von der osmanischen Geschichtsschreibung für Jahrhunderte abkoppeln.5 Darum gibt es nicht die Geschichte des Balkans und ebenso wenig die Geschichtsschreibung über den Balkan. Umso mehr ist auf Geschichtsmodelle zurückzugreifen, welche diesem pluralen Chronotopos gerecht werden. Die geologische Metaphorik der Zeitschichten indessen erlaubt eine mehrdimensionale Betrachtung, welche

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Vgl. Karl Kaser: Südosteuropäische Geschichte und Geschichtswissenschaft. Eine Einführung, 2. Auflage, Köln u. a. 2002, S. 25 f. 3 Fernand Braudel: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., 3 Bde., Frankfurt a. M. 1990 (deutsche Übersetzung der französischen Originalausgabe: La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, Paris 1949). 4 Vgl. Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von HansGeorg Gadamer, Frankfurt a. M. 2000, S. 19 f. Wie Koselleck einsichtig beschreibt, ist selbst eine zyklische Zeitauffassung teleologisch bestimmt, indem die Zeit immer eine Richtung aufweist, auch wenn Anfang und Ende wieder zusammenfallen. 5 Vgl. Kaser 2002 (wie Anm. 2), S. 10 f.

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verschiedene, auch gegenläufige Entwicklungen und somit auch die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« beschreibbar macht.6 Die eurozentristische Perspektive unterstreicht immer wieder den verzögerten Entwicklungsstand der Region. Erst in der jüngsten Geschichte hat die Peripherisierung im Zuge der neuen Weltordnung nach dem Ende des Kalten Kriegs zu einer sozial-ökonomischen Eigendynamik geführt, welche die ganze Region im Vergleich mit Resteuropa ins Hintertreffen geraten ließ. Es handelt sich also hier um eine typische Bruchstelle, auf die wir in den verschiedenen Geschichten des Balkans immer wieder treffen. Man kann durchwegs bemängeln, dass eine integrale Europageschichte oftmals den Balkan außen vor lässt.7 Doch zu fragen wäre gerade in diesem Kontext, ob der Balkan immer als integrativer Bestandteil Europas angesehen werden muss, weil es sich ja – neutral formuliert – um das südöstliche Europa handelt, oder ob es nicht sinnvollere Varianten der räumlichen Einordnung gibt wie beispielsweise den Vergleich zwischen dem Balkan und Anatolien oder mit anderen peripheren Räumen wie etwa mit Irland, Galizien oder mit dem Kaukasus. Sprechen wir vom Balkan, so vermeinen wir meistens von einem bestimmten geografischen Raum zu sprechen. Dabei schließen wir von einem bestimmten Raum in seiner territorial und geografisch definierten Containerfunktion auf bestimmte kulturelle Spezifika oder umgekehrt – von spezifischen kulturellen Befunden auf einen Raum. Dabei handeln wir uns jedoch immer das Problem der kausalen Verknüpfung zwischen Kultur und Raum ein. Dass das Raumkonzept aber eine höchst relative und historisch-diskursiv konstruierte Größe darstellt, lässt sich mit dem Balkan exemplarisch durchdeklinieren. Den konstruktivistischen und diskurshistorischen Unkenrufen zum Trotz könnte man versucht sein zu fragen, wo denn der Balkan liege. Dass diese Frage nie neutral gestellt werden kann, sondern immer schon Ambivalenzen freilegt, verweist auf die multiplen historischen Erbschaften, welche mit dem Balkan verknüpft werden. Je nach Perspektive wird der Begriff anders gewertet. Umso wichtiger ist es, die unterschiedlichen Sichtweisen zu benennen und zu reflektieren. Der Balkan zeichnet sich gerade nicht durch topografische und chronologische Spezifika aus. Vielmehr besetzt er geografisch, kulturell und historisch wichtige Bruch- und Schnittstellen, die es genauer in den Blick zu nehmen gilt. 6 Vgl. dazu wiederum Karl Kaser: Freundschaft und Feindschaft auf dem Balkan. Euro-balkanische Herausforderungen, Klagenfurt 2001, S. 28. 7 Sabine Rutar: Introduction: Beyond the Balkans. In: Dies. (Hg.): Beyond the Balkans. Towards an Inclusive History of Southeastern Europe, Wien u. a. 2014, S. 7–25. Sie bezieht sich dort vor allem auf Rainer Liedtke: Geschichte Europas. Von 1815 bis zur Gegenwart, Paderborn 2010, sowie auf Hartmut Kaelble, Martin Kirsch (Hg.): Selbstverständnis und Gesellschaft der Europäer. Aspekte der sozialen und kulturellen Europäisierung im späten 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2008.

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Balkan in mythischen und politischen Begriffsgeschichten Geografisch besehen handelt es sich beim heutigen ›Balkan‹ um dasjenige Gebiet, welches das antike Griechenland einst mit ›Europa‹ bezeichnete.8 Damit stoßen wir gleich zu Beginn auf das Paradox, dass jene Region, welche heute quasi als Synonym für die europäische Peripherie verstanden wird, einst den Ursprungsort derjenigen Kultur bildete, auf die sich Europa noch heute beruft. Das antike Griechenland als Wiege der europäischen Kultur verortet wiederum ihre Herkunft auf dem Gebiet, das heute dem ›Balkan‹ zugeschlagen wird. So trifft man auf einen kulturhistorischen Widerspruch, der europäisches Zentrum und europäische Peripherie auf der eigenen Mental Map miteinander verschränkt, sobald man antike und heutige Perspektive auf diesem Gebiet übereinanderlegt und zusammendenkt. Was rein geografisch-historisch bereits zu einem Paradox führt, kompliziert sich in einem zweiten Schritt, sobald man nach der Bezeichnung ›Balkan‹ fragt. Auch wenn hier keine Begriffsgeschichte entfaltet werden soll, so kann ein exemplarischer Blick auf zwei Enzyklopädien die begriffliche Verschränkung von mythischer und politischer Diskursgeschichte aufzeigen. Werfen wir einen Blick auf das Jahrhundert der Aufklärung, so trifft man just hier auf den Balkan als mythische Größe. Im Großen vollständigen Zedler-Universallexikon aus dem Jahre 1733 ist unter dem Stichwort »Balkan« nur der Verweis auf den »Aemus oder Hämus, ein[en] sehr grosse[n] Berg in Thracien« verzeichnet, der »[b]ey denen Türcken Balkan, und bey den Italiänern Catena del mondo genennet« werde. Die italienische Bezeichnung der »Weltkette« (»Catena del mondo«) ›überhöht‹ den Begriff litteraliter und metaphoriter mit der Begründung, der Balkan sei »so hoch, daß man von seinen Gipffeln das schwartze und Adriatische Meer soll sehen können«.9 Hier wird ein Irrtum der Antike unkommentiert weitertradiert, der auf den Geografen Strabon (63–23 v. Chr.) zurückgeht. Dieser berichtet, dass der Hämos »am Schwarzen Meer beginnt und sich ununterbrochen 8 Robert Bideleux: Europakonzeptionen. In: Karl Kaser et al. (Hrsg.): Europa und die Grenzen im Kopf (= Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens 11), Klagenfurt 2003, S. 89–111, S. 94. Jörg-Dieter Gauger zeigt in seinem Vortrag »Einheit, Vielfalt, Bürgergesellschaft – griechische Lebensform und europäische Identität« auf, dass der hellenische Europa-Diskurs, wie er uns von Herodot überliefert ist, das Bewusstsein der balkanischen Herkunft pflegt. Darin zeigt sich der Willen zu Freiheit und Selbstbestimmung der Griechen in Absetzung von den »persischen Orientalen«. Vgl. die Besprechung des Vortrags im Bericht vom 44. Historikertag 2002 in Berlin von Katja Gorbahn: Historikertag 2002: Europa in der Antike – Tradition oder retrospektive Vision?: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=89 (Letzter Zugriff: 2. Juli 2015). 9 Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Bd. 2 (B-Bi), Halle, Leipzig 1733, Spalte 654.

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bis zur Adria erstreckt«. Doch der thrakische Hämos, die bulgarische Stara Planina bzw. der türkische Balkan ist im Vergleich zur ganzen Halbinsel zwischen Adria und Schwarzem Meer keineswegs so dominant, als dass der Name dieses Gebirges auf die ganze Landmasse übertragen werden könnte.10 »Die Bezeichnung [Balkan] beruht also auf einem Fehler, der vor über zweitausend Jahren in die Welt gesetzt […] wurde.«11 Dass der mythische Balkan überhaupt Eingang in die Enzyklopädik der Aufklärung findet, ist implizit auf den Mythos der beiden Geschwister Rhodopen und Hämos zurückzuführen, welche gemäß Ovids Metamorphosen aufgrund ihrer Hybris in Gebirge verwandelt worden sind. Nichtsdestotrotz ist davon auszugehen, dass Ovid selbst den Hämos aus seiner eigenen Verbannung ans Schwarze Meer gekannt haben muss. Schon in der Antike überlagern sich somit Mythos und geografische Realität. Gut 150 Jahre nach dem Eintrag in den Zedler hat sich das Kompositum »Balkanhalbinsel« eingebürgert, womit sich das Gebirge im heutigen Bulgarien für eine größere Region festsetzt. Die Verschiebung von einem Teil aufs Ganze, das pars pro toto für die ganze »Balkanhalbinsel«, schlägt weitere Kreise und endet schließlich in einer enzyklopädischen Sackgasse, welche die politische Implikationen des Begriffs eindrücklich vor Augen führt. Folgen wir der Fährte der Grande Encyclopédie zu Ende des 19. Jahrhunderts, so wird unterschieden zwischen dem Lemma »Balkan« (ohne s) im Singular als Gebirge und »Péninsule des Balkans« (im Plural).12 Die »Balkanhalbinsel« – wir sind bei B und somit noch ziemlich am Anfang des französischen Lexikons – ersetzt den bisher gebräuchlichen politischen Begriff der »Europäischen Türkei«, der »Turquie européenne«. Der Vermerk aus dem Jahre 1888 verweist auf das Lemma »Question d’Orient« im Band 27, der aber erst zwölf Jahre später, nämlich 1900, erscheint. Dort erhält man aber keine Erklärung für die große »orientale Frage«, wie und ob überhaupt die imperialen Mächte Russland, England, Frankreich, Preußen und Habsburg das Osmanische Reich unter sich aufteilen wollen. Nein, diese Frage brennt inzwischen offenbar nicht mehr so unter den Nägeln. Das Lemma »Question d’Orient« verweist lediglich weiter auf das Lemma »Turquie« (»Türkei«), das wohlweislich noch weiter hinten im Alphabet nach »B« wie »Balkan« und »Q« wie »Question« figuriert. »T« wie »Turquie« erscheint erst im letzten, 31. Band von 1902 und hat inzwischen nicht mehr viel mit der Balkanhalbinsel zu tun, weil sich das Osmanische Reich, abgesehen von den letzten Restbeständen im heutigen Albanien, Makedonien und Griechenland, schon fast gänzlich aus der Region zurückgezogen hat. Die 10 Holm Sundhaussen: Osteuropa, Südosteuropa, Balkan: Überlegungen zur Konstruktion historischer Raumbegriffe. In: Ders. (Hg.): Was ist Osteuropa, Berlin 1998, S. 4–22, hier S. 12. 11 Kaser 2002 (wie Anm. 2), S. 21. 12 La Grande Encyclopédie. Inventaire raisonné des sciences, des lettres, et des arts, par une société de savants et de gens de lettres. 1886–1902. Balkan – Balkans, Bd. 5, Paris 1888, S. 139.

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vierzehnjährige lexikalische Odyssee zwischen 1888 und 1902 beginnt gewissermaßen auf der Balkanhalbinsel und endet im türkischen Anatolien. Was hier unter dem politischen Begriff des Balkan rubrifiziert werden kann, ist heute in den Area Studies zum südöstlichen Europa aktueller denn je: das osmanische Erbe, der Einfluss verschiedener Großmächte, der geografische und kulturelle Zusammenhang zwischen balkanischer und anatolischer Halbinsel.13 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts nistet sich die Metapher ›Balkan als Pulverfass‹ ins kollektive Gedächtnis Europas ein. Damit verliert die vermeintlich neutrale geografische Bezeichnung Balkan endgültig ihre objektive Unschuld. Dem mythischen und politischen Begriff des Balkans folgt eine eigene Diskursgeschichte, der Balkanismus – wie Maria Todorova sie nennt, die pejorative Fremd- und Eigenzuschreibung, welche zu Beginn des 20. Jahrhunderts virulent wird, dann in sozialistischen Zeiten fast gänzlich verschwindet, spätestens aber mit dem Zerfall Jugoslawiens wieder aktiviert wird.14 Natürlich könnte man versucht sein – wie dies übrigens gerade in den 1990er Jahren kontinuierlich getan wurde –, den Balkan durch die scheinbar neutrale Bezeichnung »Südosteuropa« zu ersetzen. Darauf, dass der vermeintlich objektivere Begriff historisch ebenso vorbelastet ist, verweist Karl Kaser. Er zeigt auf, dass in den 1930er und 1940er Jahren die Bezeichnung »Südosteuropa« in ihrem deutschsprachigen Gebrauch diskreditiert wird, da sie zu einem zentralen Begriff im Kontext der geopolitischen Expansion der Nationalsozialisten avancierte. Diese legten in ihrer Großraumideologie fest, dass die Länder im südöstlichen Europa im »Wirtschaftsraum Großdeutschland Südost« zusammengefasst werden sollen.15 In dieser neuen Raumordnung stellte die Region eine vermeintlich natürliche ökonomische und politische Ergänzung des Deutschen Reichs im Südosten Europas dar.16 So folgert Maria Todorova 13 Vgl. dazu Alexander Vezenkov: History Against Geography: Should We Always Think of the Balkans as Part of Europe? In: Kakanien Revisited 2007: http://www.kakanien.ac.at/beitr/ balkans/AV ezenkov1/ (Letzter Zugriff: 4. Juni 2015), sowie Karl Kaser: Balkan und Naher Osten. Einführung in eine gemeinsame Geschichte, Köln u. a. 2011. 14 Maria Todorova: Imagining the Balkans, 2. überarbeitete Auflage, Oxford 2009. 15 Kaser 2002 (wie Anm. 2), S. 106. 16 Mit Andreas Ernst konnten wir für unseren Band denjenigen Autor gewinnen, der 2012 den Ball ins Rollen brachte, weil er die »Rudolf-Vogel-Medaille« der Südosteuropa-Gesellschaft (SOG ) nicht entgegennahm. Er protestierte gegen den Namensgeber der Medaille: Denn Rudolf Vogel war nicht nur langjährig Vorsitzender der SOG, sondern hatte während der NSZeit antisemitische Schriften verfasst und war selbst in der SS gewesen. Inzwischen wurde der Preis in »Journalistenpreis der SOG« umbenannt, den Andreas Ernst in der Folge akzeptierte. Er löste damit den Beginn einer nachhaltigen Aufarbeitung der Geschichte der SOG aus. Wie sehr sich die deutsche Südosteuropa-Forschung in der NS-Zeit in den Dienst der Politik stellte und nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin Kontinuitäten bestanden, findet sich in exemplarischen Aufarbeitungen. In: Vor- und Gründungsgeschichte der Südosteuropa-Gesellschaft. Kritische Fragen zu Kontexten und Kontinuitäten (= Sonderheft der Südosteuropa Mittei-

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konsequent, dass die Bezeichnung »Südosteuropa« ihre letztlich euphemistische Funktion kaum verbergen und sich einer »negative[n] Eigenwahrnehmung [...] neben einer extrem ablehnenden und diskreditierenden Fremdwahrnehmung« nicht entledigen kann.17

Balkan als historischer und symbolischer Begriff Kaum beginnt man also vom Balkan zu sprechen, verheddert man sich in mythische, politische und ideologische Diskurse. Dabei wird die akademische Debatte um den Begriff Balkan im Wesentlichen von zwei Diskursen bestimmt: den historischen Balkan-Diskurs und den symbolischen Balkan-Diskurs. Der historische Begriff befasst sich hauptsächlich mit den geografisch-kulturellen Eigenschaften der Region und definiert sie mit Hilfe einer Mischung aus geografischen, historischen, politischen, kulturellen sowie demografischen Merkmalen, die zum Teil bereits erwähnt worden sind. Der symbolische Begriff hingegen ist unvergleichbar wirkungsmächtiger, augenscheinlich zeitlos und Produkt einer zweihundert Jahre alten Entwicklung.18 Ausgangspunkt der Diskussion um den historischen Balkan-Begriff bilden zumeist geografische Merkmale. Sie kreist stets um jene offenbar schicksalhafte Frage, die zugespitzt lautet: Was und wer gehört zum Balkan und was und wer nicht? Aufgrund des zunehmend pejorativen Gebrauchs des Begriffs seit Beginn des 20. Jahrhunderts überrascht es kaum, dass die Zugehörigkeit zur Region – selbst unter dessen Einwohnern – heftig umstritten ist. So schreiben sich Bulgarinnen und Bulgaren ihren Balkan stolz auf die Fahnen, verläuft doch das Balkangebirge quer durch ihr Land. Seit je wurde dieses für die bulgarische Nation mythische Gebirge in Volksliedern als die Wiege der heroischen National- und später Partisanenbewegung besungen.19 Umso weniger verwundert es, dass bis vor wenigen Jahren die staatliche bulgarische Fluggesellschaft den Namen »Balkan« trug, während er für die meisten Nachbarstaaten bis heute zu den Schimpfwörtern zählt. Wie sehr der Begriff Balkan außerhalb Bulgariens mit negativen Vorstellungen lungen 4 (2014). Namentlich zu erwähnen ist die Einführung von Wolfgang Höpken. In: Ebd., S. 4–15, sowie die Beiträge von Norbert Spannenberger: Südost-Forschung im Dienst der SS – Zur Biographie von Fritz Valjavec 1909–1945 (S. 60–73) und von Alexander Korb: Von der Ustaša zur SOG – Die Südosteuropa-Gesellschaft und ihr Geschäftsführer Theodor von Uzorinac-Koháry (1958–1967) (S. 74–91). 17 Zitiert nach der deutschen Übersetzung des Bandes von Maria Todorova: Die Erfindung des Balkans – Europas bequemes Vorurteil, Darmstadt 1999, S. 63. 18 Todorova 2009 (wie Anm. 14), S. 7. 19 So etwa im populären bulgarischen Partisanen-Lied »Hej Balkan, ti roden naš« (Hej Balkan, Du bist unsere Heimat).

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wie etwa Unsicherheit, Gefahr, Risiko, Unberechenbarkeit oder Unzuverlässigkeit belastet ist, wurde der Herausgeberin des vorliegenden Bandes unmissverständlich vor Augen geführt, als sie Mitte der 1990er Jahre während ihres Studiums an der Freien Universität Berlin mit einem deutschen Mitstudenten nach Sofia flog – selbstverständlich mit »Balkan Airlines«. Trotz der aufgeklärten Haltung des Kommilitonen, der zu jener Zeit Osteuropäische Geschichte studierte und geradezu eine Hochachtung für den ehemaligen »Osten« hegte, war dieser äußerst misstrauisch, mit einer Fluggesellschaft zu reisen, welche mit dem Namen »Balkan« wirbt. Maria Todorovas Buch Imagining the Balkans war zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschienen, um diese für die Herausgeberin damals unbekannte und rätselhafte Angst zu erklären, die ein junger, aufgeklärter Deutscher vor jener Bezeichnung hatte, die sie als Bulgarin noch immer mit schönen Kindheitserinnerungen an Sommerferien im Balkangebirge verbindet. Ganz im Gegenteil übte sie sich in jener Zeit während ihres Studiums der Ost- und Südosteuropäischen Geschichte beim Berliner Südosteuropa-Historiker Holm Sundhaussen in sachlicher und vorurteilsfreier Begriffsgeschichte, die zwischen einem enger gefassten Balkan-Begriff und einem weiter gefassten Südosteuropa-Begriff unterscheidet.20 Gerade aufgrund der geografischen Argumentation konzentrierte sich damals die historische Diskussion stets auf die Grenzen der Region, allen voran auf die nord- und nordwestliche Grenze und damit auf die Frage nach den dazugehörigen Staaten. Die Region wird im Westen, Süden und Osten durch fünf Meere begrenzt – durch die Adria, das Ionische Meer, die Aegäis, das Marmarameer und das Schwarze Meer. In diesem Punkt der geografischen Bestimmung des Raums besteht in der Forschung weitgehende Einigkeit. Die Nordgrenze dagegen ist meist Bestandteil kulturideologischer Debatten. So ist sich die Forschung seit geraumer Zeit darin einig, dass der Balkan kein rein geografischer Begriff ist. Spätestens seit der Todorova-Sundhaussen-Debatte existieren vielmehr die beiden eingangs genannten Diskurse bzw. Begriffe des historischen und symbolischen Balkans.21 Einer der wichtigsten Vertreter des 20 Sundhaussen 1998 (wie Anm. 10), S. 14. 21 Zur Debatte zwischen Maria Todorova und Holm Sundhaussen siehe Maria Todorova: Spacing Europe: What is a historical region? In: Larry Wolff, Sorin Antohi (Hg.): Europe’s Symbolic Geographies, Budapest 2008, S. 61–80; Dies.: Der Balkan als Analysekategorie: Grenzen, Raum, Zeit. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), Nr. 3 (= Dies. et al. (Hg.): Mental Maps, Juli– September 2002), S. 470–492; Dies.: Historische Vermächtnisse als Analysekategorie. Der Fall Südosteuropa. In: Kaser 2003 (wie Anm. 8), S. 227–252; Holm Sundhaussen: Der Balkan: Ein Plädoyer für Differenz. In: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 608–624; Ders.: Europa balcanica. Der Balkan als historischer Raum Europas. In: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 626–653; Ders.: Die Dekonstruktion des Balkanraums (1870–1913). In: Cay Lienau (Hg.): Raumstrukturen und Grenzen in Südosteuropa, München 2001, S. 19–41; Ders. 1998 (wie Anm. 10).

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historischen Diskurses über den Balkan war Holm Sundhaussen. Ihm zufolge ist der Balkan ein historischer Raum mit einzigartigen Charakterzügen, welche alle Balkanländer miteinander teilen und sie mithin zu einer historisch-kulturellen Einheit vereinen, zugleich jedoch deutlich von anderen Regionen Europas unterscheiden. Zu diesen Eigenschaften gehören die Instabilität der Siedlungsverhältnisse und die daraus resultierenden ethnischen Gemengelagen, der Verlust und die späte Rezeption des antiken Erbes, sodann das byzantinisch-orthodoxe und das osmanisch-islamische Erbe, die ›Rückständigkeit‹ in der Entwicklung mit einer entsprechend spät einsetzenden Nationsbildung, und schließlich der Überfluss an Mythen, der als »mentalité balkanique« apostrophiert wird, sowie die politischen Interventionen der europäischen Großmächte seit dem 19. Jahrhundert in der Region.22 Mit diesem Merkmal-Cluster versuchte Sundhaussen, objektive historische und kulturelle Kriterien herauszuarbeiten, mit welchen der Balkan als eigenständige Region beschrieben werden kann. Unweigerlich schwingt aber in allen Merkmalen eine gewisse Wertung mit, auch wenn diese gar nicht so intendiert sein mag. An diesem Punkt setzt der symbolische Balkan-Begriff ein, der in der richtungweisenden Diskursanalyse von Maria Todorova entfaltet wird und als Kritik an den historisch determinierten Balkan-Begriff zu verstehen ist. Zugespitzt ließe sich die Definition des symbolischen Balkan-Begriffs insofern umschreiben, als es den Balkan als Realie eigentlich nicht gibt. Er ist lediglich eine vorgestellte, imaginierte Größe, welche die westlichen Staaten spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Status der »Andersartigkeit« belegt hätten. Todorovas Argumentation ist stichhaltig, denn sie zeigt beispielhaft auf, wie ein scheinbar rein geografischer Begriff einen normativen Verweischarakter erhält. Der Balkan ist nicht einfach ein Gebiet, auf dem sich ein Gebirge sowie verschiedene Länder befinden und das von bestimmten Gewässern begrenzt wird. Der Balkan ist vielmehr ein Raum, dem gewisse Eigenschaften zugeschrieben werden und die zumeist negativ konnotiert sind. Diesen symbolischen Begriff nennt Maria Todorova »Balkanismus«. Der »Balkanismus« durchlief mehrere Entwicklungsstufen und wurde durch die Journalistik, die Politik, die Literatur sowie die bildende Kunst und allgemein visuelle Bilder23 konstruiert und verbreitet. Im Zusammenspiel dieser Medien entstand jene »Mental Map«, genannt Balkan, welche als Reservoir für ganz bestimmte, zumeist negative Muster und Wahrnehmungen der Region dient.

22 Sundhaussen 1999 (wie Anm. 21), hier S. 638–651. 23 Zur westlichen Konstruktion des Balkans im 19. Jahrhundert in visuellen Diskursen siehe Martina Baleva: Bulgarien im Bild. Die Erfindung von Nationen auf dem Balkan in der Kunst des 19. Jahrhunderts, Köln u. a. 2012.

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Der »Balkanismus« ist Teil der Orientalismus-Debatte, wie sie von Edward Said mit seinem Buch Orientalism entfacht wurde.24 Doch Maria Todorova versteht »Balkanismus« nicht als bloße Unterform des Orientalismus, sondern vielmehr als eine eigenständige historische Kategorie, die es vom Orient zu emanzipieren gilt. Im Gegensatz zum Orient, der keine ontologische Größe darstelle und somit keinen real existierenden Ort habe, besitze der Balkan eine sowohl zeitliche als auch räumliche Konkretheit.25 Die konkrete historische Existenz des Balkans bestehe in den Vermächtnissen zweier Epochen, die den Balkan ganz besonders geprägt haben: das byzantinische Jahrtausend und die ein halbes Jahrtausend andauernde osmanische Zeit. Letztere sei entscheidend für die gegenwärtige Wahrnehmung der Region, denn es waren die Osmanen, welche die Region zuletzt am längsten vereint hätten und ihr den Namen gaben.26 Diesen für die Region entscheidenden Einfluss versuchte Todorova im Begriff des »osmanischen Erbes« zu fassen, den sie später als »historisches Vermächtnis« ausführlich konzeptualisiert hat.27 Historisch gesehen ist nach Todorova jedoch nicht die gesamte Dauer osmanischer Herrschaft auf dem Balkan für dessen heutige Perzeption relevant, sondern nur das 18. und 19. Jahrhundert. Beide Jahrhunderte prägten bis zum Ende des Ersten Weltkriegs das Gesicht des Balkans.28 Somit wird der Balkan zugleich territorial gefasst und erhält dadurch seine geografische Konkretheit: die europäischen Gebiete des Osmanischen Reiches im 18. und 19. Jahrhundert.29 Der Balkan als »das osmanische Erbe«, als historische Größe, wird so als ein Raum definiert, der durch den Faktor Zeit bestimmt ist. Die reale Existenz bzw. die Konkretheit des Balkanraums ist nicht geografisch bestimmt, sondern ist deckungsgleich mit den historischen Gebieten der Osmanen westlich des Bosporus bzw. mit den postosmanischen Staaten, die im Verlauf des langen 19. Jahrhundert durch Abspaltung vom Osmanischen Reich entstanden sind. Mit dieser chronotopischen Konkretheit des Balkans geht nach Todorova ein weiteres spezifisches Charakteristikum des Balkans einher: Es ist die Vorstellung von der geografischen Übergangszone oder Brückenfunktion, die dem Balkan zugesprochen wird. Während der »Westen« bzw. »Okzident« und der »Osten« bzw. der »Orient« stets als gegensätzliche, jedoch in sich geschlossene Entitäten imaginiert werden, sei der Balkan als Brücke zwischen diesen beiden Regionen gedacht. Dies verleihe dem Balkan seinen transitorischen Charakter, und zwar in zweierlei Hinsicht: sowohl auf der physischen als auch auf der imaginativen Landkarte. Die Metapher der Brücke zwischen Ost und West, dem Okzident und 24 25 26 27 28 29

Edward Said: Orientalism, New York 1978. Todorova 2009 (wie Anm. 14), S. 10. Ebd. Todorova 2003 (wie Anm. 21). Todorova 2009 (wie Anm. 14), S. 12. Ebd., S. 11.

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dem Orient, sei zwar räumlich, doch wohne ihr die zeitlich Komponente inne, wonach die Brücke auch mit Stufen der historischen und kulturellen Entwicklung assoziiert wird. Zeitlich ist dieser Vorstellung nach der Balkan zwar ähnlich wie der Orient zurückgeblieben und unterentwickelt, primitiv und rückständig. Doch gerade diese Zwischenposition, die dem Balkan gewissermaßen zum Verhängnis wird, wird mit Adjektiven wie »halb« und »unvollständig« assoziiert.30 Entsprechend sei der Balkan mit klischeehaften Zuschreibungen bedacht worden, denen stets das Wort »halb« vorangestellt ist wie ›halbentwickelt‹, ›halbzivilisiert‹, ›halborientalisch‹ oder ›halbkolonial‹. Dieses »In-Betweenness«31 führe dazu, den Balkan als unvollständig zu denken. Es sind eben der Mischcharakter und die Ambivalenz, die den Balkan in der Vorstellung des Westens auszeichnen und welche sich nicht zuletzt in der Natur der Menschen in der Region niederschlagen würden. Demnach seien die Bewohner des Balkans weder Europäer noch Orientalen, sondern eine Mischung aus beiden und aus der Perspektive der Rasse somit unrein. Der Balkan wird so als eine eigenständige, aber eben unvollständige Einheit konstruiert mit einem entsprechenden unvollständigen und unreinen Selbst. Die »Strukturmerkmale« Sundhaussens ersetzt Todorova durch den Begriff des »historischen Vermächtnisses« und argumentiert, dass dieser viele Vorteile gegenüber strukturellen Analysekategorien wie Grenzen, Raum oder Territorialität besitze und besser geeignet sei, »die Dynamik und de[n] Fluss des historischen Wandels […] zum Ausdruck« zu bringen.32 Sie analysiert und kritisiert den Merkmal-Cluster, indem sie dessen essentialistisches Programm aus einer historischen Perspektive relativiert. Damit gelingt es ihr, die vermeintlich anthropologischen Konstanten wie balkanische »Instabilität der Siedlungsverhältnisse«, »Rückständigkeit« oder »späte Nationalstaats- und Nationsbildung« historisch in einer europäischen Gesamtgeschichte zu kontextualisieren. In Bezug auf die beiden Merkmale »Mentalitäten und Mythen« und »Balkan als Objekt der Großmächte« verweist Todorova zudem auf eine zu starke Generalisierung eines serbischen Sonderweges im Zusammenhang mit den Kriegen in Ex-Jugoslawien in den 1990er Jahren, der die Wahrnehmung des gesamten Balkanraums bestimmt habe. Dabei wurde der Zerfall Jugoslawiens in den Medien, in der Politik und in der populären Sprache stets als »Balkan-Konflikt« apostrophiert, obwohl darin keine weiteren Balkanstaaten involviert gewesen waren. Der Zerfall Jugoslawiens dürfe nicht auf das Irrationale, das typisch Balkanische, wie oft 30 Ebd., S. 15. 31 Ebd., S. 17. 32 Todorova: Historische Vermächtnisse zwischen Europa und dem Nahen Osten. Erste Carl Heinrich Becker Lecture der Fritz Thyssen Stiftung 2007. In: Angelika Neuwirth, Günther Stock (Hg.): Europa im Nahen Osten – Der Nahe Osten in Europa, Berlin 2012, S. 85–106, hier S. 97.

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behauptet wird, reduziert werden. Denn – so wendet Todorova ein – was den jüngsten Konflikt als Balkan-Konflikt auszeichnet, ist seine westliche Kategorisierung als »Balkanismus«.33 Todorova führt den Zeitpunkt des Aufkommens des Begriffs Balkanismus auf die beiden Balkankriege 1912 und 1913 zurück, welche die westlich zivilisierte Welt erstmals ernsthaft erschüttert haben.34 Diese hätten vor dem Hintergrund einer in Fahrt gekommenen internationalen Friedensbewegung stattgefunden, um sich umso mehr als barbarisch und grausam davon abzusetzen.35 Endgültig sei der negative Stempel dem Balkan mit der Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand und seiner Frau in Sarajevo 1914 aufgedrückt worden, um so zum Vorwand für den Ersten Weltkrieg zu werden. Seit diesem Augenblick scheint die Metapher für den Balkan als »Pulverfass Europas« unauslöschlich zu sein. Studien zur visuellen Ausprägung des symbolischen Balkan-Diskurses haben gezeigt, dass die Ausbildung des Balkanismus bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingesetzt und einen vorläufigen Höhepunkt im Russisch-Osmanischen Krieg von 1877/78 erreicht hat.36 Ob als textueller oder visueller Diskurs, es ist schwierig für uns, Balkan zu sagen, ohne gleich die Geschichte seiner diskursiven Verflechtung mitzudenken, welche uns Maria Todorova nachzeichnet.

Balkan als Raum – Balkan in der Zeit: »Balkan als Raum sui generis« Man muss nicht in einen Raumdeterminismus verfallen, wenn man mit Reinhart Koselleck argumentiert, dass der geografische Raum – wie der Balkanraum – nicht nur selber »historisierbar« ist, »weil er sich sozial, ökonomisch und politisch verändert«, sondern dass er auch »jeder nur denkbaren Geschichte metahistorisch vorauszusetzen« ist.37 Der Raum kann durchwegs auch die Geschichte (prä-)figurieren, impliziert doch eine solche Sichtweise noch keinen geografischen Determinismus, wie er in der Anthropologie um 1900 en vogue und bis in die 1940er

33 Maria Todorova: Introduction. In: Dies. (Hg.): Balkan Identities. Nation and Memory, New York 2004, S. 1–24, hier S. 9. 34 Todorova 2009 (wie Anm. 14), S. 17. 35 Ebd., S. 3 f. 36 Baleva 2012 (wie Anm. 23). 37 Koselleck 2000 (wie Anm. 4), S. 82.

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Jahre zu beobachten war.38 Denn dem Menschen ist immer die Möglichkeit gegeben, seine »Gegebenheiten« selber »zu gestalten«.39 Die Debatte zwischen Holm Sundhaussen und Maria Todorova ist geradezu ein Musterbeispiel, wie die verschiedenen Positionen ausgehandelt werden. Holzschnittartig verkürzt, kann man Todorova unterstellen, dass sie den Balkan lediglich als negatives Alter Ego des Westens, als reinen Diskurs konstruiert. Dem hält Sundhaussen den Balkan als historischen Raum »sui generis« entgegen, den er mit dem oben genannten Merkmal-Cluster mit acht Spezifika belegt.40 Während die Merkmale zutreffen und unter anderem auf das besonders stark ausgeprägte imperiale Erbe des osmanischen und Habsburgerreichs verweisen, liegt die Problematik in dieser historischen Sichtweise in der impliziten Wertung, wenn beispielsweise von »Instabilität« oder »Rückständigkeit« die Rede ist. Dabei wird ein teleologisches Geschichtsbild in Anschlag gebracht, das spätestens seit Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung (1947) hinfällig geworden ist.41 Todorovas Reaktion auf Sundhaussen hebt dann auch diese Aspekte besonders hervor. Gleichzeitig bildet sie den Anlass für diesen Band, alternative Blickwinkel auf den Balkan vorzuschlagen. Dennoch steht Sundhaussen nicht alleine in der Forschungslandschaft. In der südosteuropäischen Geschichtswissenschaft wird immer wieder darauf verwiesen, wie die Unzugänglichkeit der verschiedenen Gebirge selbständige Typen von äußerst unterschiedlichen Kulturen hervorgebracht hat. So spricht Karl Kaser unter anderem von den »schwierigen Verkehrswegen« und von einer »schwerfälligen Kommunikation«.42 Oliver Jens Schmitt zeigt wiederum, wie sehr sich die albanische Bergbevölkerung von den Bewohnern der Ebenen unterscheidet.43 Auch in der Geschichte der Neuzeit bis weit ins 19. Jahrhundert und zum Teil bis ins 20. Jahrhundert ist aus primär topografischen Gründen nicht die ethnisch-sprachliche Zuordnung auf dem Balkan entscheidend, sondern die sehr unterschiedliche Kontaktintensität mit Mächten von außen, namentlich mit dem Osmanischen Reich, aber auch mit Venedig und Habsburg bzw. Österreich-Ungarn. Insbesondere die beiden Merkmale, welche mit ›byzantinisch-orthodoxem‹ 38 Einschlägig dazu die Studien zur Balkanhalbinsel, insbesondere zu den Südslawen von Jovan Cvijić: La péninsule balkanique. Géographie humaine, Paris 1918; Ders.: Balkanstvo poluostrvo i južnoslovenske zemlje (Die Balkanhalbinsel und die südslawischen Länder), Belgrad 1922, sowie Gerhard Gesemann: Heroische Lebensform, Berlin 1943. 39 Kaser 2002 (wie Anm. 2), S. 10. 40 Sundhaussen 1999 (wie Anm. 21). 41 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947. 42 Kaser 2002 (wie Anm. 2), S. 36. 43 Oliver Jens Schmitt: Die Albaner. Eine Geschichte zwischen Orient und Okzident, München 2012, S. 85 f.

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und ›osmanisch-islamischem Erbe‹ belegt worden sind, aber auch die relativ spät einsetzende ›Nationalstaats- und Nationsbildung‹ sind erst in einem historischen Kontext der genannten Imperien zu verstehen. Darin definiert sich der Balkanraum als fester Bestandteil eines übergeordneten, nicht national, sondern meist transkulturell imperial definierten Großraumes. Gerade darum sollte in Zukunft der Balkanraum vermehrt Gegenstand der neueren Imperienforschung sein.44 Im selben Kontext wird darauf verwiesen, dass im Unterschied zu den »Behördengesellschaften« im westlichen Europa auf dem Balkan – durch seine periphere Lage in den jeweiligen Imperien und durch die kommunikationserschwerende Topografie – »Verwandtschaftsgesellschaften« zentral waren. Da man sich nicht auf staatliche Verwaltungsstrukturen verlassen konnte, war man auf einen überblickbaren Zusammenhalt innerhalb der Familie und/oder eines Ortes angewiesen.45 Die »Verwandtschaftsgesellschaften« werden höchstens diskursiv in die relativ jungen Nationaldiskurse übertragen, haben aber mit der abstrakten Einheit der Nation, welche wiederum auf eine »Behördengesellschaften« angewiesen ist, nicht viel zu tun. Selbst in der postimperialen Geschichte der ganzen Region im 20. Jahrhundert kann man nur auf kürzere Abschnitte von konstanten Verwaltungsstrukturen und somit auf »Behördengesellschaften« zurückblicken, die meist mit der sozialistischen Vergangenheit der Mehrheit der Länder auf dem Balkan zu tun haben. So hat sich das imperiale Erbe der Peripherie im sozialen Alltag weiterhin erhalten. Damit haben wir manche Schwierigkeiten skizziert, welche auftauchen, wenn man vom Balkan spricht. Doch es wäre verkürzt zu behaupten, das Merkmal-Cluster stütze die Stereotypisierung oder belege sie sogar historisch und es sei nur noch eine Frage der Perspektive, wie sehr Balkanismus lediglich als Diskurs verhandelt wird bzw. mit Realia unterfüttert werden kann. Hier wollen wir einen Schritt weitergehen und den implizierten geografischen Raum auf eine Weise beschreiben, ohne die Argumente ständig zu replizieren, die in der Todorova-Sundhaussen-Debatte in den Anschlag gebracht werden. Es gilt also nicht, mit der Verneinung »Les Balkans n’existent pas« den Diskurs per se zu ignorieren, sondern Perspektiven zu wagen, welche diesen Diskurs auf eine gewisse Art relativieren oder sogar obsolet werden lassen. Die These dazu lautet, dass der Balkan – im Unterschied 44 Die kultur- und literaturwissenschaftliche Erweiterung erfährt die historiografische Imperienforschung im Moment an der Universität Basel in den Osteuropa-Studien. Zu erwähnen ist zum einen das geschichtswissenschaftliche Projekt »Imperial Subjects. Autobiographische Praktiken und historischer Wandel in den Kontinentalreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen (Mitte 19. bis frühes 20. Jahrhundert)« unter der Leitung von Benjamin Schenk, zum anderen das literaturwissenschaftliche Forschungsprojekt »Erzählen jenseits des Nationalen. (Post-)Imperiale Raumstrukturen in der Literatur Osteuropas« unter der Leitung von Thomas Grob. 45 Kaser 2001 (wie Anm. 6), S. 23 f.

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zu vielen anderen Regionen – ein äußerst reichhaltiges und vielschichtiges Erbe vorzuweisen hat, welches sich gerade nicht auf ein Merkmal-Cluster oder eine Projektionsfläche reduzieren lässt. Der vorliegende Band umfasst in seiner Interdisziplinarität nicht nur verschiedene Fachdisziplinen wie Geschichts-, Kunst-, Religions- und Literaturwissenschaft, sondern stößt vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart vor, indem er neue Ansätze wagt. Er verlässt das bisher gültige Korsett der Balkanstudien – eingezwängt zwischen Typisierung und Diskursgeschichte, indem er sich der Region aus ungewöhnlichen Richtungen nähert. Maurus Reinkowski und Elke Hartmann, beide Spezialisten für das Osmanische Reich, untersuchen den Balkan zum einen aus der Perspektive der sich ständig verkleinernden europäischen Türkei um 1900, zum anderen eines armenischen Revolutionärs. Beide Male blicken wir vom Osten nach Westen Richtung Rumelien, wie die osmanischen Territorien auf europäischem Gebiet genannt wurden. Was für das offizielle Osmanische Reich und seinen Nachfolgestaat eine »Verlustgeschichte« darstellt, ruft beim Armenier Irritationen darüber hervor, wie ›seine‹ Nation im südöstlichen Europa bis zur Unkenntlichkeit von anderen kulturellen Einflüssen überlagert ist. Diese historiografischen Exkurse ergänzt der Osteuropa-Historiker Daniel Ursprung mit einem weiteren überraschenden Zugang. Weil es keine balkanische ›Essenz‹ gibt, ist es verlockend, das Phänomen von seinen beiden Rändern, von Südwesten und Nordosten, respektive von Albanien und Rumänien her zu betrachten. Die aufgezeigten Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ländern machen deutlich, dass die Region vor allem durch die jüngsten postsozialistischen Umbrüche und imperialen Vermächtnisse geprägt ist. Dass selbst Karl May nicht nur auf Stereotypisierungen zurückgreift, wie Boris Previšić in seinem Beitrag zeigt, sondern historisch sehr wohl informiert die imperialen Interessen in den Schluchten des Balkans nachzuzeichnen weiß, kommt in der literaturwissenschaftlichen Debatte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert besonders prägnant zum Vorschein. Selbst der Balkanismus als Diskurs ist somit einer Revision zu unterziehen. Genau dies leisten auch die beiden kunsthistorischen Betrachtungen. Martina Baleva setzt sich explizit vom Argument ab, die Diskursform des Balkanismus arbeite vornehmlich mit männlichen Stereotypisierungen. Westliche Visualisierungen in Gemälden des 19. Jahrhunderts konterkarieren die meist textbasierten Quellen, auf die sich Maria Todorova stützt. Erstaunlicherweise richtet sich der westliche Blick wie im Orientalismus auf den nackten Frauenkörper, doch ist dieser nicht intakt, sondern versehrt. Das Opfer der Massaker sucht mit seiner Blickrichtung nach links Rettung im Westen. Damit nutzt der visuelle Balkanismus zwar das orientalistische Setting als sexualisierten Ort, inferiorisiert aber gleichzeitig nationale Frauengestalten des Balkans, um seinen imperialen Anspruch im osmanischen Gebiet zu legitimieren. Doch der Balkanismus wird offenbar nicht nur variantenreich umspielt, sondern auch konsequent bekämpft, betrachtet man die künstlerischen Selbstdarstellungen der jungen Nationen nach

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dem imperialen Zerfall 1918 und nach dem Ende Jugoslawiens, wie das Tanja Zimmermann in ihrem Beitrag tut. Unabhängig davon, ob das kulturelle panslawistische Erbe wie im Falle Zwischenkriegsjugoslawiens oder der genius loci wie im Falle des heutigen Makedoniens inszeniert wird, greifen die bildenden Künste auf antikisierende Elemente zurück. Eine autochthone Kontinuität soll aufgezeigt werden, die weit hinter das osmanisch-byzantinische Vermächtnis zurückgreift, um sich damit explizit von der westlichen Diskursform des Balkanismus abzusetzen. Folgt man jedoch Karl Kasers Ausführungen in seinem Beitrag, so wird der Balkanismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den Balkankriegen und dem Ersten Weltkrieg durch die ›erste visuelle Revolution‹ ganz besonders akzentuiert. Damit darf die Frage nochmals gestellt werden: Gibt es den Balkan doch, wenn er selbst visuell eindringlich auf seine Existenz in einer solchen Weise verweist, wie sie im ›Westen‹ erwartet wird? Dass es sich dabei weniger um ›Realia‹ handelt, welche weltweit anzutreffen sind, als vielmehr um Verkaufsargumente, trifft nicht nur auf die negativen Stereotype im Kontext kriegerischer Ereignisse – wie sie in den postjugoslawischen Kriegen reaktiviert werden –, sondern auch auf die Kehrseite derselben Medaille zu: auf die Inszenierung des archaischen, urwüchsigen, eben ›anderen‹ Europas, das es scheinbar neu zu entdecken gilt. In den bekannten Balkan-Kunstausstellungen der Jahre 2002 bis 2004 wie die exemplarische Show von Harald Szeemann mit dem selbstredenden Titel »Blut & Honig – Zukunft ist am Balkan« werden mindestens drei Punkte deutlich. Es gibt keine kunsthistorischen Kriterien, mit deren Hilfe der Balkan als das ›Andere‹ markiert werden könnte. Nach dem Prinzip »Art follows Money« erschließen Kunstausstellungen einen neuen regionalen Kunstmarkt nicht aufgrund künstlerischer, sondern monetärer Kriterien. Diese Expansionen situieren sich in historischen Zeitfenstern, in denen die politischen Unwägbarkeiten nicht mehr zu groß sind und dennoch ein geopolitisches Gebiet im Zuge der EU-Osterweiterung noch nicht ›ganz‹ dazu gehört. Es ist wohl kaum ein Zufall, dass diese prägnante Analyse von Louisa Avgita stammt, welche an der Universität von Ioannina Kunstgeschichte und Kunsttheorie lehrt. Die Inszenierung eines Selbstbilds folgt nicht nur ökonomischen, sondern ebenso national-identifikatorischen Gesetzen, welche im Land selber – zumindest von einer bestimmten Machtelite – als überlebenswichtig erachtet werden. Darauf verweist Nada Boškovska im Fall des heutigen Makedonien. Nach der teilweise unfreiwillig erfolgten Unabhängigkeit Makedoniens im Zuge der Auflösung Jugoslawiens wurde und wird der eigenständige Staat ständig damit konfrontiert, als Nation und/oder mit seinem Namen von seinen Nachbarn nicht anerkannt zu werden. Das inzwischen antikisierend umgebaute Stadtinnenbild von Skopje ist in erster Linie als Parforce-Akt eines Nation-Building zu verstehen, das die multiethnische Gesellschaft jenseits der immensen innenpolitischen Probleme auf Heroen der Vergangenheit einschwört. Das Ablenkungsmanöver ist ein gefährliches Spiel

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einer Machtelite mit dem Feuer, weil die Identitätspolitik in erster Linie auf die slawische Bevölkerung ausgerichtet ist und damit andere Ethnien exkludiert. Dass trotz Unkenrufen und trotz ökonomischer und politischer Stagnation der europäische Weg der einzig gangbare, insbesondere für Bosnien und Herzegowina, Kosovo und Makedonien, darstellt, welche aufgrund der Befriedungspolitik eng an EU-Vorgaben gebunden sind, mag zunächst verwundern. Wie der NZZ-Korrespondent Andreas Ernst in seinem Essay ausführt, besteht das Problem darin, dass die lokalen Akteure durch die EU sehr oft ihrer Verantwortung enthoben werden, indem politische Entscheidungen immer wieder von außen übernommen werden, die im Land selber erfolgen sollten. Diese Abhängigkeit, welche im Fall Griechenland gegenwärtig in ihr Gegenteil zu kippen droht, könnte sich für Europa selber als Bumerang erweisen. Umso wichtiger ist es, die Diskursverflechtungen aufzuzeigen. Es geht nicht darum, ein postkoloniales Argument in Anschlag zu bringen. Dazu sind die Beziehungen und die unterschiedlichen historischen Vermächtnisse für diesen kleinen Raum zu komplex. Dennoch wird in der Griechenlandkrise deutlich, wie schnell der Balkanismus als Argument verfängt. So kommt es im Falle Griechenlands zu einer unseligen Paarung von südeuropäischen und südosteuropäischen Vorurteilen. Der ›Balkan‹ als das ›Andere‹ Europas wird, im Unterschied zu den beiden anderen europäischen Halbinseln – der iberischen und apenninischen – erneut abgestoßen, anstatt den ökonomischen und sozialen Unmöglichkeiten abzuschwören und sich an den gegebenen Möglichkeiten auszurichten. Dafür muss die Bevölkerung im südöstlichen Europa ernst genommen werden und nicht dem Bild des angeblichen Zentrums angepasst werden. Eine wichtige Brücken- und Vermittlerfunktion übernimmt die anteilsmäßig große Diaspora aus dem südöstlichen im übrigen Europa. Dass dabei die BalkanHypothek in einen Balkan-Bonus umgemünzt werden kann, zeigt der Religionswissenschaftler Samuel M. Behloul in seinem Beitrag anhand muslimischer Migranten aus Ex-Jugoslawien. Auch hier zeigt sich nochmals, dass gerade weil die gesamte Balkanregion aus unterschiedlichen Perspektiven sehr komplex ist und sich nicht einfach an bekannte Muster zurückbinden lässt, umso mehr dazu prädestiniert ist, differenzierte Analyseansätze aus verschiedenen wissenschaftlichen Richtungen, wie sie in diesem Band versammelt sind, einzufordern. In diesem Sinne: »Les Balkans n’existent pas«, außer vielleicht in Form des gleichnamigen bulgarischen Gebirges, das die Türken so benannten oder das sich als kartografisches Reliefmodell auf dem Umschlag dieses Bandes abgebildet findet.

Maurus Reinkowski

Verlustsache Rumelien Türkische Erinnerungskulturen zu Südosteuropa

Der für die Osmanen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts selbstverständliche Begriff für ihre europäischen Besitzungen war ›Rumelien‹. Trotz ihrer christlichen Bevölkerungsmehrheit waren die europäischen Gebiete des Osmanischen Reiches mehrheitlich Teil des zentralen osmanischen Herrschaftsgebiets. Der Verlust des größten Teils der europäischen Besitzungen im ersten Balkankrieg von 1912 war maßgebend für das türkische Projekt der 1910er und 1920er Jahre, einen ›ethnisch homogenen‹ türkischen Nationalstaat in Anatolien schaffen zu wollen. Die Wiedergewinnung der verlorenen südosteuropäischen Besitzungen stand ab den 1920er Jahren niemals in Frage, jedoch ist die ›Verlustsache Rumelien‹ bis heute eines der konstituierenden Elemente für die Erinnerungskulturen in der Türkischen Republik.

Zur Einleitung Im ersten Balkankrieg von 1912 verlor das Osmanische Reich seine gesamten europäischen Besitzungen. Die Front der gegen das Osmanische Reich vereinigten Balkan-Staaten rückte gefährlich nahe an die Hauptstadt Istanbul heran. Zwar konnte die osmanische Armee im zweiten Balkankrieg von 1913 den Zwist der im ersten Balkankrieg noch verbündeten südosteuropäischen Staaten nutzen, um Edirne und sein Umland wieder zu erobern; jedoch waren die sonstigen europäischen Besitzungen verloren. Die verheerende militärische Niederlage im ersten Balkankrieg und der dramatische territoriale Verlust prägten die innenund außenpolitische Haltung der osmanischen Elite vor und während des Ersten Weltkriegs.1 Ein territorialer Revisionismus, die Wiedergewinnung der verlorenen südosteuropäischen Besitzungen, war ab den 1920er Jahren kein Anliegen; das Augenmerk richtete sich vielmehr auf die Gründung einer ethnisch homogenen 1 Mustafa Aksakal: The Ottoman Road to War in 1914. The Ottoman Empire and the First World War, Cambridge u. a. 2008, S. 15. Vor allem bedingt durch die Erfahrungen des Ersten Balkankriegs hatte sich die osmanische Politik radikalisiert: »By July 1914, bellicose notions of revenge, retribution, and recovery had become embedded in Ottoman identity.«

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türkischen Nation in Anatolien. Dennoch ist der Verlust Südosteuropas eines der konstituierenden Elemente für die türkischen Erinnerungskulturen bis heute.

Kulturerbe oder Erblast? Das osmanische Erbe in großen Teilen Südosteuropas ist unübersehbar. Es handelt sich um ein islamisches Erbe in dem Sinne, dass die osmanische Herrschaft größere Bevölkerungsgruppen islamischen Bekenntnisses auf dem Balkan hinterlassen hat. Aus der Konversion zum Islam ist der Großteil der heutigen Musliminnen und Muslime Südosteuropas hervorgegangen.2 Daneben stehen die türkischen bzw. türkischsprachigen Minderheiten wie in Bulgarien, Griechenland oder Makedonien, die sich Migrationen turksprachiger Gruppen aus Anatolien nach den osmanischen Eroberungen verdanken. Wir sehen hier eine weitgehende Deckungsgleichheit zwischen türkischer ethnischer Zugehörigkeit und muslimischer Konfession.3 Die ›Türken‹ in Südosteuropa verstehen sich heute als ethnische Minderheiten muslimischer Konfession, und werden als solche von den jeweiligen Bevölkerungsmehrheiten auch so eingestuft und behandelt. Türken und Muslime in Südosteuropa sind aber keineswegs dasselbe: Die großen muslimischen Bevölkerungsgruppen Südosteuropas, die Albaner, Bosnjaken, Kosovaren und Pomaken (Bulgaren muslimischen Bekenntnisses) sprechen nicht Türkisch. Dies zeigt, dass, anders als in Anatolien, Islamisierung in Südosteuropa nicht zugleich Turkifizierung bedeutete.4 Als eindeutiges Zeichen des islamischen Erbes der Osmanen in Südosteuropa können die Minarette und Moscheekuppeln, die die Silhouette vieler balkanischer Städte prägen, gelten. Nicht so eindeutig ist die Zuordnung anderer Elemente des osmanischen Erbes. Sind infrastrukturelle Einrichtungen wie die Brücke über die Drina in Višegrad oder auch die Anlage ganzer Stadtlandschaften allein mit dem Begriff islamisch richtig erfasst? Möglich wäre es, nur von einem ›osmanischen Erbe‹ zu sprechen, aber würde das wiederum den Sachverhalt vollständig erfassen? So verstehen sich ja heute die Muslime auf dem Balkan eben nicht als ›Osmanen‹, sondern als ›Muslime‹.

2 In der Folge wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit des Textes nur noch von ›Muslimen‹ die Rede sein. Es sind aber jeweils Musliminnen und Muslime zugleich gemeint. 3 Eine Ausnahme sind die türkischen und zugleich christlichen Gagausen, die mehrheitlich im heutigen Moldawien leben. 4 Siehe für einen direkten Vergleich der unterschiedlichen Islamisierungsverläufe in Südosteuropa und in Anatolien Speros Vryonis: Religious Change and Continuity in the Balkans and Anatolia from the Fourteenth through the Sixteenth Century. In: Ders. (Hg.): Islam and Cultural Change in the Middle Ages, Wiesbaden 1975, S. 127–140.

Türkische Erinnerungskulturen zu Südosteuropa

Fragen zur Art und Weise der osmanischen Expansion in Südosteuropa sind unauflösbar verknüpft mit der allgemeinen Frage, was der Begriff ›Islam‹, außer dem direkten Bezug auf den Islam als Religion, beinhaltet. Es gibt erst einmal kein anderes Wort als ›Islam‹, wenn man über die Manifestationen der islamischen Gesellschaften und Kulturen, und damit auch des Osmanischen Reiches in Südosteuropa, sprechen und schreiben will. Um dieses – potentiell durchaus verhängnisvolle5 – Zusammenfallen alles Muslimischen und Islamischen in dem einen Wort ›Islam‹ zu vermeiden, schlug vor einigen Jahrzehnten Marshall Hogdson vor, zwischen ›Islamic‹ und (dem Kunstwort) ›Islamicate‹ zu unterscheiden. Mit ›Islamicate‹ und dem zugehörigen Substantiv ›Islamhood‹ wollte Hodgson über die Geschichte, Kultur und Wirtschaft in vornehmlich muslimisch geprägten Ländern sprechen können, ohne immer wieder auf ›den Islam‹ verweisen zu müssen.6 Osmanisches Erbe auf dem Balkan ist, will man sich dieser produktiven Terminologie von Hodgson anschließen, zum einen die Hinterlassenschaft islamischer Religionszugehörigkeit und islamischer Identitäten, aber auch von den zahlreichen ›islamhaften‹ (wenn man so Hodgsons ›Islamicate‹ ins Deutsche zu übersetzen versuchen wollte) kulturellen, sprachlichen und historischen Merkmalen osmanischer Präsenz in Südosteuropa. Solche Spitzfindigkeiten wären in den nationalen Erinnerungskulturen der südosteuropäischen Nachfolgestaaten des Osmanischen Reiches in Südosteuropa schwer zu vermitteln. Diese im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts meist durch eine gewaltsame Ablösung vom Osmanischen Reich entstandenen Staaten bezogen ihre Daseinsberechtigung aus ihrer angeblichen moralischen und kulturellen Überlegenheit im Vergleich zur düsteren osmanischen Fremdherrschaft, die sie abgeschüttelt hatten.7 So begründete die serbische Regierung 1913 in einem an die europäischen Großmächte verschickten Memorandum die Ansprüche Serbiens auf das Kosovo mit dem ehemaligen Sitz des Patriarchats im Kosovo und der früheren serbischen Bevölkerungsmehrheit, und fügte als dritten Grund hinzu, dass Serbien über das »moralische Recht eines zivilisierteren Volkes« verfüge.8 5 Dies hat durchaus Folgen für heutige politische Debatten. Die Begriffe ›Islam‹ und ›islamisch‹ können, neben der umfassenden Bezeichnung alles Muslimischen, die Vorstellung einer – oft auch einer politischen – Intention enthalten. Ein islamischer Staat ist deswegen nicht nur ein Staat, in dem die Bevölkerungsmehrheit Muslime sind, sondern ein Staat, wie etwa die Islamische Republik Iran, der seine Legitimität und politische Ethik in der Religion des Islam begründet sieht. Eine solche politische Intentionalität wird dann oft auch den Muslimen in Europa – bewusst oder unbewusst – von der europäischen Öffentlichkeit zugeschrieben. 6 Marshall Hodgson: The Venture of Islam: Conscience and History in a World Civilization, Chicago, Ill. u. a. 1974. 7 Gunnar Hering: Die Osmanenzeit im Selbstverständnis der Völker Südosteuropas. In: Hans Georg Majer (Hg): Die Staaten Südosteuropas und die Osmanen, München 1989, S. 355–380, hier S. 357. 8 Noel Malcolm: Kosova. A Short History, London 1998, S. XXXI.

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Die Präsenz von Muslimen wird auch heute noch in den Gesellschaften Südosteuropas, in denen Muslime in der Minderheit sind, vielfach als ein Fremdkörper empfunden. Die Wunde der osmanischen Fremdherrschaft habe sich zwar geschlossen, aber um sie gänzlich auszuheilen, sei – immerhin mittlerweile, mit dem Bewusstsein fehlender ›political correctness‹, unter der Hand geäußert – irgendwann einmal noch dieser Fremdkörper zu entfernen. Die Parallelen etwa zu Hindu-Nationalisten, die ähnliche Auffassungen zur Präsenz der Muslime in Südasien allgemein und heute in Indien im Besonderen pflegen, sind nicht zu übersehen.9 Aus einer etwas detachierteren Position und im Hinblick auf die umfassende Migration von Muslimen nach Europa seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind die heutigen muslimischen Bevölkerungsgruppen in Südosteuropa jedoch eindeutig als ein ›indigener Islam‹ zu verstehen.

Balkan und Rumelien Trotz aller Formen von Ablehnung des osmanischen Erbes scheint es unbestritten, dass der Balkan eine historisch-kulturelle Entität ist, zu dessen Formung oder – unter Umständen sogar: zu dessen Entstehung – die Osmanen einen Beitrag geleistet haben, egal ob nun dieser als ›Kulturerbe‹ oder ›Erblast‹ zu deuten ist. Paradox erscheint daher auf den ersten Blick der Befund von Maria Todorova, dass nicht die Osmanen ein Erbe auf dem Balkan seien, sondern der Balkan ein Erbe der Osmanen sei und dass folglich die Osmanen daher nicht als ein Fremdkörper auf dem Balkan betrachtet werden sollten.10 Todorova kann ihre Behauptung durchaus mit historischen Fakten unterfüttern. Sie macht drei bestimmende Charakteristika aller südosteuropäischen Gesellschaften (mit Ausnahme Rumäniens) aus, die auf die osmanische Herrschaft zurückgeführt werden können: (a) das Fehlen eines feudalen Adels; (b) die Existenz einer relativ freien Bauernschaft; (c) die Unterordnung der Stadt unter den imperialen Staat.11 Ein naheliegender Weg wäre also, den Balkan als eine, in einem größeren Südosteuropa enthaltene Teilmenge zu definieren, die nachhaltig von den Osmanen

9 Indien ist nach Indonesien der Staat mit der größten muslimischen Bevölkerung weltweit, und dennoch befinden sich die indischen Muslime mit weniger als 15 % der Bevölkerung in einer eindeutigen Minderheitenposition – auch in sozialer und ökonomischer Hinsicht. Zur Ablehnung der Muslime als in Südasien inhärent fremde Menschen siehe Peter van der Veer: Religious Nationalism: Hindus and Muslims in India, Berkeley CA 1994, S. 10, 20, 28 f., 62, 73, 196, 200. 10 Maria Todorova: Imagining the Balkans, Oxford 1997, S. 162. 11 Ebd., S. 172 f.

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und von islamischer Religion und Kultur geprägt wurde.12 Die natürlichen Grenzen des Balkans wären dann in den umliegenden Meeren, der Adria, dem Ionischen Meer, der Ägäis, dem Marmarameer und Schwarzen Meer zu finden. In nördlicher Richtung ist keine eindeutige Abgrenzung zu bestimmen; die Flussläufe von Save und unterer Donau könnten hier als nördliche Begrenzung des Balkans dienen. Südosteuropa hingegen würde ein doppelt so großes Gebiet umfassen: Neben dem Balkan selbst würden die heutigen Länder Kroatien, Slowenien, Ungarn, die Vojvodina (heute Teil Serbiens) und große Teile Rumäniens treten.13 Prinzipiell ließe sich damit sagen: Die Grenzen des Balkans entsprechen im Großen und Ganzen dem osmanischen Herrschaftsbereich.14 Eine solche Definition hat den Vorteil, eine deutliche Unterscheidung zwischen den Begriffen ›Südosteuropa‹ und ›Balkan‹ zu treffen und zudem der Präsenz der Osmanen in Südosteuropa die gebührende Bedeutung einzuräumen.15 Die Fallstricke eines solchen ›emanzipatorischen‹ Anliegens, den Balkan als Erbe der Osmanen zu sehen, sind aber nicht zu übersehen: Der Balkan steht offensichtlich in alleiniger osmanischer Verantwortung. Alles ›Balkanische‹ kann, von wem auch immer und von was auch immer, aus- und abgegrenzt werden. Zudem werden die Osmanen damit gänzlich aus dem größeren Bereich Südosteuropa ausgeschlossen, da sie ja offensichtlich nur ein Phänomen des Balkans sind. Südosteuropa zerfällt damit allzu deutlich in einen ›orientalischen‹ und ›europäischen‹ Teil.16 Schließen wir diese allgemeinen Betrachtungen zum ›Balkan‹, die in den anderen Beiträgen zu diesem Sammelband ohnehin ausgeführt werden, und wenden uns türkischen Sichtweisen Südosteuropas zu. Wenn die Rolle der Osmanen in der Prägung dessen, was wir heute als ›Balkan‹ verstehen (könnten), so ungeheuer bedeutend war, müssen wir uns fragen, was die Osmanen selbst unter ihrem Reich und dann im Besonderen unter ihren südosteuropäischen Besitzungen verstanden. Bis in das 20. Jahrhundert hinein fassten die Osmanen ihren Herrschaftsbereich als einen großen imperialen Verbund auf,17 12 Zu den inhaltlichen und terminologischen Fragen und Verwirrungen um die Begrifflichkeiten ›Balkan‹ vs. ›Südosteuropa‹ äußern sich Martina Baleva und Boris Previšić ausführlich in der Einleitung zu diesem Band. 13 Holm Sundhaussen: Europa balcanica. Der Balkan als historischer Raum. In: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft 25 (1999), S. 626–653, hier S. 634 f. 14 Die Vasallenstaaten des Osmanischen Reiches wie Moldau oder Wallachei wären dann eher Südosteuropa als dem Balkan zuzuordnen. 15 So auch die eigene Argumentation in Martin Kramer, Maurus Reinkowski: Die Türkei und Europa. Eine wechselhafte Beziehungsgeschichte, Stuttgart 2008, S. 35. 16 Ebenso sollten ›Balkan‹ und ›Rumelien‹ nicht als selbstverständlich deckungsgleich verstanden werden. Siehe Ebru Boyar: Ottoman, Turks and the Balkans. Empire Lost, Relations Altered, London u. a. 2007, S. 32: »In fact the term Rumeli can be seen as an Ottoman-centric term whereas the Balkan Peninsula is very much a Euro-centric term.« 17 Unter den ›Osmanen‹ ist die gesamte Nachkommenschaft von Osman I., dem Begründer der osmanischen Dynastie zu Beginn des 14. Jahrhunderts, und, in einem weiteren Sinne, der

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in dem sich »auf einer unteren Ebene homogene Völker mit ihren traditionellen Volkskulturen, auf einer höheren Ebene dagegen die ethnisch heterogene Oberschicht mit ihrer spannungsreichen, dynamischen ›nationalen‹ Kultur« fanden.18 In die innere Ordnung der Herrschaftsverbände in den lose angegliederten Peripherien konnte und wollte die Staatsführung nicht eingreifen. Das Osmanische Reich war als ein homogener, amalgamierter Kern organisiert, um den sich fragmentierte Zonen lagerten, die untereinander keinen Kontakt hatten, sondern sich nur auf das Zentrum, seit 1453 war dies Istanbul, bezogen. Der Balkan als Begrifflichkeit war den Osmanen nicht geläufig: »In the Ottoman mind, there was no idea of ›the Balkans‹ as a concept of society or administration, and the word itself appeared very rarely in Ottoman texts, and then only in its most limited geographical meaning. […] Likewise on the personal level, the Ottoman mind did not conceive of ›Balkan peoples‹ any more than they did of ›Arab peoples‹.«19 Der für die Osmanen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts selbstverständliche Begriff für ihre europäischen Besitzungen war ›Rumelien‹.20 Der Begriff Rumelien weist eine recht verwirrende Geschichte auf. Rumelien bedeutet wörtlich rum-ili, ›das Land der Rum (Byzantiner)‹. Rum war vor der osmanischen Periode die islamische Bezeichnung für das bis zum 11. Jahrhundert byzantinische Kleinasien. In osmanischer Zeit übertrug sich die Benennung auf die osmanischen Gebiete in Südosteuropa, mit der impliziten Konnotation einer Region mit einer mehrheitlich christlichen (vor allem orthodoxen) Bevölkerung.21 Trotz der christlichen Bevölkerungsmehrheit war der größere Teil der europäischen Gebiete des Osmanischen

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gesamte herrscherliche Haushalt unter dem jeweiligen osmanischen Sultan zu verstehen. In der Regel wird aber unter den ›Osmanen‹ mehr verstanden, nämlich die gesamte Herrschaftselite des Osmanischen Reiches, die vermutlich mehrere Zehntausend Menschen umfasste und die fließende Übergänge, etwa zu lokalen Eliten, kannte. Bedingung dafür, ein Osmane zu sein, war ein Muslim (geworden) zu sein, die Verwaltungs- und Hochsprache ›Osmanisch‹ mitsamt ihrer kulturellen Codes zu beherrschen, eine starke Identifikation mit dem imperialen Selbstbild des Staates aufzuweisen und den entsprechenden Habitus zu pflegen. Im 19. Jahrhundert weitet sich der Begriff des ›Osmanen‹ hin zum Konzept eines osmanischen Untertanen. Neben ›Ottomans‹ stehen dann gewissermaßen ›Ottomen‹. Emerich Francis: Ethnos und Demos: Soziologische Beiträge zur Volkstheorie, Berlin 1965, S. 100 f. Stanford J. Shaw: The Ottoman View of the Balkan. In: Barbara Jelavich, Charles Jelavich (Hg): The Balkans in Transition: Essays on the Development of Balkan, Hamden CT 1974, S. 56–80, hier S. 62. Siehe Boyar 2007 (wie Anm. 16), S. 35–41, zur Diskussion der Frage, ab welchem Zeitpunkt im frühen 20. Jahrhundert von osmanischer Seite der ›Balkan‹ als selbstverständliche Begrifflichkeit akzeptiert wurde. Siehe hierzu ausführlich Halil İnalcık: Rumeli. In: Peri J. Bearman et al. (Hg.): Encyclopaedia of Islam, 2. Auflage: http://referenceworks.brillonline.com/entries/encyclopaedia-of-islam-2/ rumeli-COM_0940 (Letzter Zugriff: 1. Juli 2015).

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Reiches Teil des zentralen osmanischen Herrschaftsgebiets, weit mehr als etwa Ostanatolien. Als Kernraum des Reiches – auch in osmanischer Sicht – können die vor 1453 eroberten Gebiete, also das westliche Kleinasien sowie große Teile der osmanischen Besitzungen in Südosteuropa, gelten, in denen die osmanischen Institutionen am tiefsten verankert waren und in denen das osmanische Steuerund Verwaltungssystem in seiner ganzen Tiefe und Breite eingeführt wurde.22 Ende des 15. Jahrhunderts kamen rund zwei Drittel der Steuern und Abgaben aus Europa. Eine Haupteinnahmequelle war die Kopfsteuer der Nichtmuslime (cizye).23 Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts änderte sich nichts grundsätzlich an dieser Konstellation und an der zentralen Bedeutung Südosteuropas für das osmanische Reichsgebilde.

Abschied und Wiederkehr Durch Jahrhunderte hindurch wurde die politische und militärische Elite des Reiches weitestgehend aus dem Balkan rekrutiert; man denke nur an die Institution der Knabenlese (devşirme),24 die niemals unter den zahlreichen Christen in der östlichen arabischen Welt durchgeführt wurde. Wenn der Balkan ein Erbe der Osmanen war, so ließe sich mit gleichem Recht sagen, dass die heutige Türkische Republik wiederum ein Erbe des Balkans ist, denn die ›Balkanlastigkeit‹ des Osmanischen Reichs gilt auch für die Jungtürken im letzten Jahrzehnt des Imperiums und die Führungsriege der jungen Republik Türkei. Ein größerer Teil von ihnen zählte zur muslimisch-türkischen Bevölkerung Südosteuropas; der bekannteste unter ihnen ist der in Saloniki geborene und aufgewachsene Mustafa Kemal [Atatürk] (1881–1938). Atatürk selbst war es jedoch, der mitsamt der ihn umgebenden ›kemalistischen‹ Elite, – die historischen Realitäten verleugnend, aber mit gutem politischen Instinkt ausgestattet – Anatolien zum Heimatland der Türken auserkor. In den ersten Jahrzehnten des neu gegründeten türkischen Nationalstaats wurde das Osmanische Reich als ein misslungenes ancien régime abgelehnt. Zwischen Türken und Nicht-Türken (vor allem Arabern) habe das Missverständnis einer angeblichen Interessengemeinschaft existiert, unter dem vor allem die Türken zu leiden gehabt hätten. Der osmanischen Geschichte wurde mithin die kemalistische 22 Nach Klaus Kreiser: Über den ›Kernraum‹ des Osmanischen Reiches. In: Klaus-Detlev Grothusen (Hg.): Die Türkei in Europa, Göttingen 1979, S. 53–63, hier S. 53 ff., könnte die Dichte von Stiftungen als Kriterium für die Abgrenzung eines osmanischen Kernraums dienen. 23 Klaus Kreiser, Christoph K. Neumann: Kleine Geschichte der Türkei, Stuttgart 2003, S. 103. 24 Die Knabenlese zählt, als ›Blutsteuer‹ (z. B. im Kroatischen/Serbischen: danak u krvi oder im Bulgarischen: krăven danăk) tituliert, zu den zentralen Elementen einer negativen Deutung der osmanischen Zeit.

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Ideologie der Republikzeit übergestülpt und das Argument vorgebracht, das Osmanische Reich hätte besser seine Energien Anatolien widmen sollen, anstatt sich als unbeholfener Imperialist zu betätigen. Der Atatürk nahestehende Publizist Falih Rıfkı Atay fasste diesen Gedanken in den 1930er Jahren in den folgenden Worten zusammen: »Die Kunst der Imperien ist es, Kolonien und Völker arbeiten zu lassen. Das Osmanische Reich aber, von Thrakien bis nach Erzurum, hat seinen riesigen Körper auf die Seite gelegt und den Kolonien und Völkern die Brust gegeben, bis schließlich seine Milch mit seinem Blut vermischt getrunken wurde.«25 In diesem Sinne konnte sogar der Verlust der europäischen Besitzungen im ersten Balkankrieg als eine Befreiung von einer allzu großen Last deklariert werden. Es ließe sich lange darüber debattieren, wie die kemalistische Verleugnung des osmanischen Erbes in den ersten Republikjahrzehnten zu deuten ist: als temporäre utilitaristische Maßnahme, gezielte Verdrängung oder authentische Verarbeitung traumatischer Erfahrungen? Jedenfalls trat im Zuge einer politischen Liberalisierung und größerer Mitspracherechte konservativ und islamisch gesinnter Bevölkerungsschichten in der Türkei ab den 1950er Jahren an die Stelle der kemalistischen Ablehnung zunehmend eine positive Sicht der osmanischen Geschichte. Nach dem coup d’état vom 12. September 1980 setzte die militärische Elite unter Generalstabschef und später Staatspräsident Kenan Evren alles daran, die Polarisierung der türkischen Politik zwischen extremer Linke und extremer Rechte zu durchbrechen – durch die Repression der linken Bewegung und die Förderung einer religiösen Grundstimmung.26 Die ›Türkisch-islamische Synthese‹ (Türk-İslam sentezi), seit den 1960er Jahren von einzelnen Intellektuellen und Historikern propagiert, aber erst in den 1980er Jahren vom Militär aktiv gefördert, sieht türkischen Nationalismus und islamische Identität nicht als Gegensätze. Vielmehr sei durch die produktive Verbindung von Islam und Türkentum der außerordentliche Beitrag der Türken zur islamischen Weltgeschichte und -kultur zu erklären.27 In den letzten 30 Jahren hat diese Deutung durchaus eine gewisse Dominanz im öffentlichen Diskurs der Türkei errungen. Der weniger gut zu greifende Gedanke des ›Neo-Osmanismus‹, der gewisse Überlappungen mit der türkisch-islamischen Synthese zeigt, scheint ursprünglich 25 Falih Rıfkı Atay: Zeytindağı (Ölberg), 4. erw. Auflage, Istanbul 1957, S. 41. 26 Zu einer Untersuchung der Schul(buch)politik des türkischen Militärs nach 1980 siehe Sam Kaplan: Din-u Devlet All over Again? The Politics of Military Secularism and Religious Militarism in Turkey Following the 1980 Coup. In: International Journal of Middle East Studies 34 (2002), S. 113–127. 27 Erstaunlicherweise ist die Literatur in nicht-türkischen Sprachen über die für die ideologische Struktur der modernen Türkei so wichtige ›Türkisch-islamische Synthese‹ dünn gestreut. Für eine erste (allerdings apologetische) Einführung siehe Gökhan Çetinsaya: Rethinking Nationalism and Islam: Some Preliminary Notes on the Roots of ›Turkish-Islamic synthesis‹ in Modern Turkish Political Thought. In: Muslim World 89 (1999), S. 350–376.

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in den 1990er Jahren als ein abwertender Begriff aufgekommen zu sein, um neue selbstbewusste Aspekte der türkischen Aussenpolitik zu brandmarken. Im Türkischen als Yeni Osmanlıcılık bekannt, erfährt der Neo-Osmanismus heute im innertürkischen Kontext durchaus positive Interpretationen.28 Neo-Osmanismus wird oft in Zusammenhang mit dem Konzept der ›strategischen Tiefe‹ (›stratejik derinlik‹) des seit 2009 amtierenden Außenministers Ahmet Davutoğlu gebracht,29 der seine theoretischen politikwissenschaftlichen Überlegungen mit einem robusten Optimismus hinsichtlich der künftigen Position der Türkei im internationalen Mächtesystem verbindet.30 Neo-Osmanismus ist einerseits als ein Aspekt türkischer ›soft power‹ zu verstehen, die sich auf Institutionen wie die staatliche türkische Entwicklungsagentur TİKA (›Türk İşbirliği ve Koordinasyon Ajansı Başkanlığı‹) oder prominente Persönlichkeiten wie Ekmeleddin İhsanoğlu (in den Jahren 2005–2014 Generalsekretär der ›Organisation of Islamic Cooperation‹) stützt. Grundlage ist eine positive Wertung der osmanischen Herrschaftskultur und die Zuversicht, dass im Rückgriff auf Jahrhunderte alte Erfahrungsmuster osmanischer Politik die Bedingungen für eine stabile Neuordnung eines postnationalen Nahen Ostens und Südosteuropas geschaffen werden können.31 Der Neo-Osmanismus gerät aber andererseits auch in die Nähe einer ideologischen und apologetischen Deutung von Geschichte, indem er auf einer übermäßig positiven Deutung der Errungenschaften des sogenannten ›Millet-Systems‹ beruht,32 das angeblich die Grundlagen für eine friedliche und stabile multi-nationale Koexistenz in den osmanischen Herrschaftsgebieten gelegt 28 Siehe zum Beispiel Ömer Taşpınar: Neo-Ottomanism and Kemalist Foreign Policy. In: Today’s Zaman, 22. September 2008: http://www.todayszaman.com/newsDetail_openPrintPage. action?newsId=153882 (Letzter Zugriff: 1. Juli 2015): »Neo-Ottomanism does not call for Islamic governance in Turkey or Turkish imperialism in the Middle East and the Balkans. Instead, it seeks a less militant understanding of secularism at home and ›soft‹ Turkish influence in formerly Ottoman territories. Similarly, neo-Ottomanism’s willingness to embrace Turkey’s imperial and Islamic legacy opens the door for a less ethnic concept of Turkishness. In other words, neo-Ottomanism is at peace with the multiethnic and cosmopolitan nature of the state.« 29 Siehe für eine erste Einführung (mit weiterführender Literatur) Christoph Ramm: Die Türkei und ihre Politik der ›strategischen Tiefe‹. Abkehr vom Westen, neuer Osmanismus oder nationale Großmachtphantasie? In: Sigrid Faath (Hg.): Die Zukunft türkisch-arabischer Beziehungen. Nationales Interesse, nicht Religion als Basis der Kooperation, Baden-Baden 2011, S. 51–63. 30 So argumentierte Ahmet Davutoğlu im Jahr 2011, dass die Türkei »innerhalb der nächsten 12 Jahre eine Weltmacht sein wird«, TGRT Haber, 25. April 2011, http://www.youtube.com/ watch?v=WpQp0nvJtqI (Letzter Zugriff: 1. Oktober 2015). 31 Kerem Öktem: Projecting Power: Non-Conventional Policy Actors in Turkey’s International Relations. In: Ders. et al. (Hg.): Another Empire? A Decade Of Turkey’s Foreign Policy Under The Justice And Development Party, Istanbul 2012, S. 77–108. 32 Zu einer kritischen Bewertung des ›Millet-Systems‹ (u. a. mit der Aussage, dass niemals ein solches System als ›System‹ existierte) siehe Benjamin Braude: Foundation Myths of the Mil-

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hätte.33 So konnte, um nur ein Beispiel für eine extreme Interpretation in dieser Richtung zu geben, der Sprecher der Organisation Dayanışma Vakfı, einer NGO aus dem islamischen Spektrum, erklären, dass die pax ottomanica als Modell dienen könne für interkonfessionelles Zusammenleben in einem post-nationalen Zeitalter, übrigens auf der Basis einer orthodox-islamischen Allianz gegen den Westen.34

Rumelien und Armenien Bevor ich mit meinen, durchaus oft sehr spekulativen Ausführungen weiter fortfahre, möchte ich kurz eine Warnung aussprechen. In diesem Beitrag wird die von offiziöser, populärwissenschaftlicher und apologetischer Historiografie bestimmte Geschichtsschau in der Türkei als ein stimmiger Chor beschrieben. Dies könnte leicht in dem Sinne missverstanden werden, als gäbe es in der türkischen Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit nur eine zulässige Meinung und als gäbe es keine kritischen Stimmen. Dieser Eindruck wäre gänzlich falsch.35 Der Grund für die hier gewählte ›idealtypisierende‹ Darstellungsweise ist offensichtlich: Populäre Geschichtsschreibung ist ein Ausdruck des türkischen kollektiven Gedächtnisses und verstärkt dieses zugleich wieder. Will man nach der entscheidenden Achsenzeit der osmanisch-türkischen Geschichte in ihrer Gesamtheit suchen, so ist es die Dekade von 1912 bis 1922, von den beiden Balkankriegen über den Ersten Weltkrieg bis zum Ende des türkischen Unabhängigkeitskriegs 1922. Die Herausforderung für die türkische Historiografie besteht darin, diese Herausschälung des türkischen ›Nationalstaats‹ aus dem vorangehenden osmanischen imperialen Kontext zu begründen: In der historischen Erinnerung der Türkischen Republik gehört die traditionelle Toleranz des Osmanischen Reiches zum Selbstverständnis, das zum Beispiel die Juden aus Spanien am Ende des 15. Jahrhunderts willkommen hieß.36 Trotz seiner sehr heterogenen

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let System. In: Ders., Bernard Lewis (Hg.): Christians and Jews in the Ottoman Empire. The Functioning of a Plural Society, Bd. 1: The Central Lands, New York u. a. 1982, S. 69–88. Tanıl Bora: Turkish National Identity, Turkish Nationalism and the Balkan Problem. In: Günay Göksü Özdoğan, Kemâli Saybaşılı (Hg.): Balkans: A Mirror of the New International Order, Istanbul 1995, S. 101–120; hier S. 120, mit einer luziden Interpretation neo-osmanistischer Gedankengänge. Ferhat Kentel: Les Balkans et la crise de l’identité nationale turque. In: Xavier Bougarel, Nathalie Clayer (Hg.): Le nouvel islam balkanique. Les musulmans, acteurs du post-communisme 1990–2000, Paris 2001, S. 357–395, hier S. 385. Siehe als Beispiele für kritische Sozial- und Geschichtswissenschaften in der Türkei die beiden Zeitschriften New Perspectives on Turkey und Tarih ve Toplum. So ist in der Tat die Ansiedlung der sephardischen Juden in Saloniki ein Beispiel für die allgemein recht erfolgreiche Ansiedlungs- und ›Konjunktur-Politik‹ der Osmanen. Mark Mazower: Salonica. City of Ghosts: Christians, Muslims and Jews 1430–1950, London u. a.

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ethnischen und religiösen Zusammensetzung habe das Osmanische Reich ein Leben in Frieden und Toleranz ermöglicht und gewährt.37 Der konservative und nationalistische Teil der türkischen Geschichtswissenschaft ist darüber hinaus nach wie vor davon überzeugt, dass die Osmanen wegen ihrer zu großen Nachgiebigkeit und Toleranz eine nachhaltige Turkifizierung und Islamisierung der südosteuropäischen Gebiete versäumt und so deren späteren Abfall erst möglich gemacht hätten.38 Das Osmanische Reich sei demnach durch den europäischen Imperialismus und Nationalismus zerstört worden, aber auch an seiner eigenen Liberalität zugrunde gegangen.39 Nur im Vergleich zu heutigen Konflikten könne man die Errungenschaften der osmanischen Gesellschaftsordnung verstehen.40 Nähert man sich den Jahren 1912–1922, tritt das Osmanische Reich immer mehr in den Hintergrund: Stattdessen sehen wir nun das Bild einer vom europäischen Imperialismus bedrängten und zuletzt nahezu in die Knie gezwungenen türkischen Nation vor uns, die sich nur unter äußersten Mühen ihre nationale Selbstbestimmung erkämpfen kann. Die Türkei reiht sich damit in die vorderste Linie der Länder ein, die dem Kolonialismus siegreich widerstanden hätten. In den Jahren 1912–1922 ist also der Schlüssel zum historischen Selbstverständnis der heutigen Türkei enthalten: Das späte Osmanische Reich wird als eine Art ›antikoloniales Imperium‹ gesehen, also als imperiales Reich und zugleich als ein vom europäischen Imperialismus umstellter Nationalstaat. Die Türken hätten damit in doppelter Weise Opfer werden können: Als Träger eines imperialen Reiches, das an seiner Groß- und Langmütigkeit zugrunde ging, und als eine Nation, die in einem anfangs hoffnungslos erscheinenden Kampf gegen die übermächtigen imperialistischen Großmächte zu unterliegen drohte.

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2004, S. 65, konstatiert: »By the mid-sixteenth century its population had grown to 30,000 and it generated the highest per capita yield of taxes in the Balkans and the largest revenue of any urban settlement to the west of Istanbul.« Ein besonders anschauliches Beispiel ist Kemal Karpat: Remarks on MESA and Nation and Nationality in the Middle East. In: Middle East Studies Association Bulletin 20 (1986), S. 1–12, hier S. 9: »The Ottoman state was probably the most perfect Islamic state ever to come into existence«. Für zwei weitere Beispiele in türkischer Sprache siehe Bilal Eryılmaz: Osmanlı Devletinde Gayrımüslim Teb’anın Yönetimi (Die Verwaltung der nicht-muslimischen Untertanen im osmanischen Staat), Istanbul 1990, S. 12, und Gülnihal Bozkurt: Alman-İngiliz Belgelerinin ve Siyasî Gelişmelerin Işığı Altında Gayrimüslim Osmanlı Vatandaşlarının Hukukî Durumu, 1839–1914 (Die rechtliche Lage der nicht-muslimischen osmanischen Staatsbürger nach deutschen und englischen Akten und im Lichte der politischen Entwicklungen, 1839– 1914), Ankara 1989, S. IX. Bora 1995 (wie Anm. 33), S. 110. Als prototypisches Beispiel für diese Art von Literatur siehe Salahi Ramadan Sonyel: Minorities and the Destruction of the Ottoman Empire, Ankara 1993. Mim Kemal Öke: Ermeni Meselesi 1914–1923 (Die Armenierfrage 1914–1923), Istanbul 1986, S. 283.

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Der Vorwurf, dass die Völker in Südosteuropa die Türken verraten hätten, während diese selbst bis zuletzt loyale Befürworter und Bewahrer der supra-nationalen Idee des Osmanischen Staates geblieben seien, ist bis heute Gemeingut historischer Erinnerung. Gemäß dieser Interpretation verrieten die vom osmanischen Herrscher behüteten christlichen Untertanen die osmanischen Türken, indem sie einen egoistischen Nationalismus befürworteten und im ersten Balkankrieg von 1912 den finalen Akt der Aggression begangen. Der ›Verrat‹ durch die ehemaligen Untertanen wurde angesichts der Unterstützung durch die europäischen Großmächte als besonders perfide empfunden.41 Andererseits ist die Art und Weise, wie sich im 19. Jahrhundert in Südosteuropa die Nationalstaaten begründeten, für die türkische Elite des frühen 20. Jahrhunderts Trauma und Lehrbuch zugleich gewesen. Die Radikalisierung der türkischen Politik in den Jahren seit 1912 liegt in der Erfahrung eines existentiellen Verlustes begründet. Den Verlust ihrer Heimat in Saloniki, Bitola oder Skopje beantworteten die Jungtürken und die Männer um Mustafa Kemal mit dem Entschluss, sich nun um so energischer eine eigene Nation in Kleinasien zu schaffen. Mit Recht lässt sich auf eine lange Vorgeschichte von Gewalt im 19. Jahrhundert und die umfänglichen Vertreibungen der Muslime aus Südosteuropa und dem Kaukasus verweisen.42 Mit ebensolchem Recht kann man versuchen, die umfänglichen Massaker an den Armeniern 1915/16 in einen größeren Zusammenhang einer Politik ethnischer Säuberungen zu stellen. Umso enttäuschender aber ist es, wenn damit nur die eigene argumentative Position möglichst gestärkt werden soll. So heißt es heute immer wieder von türkischer Seite, dass alle gelitten hätten – und die türkischen Muslime noch ein ganzes Stück mehr. Nach Yusuf Halaçoğlu, in den Jahren 1993–2008 Präsident der ›Türkischen Geschichtsgesellschaft‹ (›Türk Tarih Kurumu‹), sei »die größte Umsiedlung eines Volkes, die von einem Staat in jenem Jahrhundert durchgeführt wurde [also die Deportationen der armenischen Bevölkerung in den Jahren 1915 und 1916], auf eine sehr disziplinierte Art und Weise erfolgt«. Dagegen müsse man davon ausgehen, dass die Zahl der von armenischen Nationalisten umgebrachten Muslime »vermutlich in die Hunderttausende« gehe.43 Die Türkei steht mit reflexartigen Zurückweisungen, wenn der nationale Mythos in Frage gestellt wird, keineswegs alleine; sie ist aber in einer schwierigeren Situation, denn es geht nicht nur darum, einen Opfermythos unbeschädigt aufrecht 41 Bora 1995 (wie Anm. 33), S. 104: »In the Ottoman-Turkish thought, these events have been perceived in two different ways: on the one hand, as a provoked betrayal of the former Ottoman subjects with whom a coexistence of many centuries had been possible, and on the other hand, in terms of a common conspiracy of all world powers, i.e. the Western powers and the pan-Slavist Russia aiming at the collapse of the Ottoman Empire.« 42 Siehe hierzu die engagierte, aber auch teilweise parteiische Darstellung von Justin McCarthy: Death and Exile: The Ethnic Cleansing of Ottoman Muslims 1821–1922, Princeton, NJ 1995. 43 Yusuf Halaçoğlu: Die Armenierfrage, Klagenfurt 2006, S. 85, 95.

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zu erhalten, sondern um den Vorwurf der Täterschaft. Die Auseinandersetzung mit den Armeniermassakern ist für die türkische Öffentlichkeit nicht nur wegen ihrer die nationale Ehre betreffenden Weiterungen schwierig, sie ist auch – eher unbewusst als bewusst – so eng mit der Gründungsgeschichte des türkischen Nationalstaates verbunden, dass eine Anerkennung möglicher türkischer Untaten die Fundamente der türkischen Nation anscheinend in Frage stellen könnte. Armenien und Rumelien, die auf den ersten Blick so wenig miteinander gemein haben, bilden die beiden Kontrapunkte des türkischen Geschichtsbewusstseins und verschränken sich in besonderer Weise in der enorm verdichteten osmanischtürkischen Transformationsperiode in den Jahren 1912–1922.

›Unser Rumelien‹ – gestern und heute Wir haben gesehen, dass es für die Osmanen den Balkan nicht gab. Wenn ein Bewusstsein bei den Osmanen existierte, dass die europäischen Besitzungen eigene Züge besaßen, dann in dem Sinne, Bestandteil des ökonomisch einträglichen und strategisch wichtigen Kernlandes zu sein. Das ›eigene Andere‹ konnten die osmanischen Bürokraten und Offiziere eher in Ostanatolien oder in entlegenen arabischen Provinzen finden.44 Für die heutige türkische Politik und Öffentlichkeit existiert der Balkan in dem Sinne, dass der gegenwärtige muslimische Balkan das ›andere Eigene‹ der Türkei ist. Während das real existierende Südosteuropa unmittelbar nach dem Verlust der osmanischen Besitzungen nahezu ohne jedes Interesse war für die Türkische Republik und die Türken des 20. Jahrhunderts, sind die Ereignisse im osmanischen Südosteuropa im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert prägend für das politische Bewusstsein der heutigen Türkei geblieben. Die Empörung über die bulgarische Repressionspolitik gegenüber der türkischen Ethnie in Bulgarien während der 1980er Jahre war ein Vorbote des deutlich gewachsenen Interesses für das Schicksal der Muslime in Südosteuropa seit den 1990er Jahren.45 Jedenfalls hat die türkische Öffentlichkeit eine weitaus größere emotionale Beteiligung an den jugoslawischen Sezessionskriegen gezeigt als an Konflikten in den ehemaligen arabischen

44 Auch der osmanische ›Orientalismus‹ um 1900 (falls er je existiert hat) orientierte sich, so wie der europäische Orientalismus, in Richtung Südosten. Siehe hierzu Ussama Makdisi: Ottoman Orientalism. In: American Historical Review 107 (2002), S. 768–796. 45 Zur türkischen Ethnie in Bulgarien in den 1990er Jahren siehe Wolfgang Höpken: Zwischen Kulturkonflikt und Repression. Die türkische Minderheit in Bulgarien 1944–1991. In: Valeria Heuberger et al. (Hg.): Nationen, Nationalitäten, Minderheiten: Probleme des Nationalismus in Jugoslawien, Ungarn, Rumänien, der Tschechoslowakei, Bulgarien, Polen, der Ukraine, Italien und Österreich 1945–1990, München 1994, S. 179–202.

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Provinzen.46 Ein wichtiger Grund für diese enge emotionale Verbundenheit mit Südosteuropa ist wohl, dass viele Menschen in der Türkei auf eine Herkunft aus ›Rumeli‹ verweisen können. Man vermutet, dass jeweils vor und nach dem Ersten Weltkrieg eineinhalb Millionen, insgesamt also drei Millionen Türken und Muslime Südosteuropa in Richtung der heutigen Türkei verlassen haben. Die Zahl der Nachkommen der Emigranten aus Südosteuropa könnte sich damit heute auf 15 bis 20 Millionen Menschen belaufen – also etwa ein Viertel der heutigen türkischen Bevölkerung.47 Im Gegensatz zu den offensiv stimmenden Faktoren des Neo-Osmanismus und des wirtschaftlichen Erfolgs (und außer einer kurzen Phase der Euphorie in den frühen 1990er Jahren) ist die türkische Außenpolitik in Südosteuropa auch von Vorsicht gekennzeichnet. Die türkischen ethnischen Minoritäten sind weniger ein Trumpf als vielmehr möglicher Anlass zu diplomatischen Trübungen mit Ländern wie Griechenland, Makedonien oder Bulgarien.48 Der Türkei fiel es auch schwer, sich in den späten 1990er Jahren offen auf die Seite der UÇK zu stellen, weil die Parallelen zwischen den Anliegen der UÇK im Kosovo und der PKK in der Türkei zu offensichtlich waren.49 Die Ängste vor einer zu großen Dominanz eines fundamentalistischen Islam (getragen von Staaten wie Saudi-Arabien) haben die westlichen Staaten dazu bewogen, der Türkei in den letzten Jahren größere Handlungsfreiheit in den südosteuropäischen Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit zuzugestehen.50 Ein türkischer territorialer Revanchismus in Südosteuropa ist jedoch nach wie vor ausgeschlossen; am ehesten würde vermutlich der Türkei eine Rolle vorschweben, die an das habsburgische ›Kultusprotektorat‹ unter den Katholiken in den albanischen Siedlungsgebieten vor dem Ersten Weltkrieg erinnert.51 Im Gegensatz zu Armenien, jenem verhängnisvollen und zugleich nicht verhandelbaren Teil der Republik Türkei, ist ›Rumelien‹ im türkischen Gefühlshaushalt grundsätzlich positiv konnotiert. Auf vielschichtige und historisch natürlich oft verzerrte Weise verweben sich die ›Erinnerungen‹ an Rumelien als ›Opferland‹, nämlich als Heimat der mit großem Unrecht vertriebenen (türkischen) Muslime, und als ›Hüterland‹, nämlich als das von den nicht-muslimischen Untertanen so 46 Kentel 2001 (wie Anm. 34), S. 367. 47 Ebd., S. 368. 48 Sylvie Gangloff: La politique balkanique de la Turquie et le poids du passé ottoman. In: Bougarel, Clayer 2001 (wie Anm. 34), S. 317–356; hier S. 350 f. 49 Ebd., S. 344. 50 Kerem Öktem: New Islamic Actors after the Wahhabi Intermezzo. Turkey’s Return to the Muslim Balkans, Oxford 2010, als Internetressource verfügbar unter: http://balkanmuslims. com/pdf/Oktem-Balkan-Muslims.pdf (Letzter Zugriff: 1. Juli 2015). 51 Siehe hierzu Engelbert Deusch: Das k.(u.)k. Kultusprotektorat im albanischen Siedlungsgebiet in seinem kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Umfeld, Wien 2009.

Türkische Erinnerungskulturen zu Südosteuropa

unbedacht verschleuderte hohe Gut eines supra-nationalen toleranten Gemeinwesens. Wenn die Türkei heute sich als ›Patronage-Staat‹ für die muslimischen Bevölkerungsgruppen Südosteuropas sieht, so basiert diese Selbstsicht auf einer eigenständigen Deutung der Geschichte des osmanischen geprägten Südosteuropas. Zugleich hat sich die türkische Öffentlichkeit und Politik die schon seit dem 19. Jahrhundert bestehende europäische Sichtweise des ›Balkans‹ als dem osmanisch-islamischen Teil Südosteuropas zu eigen gemacht.

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Sehnsucht, Zuflucht, Schreckbild Der Balkan im Blick armenischer Revolutionäre

Der Aufsatz nimmt den Balkan einmal nicht von Westen, sondern von Osten her in den Blick: Seine Perspektive ist die der armenischen Revolutionäre, die Anfang des 20. Jahrhunderts im Osmanischen Reich agierten. Ihr Bezugsrahmen ist das Osmanische Reich, innerhalb dessen sich Armenien in der lange vernachlässigten östlichen Peripherie befand. Der Balkan markiert den westlichen Rand der osmanischen Welt, der bis zuletzt als Kernland des Reiches galt. In der Sicht der armenischen Revolutionäre war der Balkan somit die Brücke zwischen Ost und West. Der osmanisch geprägte Balkan war dabei ein vertrauter Partner, manchmal auch Vorbild. Der habsburgische Balkan hingegen stand für „Europa“, das allerdings nicht durchweg positiv konnotiert war. Angesichts der Assimilation der dortigen alten armenischen Gemeinden erschien der westliche Balkan den nationalistischen Revolutionären nicht als Sehnsuchtsort, sondern als Schreckbild. Der Balkan oder Les Balkans, Singular oder Plural? Bunte Vielfalt als Segen oder Fluch, als Reichtum oder Bedrohung? So vielfältig wie der Balkan, so mannigfach sind die Bilder und Assoziationen, die sich mit ihm verbinden. Schon die vertrauten Attribute, die westeuropäisches Sprechen über den Balkan seit geraumer Zeit begleiten, sind widersprüchlich. Ein Wechsel der Blickrichtung stellt die verfestigten Bilder auf den Kopf und erlaubt nicht nur neue Perspektiven, sondern auch neue Entwürfe. Mit den Augen armenischer Revolutionäre des beginnenden 20. Jahrhunderts betrachtet, vertauschen sich zunächst Ost und West. Der Balkan als Brücke zum Orient oder Brücke nach Europa? Schließlich verkehrt sich auch die Bewertung der gegebenen Bedingungen und Möglichkeiten. Der Balkan als Hort der Rückständigkeit oder Speerspitze der Fortschritts und der Revolution? Der Balkan als Pulverfass oder als Labor? Sucht man nach den frühesten Wurzeln armenischer Beziehungen zum Balkan, so erfährt man, dass die ersten armenischen Berührungen mit dem Balkan zurückreichen in die Spätantike, als der byzantinische Kaiser Maurikios (582–602) begann, Armenier aus ihrer Heimat im Osten Kleinasiens zu deportieren und in

Der Balkan im Blick armenischer Revolutionäre

Thrakien anzusiedeln.1 Die große, weltweite armenische Diaspora wurde allerdings im 11. Jahrhundert begründet. 1065 eroberten die seldschukischen Armeen die armenische Hauptstadt Ani, deren Ruinen heute unmittelbar an der Grenze zwischen der Türkei und Armenien auf einer Landzunge am Fluss Akhurian liegen. Der Fall Anis besiegelte den Untergang des letzten armenischen Staates im historischen Armenien. Bis zum 20. Jahrhundert sollte im armenischen Hochland kein souveräner armenischer Herrscher mehr regieren. Die seldschukische Eroberung löste eine große Auswanderungswelle aus. Viele Armenier zogen mit ihren Fürsten in südwestliche Richtung nach Kilikien – die heutige Çukurova in der Türkei, die am Mittelmeer und an der syrischen Grenze gelegene Region um Adana und Tarsus –, wo in der Kreuzfahrerzeit, 1080 gegründet, noch einmal ein armenischer Staat entstand, erst Fürstentum, dann Königreich (seit 1198), der schließlich 1375 durch die Eroberung der Mamluken sein Ende fand.2 Mit diesem Datum endete die armenische Eigenstaatlichkeit nicht nur im armenischen Hochland, sondern überhaupt, bis 1918 auf einem kleinen Bruchteil des historischen armenischen Siedlungsgebiets erneut ein armenischer Staat entstand, seine Unabhängigkeit schon nach zwei Jahren wieder einbüßte und erst 1991 mit dem Zerfall der Sowjetunion zurückerlangte. Für den armenischen Blick auf den Balkan ist diese Staatenlosigkeit der Armenier ebenfalls von Belang. Ein zweiter großer Strom von Armeniern wanderte nach 1065 nach Nordwesten. Armenische Kolonien entstanden auf der Krim, in Moldawien, Siebenbürgen, Galizien, Transsylvanien, Polen, Rumänien und Litauen, ebenso wie in Westeuropa. Die armenischen Diaspora-Gemeinden in Kleinasien und Thrakien erhielten neuen Zustrom.3 Ganz unberührt blieb der Balkan hingegen vom großen Exodus 1 George Bournoutian: The History of the Armenian People, 2 Bde., Costa Mesa 31997, Bd. 1, S. 83–86. Jean-Claude Cheynet, Gérard Dédéyan: Vocation impériale ou fatalité diasporique: les Arméniens à Byzance (IVe–XIe siècle). In: Gérard Dédéyan (Hg.): Histoire des Arméniens, Toulouse 2007, S. 297–326, insbesondere S. 299–304. Peter Charanis: Transfer of Population as a Policy in the Byzantine Empire. In: Comparative Studies in Society and History 3 (1961), S. 140–154. 2 Die Geschichte des armenischen Kilikien gehört zu den besser erforschten Abschnitten der armenischen Geschichte. Wichtige Studien sind Claude Mutafian: La Cilicie au carrefour des empires, Paris 1988. Claude Mutafian: Le Royaume Arménien de Cilicie, XIIe–XIV siècle, Paris 1993. Gérard Dédéyan: Les Arméniens entre Grecs, Musulmans et Croisés. Étude sur les pouvoirs arméniens dans le Proche–Orient méditerranéen (1068–1150), 2 Bde., Lissabon 2003. 3 Gérard Dédéyan: L'immigration arménienne en Cappadoce au XI e siècle. In: Byzantion 45 (1975), S. 41–117. Krikor Maksoudian: Armenian Communities in Eastern Europe. In: Richard Hovannisian (Hg.): The Armenian People from Ancient to Modern Times, 2 Bde., New York, London 1997, Bd. 2, S. 51–79. Levon B. Zekiyan: Les colonies arméniennes, des origines à la fin du XVIII e siècle. In: Dédéyan (Hg.) 2007 (wie Anm. 1), S. 425–442, 444–446. Bournoutian 1997 (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 71–84. Dz. B. Aghaian et al. (Hg., im Auftrag des Instituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der Armenischen SSR Yerevan):

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der Armenier im frühen 17. Jahrhundert. Wieder waren Krieg und Eroberung der Auslöser. Der westliche Teil Armeniens – der Begriff bezeichnet nun nicht mehr einen Staat, sondern die historische Landschaft – war unter osmanische Herrschaft gefallen, der Osten gehörte zu Persien. Beide Staaten waren in einen Krieg verstrickt, der über Jahrzehnte hinweg immer wieder aufflammte, ohne dass eine Seite sich dauerhaft durchsetzen konnte. Im Winter 1604/5 entvölkerte der persische Schah Abbas I. schließlich die Grenzregion um Djoulfa, die er nicht halten konnte, Zehntausende Armenier wurden deportiert. Die Überlebenden dieser Zwangsumsiedlung wurden in der Nähe der neuen persischen Hauptstadt Isfahan angesiedelt, wo sie ihre neue Stadt, Neu-Djoulfa (Nor Djougha) aufbauten. Von hier ausgehend entstanden später bedeutende armenische Kolonien in Indien und bis nach Südostasien.4 In den armenischen Diasporagemeinschaften, die sich in der frühen Neuzeit zwischen Amsterdam und Singapur etablierten, entwickelten sich sehr unterschiedliche, je spezifische Kulturen, die einerseits an den Gegebenheiten und Bedingungen der neuen Heimaten ausgerichtet waren, andererseits aber immer auch auf Armenien bezogen blieben. Kirche und Sprache bildeten von alters her ein starkes einigendes Band – eine Kirche, die sich auf die Apostel Thaddäus und Bartholomäus bezog und sich mithin »apostolisch« nannte, und die im antiken Königreich Armenien besonders früh, bereits im Jahr 301, zur Staatskirche erhoben worden war. Nach 451 in Ablehnung der Beschlüsse des Konzils von Chalcedon und damit in Abgrenzung von der byzantinischen Staatskirche behauptete sie sich als autokephale, eigenständige Nationalkirche. Ihre Sprache, für die 405 ein eigenes Alphabet geschaffen wurde, erlebte eine literarische Blüte, als zuerst die Bibel und in der Folge eine Reihe patristischer und philosophischer Werke ins Armenische übersetzt wurden. So wurde die klassische Sprache des 5. Jahrhunderts bis in die Moderne als Liturgiesprache und einheitliche Schriftsprache Hay Joghovrti Badmoutiun (Geschichte des armenischen Volkes), 8 Bde., Yerevan 1971–1981, Bd. 4, S. 348–379, 386–402. Das ebenso monumentale wie unverzichtbare Standardwerk zur armenischen Diaspora bleibt Arshag Alboyadjian: Hay kaghtaganoutian badmoutiun (Geschichte der armenischen Diaspora), 3 Bde., Kairo 1941–1961. Eine gute Gesamtdarstellung bietet zudem A. G. Aprahamian: Hamarod ourvakidz hay kaghtavayreri badmoutian (Abriss der Geschichte der armenischen Diaspora-Gemeinden), 2 Bde., Yerevan 1964–1967. Siehe zudem das jüngst in Armenien erschienene Lexikon zur Diaspora: Hovhannes Ayvazian et al. (Hg.): Hay Spiurk Hanrakidaran (Lexikon der armenischen Diaspora), Yerevan 2003. 4 Siehe Cosroe Chaqueri (Hg.): The Armenians of Iran: The Paradoxical Role of a Minority in a Dominant Culture, Harvard 1998. George Bournoutian: The Armenian Community of Isfahan in the Seventeenth Century. In: Armenian Review 24 (1971), S. 27–45 und 25 (1972), S. 33–50. Vartan Gregorian: Minorities of Isfahan: The Armenian Community of Isfahan, 1587–1722. In: Iranian Studies 7 (1974), S. 652–680. Mesrovb J. Seth: History of the Armenians in India from the Earliest Times to the Present Day, Calcutta 1937. Nadia Wright: Respected Citizens: the History of Armenians in Singapore and Malaysia, Melbourne 2003.

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etabliert, die alle Fortentwicklungen, fremdsprachigen Einflüsse und dialektalen Ausdifferenzierungen der gesprochenen Sprache überbrückte.5 Während allerdings armenische Mönche des Mekhitaristenordens in Venedig schon seit 1512 begannen, armenische Bücher zu drucken und seither über Jahrhunderte hinweg Pioniere der armenischen sprachlichen und kulturellen Erneuerung waren, während armenische Eliten in den Diasporagemeinden Indiens im 18. Jahrhundert armenische Schulen errichteten, die ersten armenischen Zeitungen publizierten und sich Plänen zur Befreiung Armeniens hingaben, zeichneten sich die armenischen Kolonien in Osteuropa gerade dadurch aus, dass ihnen im Laufe der Zeit die armenische Sprache ebenso abhanden kam wie die armenisch-apostolische Konfession.6 Auf der Krim mit dem Zentrum Caffa (Feodosya) lebten Armenier seit dem 11. Jahrhundert, im polnischen (und heute ukrainischen) Galizien mit Lemberg (Lviv) als Zentrum seit dem 13. Jahrhundert. Die genannten Städte wurden zu wichtigen Kulturorten der armenischen Welt. In Moldau siedelten Armenier seit dem 14. Jahrhundert, und von dort wanderten sie auch nach Siebenbürgen, wo seit dem späten 17. Jahrhundert in Armenopolis (Gherla) und Elisabethopolis (Dumbrăveni) bedeutende armenische Zentren entstanden. Die Kirchenunion mit Rom – in Polen bereits seit 1626, in Ungarn, wozu das heute rumänische Siebenbürgen historisch gehörte, nach 1791 – war in diesen Kolonien der erste Schritt für die allmähliche sprachliche, kulturelle und sozio-politische

5 Malachia Ormanian: The Church of Armenia, London 1955. Marc Nichanian: Ages et usages de la langue arménienne, Paris 1989. 6 Zu den Mekhitaristen siehe Levon Zekiyan: Mekhitar et les Mekhitaristes. In: Claude Mutafian (Hg.): Roma-Armenia, Rom 1999, S. 269–272. Dajad Yardemian: The Contribution of the Mekhitarians to the Armenian Culture and Armenology, Los Angeles 1987. Zum frühen armenischen Buchdruck siehe Meliné Pehlivanian: It Began in Venice: A Brief History of Early Armenian Book Printing from 1512 to 1800. In: Bálint Kovacs, Emese Pál (Hg.): Far Away from Mount Ararat. Armenian Culture in the Carpathian Basin, Leipzig, Budapest 2013, S. 35–43. Raymond H. Kévorkian: Catalogue des »incunables« arméniens 1511–1695 ou chronique de l'imprimérie arménienne, Genf 1986. Zu den intellektuellen und politischen Entwicklungen der armenischen Gemeinden in Indien siehe Mesrovb J. Seth: Madras, the Birthplace of Armenian Journalism. A History of the First Armenian Journal, the Azdarar, Published Monthly at Madras by the Rev. Arathoon Shumavon, in 1794, Calcutta 1937. Leo: Haygagan dbakroutiun (Armenischer Buchdruck), Tiflis 1902 (wieder abgedruckt in: Leo: Yergeri Joghovadzou (Gesammelte Werke), Bd. 5, Yerevan 1986, S. 123–174). Vahe Oshagan: Modern Armenian Literature and Intellectual History from 1700 to 1915. In: Hovannisian (Hg.) 1997 (wie Anm. 3), Bd. 2, S. 139–174, insbesondere S. 145–148. Minas Tölölyan: Shahamir Shahamirian’s Vorogait Parats (Snare of Glory). In: Armenian Review 42 (1989), S. 25–35. Amy Apcar (Hg.): Life and Adventures of Emin Joseph Emin 1726–1809 Written by Himself, Second Edition, Calcutta 1918. Siehe als Epochenüberblick auch Levon Zekiyan: Renaissance arménienne et mouvement de libération (XVIIe–XVIIIe siècle). In: Dédéyan (Hg.) 2007 (wie Anm. 1), S. 447–474.

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Assimilation der Armenier.7 Wie diese Assimilation der Armenier in Polen und Ungarn betrachtet und interpretiert wurde und wird, unterscheidet sich je nach Perspektive und Kontext. Aus dem Blickwinkel der heutigen, postnationalen Forschung besticht das reiche Erbe an Zeugnissen der sehr eigenständigen, »hybriden« Kultur, welche Elemente aus der alten Heimat mit solchen aus dem neuen Land verbinden. Es fasziniert das Ausmaß, mit dem sich die Armenier in ihre Aufnahmegesellschaften eingebracht haben. Die Geschichte der ostmitteleuropäischen Armenier scheint als Musterbeispiel gelungener Integration.8 In der Sicht eines armenischen Nationalisten mag Stolz über die beachtlichen Leistungen der Armenier an fernen Gestaden mitschwingen. Es überwiegt letztlich jedoch der Schmerz über den Verlust, welcher der armenischen Nation durch die Assimilation entsteht, gerade und umso mehr in der Situation des 20. Jahrhunderts, als diese Nation alles andere als gefestigt war, sondern stets prekär, erst im Entstehen begriffen und zugleich existenziell gefährdet. Diese Ambivalenz spiegelt sich beispielhaft in einer Episode, die sich in den Memoiren von Roupen Der Minasian finden. Der Autor, als Minas Der Minasian geboren, später jedoch unter seinem Kampfnamen Roupen bekannt geworden, ist eine der prominentesten Figuren der armenischen Nationalbewegung des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Seine Biographie ist in vielerlei Hinsicht exemplarisch für die armenischen revolutionären Kader seiner Zeit.9 Roupen wurde 1882 in Akhalkalak geboren, sein Geburtsort liegt also eigentlich außerhalb der historischen Landschaft Armenien, im heutigen Georgien. Die armenische Bevölkerung dieses Gebiets war im frühen 19. Jahrhundert aus dem osmanisch beherrschten südlichen Schwarzmeergebiet eingewandert. Roupen absolvierte seine Ausbildung zunächst am bedeutenden armenischen Priesterseminar von Etchmiadzin (dem Sitz des armenischen Kirchenoberhauptes), später wurde er Artillerieoffizier in der zarischen Armee und Student an einer der berühmtesten armenischen Bildungseinrichtungen der Diaspora, dem Lazarev-Institut in 7

Die in westeuropäischen Sprachen publizierte Forschung zur Geschichte und Kultur der Armenier in Ost- und Ostmitteleuropa ist nach wie vor recht überschaubar. Gerade in den letzten Jahren ist der Gegenstand aber in den Blick gerückt, insbesondere durch das Forschungsprojekt »Armenier in Wirtschaft und Kultur Ostmitteleuropas (14.–19. Jahrhundert)« am Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig, im Rahmen dessen auch eine Ausstellung in Budapest mit Begleitband realisiert werden konnte, siehe Kovacs, Pál 2013 (wie Anm. 6). 8 Siehe zum Beispiel die Beiträge von Judit Pál: Armenians in Transylvania: From Settlement to Integration. In: ebd., S. 9–16. Máté Tamáska: The Synthesis of Cultures in the Armenopolis Townscape. In: ebd., S. 65–71. Iván Bertényi, Jr.: Hungarian Polititians of Armenian Descent in the Dual Monarchy Period. In: ebd., S. 85–103. 9 Jüngst sind gleich zwei Biographien Roupens erschienen von Ashod Nersisian: Roupen, Yerevan 2007, und Khatchadour R. Sdepanian: Roupen Der-Minasian (Gyanke yev Kordze), Yerevan 2008.

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Moskau. In dieser Zeit soll er erste Kontakte zu Revolutionären – russischen wie armenischen – geknüpft haben, 1902 schloss er sich der 1890 in Tiflis gegründeten, wichtigsten armenischen revolutionären Partei seiner Zeit an, der »Armenischen Revolutionären Föderation« (Hay Heghapokhagan Tashnagtsoutiun).10 1903 ging er in die russisch-osmanische Grenzstadt Kars, um sich dort zum Kämpfer ausbilden zu lassen, 1904 gelang ihm über Persien der illegale Übertritt über die osmanische Grenze. Seitdem agierte Roupen zunächst in Van, bald jedoch in der osmanischen Provinz Bitlis in der Region um Sasun und Muş als fedayi, Kämpfer, Freischärler, Kader. In diesem Herzstück Armeniens, dem Schauplatz des armenischen Nationalepos »David von Sasun«, organisierte Roupen die erfolglose Selbstverteidigung während der Zeit des osmanischen Völkermords an den Armeniern im Ersten Weltkrieg. Der Kritik an seinem Scheitern versuchte er dann mit seinem Wirken für die Schaffung eines armenischen Nationalstaats auf dem kleinen Territorium Russisch-Armeniens – dem Gebiet der heutigen Republik zu begegnen. Roupen, der durchgehend hohe Positionen innerhalb der Parteiführung innehatte, agierte in der Gründungsphase der Republik 1918–19 ohne offizielles Regierungsamt. Im letzten Kabinett, der sogenannten »Büro-Regierung« von 1920, war er dann aber Kriegsminister und Innenminister. Vor der Sowjetisierung Armeniens flüchtete Roupen zunächst nach Iran, später lebte er in Ägypten, Palästina und schließlich in Frankreich, wo er 1951 starb. Seine größte Bedeutung erlangte Roupen jedoch nicht durch seine Taten, sondern durch seine siebenbändigen Memoiren, die er nach seiner Flucht aus Armenien bis zu seinem Tod mit längeren Unterbrechungen, aber kontinuierlich zunächst als Feuilleton und später in Buchform publizierte. Diese »Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs« wurden zum wohl einflussreichsten autobiographischen Text der armenischen Diaspora nach dem Ersten Weltkrieg, zur Meister-Erzählung der armenischen revolutionären Bewegung und damit der armenischen Nationalbewegung.11 Im letzten Band seiner »Erinnerungen« beschreibt Roupen eine Schiffsreise, die er gemeinsam mit einem Genossen, Mihran Terlemezian, 1909 vom Schwarzen Meer aus die Donau aufwärts bis nach Wien unternimmt.12 Der zeitliche Kontext 10 Einen Überblick über die Geschichte gibt aus Sicht der Partei selbst Hratch Dasnabedian: History of the Armenian Revlutionary Federation Dashnaktsutiun 1890–1924, Mailand 1989/1990. Im weiteren Kontext der armenischen revolutionären Bewegung insgesamt Louise Nalbandian: The Armenian Revolutionary Movement. The Development of Armenian Political Parties through the Nineteenth Century, Berkeley, Los Angeles 1963. 11 Siehe hierzu ausführlich Elke Hartmann, Gabriele Jancke: Roupens ›Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs‹ (1921/1951) im transepochalen Dialog – Konzepte und Kategorien der Selbstzeugnis-Forschung zwischen Universalität und Partikularität. In: Claudia Ulbrich et al. (Hg.): Selbstzeugnis und Person – Transkulturelle Perspektiven, Köln u. a. 2012, S. 31–71. 12 Roupen [Minas Der Minasian]: Hay Heghapokhagani me Hishadagnere (Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs), 7 Bde., 3Beirut 1980–1987 (seitdem fortlaufend unveränderter Nachdruck), Bd. 7, S. 28–42.

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dieser Reise ist die Situation nach dem erfolgreichen jungtürkischen Umsturz im Osmanischen Reich vom Juli 1908, durch den der autokratische Sultan Abdülhamid II. abgesetzt und die 1876 erlassene, aber schon während des russisch-osmanischen Krieges von 1877/78 suspendierte Verfassung wieder eingesetzt wurde. Die armenischen Revolutionäre hatten an diesen Umwälzungen ihren Anteil. Vom neuen, konstitutionellen Regime versprachen sie sich mehr Sicherheit und Recht für die osmanischen Armenier sowie mehr Teilhabe am Staatswesen. Die Armenische Revolutionäre Föderation hielt 1909 im bulgarischen Varna eine Generalversammlung ab, auf der beraten werden sollte, wie die Partei mit der veränderten Situation im Osmanischen Reich, aber auch in Russland und Persien umgehen sollte, wo die armenischen Revolutionäre ebenfalls an den dortigen Revolutionen beteiligt waren. Für das Osmanische Reich wurde beschlossen, dass die armenischen Kämpfer sich entwaffnen, die Freischärler-Banden aufgelöst werden und alle wieder in ein ziviles Leben zurückkehren sollten. Die revolutionären Kader sollten sich statt im bewaffneten Kampf nun im Schulwesen engagieren, um unter den neuen Bedingungen der Freiheit eine neue Generation von Armeniern auszubilden und so die eigentliche, soziale Revolutionierung des Volkes durch Bildung zu erreichen. Während viele Kader und politische Emigranten nun wieder ins Osmanische Reich zurückkehrten, um sich eben diesen zivilen Aufbauaufgaben zu widmen, fiel anderen, gerade den Kämpfern, die Jahre in den Bergen verbracht hatten, dieser plötzliche Umschwung schwer, und sie suchten zunächst Distanz. Roupen entschl0ss sich, zum Studieren nach Genf zu gehen.13 Von Varna aus bestieg er deshalb ein Schiff, um so zunächst bis nach Wien zu gelangen. Roupen erzählt, wie er und sein Freund nach der Passage über Rusçuk, Trnovo, durch Serbien über Ada Kale und Orçova schließlich nach Budapest gelangen, wo das Schiff anlegt. Die beiden Freunde gehen an Land. Alles erscheint ihnen fremd: Die Stadt mit ihren rechtwinklig angeordneten geraden und breiten Straßen, mit ihren Hochhäusern, Schaufenstern und Schautafeln, mit ihren Denkmälern und Standbildern scheint Roupen eine »europäische Einheitsstadt« ohne Überraschung, ohne eigenen Stil, wie er sie im Kontrast orientalischen Städten zuspricht. Mihran ist besessen von der Idee, hier ungarische Armenier zu finden. Die beiden setzen sich in ein Café, wenigstens die Musik ist ihnen dann doch vertraut, ein wenig Vertrautes vermag Roupen schließlich auch in den für die Häuser verwendeten Steinen zu entdecken, die er mit der nordarmenischen Stadt Giumri vergleicht.14 Im Café fragen Roupen und Mihran den Kellner nach ortsansässigen Armeniern. Die Szene, die sich nun abspielt, ist ein Sinnbild für die mit nationalen Kategorien nicht zu fassende Identität der assimilierten Armenier Ostmitteleuropas, für ihre Rolle in Wirtschaft und Gesellschaft ihrer Länder und ihre Vielsprachigkeit, 13 Ebd., S. 9–25. 14 Ebd., S. 34–36.

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in der aber gerade das Armenische eine Leerstelle bleibt. Roupen flicht in diese Szene über die Erwähnung eines wahren Babylons an Sprachen alle wichtigen (katholisch-)armenischen Zentren der Region ein ebenso wie den Ursprung dieser Gemeinden, der letztlich auf den Fall der mittelalterlichen armenischen Hauptstadt der letzten Königsdynastie der Bagratiden zurückgeht. Durch ihre Sprachen markiert – Roupen spricht neben dem Armenischen Russisch, Mihran Türkisch – repräsentieren die beiden Freunde schließlich das zwischen dem Osmanischen und dem Russischen Reich aufgeteilte Armenien. Roupen spricht den Kellner des Cafés zunächst in einer Mischung aus Deutsch und Französisch an, der Kellner holt einen Dolmetscher, der aber nur Rumänisch spricht, was wiederum Roupen und sein Freund Mihran nicht verstehen. Mihran versucht es auf Türkisch, der Rumäne schickt sie daraufhin zu einem großen Tuchladen – Anspielung auf die armenische Präsenz im Textil- und vor allem Teppichhandel – mit dem Namen Lazarevitch, was wiederum als Anspielung auf die Moskauer Familie Lazarev (Lazarian) verstanden werden kann, die zwar die berühmte Lazarian-Schule gegründet hatten, deren Student auch Roupen für kurze Zeit war, aber eben auch unleugbar in Moskau integriert und Teil der russischen Gesellschaft geworden waren. Mihran und Roupen sehen sich unter den vielen Kunden und Bediensteten im Laden um, niemand ist für sie äußerlich als Armenier zu erkennen. Der Mann, der sich schließlich als Lazarevitch entpuppt, hat blaue Augen. »Er sah aus wie ein Russe, wie ein Pole, aber überhaupt nicht wie ein Armenier. [...] Er spricht Ungarisch, wir verstehen nichts, er wechselt ins Deutsche, wir verstehen nichts, er wechselt ins Polnische, ich verstehe ein paar Wörter und antworte auf Russisch. Wir sind Reisende, wir hatten zwei Stunden Zeit, da haben wir den Namen Lazarevitch gelesen und dachten, du bist Armenier, da dachten wir uns, lass uns einen Besuch abstatten. Wir sind Armenier aus Armenien, entschuldigen Sie uns ... Er setzte seine Konversation auf Ukrainisch fort. Vielen Dank. Ich bin Pole, aus Lemberg, meine Vorfahren sind ebenfalls Armenier aus Armenien, Asdvadz vgah [wörtl.: Gott sei mein Zeuge (im Orig. auf Armenisch); Anm. E.H.], Armenisch kann ich nicht.«15 Im weiteren Verlauf der Episode vertreten die beiden Freunde in Bezug auf die osteuropäischen Armenier gegensätzliche Positionen. Mihran ist ergriffen von der Begegnung, freut sich über das eine armenische Wort, das Lazarevitch schließlich doch noch gesprochen hat, und ist begierig zu wissen, wie viele assimilierte Armenier es gibt »in Ungarn, Polen, Österreich«. »Wer weiß«, sagt Lazarevitch darauf, »manche sagen 10, manche 30 Tausend, aber das genau zu bestimmen, ist unmöglich.«16 Lazarevitchs Antwort spiegelt eben die Unmöglichkeit wieder, 15 Ebd., S. 36. 16 Ebd., S. 37.

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angesichts uneindeutiger Identitäten überhaupt zu benennen, wer als Armenier erfasst werden kann. Er selbst hatte sich ja auch als Polen bezeichnet, um gleichzeitig über ein armenisches Wort doch noch den Bezug zu seinen armenischen Vorfahren herzustellen und die beiden Reisenden aus Armenien auf eben dieser Grundlage einzuladen. Mihran dagegen sieht in den Polen, Ungarn, Moldawiern und Ukrainern mit armenischen Wurzeln potenzielle Armenier, die ebenso gut auch wieder in die neu erstehende armenische Nation integriert werden könnten.17 Roupen dagegen stellt eine umgekehrte Rechnung an. Wenn so viele Armenier, überlegt Roupen, nach Westen gewandert sind, sich auf der Krim, an der Moldau, in der Walachei und Siebenbürgen niedergelassen haben und dort Städte gegründet haben, wenn sie mit Privilegien ausgestattet wurden und in ihren neuen Heimaten die Architektur, Kultur, Handel und Handwerk zur Blüte brachten, so müsste doch unter diesen günstigen Bedingungen ihre Zahl über die Jahrhunderte hinweg auf mehrere Millionen angewachsen sein, die von sich sagen, sie seien Armenier. Stattdessen, so konstatierte Roupen schließlich, seien sie eingegangen und hätten sich aufgelöst in der Masse der Fremden. Mit ihrem einstigen Fortgang haben sie Armenien geschwächt und geschadet, in der Fremde aber nicht Armenien und den Armeniern, sondern nur ihren neuen Heimatländern Nutzen gebracht. Dabei bleiben sie trotz allem in ständiger Unsicherheit, am Ende doch wieder als Fremde zurückgewiesen und ausgestoßen zu werden, nicht obwohl, sondern eben weil ihr Anteil am Wohlstand ihrer Gastländer so bedeutend ist und sie alles Eigene abgelegt hätten, ihren Namen, ihren Glauben und ihre Sprache. Letzten Endes brächten sie nur Schaden für die Armenier. Sie hätten Reichtum gescheffelt, was aber nur den Hass der alteingesessenen Bevölkerung provoziert habe. Ihretwegen sei ein schlechtes Bild von den Armeniern entstanden.18 Auch diese Ambivalenz zwischen Würdigung der Leistungen und Abscheu vor der Assimilation, der Entfremdung der ostmitteleuropäischen Armenier ist immer noch nur ein Aspekt in der armenischen Betrachtung des »Balkans«. Zu dieser Betrachtung gehört die Ergründung der Kategorien des Fremden und des Vertrauten, des Zugehörigen oder dessen, wozu sich keine Verbindung mehr herstellen lässt. Ungarn und Galizien, insgesamt die Zone der ostmitteleuropäischen katholisch-unierten Armenierkolonien gehört nicht unbedingt zum »Balkan«, Teile davon, wie etwa die Donaufürstentümer Moldau und Walachei sowie Siebenbürgen doch, und so müssen aus armenischer Perspektive die geographischen Grenzen der Räume neu ausgelotet werden. Roupens Reise beginnt unzweifelhaft auf dem Balkan, an der bulgarischen Schwarzmeerküste. Roupens Orientierungsrahmen ist aber nicht allein ein 17 Ebd., S. 37–38. 18 Ebd., S. 39–42.

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armenischer, der sich aus Bezugnahmen zur armenischen Geschichte der Antike und des Mittelalters ableitet, sondern auch ein osmanischer, den sich Roupen auch als russischer Armenier in den Jahren seiner Aktivität im osmanischen Westarmenischen zu eigen gemacht hat. In der osmanischen Terminologie ist der »Balkan« nach Norden hin längst nicht so eindeutig abgegrenzt, wie es der heutige westeuropäische Sprachgebrauch nahelegen mag. Für die Osmanen waren ihre balkanischen Besitzungen, die teilweise zu den ältesten Eroberungen gehörten, die zudem über Jahrhunderte hinweg die produktivsten, bevölkerungsreichsten und entwickeltsten Regionen des Reiches waren und deshalb bis zum späten 19. Jahrhundert gemeinsam mit Westanatolien das Kernland des Osmanischen Staates ausmachten, schlicht »Rumelien«. Diese Bezeichnung leitet sich ab aus »rum eli«, dem »Land der Rhomäer«, der Sammelbezeichnung für die Orthodoxen.19 »Rumelien« war also »Europa« im Gegensatz zum asiatischen Reichteil, der sich zunächst auf Kleinasien beschränkte und abgeleitet vom griechischen »Anatoli« »Anadolu«, Anatolien, genannt wurde. Je weiter die osmanischen Eroberer nach Nordwesten ausgriffen, desto weiter dehnte sich auch »Rumelien« aus, bis es im 16. Jahrhundert und noch mehr im 17. Jahrhundert, als das Osmanische Reich seine größte Ausdehnung erreichte, einen ganzen Streifen von Gebieten umfasste, die den »Balkan« weit überschritten: Im späten 17. Jahrhundert gehörten das polnisch-galizische Podolien im Norden ebenso zum Reich wie die ungarischen Gebiete im Westen.20 Vor dem Hintergrund seiner armenischen und seiner osmanischen imaginären geographischen Ordnung erschließt sich Roupen in seiner Reisebeschreibung die passierten Gebiete seiner Reiseroute entlang von Vergleichen, mit denen er Bezüge zu ihm Vertrautem herstellt und damit die eigentlich unbekannten Gegenden und Bevölkerungsgruppen seiner Welt inkorporiert. Bulgarien, der Ausgangspunkt seiner Reise, ist ihm »nicht fremd«, sondern »vertraut«. Nachdem er sich beim osmanischen Konsul in Rusçuk (heute Russe) Reisepapiere hat ausstellen lassen, 19 Zu Rumelien und die türkische Sicht siehe den Artikel von Maurus Reinkowski in diesem Band. 20 Vgl. die Kartenblätter im Tübinger Atlas des Vorderen Orients (TAVO), Wiesbaden 2010, B IX 3 bis B IX 13. Die immense Bedeutung der Balkanprovinzen für das Reich lässt sich noch aus den Bevölkerungsstatistiken ersehen, die im Laufe des 19. Jahrhunderts erstellt wurden, siehe Kemal Karpat: Ottoman Population, 1830–1914: Demographic and Social Characteristics, Madison 1985, Statistik I.2, I.6, I.7.B, I.8.B, I.8.C, I.9, I.13, I.16.B, I.17.B, I.18. Siehe auch Halil İnalcık, Donald Quataert (Hg.): An Economic and Social History of the Ottoman Empire, 1300–1914, Cambridge 1994, passim, S. 80, 82, 767–768, 848. Şevket Pamuk: The Ottoman Empire and European Capitalism, 1820–1913. Trade, Investment and Production, Cambridge 1987, S. 35. Einen Überblick über die politische Geschichte des Osmanischen Reiches bietet Klaus Kreiser, Christoph K. Neumann: Kleine Geschichte der Türkei, Stuttgart 2003, und nach wie vor auch Stanford J. Shaw, Ezel Kural Shaw: History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, 2 Bde., Cambridge 1976–1977.

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kann die Schiffsreise beginnen. Ab hier beginnt Roupen, Kleider zu beschreiben. In Bulgarien leuchten sie weiß und rot. Die nächste Station ist Trnovo in Rumänien. Auch dies ist noch so sehr Teil der osmanischen Welt, dass zwar einerseits alles de facto fremd ist, Roupen aber leicht Bezüge findet. Die Menschen, die bei der Ankunft auf das Schiff stürmen, sind »schwarz wie unsere Zigeuner, lärmend wie unsere Yeziden, in Lumpen und schmutzig, aber lebendig und fröhlich. Eine Mischung aus Garmoschka, Geige und Gitarre, Streit, Spektakel, Musik und Hochzeitsfest.«21 Der Gebrauch des Possessivpronomens »unsere« (Yeziden/Zigeuner) reflektiert einen letzten Nachhall des Assimilierungsprozesses, den Roupen selbst durchlaufen hat, als er neu in die osmanischen westarmenischen Provinzen gekommen ist. Aus dem russischen Teil Armeniens kommend, aus einer gebildeten und bürgerlichen Familie stammend, waren ihm weder die armenischen Roma (die vor allem in der Gegend um Van lebten) noch die Yeziden und erst recht keine Armut und soziale Diskriminierung in irgendeiner Weise vertraut. Da sie aber zur westarmenischen Lebenswelt dazugehörten, hat Roupen sich all dies in einem langen performativen Prozess angeeignet.22 Ausgehend von der westarmenischen Welt, also dem östlichen Rand der osmanischen Welt, konnte er sich nun die westlichen Ausläufer der letzteren erschließen. Auch in Serbien stellen sich sofort vertraute Assoziationen ein: Die weißen Kleider der Serben erinnern ihn an die Armenier von Sasun, umgehend attestiert er Serben und Sasunioten eine Ähnlichkeit, beide seien geschäftig und produktiv, edel und rein, nur fehle den Sasuner Armeniern die Skrupellosigkeit zu herrschen.23 Die Serben hatten sich bereits in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts ihre Autonomie vom Osmanischen Staat erkämpft – die Armenier von Sasun hatten ihre bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gewahrte lokale Autonomie gerade erst wieder an die neu erstarkende, sich verstärkt zentralisierende osmanische Reichsregierung verloren. Erste Irritationen stellen sich bei Roupen erst an eben jenem Punkt der Reise ein, an dem er die Regionen, die noch bis zum 19. Jahrhundert zum Osmanischen Reich gehört hatten, verlässt und nach Ungarn kommt, das sich schon seit 1699 wieder aus dem osmanischen Staatsverband gelöst hatte. Auch hier versucht Roupen zuerst, einen Bezug zu ihm Vertrautem zu finden, aber die konstruierte Verbindung aus mythischen Urzeiten trägt nicht bis in die Gegenwart: Roupen 21 Roupen 1980–1987 (wie Anm. 12), Bd. 7, S. 26–28, Zitat S. 28. 22 Seine Verwandlung vom russisch-armenischen Bürgersohn zum osmanisch-armenischen fedayi beschreibt Roupen in mehreren Episoden im ersten Band seiner Memoiren. Siehe hierzu ausführlicher Elke Hartmann: Shaping the Armenian Warrior: Clothing and Photographic Self-portraits of Armenian fedayis in the Late 19th and Early 20th Century. In: Claudia Ulbrich, Richard Wittmann (Hg.): Fashioning the Self in Transcultural Settings: The Use and Significance of Dress in Self-Narratives, Würzburg 2015. 23 Roupen 1980–1987 (wie Anm. 12), Bd. 7, S. 28–29.

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imaginiert den Kampf der Hunnen gegen die legendären armenischen Helden des 5. Jahrhunderts, den anfänglichen Sieg des armenischen Heerführers Vartan, Atillas Sturm nach Westen und schließlich Vartans Tod. »Ich wollte die Ungarn sehen, waren sie doch die Nachkommen eines Volkes, das von unseren Vorfahren fortgejagt worden war, waren sie doch mit uns vertraut aus dem Feld des Krieges. Wir stiegen in Orçova aus. Wir sahen weder Nomaden, noch vierrädrige Wagen, weder Pferde noch Pfeile und Bogen. Es ist eine traute europäische Stadt, die Leute sind ernster als die Rumänen, prahlerisch, langsam wie die Türken, dunkelhäutig und kräftig gebaut wie die Kurden von Djalal, stechende schwarze Augen wie die Araber. Alle wirkten auf mich unvertraut, weit entfernt und fremd.«24 »Serbien« steht hier in Roupens Beschreibung für die eigene Welt, für den osmanischen Orient. »Serbien« stand somit auch für die Armenier im Osmanischen Reich – die Armenier in den armenischen Provinzen ebenso wie jene in Istanbul und Thrakien –, auf die man für die Verwirklichung der eigenen Nation bauen musste. »Ungarn« dagegen steht in Roupens Reisebericht für eine Welt, von der man nicht genau weiß, ob sie zur eigenen Welt dazugehört oder nicht, ob sie dazugehören kann und soll oder nicht. »Ungarn« steht folglich auch für jene entfremdeten armenischen Gemeinden auf der Schwelle zwischen Orient und Okzident, an die man Hoffnungen zu knüpfen versucht sein konnte, dieser Versuchung aber nicht nachgeben durfte, wollte man sich vor Schaden bewahren. »Ungarn« symbolisiert das fremde, trügerische Europa. Zwischen diesen beiden Welten, der eigenen und der fremden, liegt in Roupens Reisebeschreibung die Station auf der Insel Ada Kale, welche das gerade noch vertraute »Serbien« von dem nicht mehr anzubindenden »Ungarn« trennt. Ada Kale war ein zwei Quadratkilometer großer Fleck in der Donau, »der just auf den Berührungspunkt der bulgarischen, serbischen, ungarischen und russischen Nationalitäten fällt, sie erscheint wie ein Haar in der Nase, das man mit ungeraden Augen sieht, mit ungeraden Nasenlöchern riecht, ohne dass man mit den Zähnen drankommt, um es auszureißen. Der Kongress der Mächte in Berlin [1878] hatte ihre Existenz bei der Aufteilung des Osmanischen Reiches nicht bemerkt, und so war das Inselchen bei seinem vormaligen Besitzer verblieben, als Zeuge der früheren Pracht und Größe des Imperiums, als die Donau mit allen ihren Nebenflüssen den Osmanen gehörte und ihre Heere Mitteleuropa auf der Brust saßen und bis nach Wien und Polen gekommen waren«.25 Dieses Eiland mit seiner rund 150 Personen zählenden Bevölkerung aus »Beamten und Schmugglern«, die »Aug’ und Ohren der Türkei« waren, weil sie ihre von allen Durchreisenden aufgeschnappten Informationen eben an »jenen Staat weitergaben, unter dessen

24 Ebd., S. 32–34. 25 Ebd., S. 29–30.

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Schutz sie ungestört als autonome Fürsten lebten«, firmiert in Roupens Bericht für den Ich-Erzähler als Grenzposten bzw. Grenzschleuse zwischen den Welten. An diesem Punkt, in der Dramaturgie der Erzählung am Übertritt von der alten in die neue Welt, vom alten in ein neues Leben, wird Roupen noch einmal als Revolutionär gegen das alte osmanische Regime geehrt. Er hält eine kleine Ansprache über die osmanische Größe, die nur durch die Freiheit der Völker zu erreichen sein wird. »Eure Insel ist klein, aber die auf ihr wehende osmanische Fahne groß. Diese Fahne wurde nicht hierher gebracht, um sie zurückzuziehen, im Gegenteil, sie wird bewahrt, um sie auf dem ganzen Balkan und Donauraum zu verbreiten. Das ist nicht möglich mit den alten Mitteln, mit Schwert und Gewalt, so haben es die Sultane gemacht und wurden vernichtet. Es wird möglich, wenn diese Flagge als Emblem die vollständige Freiheit der Völker hat, ihre Unabhängigkeit und Föderation. Eure Aufgabe ist groß. Es lebe die Freiheit! Es lebe die Brüderlichkeit!...«, sagt er den Inselbewohnern, die zu seiner Begrüßung gekommen sind.26 Freilich misstraut Roupen der türkisch-muslimischen Elite, gerade auch den jungtürkischen Revolutionären. Zu dominant war die zentralistische Strömung innerhalb des jungtürkischen Komitees, die unter dem Namen des »Osmanismus« letztlich doch eine türkische Führung anstrebte, die das Osmanische Reich eben nicht in eine dezentral verwaltete, plurale Föderation seiner vielen Nationen, sondern in einen strikt zentralistischen, türkischen Nationalstaat verwandelten.27 »Was ich da tat war, als würde man dem Wolf das Evangelium lesen« (also vergebliche Liebesmüh), kommentiert Roupen im Anschluss an die Wiedergabe seiner Rede.28 Dass er selbst aber eben dies als politische Vision für die Verwirklichung der armenischen Nation – und mit ihr aller anderen osmanischen Bevölkerungsgruppen als Nation – unter dem Dach einer großen, gesamtosmanischen Föderation mit dezentraler Verwaltung, lokalen Autonomieregelungen, Verfassung und moderner Rechtsstaatlichkeit hochhielt, daran lässt er in anderen Passagen seines Werks keinen Zweifel. Explizit legt er eine Zusammenfassung seiner politischen Vorstellungen in einem Abschnitt seiner »Erinnerungen« dar, in dem er die Debatten des ersten Parteikongresses der ARF (Armenische Revolutionäre Föderation) nach dem erfolgreichen jungtürkischen Umsturz wiedergibt, der – wie erwähnt – 1909 in 26 Ebd., S. 31. 27 Zur Entwicklung der jungtürkischen Bewegung und zu den ideologischen Auseinandersetzungen siehe M. Şükrü Hanioğlu: The Young Turks in Opposition, New York u. a. 1995. M. Şükrü Hanioğlu: Preparation for a Revolution. The Young Turks, 1902–1908, Oxford u. a. 2001. Für die Position der Armenischen Revolutionären Föderation und ihrer Auseinandersetzung mit den Jungtürken siehe Dikran Mesrob Kaligian: Armenian Organization and Ideology under Ottoman Rule, 1908–1914, New Brunswick, London 2011. 28 Roupen 1980–1987 (wie Anm. 12), Bd. 7, S. 31.

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der bulgarischen Stadt Varna stattfand. Dort diskutierten die Parteidelegierten, auf welche politischen Kräfte sie nun setzten sollten, da im Osmanischen Reich das Regime Abdülhamids II. gestürzt war, welches alle Revolutionäre im Osmanischen Reich gleich welcher Konfession oder Nationalität gemeinsam bekämpft hatten. Die Parteikader und Kämpfer teilten sich in verschiedene Gruppen, deren Positionen sich im Großen und Ganzen entlang ihrer Herkunft aus dem russischen Osten oder dem osmanischen Westen unterschieden, wobei Roupen allerdings, obwohl er selbst ursprünglich aus dem Kaukasus stammte, die Haltung der westarmenischen Kader teilte. Anwesend waren aber auch die Parteidelegierten, die in Russland (bzw. Russisch-Armenien) und in Persien aktiv waren, dessen nordwestlicher Zipfel ebenfalls zum armenischen Siedlungsbiet gehörte. Einleitend analysierten die beiden Parteigründer Rosdom (Sdepan Zorian) und Simon Zavarian die Lage. Was dort konstatiert wurde, bekräftigt Roupen auch noch im Nachhinein: Schließlich schreibt er seine Memoiren in der Retrospektive, nachdem die imperiale Weltordnung mit dem Ersten Weltkrieg endgültig durch die neue Weltordnung der Nationalstaaten abgelöst worden war. Und er schreibt, nachdem die türkischen Nationalisten mit ihrer Völkermordpolitik gegen die Armenier jegliche Hoffnung zunichte gemacht hatten, dass in der Region zwischen Balkan und Kaukasus eine tragfähige Alternative zur zerstörerischen Logik des Nationalstaatsprinzips entwickelt werden könnte. 1909 allerdings, nach der erfolgreichen konstitutionellen Revolution, schimmerte bei den nicht-türkischen Gruppen für einen Moment eben diese Hoffnung auf, der Roupen in seinen Memoiren Ausdruck verleiht. »Für den Kaukasus«, so ruft Roupen die damalige, nach der Katastrophe von 1915 kaum mehr vorstellbare Lage ins Gedächtnis, »war in diesen Tagen die [osmanische] Türkei das verheißene Land.«29 Die Ausgangslage im historischen Armenien, so argumentiert Roupen, verbot das politische Modell einer ausschließlichen Verwirklichung der Nation in einem eigenen, homogenen Nationalstaat. In der Region lebten so viele verschiedene sprachliche, konfessionelle und ethnische Gruppen so kleinteilig neben-, mit-, und gegeneinander, es waren so viele »hybride« Identitäten entstanden, dass es unmöglich war, Grenzlinien zu definieren, Territorien zu separieren und zu homogenisieren, ohne dass dieser moderne nationale Staatsbildungsprozess mörderische Formen annahm. Die Alternative bestand in einer konsequenten Dezentralisierung des Reiches, in seiner auch institutionellen und administrativen Pluralisierung. In diesem Szenario könnten sich alle Gruppen als Nationen verwirklichen, ohne sich gegenseitig zu bekriegen und zu vernichten. Gemeinsam könnten sie einen starken föderalen Verbund bilden, der dann auch den europäischen Großmächten gegenüber bestehen könnte.

29 Ebd., S. 10.

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Diese Position vertraten auf dem Parteikongress von 1909 vor allem die armenischen Kämpfer aus dem Osmanischen Reich, denen sich auch Roupen zugehörig fühlte. Die politischen Alternativen stellten sich wie folgt dar: »A. Die Völker der Türkei, Griechen, Makedonier, Albaner, Serben, Araber, sogar Kurden, streben nach Loslösung von der Türkei, mit auswärtiger Hilfe. B. Die türkischen Revolutionäre streben nach der Komplettierung des osmanischen Vaterlandes. So sehr sie gegen die Selbstbestimmung der Völker sind, sind sie jedoch Befürworter von Reformen, ohne fremde Intervention. C. Die Reaktionäre, die alten Kräfte sind gegen die Reformen. Sie sind pan-islamistisch, aber widerstandslos gegenüber ausländischen Interventionen. Von diesen drei Positionen der Türkei muss man sich auf eine stützen, man muss eine von den drei Richtungen übernehmen.«30 Während einige Delegierte durchaus mit dem Szenario des Sezessionismus einschließlich des »Appells an Europa«31 sympathisierten, erläuterte Roupen die Haltung der osmanischen Armenier: »Die Türken mögen schlecht oder gut sein, sie sind unser Los, ob wir wollen oder nicht, wir müssen mit ihnen und den Kurden leben. Wenn wir nicht mit ihnen leben wollen, müssen entweder wir sie aus unserer Heimat vertreiben, was über unseren Kräften steht, oder sie werden uns vertreiben, was nicht jenseits ihrer Kräfte ist. Ohnehin [ist es so, dass] wenn die Revolution später gekommen wäre, wären [noch] ein Jahrzehnt später in Armenien keine Armenier mehr übrig. Hoffnungen auf eine Befreiung durch fremde Intervention zu haben, ist eine Illusion oder wenigstens unbegründet. Russland grenzt an uns an, aber es ist [dieser Staat], der die armenische Befreiung am meisten unterdrückt. [...] Die Verpflichtung der sechs Mächte [Deutschlands, Großbritanniens, Frankreichs, Russlands, Österreich-Ungarns und Italiens zum Schutz der Armenier im Osmanischen Reich vor den anhaltenden, von Seiten des Osmanischen Staates kaum geahndeten Übergriffen von ›Kurden und Tscherkessen‹, wie sie auf dem Berliner Kongress 1878 beschlossen wurde, (Anm. E.H.)] ist lediglich eine Quelle politischer Intrigen, um uns mit den Kurden, Tscherkessen und Türken zu verfeinden, um stetig Gelegenheit zu haben, für die eigenen [Großmacht-]Interessen zu intervenieren, selbst wenn dabei unsere Interessen mit Füßen getreten werden und wir vernichtet werden, wie es von 1878 bis 1896 und bis heute geschehen ist.«32

30 Ebd., S. 14–15. 31 Dieser Begriff ist von Martin Schulze Wessel und Jörg Requate entlehnt, die damit die Strategie ost- bzw. südosteuropäischer Nationalbewegungen beschrieben haben, für ihre Anliegen die Unterstützung und Intervention der europäischen Mächte zu mobilisieren, siehe Jörg Requate, Martin Schulze Wessel (Hg.): Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002. 32 Roupen 1980–1987 (wie Anm. 12), Bd. 7, S. 16.

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Unter den osmanischen Revolutionären gebe es zwei Hauptgruppen. Die eine seien die Sezessionisten, die sich den jeweiligen, bereits aus dem Osmanischen Reich heraus gelösten Nationalstaaten anschließen wollten, wie etwa die Griechen Griechenland, die Bulgaren Bulgarien etc. Die anderen strebten auf ausländischen Rat und mit ausländischer Unterstützung ihre Unabhängigkeit an. »Sich diesen Sezessionisten anzuschließen«, führt Roupen aus, »würde bedeuten, die Interessen dieser Mächte zu unterstützen, ohne die eigenen Interessen zu sichern, weil wir kein Land haben, an das wir uns anschließen können. Die Umsetzung ihrer Aspirationen ist gegen unsere Interessen, weil wir allein bleiben als Minderheit gegenüber Türken und Kurden.« Deshalb sei der Sezessionismus für die osmanischen Armenier keine Option. Stattdessen sollten sie Autonomieregelungen innerhalb des Osmanischen Reichs anstreben. Die Armenische Revolutionäre Föderation habe entsprechend nach wie vor eine Mission, nämlich die soziale und politische Reform des Nahen Ostens. Dazu müsse sie letzten Endes ihren national armenischen Zuschnitt aufgeben und gruppenübergreifend agieren, also den ersten Buchstaben ihres Namenskürzels – H für »hay«, armenisch – streichen und als »Revolutionäre Föderation« für alle bestehen bleiben und für eine gesamtosmanische Erneuerung agieren.33 Vor dem Hintergrund dieser Rede, in der Roupen seinen Freiheitsbegriff und seine Vorstellung von einer Revolution aus eigener Kraft entwickelt, wird seine Wut und Enttäuschung über die assimilierten Armenier zu einer Chiffre für die Enttäuschung über Europa, die europäischen Großmächte, die mit ihren Versprechungen und Interventionen armenische Hoffnung geweckt, letztlich damit aber den Armeniern im Osmanischen Reich massiv geschadet hatten, indem ihre Politik, die sich verantwortungslos nur am eigenen Profit orientierte, das Misstrauen und Feindseligkeit der Osmanen erzeugt hatte und die eigentlich loyalen Armenier zu »inneren Feinden« hatte werden lassen. Von Westarmenien aus betrachtet, das sich in der Spätzeit des Osmanischen Reiches als staatlicherseits besonders vernachlässigte, der alltäglichen Gewalt preisgegebene Peripherie darstellte, erschien der Balkan in vielerlei Hinsicht als positives Gegenbild und als utopische Sehnsucht der eigenen Lage. Die Betrachtung aus dem armenischen Osten auf den balkanischen Westen des Osmanischen Reiches kehrt das von West nach Ost blickende europäische Bild des Balkans in sein Gegenteil um. Die armenischen Revolutionäre schauten mit bewunderndem und sehnsuchtsvollem Blick auf die Möglichkeiten, die sich auf dem Balkan auftaten und entfalteten. Hier war das Streben nach einem eigenen Nationalstaat möglich und von Erfolg gekrönt, in Armenien war man stattdessen mit der grundsätzlichen Unmöglichkeit der Idee an sich konfrontiert, die als einfache Utopie

33 Ebd., S. 17–19.

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natürlich auch dort bestand.34 Hier trugen europäische Interventionen Früchte, während sie für die Armenier bestenfalls leere Versprechungen blieben. Gerade die russische Unterstützung für die orthodoxen Serben und Bulgaren stand im krassesten Gegensatz zur russischen Unterdrückung armenischer revolutionärer Umtriebe, die sich über die russischen Reichsgrenzen hinaus auch in der Kooperation Russlands mit den osmanischen Grenzschützern äußerte.35 Schlimmstenfalls mündeten die Einmischungen und Drohungen der Europäer für die osmanischen Armenier geradewegs in die entsetzlichste Katastrophe. So waren die reichsweiten Armeniermassaker, denen in den Jahren 1895–1896 unter der Herrschaft Sultan Abdülhamids II. bis zu 300.000 Armenier zum Opfer fielen, eine direkte Reaktion des Sultans auf das europäische Drängen nach Reformen in den Ostprovinzen.36 Auch für den während des Ersten Weltkriegs unter jungtürkischer Herrschaft verübten Völkermord waren die zuvor auf massiven europäischen Druck hin im Februar 1914 beschlossenen Reformen zugunsten der Armenier ein wichtiger Auslöser.37 Während die Armenier seit Mitte des 19. Jahrhunderts über Jahrzehnte hinweg mit unzähligen Petitionen vergeblich um Verbesserungen in ihren Provinzen warben, ohne dass je eine Reform auch nur ansatzweise umgesetzt wurde,38 waren die Donauprovinzen unter der Regierung Midhat Paschas ein Sinnbild dafür, was möglich war, wenn die oberste Spitze der osmanischen politischen Führungselite wirklich einmal Reformen anstrebte.39 34 Vgl. zum Beispiel die in dem populären und sehr breit rezipierten Roman »Der Narr« des ostarmenischen Autors Raffi ausgebreitete Utopie eines friedlichen und entwickelten Armenien, in dem die Kurden, die in der Gegenwart des späten 19. Jahrhunderts für ständige Unsicherheit von Leben und Besitz der armenischen Bauern verantwortlich waren, sich im Laufe der Zeit an die überlegene armenische Hochkultur assimiliert hatten; siehe die Episode über den Traum des Protagonisten Vartan in der englischen Übersetzung: Raffi: The Fool, übers. von Donald Abcarian, Princeton 2000, S. 206–217. 35 Vgl. hierzu Roupen 1980–1987 (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 158–166, 179–183, 327–334, 347–352, 354–356; Dasnabedian 1989/90 (wie Anm. 10), S. 76. 36 Ausführlich hierzu Elke Hartmann: The Central State in the Borderlands: Ottoman Eastern Anatolia in the Late 19th Century. In: Omer Bartov, Eric D. Weitz (Hg.): Shatterzone of Empires. Coexistence and Violence in the German, Habsburg, Russian, and Ottoman Borderlands, Bloomington, Indianapolis 2013, S. 172–190. 37 Raymond Kévorkian: The Armenian Genocide. A Complete History, London, New York 2011, S. 153–165. 38 Längere Zitate einiger Petitionen des Armenischen Patriarchats in Konstantinopel sind wiedergegeben in Garo Sasouni: Kiurd azkayin sharjoumnere yev Hay-Krdagan haraperoutiunnere (Die kurdischen Nationalbewegungen und die armenisch-kurdischen Beziehungen), Beirut 1969, S. 130–137. 39 Milen V. Petrov: Tanzimat for the Countryside: Midhat Paşa and the Vilayet of Danube, 1864–1868, Ph.D. Diss., Princeton University 2006. Bekir Koç: Midhat Paşa’nın Niş ve Tuna Vilayetlerindeki Yenilikçi Valiliği (Das Reformgouvernorat Midhat Paşas in den Provinzen Niş und Tuna). In: Kebikeç 18 (2004), S. 407–415.

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Jenseits dieser abstrakten Sehnsüchte, bei denen man letztlich eben doch immer anerkennen musste, dass die Ausgangsbedingungen auf dem Balkan denen in Westarmenien zwar in vielerlei Hinsicht ähnelten, die Möglichkeiten und Handlungsoptionen, die auf dem Balkan bestanden, für die Armenier aber nicht erreichbar waren, schauten die Armenier mit wachem und hoffnungsfrohem Auge auf die revolutionären Aktivitäten auf dem Balkan. Vor allem den bulgarischen und mazedonischen Revolutionären fühlten sich die Armenier verbunden. Erste Kontakte entstanden durch Begegnungen zwischen den Herausgebern des Parteiorgans der Armenischen Revolutionäre Föderation (ARF), »Troshag« [Fahne], und dem bekannten bulgarischen Publizisten Simeon Radev sowie anderen bulgarisch-mazedonischen Studenten in den Jahren 1896–1897. Aus dieser Verbindung erwuchs eine intensive armenisch-mazedonische Kooperation. Diese nahm 1899 ihren Anfang, als nach dem zweiten Weltkongress der ARF einer der Parteigründer, Rosdom (Sdepan Zorian) nach Plovdiv in Bulgarien entsandt wurde. Er unterhielt enge persönliche Beziehungen zu einigen führenden mazedonischen Revolutionären, insbesondere Boris Sarafov. Die ARF bot der Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation (IMRO ) propagandistische Unterstützung. Die bulgarische Militärakademie nahm umgekehrt armenische Kämpfer auf und bildete sie aus. 1906 richtete die ARF auch mit Hilfe Sarafovs im bulgarischen Kloster Rila eine eigene Militärakademie ein. Unter den ersten Ausbildern dort befanden sich die bekanntesten armenischen Freischärler, allen voran der seit seinem Kampf in Sasoun legendäre Antranig Ozanian.40 Die armenische Militärakademie im Rila-Kloster musste zwar schon im folgenden Jahre wieder geschlossen werden, weil sich die politischen Bedingungen in Bulgarien änderten, aber auch, weil die Mittel für den Unterhalt der Schule nicht dauerhaft aufzutreiben waren. Bulgarien blieb aber für die ARF eine Operationsbasis. Es war kein Zufall, dass der dritte Weltkongress der Partei 1904 in Sofia stattfand. Auch für den bereits erwähnten fünften Weltkongress wählte die Parteispitze mit Varna eine Stadt in Bulgarien.41 Die Kooperation gipfelte in gemeinsamen Kampfeinsätzen. Als im Sommer 1901 eine zehnköpfige Abteilung mazedonischer Freischärler in der Nähe von Edirne von osmanischen Soldaten gefasst wurde, waren unter den gefangen genommenen vier Überlebenden auch zwei Armenier, Bedros Seremdjian und Onnig Torosian, die im Dezember desselben Jahres schließlich gehängt wurden. Besonders Seremdjian war unter den armenischen fedayis seit den 1890er Jahren 40 Dasnabedian 1989/90 (wie Anm. 10), S. 35, 55, 56, 69–61. Zu Antranig siehe die Kurzbiographie in ebd., S. 203 und ausführlich Antranig Tchelebian: Zoravar Antranig yev hay heghapokhagan sharjoume (General Antranig und die armenische revolutionäre Bewegung), Yerevan 1990. 41 Dasnabedian 1989/90 (wie Anm. 10), S. 61, 71, 91.

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berühmt.42 »Makedonien, mein Bruder, wurde mit meinem Kreuz gekränzt. Mit der Bruderliebe Waffe wurde die Bestie, der Sultan gestürzt«, sangen die armenischen Kämpfer im Andenken an ihren gefallenen Helden. Das Lied über Bedros Seremdjian ist bis heute in weiten Kreisen der von der ARF geprägten Armenier der Diaspora populär.43 Bulgarien war schließlich während der Zeit des Völkermords auch erster Zufluchtsort für viele Verfolgte. Ein prominentes Beispiel ist Schavarsh Missakian, der bereits in Erzurum seine Zeitung »Haratch« (Vorwärts) publiziert hatte. Nachdem er sich endgültig nach Paris retten konnte, gründete er 1925 dort eine Zeitung mit demselben Titel, die bis 2009 bestand und heute unter dem Titel »Nor Haratch« [Neuer Vorwärts] fortgeführt wird.44 Aus dem armenischen Osten betrachtet ist der Balkan also vieles. Der früh habsburgisch gewordene Teil ist den Revolutionären ein Schreckbild. Er steht für die Europäisierung, die Entwicklung und Entfaltung zum Preis der Aufgabe des Eigenen, auch der eigenen Pluralität. Der südliche, lange osmanisch verbliebene Balkan ist das Pendant zum Eigenen, Vergleichsfolie, manchmal Sehnsucht, manchmal Vorbild, Partner und schließlich Zuflucht.

42 Ebd., S. 60, 206. 43 Bedros Semerdjiani [sic!] hishadagin (Zum Andenken an Bedros Semerdjian), in: Heghapokhagan yerkaran (Revolutionäres Liederbuch), Beirut 1988, S. 18–19. 44 Claude Mutafian: Haratch: une gageure réussie. In: Ders. (Hg.): Arménie. La magie de l'écrit. Marseille 2007, S. 384–388.

Daniel Ursprung

Südosteuropa als Kommunikationsregion Reichweite und Randzonen eines historischen Raumes am Beispiel Albaniens und Rumäniens1

Mit Südosteuropa verbinden sich zahlreiche Negativvorstellungen. Ein allein auf westliche Abgrenzungsmechanismen gerichteter Blick blendet aber die Menschen der Region aus, die als Akteure ebenfalls einen Anteil am (Negativ-)Diskurs über Südosteuropa haben. Stereotype Wahrnehmungsmuster entstehen aus wechselseitiger Beeinflussung von Fremd- und Eigenwahrnehmung. Sie dienen nicht nur der Exotisierung und Hierarchisierung, sondern auch der Artikulation von Missständen und Gesellschaftskritik. Reichweite und Kommunikation eignen sich als Zentralbegriffe eines Raumverständnisses, das der Essenzialisierung entgegenwirkt: Südosteuropa als Raum verdichteter Kommunikation. Geographische Grenzen Südosteuropas lassen sich auch in der osmanischen Zeit nur schwer ziehen, das zeigen die Beispiele Albaniens und Rumäniens. Als vormodernes Imperium definierte sich das Osmanische Reich nicht primär über räumliche Grenzen. In der postosmanischen Zeit konstituiert sich Südosteuropa als Region paralleler, voneinander getrennter, aber analoger Kommunikationsmuster. »Ohne Gott ist nichts möglich!« – so der Titel einer ausführlichen Rumänien-Reportage in einer Schweizer Zeitung Ende der 1990er Jahre. In Rumänien hatte der Journalist unter anderem ein Kinderheim besucht, wo über der Bürotür des Direktors die titelgebende Inschrift »ohne Gott ist nichts möglich« angebracht war. Zur Schlagzeile umformuliert kann der Spruch als Quintessenz des Artikels verstanden werden. Eine explizite Deutung des Zitats blieb der Artikel zwar schuldig, aber aus dem Kontext drängt sich eine Interpretation auf: Der Text kreist um soziale Brennpunkte, darunter das Kinderheim, dessen spartanisch-abschreckende Ausstattung er beschreibt, um anschließend auf ausländische Finanzhilfe einzugehen. Ohne ausländische Hilfe, so der Eindruck, ist Rumänien überfordert – ohne Gott ist eben nichts möglich, so die resignierende Einsicht. Resignation 1 In Anlehnung an die Vortragsform versteht sich dieser Text als Essay. Die Literaturangaben beschränken sich auf einige grundlegende Hinweise, die die zentralen Gedankengänge nachvollziehbar machen sollen.

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und Fatalismus ziehen sich wie ein Leitmotiv durch den Beitrag. Ein regelrechtes Inventar von Topoi über Rumänien wird ausgebreitet: Waisenhäuser, Straßenkinder, altertümliche Pferdewagen, Rumänien als »Paria Osteuropas«, die Tristesse postsozialistischer Trabantensiedlungen mit meterhohen Abfallbergen, Ratten und spielenden Kindern in den Innenhöfen, Petroşani im Kohlerevier Schiltal, wo alles Kohle, alles braungrau ist – kurzum: »Rumänien ist neben Albanien das Armenhaus Europas«.2 Doch diese Interpretation des Zitats führt in die Irre, denn es handelt sich um ein Missverständnis, so viel sei hier schon verraten. Ich komme später darauf zurück. Zuerst möchte ich ein paar grundlegende Gedanken zu Klischees über Südosteuropa anstellen und diese am Beispiel Rumäniens und Albaniens thematisieren. Anschließend wird anhand einiger Überlegungen zur Geschichte Albaniens und Rumäniens eine Begründung entwickelt, warum Südosteuropa doch existiert – anders als der Titel dieses Bandes suggeriert.3 Kulturelle Missverständnisse wie das eingangs erwähnte Zitat sind häufig nicht zufällig, sondern folgen unterschwelligen Vorstellungsmustern. Die Historikerin Maria Todorova ist bekanntlich zum Schluss gelangt, das westeuropäische Bild Südosteuropas – sie gebraucht den Begriff Balkan – sei durchdrungen von negativen Zuschreibungen. Die Sicht des Balkans werde auf negative Klischees reduziert, indem problematische Aspekte der eigenen, westlichen Gesellschaften auf den Balkan projiziert würden. Todorova hat dem ihre eigene Interpretation entgegengestellt: Für sie ist der Balkan identisch mit dem osmanischen Erbe. Es sind die 500 Jahre osmanischer Herrschaft auf dem Balkan, die diesen als etwas Eigenes auswiesen. Mit dem Verblassen des osmanischen Einflusses nach dem Zusammenbruch des Reiches im frühen 20. Jahrhundert sei der Balkan daher Geschichte beziehungsweise existiere nur noch in Form von – oft klischeehaften – Wahrnehmungsmustern.4 Gegen diese Sichtweise hat der Historiker Holm Sundhaussen Einspruch erhoben, worauf sich ein veritabler Gelehrtenstreit zwischen ihm und Todorova entwickelte. Sundhaussen hat dafür plädiert, Südosteuropa als epochenübergreifende Gesichtsregion zu definieren. Dazu hat er ein Bündel an Merkmalen 2 Ernst Kindhauser: »Ohne Gott ist nichts möglich!«. In: Die Weltwoche 43/28. Oktober 1999, S. 15–17. 3 Ich benutze den Terminus »Südosteuropa«, da er in der Regel weiter gefasst ist als der Begriff »Balkan« und die rumänischen Gebiete nördlich der Donau mit umfasst. Siehe etwa H[olm] S[undhaussen]: Südosteuropa. In: Ders., Edgar Hösch, Karl Nehring (Hg.): Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, Wien u. a. 2004, S. 663–666. Eine Entgegnung auf die forschungsgeschichtlich motivierten Einwände gegen den Südosteuropa-Begriff bei Dietmar Müller: Southeastern Europe as a Historical Meso-region. Constructing Space in Twentieth-Century German Historiography. In: European Review of History 10 (2003), S. 393–408, hier S. 399. 4 Maria Todorova: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil, Darmstadt 1999.

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aufgelistet, die in ihrem spezifischen Zusammentreffen die Region ausmachen. Die beiden Positionen ergänzen sich eher, als dass sie sich ausschließen. Todorova betrachtet den Balkan, oder präziser den »Balkanismus«, als eine Sicht auf die Welt, Sundhaussen hingegen versteht den Balkan in erster Linie als Ding in der Welt5 – dass der Begriff sowohl eine fassbare ontologische Realität als auch ein diskursives Konstrukt ist, darin stimmen beide überein, legen aber die Gewichtung anders.6 Um den Kern einer Sache zu erfassen, ist es manchmal hilfreich, sich dem Gegenstand von seinen Rändern her zu nähern. Denn »Identität« entsteht ja überhaupt erst im Kontrast – also dort, wo das »Eine« unmittelbar auf etwas »Anderes« trifft und Unterschiede direkt wahrnehmbar werden. Sollte es Südosteuropa also tatsächlich geben, so müsste an seinen Rändern nach ihm gesucht werden. Dort müsste sich zeigen, ob eine sinnvolle Abgrenzung einer Einheit »Südosteuropa« möglich ist. Sinnvoll ist es bestimmt, von der Frage nach der Existenz Südosteuropas keine apodiktische Antwort zu erwarten – also nicht zu fragen, ob es existiert, sondern inwiefern. Ich wende mich dazu zwei Randzonen Südosteuropas zu: Albanien und Rumänien. Beide Länder liegen geographisch am Rande Südosteuropas – Albanien im Südwesten, Rumänien im Nordosten. Sie sind nicht benachbart, sondern durch mehrere hundert Kilometer Luftlinie voneinander getrennt und wiesen zumindest in der jüngeren Geschichte höchstens vereinzelte Berührungspunkte auf. Allfällige Gemeinsamkeiten resultieren daher weniger aus engen Kontakten als vielmehr aus vergleichbaren Voraussetzungen und Umständen. Beide Länder vereinen eine Dichte an Stereotypen auf sich, die sie nach Todorovas These zu Balkanländern par excellence machen. Bestimmt sind die Kriege im ehemaligen Jugoslawien für eine breitenwirksame Negativwahrnehmung Südosteuropas mit verantwortlich. Bis Kriegsausbruch anfangs der 1990er Jahre jedoch galt Jugoslawien keineswegs als »Paria« westlicher Medienberichterstattung. Das relativ liberale, blockfreie Land wurde im Gegenteil als positiver Ausnahmefall Südosteuropas wahrgenommen. In der Rolle des Paria fanden sich in der Region die beiden Nachbarländer Rumänien und Albanien, die in spätsozialistischer Zeit als repressive Regimes in Misskredit geraten waren. In den frühen 1990er Jahren zirkulierten in westlichen 5 Die Unterscheidung zwischen einer Sicht auf die Welt und einem Ding in der Welt in einem anderen Kontext bei Rogers Brubaker: Ethnicity without Groups, Cambridge 2004. 6 Der Schlagabtausch in chronologischer Reihenfolge: Holm Sundhaussen: Europa balcanica. Der Balkan als historischer Raum Europas. In: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 626– 653, hier S. 626–632, 637–653. Maria Todorova: Der Balkan als Analysekategorie. Grenzen, Raum, Zeit. In: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), Nr. 3 (= Dies. et al. (Hg.): Mental Maps, Juli–September 2002), S. 470–492. Holm Sundhaussen: Der Balkan: Ein Plädoyer für Differenz. In: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 608–624.

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Medien Bilder aus diesen beiden Ländern, die ihr Image – im wahrsten Sinne des Wortes – nachhaltig geprägt haben: Fotos überfüllter Flüchtlingsschiffe, die 1991 von Albanien über die Adria ins nahegelegene Italien ausliefen, mit Menschen, die wie Trauben am Zweig an den Extremitäten des Schiffes hingen. Als plastische Mahnmale symbolisierten diese Bilder nicht nur den Zusammenbruch des albanischen Sozialismus, die Verzweiflung über die desolate Lage des Landes und die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft jenseits der engen Meeresstraße, sondern den Bankrott des Sozialismus schlechthin. Sie können als eigentliche »Schlüsselbilder« gelten, Bilder mit einem ausgeprägten Symbolcharakter, die stellvertretend die kollektive Vorstellung historischer Ereignisse versinnbildlichen.7 Die Bilder der Flüchtlingsschiffe aus Albanien blieben in der Erinnerung umso fester haften, als im kollektiven Gedächtnis Westeuropas keine alternativen Bilder aus dem Land der Skipetaren verfügbar waren. Aus der Not dieser visuellen Lücke machte eine Werbekampagne für Albanien-Tourismus vor einigen Jahren eine Tugend. Sie rückte klassische Ferienkulissen ins Bild: eine Hochgebirgslandschaft, einen Strand, eine antike Tempelruine – alle in Albanien aufgenommen. Der Clou war der Überraschungseffekt, hergestellt durch den begleitenden Slogan: »Switzerland? / Greece? / Italy? – Think again: Albania«. Schockierende Bilder erreichten die westeuropäische Öffentlichkeit in den frühen 1990er Jahren auch aus Rumänien: vernachlässigte Kinder, die in erbärmlichen Zuständen in Kinderheimen vor sich hin vegetierten. Solche Bilder standen für ein menschenverachtendes System, das die schwächsten Glieder der Gesellschaft in halb verrotteten Einrichtungen zusammenpferchte und dem Elend preisgab. Die Bilder albanischer Flüchtlingsschiffe und rumänischer Kinderheime waren Bilder der moralischen Niederlage, Bilder, die stellvertretend die dunklen Seiten des Sozialismus vor Augen führten. War die politische Wende 1989 in der DDR, in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei mit positiv konnotierten Schlüsselbildern verbunden (Fall der Berliner Mauer, Durchtrennung des Eisernen Vorhangs, Runder Tisch, friedliche Massendemonstrationen), setzten Rumänien und Albanien in der fotografischen Wahrnehmung ein Gegengewicht. Hier wurde der politische Umsturz nicht vom hartnäckigen Ringen für die Freiheit und der Euphorie des Neubeginns visualisiert, sondern die Zerrüttung der Gesellschaft in den Fokus gerückt. Bulgarien wiederum ist in der visuellen Erinnerung an den Sturz des Sozialismus eine Leerstelle, einschlägige Schlüsselbilder haben sich nicht im westeuropäischen Gedächtnis festgesetzt. Auf den ersten Blick gibt es also viele Gemeinsamkeiten zwischen Rumänien und Albanien. Die Klischees widerspiegeln durchaus traurige Realität. Die Klischeehaftigkeit ergibt sich nicht aus der Existenz oder Nichtexistenz der jeweiligen 7 Exemplarische Fallstudien von Schlüsselbildern bei Gerhard Paul (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder, 2 Bde., Göttingen 2008–2009.

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Phänomene, sondern entsteht, wenn die Aufmerksamkeit einseitig auf diese Aspekte fokussiert wird. Aus Gründen der Aufmerksamkeitsökonomie ist es durchaus sinnvoll, die unendlich komplexe Welt in eine begrenzte Anzahl von Einheiten zu segmentieren und jede Einheit mit einer überschaubaren Reihe von Topoi zu verbinden. Eine ansonsten in Myriaden Facetten zerfallende Welt kann erst so gedanklich gebändigt und intellektuell angeeignet werden. Problematisch wird diese Art der Wahrnehmung erst, wenn sie nicht mehr nur der Komplexitätsreduktion dient, sondern als Instrument, das die Wahrnehmung steuert und selektiert: wenn die vereinfachte Vorstellung nicht mehr als Modell verstanden, sondern als Prokrustes-Bett gehandhabt und die Realität dort hinein gezwungen wird; wenn nicht mehr empirische Evidenz Basis der Erkenntnis ist, sondern Klischees als deduktiver Rahmen dienen, der die Beobachtung begrenzt und so zu rein bestätigenden Befunden führt. Welch seltsame Blüten auf diesem Boden mitunter sprießen können, zeigt das eingängig zitierte Beispiel: »Ohne Gott ist nichts möglich«. Genau genommen lautete der Spruch nämlich etwas anders – er war in lateinischer Sprache verfasst, wörtlich: »Nihil sine deo« – auf Deutsch also »Nichts ohne Gott«. Dieser Spruch kann im rumänischen Kontext als politisches Statement verstanden werden – so lautete der Wahlspruch des rumänischen Königshauses, der Dynastie von Hohenzollern-Sigmaringen, die von 1866 bis 1947 Rumänien regierte. Das Zitat war daher wohl Ausdruck einer royalistischen Haltung und nicht Zeichen von Resignation und Fatalismus. Allerdings passte der Spruch so gut zum Klischee eines Landes der Hoffnungslosigkeit, dass er zur titelgebenden Schlagzeile wurde – fotografisch begleitet übrigens von zwei einschlägigen Bildern: Bergarbeiter aus dem Schiltal und Straßenkinder in einer Kanalisation. Die Beispiele von Klischees über Südosteuropa, über Rumänien und Albanien im Speziellen, ließen sich beliebig erweitern. Die meisten dieser Klischees sind nicht falsch, nur weil es Klischees sind, was auch Maria Todorova in ihrer Debatte mit Holm Sundhaussen eingeräumt hat. Und anstelle einer generellen Medienschelte bleibt zu berücksichtigen, dass die Mechanismen des Medienbetriebs, die Nachrichtenfaktoren, ihren Beitrag zur Selektion leisten, genauso, wie auch die Gesellschaften vor Ort einen wesentlichen Teil zur Entstehung entsprechender Klischees beitragen. Der westeuropäische Diskurs über Südosteuropa ist keine einseitige Angelegenheit, den die Menschen in Südosteuropa passiv erleiden, sondern ein Prozess gegenseitiger Verständigung, den die südosteuropäische Seite aktiv mitgestaltet. Dieser Aspekt kommt in Todorovas Darstellung zu kurz. Klischeehafte Vorstellungen über Südosteuropa stimmen oft mit selbstkritischen Einschätzungen der Menschen vor Ort überein. Eine Ursache liegt in der asymmetrischen Konstellation zwischen einem sich im 19. Jahrhundert aus dem osmanischen Machtbereich lösenden südöstlichen Europa und einem machtpolitisch und wirtschaftlich dominierenden Westen, der für weite Teile

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der südosteuropäischen Eliten zum kulturellen Vorbild und Bezugspunkt wurde. In Auseinandersetzung mit dem Westen konstatierten einheimische Eliten eine schmerzhaft empfundene Rückständigkeit, sie wurden Unzulänglichkeiten ihrer Gesellschaften gewahr und begannen, Missstände zu kritisieren.8 Das Augenmerk sollte daher nicht allein auf die Mechanismen der Ab- und Ausgrenzung Südosteuropas durch den Westen gelegt werden. Die Menschen Südosteuropas werden dadurch als Akteure des Balkanismus-Diskurses ausgeblendet. Dies ist die eigentümliche Ironie von Todorovas Ansatz, der in postmoderner Wissenschaftstradition stehend durchaus Ironie-affin ist, hier aber ungewollt zur unbeabsichtigten doppelten Ironie gerät. Letztendlich resultiert daraus eine Art Balkanismus unter umgekehrten Vorzeichen, und der Balkan wird vom (aktiven) »Täter« zum (passiven) »Opfer«: wo Todorova zu Recht die Essenzialisierung des Balkans beklagt, leistet sie der Essenzialisierung des westlichen Balkan-Diskurses Vorschub. Dadurch entwirft sie nicht nur ein zu statisches und zu homogenes Bild westlicher Südosteuropa-Wahrnehmung, sondern lässt die Menschen Südosteuropas hinter der Fremdwahrnehmung verschwinden und negiert damit implizit ihren Status als handlungsfähige Akteure. Wenn auch Todorovas scharfsinniger Diagnose weitgehend zuzustimmen ist, so ist sie doch nur eine Seite der Medaille. In untrennbarer Einheit mit dem westeuropäischen Balkandiskurs verbunden ist die lokale, vor Ort selber gepflegte Wahrnehmung der Region. Eigen- und Fremdwahrnehmung bestätigen sich in einer Art hermeneutischen Zirkels andauernd wechselseitig. Als Beispiel hierfür mag Lucian Boia dienen, der wohl meistgelesene Historiker des postsozialistischen Rumänien. Sein 1997 publizierter Bestseller über Geschichte und Mythos im rumänischen Bewusstsein fand schnell weit über Rumänien hinaus große Resonanz. Seither wurde er oft als Kronzeuge herangezogen, der eine spezifisch »rumänische« Form des Umgangs mit Vergangenheit beschreibe, gekennzeichnet durch nationalistische Übersteigerung und eine übermäßige Präsenz von Mythen. Genau dagegen hatte sich Boia jedoch explizit verwahrt. Er hatte zwar für eine kritische Revision der rumänischen Geschichtsschreibung plädiert, zugleich aber analog zu Todorova betont, die beschriebenen Mechanismen 8 Beispielhaft etwa die Aufzeichnungen eines walachischen Bojaren über seine Reise nach Westeuropa, Dinicu Golescu: Aufzeichnungen meiner Reise, die ich, Constandin Radocivi aus Goleşti, im Jahre 1824, 1825, 1826 unternommen, Bukarest 1973. Ähnlich bereits im 18. Jahrhundert der osmanische Gesandte Ahmed Resmi Efendi, siehe Markus Koller: Zwischen Integration und Exklusion – das Osmanische Reich in den Strukturen der europäischen Diplomatie. In: Reinhard Lauer, Hans Georg Majer (Hg.): Osmanen und Islam in Südosteuropa, Berlin 2013, S. 117–137, hier S. 129–130. In diesen Kontext gehört auch die Kritik an der oberflächlichen Modernisierung, der im rumänischen Kontext seinen Ausdruck etwa im auf Titu Maiorescu zurückgehenden Topos von den »Formen ohne Inhalt« (forme fără fond) findet.

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hätten universelle Gültigkeit, Rumänien sei nur ein Fallbeispiel.9 Nicht genug der Missverständnisse spitzte dann die deutsche Ausgabe des Buches die Stoßrichtung in gewagter Weise zu bis hin zu interpretierenden Übersetzungen, die der Intention des Autors tendenziell zuwiderlaufen.10 Die eigentliche Pointe aber besteht in einem weiteren Buch Boias, in dem dieser sich 2012 angesichts der politischen Krise im Land, einem wochenlangen schmutzigen Machtkampf zwischen Premier und Präsident, seinen Frust von der Seele schrieb. Sein rund hundertseitiger historischer Essay trägt den Titel Warum ist Rumänien anders? Dort ist etwa zu lesen: »Die übertriebene Weise, in der sich das politische Psychodrama aus dem Sommer des Jahres 2012 abgespielt hat, hat den Eindruck hinterlassen, das Land sei defekt. Sicher sind die, die von auswärts hinschauen, mehr beeindruckt als die Rumänen, die einigermaßen an sich selbst gewohnt sind, aber sogar unter den Rumänen steigt die Erbitterung. Etwas läuft nicht in Rumänien, und nicht nur oben, in der politischen Klasse, und nicht erst seit gestern und vorgestern. Ob es ein Fluch ist? Nein, es ist bloß eine Geschichte. Aber vielleicht bedeutet es dasselbe.«11 So scharfsinnig Boias Analyse ist, sie könnte ihm, als Westeuropäer, dennoch den Vorwurf des Balkanismus eintragen – dasselbe gilt übrigens auch für das Umschlagbild des Buches, die in Rumänien zu einer Art Bildtopos von Rückständigkeit geronnene Kombination von Pferdewagen und Auto.12 Man mag Boia zugutehalten, er habe in der Hitze des Gefechts zur Feder gegriffen. Dennoch sind vergleichbare gesellschaftskritische Analysen durchaus keine Seltenheit. Der Historiker und Politologe Daniel Barbu hat verschiedentlich scharfe Kritik an rumänischen Zuständen geäußert. In einem Text unter dem Titel Die orthodoxe Ethik und der rumänische »Geist«, eine Anspielung auf Max Webers protestantische Ethik, spricht er von »sich wiederholenden Verhaltensweisen mit identitärer Neigung, wie auch eine Reihe von relativ unveränderlichen Haltungen gegenüber der Arbeit, der Zeit oder Gerechtigkeit«, während er die Orthodoxie in Verbindung bringt mit »einer Ethik des politischen Konformismus 9 Lucian Boia: Geschichte und Mythos. Über die Gegenwart des Vergangenen in der rumänischen Gesellschaft, Köln 2003, S. 8. 10 Ausführliche Kritik der Übersetzung bei Julia Richter: Kohärenz und Übersetzungskritik. Lucian Boias Analyse des rumänischen Geschichtsdiskurses in deutscher Übersetzung, Berlin 2010. Die Mechanismen der Fehldeutung werden schon am Titel deutlich, der anders als die englische Version (History and myth in Romanian consciousness, Budapest 2001) den Titel nicht wörtlich übersetzt. 11 Lucian Boia: De ce este România altfel? (Warum ist Rumänien anders?), Bukarest 2012, S. 5–6. 12 In gesteigerter Form (eine leere Autokarosse auf einem Pferdewagen, mit zwei Roma im leeren Motorenraum) etwa auch auf dem Umschlag von Daniel Barbu: Bizanţ după Bizanţ. Explorări în cultura politică românească (Byzanz nach Byzanz. Erkundungen zur rumänischen politischen Kultur), Bukarest 2001, einer wissenschaftlich seriösen, bis ins Mittelalter zurückgreifenden Analyse der politischen Kultur Rumäniens.

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und der Abhängigkeit von Autorität und besonders dem Nationalstaat«.13 Müsste eine solche tendenziell essenzialisierende Zuschreibung von Wesensmerkmalen nicht als »Balkanismus« gedeutet werden? Der mögliche Einwand, derartige Einschätzungen reflektierten bloß westeuropäische Wahrnehmungen, droht dabei selber in die Falle einer überheblichen Außensicht zu tappen, da er die Kapazität der Akteure vor Ort bestreitet, eigenständig zu denken.14 Negative und essenzialisierende Vorstellungen, die mitunter zu Klischees gerinnen, haben, die Beispiele zeigen es, verschiedene Akteure, im Westen wie in der Region Südosteuropa selber und sie beeinflussen sich gegenseitig. Weitaus fruchtbarer als ein eindeutiger »Herkunftsnachweis« scheint mir, klischeehafte Vorstellungen unabhängig von ihrem Entstehungsort nach ihrer Funktion und Intention zu differenzieren: klischeehafte Überzeichnungen können ganz unterschiedlichen Bestrebungen dienen, etwa eine Exotisierung auf Kosten des Fremden zu Unterhaltungszwecken beabsichtigen oder auf eine Hierarchisierung und Unterordnung zielen, indem eine Gesellschaft lächerlich gemacht und arrogant abqualifiziert wird – häufig aufgrund offensichtlicher Missverständnisse und verkürzter oder schlicht falscher Tatsachen. Es bleibt Todorovas Verdienst, in einer wissenschaftlich anspruchsvollen Weise auf diese Mechanismen hingewiesen zu haben. Neben solch pessimistisch anmaßender Art gibt es jedoch auch eine andere, optimistisch-konstruktiv intendierte Weise der negativen Darstellung: eine von Empathie getragene, gesellschaftskritische Haltung aus dem Impetus heraus, Missstände zu artikulieren, in der Hoffnung, damit zu einer wie auch immer gearteten positiven Veränderung beizutragen. Außerdem erschöpft sich die Wahrnehmung Südosteuropas auch im Westen nicht in Negativklischees, sondern ist weitaus differenzierter.

13 Daniel Barbu: Etica ortodoxă şi »spiritul« românesc (Die orthodoxe Ethik und der rumänische »Geist«). In: Ders. (Hg.): Firea românilor (Das Wesen der Rumänen), Bukarest 2000, S. 39–130. Siehe Ders: Die abwesende Republik, Berlin 2009. Angesichts der scharfen Kritik an der politischen Kultur wirkt Barbus eigenes politisches Engagement wie eine Karikatur seiner Analysen, so sein Rücktritt als Kulturminister Ende 2013 (wegen Kritik am AIDS-Präventionsprogramm, mit dessen Budget sich zahlreiche Kulturfestivals durchführen ließen) oder die Auftritte auf Antena 3, dem durch übelste politische Hasskampagnen berüchtigten TV-Sender eines inzwischen rechtskräftig verurteilten Oligarchen. 14 Als weiteres Beispiel für eine bewusst verzerrende Darstellung aus der Region selber, die Südosteuropa als Konfliktraum präsentiert, ist der Dokumentarfilm der Bulgarin Adela Peeva: »Whose is this song?« (Čija e tazi pesen?, 2003). Siehe dazu Sanja Zlatarović: The literary opus of Bora Stanković and the construction of a local identity. In: Ethnologia Balkanica 12 (2008), S. 147–166, hier S. 162–163. Donna A. Buchanan: »Oh, Those Turks!« Music, Politics, and Interculturality in the Balkans and Beyond. In: Dies. (Hg.): Balkan Popular Culture and the Ottoman Ecumene. Music, Image, and Regional Political Discourse, Lanham u. a. 2007, S. 3–54, hier S. 44–46.

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Doch wollen wir uns nun der Frage zuwenden, was denn jenseits davon dafür sprechen könnte, Albanien und Rumänien als Teile eines größeren Ganzen, eben Südosteuropas, zu betrachten. Die Probleme auf gesamtsüdosteuropäischer Ebene tauchen beim Heranzoomen an die beiden Beispiele analog im kleineren Rahmen wieder auf. Beide Länder entpuppen sich als historisch junge Konstrukte: Albanien entstand 1912, Rumänien 1861, besteht allerdings erst seit 1945 in den heutigen Grenzen. Die Grenzen lassen sich für die Zeit vor dem 20. Jahrhundert nicht aus den Verhältnissen vor Ort ableiten. Auch hier sind wir also wieder auf ein Vorverständnis angewiesen, um aus der amorphen Masse empirischer Eindrücke heraus ein Objekt mit klaren Konturen zu umreißen – ein den Untersuchungsgegenstand konstituierender und nicht rein konstatierender Akt. Beide Länder sind nicht homogen, sondern bestehen aus kulturell unterschiedlich geprägten Räumen. In Rumänien besteht ein deutlicher Gegensatz zwischen zwei durch die Karpaten getrennte Kulturlandschaften: im Innern des Karpatenbogens Siebenbürgen, das lange ungarisch beziehungsweise habsburgisch beherrscht war, außerhalb des Karpatenbogens das sogenannte Altreich, das mehrere Jahrhunderte osmanischer Hegemonie unterstanden hatte. Wer über die Karpaten fährt, kann den Unterschied unschwer am Dorfbild erkennen: in Siebenbürgen säumen geschlossene Häuserfronten die Straßen, während im ›Altreich‹ eine lockere Siedlungsweise vorherrscht. Es ist nur ein sichtbares Zeichen für historisch unterschiedlich geprägte Kulturlandschaften. In Albanien gibt es zwischen Norden und Süden ebenfalls starke Gegensätze, die sich hier etwa in der Sprache manifestieren: Die Dialekte im Norden unterscheiden sich so stark von denen im Süden, dass durchaus Verständigungsschwierigkeiten auftreten können. Aber auch die nach dem Sturz des sozialistischen Regimes wieder aufgenommene Praxis der Blutrache lässt sich regional eingrenzen, selbst wenn sie als Klischee mit Albanien generell in Verbindung gebracht wird. Fälle von Blutrache beschränken sich im Wesentlichen auf die ländlichen Berggebiete im Norden des Landes, auch wenn die postsozialistische Binnen- und Außenmigration von dort ausgehend das Phänomen auch an andere Orte »exportiert« hat.15 Der albanische Norden und Süden unterscheiden sich auch konfessionell: Während der Islam in ganz Albanien verbreitet ist, ist die katholische Minderheit vor allem im Norden des Landes beheimatet, während die Orthodoxie im Süden und Osten des Landes verbreitet ist. Selbst landschaftlich lassen sich in Albanien verschiedene Regionen ausmachen, die eine andere historische Prägung erfuhren. Die Küstengebiete Albaniens waren stets auf die Adria ausgerichtet und in ihrer Geschichte oftmals über das Meer mit weiter entfernten Regionen enger 15 Siehe etwa die auf Feldforschung beruhende Studie von Natalie Ammann: Zwischen Polizisten, Dorfältesten und Mafiosi. Eine Studie zu Handlungsstrategien bei Konflikten am Beispiel Nordalbaniens, Zürich 2003, vor allem S. 59–71.

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verbunden als mit dem albanischen Binnenland, von dem die Küste im Süden durch hohe Gebirgswände getrennt ist. Das nordalbanische Bergland wiederum war traditionellerweise das natürliche Hinterland der Städte im heutigen Kosovo, hatte aber nur wenige Verbindungen nach Süden. Die Reise über die Bergpässe in die restlichen Teile Albaniens war noch bis in die Gegenwart hinein beschwerlich und gefährlich, im Winter oft wochenlang überhaupt nicht möglich. Die Straßen aus den Bergen führten während Jahrhunderten die Bewohner aus den nordalbanischen Bergtälern ins nahegelegene Prizren, Gjakova (serb. Đakovica) oder Peja (Peć) im heutigen Kosovo.16 Im Sozialismus wurden diese Verbindungen gekappt, eine nahezu hermetische, politisch bedingte Grenze schnitt das Bergland nun auch nach Norden hin ab, während die Reise nach Süden beschwerlich war: um etwa in die Hauptstadt Tirana zu gelangen, waren mitunter Busfahrten von 8 Stunden nötig, obwohl die Distanz in Luftlinie nur wenig mehr als 100 km betrug.17 Heutige Grenzen sind wenig hilfreich, den Raum historisch zu fassen. Tatsächlich wären auch andere Raumeinteilungen möglich als uns vertraute Kategorien wie »Südosteuropa«. Fernand Braudel, der bekannte französische Historiker, hat in seinem Meisterwerk das Mittelmeer zu einem statischen, durch langfristige (besonders geographische) Gegebenheiten definierten Geschichtsraum gemacht, an dem selbstverständlich auch Südosteuropa mit den Küsten Dalmatiens, Albaniens und Griechenlands seinen Anteil hatte.18 Ungefähr zur gleichen Zeit, in der Braudel sein weitgehend während des Zweiten Weltkrieges in deutscher Kriegsgefangenschaft entstandenes Mittelmeerbuch niederschrieb, verfasste der rumänische Historiker Gheorghe Brătianu seinerseits eine Geschichte des Schwarzen Meeres, die erst postum erscheinen konnte, da ihr Autor in einem kommunistischen Gefängnis vorzeitig ums Leben kam.19 Brătianus nicht zuletzt geopolitisch motiviertes Interesse am Schwarzen Meer ist seither zu einer Tradition in der rumänischen Geschichtsschreibung geworden – der östliche Teil Südosteuropas wird dabei also in ganz andere Raumvorstellungen einbezogen, die etwa auch die Krim und die Nordküste Anatoliens umfassen. In jüngerer Zeit hat sich der bulgarische Historiker Alexander Vezenkov in die Todorova-Sundhaussen-Debatte 16 Einen kompakten, sehr kenntnisreichen und die geographischen Gegebenheiten berücksichtigenden Überblick über die albanische Geschichte bei Oliver Jens Schmitt: Die Albaner. Eine Geschichte zwischen Orient und Okzident, München 2012. 17 Einen Eindruck, wie isoliert die nordalbanische Bergwelt im Sozialismus war, vermittelt eindrücklich Waltraud Bejko: Albanien – mein Leben (1959–1996), Bochum 2003, vor allem S. 217–264. 18 Fernand Braudel: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., 3 Bde., Darmstadt 2001 (französische Erstausgabe 1949). 19 George Ioan Brătianu: La mer Noire. Des origines à la conquête ottomane, Monachii 1969. Siehe auch Stefan Troebst: Eine neue Südosteuropa-Konzeption? Der Balkan-Schwarzmeer-Kaukasus-Raum in politikwissenschaftlicher Sicht. In: Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas 2 (2000), S. 153–159.

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eingeschaltet und in Anlehnung an Braudels Konzeptualisierung des Mittelmeerraums für einen gemeinsamen Balkan-Anatolischen Raum plädiert, der territorial betrachtet die ehemals osmanischen Herrschaftsgebiete umfasst und somit das geografische »osmanische Erbe« darstellt.20 Ähnlich hat schließlich der Grazer Historiker Karl Kaser den Balkan und den Nahen Osten als eine gemeinsame Geschichtsregion betrachtet, die er Klein-Eurasien nennt und die von der Donau bis zum Tigris reicht, also vom ehemaligen Jugoslawien bis in den Irak.21 Raum kann also auf unterschiedliche Art und Weise betrachtend strukturiert werden. Wenn es vor allem das Osmanische Reich ist, das den Balkan konstituiert, wie Maria Todorova meint, so wenden wir uns doch diesem Osmanischen Reich zu, um zu sehen, inwiefern hier Gemeinsamkeiten erkennbar werden. Das kann an dieser Stelle nicht viel mehr sein als eine grobe Skizze. Beginnen wir mit Rumänien. Auf dem Gebiet des heutigen Rumänien bestanden zur Zeit der größten Reichweite osmanischer Herrschaft drei Fürstentümer: die Walachei, die Moldau und Siebenbürgen. Sie unterstanden zwar osmanischer Hegemonie, waren aber autonom. Der Einfachheit halber betrachte ich exemplarisch nur die Walachei, die von den drei Ländern am stärksten osmanisch beeinflusst war.22 Osmanische Heere waren schon im 14. Jahrhundert an der Donau aufgetaucht. Mit dem osmanischen Vormachtanspruch konfrontiert begann die Walachei bald, sich durch Tribute den Frieden zu erkaufen. Die politischen Führungsschichten stritten im 15. Jahrhundert darüber, wie gegenüber den Osmanen aufzutreten sei: ob man sich ihnen unterwerfen oder ihnen Widerstand leisten solle. Der bekannteste walachische »Türkenkämpfer« dieser Zeit war Vlad Ţepeş, auch Drăculea genannt, dessen Name im 19. Jahrhundert zur Benennung einer Romanfigur missbraucht werden sollte. Schließlich beugte sich die Walachei den Osmanen, die militärische Übermacht war zu groß: Die Walachei hatte Tribute abzuliefern, musste dem osmanischen Sultan Heeresfolge leisten und auf eigenständige Außenbeziehungen verzichten. So festigte sich im Verlaufe der Zeit die osmanische Kontrolle schrittweise. Ab dem 16. Jahrhundert wurden Woiwoden – so der Titel der walachischen Fürsten – von den Osmanen ein- und wieder abgesetzt, ohne das bisherige Gewohnheitsrecht bei der Herrschernachfolge zu beachten. Allerdings wurden nur orthodoxe Christen als Woiwoden eingesetzt und das Land behielt seine eigene, christlich-orthodox geprägte soziale und politische Ordnung. In großer Zahl zogen aber orthodoxe 20 Alexandar Vezenkov: History Against Geography: Should We Always Think of the Balkans as Part of Europe? In: Kakanien Revisited 2007: http://www.kakanien.ac.at/beitr/balkans/ AV ezenkov1/. Den Hinweis auf diesen Beitrag verdanke ich Martina Baleva. 21 Karl Kaser: Balkan und Naher Osten. Einführung in eine gemeinsame Geschichte, Wien 2011. 22 Weiterführende Literaturhinweise in Daniel Ursprung: Raumvorstellungen und Landesbewusstsein. Die Walachei als Name und Raumkonzept im historischen Wandel. In: Oliver Jens Schmitt, Michael Metzeltin (Hg.): Das Südosteuropa der Regionen, Wien 2015, S. 473–549.

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Christen aus dem Osmanischen Reich in die Walachei. Diese Balkan-Christen waren im Handel tätig oder übten am Hof des Woiwoden und in der Verwaltung wichtige Positionen aus. Die Osmanen begannen schon im 17. Jahrhundert vereinzelt, im 18. Jahrhundert dann regelmäßig, solche orthodoxen Christen aus dem Osmanischen Reich als Woiwoden der Walachei einzusetzen. Die Woiwoden waren faktisch zu Statthaltern des Sultans geworden, genauso wie osmanische Provinzstatthalter wurden sie in Konstantinopel ein- und wieder abgesetzt. Die Osmanen betrachteten die Walachei als Teil ihres Reiches, während die walachische Elite gelegentlich – nicht durchgehend – darauf pochte, die Selbständigkeit ihres Landes gegenüber den Osmanen hervorzuheben. Im benachbarten Fürstentum Moldau existierte eine vergleichbare osmanische Oberhoheit, weshalb sich die beiden Länder anzugleichen begannen. Sie waren beide orthodoxe Fürstentümer mit einer rumänischen Mehrheitsbevölkerung, hatten sich ansonsten in der vorosmanischen Zeit aber stark voneinander unterschieden. Erst die parallele, wenn auch indirekte osmanische Herrschaft über beide Länder bewirkte eine allmähliche Annäherung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen. Ohne Absicht haben die Osmanen damit die Grundlagen für das heutige Rumänien gelegt, ließe sich daher etwas stark verkürzt behaupten. Die Herrschaft der Osmanen blieb stets indirekt, ausgeübt durch lokale orthodoxe Statthalter, die sich auf die Aristokratie der Bojaren stützen konnten. Einzig in der Walachei und der Moldau hat sich eine orthodoxe, altbalkanisch-byzantinisch (mit-)geprägte Aristokratie im osmanischen Südosteuropa halten können. Die Osmanen erwiesen sich im Kontext der Walachei auch als Förderer der Orthodoxie, die sie als Herrschaftsinstrument einsetzten. In der Walachei wurden keine Muslime ansässig und auch Konversionen zum Islam gab es nicht in nennenswertem Ausmaß, wie dies etwa in Regionen des heutigen Bulgarien oder Bosnien geschah. Insofern darf das Osmanische Reich nicht mit dem Islam gleichgesetzt werden: Der Islam war zwar ein wichtiger Bestandteil des Herrschaftsverständnisses, und die höchsten Ämter im Reich konnten nur Muslime erlangen. Aber auch die orthodoxen Woiwoden der Walachei waren Teil der osmanischen Reichselite im weiteren Sinne. Anschaulich wird dies am Beispiel Michaels des Tapferen, Woiwode der Walachei von 1593 bis 1599/1600. Den Rumänen gilt er als Vorkämpfer der nationalen Einheit und als heldenhafter Türkenkämpfer, da er sich mit Waffengewalt den Osmanen entgegengestellt hat. Doch zeigt gerade sein Beispiel, wie eng die Walachei in den osmanischen Reichsverband integriert war. Schon die Herkunft Michaels verweist auf den osmanischen Kontext: Sein Vater ist zwar nicht bekannt, seine Mutter aber war eine in der Walachei niedergelassene Angehörige der griechischen Familie Kantakuzinos – eine Familie, die ihre Herkunft auf die gleichnamige byzantinische Dynastie zurückführte. Die herausragende Stellung dieser Familie im Osmanischen Reich beruhte jedoch nicht auf der zweifelhaften

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Genealogie, sondern auf Reichtum, den ihre Angehörigen als loyale Gefolgsleute im Dienste des Sultans erwirtschaftet hatten. Michael selber nutzte seine guten Beziehungen im Osmanischen Reich und war als junger Erwachsener wahrscheinlich im Fernhandel tätig. Belegt ist, dass er neben rumänisch fließend griechisch und türkisch, aber keine anderen europäischen Sprachen sprach. Sein Horizont bildete folglich das Osmanische Reich.23 Das Vermögen, das Michael im Handel mit dem Osmanischen Reich erwirtschaftet und durch den Erwerb walachischen Großgrundbesitzes vermehrt hatte, sowie die guten Beziehungen in der Reichsmetropole hatten die Grundlage dafür geschaffen, dass ihn der Sultan 1593 zum Woiwoden der Walachei ernannte. Zeitgenössische Kupferstiche zeigen Michael ganz in orientalischer Gewandung – mit einer Pelzmütze und Feder als Herrschaftssymbol. Einige Jahrzehnte zuvor hatten sich die walachischen Woiwoden auf Fresken noch mit Krone auf dem Kopf als Herrschaftssymbol abbilden lassen, so etwa Neagoe Basarab (1512–1521). Ob die walachischen Woiwoden jemals tatsächlich eine physische Krone getragen hatten oder entsprechende Bilder nur ikonographischer Konvention zur Kennzeichnung des Monarchen entsprachen, mag hier offen bleiben. Die bildhafte Repräsentation allein ist ein Hinweis darauf, wie sich die Sichtweise der Woiwoden verschoben hatte. Der Wandel von der Krone zur Pelzmütze als Distinktionszeichen zeigt an, wie stark sie in die osmanische Hierarchie eingebunden worden waren. Ihnen standen außerdem zwei Rossschweife zu, die als osmanische Ehrenzeichen den Rang ihres Inhabers anzeigten. Die walachischen Woiwoden standen in der Rangfolge daher ungefähr auf der gleichen Stufe wie die osmanischen Paschas oder die Beylerbey (Provinzstatthalter) von Anatolien und Rumelien, dem Kernraum der osmanischen Herrschaft auf dem Balkan.24 Michaels Herrschaft stand aber unter einem unglücklichen Stern. Im ›Langen Türkenkrieg‹ der Jahre 1593–1606 verbündete er sich mit der christlichen Seite, wurde dann aber auf Veranlassung eines rivalisierenden habsburgischen Generals ermordet. Michael erging es so wie fast allen walachischen Woiwoden, die sich gegen den Sultan gestellt hatten: Sie konnten sich bestenfalls ein paar wenige Jahre lang behaupten, wenn die Osmanen anderweitig beschäftigt waren. Sobald aber ein größeres osmanisches Heer an der Donau aufmarschierte, brach der Widerstand rasch in sich zusammen. Die Gegebenheiten der Walachei eigneten sich nicht, einer größeren Übermacht längeren Widerstand entgegenzusetzen. Viele 23 In Ermangelung einer aktuellen wissenschaftlichen Biographie sei hier nur auf die populärwissenschaftliche, aber kritische Darstellung verwiesen von Iancu Moţu: Mihai Viteazul. Un principe renascentist (Michael der Tapfere. Ein Renaissance-Fürst), Cluj-Napoca 2008. 24 Ausführlicher zu den Hintergründen Daniel Ursprung: Herrschaftslegitimation zwischen Tradition und Innovation. Repräsentation und Inszenierung von Herrschaft in der rumänischen Geschichte in der Vormoderne und bei Ceauşescu, Heidelberg 2007, hier vor allem S. 79.

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walachische Bojaren zogen die Osmanen den christlichen Herren aber auch deshalb vor, weil die Herrschaft des Sultans, immerhin Schirmherr der Orthodoxie, ihnen größere Freiheiten ließ, als sie sie von den katholischen Mächten Europas zu erwarten hatten. Das Nebeneinander von Katholizismus, Orthodoxie und Islam ist auch für Albanien relevant. Den Osmanen waren vor allem die Katholiken Nordalbaniens ein Dorn im Auge, die ihnen den entschiedensten Widerstand entgegensetzten und auf den zumindest moralischen Rückhalt der westlichen Mächte zählen konnten. Die starke Islamisierung weiter Teile Albaniens war jedoch nicht primär gegen das Christentum insgesamt gerichtet. Die Islamisierung war hier auch weniger als etwa in Bulgarien die Folge muslimischer Zuwanderung, sondern beruhte größtenteils auf der Konversion der lokalen Bevölkerung. Sie setzte jedoch erst nach und nach und in größerem Ausmaß nicht vor dem späten 16. Jahrhundert ein. Die Kirchenhierarchie war (ähnlichen wie in Bosnien) nur schwach ausgebaut: Albanien lag im Übergangsgebiet zwischen katholischem und orthodoxem Einflussbereich, institutionell und organisatorisch waren beide Konfessionen hier weniger stark verankert als anderswo in Südosteuropa. Die katholische Kirche wurde zudem von den Osmanen gezielt zurückgedrängt. Der Schritt zur (wenigstens oberflächlichen) Konversion war daher kleiner als in Gebieten mit starker orthodoxer oder katholischer Kirchenhierarchie.25 Die Unterwerfung unter osmanische Herrschaft bedeutete in Albanien eine schärfere Zäsur als anderswo. Skanderbeg, ein lokaler Adeliger, der zuerst zum Islam konvertiert und dann vom Sultan abgefallen war, zettelte einen Aufstand gegen die Osmanen an. Wegen des zähen Widerstands durch Skanderbeg und andere albanische Herren verlief die osmanische Eroberung radikaler als in anderen Regionen Südosteuropas. Da die Widerstandskämpfer in die Berge entflohen waren, richteten die Osmanen großflächig Verwüstungen an, um sie auszubluten. Folge davon waren massive Bevölkerungsverluste und Fluchtbewegungen über die Adria. Die Osmanen konnten daher schon früh und umfangreich eigene Vorstellungen durchsetzen und hatten sich weniger an vorgefundenen Strukturen zu orientieren. Wer von den lokalen Herren mit den Osmanen kooperierte, hatte Aussichten auf sozialen Aufstieg und die Übernahme der Ländereien von Geflüchteten oder Getöteten. Albanien wurde in der Folge zu einem bevorzugten Rekrutierungsraum für die Reichseliten.26 Mehrere Großwesire waren albanischer 25 Oliver Jens Schmitt: Islamisierung bei den Albanern. Zwischen Forschungsfrage und Diskurs. In: Lauer, Majer 2013 (wie Anm. 8), S. 244–268, hier vor allem S. 249–256. Siehe auch den Sammelband von Dems. (Hg.): Religion und Kultur im albanischsprachigen Südosteuropa, Frankfurt a. M. 2010. 26 Die wissenschaftlich wie stilistisch gleichermaßen beeindruckende Biographie Skanderbegs von Oliver Jens Schmitt: Skanderbeg. Der neue Alexander auf dem Balkan, Regensburg 2009, zur Verwüstung S. 269–273. Zur Osmanisierung grundlegend Ders.: Südosteuropa im

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Herkunft. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts stieg die Familie Köprülü albanischer Herkunft zu einer der mächtigsten Geschlechter im Osmanischen Reich auf und stellte mehrfach den Großwesir. Die einflussreichen Herren Albaniens hatten die höchsten Würden in der osmanischen Hierarchie erklommen. Vor Ort aber hatte das osmanische Reichszentrum nur punktuelle Befehlsgewalt. Albanien ist ein sehr gebirgiges Land. Die effektive osmanische Kontrolle konzentrierte sich vorwiegend auf die Ebenen und Täler und hier besonders auf die Städte. Die Kontrolle über die nur schwer zugänglichen Berge blieb gering, da bestenfalls ein vorübergehender Zugriff darauf bestand etwa durch militärische Strafexpeditionen oder Entsendung von Abgabeneintreibern. Die Osmanen machten nur vereinzelt Anstrengungen, eine effektivere Kontrolle über die Berge auszuüben, und begnügten sich mit einer indirekten Herrschaft. Sie waren daher auf Kooperation mit lokalen Stammesführern angewiesen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entglitten der Reichszentrale aber auch bisher gut kontrollierte Gebiete weiter im Süden. Lokale Notabeln machten sich weitgehend selbständig vom Reichszentrum. Das bekannteste Beispiel ist sicher Ali Pascha Tepelena (»der Löwe von Janina«), den literarischer Nachruhm unsterblich gemacht hat und der an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert weite Landstrichte im heutigen Südalbanien, Nordgriechenland und Makedonien kontrollierte. Weniger bekannt ist Osman Pazvantoğlu, der etwa zur selben Zeit von Vidin am bulgarischen Donauufer aus große Teile des heutigen Bulgarien und Serbien faktisch der osmanischen Zentralherrschaft entzogen hatte. Fehlender Erfolg im Kampf gegen den Rebell von Vidin war einer der Gründe, der zur Hinrichtung des walachischen Woiwoden Constantin Hangerli führte. Bezeichnenderweise entschied die Pforte in der Walachei über Gedeih und Verderben der Woiwoden, während sich im eigentlichen Reichsgebiet Pazvantoğlu dem osmanischen Reichszentrum erfolgreich entziehen konnte.27 Damit können wir nun auch die Unterschiede zwischen den albanischen Gebieten und der Walachei festmachen. In der Walachei setzten die Osmanen Woiwoden nach Belieben ein und wieder ab. Die osmanische Herrschaft bewirkte indirekt und ungewollt eine Stärkung der administrativen Macht der Woiwoden, eine regelrechte Herrschaftsverdichtung. Die Einbeziehung der Walachei in den osmanischen Herrschaftsverband schwächte zwar die despotische Macht der Woiwoden, da sie gegenüber der Hohen Pforte zu Spielbällen geworden waren, sie stärkte zugleich aber ihre infrastrukturell-administrative Macht. Ja, die Auswirkungen Spätmittelalter. Akkulturierung – Integration – Inkorporation? In: Reinhard Härtel (Hg.): Akkulturation im Mittelalter, Ostfildern 2014, S. 81–136. 27 Zur Unruhephase im späten 18. Jahrhundert und dem damit verknüpften Legitimitätsdefizit Andreas Helmedach, Markus Koller: Herrschaft, Macht und Gewalt. In: Dies. et al. (Hg.): Das osmanische Europa. Methoden und Perspektiven der Frühneuzeitforschung zu Südosteuropa, Leipzig 2014, S. 27–51, hier S. 47, 50.

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der osmanischen Oberhoheit können durchaus als Teil eines Staatsbildungsprozesses verstanden werden.28 Denn nur wer vor den Osmanen als effizienter Woiwode erschien, konnte mit dem Wohlwollen der Hohen Pforte rechnen. Dieses Wohlwollen galt es, jeweils mit Geld zu erkaufen. Die Woiwoden bedurften dazu eines effizienten Verwaltungsapparates, der fähig war, Steuern einzutreiben. Das politische System der Walachei war im 17. und 18. Jahrhundert extrem anfällig für Veränderungen an der Hohen Pforte oder am Sultanshof: So wie in Konstantinopel Großwesire in mitunter atemberaubendem Tempo ihr Amt antraten und wieder verloren, so schnell drehte sich das Personalkarussell in der Walachei. Da im 18. Jahrhundert nur noch »griechische« Familien aus Konstantinopel als Woiwoden eingesetzt wurden, die sogenannten Phanarioten, war das Leben der Eliten noch stärker auf die Reichshauptstadt ausgerichtet als schon zuvor. Ende des 18. Jahrhunderts haben wir daher eine paradoxe Situation: Albanien, das stark islamisiert war, gehörte vielerorts eher nominell denn tatsächlich zum Osmanischen Reich. Die Walachei hingegen, ein rein christliches Land, war faktisch zur osmanischen Provinz geworden, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass hier die Grundherren und lokalen Statthalter Christen und nicht Muslime waren. Was heißt es denn unter diesen Umständen überhaupt, »Teil des Reiches« zu sein? Diese Frage ist auch von Relevanz für die übergeordnete Frage danach, was es denn heißen soll, »Teil Südosteuropas« zu sein. Oft gaben sich die Osmanen, wie dargelegt, mit einer indirekten Form der Herrschaft zufrieden. Stark vereinfacht ließe sich behaupten, die Osmanen hätten weniger einen Raum kontrollieren, als vielmehr über Menschen herrschen wollen. Letztlich ist natürlich jede Herrschaft eine Herrschaft über Menschen. Aber der Prozess der Territorialisierung, der auch in Westeuropa während der Frühen Neuzeit andauerte, erfasste das Osmanische Reich aufgrund seines imperialen Charakters nur partiell. Lange war es den Osmanen kein Bedürfnis, die Grenzen ihres Reiches zu definieren, im Gegenteil: Das Reich, das im Namen des Islam zu erobern war, war idealerweise universell, weltumspannend. Faktisch erstreckte sich das Osmanische Reich bis dort, wo die Reichweite osmanischer Heere endete. Natürlich stießen die Osmanen dabei auf mächtige Nachbarn, etwa die Habsburger – hier ergab sich aus pragmatischen Eigeninteressen das Bedürfnis, den de facto existierenden Zustand institutionell 28 Die Unterscheidung zwischen despotischer und infrastruktureller Macht geht zurück auf Michael Mann: The autonomous power of the state, its origins, mechanisms and results. In: European Journal of Sociology 25 (1984), Nr. 2, S. 185–213. Vergleiche für die Walachei etwa Marian Coman: Putere şi teritoriu. Ţara Românească medievală (secolele XIV–XVI) (Die mittelalterliche Walachei, 14.–16. Jahrhundert), Iaşi 2013, S. 99–100, 309. Vasile Mihai Olaru: Writs and measures. Symbolic power and the growth of state infrastructure in Wallachia, 1740–1800, Budapest 2013: www.etd.ceu.hu/2014/olaru_vasile.pdf (Letzter Zugriff: 2. Juli 2015).

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abzusichern und Grenzverläufe festzuschreiben. Allerdings konstituierten diese Grenzen nur sehr bedingt eine klare Scheidung zwischen Gebieten inner- und außerhalb des osmanischen Machtbereiches. In den Randzonen osmanischer Macht war der Übergang von osmanischem zu nicht-osmanischem Gebiet mehrfach abgestuft, mit zunehmender Distanz vom Reichszentrum nahm die Intensität herrschaftlicher Durchdringung ab. Inwiefern zum Beispiel Siebenbürgen und die Walachei im 16. und 17. Jahrhundert ins Osmanische Reich eingebunden waren, darüber stritten schon die Zeitgenossen. Grenzfestlegungen zwischen diesen beiden auf je unterschiedliche Art osmanischer Hegemonie unterstehenden Ländern blieben lange Zeit eine lokale Angelegenheit ohne osmanische Beteiligung.29 Aus vereinzelten Grenzabschnitten (Grenzen im Plural) entwickelte sich erst allmählich eine Grenze im Singular: eine kontinuierliche Grenzlinie, die das gesamte Territorium auf allen Seiten lückenlos umfasste und damit eine klare Distinktion zwischen »innen« und »außen« schuf.30 Lange Zeit stand im Herrschaftsverständnis nicht so sehr die territoriale Komponente im Vordergrund, sondern die soziale. Als Teil des Reichsverbandes begriffen werden können Personen beziehungsweise Personenverbände, die die Befehlsgewalt des Sultans akzeptierten – darunter auch Länder wie die Walachei, das Khanat der Krim oder Stämme in Nordalbanien. Den Sultanshof und die Hohe Pforte interessierte nicht in erster Linie, wo geografisch die Grenzen ihres Reiches lagen, welche Territorien ihnen unterworfen waren, sondern vielmehr, welche Personenverbände ihnen loyal waren.31 Das Osmanische Reich war nur sehr bedingt eine politische Einheit, sondern zeichnete sich wie andere vormoderne Reiche durch eine Pluralität von Herrschaftsformen aus. Was bedeutet es nun aber für Südosteuropa, wenn das Osmanische Reich zumindest bis ins 18. Jahrhundert nicht primär ein territoriales, sondern personales Herrschaftsverständnis hatte? Wo liegen dann die Grenzen Südosteuropas? Ein historischer Atlas ist hier wenig hilfreich: Die Grenzen lagen im Innern, wo sie uns keine Karte zeigt, sie waren auch für die Zeitgenossen unsichtbar, durchlässig, wandelbar, aber doch da. Es ist daher hilfreich, Grenzen 29 Coman 2013 (wie Anm. 28), S. 216. 30 Analog für Venedig Achim Landwehr: Die Erschaffung Venedigs. Raum, Bevölkerung, Mythos, 1570–1750, Paderborn 2007. 31 Zur Frage des osmanischen Grenzverständnisses und der Territorialität des Reiches zusammenfassend etwa Markus Koller: Südosteuropa im Zeichen imperialer Herrschaft: das Osmanische Reich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Konrad Clewing, Oliver Jens Schmitt (Hg.): Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg 2011, S. 214–292, hier S. 223–231. Für einzelne Fallstudien und die politisch-militärische Praxis mit der relevanten Literatur siehe die Sammelbände von Norbert Spannenberger, Szabolcs Varga (Hg.): Ein Raum im Wandel. Die osmanisch-habsburgische Grenzregion vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Stuttgart 2014. Gábor Kármán, Lovro Kunčević (Hg.): The European tributary states of the Ottoman Empire in the sixteenth and seventeenth centuries, Leiden 2013.

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nicht mehr räumlich zu denken. Es sind nicht Grenzen der Geografie, die wir auf Karten einzeichnen und in Atlanten nachschlagen könnten. Es sind Grenzen im Denken und Handeln von Menschen: Menschen tun oder lassen etwas – sie müssen sich mit den Osmanen auseinandersetzen, tun dies aber in ganz unterschiedlicher Weise. Sinnvoller ist es daher, mit dem Konzept »Grenze« vorsichtig umzugehen und eher über »Reichweiten« nachzudenken. Wollen wir die Reichweite osmanischer Herrschaft erkunden, ist zu fragen, welche Menschen auf welche Weise osmanischer Herrschaft unterstanden. Dabei wird in sozialen Interaktionen und nicht territorialen Zusammenhängen gedacht: Wer hat mit wem interagiert, kommuniziert und in welcher Intensität? Erst sekundär schließt sich daran die Frage an: In welchem Raum hat das stattgefunden? So gesehen hat Maria Todorova bestimmt recht, wenn sie den Balkan mit dem Osmanischen Reich gleichsetzt: Das Osmanische Reich schuf einen Raum verdichteter Kommunikation, eine Kommunikationsregion.32 Diese Sichtweise eröffnet zugleich aber auch die Möglichkeit, Sundhaussens Ansatz zu integrieren, der Südosteuropa als Raum definiert, in dem verschiedene Merkmale in einer spezifischen Kombination aufeinandertreffen: Wir können die Kommunikation in verschiedenen Bereichen wie Handel, Sozialstruktur, politischen Verhältnisse etc. beobachten. Dabei stellen wir große Unterschiede im Inhalt fest, wie am Vergleich der albanischen Gebiete mit der Walachei gezeigt wurde. In der Form aber blieben die Sozialkontakte in den unterschiedlichen Kontexten stark an den osmanischen Zusammenhang gebunden: in positiver Hinwendung zu ihm, in expliziter Ablehnung von ihm, in eher zufälliger Interaktion mit ihm. Reichweite und Kommunikation sind daher komplementäre Zentralbegriffe eines Raumverständnisses Südosteuropas. Reichweite impliziert einen Ausgangspunkt wie auch ein Einzugsgebiet und fängt so semantisch die Differenz, die häufig als Zentrum und Peripherie beschrieben wird, auf weniger asymmetrische Weise ein. Reichweite zeigt eine Distanz an, Kommunikation generiert Nähe. Zusammen definieren sie einen historischen Raum Südosteuropa, der nicht durch Gemeinsamkeiten innerhalb bestimmter Grenzen entsteht, sondern durch Kommunikation mit bestimmter Reichweite. Wenn wir das Kommunikationsverhalten – oder Kommunikationsregionen – zum Ausgangspunkt machen, um Südosteuropa zu definieren, lässt sich auch eine Region Südosteuropa nach der osmanischen Epoche finden, ohne deswegen auf ein statisches Raumverständnis zurückgreifen zu müssen. Die 32 Wolfgang E. J. Weber: Die Bildung von Regionen durch Kommunikation. Aspekte einer neuen historischen Perspektive. In: Carl A. Hoffmann, Rolf Kiessling (Hg.): Kommunikation und Region, Konstanz 2001, S. 43–67, hier S. 58–59. Oliver Jens Schmitt: Das venezianische Südosteuropa als Kommunikationsraum (ca. 1400–ca. 1600). In: Ders., Gherardo Ortalli (Hg.): Balcani occidentali, Adriatico e Venezia fra XIII e XVIII secolo = Der westliche Balkan, der Adriaraum und Venedig (13.–18. Jahrhundert), Wien 2009, S. 77–102.

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Kommunikationsgewohnheiten veränderten sich natürlich mit dem Zusammenbruch des Reiches. Wo früher ganz unterschiedliche Kommunikation innerhalb des gleichen Reichsverbandes stattgefunden hatte, drehte sich nun die Situation um: Nun haben wir das gleiche oder doch vergleichbare Kommunikationsverhalten in unterschiedlichen Nationalstaaten. Wir haben nun sozusagen ein Südosteuropa unter umgekehrten Vorzeichen. Denn es sind zwar auch, aber eben nicht nur Wahrnehmungen, die diese Region in der postosmanischen Epoche zu etwas Eigenem machen: einer europäischen Meso-Region neben anderen. Die südosteuropäischen Gesellschaften des späten 19., des 20. und frühen 21. Jahrhunderts verständigten sich parallel nebeneinander über die gleichen Fragen und Probleme, beklagen vergleichbare Missstände, teilen ähnliche Werte und Weltdeutungen, verfügen über gemeinsame Elemente politischer Kultur – allerdings meist isoliert nebeneinander und in Unkenntnis voneinander. Geschichtspolitik und Erinnerungskultur wären nur ein Beispiel dafür: die Namen der Helden und Schlachtorte, die Daten von Reichszerfall und Nationalstaatsgründung, als Zäsuren gedeutete Sternstunden und Traumata kollektiver Erinnerung, sind zwar verschieden. Aber die dahinter liegenden Deutungsmuster ähneln sich doch in Vielem.33 Analoge Muster, sei es in der Volkskultur, der Sprache, politischen Kultur oder der Erinnerungspolitik, sind natürlich keine Spezifika Südosteuropas. Sie sind auch anderswo zu finden.34 Ja, vermeintliche Spezifika sind vielfach nichts weiter als adaptierte westeuropäische Muster, viele »Balkanismen« nur Spielarten allgemeinerer Erscheinungen, die auch in Westeuropa in einer bestimmten Phase vorherrschend waren. Als Kommunikationsraum gedacht, ergibt sich die Spezifik aber gerade aus der besonderen Intensität bestimmter Formen von Interaktionen. Sie ist historisch kontingent und damit wandelbar, die räumliche Lokalisierung ist zeitlich eingrenzbar. Die Gefahr, Südosteuropa zu essenzialisieren, es mit praktisch unveränderlichen Merkmalen auf eine statische Existenz festnageln zu wollen, ist sicher real. Begegnen kann man ihr mit der dynamischen Konzeption eines Kommunikationsraumes. So lassen sich mindestens zwei Arten historischer Raumkonzepte unterscheiden: einerseits Epochen mit Räumen verdichteter Kommunikation – so etwa im osmanischen Reich, andererseits Epochen mit mehreren 33 Wolfgang Höpken: Erinnerungskulturen. Vom Zeitalter der Nationalstaatlichkeit bis zum Post-Sozialismus. In: Uwe Hinrichts et al. (Hg.): Handbuch Balkan, Wiesbaden 2014, S. 177– 240. 34 So die vorsichtig-skeptische Abwägung der Frage, ob eine spezifisch südosteuropäische politische Kultur existiert bei Wolfgang Höpken: Gibt es eine »balkanische« politische Kultur? In: Südosteuropa Mitteilungen 49 (2009), Nr. 6, S. 30–47, der gemeinsame politisch-kulturelle Muster sieht, zugleich aber auf deren weit über Südosteuropa hinaus wirkende Verbreitung hinweist. Siehe auch Christian Giordano: Die politische Kultur in Gesellschaften des öffentlichen Misstrauens. Südosteuropäische und mediterrane Parallelen. In: Sonja Schüler (Hg.): Politische Kultur in (Südost-)Europa. Charakteristika, Vermittlung, Wandel, München 2012, S. 119–136.

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Räumen paralleler, aber analoger Kommunikation – so im postosmanischen Südosteuropa. Südosteuropa hat daher existiert, es hat sich verändert und aufgelöst und ist unter veränderten Voraussetzungen neu entstanden – ob das auch in Zukunft so bleiben wird: Das freilich ist eine offene Frage.

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Karl May und seine Rezeption auf dem Balkan Im Widerstreit imperialer und nationaler Kräfte

Das Bild, welches Karl May am Schluss seines Orientzyklus vom Balkan zeichnet, könnte nicht uneinheitlicher sein. Natürlich arbeitet er mit Stereotypisierungen, welche für die Narrativierung der Figuren zentral sind. Dennoch ist die postkoloniale Lesart nicht so einfach: Das zeigt sich einerseits an einer (national grundierten) Auseinandersetzung zwischen dem bulgarischen May-Spezialisten Wesselin Radkov und der makedonischen Literaturwissenschaftlerin Katalin Kovačević in den 1970er Jahren, andererseits am Vorwurf, im Orientzyklus manifestiere sich einfach die Machtpolitik des Deutschen Reichs. Anhand des Themas der Hajduken wird im Beitrag herausgearbeitet, dass die unzuverlässige Erzählinstanz nicht einfach einem kolonialen Narrativ folgt, sondern in spezifischen Figurenreden der osmanischen Herrschaft durchwegs auch Gutes abgewinnen kann und die Kolonialpolitik Österreich-Ungarns auf dem Balkan kritisiert. Kein anderer Autor hat zunächst das deutschsprachige und infolge der zahlreichen Übersetzungen das globale Balkanbild über Generationen so stark geprägt wie Karl May.1 Die Verfilmungen des Orientzyklus und Winnetous auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens haben ihn nicht nur zum jugoslawischen Heimatdichter, dessen Balkan-Bände sehr intensiv in verschiedensten Editionen rezipiert werden,2 sondern auch zum intertextuellen Gewährsmann werden lassen, der noch in die literarische Verarbeitung des Jugoslawien-Zerfalls eingreift.3 Obwohl 1 Zoran Konstantinović: Deutsche Reisebeschreibungen über Serbien und Montenegro, München 1960, S. 163. 2 Peter Gromadecki: Auf den Spuren Karl Mays, Frankfurt a. M. u. a. 1964, S. 142–144. 3 So figuriert Karl May in Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens (2004) als impliziter und expliziter Bezugspunkt der Abenteuer-Reise im jugoslawischen Kriegsgebiet. Dadurch wird auf die »Kluft zwischen Realität und Fiktion« verwiesen, die wie die Reise Pauls, die ihn einerseits zum Ort, wo die Winnetou-Sterbeszene gedreht worden ist, andererseits zum Ort führt, wo der Journalist Allmayer seinen Tod gefunden hat, darin besteht, die Problematik der Verwischung der Ebenen in ihrer Literarisierung zu reflektieren. Maria E. Brunner: Literarische Karl-May-Rezeption in Norbert Gstreins Balkan-Roman »Das Handwerk des Tötens« und ein Nachtrag zu Arno Schmidt. In: Helmut Schmiedt, Dieter Vorsteher (Hg.): Karl May. Werk – Rezeption – Aktualität, Würzburg 2009, S. 145–169, hier S. 151 f. Peter

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die literaturwissenschaftlichen Grabenkämpfe zur Bewertung seiner Abenteuerund Reisegeschichten anhalten, kommt man rein rezeptionsgeschichtlich nicht umhin, sein Werk zumindest als diskursiven Spiegel seiner Zeit zu betrachten. Dabei geraten einerseits die Fragen der Kulturwissenschaft, welche hauptsächlich diskurskontextualisierend vorgeht, ins Blickfeld: Welche Stereotypen werden aus trivialliterarischer Sicht aktiviert, wie sind sie politisch motiviert oder gar intendiert? Andererseits ist zu untersuchen, ob nicht auch eine spezifische literarische Parodierung Karl Mays dieselben Stereotypen wieder unterminieren kann. Sicherlich ist davon auszugehen, dass ein deutscher Orientalismus ohne Karl May um seinen populärsten Vertreter beschnitten wäre,4 »war doch allein er es, der das Genre des orientalischen Reise- und Abenteuerromans etablierte und dessen fraglos ungenaues Orientbild die Vorstellung noch des heutigen Publikums prägt«.5 Wie die makedonische Literaturwissenschaftlerin Katalin Kovačević, nachzeichnet, findet der Autor kaum Eingang in Literaturgeschichten – mit Ausnahme derjenigen von Josef Nadler, worin Karl May »[…] die aufschlussreichste Aussage über den deutschen Seelenzustand zwischen dem ohnmächtigen und dem machtberauschten Deutschland ist«. Damit rücke er in die Nachbarschaft von Nietzsche und Wagner. In Lexika werde wiederum der »gedämpft positive« Einfluss auf die Jugend unterstrichen.6 Unabhängig davon, ob nun Roda Roda, der den Balkan wie seine eigene Hosentaschen kennt, oder ein österreichischer Offizier, der während des Ersten Weltkriegs in Serbien ist, von ihren Erfahrungen berichten, finden beide ihre durch Mays Balkanbild vorgezeichneten Vorurteile vor Ort bestätigt.7 Die Jugendlektüre wirkt in diesen Fällen so prägend, dass der Diskurs nicht mehr von den ›Realia‹ – wie Maria Todorova sagen würde – zu trennen ist.

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Handke stellt auf andere Weise den Bezug immer wieder zu den Indianern Karl Mays als Inbegriff der Gutmenschen her, welche die Belagerer Sarajevos in seinen Augen darstellten. Siehe dazu Frauke Meyer-Gosau: Kinderland ist abgebrannt. Vom Krieg der Bilder in Peter Handkes Schriften zum jugoslawischen Krieg. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Peter Handke, Bd. 24, Ed. 6, München 1999, S. 3–20. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive sind folgende zwei Studien einschlägig: Nina Berman: Orientalismus, Kolonialismus und Moderne. Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900, Stuttgart 1996, S. 32–103. Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert, Berlin 2006, S. 86. Dieter Sudhoff, Hartmut Vollmer: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Karl Mays Orientzyklus, Paderborn 1991, S. 7–30; hier S. 20. Josef Nadler: Geschichte der deutschen Literatur, Zürich 21961, S. 584–586. Nach Katalin Kovačević: Makedonien bei Karl May. In: Sudhoff, Vollmer 1991 (wie Anm. 5), S. 219–236, hier S. 220; Erstdruck in: Lenau-Forum 3/4 (1971), S. 97–110. Roda Roda: In den Schluchten des Balkan. In: Karl-May-Jahrbuch 11 (1928), S. 384–386, sowie J. Goebel: In den Schluchten des Balkan. In: Ebd., S. 149–153.

Karl May und seine Rezeption auf dem Balkan

Seit der Veröffentlichung des Orientzyklus in der katholischen Wochenschrift Deutscher Hausschatz im Regensburger Pustet Verlag zwischen 1881 und 1888 werden so die Orient- und Halborient-Vorstellungen zunächst eines deutschsprachigen Publikums vom Ich-Erzähler Kara Ben Nemsi und seinem Gefährten Hadschi Halef Omar weitgehend geprägt. Die beiden treffen in Algerien auf die Leiche eines französischen Händlers und versuchen in der Folge, die Schuldigen zu finden, was sie durch ganz Nordafrika, die arabische Wüste, durch Kurdistan und schließlich durch die europäische Türkei treibt. Die Aufklärung des Mords, der von einer Bande verübt worden sein muss, die im ganzen osmanischen Reich tätig ist, bildet den Vorwand, sowohl die unterschiedlichsten Völker kennenzulernen und zu kategorisieren wie auch diese wiederum einer spezifisch deutschen mission civilatrice zu unterziehen. Die Balkanreise umfasst die letzten drei Bände der sechsbändigen Ausgabe aus dem Jahr 1892, erschienen bei Fehsefeld in Freiburg im Breisgau. In der Umarbeitung wird die letzte und umfangreichste Erzählung der ›Hausschatz-Reihe‹ Durch das Land der Skipetaren auf die drei in etwa gleich langen Bücher In den Schluchten des Balkan (Band IV), Durch das Land der Skipetaren (Band V) und Der Schut (Band VI) aufgeteilt.8 Die geografische Einteilung der Reise wird in der neuen Titelzuordnung der überarbeiteten Ausgabe rudimentär präzisiert: nicht mehr der ganze Balkan wird den Skipetaren zugeordnet, sondern erst das albanische Siedlungsgebiet – aber auch dieses nur approximativ, führt doch der Band IV der Fehsefeld Ausgabe von Adrianopel bis Ostromdscha, ins heutige Strumica in Südostmakedonien.9 In Absetzung zu den ersten drei Bänden des Orientzyklus, in denen epische Breite an einem Ort, aber auch harte Schnitte und schnelle Sequenzabfolgen das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit variantenreich gestalten, »ist vom vierten Band an eine klar strukturierte Handlungsfolge zu beobachten, die sich von der Jagd nach den Feinden bis nach Albanien im sechsten Band Der Schut her bedingt«. Entsprechend sind sich die kleinen Orte ähnlich; meist befindet man sich nur noch in »Schluchthütten und 8 Band IV des Orientzyklus, In den Schluchten des Balkan, umfasst den letzten Teil von Der letzte Ritt der Wochenschrift Deutscher Hausschatz (= DH), das heißt DH 11, 1885, Nr. 49–52; DH 12, 1885/1886, Nr. 1–17, 19–22 sowie 52) und den Anfang der längsten Hausschatz-Erzählung Durch das Land der Skipetaren (DH 14, 1888, Hefte 4–6), was den Kapiteln 7 und 8 der Fehsefeld-Ausgabe (= F) entspricht. Durch das Land der Skipetaren dieser Ausgabe (F 5) entspricht DH 14, 1888, Hefte 6–12 und Der Schut (F 6) DH 14, 1888, Hefte 12–17, wobei May den letzten Band mit einem »Anhang« ergänzt, in der er den Tod von Kara Ben Nemsis Rappen in einem elegischen Abgesang beschreibt. 9 So stellt der ehemalige Dolmetscher Titos, Ivan Ivanji, im Vorfeld der NATO-Befriedungsmission 2002 nach dem Ohrider Abkommen fest, dass sich der Hauptprotagonist auch im Roman Durch das Land der Skipetaren vorab im heutigen Mazedonien befindet. Ivan Ivanji: Indianer in Mazedonien? Mit Karl May in den Schluchten des Balkan. In: Literatur und Kritik 359/360 (2001), S. 5–7.

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Gasthäusern«.10 Mit anderen Worten: Die Topografie erhält kaum mehr herausragende Fixpunkte, die »Schluchten« sind programmatisch; man muss da durch und hat zahlreiche Prüfungen gegen Verbrecher und korrupte osmanische Beamte zu bestehen. Die »ungewöhnlich einfache Struktur des Handlungsrahmens« ist auffallend repetitiv. Die Mitglieder der Verbrecherbande versuchen jeweils, ihre Verfolger zu vernichten, indem sie sie in Hinterhalten stellen wollen. Doch Kara Ben Nemsi erfährt immer rechtzeitig davon – durch Belauschung – und vereitelt die Pläne gegen ihn und seine Kameraden.11 Entscheidend – aber bis heute ungelöst – bleibt im Hinblick auf die drei Balkan-Bände die Auseinandersetzung zwischen der makedonisch-jugoslawischen Literaturwissenschaftlerin Katalin Kovačević und dem bulgarischen Karl-May-Spezialisten Wesselin Radkov; es handelt sich um eine Debatte, welche leider nur im Rahmen der Karl-May-Gesellschaft für Verwirrung und anhaltende Repliken gesorgt hat, im allgemeineren Forschungsfeld des deutschen Orientalismus aber nicht angekommen zu sein scheint, obwohl hier erstmals der zentrale Zusammenhang zwischen Stereotypisierung und ihrer politischen Implikation ins Feld geführt wird. Das Kernargument von Katalin Kovačević, das sie 1970 im Rahmen der Jahrestagung der Internationalen Lenau-Gesellschaft vorträgt, lautet – zunächst positiv formuliert: Karl May habe einen unheimlich guten Spürsinn für die politische Aktualität und führe diesen ganz im Sinne der kulturellen Supremität des deutschen Helden dem zeitgenössischen Leser vor Augen.12 In der späteren Orientalismus-Debatte wird genau dieses Argument wieder aufgenommen und vertieft. Die Wissenschaftlerin zeigt auf, dass sich Karl May weniger über einschlägige Reiseberichte, wie zum Beispiel über Hahns Reise von Belgrad nach Saloniki,13 als vielmehr über die Zeitschrift Das Ausland, die zwischen 1828 und 1893 ununterbrochen erscheint und »ein lebhaftes Interesse für die Südslawen« bekundet, informiert hat,14 und resümiert schließlich, dass es Karl May nicht darum ging, »die Verhältnisse auf dem Balkan […] objektiv darzustellen, sondern vielmehr darum, die primitiven Züge dieser Gebiete einseitig hervorzuheben; damit befand er sich in Übereinstimmung mit den vorherrschenden politischen

10 Hermann Wiemann: Stil und Erzähltechnik in den Orientbänden Karl Mays. In: Sudhoff, Vollmer 1991 (wie Anm. 5), S. 113–127, hier S. 115. 11 Claus Roxin: Einführung. Durch das Land der Skipetaren. Hausschatz-Reprint, Regensburg 1977, S. 2. 12 Kovačević 1991 (wie Anm. 6), S. 226. 13 Johann-Georg von Hahn: Die Reise von Belgrad nach Salonik nebst 4 Abhandlungen zur alten Geschichte des Morawagebietes (1861), Wien 21868. 14 Miljan Mojašević: Die Zeitschrift »Das Ausland« und die Jugoslawen. In: Jahrbuch der Philosophischen Fakultät, Bd. 3, Belgrad 1955, S. 421–517. Nach Kovačević 1991 (wie Anm. 6), S.  27.

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Zielsetzungen seiner Zeit«.15 So ehrenhaft die Motivation der Literaturwissenschaftlerin auch ist, das Klischee über ihren Herkunftsort Skopje gegenüber den Deutschen zu kontextualisieren, welche damit das Uskub aus dem fünften Band Durch das Land der Skipetaren assoziieren, und so zukunftsweisend ihr postkolonialistischer Ansatz auch ist, so sehr ergeht sie sich im polemischen Ton gegen Karl May. Damit hofft sie wahrscheinlich, ein gewisses intellektuelles Publikum anzusprechen, bietet aber gleichzeitig den Karl-May-Philologen eine allzu große Angriffsfläche. Sie überbietet sich selber mit Klischees über den Autoren selbst, indem sie seinen kleinkriminellen Hintergrund und seinen beschränkten Wortschatz nochmals in Anschlag bringen muss, und indem sie Fehler aufzählt, die ihm in der Beschreibung spezifischer balkanischer Behausungen, Kleidungen und Bräuche unterlaufen.16 Entsprechend spricht sie von einem »Durcheinander sowohl hinsichtlich der geografischen Einzelheit als auch hinsichtlich der Nationalitätenfragen«.17 Dazu präzisiert sie, dass die »Skipetaren« auf der untersten Zivilisationsstufe angesiedelt, die Christen als Troglodyten dargestellt würden und die slawischen Makedonen, die man zu jener Zeit wahrscheinlich den Bulgaren zugeschlagen hat, nicht einmal erwähne. Daraus folgert sie, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen: »Auf geschmacklose Weise zaubert er uns die primitivste Lebensart vor Augen. Er macht dies bewußt, mit Absicht entwirft er extrem drollige und groteske Bilder, aber so sehr zu Ungunsten der Einheimischen, daß die Balkanbücher stellenweise zu Pamphleten werden.«18 Die kritischste Stelle, auf die selbst Karl-May-Apologeten des Langen und des Breiten eingehen, betrifft die Passage, in welcher Karl May einen Banditen sagen lässt, die Räuber seien neuerdings die Patrioten. Damit ignoriere oder zumindest nivelliere der Autor die jahrhundertelange Unterdrückung der christlichen Balkanvölker durch die Osmanen und beleuchte ihren Unabhängigkeitskampf allzu kritisch.19 Wesselin Radkov fährt in der Gegenattacke gegen Katalin Kovačević ebenso großes Geschütz auf: »Der ganze Unsinn gipfelt […] in der Schlußfolgerung, Karl May hätte durch seine Werke die ›Expansionspolitik‹ der ›Herrschenden‹ unterstützt.«20 Wenn er in der Folge im eigenen Close Reading Kovačevićs Misreadings offenlegt, so geht es ihm unter anderem darum, ihr ahistorisches Argument zu entkräften, May stelle keine Makedonier dar, sondern »nur Bulgaren, Montenegriner, Skipetaren oder Serben«. Ihr gefalle wohl nicht – so unterstellt er ihr mit 15 16 17 18 19 20

Ebd., S. 234. Ebd., S. 231. Ebd., S. 229. Ebd., S. 230 f. Ebd., S. 233. Wesselin Radkov: Politisches Engagement und soziale Problematik in den Balkanbänden Karl Mays. In: Sudhoff, Vollmer 1991 (wie Anm. 5), S. 237–254, hier S. 237. Erstdruck in: M-KMG Nr. 21, September 1974, S. 4–5, sowie M-KMG Nr. 22, Dezember 1974, S. 3–8.

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Verweis auf den letzten Band des Orientzyklus Der Schut (VI, S. 280 der Bamberger Ausgabe) –, »daß Karl May von den glorreichen Jahren des bulgarischen Reiches unter dem Zaren Simeon berichtet, wo Wissenschaft, Kultur und Staatswesen in Bulgarien zur Blüte kamen, und das ausgerechnet in dem Augenblick, als sich seine Helden in der Nähe von Prisren [sic] befinden«.21 Dass er trotz seines philologischen Zugangs geradeso polemisch gegen seine makedonische Kollegin vorgeht, indem er Karl May auf der Seite der Großbulgaren wähnt, deren Reich unter Simeon I. sich einst weit über Makedonien erstreckte, damit implizit das jugoslawische Makedonien wieder Bulgarien zuschlägt und einen ›inneren Orientalismus‹ in Bezug auf das Nachbarland insinuiert,22 verbaut jegliche fruchtbare Diskussion. So sehr der Karl-May-Liebhaber und -Forscher mit seiner genauen Lektüre auch Recht haben mag, so sehr kommt ihm seine eigene Identität als Bulgare in die Quere. Solches klarzustellen, ist mehr denn notwendig, findet sich doch hier das Erklärungsmuster dafür, warum oftmals gewisse Diskurslinien und Forschungsfelder über den Balkan auf dem Balkan selbst – trotz wissenschaftlich profunder Kompetenzen – nicht weiter untersucht werden. Nichtsdestotrotz soll darob nicht das Hauptargument Radkovs unterschlagen werden, Karl May sei gerade nicht dokumentarisch, sondern literarisch zu lesen; dabei seien zwei Verfahren zentral, erstens die ›Übercharakterisierung‹, zweitens der Humor. So würden zur Akzentuierung der Polaritäten zwischen gut und böse – gewissermaßen zwischen ›Ardistan und Dschinnistan‹, um ein orientalisch induziertes, symbolistisches Spätwerk Karl Mays zu nennen – die einzelnen Personen übercharakterisiert: Moralisch gute Menschen würden entsprechend positiv und moralisch schlechte entsprechend negativ dargestellt, bevor sie überhaupt handlungsrelevant seien.23 Zweitens verfüge der Autor über einen Sinn von Humor, der 21 Ebd., S. 252. 22 Makedonien wird – zumindest historisch gesehen – primär als geografische und nicht als ethnische Einheit gehandelt. Dementsprechend werden bei der nationalen Konstruktion Makedoniens innerhalb der Befreiungsbewegungen im osmanischen Reich jeweils die Ansprüche auf diese Region vonseiten Griechenlands, Bulgariens und Serbiens formuliert. Erst 1944 wird in einer einmaligen Symbiose von Sozialismus und Nationalismus die makedonische Nation und Sprache innerhalb des titoistischen Jugoslawiens verankert. Doch: »The Bulgarian communists considered the Macedonian nationality an offshoot of the Bulgarian nation […]. It was only in 1958 that the Bulgarian Communist Party reversed its policy and decided to withdraw its recognition of a separate Macedonian nationality.« Victor Roudometof: Collective Memory, National Identity, and Ethnic Conflict. Greece, Bulgaria, and the Macedonian Question, Westport (Connecticut) 2002, S. 62. Damit verschärft sich eine inzwischen entspanntere Nachkriegsphase zwischen Bulgarien und Jugoslawien gut zwölf Jahre vor der Debatte zwischen den beiden May-Kontrahenten. Die Auseinandersetzung findet zu einem Zeitpunkt statt, in welcher die Definition, was nun ein Bulgare und was ein Makedonier sei, wieder ein Politikum ist. 23 Radkov 1991 (wie Anm. 20), S. 252.

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ganz im Bachtinschen Sinne – obwohl Radkov den russischen Vordenker nicht nennt – als Mittel der Subversion gegen etablierte Herrschaftsstrukturen eingesetzt werde. In der übertriebenen Beschreibung gewisser Charaktere und Szenen, insbesondere in den Prügelszenen gegen osmanische Beamte,24 werde deutlich, wie sehr deutsche Verhältnisse allegorisch in denjenigen der europäischen Türkei reflektiert würden: »In den Balkanländern […] ist in der Gestalt eines türkischen Kiaja oder Bei [sic] oft ein preußischer Beamter nicht zu verkennen. Ein Zaptije, faul und dumm, ist ein preußischer (oder sächsischer) Polizist in orientalischer Verkleidung. Die Korruption, die Bestechlichkeit, die Brutalität, die May durch die Staatsgewalt damals erfuhr, finden eine hyperbolisierte, meisterhaft verschleierte Widerspiegelung in den von ihm geschilderten Verhältnissen im osmanischen Reich, wo Bakschisch und Stock eine hervorragende Rolle spielen.«25 Dagegen würden die armen Schichten immer positiv charakterisiert.26 Es geht also nicht um die nationale Zuordnung, sondern um die Rangordnung im sozialen Gefüge. Entsprechend würden die Verbrecher ›übercharakterisiert‹: »Die animalischen Lebensverhältnisse dieser Personen hängen keineswegs mit der Armut oder mit der Lebensweise einer bestimmten Nationalität zusammen. Es ist vielmehr ein ominöses, symbolisches Zeichen« zur Vorbereitung des Lesers, dass er weiß, wenn er einen Verbrecher vor sich hat.27 Damit schließt er ein mögliches Charakteristikum der äußeren Lebenswelt wieder in die literarische ein. Jeglichem Vorwurf vonseiten der kulturalistischen Argumentationsweise widerspricht der Karl-May-Liebhaber auf doppelte Weise. Zum einen streicht er den literarischen Charakter hervor und schlägt auch eine entsprechende auf den Plot konzentrierte Anlage der Figuren vor; zum anderen kippt er die Figur des Fremden in diejenige des Eigenen und folgt einer psychologischen Interpretationsweise. Der Philologe unterlässt es ebenso wenig, die kritischste und umstrittenste Stelle, in welcher die Verbindung zwischen den nationalen Befreiungskämpfern und den Banditen um den persischen Schut hergestellt wird und welche 24 In der Einführung zum Hausschatz-Reprint 1977 (wie Anm. 11), S. 3, werden fünf Prügelszenen genannt: »Eine der […] immer wiederkehrenden Beschäftigungen [der beiden Helden] besteht […] darin, die Obrigkeit zu verprügeln. Das beginnt […] mit dem Khawassen [Polizisten], der Halef als ›kleinen Mann‹ apostrophiert hatte (DH 184; F 4, 510); es geht weiter mit dem Kodscha Bascha von Ostromdscha (DH 248; F 5, 46f.) und dem ›Richter‹ Murat Habulam und seinen Spießgesellen (DH 482 ff.; F 5, 488 ff.); es endet mit der Verprügelung des ›Chefgenerals‹ in Glogovic (DH 562; F 6, 96f.) und der Züchtigung des Staroschin von Rugova (DH 711; F 6, 432).« 25 Radkov 1991 (wie Anm. 20), S. 240. 26 Ebd., S. 247. »Die einfache Bevölkerung […] wird, soweit es sich nicht um Anhänger des Schut handelt, durchweg [sic] liebevoll und sympathisch charakterisiert (man denke nur an Gestalten wie den Rosenzüchter Jafiz, Schimin, Anka, Janik, Nebatja, den Miriditen, Kolami, Stojko, Ranko und viele, viele andere).« Roxin 1977 (wie Anm. 11), S. 4. 27 Radkov 1991 (wie Anm. 20), S. 251.

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Kovačević zitiert, nochmals zu untersuchen. Bei Kovačević lautet das Zitat, in dem der Ich-Erzähler Kara Ben Nemsi spricht: »Auf der Balkanhalbinsel hat das Räuberwesen niemals gesteuert werden können. [Ich selbst hatte ja, schon von Damaskus an, meine Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt. Anfangs hielt ich Stambul für den Hauptsitz dieser Verbrecher […]. Dann lernte ich anders denken.] Gerade [in der letzten Zeit] in den gegenwärtigen Tagen berichten die Zeitungen fast ununterbrochen von Aufständen, Überfällen, Mordbrennereien und anderen Ereignissen, die auf die Haltlosigkeit der Zustände in den türkischen Balkanländern zurückzuführen [waren] sind.«28 Zwar gibt auch Radkov zu bedenken, dass Kovačević in diesem einzigen Punkt der Mayschen Verbindung zwischen Patrioten und Banditen recht behalten soll. Doch wird bei der zitierten Stelle deutlich, wie sehr die vorgenommenen Änderungen durch die Herausgeber in der Heidelberger Ausgabe diese Tendenz noch vereindeutigen, indem sie einerseits den Raum für den »Hauptsitz dieser Verbrecher« eindeutig dem Balkan zuweisen, andererseits die Jetztzeit zumindest partiell historisieren wollen. Die »Zustände« auf dem Balkan »sind« ›haltlos‹ aufgrund der untragbaren politischen Situation, welche die Bevölkerung geradezu in die Kriminalität treiben. Nicht der spezifische geografische Raum, sondern die sozialen Missstände aufgrund einer verfehlten Politik führen zu solchen gesellschaftlichen Verwerfungen. Daraus abzuleiten, Karl May sei gegen die Osmanische Herrschaft gewesen, ist aber ebenso verfehlt. Und genau dieser Sachverhalt bildet implizit den Stachel im Fleisch der Kritikerin. Denn der Autor »liebte« »das türkische Volk«. »Er verglich den ›kranken Mann am Bosporus‹ teils mit Indianern […], teils mit Preußen […] und sah die Türken selbst weniger als Herrscher denn als Opfer des europäischen Imperialismus«.29 Mit anderen Worten: Die Rezeption erweist der Differenzierung in ihrer Vereindeutigung und Deliterarisierung einen Bärendienst. Umso erstaunlicher ist die stereotype Einordnung von Karl Mays Orientzyklus in der Besprechung Nina Bermans, welche zwanzig Jahre später genau in dieselbe Richtung zielt wie Katalin Kovačević. So steht die Entstehungszeit des Zyklus in den 1880er Jahren »zeitgleich zu den Anfängen des deutschen Kolonialismus«; »die Abwertung bestimmter Völker« stehe damit »in direktem Bezug zur wirtschaftlichen und politischen Intervention im Gebiete des Osmanischen Reiches«.30 Einerseits bringt Berman das narrative Setting der beiden Erzähler, andererseits die Kategorisierung der Völker, auf die der Erzähler im Laufe seiner Reise trifft und beschreibt, für ihre Argumentation in Anschlag. So werde der Ich-Erzähler Kara Ben Nemsi Effendi durch seine orientalische und halb feminine 28 In den Schluchten des Balkan, S. 13, der bearbeiteten Heidelberger Ausgabe, Wien 1951 [kursiv = Bearbeitungen durch die Herausgeber]; IV , S. 20 der Radebeuler Ausgabe, Bamberg 1962; F 4, S. 19 [unterstrichen = Fehsenfelder und Radebeuler Originalversion]. 29 Roxin 1977 (wie Anm. 11), S. 3. 30 Berman 1996 (wie Anm. 4), S. 37.

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Verkleidung als Ausländer nicht erkannt; wie Kim, dem kolonialen Spion und Doppelagenten in Kiplings gleichnamigem Roman, ermögliche ihm das multiple Transvestitentum gleichzeitig Subversion und Kontrolle in der zu kolonialisierenden Zone.31 Die Auslagerung einer zweiten Erzählerstimme in den Mayschen Sancho Pansa, den kolonisierten und kollaborierenden Beduinen Hadschi Halef Omar, mit dem Kara eine latent homoerotische Verbindung unterhält, sei Ausdruck einer patriarchalen Gesellschaft: »Die Feminisierung des Fremden entpuppt sich als Strategie zur Einrichtung von Herrschaftsstrukturen, die es ermöglichen, das patriarchalische System auf die koloniale Situation zu übertragen.«32 So entpuppe das umfassende Wissen des Ich-Erzählers die okzidentale Überlegenheit; ergänzend sei dazu angeführt, dass »dieses alter ego unseres Dichters« gleichzeitig erlaubt – so Claus Roxin –, »alles aus[zu]sprechen, was zwar auch May in seinen tagträumerischen Phantasien meint, was aber von seinem ›Ich‹ gesprochen peinlich und lächerlich wäre«. Durch diese doppelte Figuren-Konstellation würde ein »psychischer Motor« geschaffen, welcher »die Darstellung solcher Omnipotenzphantasien künstlerisch überhaupt erst möglich« machen würde.33 Soweit zum narrativen Setting. Berman macht weiter deutlich, dass Karl May geradezu eine Völkerhierarchie produziert, in welcher die Jesiden, Araber und Kurden idealisiert und die Balkanvölker wie die Bulgaren und Albaner inferiorisiert würden.34 »Das von May entworfene Bild der orientalischen Völker, an deren unteren Ende die Balkanvölker rangieren, ermöglicht die Rechtfertigung des Eindringens in die Regionen, in denen die politischen Verhältnisse am ›chaotischsten‹ waren: nämlich in die Balkangebiete.«35 Dennoch muss an dieser Stelle bezweifelt werden, ob May lediglich Klischees reproduziert und ob er mit einer solchen Darstellung die vom Wilhelminischen Reich angestrebte ökonomische Intervention und Expansion in die europäische Türkei wirklich legitimieren will.36 Denn völlig ausgeschlossen aus dieser Diskussion, aber relevant ist die Rolle des eigentlichen regionalen Players, der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie spätestens seit der Okkupation der osmanischen Provinz Bosnien-Herzegowina ab 1878.

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Ebd., S. 66 und 69. Ebd., S. 83. Ebd., S. 4. Ebd., S. 139 f. Ebd., S. 142. Ebd., S. 144 f. Diese Argumentationslinie verstärkt Berman zusätzlich, indem sie zu Recht beobachtet, dass sich der Ich-Erzähler, »je näher […] er den Balkangebieten kommt, desto autoritärer und anmaßender« verhalte (dabei werden natürlich die Bastonaden erwähnt), und daraus folgert, dass die »Reise durch den Orient […] so angelegt« sei, »dass die Verhältnisse immer chaotischer werden, um sich schließlich mit Abscheu und in der Rolle des Überlegenen abzuwenden.« Ebd., S. 152.

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Zudem wird der Islam nicht unbedingt dem Christentum unterlegen dargestellt. Der ›andere Orientalismus‹ Karl Mays schreibt sich trotz der allwissenden Erzählerfigur und ihrer Spiegelung der Omnipotenzfantasien in Hadschi Halef Omar nicht so einfach in einen kolonialen Herrschaftsdiskurs ein, wie das zuerst Kovačević und gut zwanzig Jahre später Nina Berman postulieren. Exemplarisch zeigt der Dialog zwischen Kara Ben Nemsi und dem Schmied Schimin auf, dass die dargestellten Verhältnisse komplexer angelegt sind, welche nicht nur auf der Folie der Orientalismusdebatte und Kolonisationswünsche des Deutschen Reiches erklärbar sind. So informiert sich Kara Ben Nemsi beim Schmied Schimin über die Aufständischen, »welche in die Berge gegangen sind«, um gegen die osmanische Herrschaft zu kämpfen. Die Ausgangsfrage dreht sich also wiederum um die Schwierigkeit, keine genauen Kategorisierungen vornehmen zu können. Handelt es sich nun um Befreiungskämpfer oder um Banditen? So viel sei vorauszunehmen: Es geht hier gerade nicht um eine klare Kategorisierung der Balkanvölker, die Karl May anhand der möglichen Konvergenz von Patrioten und Verbrecherbande, die er verfolgt, vornehmen möchte,37 sondern um eine latente Thematisierung der Ambivalenz, welche auch rein erzähltechnisch natürlich von Vorteil ist, da sie die Spannung aufrechterhält. Dass damit Karl May auf einen im 19. Jahrhundert immer wieder geführten Diskurs zurückgreift, veranschaulicht die historiografische Aufarbeitung des ›Haidukentums‹: »Waren Haiduken […] Rächer der Unterdrückten oder Vorkämpfer der nationalen Befreiung? Oder waren es gewöhnliche Kriminelle […]?«38 Mit dem Verweis auf Fernand Braudels Feststellung einer »Ubiquité du banditisme« hält Holm Sundhaussen fest, »dass das Banditentum im Osmanischen Reich seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunahm«39 und einen großen Einfluss auf die »Balkanhistoriografie« in Form populärwissenschaftlicher Abhandlungen hatte, welche die »Haiduken« als Helden der nationalen Befreiung in ihren Gesängen abfeiern. Weder die Makedonin Katalin Kovačević noch der Bulgare Wesselin Radkov scheinen sich in irgendeiner Hinsicht von einer solchen Historiografie zu distanzieren. Im Gegenteil: Beide setzen die Heldenhaftigkeit der »Patrioten« und »Unabhängigkeitskämpfer« als unhinterfragbares Apriori, was sich dann wiederum auf die Karl-May-Forschung überträgt, so dass man die Ambivalenz 37 »Die Organisation, die in den nordafrikanischen und arabischen Gebieten zunächst wie eine kriminelle Vereinigung erscheint, erhält auf dem Balkan das Aussehen einer nationalen Befreiungsbewegung.« Ebd., S. 152. 38 »Zweifellos gehört das Phänomen der Haiducken zu den beliebtesten und einprägsamsten Geschichtsmythen auf dem Balkan, die nicht nur das Selbstbild der christlichen Balkanvölker, sondern auch das Bild von der osmanischen Herrschaft nachhaltig geformt haben.« Holm Sundhaussen: Geschichte Serbiens. 19.–20. Jahrhundert, Wien u. a. 2007, S. 55. 39 Ebd., S. 57. Er rekurriert dabei auf Fernand Braudel: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., 3 Bde., Frankfurt a. M. 1994, Bd. 2, S. 534 f.

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der Darstellung geradezu als moralisches Problem weiter verhandelt. Konsultiert man aber Quellen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, so stößt man auf die Ambivalenz des Haiduken selbst in unverdächtigen Quellen, das heißt bei Vertretern der vom Osmanischen Reich ›unterdrückten‹ Völker. So heißt es in Vuk Karadžićs Serbischem Wörterbuch, das auch Sundhaussen zitiert: »Wirklich gehen viele Männer nicht zu den Haiduken, um Böses zu tun, doch wenn ein Mensch […] einmal von der Gesellschaft abfällt, […] so beginnt er […] auch Böses zu tun. So begehen die Haiduken Böses auch an ihrem eigenen Volk, das sie […] liebt und bedauert, aber dem Haiduken erscheint es noch heute als größter Schimpf und Schande, wenn man ihm sagt, er sei ein Strauchdieb und niederträchtiger Räuber. In alten Zeiten passten die Haiduken […] am liebsten die Türken ab, wenn sie Steuergelder transportierten, doch kommt das in unserer Zeit selten vor, vielmehr passen sie Händler und andere Reisende ab.«40 Karadžić hebt zwei Punkte heraus, die im Zusammenhang mit Karl May von Bedeutung sind: Erstens handelt es sich bei den Haiduken nicht einfach um Befreiungskämpfer, sondern um ein kriminelles Milieu, eine Art Gesellschaft außerhalb der Gesellschaft, zweitens wird eine historische Zäsur benannt, vor welcher die Kriminalität vorzugsweise der türkischen Verwaltung gegolten hat und nach welcher vor allem die ökonomische Tätigkeit betroffen ist. Mit anderen Worten: Es ist äußerst schwierig die Haiduken wieder in die Gesellschaft zu integrieren – auch in dem Moment, in dem zwischen der imperialen Macht und der lokalen Bevölkerung eine Übereinkunft zur eigenen Verwaltung (wie im Falle Serbiens nach der zweiten Revolution im Jahre 1818) einsetzt. Und hier setzt die Frage des Ich-Erzählers an: »Muß sie [die Verbrecher] nicht ein Jeder verurtheilen? Sie sind aus dem Gesellschaftsverband getreten, welcher unter dem Schutz des Gesetzes steht.«41 Die Antwort des moslemischen Schimins überrascht insofern, als dass er das Übel weder bei den ›Sozialbanditen‹, noch beim »Gesetz« sieht, als vielmehr bei den Machtvertretern: »Allah hat uns weise Gesetze […] gegeben, aber sie werden von seinen Vertretern falsch gehandhabt.« Wie sich aus dem weiteren Verlauf des Gesprächs schließen lässt, bezieht sich Schimins Kritik lediglich auf die lokalen Verwalter, aber weder auf die türkische Vorherrschaft, noch auf den Islam, dem nur der Okzident ›Verhinderung des Kulturfortschritts‹ 40 Vuk Karadžić: Srpski rečnik (Wien 1818), Belgrad 41935. Zit. nach Sundhaussen 2007 (wie Anm. 38), S. 54 f. Siehe auch Reinhard Lauer: Das Wüten der Mythen. Kritische Anmerkungen zur serbischen heroischen Dichtung. In: Reinhard Lauer, Werner Lehfeldt (Hg.): Das jugoslawische Desaster. Historische, sprachliche und ideologische Hintergründe, Wiesbaden 1995, S. 107–148. 41 Hier und die folgenden Zitate nach Karl May: Durch das Land der Skipetaren, Deutscher Hausschatz 11 (1885), S. 819. Der Wortlaut bleibt abgesehen von den Eindeutschungen arabischer und türkischer Begriffe, die noch jeweils in den Fußnoten verzeichnet werden, in der Fehsenfeld-Ausgabe gleich: In den Schluchten des Balkan, F 4, S. 67–75.

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unterstelle. Mit dieser differenzierten Haltung steht er nicht allein und verteidigt keineswegs nur eine spezifische moslemische Loyalität gegenüber der Pforte; auch die erste serbische ›Revolution‹ zwischen 1804 und 1813, wie sie Leopold Ranke in seiner viel beachteten Monografie 1844 beschreibt, richtet sich nur gegen die lokale Verwaltung, gegen die eigenmächtigen, so genannten Dahias, die Führer des militärischen Korps der Janitscharen. So bilden die politische Haltung Schimins in Karl Mays Darstellung und die historischen Ereignisse gut fünfzig Jahre zuvor keinen Widerspruch. Die Kritik Schimins richtet sich vor allem gegen den Anspruch der anderen Imperialmächte, sich in die innere Angelegenheiten des Osmanischen Reichs einzumischen, denn »[w]as würde der Amerikaly sagen, wenn der Türke zu ihm käme und spräche: Du mußt fort, denn dieses Land hat dem rothen Volk gehört? Er würde den Türken auslachen. Warum also soll dieser vertrieben werden?« Damit verortet der monologisierende Schimin die »Orientalische Frage« in einen größeren Kontext, auf den der Erzähler im Band  III des Orientzyklus genauer eingeht.42 Die Kolonisierung Asiens – von welcher der Schmied den »Nemtsche[n]« nach dem Einwand des Erzählers ausnimmt – wird als »ungeheurer Diebstahl« apostrophiert – »ausgeführt von dem Ingiliz und von dem Moskow«. Natürlich kann man eine solche Ausnahme aus der Kritik als Indiz zugunsten eines deutschen kolonialen Metadiskurses werten; doch – und das ist an dieser Stelle wichtig zu beobachten – sind die Einwände Kara Ben Nemsis in diesem Monolog Schimins dünn gesät. Die Bewunderung für die komplizierten Ausführungen des einfachen Mannes, das unpräzise »Ich könnte Dir in Manchem widersprechen« oder die durch den Fortgang der Handlung verhinderte Beweisführung dafür, dass die Ursache nicht außerhalb des Osmanischen Reichs in der Kolonialpolitik, sondern innerhalb des »Staatskörpers« zu suchen ist, sind als Indikatoren der Zustimmung vonseiten des Hauptprotagonisten zu werten. Denn auch die offizielle Politik des Deutschen Reichs gegenüber dem Osmanischen Reich, wie sie Bismarck leitet, unterstützt den Machtapparat des Sultans ganz im Unterschied zu Moskau.43 Die Anverwandlung der lokalen Verhältnisse durch den Deutschen geht weiter, was man bisher erst punktuell erwähnt hat. So bezeichnet sein letzter Name »Nemsi« im Arabischen weniger den Deutschen als in erster Linie den

42 »[…] Die orientalische Frage ist mir gar ein Greuel. Wer sie erst definieren kann, der mag sie danach lösen. […] Der Türke ist ein Mensch, und einen Menschen macht man nicht damit gesund, daß die Nachbarn sich um sein Lager stellen und mit Säbeln ein Stück nach dem andern von seinem Leibe hacken […].« III, S. 449 f. Nach Ekkehard Koch: »Was haltet Ihr von der orientalischen Frage?« Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund von Mays Orientzyklus. In: Sudhoff, Vollmer 1991 (wie Anm. 6), S. 64–82, hier S. 64. 43 Ebd., S. 67.

Karl May und seine Rezeption auf dem Balkan

Österreicher.44 Auch unterscheidet er im Laufe der ersten Erzählung des Orients, in Giölgeda padishanün (in der Fehsenfeld-Ausgabe Durch Wüste und Harem), zwischen »Nemtsche-schimakler« (»Norddeutsche«) und »Nemtsche-memleketler« (»Österreicher«), womit er andeutet, dass er die Deutschsprachigen im Sinne des Deutschen Bundes als Einheit denkt. Und obwohl der erste Name des Helden »Kara« als paronomastisches Spiel mit »Karl« zu verstehen ist, so schwingt die türkische Bedeutung des Worts »schwarz« ebenfalls mit. Am nächstliegenden ist wohl die Erklärung, dass sich Karl May damit an den serbischen Haiduken und Führer des ersten serbischen Aufstands anlehnt. Zumindest ist der Name »Karadjordje« (für den »Schwarzen Georg«, Djordje Petrović) den Deutschen seit Ranke ein Begriff. Dazu kommt, dass Schimin, der Schmied, erklärt, dass er beim Arbeiten »in Wiena-Betsch, in Budin-Peschte und in Beligrad« die »Ansichten genommen« habe bezüglich der imperialen Bevormundung des osmanischen Reiches. Er habe »gethan, wie man es in Euren Ländern thut«.45 Karl Mays Folie, auf der die Handlung spielt, zeichnet sich – entgegen seinen ›übercharakterisierten‹ Handlungsträgern – ganz bewusst durch ambivalente Bezeichnungen und Begriffe aus. Die Identifikation mit dem kolonialen ›Subject‹ durch den Deutschen Karl May macht sich die ambivalenten Zwischenformen bewusst zunutze. Die beiden Extreme, hier der deutsche Schriftsteller, dort der kolonialisierende Held, verbinden sich in undeutlichen Identitätsbegriffen: So impliziert, ja betont Deutschland das multiethnische Österreich-Ungarn, welches wie das Osmanische Reich nicht einfach türkisch, sondern bis hin zu den Haiduken, von einer ethnisch-religiösen Vielfalt gekennzeichnet ist. Die Ambivalenz, die bis heute in der May-Rezeption verstörend sein mag, ist das Grundmuster jeglicher identifikatorischer Muster auch von Seiten des Helden. Ihr topografisches Pendant ist der Balkan selbst; ihre Allegorie seine Kartografierung und die Diskurse über ihn. Karl May lässt sich mit seinen Figuren weder auf den angeblich nationalen Befreiungskampf noch auf die Legitimierung imperialer Gewalt ein, sondern markiert die problematischen Stellen, wo institutionelle Gewalt Gegengewalt hervorruft. So beginnen die Hausschatz-»Reise-Erinnerungen« Durch das Land der Skipetaren mit der Zweifelhaftigkeit der aufgezeichneten Topografie: »Die unter dem Scepter des Sultans befindlichen Länder gehören zu denjenigen, in welchen der Reisende zu seinem Leidwesen und vielleicht auch zu seinem Schaden sehr oft erfährt, daß die Karten, deren er sich nothwendiger Weise bedienen muß, nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen.«46 Wenn sich der Erzähler in der Folge auch über die Unzuverlässigkeit eines Werks aus dem Jahre mit dem Titel »Panorama 44 Darauf verweist bereits Berman 1996 (wie Anm. 4), S. 62. Im heutigen Arabisch bedeutet »Nimsa« »Österreich« und »Nimsawi« »Österreicher«, hingegen Almani »Deutscher« und Almanya »Deutschland«. 45 Durch das Land der Skipetaren, Deutscher Hausschatz 1885 (wie Anm. 41), S. 819. 46 Ebd.

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der europäischen Türkei«47 zu mokieren wagt, dann geht es ihm nicht nur um die Glaubwürdigkeit seiner eigenen Erzählung, sondern auch um den Wahrheitsgehalt jeglichen Narrativs und jeglichen Diskurses, welche einen Wirklichkeitsbezug behaupten. Dadurch wird der Balkan zum symbolischen Terrain, auf das – wie auf die humoristische unzuverlässige Erzählerstimme – kein Verlass ist. Es ist ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass auch die wilhelminische Reichspolitik komplizierter angelegt ist, als der Erzähler vom »Nemtschen« zu berichten weiß. Das literarische Erzählen unterwandert so jegliche eindeutige Kategorisierung und des jeweils eigenen kulturellen Hintergrunds. Die kontrapunktische Faktur der Erzählerstimme weiß auch von sich selber immer schon das Andere, die eigene schwarze Seite zu berichten. Und dazu gehört in Mays Orientzyklus die widersprüchliche Politik Österreich-Ungarns, auch wenn sie nur am Rande und implizit erwähnt wird.

47 Es handelt sich um das Werk mit dem ausführlichen Titel Gemälde der Europäischen Türkei. Ein Beitrag zur Länder- und Völkerkunde. Herausgegeben von Dr. Friedrich Ludwig Lindner, Weimar 1813. Vgl. dazu Michael Schmidt-Neke: Von Arnauten und Skipetaren. Albanien und die Albaner bei Karl May. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1994, S. 247–284.

Martina Baleva

Den männlichen Balkan gibt es nicht Überlegungen zum visuellen Balkanismus als bildgeschichtliche Kategorie

Einen männlichen Balkan – wie ihn Maria Todorova für textuelle Diskurse diagnostiziert hat – gibt es aus Sicht visueller Darstellungen nicht. Diese Feststellung ist Anlass, nach der geschlechtlichen Zuschreibung des Balkans in visuellen Bildern zu fragen und das Potenzial dieser Zuschreibung als mögliches Differenzkriterium zum visuellen Orientalismus auszuloten. Der Aufsatz ist ein Versuch, den Balkanismus als eigenständige visuelle Kategorie zu konzeptualisieren und ihn anhand gendertheoretischer Überlegungen vom visuellen Orientalismus abzugrenzen. Dabei wird argumentiert, dass der visuelle Balkanismus einen spezifischen Entwurf von Weiblichkeit im Unterschied zum Orientalismus hervorgebracht hat, der sich vom orientalistischen Typus jedoch nicht essenziell als vielmehr graduell unterscheidet.

Textueller und visueller Balkanismus In ihrer paradigmatischen Diskursanalyse Imagining the Balkans entlarvte Maria Todorova den ›Balkan‹ mitsamt den daraus abgeleiteten Begriffsderivaten ›Balkanisierung‹ und ›Balkanismus‹ als ein Konstrukt ›westlicher‹ Imagination.1 Der Balkan fungiere demnach als Negativfolie, vor der sich der ›Westen‹ abhebe, er sei das ›Andere‹ des europäischen Selbst, oder wie es die deutsche Übersetzung im Untertitel auf den Punkt bringt: »Europas bequemes Vorurteil«.2 Der Balkanismus – so die retrospektive Definition von Todorova in einer aktuelleren Publikation – drücke die Idee aus, dass Erklärungsansätze zum Phänomen Südosteuropa bzw. Balkan oft auf einem unerschütterlichen System aus Stereotypen beruhen, die den Balkan unabwendbar in eine kognitive Zwangsjacke stecken.3 Das 1 Maria Todorova: Imagining the Balkans, 2. überarbeitete Auflage, Oxford 2009 (1997). 2 Die deutsche Übersetzung erschien unter dem Titel: Die Erfindung des Balkans. Europas bequemes Vorurteil, Darmstadt 1999. 3 Maria Todorova: Balkanism and Postcolonialism, or On the Beauty of the Airplane View. In: Costica Bradatan, Serguei Oushakine (Hg.): Marx’s Shadow. Knowledge, Power, and Intellectuals in Eastern Europe and Russia, Lanham 2010, S. 175–196, hier S. 176.

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Gewebe dieser Zwangsjacke ist, wie Erik de Lange treffend schreibt, durchwirkt von stereotypen Metaphern, zu denen die der Region vermeintlich inhärenten Ambiguität und Instabilität gehören,4 gepaart mit notorischer Rückständigkeit, Primitivität und Armut. Den Begriff »Balkanismus« entwickelte Todorova als Hommage und in Anlehnung an Edward Said, der den »Orientalismus« als ein westliches Bild vom Orient dekonstruiert und als diskursives Instrumentarium kolonialer Bestrebungen beschrieben hat.5 Doch sei das analoge Begriffspaar Balkan – Balkanismus keine bloße Modifikation des Orients und des Orientalismus, sondern eine substanziell andere, mithin genuin eigenständige Analysekategorie.6 Um den Begriff historisch zu emanzipieren und vom Orientalismus-Begriff abzugrenzen, stellt Todorova mehrere Differenzkriterien auf, darunter historische, geografische und – was entscheidend für die hier dargelegte Argumentation ist: geschlechtsspezifische. Sie argumentiert, dass während der Orient »weiblich« konnotiert sei und damit auch Sexualisierung lediglich für den Orientalismus in Anschlag gebracht werden könne, der Balkan »männlich« gedacht wäre: »Im Gegensatz zum orientalistischen Diskurs, der das Objekt seines Interesses als weiblich metaphorisiert, ist der Balkan-Diskurs einzig und allein männlich.«7 In der Orientalismusforschung ist inzwischen vielfach konstatiert worden, dass der Orient mit Topoi wie Feminisierung und Sexualisierung in Verbindung gebracht wird und als Ort des passiven, unterlegenen und exotischen Anderen gilt. Seit dem 19. Jahrhundert ist das Image der verführerischen und hemmungslosen weiblichen Sexualität der ›Orientalin‹, deren imaginierter Ort der des geheimnisvoll anrüchigen Harems ist, ein konstitutiver Bestandteil der Vorstellung vom Orient. Sie ist Projektionsfläche und Fantasieprodukt des westlichen, weißen und bürgerlichen Mannes, der sie als Frau mit abweichendem sexuellen Verhalten imaginiert. Dieses macht sie zum Objekt seiner Begierde und den Orient zu dessen Refugium vor der fortschrittlichen Zivilisation, wo er seine Lust ungehindert von den Tabus der westlich-christlichen Moral ausleben kann.8 4 Erik de Lange: Balkanism as Historiography. Development of Debate and Discourse, ohne Ort und Jahr, S. 2 (Online-Publikation: https://www.academia.edu/8223481/Balkanism_as_ Historiography._Development_of_Debate_and_Discourse, letzter Zugriff: 10. Juni 2015). 5 Edward Said: Orientalism, New York 1978. 6 Todorova 2009 (wie Anm. 1), S. 7. 7 Todorova 2009 (wie Anm. 1), S. 15: »Unlike the standard orientalist discourse, which resorts to metaphors of its object of study as female, the balkanist discourse is singularly male.« Hervorhebung M.B. 8 Die feministische Orientalismus-Literatur ist inzwischen unüberschaubar geworden, hier seien nur einige einschlägige Titel genannt. Lila Abu-Lughod: Orientalism and Middle East Feminist Studies. In: Feminist Studies 27 (2001), S. 101–113; Meyda Yegenoglu: Colonial Fantasies. Towards a Feminist Reading of Orientalism, Cambridge 1998; Reina Lewis: Gendering Orientalism: Race, Femininity and Representation, London u. a. 1996; Laura Nader:

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Obwohl Todorova ihre These vom »männlichen« Balkan ausschließlich auf der Analyse von Textdiskursen stützt, zieht sie im Falle der geschlechtsspezifischen Abgrenzung zum Orient eine Aussage der beiden türkischen Kunsthistorikerinnen Semra Germaner und Zeynep Inankur über die visuelle Dimension des Orientalismus als Beispiel heran.9 »Scenes of harems, baths, and slave markets were for many Western artists a pretext by which they were able to cater to the buyer’s prurient interest in erotic themes. [...] Such pictures were, of course, presented to Europeans with a ›documentary‹ air and by means of them the Orientalist artist could satisfy the demand for such paintings and at the same time relieve himself of any moral responsibility by emphasizing that these were scenes of a society that was not Christian and had different moral values.«10 Es ist offenbar gerade die Malerei, in der sich die »Weiblichkeit« des Orients als verdichteter Diskurs und als zentrales Thema des Orientalismus manifestiert.11 Indessen habe der Balkan gerade aufgrund seiner geografischen und historischen Konkretheit, die einer artifiziellen Einbildungskraft im Wege stehe, kaum eine romantisierte Überhöhung und damit eine weibliche Metaphorisierung seiner Darstellungen erfahren. Mit Ausnahme der kurzlebigen Enthusiasmusbekundungen gegenüber der Region seitens westlicher Philhellenisten und mitteleuropäischer Panslawisten in den 1820er und 1860er Jahren entbehre die Region jegliche sexualisierte, mithin weibliche Konnotation.12 Unabhängig davon, dass Sexualisierung nicht allein der Repräsentation des weiblichen Geschlechts vorbehalten ist, sondern dass auch das Maskuline sexualisiert werden kann, wie weiter unten gezeigt wird, ist das Fazit von Todorova kurz und bestimmt: Der Balkan habe eine ausgeprägt männliche Ausstrahlung. Und diese sei stets negativ konnotiert: »It is a distinctly male appeal: the appeal of medieval knighthood, of arms and plots. [...] In practically every description, the standard Balkan male is

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Orientalism, Occidentalism, and the Control of Women. In: Cultural Dynamics 2 (1989), S. 323–355. Linda Nochlin: The Politics of Vision, London 1991. Mit der Dekolonisierung des Orients und verstärkt seit den Anschlägen auf das World Trade Center geht eine Änderung der Vorstellung von einer freizügigen Sexualität einher. Die Sexualität der islamischen Frau wird zunehmend als kontrolliert imaginiert und dargestellt. Siehe dazu etwa Neil MacMaster, Toni Lewis: From vieling to hypervieling. In: European Studies 18 (1998), S. 121–135. Todorova 2009 (wie Anm. 1), S. 13. Semra Germaner, Zeynep Inankur: Orientalism and Turkey, Istanbul 1989, S. 42. Die kunsthistorische Literatur zum Orientalismus ist wie die feministische OrientalismusLiteratur ebenfalls überbordend und kann hier nur beispielhaft genannt werden. GérardGeorges Lemaire: Orientalismus. Das Bild des Morgenlandes in der Malerei, Hagen 2005; Nicholas Tromans (Hg.): The Lure of the East: British Orientalist Painting, London 2008. Eher unkritisch Roger Diederen, Davy Depelchin (Hg.): Orientalismus in Europa. Von Delacroix bis Kandinsky, München 2010. Todorova 2009 (wie Anm. 1), S. 14.

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uncivilized, primitive, crude, cruel, and, without exception, disheveled.«13 Diese These illustriert Todorova unter anderem mit einem, dem einzigen in ihrem Buch konkret genannten visuellen Beispiel zur »männlichen« Konstruktion des Balkans. Es ist die entsetzenerregende Fotografie eines bärtigen makedonischen Freischärlers, der mit zwei abgetrennten, ebenfalls bärtigen Köpfen posiert, publiziert vom britischen Offizier in der serbischen Armee Herbert Vivian im Jahr 1904.14 Dieses Schreckensbild vom Balkan, vom balkanischen Mann zumal, der als Inkarnation des brutalen Wilden repräsentiert wird, sei allerdings eine Ausnahme. Denn Schock, Horror und Sexualität seien sonst allein Topoi der bildlichen Darstellung des Orients. Eine endgültige Absage an das Visuelle als Teil des Balkanismus-Diskurses erteilt Todorova in ihrer Feststellung, das spezifisch wertende Denken über den Balkan sei hauptsächlich in politischen und journalistischen Texten präsent und über sie verbreitet. Diese seien die entscheidenden Kanäle, durch welche die stereotypen Vorstellungen vom Balkan Eingang in das westliche Bewusstsein gefunden hätten.15 In meiner Studie zur Erfindung der Balkannationen in der Kunst des 19. Jahrhunderts konnte ich aufzeigen, dass Malerei und die reproduzierenden visuellen Medien einen ganz entscheidenden Anteil an der Konstruktion und Verbreitung eines negativen Balkanbildes hatten, noch bevor der Begriff »Balkanismus« zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Umlauf kam.16 Dass sich dieses 13 Ebd. 14 Herbert Vivian: The Servian tragedy, with some impressions of Macedonia, London 1904. Das Bild mit dem Titel »Macedonian brigands«, dessen Autor unbekannt ist, findet sich im Kapitel über Brigandage, S. 253–267, Tafel XVII. Es ist in Verbindung mit der sogenannten SimottaAffäre entstanden, die sich im Jahr 1899 in Klisura ereignet hat. Dabei wurde der reiche Klisurer Dorfpotentat Simos Simottas von der berüchtigten Freischärlerbande Alexis Karalivanos’ entführt, um gegen hohes Lösegeld freigekauft zu werden. Der osmanischen Polizei gelang es jedoch, die Bande frühzeitig zu zerschlagen und zwei ihrer Mitglieder zu enthaupten. Ein weiteres Mitglied musste schließlich mit beiden Köpfen vor der Kamera posieren. Das Bild gehört zu einer Reihe von Fotos mit ähnlicher Ikonografie, die in der Zeit sehr populär waren. Sie wurden als Postkarten verbreitet oder zierten die Titelseiten von europäischen illustrierten Zeitschriften wie der prominenten französischen L’Illustration, der deutschen Berliner Illustrirten Zeitung oder der populären La Vie Illustrée. Vieles spricht dafür, dass es sich bei den Vorlagen, die zum Teil im Fotostudio entstanden sind, um Aufnahmen der lokalen osmanischen Polizei handelt. Damit ist diesen Bildern der offizielle Blick der osmanischen Lokalgewalt auf den Makedonischen Aufstand eingeschrieben. Siehe zum Bildkorpus Edhem Eldem: Powerful Images – The Dissemination and Impact of Photography in the Ottoman Empire, 1870–1914. In: Zeynep Çelik, Ders. (Hg.): Camera Ottomana. Photography and Modernity in the Ottoman Empire. 1840–1914, Istanbul 2015, S. 106–153, hier S. 121 ff., sowie die entsprechenden Abb. 13–20. 15 Todorova 2009 (wie Anm. 1), S. 18. 16 Martina Baleva: Bulgarien im Bild. Die Erfindung von Nationen auf dem Balkan in der Kunst des 19. Jahrhunderts, Wien u. a. 2012. Zum erstmaligen Gebrauch des Begriffs siehe Todorova 2010 (wie Anm. 3), S. 176.

Überlgungen zum visuellen Balkanismus

Bild vor allem der unablässigen Darstellung ausgerechnet von skandalträchtigen Motiven verdankt, war eine der Schlussfolgerungen aus der Analyse sowohl von Werken der Malerei als auch einer Reihe populärer Bilder westlicher Provenienz. Mit der geschlechtlichen Konnotation des Balkans habe ich mich damals zugegebenermaßen nur vereinzelt beschäftigt, obwohl oder gerade weil die zahlenmäßige Überpräsenz von Frauendarstellungen für mich ein offensichtlicher Indikator dafür war, dass in Bildern der Balkan mehrheitlich als weiblich repräsentiert wird. Damit stellt sich die Frage, ob die These vom ›männlichen‹ Image des Balkans einer Überprüfung aus Sicht des Bildlichen standhalten kann. Existiert also ein Charakteristikum des visuellen Balkanismus im Unterschied zur textuellen Bestimmung des Begriffs als ›weiblich‹? Und lassen sich die visuellen Diskurse Balkanismus und Orientalismus anhand geschlechtsspezifischer Zuschreibung voneinander abgrenzen, wie dies für die textuellen Diskurse in Anschlag gebracht worden ist? Über einen visuellen Balkanismus in Anlehnung an den visuellen Orientalismus ist meines Wissens bislang nicht nachgedacht worden. Folgende Ausführungen sind ein erster Versuch, den Balkanismus als einen eigenständigen visuellen Diskurs zu konzeptualisieren.17 Eine entscheidende Frage dabei ist, ob bildliche Darstellungen vom Balkan einen spezifischen Entwurf von Weiblichkeit im Unterschied zum Orientalismus aufweisen. Die Antwort darauf wird helfen, beide Diskurse voneinander abzugrenzen. Meine These lautet, dass der visuelle Balkanismus ebenso wie der Orientalismus einen bestimmten Typus von Weiblichkeit entworfen hat. Doch die Frage nach dem Unterschied zwischen den beiden Entwürfen ist keine Frage nach der Essenz, sondern nach dem Grad. Mit »visuellen Balkanismus« bezeichne ich einen westlichen Diskurs der Dominanz, der über visuelle Bilder geführt wird. Darunter verstehe ich das gesamte ›westliche‹ System von Bildmedien und Visualität, die an der Konstruktion, Distribution und Wahrnehmung eines vergeschlechtlichten und ethnifizierten Balkanbildes beteiligt waren und sind: von den klassischen bildenden Künsten wie Malerei, Druckgrafik, Zeichnung sowie Skulptur und den neueren Kunstmedien wie Video, Installation und Performance bis hin zu den reproduktiven Massenmedien wie dem Holzstich der frühen Presseillustration, Fotografie, Postkarte, Film etc. Im Folgenden beschränke ich mich jedoch auf mustergültige Beispiele der Malerei aus dem 19. Jahrhundert, wiewohl sich diese durch eine Reihe inhaltlicher Merkmale auszeichnen, die bis heute nichts an ihrer Gültigkeit eingebüßt haben und die ich 17 Den Begriff des »visuellen Balkanismus« habe ich in zwei aufeinander folgenden Vorlesungen zum »Balkanismus in der Kunst- und Bildgeschichte des 19. Jahrhunderts« im Herbstsemester 2014 an der Universität Bern und im Frühjahrssemester 2015 an der Universität Basel entwickelt. Zum komplementären Phänomen einer genuin visuellen Kultur des Balkans siehe Karl Kaser: Andere Blicke. Religion und visuelle Kulturen auf dem Balkan und im Nahen Osten, Wien u. a. 2013.

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deshalb als konstitutiv für den visuellen Balkanismus ansehe. Dazu gehören vor allem die konkrete Zeitlichkeit und Topografie der dargestellten Ereignisse sowie deren Gewaltcharakter und spezifische Sexualisierung, die ich an zwei Gattungen – der Historienmalerei und der Allegorie – erörtern möchte.

Massaker als sexualisierter Topos des visuellen Balkanismus Der Beginn des visuellen Balkanismus geht ausgerechnet auf ein Werk zurück, das eigentlich zu den Ikonen des Orientalismus gehört und bislang auch unter diesem Rubrum verhandelt worden ist: Eugène Delacroix’ »Das Massaker von Chios« aus dem Jahr 1824 (Abb. 1). Das monumentale Gemälde des französischen Romantikers bezieht sich auf jenes Ereignis, das zum emblematischen lieu de mémoire der fast zehn Jahre anhaltenden griechischen Unabhängigkeitsbewegung werden sollte, an dessen Ende der erste Nationalstaat auf dem Balkan gegründet wurde. Nach einer Attacke von griechischen Freischärlern im April 1822 führte die osmanischen Armee auf der damals noch zum Osmanischen Reich gehörenden Insel Chios eine Bestrafungsaktion durch, bei der mehrere Tausend Menschen ermordet oder in die Sklaverei verschleppt worden sind. Den vorläufig letzten Höhepunkt des visuellen Balkanismus im 19. Jahrhundert markiert ein Historiengemälde, das wiederum ein Massaker auf dem Balkan zum Gegenstand hat: »Das Massaker von Batak« des polnischen Malers Antoni Piotrowski von 1892 (Abb. 2). Die blutige Niederschlagung des bulgarischen Aufstandes von 1876 durch irreguläre osmanische Truppen, nach der in Batak die meisten Opfer zu beklagen waren, zählt zu den Gründungsmythen der 1878 aus der Abspaltung vom Osmanischen Reich hervorgegangenen bulgarischen Nation.18 Beide Werke markieren nicht nur zeitlich Auftakt und Ausklang der ›klassischen‹ Balkanismus-Malerei, sondern auch diskursiv das gesamte visuelle Feld des Balkanismus, das unabhängig von der thematischen Vielfalt und dem visuellen Medium stets auf eine Gewalttat mit konkreter Zeitlichkeit und Topografie rekurriert. Das Massaker bildet dabei jeweils den extremsten Gegenstand im Arsenal visueller Balkandarstellungen. Das Massaker wird jedoch nicht zum archetypischen Ereignis national-mythologischer Provenienz überhöht, sondern als real stattgefundener, zeitgenössischer Gewaltakt geschildert. Obwohl Delacroix den von ihm gemalten Schauplatz nicht aus eigener Anschauung kannte und insofern zu den ›Zimmerbalkanisten‹ zu zählen ist, war er sichtlich bemüht, den Körpern und Gesichtern seiner Bildfiguren neben den von der Kunstgeschichte oft betonten psychologisierenden Zügen wie Erschöpfung, 18 Siehe dazu Martina Baleva, Ulf Brunnbauer (Hg.): Batak – ein bulgarischer Erinnerungsort/ Batak kato mjasto na pametta, Sofia 2007.

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Abb. 1:  Eugène Delacroix, Das Massaker von Chios, 1824, Öl auf Leinwand, 419 × 354 cm, Paris, Musée National du Louvre.

Abb. 2:  Antoni Piotrowski, Das Massaker von Batak, 1892, Öl auf Leinwand, 183 × 283 cm, Sofia, Nationalgalerie für Ausländische Kunst, Foto: Todor Mitov 2007.

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Qual und Leid auch ein ethnisches und rassisches, mithin ›griechisches‹ Aussehen zu verleihen.19 Es sind gerade die Rasse und die Ethnizität und weniger das Geschlecht oder das Setting, die sich bei Delacroix für die Authentizität und Aktualität seiner Darstellung verbürgen, um zugleich zu Chiffren der Andersartigkeit der Griechen kodiert zu werden. Im »Massaker von Chios« fungieren männliche wie weibliche Körper als Träger solch ›realistischer‹ Merkmale, und es ist das Zusammenspiel von Bekleidetsein und Nacktheit, welche Rasse und Ethnizität, aber auch Religion der Bildprotagonisten anzeigen.20 Während spezifische Kleidung und Attribute wie etwa die rote Kappe, der griechische Farion, oder der Turban, welche die männlichen Figuren tragen, die ethnische und religiöse Differenz zwischen Griechen und Muslimen markieren, sind dunkleres Inkarnat und schwarze Haarpracht sichtliche Merkmale rassischer, mithin balkanischer Alterität. Die auf dem Boden kauernden Griechen werden unabhängig von ihrem Geschlecht allesamt sexualisiert dargestellt. Doch sind ihre Körper nicht intakt, sondern von Gewalt gezeichnet und somit versehrt. Ob Geliebte oder Schwester, Mutter oder Greisin – sie alle sind halb oder ganz entblößt mit teilweise oder gänzlich zerrissenen Kleidern als Zeichen sexueller Gewalt. Aber auch der in der Mitte sich dem Blick geradezu lasziv darbietende männliche Körper, der mit seiner blutenden Seitenwunde an den aufgebahrten Christus gemahnt und mit seiner deutlich dunkleren Hautfarbe und dem bärtigen Gesicht jedoch ›griechische‹ Züge trägt, ist hochgradig homoerotisch aufgeladen. Die prekäre Grenze zwischen Gewalt und Sexualität wird jedoch in keiner anderen Figur so sichtbar wie in dem von einem muslimischen Reiter verschleppten Frauenkörper am rechten Bildrand. Seine vollkommene Nacktheit und die gefesselten Hände sind unmissverständliche Chiffren sexueller Gewalt, die für die Unterwerfung der als weiblich konnotierten Griechen unter dem männlich gedachten Islam steht. Noch handelt es sich bei der entführten Frau sprichwörtlich um eine Randfigur in diesem frühen Werk der Malerei des Balkanismus. Doch sollte diese im Zuge der sich formierenden panslawistischen Bewegung zum zentralen Topos des visuellen Balkanismus werden. Darauf wird abschließend noch einmal zurückzukommen sein.

19 Als »Zimmerbalkanist« bezeichne ich in Anlehnung an den »armchair orientalist«, den Zimmerorientalisten, jene Künstler und Bildermacher, die den Balkan nicht aus eigener Anschauung kannten. Neben Delacroix gehört hierzu etwa der britische Maler und Illustrator Richard Catoon Woodville, der vor allem eine Reihe an suggestiven Vorlagen für Holzstiche der illustrierten Presse geschaffen hat, die den Balkan zum Thema haben. 20 Joan Delplato: Dress and Undress: Clothing and Eroticism in Nineteenth-Century Visual Representations of the Harem. In: Marilyn Booth (Hg.): Harem Histories: Imagining Places, Living Spaces, Durham 2010, S. 261–289, verweist auf die Interferenz zwischen Bekleidetsein und Nacktheit als Chiffren der Differenz in der Konstruktion des ›orientalischen‹ Körpers.

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Während Delacroix mit seinem Massaker-Bild auf die Darstellung von extremen menschlichen Zuständen und Affekten zielt, zeugt Piotrowskis Gemälde von forensischer Sachlichkeit und emotionaler Distanz zum Gewaltakt. Anders als Delacroix war der Pole ein Kenner der Region und zudem ein Künstler mit wissenschaftlichem Anspruch. Er begab sich persönlich an den Tatort, sprach selbst mit den Überlebenden des Massakers und ließ diese nicht zufällig vor dem fotografischen Apparat posieren, um gewissermaßen objektivierbare Vorlagen mit belastbaren Daten für sein Gemälde zu schaffen.21 Das Vorgehen von Piotrowski ist das des Ethnologen auf Feldforschung, der zugleich gewissenhafter Historiker und investigativer Journalist ist.22 Ganz im Sinne des Historismus konnte er allein auf diesem Weg ein glaubwürdiges Historienbild des Massakers entwerfen. Ein wichtiger Teil dieses Wahrheitsanspruches, wie Joan Delplato für Werke des Orientalismus feststellt, bestand in der Repräsentation von Informationen und Wissen, die für die Augenzeugenschaft des Autors und damit für die Objektivität seiner Darstellung bürgen.23 Sein Wissen über Schauplatz und Tathergang des Massakers von Batak demonstriert Piotrowski in der Wiedergabe des topografischen Terrains und einiger Figuren, die er geradezu unverändert von seinen fotografischen Vorlagen auf die Leinwand überträgt. Ebenso wichtig ist die ethnografische Akribie, mit der die Gruppe der muslimischen Täter dargestellt ist, die genauso gut Studienobjekte der männlichen Kleidungssitten auf dem Balkan hätten sein können. Neben den toten, lediglich in weiße Gewänder gehüllten Frauenkörpern, die jegliche ethnische Merkmale entbehren, hebt sich die ethnografische Schilderung und damit die Ethnizität und Konfession der Täter als Essenz der Gewalt umso deutlicher ab. Exotische Kleidung, Turban und Kopftuch fungieren hier nicht nur als positivistische Chiffren, welche die Authentizität der Szene garantieren. Sie suggerieren zugleich die Andersheit des balkanischen Setting und ethnisieren gleichsam die Gewalt an den Frauen, die einer ganzen Ethnie und Religion, nämlich den ›Türken‹ überantwortet wird. Die auf dem Boden liegenden, teilweise entblößten oder gänzlich nackten weiblichen Leichen, allesamt hellhäutig, jung und schön, mit zerrissenen Kleidern, tragen unmissverständliche Zeichen von Vergewaltigung. Manche Körper sind gar gefesselt oder enthauptet, sodass sich das Morbide mit sadomasochistischen Assoziationen mischt. Die 21 Ausführlich zur Genese und Interpretation des Gemäldes siehe Martina Baleva: Das Bild von Batak im kollektiven Gedächtnis der Bulgaren. In: Baleva, Brunnbauer 2007 (wie Anm. 20), S. 33–47. 22 Piotrowski war neben seiner Tätigkeit als Historien- und Genremaler auch Zeichnerkorrespondent für eine Reihe europäischer illustrierter Zeitungen. Siehe dazu Baleva 2012 (wie Anm. 16), S. 167 f., sowie den Aufsatz von Dimităr G. Dimitrov: Antoni Piotrowski als Maler und Reporter. In: Baleva, Brunnbauer (wie Anm. 18), S. 56–69. 23 Joan Delplato: Multiple Wives, Multiple Pleasures: Representing the Harem, 1800–1875, London u. a. 2002, S. 25.

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vergewaltigten und verstümmelten Frauenleiber stehen metonymisch für den kollektiven Körper der Bulgaren, der als weiblich und als durch den Islam missbraucht repräsentiert wird. Es ist die explizite Darstellung und ostentative Veranschaulichung von sexueller Gewalt, die beide Massaker-Bilder auszeichnet und zugleich von Werken des Orientalismus mit ihrer Darstellung von als Erotik deklarierter und damit impliziter sexueller Gewalt unterscheidet. Während im visuellen Balkanismus Sexualität in das Narrativ der rohen Gewalt eingebettet ist, deren Ort das Massaker ist, ist im visuellen Orientalismus Sexualität in das Narrativ der liebreizenden Erotik eingebunden, deren Ort der Harem ist. Damit werden dem Balkan und dem Orient auch unterschiedliche topografische Eigenschaften zugeschrieben. So steht der Harem für den segregierten, homogenen und geordneten Raum, der klar umrissen, von der Außenwelt abgeschirmt und somit intim, sicher und exklusiv ist. In Repräsentationen des Harems ist der Ort allein den Frauen vorbehalten, dort fehlt der männliche Protagonist. Seine Anwesenheit und Kontrollfunktion ist gerade durch seine Abwesenheit markiert. Reina Lewis merkt an: »As in Orientalist discourse, where the harem women’s existence centers around the absent and controlling man, Orientalist paintings are organized by the needs of the absent and controlling Western viewer.«24 Deshalb zeichnen sich Darstellungen des Harems zumeist durch Passivität aus und die darin situierten weiblichen Körper interagieren nur selten untereinander, so dass sich der Ort ›orientalischer‹ Sexualität uns als ein eingefrorenes Tableau erotischer Projektionen darbietet.25 Der Ort des Massakers hingegen ist das offene Schlachtfeld, chaotisch, heterogen und ohne feste Umrisse. Es ist ein unsicherer, verwüsteter, trostloser Ort, an dem das Weibliche der männlichen Gewalt schutzlos ausgeliefert ist. Massakerszenen sind umso mehr durch Aktivität gekennzeichnet und degradieren die dem Balkan zugeschriebene Sexualität zur bloßen triebhaften Interaktion. Für die Repräsentation eines sexualisierten Balkans ist die Anwesenheit des Mannes deshalb konstitutiv. Die Existenz der vergewaltigten Frau wird gerade in der Sichtbarkeit und gewaltsamen Unterwerfung durch den Mann bezeugt, der zugleich Abgrenzungsobjekt für den westlichen Betrachter ist. Was den sexualisierten ›weiblichen‹ Körper des Balkans schließlich von jenem des Orients unterscheidet, ist dessen Versehrtheit im Gegensatz zum intakten, mithin idealen Frauenkörper der ›Orientalin‹.26

24 Lewis 1996 (wie Anm. 8), S. 112. 25 Ebd. 26 Zum Begriff des versehrten Körpers siehe Irmela Marei Krüger-Fürhoff: Der versehrte Körper. Revisionen des klassizistischen Schönheitsideals, Göttingen 2001.

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In ihrer Studie zur Repräsentation des Harems in England und Frankreich hat Joan Delplato auf den nationalen Unterschied in der Interpretation des Motivs hingewiesen. Während französische Darstellungen einen ausgesprochen erotischen Charakter aufweisen würden, lägen englische Künstler den Schwerpunkt auf die Wissenschaftlichkeit der Darstellung. Erstere – so die These Delplatos – seien an der Fetischisierung des weiblichen Körpers, des ihn umgebenden Luxus, mithin an dem Sinnlichen interessiert. Die ›wissenschaftlichen‹ Harem-Darstellungen indessen würden die handwerkliche Perfektion und Präzision in der Wiedergabe betonen, die eng an die mimetische Leistung der Fotografie, aber auch an die Ethnografie geknüpft sei.27 Diese stilistische Unterscheidung lässt sich auf die Darstellungen des Massakers als sexualisierter Topos des visuellen Balkanismus übertragen. Delacroix’ Bildfindung ist der sinnlichen Interpretation verpflichtet, während Piotrowski als Vertreter einer verwissenschaftlichten bzw. ethnografischen Ästhetik verstanden werden kann. Im visuellen Balkanismus verdankt sich diese stilistische Unterscheidung allerdings weniger nationalen Eigenheiten als vielmehr zeitlichen Entwicklungen. Als Romantiker bemüht sich Delacroix um die Darstellung eines möglichst breiten Spektrums von extremen physischen und psychischen Gefühlen samt sämtlichen erotischen Obertönen. Piotrowskis Massakerdarstellung steht dagegen im Zeichen des ästhetischen Positivismus der historistischen Malerei mit ihrem Projekt der mimetischen Nachahmung, in der der Balkan als pathologischer Fall von Sexualität geschildert wird. Unabhängig von solchen stilistischen Dichotomien und historischen Unterschieden haben Darstellungen des Massakers eines gemeinsam, das den visuellen Balkanismus auszeichnet: In den westlichen Entwürfen des Balkans geht es nicht um versöhnende Sinnstiftung, sondern um das leidvolle Scheitern durch rohe Brutalität, das im Motiv des Massakers seinen Niederschlag findet. Was dem Massaker seine spezifisch ›balkanischen‹ Züge verleiht, ist dessen Repräsentation als sexueller Gewaltakt. İrvin Cemil Schick hat darauf hingewiesen, dass in westlichen Berichten und Repräsentationen von nationalen Konflikten auf dem spätosmanischen Balkan eine auffällige Verschränkung von Sexualität und Gewalt zu beobachten ist.28 Ihm zufolge fußen visuelle wie literarische Darstellungen von Konflikten in der Region auf der Grundlage einer bereits existierenden kulturellen Matrix aus geschlechtlichen und sexuellen Stereotypen, die für die Ziele westlicher politischer Agenden – insbesondere im Philhellenismus – mobilisiert wurden.29 Die ständige Aktualisierung dieser Matrix lässt sich für die panslawische Sache seit den 1860er Jahren, für die bulgarische Causa im Fall der »Bulgarian Horrors«, 27 Delplato 2002 (wie Anm. 23), S. 25. 28 İrvin Cemil Schick: Christian Maidens, Turkish Ravishers: The Sexualization of National Conflict in the Late Ottoman Period. In: Amila Buturović, Ders. (Hg.): Women in the Ottoman Balkans. Gender, Culture and History, London u. a. 2007, S. 273–305. 29 Ebd., S. 273, 295.

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später für den Aufstand in Makedonien 1903 und sodann – wiewohl unter umgekehrtem Vorzeichen – für die Jugoslawien-Kriege der 1990er Jahre beobachten.

Die vergewaltigte Frau als sexualisierter Typus des visuellen Balkanismus Die explizite Darstellung von sexueller Gewalt und der versehrte weibliche Körper spielen in der Allegorisierung der Balkanvölker eine zentrale Rolle. Eines der geläufigsten allegorischen Verfahren in der bildenden Kunst ist das der Personifikation, die der Verkörperung von abstrakten Begriffen, Ideen und Idealen zumeist durch weibliche Figuren bedarf.30 Der allegorische Körper transportiert neben dem Konzept von Weiblichkeit auch solche von Rasse und Ethnizität sowie Raum- und Wertvorstellungen, wie in den Ausführungen zum Motiv des Massakers deutlich wurde. Dies gilt im gleichen Maße für die allegorische Repräsentation der Völker des Balkans, deren Personifizierung stets über die Darstellung von weiblichen Körpern erfolgte. So wird dem Balkan in visuellen Darstellungen das Geschlecht des allegorischen Körpers eingeschrieben und dieses ist allein weiblich. Die allegorischen Repräsentationen der Balkanvölker stehen damit ganz in der Tradition von Allegorien ihrer westlichen Pendants wie der Germania, Britannia, Francia (Marianne), Austria oder Helvetia, die allesamt als weibliche Personifikationen konzipiert sind. Auch Griechenland, Herzegowina, Montenegro und Bulgarien haben alle ihre visuellen allegorischen Entsprechungen als weibliche Körper von Seiten westlicher Künstler erhalten. Doch ist da ein entscheidender Unterschied: Die weibliche Allegorie eines jeden Balkanvolkes ist keine apollinische und majestätische Frauengestalt, die selbstbewusst und stolz ihre Nation verkörpert wie der walkürenhaft wehrhafte Typus der Germania, die phallisch konnotierte Freiheit der Vereinigten Staaten oder die französische Marianne, die als feierlich drapierte Frau mit Helm und Schild an die antike Minerva gemahnt.31 Sie ist auch nicht jene kämpferische, dynamische, mithin emanzipierte Frauengestalt von Eugène Delacroix, der die Französische Republik als dionysische Freiheitsallegorie mit entblößter Brust, phrygischer Mütze, Fahne und Flinte entwarf.32

30 Siehe dazu Sigrid Schade et al. (Hg.): Allegorien und Geschlechterdifferenz, Köln u. a. 1994. 31 Zu Germania siehe etwa Bettina Brandt: Germania und ihre Söhne: Repräsentationen von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne, Göttingen 2010. Zur Freiheitsstatue siehe den erhellenden Aufsatz von Margaret Iversen: Monuments, Maidens and Memory. Der Fall der Freiheitsstatue. In: Schade et al. 1994 (wie Anm. 30), S. 127–136; Zur französischen Marianne siehe die einschlägige Studie von Maurice Agulhon: Marianne into Battle. Republican Imagery and Symbolism in France. 1789–1880, Cambridge 1981. 32 Iversen 1994 (wie Anm. 31), S. 128.

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Abb. 3:  Eugène Delacroix, Das sterbende Griechenland auf den Trümmern von Messolunghi, 1826, Öl auf Leinwand, 209 × 147 cm, Bordeaux, Musée des Beaux-Arts.

Nina Athanassoglu hat gezeigt, dass Delacroix’ »Freiheit« formal und inhaltlich der kurz zuvor entstandenen Allegorie Griechenlands entstammt,33 doch hat der französische Maler die balkanische Volksallegorie als das ›Andere‹ des europäischen Selbst entworfen und damit die ›weiblich‹ Andere mit der ›ethnisch‹ Anderen 33 Nina Athanassoglou-Kallmyer: Delacroix zwischen »Griechenland« und »Die Freiheit«. Anmerkungen zur politischen Allegorie im Frankreich der Restaurationszeit. In: Stefan Germer, Michael Zimmermann (Hg.): Bilder der Macht. Macht der Bilder. Zeitgeschichte in Darstellungen des 19. Jahrhunderts, München u. a. 1997, S. 257–266. Die Autorin stützt ihre These auf die Untersuchung von Hélène Toussaint, die den Ursprung beider Bilder auf eine Serie von Zeichnungen zum griechischen Aufstand aus den Jahren 1821/22 zurückführt. Diese gemeinsame Quelle verdeutlicht nach Athanassoglou den formalen und inhaltlichen Zusammenhang zwischen beiden Allegorien, wobei die »Freiheit« als Erweiterung von »Griechenland« zu verstehen ist.

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verknüpft.34 Zwar tritt uns »Das sterbende Griechenland auf den Trümmern von Missolonghi« (Abb. 3) noch als würdige, jedoch vergewaltigte Frau entgegen, deren verzweifelte Lage ihr ins tränenüberströmte Gesicht geschrieben steht und in der entblößten Brust als Zeichen sexueller Gewalt zum Ausdruck kommt. Die junge, schöne und hellhäutige Frau in volkstümlich ›griechisch‹ anmutender Tracht, mit dunklen Augen und Haaren kniet auf den antiken Ruinen, unter denen menschliche Gliedmaßen begraben liegen. Es ist der Arm eines Mannes, der nicht mehr in der Lage ist, seine Frau vor der Vergewaltigung, mithin sein Volk und Territorium vor der gewaltsamen Penetration zu verteidigen. Mit ihren ausgestreckten Armen verweist die weibliche Figur auf ihre Not und fleht um Rettung, doch haftet dieser Geste eine Ambivalenz an, die zwischen Hilferuf und Hingabe changiert. Vom Siehe-her-Aufruf zur Nimm-mich-Aufforderung ist es nur ein schmaler Grad und beide richten sich an den ›Westen‹, der durch die Blickrichtung der Frau suggeriert wird. Ihre Augen sind nach links gerichtet, dahin, wo der eurozentrischen Kartografie zufolge sich auch der geografische Westen befindet.35 Von dort erhofft sich die schutzlose Griechin Befreiung vom ›orientalischen‹ Despotismus, der sich rechts von ihr und damit im Osten über die demolierten Stadtmauern Missolonghis als schwarzhäutiger Mann mit Turban, Kaftan und Pluderhosen erhebt. Hautfarbe und Kleidung sind auch hier Differenzmarker von Rasse und Ethnizität, die jeweils dem vergewaltigenden männlichen und dem geschändeten weiblichen Körper eingeschrieben sind. Mithin wird die Unabhängigkeitsbewegung der Griechen gegen die Osmanen als sexuelle Dominanz des männlichen über das weibliche Geschlecht repräsentiert, wenngleich Delacroix den eigentlichen Vergewaltigungsakt der Imagination des Betrachters überantwortet. Die allegorischen Körper der slawischen Balkanvölker sind ebenfalls weiblich, jedoch in explizite Szenen von Entführung und Vergewaltigung eingebunden, die an der Grenze zur visuellen Ethnopornografie angesiedelt sind.36 Nach Christian 34 Hingewiesen auf diese Verknüpfung haben Sigrid Schade, Monika Wagner, Siegrid Weigel: Allegorien und Geschlechterdifferenz. Zur Einführung. In: Dies. 1994 (wie Anm. 30), S. 1–10, hier S. 6. 35 Die ideologische Rhetorik des Gemäldes bekommt im Augenblick, als dieser Aufsatz niedergeschrieben wird, eine bemerkenswerte Aktualität im Zuge der sich zuspitzenden Griechenlandkrise, wiewohl der aktuelle politische Diskurs durch den Rollentausch der Geschlechter gekennzeichnet ist. Siehe etwa den Artikel mit dem selbstredenden Titel Alexis und Angela. In: Der Spiegel 26/20. Juni 2015, S. 16–23, verfasst von Julia Amalia Heyer, Katrin Kuntz, René Pfister, Mathieu von Rohr und Christoph Schult. Die Autoren beschreiben das Verhältnis zwischen Griechenland und Deutschland als einen sozial ungleichen Flirt zwischen einem armen Mann (Alexis Tsipras) und einer reichen Frau (Angela Merkel). Während die griechische Männlichkeit mit den femininen Zügen des unterlegenen ›Anderen‹ ausgestattet ist, wird die deutsche Weiblichkeit maskulin konnotiert als der überlegene ›westliche‹ Retter in der Not. 36 Seltener wird die südslawische Frau als Heroine dargestellt. Meines Wissens existieren hierfür nur wenige Beispiele, darunter zwei von der Hand des mährischen Professors an der Prager

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Hansen, Catherine Needham und Bill Nichols sind Ethnografie und Pornografie strukturell verwandt, insofern es sich bei beiden um Diskurse der Dominanz handelt. Doch während die Autoren Ethnografie als Bereich der grenzenlosen Beobachtung beschreiben, in der sich die Dominanz in der Kenntnis vom ›Anderen‹ manifestiert und damit ein Bereich des triumphierenden Wissens über das ›Andere‹ ist, sei Pornografie der Bereich, in dem sich die Dominanz im Besitz des ›Anderen‹ äußert, eine Welt des grenzenlosen Triebs.37 In keinem anderen Typus des visuellen Balkanismus ist die Verschränkung beider Bereiche – der Ethnografie und der Pornografie – so offensichtlich wie in der Entführung respektive Vergewaltigung des weiblichen Körpers. Seit Delacroix’ »Massaker auf Chios« ist dies das ubiquitäre Narrativ des stereotypen Denkens über den Balkan und dessen symbolische Fassung. Die Entführungs- und Vergewaltigungsallegorien der christlichen Balkanvölker folgen der üblichen sexuellen Metaphorik des visuellen Balkanismus, in dem der Balkan als ein missbrauchter Frauenkörper imaginiert wird. Das Ineinandergreifen von ethnografischer Kenntnis und sexueller Beherrschung des ›Anderen‹ als Diskurs der Dominanz soll abschließend an zwei emblematischen Werken des visuellen Balkanismus aufgezeigt werden, die als Propagandawerke im Kontext der panslawistischen Bewegung und des Russisch-Osmanischen Krieges 1877/78 entstanden sind: Jaroslav Čermáks »Entführung einer Herzegowinerin«38 und die Vergewaltigungsszene von Konstantin Makovsky »Bulgarische Märtyrer«. Beide Gemälde rekurrieren auf Konflikte mit konkreter Zeitlichkeit und Geografie und in beiden ist die Verschränkung von Ethnografie und Pornografie rhetorisches Mittel der Repräsentation der christlichen Balkanvölker. Nicht zufällig zählt İrvin Cemil Schick die Entführungsszene von Jaroslav Čermák zu den Over-the-top-Bildern der Ethnopornografie mit ihrer ostentativ Akademie, Franz Zveřina. Die nach seinen Vorlagen publizierten Holzstiche statten die herzegowinische Frau mit durchaus heldenhaften Zügen aus. Näheres zu beiden Blättern samt Abbildungen in Baleva 2012 (wie Anm. 16), S. 116 f. sowie Abb. 70 und 71. Auch die montenegrinische Frau wird gelegentlich zur Kämpferin stilisiert, siehe dazu ebd., S. 82 ff. sowie Abb. 28. 37 Christian Hansen, Catherine Needham, Bill Nichols: Pornography, Ethnography and the Discourses of Power. In: Bill Nichols: Representing Reality. Issues and Concepts in Documentary, Bloomington IN 1991, S. 210–228, hier S. 212, 218. Zum Begriff »Ethnopornografie« siehe auch die Online-Publikation von Neil L. Whitehead, Peter Sigal (Hg.): Ethnopornography, ohne Ort und Jahr, (https://www.academia.edu/169099/Ethnopornography, letzter Zugriff 23. Juni 2015). Speziell zum Balkan siehe den unpublizierten Aufsatz von Tomislav Z. Longinović: Ethnic Pornography in the Balkans: National Identity as S/M, der mir freundlicherweise, allerdings kurzfristig vom Autor zu Verfügung gestellt wurde, sodass dessen Erkenntnisse nicht mehr in die hier dargelegten Überlegungen einfließen konnten. 38 Dass solche Bildmotive nicht nur ideologisch verbrämt waren, sondern auch einen Kunstmarkt bedienten, zeigt sich an einer kleineren Replik der Entführung, die unter dem Titel »Entführung einer Montenegrinerin« bekannt ist. Ausführlich zur Konvertierbarkeit des Motivs und der unterschiedlichen ethnischen Zuschreibung siehe Baleva 2012 (wie Anm. 16), S. 144 ff.

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zur Schau gestellten sexuellen Gewalt in einem ethnisierten Setting (Abb. 4).39 Der in seiner schutzlosen Nacktheit dem Blick des Betrachters ausgelieferte Frauenkörper wird durch die laszive Pose als sexuell unanständig konnotiert. Zugleich erlaubt die Darstellung des nackten Frauenkörpers, wie Joan Delplato für den Typus der orientalistischen Odaliske feststellt, seine visuelle Beherrschung durch das sehende Subjekt.40 Die Betrachtung ist hier gleichsam Eroberung und der Sehakt ist gleichsam ein Vergewaltigungsakt, der männlich und weiß codiert ist. Abb. 4:  Jarosalv Čermák, Entführung einer Herzegowinerin, 1861, Öl auf Leinwand, 250 × 190 cm, New York, Dahesh Museum.

In Čermáks Gemälde potenziert sich die Eroberung des vergeschlechtlichten und ethnifizierten ›Anderen‹ im gewaltsamen Ergreifen des strahlend weißen Körpers durch den muskelprotzenden Griff des dunkelhäutigen Mannes, der seinen kahlgeschorenen Kopf gegen den Frauenleib presst. Die technische Perfektion, mit der die Wiedergabe der körperlichen Interaktion gewissermaßen als pornografische Aktstudie erfolgt, korrespondiert mit der Präzision der Darstellung von Kleidung und Attributen, die den sexuellen Gewaltakt ethnisieren und durch die prominente Platzierung des Kruzifixes im Bildvordergrund religiös wenden. Der Kontrast zwischen hellem und dunklem Inkarnat markiert die geschlechtliche Differenz, die wiederum auf die Körper zurückstrahlt, um sie gleichsam zu rassifizieren, zu konfessionalisieren und ihnen bestimmte Konzepte von Weiblichkeit und Männlichkeit einzuschreiben. Der weiße und schöne, sich lasziv dem Blick hingebende junge Frauenleib, der in seiner Pose an den gekreuzigten Christus, mithin an das christliche Opfer gemahnt, steht metaphorisch für den schamlosen, jedoch leidenden Körper der christlichen Herzegowina, die, flankiert von den toten Körpern des Säuglings und Ehemannes, 39 Schick 2007 (wie Anm. 28), S. 289. 40 Delplato 2002 (wie Anm. 23).

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als heiliger Mutterleib konnotiert ist. Der schwarze und kraftstrotzende, mithin als hypersexuell konnotierte Männerkörper wird als der islamische Eroberer metaphorisiert, der das Sakrileg begeht, in dem er den heiligen Boden entweiht. Die rhetorische Figur des islamischen Sakrilegs gegen den Balkan als entweihter christlicher Boden, der vom geschändeten Frauenleib verkörpert wird, hat in der Allegorie Bulgariens von Konstantin Makovsky seinen emblematischen und zugleich obszönsten Niederschlag in der Malerei gefunden (Abb. 5). Umso bemerkenswerter ist, dass der bulgarisch- und russischsprachige Wikipedia-Eintrag zum Lemma »Sakrileg« mit Makovskys Gemälde illustriert sind.41 Vom lateinischen Abb. 5:  Konstantin E. Makovsky, Bulgarische Märtyrer, 1877, Öl auf Leinwand, 207 × 141 cm, Minsk, Nationalgalerie der Republik Weißrussland.

41 Siehe die entsprechenden Wikipedia-Einträge zum bulgarischen Begriff »Светотатство« bzw. zum russischen »Святотатство«: https://bg.wikipedia.org/wiki/Светотатство; https:// ru.wikipedia.org/wiki/Святотатство (Letzter Zugriff: 27. Juni 2015).

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»sacrilegium« für »Tempelraub« entlehnt, bezeichnet der Begriff ein Vergehen gegen Heiliges wie die Entweihung heiligen Bodens oder heiliger Sachen durch Raub, Schändung oder Missbrauch, aber auch ein Angriff auf geweihte Personen.42 So situiert Makovsky den sexuellen Übergriff dreier Männer auf eine Frau mit Kind, die unmissverständlich auf die Mutter Gottes rekurriert, im Inneren einer verwüsteten christlich-orthodoxen Kirche. Während der an der schwarzen Fellmütze zu erkennende Tscherkesse gerade im Begriff ist, das nackte Kind der Mutter zu entreißen, wird diese von einem lüsternen schwarzhäutigen Mann gewaltsam entkleidet. Eine weitere junge und hellhäutige Frau liegt in einer Blutlache tot auf dem Boden und trägt alle Anzeichen von Vergewaltigung. Ein dritter schwerbewaffneter Mann mit hochgekrempelten Ärmeln schaut in erwartungsvoller Haltung und mit zynischem Grinsen der Misshandlung zu. Als Rückenfigur konzipiert fungiert er als ambivalentes Abgrenzungsobjekt für den Betrachter, der hier als sehendes Subjekt gleichsam verdoppelt wird. Ethnografie und Pornografie gehen auch in diesem Bild Hand in Hand. Täter und Opfer werden als das vergeschlechtlichte, ethnifizierte und rassifizierte ›Andere‹ entworfen, das durch das Setting der orthodoxen Kirche auch religiös verortet wird. Bulgarien als entweihter christlicher Boden, für den die vergewaltigte Mutter metonymisch steht, hat einen weiblichen, geschändeten Körper. Dieser ist gekleidet in volkstümlich anmutender, jedoch gewaltsam vom Leib gerissener Tracht, die im Zusammenspiel mit den pechschwarzen und zerzausten Haaren, die in hemmungslosen quasi undisziplinierten Strähnen auslaufen, das Opfer zu einem wilden, mithin ethnisch minderwertigem Wesen degradieren.43 Die exakte Schilderung von männlicher Kleidung und Attributen wie Turban, Fez oder Fellmütze ethnisieren auch die Vergewaltiger und diffamieren sie zu animalisch triebhaften Wesen, die wiederum für den Islam respektive ›Türken‹ stehen. Das gegen die christliche Orthodoxie begangene Sakrileg seitens des Islams wird hier auf die bulgarische Nation projiziert, um als visuelles Argument für die Befreiung Bulgariens durch die Schutzmacht der Orthodoxie von den frevelhaften ›türkischen‹ Händen zu dienen.

Schlussüberlegungen Der visuelle Balkanismus als Teil eines kulturellen Gesamtdiskurses über den Balkan metaphorisiert den Gegenstand seines Interesses ebenso wie der Orientalismus mehrheitlich als »weiblich«. Was den visuellen Balkanismus vom Orientalismus 42 Siehe den deutschsprachigen Eintrag unter https://de.wikipedia.org/wiki/Sakrileg (Letzter Zugriff: 27. Juni 2015). 43 Zur »Disziplinierung« des Haars in allegorischen Darstellungen am Beispiel der amerikanischen Freiheitsstatue siehe Iversen 1994 (wie Anm. 31), S. 131.

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unterscheidet, ist dessen spezifischer Entwurf von Weiblichkeit, die im Körper der entführten, vergewaltigten und verstümmelten, mit einem Wort versehrten Frau symbolisch gefasst wird. Für den Orientalismus dagegen ist der unversehrte und intakte Frauenkörper konstitutiv.44 Die Verschränkung von Gewalt und Sexualität ist allerdings kein alleiniges Merkmal des visuellen Balkanismus, sie ist auch Teil des Orientalismus-Diskurses. Doch während sexuelle Gewalt im Orientalismus implizit ist, ist sie im Balkanismus expliziter Darstellungsgegenstand. Die Frage nach der Differenz zwischen Balkanismus und Orientalismus als bildgeschichtliche Kategorien ist deshalb keine Frage nach den unterschiedlichen geschlechtlichen Zuschreibungen des jeweiligen Raums und seiner Essentialisierung, sondern nach dem Grad und der Quantität der sexuellen Beherrschung des Frauenkörpers durch den Mann, die in Werken des visuellen Balkanismus ostentativ zur Schau gestellt wird. Die rhetorische Figur eines derart sexualisierten Balkans ist das sensationsträchtige Motiv der Ethnopornografie, in dem ein Volk jeweils zum Metonym für den universellen Vergewaltigten und zum universellen Peiniger wird. Die symbolische Identität von versehrtem Frauenkörper und entweihtem Territorium wird sowohl im Motiv des Massakers als sexualisierter Topos als auch im Motiv der vergewaltigten Frau als sexualisierter Typus des visuellen Balkanismus konsequent durchdekliniert. Dem Balkan wird dabei die topografische Eigenschaft des blutigen Bodens des Massakers sowie der vergeschlechtlichte Typus der gewaltsamen Entführung bzw. Vergewaltigung zugeschrieben. Sexualisierte europäische Vorstellungen vom Balkan haben im Dienste politischer Agenden einen ganzen Korpus von ethnopornografischen Bildern hervorgebracht, die die Region in unmissverständlichen geschlechtlichen und sexualisierten Kategorien beschrieben haben. Diese dienten nicht zuletzt der Konstruktion räumlicher Differenzen. Eine derart konstruierte Geografie der Kontraste habe – so Schick – Europa dazu verholfen, sich im Zuge einer forcierten geografischen Expansion als dominierende Macht zu verorten.45 Ethnografie und Pornografie als Diskurse der Dominanz über das ›Andere‹ verhalfen dazu, jene fiktionalen 44 Die Bedeutung des unversehrten weiblichen Körpers im Orientalismus manifestiert sich insbesondere im Sklavenmarkt, der neben dem Harem bzw. dem ›orientalischen‹ Bad und der Bauchtänzerin zu den wichtigsten Motiven der Repräsentation des ›Orients‹ gehört. Die Überprüfung des körperlichen Zustandes von Sklavinnen durch den männlichen Käufer bzw. Blick wie etwa der Zähne ist das wohl markanteste Zeichen dafür. Siehe etwa das Gemälde von Jean-Léon Gérôme: Sklavenmarkt, 1866, Sterling and Francine Clark Art Institute, Williamstown MA. Zum Motiv des Sklavenmarktes aus gendertheoretischer Sicht siehe etwa Viktoria Schmidt-Linsenhoff: Sklavenmarkt in Kairo. Zur Verkörperung verleugneter Erinnerung in der Malerei des Orientalismus. In: Franziska Frei Gerlach et al.: KörperKonzepte/Concepts du corps. Interdisziplinäre Studien zur Geschlechterforschung, Münster 2003, S. 101–120. 45 İrvin Cemil Schick: The Erotic Margin. Sexuality and Spatiality in Alteritist Discourse, New York u. a. 1999.

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Frauenkörper zu entwerfen, die als Negativfolie für die Entfaltung der eigenen, männlich und weiß kodierten Identität instrumentalisiert wurden. Die ästhetische Repräsentation von ostentativer sexueller Gewalt diente schließlich der Konstruktion und Dämonisierung des Islams als Feind der balkanischen Nationen, welche es durch den ›zivilisierten‹ weißen Mann zu befreien galt. Verkörpert wurde der Islam dabei vom ›türkischen‹ Vergewaltiger der balkanischen Frau, deren versehrter Körper metaphorisch für den christlichen Balkan stand. Die Zerstörung ihrer sexuellen Integrität ist Sinnbild für die gewaltsame territoriale Eroberung und Beherrschung des Balkans durch die Osmanen. Doch Gewalt gegenüber Frauen stellt gleichsam auch Männlichkeit in Frage. Denn die Kontrolle über den weiblichen Körper und seiner Grenzen sowie deren Verteidigung ist diesem heteronormativen Diskurs zu Folge schließlich einzig und allein männlich. Weibliche Grenzen – körperliche wie psychologische – müssen demnach gewaltsam behalten werden, um die dominante maskuline Agenda aufrechtzuerhalten. Der visuelle Balkanismus ist ebenso wie der Orientalismus ein integraler Bestandteil dieser Agenda.

Tafelteil 113

Tafel I:  Jože Plečnik, Der Obelisk im dritten Hof des Hradschin, Prag, 1923–1928, Foto: Tanja Zimmermann.


114 Tafelteil

Tafel II :  Jože Plečnik, Die Stiertreppe im dritten Hof des Hradschin, Prag, 1922, Foto: Tanja Zimmermann.


Tafelteil 115

Tafel III :  Tome AdŽievski, Prometheus bzw. das Denkmal für die gefallenen Helden Makedoniens, Skopje, 2012, Foto: Tanja Zimmermann.

116 Tafelteil

Tafel IV :  Ivan Fijolić: Denkmal für Bruce Lee, Mostar (Bosnien-Herzegowina), 2005, Foto: Dan Grover, 2014.

Tafelteil 117

Tafel V:  »Krieger zu Pferd«. Im Hintergrund links die Hauptpost, Skopje, Foto: Nada Boškovska.

118 Tafelteil

Tafel VI :  Denkmal Zar Samuils. Im Hintergrund die neuen Fassaden, mit denen die alten sozialistischen Bauten versehen wurden, Skopje, Foto: Nada Boškovska.

Tafelteil 119

Tafel VII :  Alexander mit seiner Mutter Olympia. Im Hintergrund die monumentale Statue Philips II., Skopje, Foto: Nada Boškovska.

120 Tafelteil

Tafel VIII :  Triumphbogen, Skopje, Foto: Nada Boškovska.

Tanja Zimmermann

»Wenn noch irgendein ›Balkan‹ im früheren Sinne dieses Wortes existiert, so bestimmt nicht hier auf dem Balkan« Archaisierung und Antikisierung im Kampf gegen den Orientalismus

Bei den jeweils neuen Staatsgründungen des 20. Jahrhunderts in Südosteuropa haben Politiker und Kulturschaffende die Überschreibung negativer Balkanstereotype durch positive angestrebt. Der Orientalisierung des Balkans, die im 19. Jahrhundert mit dem Niedergang des Philhellenismus einherging, wurden Konzepte der Archaisierung und Antikisierung des Slawentums entgegengestellt. In den nationalen Bewegungen, die zu den postjugoslawischen Staatenbildungen führten, geriet das slawische Erbe in den Hintergrund. Nun suchen Staaten wie Makedonien danach, antikes Erbe für sich zu reklamieren. Sämtlichen Archaismen ist der Anspruch auf Autochthonie und Kontinuität gemeinsam, der durch den genius loci des Territoriums konstituiert wird. Ist der Nachweis eines archaisch-antiken Ursprungs problematisch, wird dieser durch historische Konstrukte und Kunstwerke simulakral inszeniert. Als Ilja Ehrenburg 1946 und 1947 durch das kommunistische Jugoslawien reiste, erschien ihm das Land, das unmittelbar nach dem Krieg noch das sowjetische Vorbild befolgte, endgültig von seinen negativen balkanischen Eigenschaften befreit. In seinem Reisebericht Wege Europas (Dorogy Evropy, 1947) verkündet er im Pathos des stalinistischen Fünfjahresplans ein neues Zeitalter des Fortschritts: »Einst war das Wort Balkan ein Synonym für nationale Feindschaft, Bruderkriege, Palastrevolutionen, Ignoranz und Wildheit der Sitten. Diese Zeiten sind vorbei. Der Balkan erlebt jetzt eine Epoche des kulturellen Aufstiegs, des geistigen Glühens, des Schöpfertums; und wenn noch irgendein ›Balkan‹ im früheren Sinne dieses Wortes existiert, so bestimmt nicht hier auf dem Balkan.«1 Die messianische Rolle der Balkan-Kultivierung kommt bei Ehrenburg der Sowjetunion zu, die aus dem homo balcanicus einen für den kommunistischen Aufbau sich aufopfernden

1 Ilja Ehrenburg: Wege Europas, Zürich 1947, S. 156, 157.

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»neuen Menschen« formt, der seine Triebhaftigkeit in Arbeit und Kampf umlenken und sein Stammesdasein im sozialistischen Kollektiv aufgehen lassen sollte.2 Entgegen dem bolschewistischen zukunftsorientierten Fortschritts- und Optimierungsmodell, haben die jugoslawischen Politiker und Kulturschaffenden im Vorfeld zur Gründung des ersten Jugoslawiens während des Ersten Weltkrieges ein anderes, auf dem Gedächtnis beruhendes und somit an der Vergangenheit ausgerichtetes Konzept entwickelt. Da auf der politischen Agenda keine Industrialisierung des rückständigen Agrarlandes stand und der neue Staat die traditionelle monarchische Regierungsform beibehielt, konnte das sowjetische Modell vor der Gründung des sozialistischen Jugoslawiens keinesfalls übernommen werden. Während in der Sowjetunion eine Transformation der Nationen in eine übernationale proletarische Klasse angestrebt wurde, sah das nation building des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen eine Verschmelzung der südslawischen Nationen zu einer serbisch dominierten, synthetischen jugoslawischen ›Transnation‹ vor,3 die eines gemeinsamen Ursprungsmythos und Repräsentationsstils bedurfte. Die Beseitigung des »rückständigen«, »blutrünstigen« Balkans erfolgte nicht durch Modernisierung, sondern durch die Archaisierung der Südslawen, die zu den wahren Erben der alten Kulturen erklärt wurden und somit einen Anspruch auf die Geschichtlichkeit wie andere große europäische Herrschernationen stellten. Das Nobilitierungsprogramm war nicht auf die Zukunft wie in der Sowjetunion, sondern vielmehr auf die mythische Vergangenheit ausgerichtet. Der slawische Archaisierungsprozess begann bereits im 19. Jahrhundert im Rahmen der panslawistischen Bewegung. Die Mythologeme, die in die Zeit vor deren Zuwanderung auf den Balkan im 6. und 7. Jahrhundert zurückreichten, wurden von der Begeisterung für die Neugriechen inspiriert. Die Philhellenisten, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts den griechischen Befreiungskampf unterstützten, sahen in den modernen Griechen die Erben der altgriechischen Ideale und somit die Wiege der europäischen Kultur. Mit dem Niedergang des Philhellenismus nach der Befreiung Griechenlands 1829 versuchten die Südslawen das altgriechische Erbe für sich zu beanspruchen und für ihre politischen Pläne zu instrumentalisieren. In diese prominente Rolle konnten sie schlüpfen, nachdem das zweiteilige Werk Die Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters (1830 und 1836) des Historikers und Mitglieds der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Jakob Philipp Fallmerayer (1790–1861), erschien und eine Rezeptionsänderung der Neugriechen auslöste.4 Der aus Brixen stammende Münchner Geschichtsprofessor sprach den modernen Griechen die altgriechische Herkunft ab und erklärte 2 Tanja Zimmermann: Der Balkan zwischen Ost und West. Mediale Bilder und kulturpolitische Prägungen, Köln u. a. 2014, S. 160–178. 3 Andrew Baruch Wachtel: Making a Nation, Breaking a Nation. Literature and Cultural Politics in Yugoslavia, Stanford 1998, S. 67–127. 4 Zimmermann 2014 (wie Anm. 2), S. 25–36.

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sie zu Nachkommen der im Frühmittelalter auf den Peloponnes zugewanderten Slawen und Arnauten (Albanern). Für ihn waren die beiden zugewanderten Völker nicht die Erben, sondern die Zerstörer der antiken Kultur. Auf sie übertrug er nun die Rolle, welche früher den Osmanen vorbehalten war. Wie »eine zweifache Erdschicht, aus Trümmern und Moder aus zweier neuen und verschiedenen Menschenrassen« hätten sich die »fremden Überzügler über die Gräber dieses alten Volkes aufgehäuft«.5 Nicht die Invasion, sondern die langsame Assimilation an die Neuankömmlinge fremden Blutes (»denn auch nicht ein Tropfen echten und ungemischten Hellenenblutes fließt in den Adern der christlichen Bevölkerung des heutigen Griechenland«)6 habe die edle Rasse der Hellenen ausgelöscht. Fallmerayer bereitete der Idealisierung der Griechen durch Winckelmann und die Philhellenisten ein Ende, die Bewunderung schlug in Orientalismus um. Die Neugriechen, ihrer Ethnogenese nach gräzisierte Slawen und Albaner, wurden zum Balkanvolk. Bei den Panslawisten, die sich seit den 1820er Jahren zuerst für die Intensivierung der kulturellen Beziehungen zwischen den Slawen und später für die Gründung einer panslawischen Konföderation als Gegenpol zum Pangermanismus begeisterten, erfuhr Fallmerayers Hypothese vom slawisch-albanischen Ursprung der Neugriechen eine positive Umdeutung. Cyprien Robert, Professor für Slawistik am Collège de France, widerspricht in seiner Schrift Les Slaves de Turquie (1844) der »deutschen These«, die aus den Slawen Eindringlinge auf dem Balkan macht.7 Für Robert sind vielmehr die »illyrischen« Südslawen die wahren Träger der antiken Tradition und somit die legitimen Erben der Altgriechen. In seiner Schrift Les deux panslavismes. Situation actuelle des peuples slaves vis-à-vis de la Russie (1847) sieht er in den Serben und Montenegrinern die Nachfolger der homerischen Helden, in den südslawischen Volksliedern über den Kampf gegen die Osmanen die Fortsetzung der homerischen Heldenepen.8 In der darauf folgenden Publikation Le monde slave: son passé, son état présent et son avenir (1852) zieht er dann Parallelen zwischen den Slawen und den Hellenen in der egalitären, demokratischen Gesinnung der beiden Völker und vermutet dahinter 5 Jakob Philipp Fallmerayer: Geschichte der Halbinsel Morea während des Mittelalters, 2 Bde., Erster Theil, Stuttgart, Tübingen 1830, S. III, IV. 6 Ebd., S. IV. 7 Cyprien Robert: Les Slaves de Turquie. Serbes, Monténégrins, Bosniaques, Albanais et Bulgares. Leurs ressources, leurs tendances et leurs progrès politiques, Paris 1844; deutsche Übersetzung: Die Slawen der Türkei, nämlich: Serbier, Montenegriner, Bosniaken, Albanesen und Bulgaren; oder Darstellung ihrer Hilfsquellen, ihrer Tendenzen und ihrer politischen Fortschritte, Stuttgart 1851, S. 7. 8 Cyprien Robert: Les deux panslavismes. Situation actuelle des peuples slaves vis-à-vis de la Russie, Paris 1847; deutsche Übersetzung: Der zweifache Panslawismus. Die gegenwärtige Lage der slawischen Völker gegenüber von Russland, mit Anmerkungen von Dr. J. P. Jordan, Leipzig 1847, S. 78.

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eine gemeinsame gräko-slawische Rasse, deren Wiege in den Tälern Albaniens zu suchen sei.9 Die im Frühmittelalter aus dem Norden zugewanderten Slawen sind für Robert daher keine Eindringlinge, sondern »Brüder« aus dem Nordosten, die sich mit den autochthonen, auf diesem Gebiet bereits lebenden »illyrischen« Südslawen vereinigen wollten. Mit seiner Gegenthese räumte Robert den Südslawen den Platz ein, der in der philhellenistischen Periode zuvor den Neugriechen vorbehalten war. Mit dem archaisch-antiken Ursprungsmythologem legte er die Grundlage für die Nobilitierung der Balkanslawen, auf das später im 20. und 21. Jahrhundert immer wieder zurückgegriffen werden sollte. Im Folgenden werden unterschiedliche Strategien der Archaisierung und Antikisierung des Balkans in der Kunst in drei verschiedenen Zeitabschnitten vorgestellt – zur Zeit des ersten und zweiten Jugoslawiens wie nach dessen Zerfall. Im ersten Jugoslawien realisierten der kroatische Bildhauer Ivan Meštrović in der Skulptur und der slowenische Architekt Jože Plečnik in seinen Bauprojekten in Prag und Ljubljana die Vision einer archaisch-antiken slawischen Kultur. Im sozialistischen Tito-Jugoslawien übernahmen diese Rolle die sogenannten »naiven« Künstler, sozialistische Arbeiter- und Bauernmaler als Autodidakten, die man als Erben unterschiedlicher Strömungen archaischer Volkskunst betrachtete. Die 1991 gegründete Republik Makedonien, die aus dem jugoslawischen Erbe hervorging, löste ihr Programm der Archaisierung aus dem panslawischen Kontext heraus und beanspruchte für sich das Erbe der altmakedonischen Dynastie.10 Die neue Ideologie manifestiert sich im Bauprogramm »Skopje 2014«.

Meštrović und Plečnik Die Ausstellung des panslawistisch gesonnenen kroatischen Bildhauers Ivan Meštrović (1883–1962) im Victoria & Albert Museum in London im Sommer 1915, welche von der serbischen Exilregierung in London finanziert wurde, fiel in die Zeit der transnationalen Nationenbildung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen.11 In zwei großen Sälen im Erdgeschoss des Museums wurden die Skulpturen 9 Cyprien Robert: Le monde slave. Son passé, son état présent et son avenir, Paris 1852, S. 246– 248. 10 Siehe den Beitrag von Nada Boškovska in diesem Band. 11 Zur Londoner Ausstellung siehe Wachtel 1998 (wie Anm. 3), S. 63, 64. Elisabeth Clegg: Meštrović, England, and the Great War. In: The Burlington magazine 144 (2002), S. 740–751. Tanja Zimmermann: Die Schlacht auf dem Amselfeld im Spiegel der internationalen Politik. Permutationen eines panslawistischem Mythos vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. In: Agnieszka Gąsior et al. (Hg.): Post-Panslawismus. Slavizität, Slavische Idee und Antislavismus im 20. und 21. Jahrhundert? Göttingen 2014, S. 289–305, hier S. 290–294. Tanja Zimmermann: Ausstellungswesen und transnationales nation building im Ersten und Zweiten Jugoslawien.

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Abb. 1:  Ivan Meštrović, Der Königssohn Marko, ausgestellt 1915 in Victoria & Albert Museum in London.

der orthodoxen Krieger aus der historischen Schlacht auf dem Amselfeld (1389) sowie das Modell eines Tempels aufgestellt. Diese wurden durch die griechische, assyrisch-babylonische und ägyptische Kunst und Architektur inspiriert. Obwohl es sich um eine mittelalterliche Schlacht des orthodoxen Christentums gegen die Osmanen handelte, wurden die Kämpfenden nicht als mittelalterliche Ritter, sondern als antike Heroen dargestellt (Abb. 1). Meštrović kombinierte unterschiedliche monumentale Stile von der Antike bis Michelangelo, Rodin und Bourdelle miteinander, um die Vorstellung von einer uralten titanischen slawischen Nation zu wecken. Zugleich gab er den Helden die Namen aus der südslawischen Volksepik (Marko Kraljević, Miloš Obilić, Srđa Zlopogleđa), so dass die Archaik der alten Kulturen eng mit dem Volkstum verknüpft wurde. Die räuberischen Hajducken, denen in der südslawischen Volkspoesie die Rolle der Freiheitskämpfer gegen die Osmanen zugeschrieben wurde, wurden in prometheische Helden voller Ethos und Pathos transformiert. Mit seinen Skulpturen schuf Meštrović einen archaischen transnationalen Stil,12 mit dem er der mittelalterlichen Schlacht gegen die Osmanen die Dimension eines kosmogonischen Kampfes verlieh. In: Dies. (Hg.): Brüderlichkeit und Bruderzwist. Mediale Inszenierungen des Aufbaus und des Niedergangs politischer Gemeinschaften in Ost- und Südosteuropa. Göttingen 2014, S. 231–247, hier 233–240. Zimmermann (wie Anm. 2), S. 314–330. 12 Nenad Makuljević: Inventing and Changing the Canon and the Constitution of Serbian National Identity in the Nineteenth Century. In: Ivan Stevović (Hg.): Symeikta. Collection of

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Fünf Jahre nach der Ausstellung im Victoria & Albert Museum verfasste der slowenische Ethnologe Niko Županič, der während des Krieges dem Jugoslawischen Komitee in London angehörte, ein anthropologisch-biologistisches Werk mit dem Titel Die Ethnogenese der Jugoslawen (Etnogeneza Jugoslovena, Zagreb 1920), in dem er die »primordiale rassische Kraft« der Südslawen von deren archaischem illyrischem Blut ableitete.13 Diese Idee entwickelte das 1934 in Belgrad gegründete Balkan-Institut weiter.14 Ein anderes Konzept der Verschmelzung des slawischen Volkstums mit der archaischen Antike erarbeitete der slowenische Architekt Jože Plečnik (1872– 1957), der 1920 zum Hofarchitekten des tschechoslowakischen Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937) ernannt wurde und bis 1935 mit dem Umbau der Habsburgerresidenz zum Sitz der autonomen, demokratischen Republik beauftragt war.15 So wie Meštrović interessierte auch Plečnik mehr die vorklassische griechische, ägyptische, etruskische und minoische Archaik als die klassische griechische Antike.16 Insbesondere die Etrusker galten bei den Panslawisten wie Ján Kollár (1793–1852)17 als Vorfahren der Slawen – eine Theorie, die auch Plečnik aufgegriffen hat.18 Im Vorfeld der Gründung des autonomen Staates Slowenien

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Papers Dedicated to the 40th Anniversary of the Institute for Art History, Faculty of Philosophy, University of Belgrade, Belgrade 2012, S. 505–516. Christian Promitzer: Niko Županič in vprašnje jugoslovanstva; med politiko in antropologijo (1901–1941) (Niko Županič und die Frage des Jugoslawentums; zwischen Politik und Anthropologie (1901–1941). In: Prispevki za novejšo zgodovino 1 (2001), S. 7–30. Monika Milosavljević: Niko Županić i konstrukcija jugoslovenske etnogeneze (Niko Županić und die Konstruktion der jugoslawischen Ethnogenese). In: Etnoantropološki problemi 8/3 (2013), S. 717–746. Vladimir D. Mihajlović: Genius loci Balkani. Recepcija prošlosti i konstruisanje akademskog narativa o balkanskom nasleđu (Genius loci Balkani. Rezeption der Vergangenheit und Konstruktion des akademischen Narrativs über das balkanische Erbe). In: Etnoantropološki problemi 8/3 (2013), S. 779–803. Wolfgang Kemp: Eine Akropolis der 20er Jahre. Der Umbau der Prager Burg durch Jože Plečnik. In: Rüdiger Zill (Hg.): Zeugnis und Zeugenschaft, Berlin 2000, S. 24–51. Tomáš Valena: Plečnik, Masaryk und die Antike oder eine Architektur für die neue Demokratie. In: Umění 60 (2012), Nr. 1, S. 39–52. Kemp 2000 (wie Anm. 15), S. 31. Tomáš Valena: Jenseits der Manifeste. Der Fall Josef Plečnik. In: Ders., Ulrich Winko (Hg.): Prager Architekt und die europäische Moderne, Berlin 2006, S. 39–52, hier S. 46. Steven Mansbach: Jože Plečnik and the Landscaping of Modern Ljubljana. In: Centropa 4 (2004), Nr. 2, S. 111–120, hier S. 112–114. Tomáš Glanc: Die Erfindung der Slavia. Zur Rolle des Reisens in der Formulierung der »slawischen Idee«. In: Kakanien revisited (24. April 2008), S. 1–7, hier S. 7. Verfügbar unter: http:// www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/TGlanc1.pdf (Letzter Zugriff: 1. Juli 2015). Damjan Prelovšek: Jože Plečnik 1872–1957, New Haven u. a. 1997, S. 119. Mansbach (wie Anm. 16), S. 112.

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und der Abtrennung von Jugoslawien 1991 gewann sie erneut an Popularität.19 Ein wichtiger Vermittler der Kenntnisse über die antike Archaik war in den panslawistischen Kreisen Sir Arthur Evans, der Entdecker des minoischen Palastes in Knossos und Mitglied des internationalen Vidovdan-Komitees (»Kossovo Day Committee«), das aus angesehenen Intellektuellen und Kulturschaffenden aus ganz Europa bestand und von London aus die Gründung eines multinationalen südslawischen Staates während des Ersten Weltkrieges unterstützte.20 Bereits 1876–77 knüpfte der Archäologe Kontakte zu den panslawistisch gesonnenen Intellektuellen in den »Illyrischen Provinzen«. Den Namen verwendete er nicht für das Territorium, das sich unter Napoleon von Dalmatien bis nach Kärnten ausstreckte, sondern in seinem antiken Umfang als Ersatzname für die gesamte Balkanhalbinsel.21 Von dort berichtete er während der bosnischen Aufstände 1875–76 als Reiseberichterstatter und Kriegskorrespondent für den »Manchester Guardian«.22 Das antik-archaische Mythologem vom Ursprung der Slawen war nicht die einzige Inspirationsquelle für Plečniks Architektur. Ebenso wichtig waren die Ideale der amerikanischen Demokratie, die über den ersten tschechoslowakischen Präsidenten Tomaš G. Masaryk vermittelt wurden.23 Der tschechische Philosoph, der mit einer Amerikanerin verheiratet war, knüpfte während seines Exils 1914–18 nicht nur enge Kontakte mit London, sondern auch mit den USA. Während sich Masaryk vor allem auf die vorliberale demokratische und die alte tschechische »humanitäre« Tradition von Jan Hus, Jan Amos Komenský (Johann Amos Comenius) und die der Böhmischen Brüder berief,24 stand bei Plečnik die

19 Rajko Bratož: Das Veneter-Ideologem bei den Slowenen. In: Reinhard Lauer (Hg.): Erinnerungskultur in Südosteuropa, Göttingen 2011, S. 1–35. Ulf Brunnbauer: Illyrer, Veneter, Iraner, Urserben, Makedonen, Altbulgaren… Autochthonistische und nicht-slawische Herkunftsmythen unter den Südslawen. In: Zeitschrift für Balkanologie 42 (2006), S. 37–62. 20 Hugh Seton-Watson et al. (Hg.): R.W. Seton-Watson and the Yugoslavs. Correspondence: 1906–1941, London u. a. 1976, S. 202. Tomáš G. Masaryk: Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen 1914–1918, Berlin 1925, S. 118 f. 21 Arthur Evans: Ancient Illyria. An Archeological Exploration, London u. a. 2006. 22 Arthur J. Evans: Through Bosnia and Hercegovina on foot during the insurrection, London 1876. Ders.: Illyrian Letters. A revised selection of correspondence from the Illyrian provinces of Bosnia, Herzegovina, Montenegro, Albania, Dalmatia, Croatia, and Slavonia, addressed to the »Manchester Guardian« during the year 1877, London 1878. Nachdruck: Hannover 2006. 23 Valena 2012 (wie Anm. 15), S. 41–43. 24 Zum Hus-Kult in der Tschechoslowakei siehe Tomáš Masaryk: Jan Hus. Naše obrození a naše reformace (Jan Hus. Unsere Widergeburt und Reformation), Prag 1896, S. 8. Martin Schulze Wessel: Revolution und religiöser Dissens. Der römisch-katholische und der russischorthodoxe Klerus als Träger religiösen Wandels in den böhmischen Ländern und in Russland 1848–1922, München 2011, S. 165–176. Valena 2012 (wie Anm. 15), S. 42.

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katholisch motivierte christliche Nächstenliebe im Vordergrund.25 Die Prager Burg sollte nach der Gründung der Tschechoslowakischen Republik im Jahr 1918 Abb. 2:  Jože Plečnik, Der Obelisk im dritten Hof des Hradschin, Prag, 1923–1928, Foto: Tanja Zimmermann.


in eine Art moderne demokratische »Akropolis« umgestaltet werden, die für das Volk zugänglich ist. Aus diesem Grund wurden seit 1920 mehrere Baumaßnahmen durchgeführt. An dem Habsburger Baukomplex wurden mehrere Durchbrüche für weitere Eingänge durchgeführt, welche die Zentralachse am Eingang aufgehoben haben und die drei Höfe miteinander verbanden.26 In der Residenz wurde bis zu den Räumen des Präsidenten ein Durchgang für das Volk eröffnet. Im Hofgarten wurden elegante Sitzgelegenheiten eingerichtet, die einluden, dort zu verweilen. Neue architektonische und skulpturale Elemente erhielten archaisch-antikisierende Formen – Obelisken (Abb. 2 und Taf. I), minoische Stiere (Abb. 3 und Taf. II), Pyramiden und schlichte Säulenordnungen in edlen 25 Ebd. 26 Zu architektonischen Maßnahmen an der Prager Burg siehe Kemp 2000 (wie Anm. 15). Valena 2012 (wie Anm. 15).

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Materialien wie Granit und Marmor. Symbolische Formen zu repräsentativen Zwecken hatten stets Vorrang vor dem Funktionalismus, der die zeitgenössische Architektur zur selben Zeit anderswo in Europa und in Amerika prägte. Sowohl Meštrović als auch Plečnik hatten wegen ihrer Eingriffe in die vorhandene Baustruktur große Kontroversen mit Konservatoren und Denkmalpflegern, die sich für die Bewahrung des ursprünglichen Zustands und für die Sicherung des alten Baubestandes einsetzten. Die Kritik ging mit dem Niedergang der transnationalen, panslawistischen Gesinnung in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren einher, die einer nationalen bzw. nationalistischen wich. Als Meštrović Abb. 3:  Jože Plečnik, Die Stiertreppe im dritten Hof des Hradschin, Prag, 1922, Foto: Tanja Zimmermann.


1929 eine riesige Skulptur des kroatischen Bischofs Grgur Ninski im Peristyl des Diokletian-Palastes in Split errichten ließ und dadurch die antike Architektur zur rahmenden Kulisse verwandelte, leisteten ihm Konservatoren erbitterten Widerstand (Abb. 4).27 Wenige wohlgesonnene Kritiker wie Svetozar Rittig verglichen 27 Zum Streit zwischen Meštrović und den Konservatoren siehe Ljubo Karaman: O Grguru Ninskom i Meštrovićevu spomeniku u Splitu (Über Grgur Ninski und Meštrovićs Denkmal

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Abb. 4:  Ivan Meštrović, Grgur Ninski im Peristil des Diokletianpalastes, Split, 1929.

die Monumentalität der Statue mit den sogenannten Memnon-Kolossen im Niltal.28 Meštrović sah in dem Bischof, der sich im 10. Jahrhundert für die glagolitische Schrift sowie die Messe in der kroatischen Sprache und somit gegen die Latinisierung eingesetzt hatte, nicht nur die Antizipation des südslawischen Kampfes gegen Überfremdung. Mit der Errichtung der Statue vor dem antiken Kaiserpalast erhob er außerdem den Anspruch auf das antike Erbe und den genius loci, wie es aus der Korrespondenz mit dem Bürgermeister von Split, Ivo Tartaglia hervorgeht.29 in Split), Split 1929, S. 25–31. Ivo Tartaglia: O mestu Meštrovićeva »Grgura Ninskog« (Über den Platz für Meštrovićs »Grgur Ninski«). In: Grgur Ninski. Preštampano iz »Nove Evrope« (Grgur Ninski. Abgedruckt aus »Nova Evropa«). Buch XX, Zagreb 1929, S. 38–46. Ivo Tartaglia: O mestu Meštrovićeva »Grgura Ninskog« (Über den Platz für Meštrovićs »Grgur Ninski«). In: Aleksandar Jakir, Norka Machiedo-Mladinić (Hg.): Izbrani spisi Tartaglie [Ausgewählte Schriften Tartaglias], Split 2013, S. 75–82. 28 Svetozar Rittig: Meštrovićeva videnja i verovanja (Meštrovićs Visionen und Glauben). In: Ninski 1929 (wie Anm. 27), S. 34–38. 29 Meštrovićs Briefe an Tartaglia vom 4. Juli 1924, 21. September 1925, 5. Oktober 1925, 26. Dezember 1925, 23. April 1926, 1. April 1927, 27. Oktober 1927, 18. September 1929. Für die Möglichkeit der Sichtung der transkribierten Korrespondenz danke ich Norka MachiedoMladinić und Aleksandar Jakir.

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Bischof Gregur Ninski, der wegen seiner drohenden Geste mit erhobenem Zeigefinger mit dem zornigen Moses verglichen wurde, sollte den römischen Kaiserpalast erobern und ihn in einen slawisch-kroatischen Tempel umwandeln: »Das Volk, dessen Vorfahren sich hier vor mehr als Tausend Jahren niederließen und nicht nur seine Sprache und seinen Charakter, sondern auch die klassischen Bauten des Palastes bewahrten, in dem sich wichtige Momente seiner Geschichte abspielten, hat das Recht, genau auf diese Stelle seinen Helden aufzustellen, und zwar nicht einen Helden der Muskel und der Tat, sondern einen Helden des Geistes, einen Bischof mit dem Evangelium in der Hand.«30 Meštrović sah in der Kunst den Ausdruck der kollektiven Volksgeschichte. Jede Epoche habe daher das Recht, ihren Stempel dem Vergangenen einzuprägen und das Denkmal in eine disputierende, mitstreitende Synchronie des Asynchronen zu transformieren. Auch Plečnik schlug im Jahre 1929, als Meštrovićs umstrittene Skulptur mit der Unterstützung seines Freundes, des Bürgermeisters Tartaglia, trotz großer Proteste aufgestellt wurde, ein kühnes, monumentales Bauprojekt für Split vor, das wegen des zu radikalen Eingriffs in die alte Bausubstanz aber abgelehnt wurde.31 Das Anrecht auf den genius loci,32 die künstlerische Eroberung der symbolisch aufgeladenen historischen Plätze zur Entfaltung neuer künstlerischer Konzepte, stellte räumlich eine vermeintliche Kontinuität von der Antike bis in die Moderne her. Eine solche Vorgehensweise konnte ein Gedächtnis mit einem anderen überschreiben und legitimierte somit eine politisch-ideologische Intervention ins kulturelle Erbe. Die Geschichte des Ortes wurde nicht musealisiert und die hinterlassenen historischen Spuren wurden nicht im ruinenhaften Zustand vorgeführt, sondern vielmehr zusammen mit den neu geschaffenen symbolischen Formen des neuen Staates und der slawischen ›Transnation‹ inszeniert und wiederbelebt.33 30 Tartaglia 1929 (wie Anm. 27), S. 43. Tartaglia 2013 (wie Anm. 27), S. 79. »Narod čiji su se preci ovdje nastanili pred više od tisuću godina, i koji je očuvao ne samo svoj jezik i karakter, već i klasične zidine Palače, unutar kojih su se razvijali važni momenti njegove istorije, ima pravo da baš na to istorijsko mjesto postavi svoga heroja, i to ne heroja mišića i djela već heroja duha, jednog biskupa sa evanđeljem u ruci.« 31 Tomáš Valena: Plečniks Plan für Split. Reflexionen über das Geschichtsverständnis eines Baukünstlers. In: Der Vorstand der Koldewey-Gesellschaft (Hg.): Bericht über die 42. Tagung für Ausgrabungswissenschaft und Bauforschung vom 8. bis zum 15. Mai 2002 in München, München 2004, S. 54–62. 32 Zur Bedeutung des genius loci und der regionalen Begebenheiten vor Ort für Plečnik siehe Kemp 2000 (wie Anm. 15), S. 31. Jörg Stabenow: Städtebau und nation-building. Zur urbanen Konstruktion nationaler Identität am Beispiel Jože Plečniks in Prag und Ljubljana. In: Uměni 53 (2005), S. 127–141, hier S. 137–139. Damjan Prelovšek: The Architekt Jože Plečnik. The Originator of Critical Regionalism. In: Vojtěh Lahoda (Hg.): Local Strategies. International Ambitions. Modern Art and Central Europe 1918–1968, Praha 2006, S. 71–76. 33 Jörg Stabenow: Jože Plečnik. Städtebau im Schatten der Moderne, Braunschweig, Wiesbaden 1996, S. 123, 153. Zuzana Güllendi-Cimprichová: Denkmalkriterium Religiosität. In: Kunsttexte.de. 2 (2008), S. 1–8, http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2008-2/cimprichova-zuzana-1/

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Eine Synchronie des Asynchronen, die Altes und Neues zum Gesamtkunstwerk, zu einer »lebendigen Geschichte im Dialog«34 verschmolz, ermöglichte, über die bisherigen kulturellen Zusammenhänge hinaus Kontinuitäten herzustellen und Erbansprüche an frühere, eigentlich nicht verwandte Kulturen zu stellen. Das Anrecht auf Tradition wurde nicht aufgrund der unmittelbaren kulturellen Sukzession, sondern der metonymischen, räumlichen Kontiguität hergestellt. Auch der führende Konservator und Begründer der südslawischen Kunstgeschichte, France Stelè (1886–1972), Schüler von Max Dvořák (1874–1921) und Julius von Schlosser (1866–1938), unterstützte in seinen Schriften diese Ansichten, um den kulturellen Wert des kleinen slowenischen Volkes zu erhöhen.35 Mitte der 1930er Jahre, nach mehr als zehn Jahren Arbeit an der Prager Residenz, haben die Restauratoren und die Öffentlichkeit dem Slowenen Plečnik plötzlich vorgeworfen, das heimische Erbe nicht zu respektieren und einen dem tschechoslowakischen Geist fremden Kunststil nach Prag zu verpflanzen.36 Im Jahre 1935, gleichzeitig mit dem Rücktritt Masaryks, verließ er endgültig die tschechoslowakische Hauptstadt und verlagerte seine Aktivitäten ins Königreich Jugoslawien. Nach einer produktiven Phase in den 1930er Jahren, insbesondere im slowenischen Teil des Landes, folgte nach dem Zweiten Weltkrieg und der Gründung des sozialistischen Jugoslawiens erneut eine Ablehnung seines Werks. Plečniks späte architektonische Entwürfe, die versuchen, das archaische Erbe mit den Elementen der französischen Revolutionsarchitektur und des stalinistischen Klassizismus zu verschmelzen, wurden als nicht ausreichend funktionalistisch und nicht genug proletarisch-volksnah abgelehnt.37 Ein anderes Medium beerbte die archaische Tradition – die sogenannte »naive« Malerei der Autodidakten proletarischer und bäuerlicher Herkunft.

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PDF/cimprichova.pdf (Letzter Zugriff: 1. Juli 2015). Valena 2004 (wie Anm. 31), S. 54–62. Stabenow leitet Plečniks Umgang mit der Vergangenheit von Gottfried Sempers Verständnis der Architektur als »Festapparatus«, als Umrahmung für einen feierlichen Akt, ab. GüllendiCimprichová sieht darin vielmehr Plečniks religiöse Pietät, die sich auf die Denkmaltheorie des Konservators Alois Riegls stützt, der ein Konkurrenzverhältnis zwischen dem Alt- und Neuheitswert postuliert. Valena wiederum spricht von der »Erfindung« der Antike, die sich weder auf das archäologische Wissen stützte noch das Denkmal in ursprünglicher Form erhalten wollte. Valena 2004 (wie Anm. 31), S. 61. Stabenow 2005 (wie Anm. 32), S. 138. Caroline Constant: A landscape ›fit for democracy‹. Jože Plečnik at Prague Castle (1920–1925). In: Jan Birksted (Hg.): Relating Architecture to Landscape, London 1999, S. 121–146, hier S. 140 f. Kemp 2000 (wie Anm. 15), S. 31 f. Zur Plečnik-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg siehe Damjan Prelovšek: Plečnik in mi (Plečnik und wir). In: Barbara Murovec (Hg.): Slovenska umetnost in njen evropski kontekst. Izbrane razprave I (Slowenische Kunst im europäischen Kontext. Ausgewählte Abhandlungen I), Ljubljana 2007, S. 63–73.

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Antikes Erbe im Sozialismus Wie sich im Tito-Jugoslawien die kulturpolitische Vereinnahmung des antiken Erbes durch das sozialistische Volk vollzog, verdeutlicht die Schrift Die Heimkehr des Diokletian (1950) des jugoslawischen Kunstkritikers und politischen Aktivisten Oto Bihalji-Merin (1904–1993). Der ehemalige Kaiserpalast, in dem sich die Einwohner von Split nach dem Niedergang des römischen Reichs eingerichtet hatten, indem sie ihn zu Wohnungen umgebaut hatten, wurde zum Ort der Zusammenkunft der Zeiten erklärt. Das widerstandsfähige dalmatinische Volk, das Bihalji-Merin zufolge jahrhundertelang gegen die Überfremdung gekämpft habe, habe sich erst im antifaschistischen Partisanenkrieg befreien können, weil sich in ihm zugleich die Volksrevolution vollzog. Die Niederlassung des Volkes im Herrscherpalast wurde als ein Akt der Überführung ins kulturelle Erbe der Slawen interpretiert: »Antike Gebäude und Renaissancepaläste, Tempel heidnischer Götter und Basiliken stehen nebeneinander. Rom und Venedig meißelten am steinernen Gesicht dieser Stadt. Und die großen slawischen Architekten und Bildhauer Juraj Dalmatinac und Andrija Buvina. Das Volk, das von den Bergen hinabgestiegen war mit seinen Waffen, Bräuchen und Liedern, war slawisch. Und die Fischer in den leise tanzenden Segelbooten, deren Flanken mit silbergrau blinkenden Fischen gefüllt sind, mit graugrünen Melonen, Feigen und Oliven und die Händler auf dem Markt im Schatten der Mauer des Diokletian-Palastes sind slawische Fischer und Bauern. Sie waren es, die die Partisanengruppen bildeten, sich auf den Höhen sammelten und in opferbereiten Aktionen Land und Heimat gegen die Soldateska des Faschismus verteidigten.«38 Für Bihalji-Merin handelt es sich um eine »Heimkehr« der Slawen, die nach Jahrhunderten der fremden Herrschaft ihre Heimat, ihren genius loci, endgültig für sich erobern konnten. Auch Stelè, der den Systemwechsel in Jugoslawien überstanden hatte, passte den alten Begriff des genius loci den neuen politischen Gegebenheiten an.39 Die Aneignung der historischen Orte und Denkmäler betrachtet er als »Verschmelzung« (zlitje) mit der neuen Umgebung: »Auch das, was wir nicht selbst erschaffen haben, aber für uns erschaffen wurde und zwischen uns als Teil unserer Umgebung, unseres Heimatortes aufgestellt wurde, gehört dennoch uns, weil es mit uns verschmolz und Teil unseres Kulturbesitzes wurde. […] Slowenisch ist für uns alles, was mit unserem Leben und unserer Entwicklung verbunden ist, egal ob wir es geschaffen haben oder ob es mit seiner Gegebenheit

38 Oto Bihalji-Merin: Die Heimkehr des Diokletian. In: Ders. (Hg.): Jugoslawien. Illustrierte Zeitschrift, Belgrad 1950, S. 107–113, hier 107, 108. 39 France Stelè: Narodni moment v zgodovini umetnosti (Der nationale Faktor in der Geschichte der Kunst). In: Peristil 2 (1957), S. 19–28.

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in unserem Milieu auf uns Einfluss ausgeübt hat.«40 Die Verschmelzung war laut Stelè nur deshalb möglich, weil es im südslawischen Raum keine dominierende avancierte Kunstrichtung gab. Trotzdem habe sich der Prozess nicht als epigonale Fortführung vollzogen, sondern vielmehr als Verschmelzung des Nationalen (im Sinne eines ethnisch-geographisch determinierten »Nationalcharakters«) und des Internationalen. Die »Demokratie« der gleichberechtigten Künste spiegelte das politische Programm der gleichberechtigten Nationen im Tito-Jugoslawien wieder, in dem es keine Hegemonie eines Volkes und einer Kunstrichtung mehr geben durfte.

»Naive« Künstler Der kroatische Schriftsteller Miroslav Krleža (1893–1981), Vizepräsident der Jugoslawischen Akademie der Wissenschaften und führende intellektuelle Autorität Titos, arbeitete die kulturtheoretische Grundlage für die Aufwertung des Balkans durch Archaisierung im sozialistischen Jugoslawien heraus.41 Zu diesem Zweck fand 1950 im Palais de Chaillot in Paris eine Ausstellung L’art médiéval yougoslave statt, die vom Schriftsteller konzipiert und von der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien finanziert wurde. »Ihr Ziel«, so Stelè, »war nichts weniger, als die künstlerische Schaffensfähigkeit der Balkan-Slawen, die seit dem Mittelalter durch Jahrhunderte hindurch ihrer nationalen Persönlichkeit beraubt und meistens als kulturschöpferisch minderwertig betrachtet wurden, zu beweisen und zu manifestieren.«42 In der mittelalterlichen Kunst auf dem jugoslawischen Territorium – den Fresken der autokephalen serbischen und makedonischen Kirche, in der Skulptur in Dalmatien, die dem glagolitischen Erbe der ›Slawenapostel‹ Kyrill und Method zugeschlagen wurde,43 und vor allem in den Grabstelen der häretischen Sekte der

40 Ebd., S. 22, 25. »Tudi tisto, česar nismo ustvarili sami, pa je bilo za nas ustvarjeno in med nas postavljeno kot del našega okolja, naše domačije, je vseeno naše, ker se je zilo z nami in postalo naša kulturna last. […] Slovensko nam je vse, kar je z našim življenjem in razvojem zvezano, vseeno ali smo to mi ustvarili ali je ono s svojo danostjo v našem miljeju na nas vplivalo.« 41 Zu Krležas kulturpolitischem Konzept gegen »Balkanisierung« Jugoslawiens siehe: Zimmermann 2014 (wie Anm. 2), S. 217, 219, 232–246. 42 France Stelè: Mittelalterliche bildende Kunst in Jugoslawien im Bilde der Ausstellung in Palais de Chaillot in Paris. In: Jahrbuch der österreichischen byzantinischen Gesellschaft 2 (1952), S. 83–94, hier S. 83. 43 Die Brüder Kyrill und Method waren byzantinische Beamte aus Thessaloniki, die im Zuge ihrer Missionstätigkeit in Groß-Mähren im 9. Jahrhundert die glagolitische Schrift für den slawischen Gottesdienst erschaffen haben. Ihre Schüler, Kliment und Naum, setzten die Mission in Makedonien und Bulgarien fort.

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Bogomilen,44 die sich von der Ost- und Westkirche abgrenzten – sah Krleža Antizipationen eines autonomen kulturpolitischen Weges des sozialistischen Jugoslawiens vorweggenommen.45 Die kulturelle Blüte im Mittelalter, die Angreifer aus Ost und West unterbrochen hätten, konnte daher erst im jugoslawischen Sozialismus des »dritten Weges«, unabhängig von Ost und West, fortgesetzt werden. Die jugoslawische Vereinnahmung des Bogomilentums, das im Sozialismus eine zentrale Rolle in der Mythologie des »dritten Weges« spielte, hatte ihre Anfänge bereits im ersten Jugoslawien. Die jugoslawische Historiographie leitete die religiös-soziale Bewegung nicht nur von Bulgarien, sondern auch vom dem bereits erwähnten kroatischen Bischof Grgur Ninski ab. Der kroatische Historiker Ivo Pilar sah in den bosnischen Bogomilen dessen Schüler, die sich wegen der Verfolgung aus Kroatien nach Bosnien geflüchtet hätten.46 Krleža aktualisierte ihre Rolle mit Blick auf die zeitgenössische jugoslawische Politik der Blockfreiheit und erklärte sie für autonome Künstler, die sich niemals dem herrschenden Kanon in Ost und West gefügt hätten. Ihr scheinbarer künstlerischer »Analphabetismus« sei in Wahrheit das primitivistische Auge der »terra vergine« Jugoslawien: »Libres de tout artistique de l’époque, les sculptures bogomiles observaient les choses et les événements qui les entouraient, à leur façon personnelle et, dans ce travail de pénétration, ils étaient, sans aucun doute, des inventeurs. […] Cette plastique est-elle sauvage ou barbare? Il s’agit des observations naïves et fraîches d’un pays vierge dans le domaine artistique »terra vergine« qui, pour le monde entière, est 44 Die Bogomilen bzw. Bogumilen waren eine manichäische Häresie, die sich Ende des 10. Jahrhunderts von Bulgarien aus bis nach Bosnien ausbreitete und nach der Eroberung des Landes durch die Osmanen im Jahre 1463 möglicherweise zum Islam konvertierte. Als Bosnien 1878 unter das österreichische Protektorat geriet, wurde das Bogomilentum als bosnischer Ursprungsmythos von der Doppelmonarchie gefördert, um eine eigenständige, nicht-muslimische Identität der Bosnier zu stiften und eine panslawistische Einigung der Südslawen zu verhindern. Im sozialistischen Jugoslawien sah man in der Häresie die Vorwegnahme des jugoslawischen »dritten Weges« zwischen Ost und West. Der Historiker Dubravko Lovrenović hält das Bogomilentum in Bosnien für eine Fremdzuschreibung, die der christlichen bosnischen Kirche unterstellt wurde. Siehe Ivo Žanić: Nationale Symbole zwischen Mythos und Propaganda. In: Dunja Melčić (Hg.): Der Jugoslawien-Krieg. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage, Wiesbaden 2007, S. 293–297; Dubravko Lovrenović: Povijest est magistra vitae. O vladavini prostora nad vremenom (Historia magistra vitae. Über die Herrschaft des Raumes über die Zeit), Sarajevo 2008; Zimmermann 2014 (wie Anm. 2), S. 232–246. 45 Miroslav Kerleja [Krleža]: Preface. In: Paul Deschamps (Hg.): L’art médiéval yougoslave: Moulages et copies exécutés par des artistes Yougoslaves et Français, Paris 1950, S. 13–18. 46 Ivo Pilar: Bosansko bogumilstvo i Grgur Ninski (Das bosnische Bogomilentum und Grgur Ninski). In: Ninski 1929 (wie Anm. 27), S. 3–9. Neven Budak: Prva stoljeća Hrvatske (Die ersten Jahrhunderte Kroatiens), Zagreb 1994, S. 159–198. Der häretische Ursprungsmythos der Jugoslawen könnte von Tomáš G. Masaryk inspiriert sein, der in Jan Hus, Comenius und in den Böhmischen bzw. Mährischen Brüdern die Gründungsväter der tschechoslowakischen Brüderlichkeit sah. Siehe Masaryk 1896 (wie Anm. 24).

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restée, jusqu’à nos jours »terra incognita«. Il s’agit d’une conception du monde et de la vie de toute une cosmogonie bogomile que nous connaissons aujourd’hui malheureusement peu et ce que nous en savons, nous l’avons puisé dans les documents de l’inquisition qui menait une guerre sans merci contre l’hérésie bogomile.«47 Den Stil der bogomilischen Grabmäler interpretiert Krleža somit nicht als ephemeres, niederes Kulturgut, sondern als letztes Zeugnis einer verlorenen Volkskultur, einer südslawischen »Atlantis«, die durch einen anhaltenden Primitivismus gekennzeichnet ist. Die jugoslawische Kunst präsentiere sich demnach nicht mehr als Derivat oder Hybrid des Ostens und des Westens, sondern als Wiege einer autonomen, archaischen südslawischen Kultur. Die negative Rückständigkeit ersetzte er durch einen positiv konnotierten Archaismus. Abb. 5:  Milan Stanisavljević, Sieg, 1950er Jahre.

47 Ebd., S. 15.

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Vom primitiven, volkstümlichen Stil der bogomilischen Grabmäler leitete man die Kunst der »Naiven«, die seit den 1950er Jahren vom Staat als eine moderne Form der Volkskunst unterstützt wurde, ab.48 Besonders gefördert wurden Autodidakten bäuerlicher und proletarischer Abstammung, deren vorgeblich jungfräuliches Auge das terra-vergine-Jugoslawien am besten erfassen würde. Während das Volkstümlich-Traditionelle in der Sowjetunion als Hinweis auf angebliche Rückständigkeit aufgefasst wurde, wurde es in Jugoslawien als Antizipation des »dritten Weges« positiv bewertet. Zur Popularisierung der »naiven« Künstler im In- und Ausland trug der bereits genannte serbische Kunsthistoriker und Kurator Oto Bihalji-Merin bei, der seit den 1950er Jahren zum wichtigsten Ausstellungsmanager der »Naiven« Jugoslawiens avancierte. In der Broschüre Die Kunst der Naiven in Jugoslawien (1959) erläutert Bihalji-Merin, indem er den Kunsthändler und Entdecker der französischen Naiven, Wilhelm Uhde, zitiert, den Unterschied zwischen der Naivität eines Kindes und der eines naiven Bauernkünstlers beziehungsweise Autodidakten: »Die Naivität des Kindes ist nur ein Übergang, eine Station auf der Reise in das Land des Wissens und Könnens, der Zauberei von Perspektive und Anatomie. Hier aber ist die Naivität endgültig, sie ist konserviert, wiedergefunden.«49 Diese vermeintlich autarke jugoslawische Volkskunst war in Wirklichkeit sehr international. Sie wurde inspiriert von den Skulpturen der außereuropäischen »Primitiven« aus Afrika und Ozeanien (Abb. 5), der Höhlenmalerei, den Skulpturen der französischen romanischen Kreuzgänge, von Malern wie Pieter Breugel, Henri Rousseau und Louis Vivin. Insbesondere lobt Bihalji-Merin die Malerschule von Hlebine, ein Kollektiv von Bauernmalern um den Autodidakten Ivo Generalić (1914–1992), das schon in den 1930er Jahren aktiv war. Diese Maler, die in den 1950er Jahren ihre künstlerische Tätigkeit fortführten, wurden nun für die neo-primitivistische Ideologie Jugoslawiens vereinnahmt. Die »naive« Kunst als Erbe der Bogomilen- und der Volkskunst, die man »außerhalb der Zeit und der Geschichte« verortete, gehörte zu den Richtungen der jugoslawischen Kunst, die in den 1960er und 1970er Jahren, als die Bewegung der Blockfreien ihren Höhepunkt erreichte, besonders häufig im In- und Ausland ausgestellt wurden.

48 Zimmermann 2014 (wie Anm. 2), S. 247–256. 49 Oto Bihalji-Merin: Die Kunst der Naiven in Jugoslawien. In: Jugoslawien. Illustrierte Zeitschrift 17 (1959), S. 5. Siehe auch Ders.: Die Naiven der Welt, Stuttgart u. a. 1971. Ders.: Die Kunst der Naiven. Themen und Beziehungen, München 1975.

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Abb. 6:  Tome Adzievski, Prometheus bzw. das Denkmal für die gefallenen Helden Makedoniens, Skopje, 2012, Foto: Tanja Zimmermann.

»Skopje 2014« Seit 2010 wurden im Zentrum von Skopje monumentale Skulpturen der Gründer der antiken makedonischen Dynastie, Alexander des Großen (alias des »Kriegers auf dem Pferd«) sowie seiner Eltern, Philipp und Olympia, aufgestellt und mit Hilfe der neuen Historiographie in das moderne nationale Narrativ eingebunden.50 Weitere Bezüge zur Antike in der Stadtkulisse wurden durch einen goldenen Prometheus vor einem Marmortempel mit der Siegessäule (Abb 6 und Taf. III) 50 Seit 1991 wird in den makedonischen Geschichtsbüchern und in der Belletristik eine neue makedonische Identität propagiert, die sich vom antiken Makedonien herleitet. Sie wurde maßgeblich von der makedonischen Diaspora in Abgrenzung von Griechenland geprägt. Zum altmakedonischen Mythos, zu den griechisch- und bulgarisch-makedonischen Konflikten sowie zur makedonischen Diaspora siehe Christian Voss: Irredentismus als historischer Selbstentwurf. Wissenschaftsdiskurse und Staatssymbolik in der Republik Makedonien. In: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens 53 (2003), Nr. 7, S. 949–962. Ulf Brunnbauer: Historiography, Myths and the Nation in the Republic of Macedonie. In: Ders. (Hg.): (Re)Writing History. Historiography in Southeast Europe after Socialism, Berlin 2004, S. 165–200. Siehe den Beitrag von Nada Boškovska in diesem Band.

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sowie durch den Triumphbogen, der Porta Makedonija, hergestellt.51 Das erste Denkmal ist den gefallenen Helden Makedoniens gewidmet, das zweite setzt die makedonische Genealogie über das Mittelalter bis hin zu den kommunistischen Helden fort. Wie die Denkmäler wurden auch die neuen repräsentativen Regierungs- und Verwaltungsgebäude (insbesondere das Gebäude der Finanzpolizei) sowie Museen (insbesondere das Archäologische Museum) in antikisierenden neo-historistischen Stilen errichtet, welche Rozita Dimova als »hellenistischen Barock« bezeichnet.52 Die Monumente waren eine nicht-diskursive, visuell-räumliche Antwort auf den Streit mit Griechenland, das der im Jahr 1991 aus der Erbmasse des zweiten Jugoslawiens hervorgegangenen Republik den Namen Makedonien verweigerte.53 Zugleich materialisierte sich aber darin auch die neue makedonische Geschichtspolitik, die unter dem Einfluss der Diaspora eine »großmakedonische Idee« propagiert.54 Diese vereinnahmt nicht nur die alte makedonische Dynastie, sondern stellt auch eine Kontinuität über das mittelalterliche bulgarische Reich bis hin zu den christlichen und slawophilen Kämpfern gegen die Türken im 19. Jahrhundert her. Im Kontext der Archaismus-Diskurse, die die slawischen Nationen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts führten, handelt es sich auch um eine Abgrenzung von dem »balkanischen« Erbe Jugoslawiens und von den anderen »balkanischen« Nachbarn, namentlich von den Griechen und Bulgaren. Die Vorstellung von der archaisch-antiken Abstammung der Bevölkerung in der Republik Makedonien spaltete schließlich auch diese selbst in Befürworter und Gegner der altmakedonischen Abstammungsthese. Ein immer größerer Teil der Bevölkerung begann, sich auf antike makedonische statt auf südslawische Wurzeln zu berufen.55 51 Im Bauprojekt werden nicht nur die antike Ästhetik, sondern auch andere Stile, sogar der Sozialistische Realismus sowjetischer Prägung, nachgeahmt. Zu anderen Aspekten des Bauprojekts mit Blick auf die Erinnerungspolitik siehe: Tanja Zimmermann: Erinnerungsexzesse in der Republik Makedonien. In: Barbara Murovec (Hg.): Acta historiae artis Slovenica 18 (2013), Nr. 2, S. 159–181. 52 Rozita Dimova: Ethno-Baroque. Materiality, Aesthetics, and Conflict in Modern-Day Macedonia, New York u. a. 2013, S. 115–143. 53 Zum Streit zwischen Makedonien und Griechenland um den Namen für die Republik Makedonien: Aristotele Tziampiris: Greek Foreign Policy and the Macedonian Name Dispute. From Confrontation to Eureopeanisation? In: Othon Anastasakis et al. (Hg.): Greece in the Balkans. Memory, Conflict and Exchange, Cambridge 2009, S. 138–156. Adamatios Skordos: Makedonischer Namensstreit und griechischer Bürgerkrieg. Ein kulturhistorischer Erklärungsversuch der griechischen Makedonien-Haltung 1991. In: Südosteuropa Mitteilungen 51 (2011), S. 36–56. 54 Voß 2006 (wie Anm. 50). 55 Piotr Majewski: Nationalism, Cyberspace and Convergence Culture. In: Jolanta Sujecka unter Mitarbeit von Maciej Falski (Hg.): Colloqia Humanistica 1. The Continuity and Discontinuity as a Research Problem, Warszawa 2012, S. 65–79.

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Doch gerade durch die überladene, quasi-antike Ästhetik mit einer Abundanz an Säulen und Dekor, die einen vermeintlich repräsentativen, ja imperialen Eindruck erzeugen sollen, wird wiederum ein spezifischer, hybrider »balkanischer« Stil erzeugt, der dem Stil der Gastarbeiter-Bauten überraschend ähnlich sieht.56 Diese Häuser, deren Stil nicht der autochthonen Tradition und Identität verpflichtet ist, sondern fremde Elemente eklektisch miteinander kombiniert, sie mit Dekor (wie Arkaden und Balustraden) überlädt und mit Herrschaftssymbolen (wie Löwen) ausstattet, wurden von den serbisch-amerikanischen Künstlern, Erin Obradović und Marija Djordjević, in einer Kunstaktion photographiert und ausgestellt.57 In beiden Fällen, dem Bauprojekt »Skopje 2014« und den Gastarbeiter-Häusern, geht es um eine Architektur des Nicht-Ortes (non lieu), die laut Marc Augé transitorische Orte wie Einkaufshallen oder touristische Resorts ohne Tradition, Geschichte und Identität kennzeichnet.58 Menschen, die sie besiedeln, entwickeln nur eine temporal begrenzte kollektive Identität, die auf dem räumlichen Nebeneinander und nicht auf der gemeinsamen Erinnerung gründet. Obwohl sich das Projekt »Skopje 2014« um die Konstruktion einer langen, heldenhaften Vergangenheit Makedoniens bemüht, ist sein Stil im Verhältnis zur Region identitäts- und traditionslos. Die älteren urbanen Bauschichten, die nach dem Erdbeben 1963 von international anerkannten Architekten wie Kenzo Tange errichtet wurden, werden dem langsamen Verfall überlassen, der Blick auf sie wird durch die neuen Prunkbauten verstellt.59 Der antik anmutende Stil wird paradoxerweise von einem respektlosen Umgang mit dem genius loci begleitet. Durch diese ahistorische Geste stellt sich der Archaismus als ein Pseudo-Historismus bloß, der in Wahrheit die Tradition und Historizität missachtet. Obwohl die beiden Archaismen (zum einen von Meštrović und Plečnik, zum anderen im Kontext von »Skopje 2014«) die Vorstellung von einer alten, heldenhaften Nation erwecken wollen, sind ihre Strategien dennoch sehr unterschiedlich. 56 Thomas Rosner: Serbien: Die Paläste der Gastarbeiter. In: Die Presse, 8. September 2012, http://diepresse.com/home/panorama/welt/1288073/Serbien_Die-Palaeste-der-Gastarbeiter (Letzter Zugriff: 27. Juni 2015); Anonym: Gastarbajterska arhitektura – spratovi, lavovi i nešto roze (Gastarbeiterarchitektur – Stockwerke, Löwen und etwas Rosa), 28. Mai 2012. In: http:// www.tarzanija.com/gastarbajterska-arhitektura-spratovi-lavovi-i-nesto-roze/(Letzter Zugriff: 28. Juni 2015). 57 Erin Obradović, Marija Đorđević: Dva sprata, tri sprata (Zwei Etagen, drei Etagen), 4. August 2008. In: http://palata.wordpress.com/2008/08/04/day-one/ (Letzter Zugriff: 28. Juni 2014). Intervencija umetnošću – Povratak gastarbajtera (Intervention durch die Kunst – Die Rückkehr der Gastarbeiter), 10. August 2008. In: http://www.nadlanu.com/pocetna/Intervencijeumetnoscu--Povratak-gastarbajtera.a-27042.43.html (Letzter Zugriff: 28. Juni 2015). 58 Marc Augé: Nicht-Orte, 2. Aufl., München 2011. 59 Mirjana Lozanovska: Kenzo Tange’s Forgotten Master Plan for the Reconstruction of Skopje. In: Fabrications. The Journal of the Society of Architectural Historians, Australia and New Zealand 22 (2012), Nr. 2, S. 140–163.

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Der frühere Archaismus unterstützte bei der Gründung der Tschechoslowakei und Jugoslawiens 1918 die Stiftung einer transnationalen slawischen Identität, die sich ihrer Historizität und Erbschaft bewusst war, sie jedoch nicht ethnisch in den Vordergrund rückte. Die Slawen sahen sich in der Gemeinschaft antik-archaischer Kulturen, die aber nur ein Fundament für das Slawische bildete. Der post-jugoslawische makedonische Archaismus ist vielmehr national und tendenziell anti-slawisch ausgerichtet. Obwohl beide Archaismen den Anspruch auf Autochthonie und Kontinuität stellen, ist ihr Verhältnis dem genius loci gegenüber unterschiedlich. Der ältere Archaismus erobert zwar die Lokalität, tritt jedoch mit ihr in einen kontroversen Dialog. Der neue makedonische Archaismus dagegen meidet den Dialog, verstellt den im Raum ausgefalteten Palimpsest der Geschichten, um sie durch eine einzige, simulakrale Geschichte aus einem Guss zu ersetzen. Der Archaismus im sozialistischen Jugoslawien nahm im Umgang mit den älteren Bauschichten einen Platz zwischen den oben genannten ein. Er trat weder in Dialog, noch überschrieb er das Alte, sondern pries vor allem ein Konzept der Verschmelzung. Dabei ging es ihm weniger um einen räumlichen, als vielmehr um einen ideologischen Anspruch, der jede Geschichte am genius loci zu seiner eigenen Antizipation erklärte und zur Volksgeschichte machte. Gerade mit seinem vereinnahmenden ideologischen Zug bereitete der sozialistische Archaismus den Weg für die genealogischen Ansprüche des Bauprojekts »Skopje 2014«.

Karl Kaser

Gibt es den Balkan doch? Krieg und visuelle Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Der Beitrag analysiert die Rolle der beiden Balkankriege (1912–1913) und des Ersten Weltkriegs in der Verbreitung der fotografischen und filmischen Repräsentation auf dem Balkan und die visuelle Repräsentation des Balkans in der Welt. Die drei Kriege stellten einen starken Impuls für einheimische wie auch ausländische Fotografen und Filmemacher dar, den Balkan ins Bild zu setzen, und scheinen eine Übergangsschwelle in Richtung einer Popularisierung der visuellen Repräsentation in der Region über die engen bürgerlichen Grenzen hinaus dargestellt zu haben. Diese Schwelle wird in diesem Beitrag als eine ›erste visuelle Revolution‹ auf dem Balkan bezeichnet. Sie ließ nicht nur visuelle Machtbeziehungen zwischen ›dem Balkan‹ und ›dem Westen‹ entstehen, sondern Fotografien und Filme wurden auch zum ›Beweismaterial‹ für die Existenz ›des Balkans‹. Die Balkankriege (1912–1913) und der Erste Weltkrieg stellten die ersten medialen Großereignisse des 20. Jahrhunderts in Europa dar. Sie markieren den Übergang von traditionellen Formen der Verbildlichung des Krieges – in erster Linie Malerei und Druckgrafik – zu den visuellen Medien, die das 20. Jahrhundert dominieren sollten: Pressefotografie und Dokumentarfilm. Die Fotografie hatte sich zwar als markttauglich erwiesen, um sie jedoch zur Zeitungsberichterstattung einsetzen zu können, bedurfte es des 1882 in Deutschland entwickelten Rasterdruckverfahrens.1 Auf dieser Grundlage konnte sich die Fotoreportage als Berufszweig herausbilden. Das Pressefoto, der Film und speziell die Wochenschau zu Beginn des 20. Jahrhunderts eröffneten auch einem breiten illiteraten Publikum Zugang zu aktuellen Informationen. Die Balkankriege waren nicht nur die ersten modernen Kriege am Ende eines ›langen 19. Jahrhunderts‹; über sie wurde auch in neuer visueller Qualität berichtet. Mein Beitrag wird sich nicht primär mit der Rolle befassen, die Foto und Film in der Kriegspropaganda der Balkankriege und des Ersten Weltkriegs spielten, da darüber bereits Forschungen, wenngleich auf visuelle Genres wie Karikaturen und

1 Jens Jäger: Photographie. Bilder der Neuzeit, Tübingen 2000.

Krieg und visuelle Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts 143

Bildpostkarten bezogen,2 vorliegen. Er zielt vielmehr darauf ab, die Rolle, die diese Kriege im Sinne einer visuellen Revolution auf dem Balkan spielten,3 zu erörtern. Meine Ausführungen gliedern sich in drei Abschnitte: Im ersten werde ich auf das vorsäkulare Bildverständnis eingehen, der zweite evaluiert die Bedeutung der Kriegsfotografie und einsetzenden Filmproduktion für die visuelle Geschichte des Balkans und der dritte die offensichtlich bestehende Verknüpfung zwischen visueller Kultur, den Balkankriegen und dem Balkan als negativem Stereotyp.

Das vorsäkulare Verständnis von Bildern Die Bevölkerung des Balkans4 setzte sich im 19. Jahrhundert hauptsächlich aus Anhängern und Anhängerinnen der drei abrahamitischen Religionen zusammen. Die islamische, jüdische und christlich-orthodoxe5 Bildtradition wiesen bedeutende Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede auf. Diese Bildtradition wurde durch das zweite alttestamentarische Gebot geformt, das dem Menschen die Herstellung von Gottes-, Menschen- und Tierbildern untersagt: »Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgend etwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.«6 Das frühe Christentum war strikt gegen Bilder und Statuen in Kirchen.7 Die Ostkirche überwand diese Haltung jedoch am Ende des frühmittelalterlichen Bilderstreits,8 allerdings unter erheblicher Einschränkung des künstlerischen Ausdrucks.9 Während die Ostkirche der heiligen Ikone einen sakralen Status einräumte, blieb das Judentum dem Bild gegenüber feindlich und der Islam 2 Beispielsweise Yulia Konstantinova: Allies and Enemies: The Balkan Peoples in the Bulgarian Political Propaganda During the Balkan Wars. In: Études Balkaniques XLVII (2011), S. 109–148. Milan Ristović: Schwarzer Peter und die Räuber vom Balkan. Themen über den Balkan und Serbien in den deutschen satirischen Zeitschriften 1903–1918, Wien 2015. 3 Siehe dazu den Überblick von Karl Kaser: Andere Blicke. Religion und visuelle Kulturen auf dem Balkan und im Nahen Osten, Wien u. a. 2013. 4 Der Terminus Balkan bezieht sich hier auf die europäischen Gebietsanteile des Osmanischen Reichs zu Beginn des 19. Jahrhunderts. 5 Die visuelle Tradition der katholischen Bevölkerung Bosniens und Nordalbaniens wird hier nicht berücksichtigt. 6 Exodus 20, 2–5, im 2. Buch Mose, zitiert nach Günter Rombold: Bilder – Sprache der Religion, Münster 2004, S. 27. 7 Lutz Lippold: Macht des Bildes – Bild der Macht. Kunst zwischen Verehrung und Zerstörung bis zum ausgehenden Mittelalter, Leipzig 1993, S. 64–78. 8 Ebd., S. 97–107. 9 Ebd., S. 116–119. Hans Belting: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 2004, S. 194–195, 332.

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zumindest sehr skeptisch eingestellt. Während Islam und Judentum ausschließlich die heiligen Schriften als Quellen der Religiosität und Heiligkeit anerkannten, wurden in der Orthodoxie Schrift und Bild gleichbedeutend. Auch das westliche Christentum erkannte lediglich die Schrift als sakrale Quelle an. Heiligenbilder wurden jedoch als Bibel für die Leseunkundigen und als Illustration anerkannt.10 Der Protestantismus lehnt die Repräsentation Gottes, der Heiligen, insbesondere der heiligen Maria, strikt ab.11 Diese Abwendung des Bildes vom Religiösen eröffnete jedoch größere künstlerische Freiheiten, als dies in der orthodoxen Kirche mit ihrer kanonisierten Ikonenmalerei der Fall war. Das Resultat war ein Auseinanderdriften der visuellen Kulturen in einen eher konservativen Osten und einen tendenziell dynamischen Westen.12 Die Ähnlichkeiten im Bildverständnis des Islam, des Judentums und der Orthodoxie bestanden in der Ablehnung der Dreidimensionalität, da plastisch-figurative Repräsentationen einem wirklichen Menschen zu ähnlich schienen und als Eingriff in das göttliche Schöpfungsmonopol gedeutet werden konnten.13 Dies war der Grund dafür, dass es auf dem Balkan bis weit in das 19. Jahrhundert keine Monumentalkunst gab. Eine zweite Gemeinsamkeit bestand in der Ablehnung der Zentralperspektive in der Ikonenmalerei, der muslimischen Kalligrafie und der jüdischen Buchmalerei. Während in der westlichen Malerei ab etwa 1300 das Auge des Malers zum zentralen Referenzpunkt wurde, blieb in der Ikonenmalerei die sogenannte umgekehrte Perspektive ausschlaggebend.14 Eine dritte Gemeinsamkeit war, dass die Anfänge der visuellen Kultur westlicher Prägung (hier verstanden als auf dem mechanisch-reproduzierbaren Bild basierend) auf dem Balkan bedeutend später als im lateinischen Westen zu datieren sind. Die frühesten Formen des mechanisch reproduzierbaren Bildes im lateinischen Westen waren der Holz- und Metallschnitt sowie der Kupferstich. Die ersten bekannten Holzschnitte stammen aus dem späten 14. Jahrhundert – eine Generation vor Gutenbergs Bibeldruck. Bereits im späten 15. Jahrhundert waren billige bebilderte Flugblätter selbst auf dem Land weit verbreitet.15 Die orthodoxe Kirche stand dem 10 Lippold 1993 (wie Anm. 7), S. 120–123. 11 Sergiusz Michalski: The Reformation and the Visual Arts. The Protestant Image Question in Western and Eastern Europe, London u. a. 2004, S. 108–111. 12 Helmut Fischer: Die Welt der Ikonen. Das religiöse Bild in der Ostkirche und in der Bildkunst des Westens, Frankfurt am Main 2005, S. 29–39. 13 Eric Alliez, Michel Feher: Reflections of a Soul. In: Michel Feher (Hg.): Fragments for a History of the Human Body, New York 1989, S. 47–84, hier S. 65–69. 14 Wendy M. K. Shaw: Ottoman Painting. Reflections of Western Art from the Ottoman Empire to the Turkish Republic, New York 2011, S. 6–8. Zur umgekehrten Perspektive siehe etwa Pavel Florenskij: Die umgekehrte Perspektive, München 1989. 15 Asa Briggs, Peter Burke: A Social History of the Media. From Gutenberg to the Internet, Cambridge 2009, S. 31. Michael Mitterauer: Warum Europa? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs, München 2003, S. 246–247, 263, 265.

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Bilddruck vorerst skeptisch gegenüber. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts scheinen Reproduktionsmethoden allmählich akzeptiert worden zu sein.16 Auch im muslimischen Bereich konnte sich im Zeitalter der traditionellen Kalligrafie der Bilddruck nicht durchsetzen, und in den jüdischen Gemeinden wurde zwar der Buchdruck sehr geschätzt, der Bilddruck jedoch abgelehnt. Die im 19. Jahrhundert allmähliche Verbreitung der westlichen visuellen Kultur auf dem Balkan fiel mit der Verbreitung der Fotografie zusammen. Die visuelle Moderne in Form der Fotografie traf unvermittelt auf die religiös-visuellen Traditionen des Balkans. Die Reaktionen auf diese neue Form der Bildschöpfung fielen je nach Religion unterschiedlich aus, denn Katholizismus, armenische Orthodoxie, die Orthodoxie in byzantinischer Tradition, Islam und Judentum unterscheiden sich hinsichtlich ihrer orthopraktischen Orientierung – und hiermit auch hinsichtlich ihrer visuellen Praktiken. Während im Katholizismus und in der armenischen Orthodoxie die Befolgung des Zweiten Gebots von geringer Bedeutung ist, ist sie in orthodoxen jüdischen und islamischen Schichten von Relevanz. Die Orthodoxie in byzantinischer Tradition ist dazwischen anzusiedeln.17 In Istanbul oder Jerusalem zählten daher Armenier zu den führenden Fotopionieren. 1858 eröffneten die armenischen Brüder Abdullah18 ihr berühmtes Istanbuler Fotostudio.19 Das erste von einem muslimischen Fotografen betriebene Fotostudio in Istanbul (und möglicherweise im gesamten Osmanischen Reich) wurde erst 1915 eröffnet.20 In den ersten Jahrzehnten nach Einführung der Fotografie gab es in den Balkanregionen nur wenige Fotografen. In Griechenland waren im Jahr 1875 lediglich 16 Berufsfotografen registriert, die meisten davon in Athen.21 In der serbischen Hauptstadt Belgrad bestanden im Jahr 1860 neun Studios.22 In den makedonischen Gebieten nahm das produktive Brüderpaar Janaki (1878–1954) und Milton (1880–1964) Manaki um 1900 seine fotografische Tätigkeit auf.23 Das Fotostudio Marubi in Shkodra hatte beinahe ein Monopol auf Fotografie in 16 Verena Han: The Impact of the Eighteenth Century Enlightenment on the Fine Arts in the Balkans. In: East European Quarterly 9,4 (1975), S. 441-453. 17 Kaser 2013 (wie Anm. 3), S. 296–297. 18 Viçen (1820–1902), Hovsep (1830–1908) und Kevork (1839–1918) Abdullah. 19 Engin Cizgen: Photographer Ali Sami 1866–1936, Istanbul 1989, S. 29–30. 20 Engin Özendes: Photography in Turkey. From the First Indistinct Image to Contemporary Interpretations, Istanbul 1999, S. 23. Engin Cizgen: Photography in the Ottoman Empire 1839–1919, Istanbul 1987, S. 15. 21 Alkis X. Xanthakis: History of Greek Photography, 1839–1960, Athen 1988, S. 98, 103. 22 Jasna Marković: Anastasovo vreme (Die Epoche von Anastas Stojanović). In: Miodrag Djordjević (Hg.): Fotografija kod Srba 1839–1989 (Serbische Fotografie 1839–1989), Belgrad 1991, S. 25–34, hier S. 30–33. 23 Robert Elsie: Introduction. In: Robert Elsie (Hg.): Albania and Kosovo in Colour 1913. The Autochromes of the Albert Kahn Collection, Prishtina 2008, S. 5–16, hier S. 11.

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Nordalbanien inne. Pietro Marubi (1834–1903) war aus Italien zugewandert und nahm um 1860 seine Tätigkeit auf.24 Diese Angaben lassen darauf schließen, dass die Fotografie vor den Balkankriegen weit davon entfernt war, ein Massenphänomen in der Region darzustellen. Weitere Daten weisen darauf hin, dass der Import westlicher visueller Technologie insgesamt ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert intensiviert wurde. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass die modernen visuellen Techniken Fotografie und Film zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf keine große Akzeptanz in der Balkanbevölkerung stießen; orthodoxe Juden und Muslime lehnten sie sogar ab. Allerdings sollten die ersten Fotografen in der Region einen Prozess in Gang bringen, der die Balkanbevölkerung mit der westlichen visuellen Moderne in Beziehung brachte. Waren die traditionellen visuellen Kulturen des Balkans relativ autonom gewesen, so waren sie dies ab nun nicht mehr.

Fotografie, Film und Propaganda Die drei europäischen Kriege des beginnenden 20. Jahrhunderts, die beiden Balkankriege und der ›Große Krieg‹, zogen einen massiven Einsatz von Fotografie und Film sowie neue Formen gesellschaftlicher Kommunikation und eine veränderte Beziehung zur Realität nach sich. Von nun an konnten nicht nur selbst erfahrene Kriege als real erachtet werden, sondern auch über Bilder vermittelte. Die Kinos zeigten Dokumentar- und Propagandafilme, und die Fotografie wurde Teil der Kriegsberichterstattung.25 Für die westlichen kriegführenden Parteien, die bereits lange Erfahrung mit der visuellen Moderne hatten, stellte der Erste Weltkrieg einen weiteren Schritt in Richtung einer Ausweitung der visuellen Kommunikation dar. In den Balkanländern ebneten die drei Kriege den Weg in Richtung der visuellen Moderne. Dokumentarfotografie Die Einführung der Fotografie war in der industrialisierten Welt Ausdruck einer visuellen Revolution. Dies war in den Balkangebieten aus zumindest drei Gründen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nicht der Fall: Erstens bestanden die bereits erwähnten religiösen Hindernisse. Zweitens waren die Balkanstaaten Agrarstaaten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren etwa 80 Prozent der Bevölkerung 24 Robert Elsie: Writing in Light. Early Photography of Albania and the Southwestern Balkans, Prishtina 2007, S. 9–10. 25 Gerhard Paul: Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn u. a. 2004, S. 105–106.

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im primären Produktionssektor tätig, und es konnten keine relevanten Überschüsse erwirtschaftet werden. Dies war der Grund dafür, dass die Fotografie bis zu den Balkankriegen in ihrer Verbreitung auf eine kleine urban-bürgerliche Schicht beschränkt blieb, die in ihrem jeweiligen Land die visuelle Avantgarde darstellte. Als kommerziell aktive urbane Bevölkerungsgruppe teilte sie visuelle Vorstellungen mit ihren westlichen Geschäftspartnern, während es der breiten Masse der Bevölkerung nicht möglich war, sich fotografische Bilder anfertigen zu lassen. Der dritte Grund war ebenfalls ein ökonomischer. Die Kombination von Text- und Fotodruck in Zeitungen und Zeitschriften war ab 1882 technisch möglich, aber teuer.26 Eine entsprechende Investition rechnete sich erst mit einer Auflagenhöhe, die in den Balkanländern kaum erzielt werden konnte. Erst die Mobilisierung aller Ressourcen in den Balkankriegen veränderte diese Situation. Die kriegsführenden Staaten luden ausländische Kameramänner und Fotoreporter zur Frontberichterstattung ein.27 Durch sie entfaltete sich eine Frühform des Fotojournalismus, die sich im Ersten Weltkrieg fortsetzte. Die Zeitspanne zwischen der Fotoherstellung und dem Vertrieb der Zeitung mit dem Foto konnte aufgrund von technischen Weiterentwicklungen beträchtlich reduziert werden. Diese zeitliche Nähe erhöhte die Authentizität des Fotos und förderte die Überzeugung, dass es wahre und identische Information liefere.28 Diese Beobachtungen lassen die Annahme zu, dass die visuelle Kriegsberichterstattung in den Balkankriegen und im Ersten Weltkrieg eine erste visuelle Revolution auf dem Balkan auslöste. Ab dem Herbst 1912, als der Erste Balkankrieg ausbrach, begann die Zahl an zirkulierenden Fotos, aber auch Filmen geradezu zu explodieren. Dies setzte sich im Ersten Weltkrieg fort – nicht nur in den Balkanländern, sondern auch im übrigen Europa. In Deutschland beispielsweise publizierten die etwa 30 illustrierten Tages- und Wochenzeitungen mit einer Auflage von beinahe zwei Millionen pro Woche ab Kriegseintritt ganz- und doppelseitige Kriegsfotografien.29 Die kleinen Balkanländer wiesen kein vergleichbares Medienpotenzial auf, jedoch bezeugt das Beispiel Serbiens, dass das Land in der Lage war, illustrierte Propagandazeitschriften wie etwa Der Balkankrieg in Bild und Wort30 im Verlauf der Balkankriege herauszubringen. 26 Milanka Todić: Istorija Srpske fotografije (1839–1940) (Geschichte der Fotgorafie Serbiens, 1839–1940), Belgrad 1993, S. 59–60. 27 Eyal Ginio: Mobilizing the Ottoman Nation during the Balkan Wars (1912–1913): Awakening from the Ottoman Dream. In: War in History 12 (2005), S. 165. http://wih.sagepub.com/ cgi/content/abstract/12/2/156 (Letzter Zugriff: 1. Juli 2015). 28 Todić 1993 (wie Anm. 26). 29 Ulrike Oppelt: Film und Propaganda im Ersten Weltkrieg. Propaganda als Medienrealität im Aktualitäten- und Dokumentarfilm, Stuttgart 2001, S. 102–103. 30 »Balkanski rat u slici i reči« (Die Balkankriege in Bild und Wort): http://ubsm.bg.ac.rs/latinica/dokument/1916/balkanski-rat-u-slici-i-reci (Letzter Zugriff: 1. Juli 2015).

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Diese Zeitschriften waren in der Lage, bis zu hundert Kriegsfotografien auf zehn Seiten zu drucken.31 Die in den Balkankriegen und danach kursierenden Fotos wurden von in Militäreinheiten dienenden Berufs- und Amateurfotografen wie auch von ausländischen Pressefotografen angefertigt. Das serbische Oberkommando engagierte den damals 27-jährigen Rista Marjanović (1885–1969), der seine fotografische Ausbildung in der Pariser Redaktion des New York Herald erhalten hatte, im Ersten Balkankrieg für die Sammlung und Verbreitung visueller Kriegsinformationen. Er produzierte dramatische Bilder über die Mobilisierung, den Ausmarsch und die Eroberung bisher unter osmanischer Administration stehender Städte durch die serbische Armee und wird als erster serbischer Fotoreporter erachtet.32 Im Verlauf des Ersten Weltkriegs widmeten die verantwortlichen Stellen der visuellen Dokumentation mehr Aufmerksamkeit. Großbritannien spielte diesbezüglich eine Vorreiterrolle. Kurz nach Kriegsbeginn wurde das War Propaganda Bureau gegründet. Frankreich errichtete im April 1915 eine Section Photographique de l’Armée33 und Deutschland im Oktober 1915 das Kriegspresseamt. Das serbische Oberkommando holte Marjanović wieder aus Paris zurück.34 Die bereits in Saloniki stationierte serbische Armee gründete im August 1916 eine Propagandasektion, der 13 Maler, zehn mit modernen Kodak-Kameras ausgerüstete Fotografen35 und sechs Filmemacher36 angehörten. Der Boom an Fotografen und Fotografien hatte nachhaltige Auswirkungen: Die Fotografie wurde ein eigenständiges visuelles Pressemedium.37 Abschließend sollte erwähnt werden, dass seit den Anfängen der Kriegsfotografie im Krimkrieg (1853–1856) einige Tabus der frühen fotografischen Berichterstattung mit wenigen Ausnahmen auch auf dem Balkan beachtet worden waren. So etwa wurden keine toten Soldaten und Gräueltaten veröffentlicht. Einerseits wurde zwar die neueste Waffentechnologie abgebildet, andererseits das Schlachtfeld jedoch in der Tradition der Genremalerei als behaglicher vormoderner Ort dargestellt.38 Eine der bemerkenswertesten Ausnahmen von dieser Regel stellte die von der Carnegie-Stiftung für internationalen Frieden in Auftrag gegebene 31 Todić 1993 (wie Anm. 26), S. 60–64. 32 Ebd. 33 Paul 2004 (wie Anm. 25), S. 110–112. 34 Dragoje Todorović: »Ratni album« Riste Marjanovića – vredan spomenik srpske istorije (Das Kriegsalbum von Rista Marjanović – ein wertvolles Denkmal der serbischen Geschichte), http://www.rastko.org.rs/fotografija/rmarjanovic/uvod.html (Letzter Zugriff: 1. Juli 2015). 35 Gordana Vidaković: Verni pratilac srpskih ratnika (Würdige Nachfolger der serbischen Soldaten). In: Djordjević 1991 (wie Anm. 22), S. 64–71, hier S. 64–65. 36 Todić 1993 (wie Anm. 26), S. 60–64. 37 Ebd., S. 23–24. 38 Paul 2004 (wie Anm. 25), S. 79–80.

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Untersuchung der Ursachen und des Verlaufs der Balkankriege dar.39 Was an dieser wirkmächtigen Publikation schockiert, sind nicht so sehr die zutage geförderten Fakten, sondern die 50 veröffentlichten Fotografien, die von Toten, Verwundeten und schrecklicher Zerstörung zeugen. Leider sind weder die Urheber dieser Fotografien noch die Auftraggeber bekannt. Wochenschau und Dokumentarfilm Im Dezember 1895 stellten Auguste und Louis Lumière in Paris die ersten in Europa gedrehten Kurzfilme vor; knapp zwei Jahre später, 1897, gründeten Charles und Émile Pathé eine Firma, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zum weltweit größten Filmproduktionsunternehmen aufsteigen sollte.40 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts überwog noch die Produktion von Sachfilmen, die üblicherweise nicht länger als fünf Minuten dauerten. Dokumentarfilme im eigentlichen Sinn kamen erst im Laufe der Balkankriege und des Ersten Weltkrieges auf.41 Wenige Jahre vor Ausbruch des Ersten Balkankrieges – ab etwa 1905 – wurden in Europa die ersten permanenten Kinosäle errichtet. Die Balkanländer folgten diesem europäischen Trend. So wurde in Sofia 1908 das erste Kino errichtet, das anfänglich hauptsächlich französische und deutsche Filme zeigte.42 Auch in Istanbul wurde in diesem Jahr das erste Kino mit dem Premierefilm »Die Wahlen und die Eröffnung des Parlaments in Konstantinopel« mit den Abgeordneten im Publikum eröffnet.43 Belgrad folgte ein Jahr darauf mit einem ersten Kino im Hotel »Paris«.44 Zu dieser Zeit gab es in Deutschland bereits etwa 2400 Kinos, allein in Berlin zirka 200.45 Die Zahl gedrehter Filme und an Kameraleuten, die damals eine wesentlich wichtigere Rolle als heute spielten, da es noch keine Regisseure gab, war in den Balkanländern vergleichsweise gering. Zu den prominentesten Ausnahmen zählen 39 Carnegie Endowment (Hg.): Report of the International Commission to Inquire into the Causes and Conduct of the Balkan Wars. International Commission to Inquire into the Causes and Conduct of the Balkan Wars, Aylesbury 1970. 40 Briggs, Burke 2009 (wie Anm. 15), S. 165. 41 Oppelt 2001 (wie Anm. 29), S. 22. 42 Ronald Holloway: Bulgarien. In: Bernhard Frankfurter (Hg.): Film, Staat und Gesellschaft im Europa nach der Wende, Wien 1995, S. 90. Alexander Kostov: Technischer Fortschritt, Modernisierung und Öffentlichkeit in Bulgarien Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. In: Harald Heppner, Rumjana Preshlenova (Hg.): Öffentlichkeit ohne Tradition. Bulgariens Aufbruch in die Moderne, Frankfurt am Main 2003, S. 83–95, hier S. 91. 43 Mustafa Özen: Visual representation and propaganda: Early film and postcards in the Ottoman Empire, 1895–1914. In: Early Popular Visual Culture 6 (2008), S. 145–157. 44 Dušan Kosanović: Serbian Film and Cinematography (1896–1993), http://www.rastko.org. rs/isk/dkosanovic-cinematography.html (Letzter Zugriff: 4. Mai 2014). 45 Oppelt 2001 (wie Anm. 29), S. 83.

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die Brüder Manaki (1878–1954), die in der heute makedonischen Stadt Bitola ein Fotoatelier betrieben. Janaki Manaki war 27 Jahre alt, als er 1905 eine Filmkamera in London erwarb.46 Der erste Filmproduzent Serbiens war der Eigentümer des Hotels »Paris«, Svetozar Botorić. Er nahm die Filmproduktion mit einem französischen Kameramann im Jahr 1911 auf und präsentierte im Herbst dieses Jahres den ersten serbischen Spielfilm »Karadjordje – ein historisches Drama« über das Leben und die Taten des Anführers im Ersten Serbischen Aufstand im Jahr 1804. Zu den Filmpionieren des Balkans zählt auch der Grieche Spyros Demetrakopoulos, der zwischen 1910 und 1913 vier kurze Filme produzierte.47 Der erste rumänische Spielfilm »Fatale Liebe« entstand 1911.48 In Bulgarien drehte der Filmpionier Vasil Gendov (1891–1970) 1915 seinen Streifen »Der Bulgare ist galant«.49 Im Osmanischen Reich wurde vor dem Ausbruch des Ersten Balkankriegs kein Film hergestellt. Unter diesen Umständen gaben die beiden Balkankriege der Filmproduktion neue Impulse. Allerdings stammten die meisten Kriegsdokumentationen von ausländischen Kameramännern. Der Anteil heimischer Kameramänner und Produzenten blieb gemessen an der Zahl produzierter Filme unbedeutend. Auf serbischer Seite muss der Filmpionier Djoka Bogdanović (1860–1914), der auch Besitzer des Belgrader Kinos »Kasino« war, erwähnt werden. Ursprünglich hatte er die Absicht, die serbischen Siege im Ersten Balkankrieg nachzustellen. Zu diesem Zweck engagierte er zwei Kameramänner, die für die »Pathé«-Filiale in Wien arbeiteten. Mitten in den Vorbereitungen brach der Zweite Balkankrieg aus. Deshalb gab er den ursprünglichen Plan auf und entschloss sich, Filme über aktuelle Ereignisse an der serbischen Front herzustellen. Seine Kameramänner filmten Kampfszenen, zerstörte Dörfer, Kriegsgefangene und das Alltagsleben der Soldaten. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, setzte er seine Kriegsberichterstattung mit Wochenschaubeiträgen fort.50 In Griechenland war es der ungarische Kameramann Joseph Hepp (1897– 1968)51, der eine Genehmigung erhielt, an der griechischen Front in beiden Balkankriegen Filmaufnahmen zu tätigen; unter anderem filmte er die Tätigkeit des 46 Eleni Psoma: Filmland Griechenland – Terra incognita. Griechische Filmgeschichte zwischen Politik, Gesellschaft und internationalen Impulsen, Berlin 2008, S. 21–26. 47 Ebd., S. 36–43. 48 Michael J. Stoil: Balkan cinema. Evolution after the revolution, Ann Arbor, MI 1982, S. 9–12. 49 Holloway 1995 (wie Anm. 42), S. 90–94. Kostov 2003 (wie Anm. 42), S. 83–95, hier S. 91. 50 Felix Schürmann, Saša Erdeljanović: A Pionieer of War Reporting: Dyordye Dyoka Bogdanović, 2013: http://blog.europeana.eu/2013/08/a-pioneer-of-cinematic-war-reporting-dyordyedyoka-bogdanovic/ (Letzter Zugriff: 1. Juli 2015). Stevan Jovičić: Kinematografija u Srbiji 1896–1941 (Kino in Serbien 1896–1941). In: Südslavistik-Online 2 (2010), S. 23–33, hier S. 26–27. 51 Hepp hatte sich 1910 in Griechenland niedergelassen.

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Roten Kreuzes. Seine Filme wurden im Königspalast und in den Athener Kinos gezeigt.52 Die bemerkenswerteste Leistung eines heimischen Kameramanns und Filmproduzenten stellt der Dokumentarfilm »Balkankrieg« des bulgarischen Kriegskorrespondenten Aleksandăr Žekov (1879 geboren) dar.53 Der 43 Minuten lange Streifen ist möglicherweise der früheste europäische Kriegsdokumentarfilm. Nachdem Žekov seinen Dienst in der russischen Flotte quittiert hatte, setzte er seine Karriere 1907 in der »Pathé«-Filiale von St. Petersburg fort. Als der Erste Balkankrieg ausbrach, verließ er zusammen mit 800 Kriegsfreiwilligen Russland, um Bulgarien zu unterstützen. Žekov erhielt die Möglichkeit, seinen Dokumentarfilm herzustellen, dessen Premieren am 28. Juni in Varna und am 8. August 1914 in Sofia stattfanden. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er vielfach und quer durch das Land aufgeführt.54 Die einheimische Produktion konnte die Neugier des Filmpublikums bei weitem nicht befriedigen. Das Interesse an Wochenschaubeiträgen stieg im Verlauf der Balkankriege beträchtlich an. Während des Ersten Weltkriegs erhöhte sich sowohl die Zahl der produzierten Filme als auch die der Kinobesuche. Verschiedene Faktoren trugen dazu bei: Je länger der Krieg dauerte, desto dringender schien den Regierungen und den Armeeführungen die Notwendigkeit, Bevölkerung und Soldaten nicht nur im Inland zum Durchhalten zu ermuntern. So gründete Deutschland im Oktober 1914 die »Zentralstelle für Auslandsdienst«. Deren Filmabteilung begann 1916, wöchentlich Wochenschauen nach Bulgarien, Rumänien und ins Osmanische Reich zu versenden. Ein Bericht aus dem Jahr 1917 erwähnt, dass diese von 5.6 Millionen Menschen gesehen worden wären.55 Auch die britischen und französischen Okkupationsmächte organisierten etwa in Makedonien Filmvorführungen mit Wochenschauen und Komödien.56 Ein weiterer Faktor, der hier erwähnt werden sollte, war der Umstand, dass der Erste Weltkrieg die Filmproduktion auch im Osmanischen Reich stimulierte. Bis dahin war wahrscheinlich kein osmanischer Film produziert worden.57 Fuat Efendi Uzkınay (1888–1956) war enthusiastischer Cineast und wird für den ersten Kameramann des Reichs gehalten. Als das Reich im November 1914 in den Krieg 52 Nikos Theodosiou: War and Cinema in Greece: http://theodosiou.wordpress.com/english-pages/war-and-cinema-in-greece (Letzter Zugriff: 1. Juli 2015). 53 Über das Leben und Wirken von Žekov ist wenig bekannt. So war es mir nicht möglich, sein Todesjahr zu ermitteln. 54 Petăr Kărdžilov: Filmăt »Balkanskata vojna« v istorijata na bălgarskoto kino (Der Film »Balkankrieg« in der Filmgeschichte Bulgariens), Sofia 2011, passim. Theodosiou o. J. (wie Anm. 52). 55 Oppelt 2001 (wie Anm. 29), S. 107, 109, 279–280. 56 Theodosiou o. J. (wie Anm. 52). 57 Ginio 2005 (wie Anm. 27), S. 165.

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eintrat, versuchte die Regierung die Bevölkerung für diesen Schritt auch mit Hilfe des Films zu gewinnen. Hierfür sollte etwa das von den Russen errichtete Siegermonument in San Stefano, das die osmanische Bevölkerung an den erniedrigenden Waffenstillstandsvertrag von 1878 nach dem Russisch-Osmanischen Krieg von 1877/78 erinnert hatte, gesprengt werden. Die Sprengung sollte fotografiert und gefilmt werden. Zuerst wurde eine österreichisch-ungarische Filmproduktionsfirma mit der Verfilmung beauftragt. Letztlich fiel die Entscheidung zugunsten Fuat Efendis, der zu diesem Zeitpunkt als Reserveoffizier diente, jedoch keinerlei Kameraerfahrung besaß. Angeblich soll er rasch von einem österreichischen Experten ausgebildet worden sein, wonach er die Sprengung am 14. November 1914 aus 15 Metern Entfernung gefilmt habe. Der Film soll 150 Meter lang gewesen sein. Er verschwand jedoch bald nach seiner Aufnahme – oder wurde nie gedreht.58 Ohne den Propagandabedarf wären diesem Film – falls es ihn je gab – wahrscheinlich nicht andere gefolgt. 1915 besuchte der osmanische Kriegsminister Deutschland. Nachdem er deutsche Propagandafilme gesehen hatte, entschied er noch im selben Jahr, das »Zentrale Filmheeresamt« einzurichten. Wenngleich das Amt nur wenige Kurzfilme und Wochenschauen produzierte, so begründete es dennoch eine gewisse Kontinuität in der osmanischen und türkischen Filmproduktion.59 Abschließend sei herausgestrichen, dass Film und Fotografie nicht nur das visuelle Sensorium von Bewohnern und Bewohnerinnen der Balkanländer beeinflussten, sondern dass die beiden Medien eine wichtige Gemeinsamkeit teilten: ihre weltweite Verbreitung – die Fotografie als Fotopostkarte und der Film über den Filmverleih. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurden Wochenschaufilme über Ereignisse auf der Welt immer häufiger. Gleichzeitig stieg das Bedürfnis der Unter- und Mittelschichten nach billiger Unterhaltung und nach Informationen über das Weltgeschehen.60

Visuelle Revolution und Balkanismus Diese visuelle Revolution hatte insofern Konsequenzen, als die modernen visuellen Technologien Fotografie und Film zu wichtigen Instrumenten der Etablierung asymmetrischer visueller Machtbeziehungen zwischen dem ›Westen‹ und dem 58 Altay Atli: The Birth of Turkish Cinema: http://www.turkeyswar.com/homefront/cinema.htm, 2010 (Letzter Zugriff: 1. Juli 2015). Gönül Dönmez-Colin: Turkish cinema. Identity, distance and belonging, London 2008, S. 23. Asuman Suner: New Turkish Cinema. Belonging, Identity and Memory, London 2010, S. 2. 59 Ebd. 60 Frank Stern: Screening Politics: Cinema and Intervention. In: Georgetown Journal of International Affairs 1 (2000), S. 65–73.

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›Balkan‹ wurden. Die großen westlichen Medienproduzenten entsandten Fotografen und Kameraleute zu den Kriegsschauplätzen des Balkans. Die Annahme, dass weitaus mehr ausländische als einheimische Fotografen und Filmemacher in diesem visuellen Geschäft tätig waren, scheint gerechtfertigt. Dem ›Westen‹ wurde es dadurch möglich, sich sein eigenes Bild vom ›kriegerischen Balkan‹ zu schaffen. Eine visuelle Balkanberichterstattung in westlichen Ländern gab es bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie war erstens charakterisiert durch spezifische visuelle Strategien, die auf traditionelle Formen der abendländischen Ikonografie zurückgriffen, zweitens durch das Herausstreichen von mehr Gemeinsamkeiten als Unterschieden zwischen den einzelnen Völkern des Balkans und drittens durch Kriegs- und Krisenberichterstattung; in Friedenszeiten blieb die Balkanreportage beinahe aus. Die Anfänge der visuellen Berichterstattung über Teile der Region gehen auf die Zeit des Krimkriegs (1853–1856) zurück, fokussierten auf die Fürstentümer Moldau und Walachei und porträtierten ein friedvolles, aber primitives Leben einer angeblich ursprünglichen Bevölkerung. Während diese frühen Bildberichte die balkanischen Ethnien noch als weitgehend passiv und friedfertig darstellen, ist seit den Unruhen in Montenegro und Bosnien-Herzegowina in der ersten Hälfte der 1860er-Jahre eine Tendenz in der westlichen Bildberichterstattung zu beobachten, die zunehmend die Gewalttätigkeit auf dem Balkan hervorhebt.61 In der Zeit zwischen dem Aufstand in der Herzegowina (1874/75) und dem Russisch-Osmanischen Krieg (1877/78) kam es zu einem quantitativen wie qualitativen Höhepunkt in der visuellen Berichterstattung über Balkanthemen, die an das Mitleid des Publikums mit der notleidenden christlichen Balkanbevölkerung appellierte: Genreillustrationen zeigen wehklagende Menschen auf Friedhöfen und weinende Menschen vor ihren zerstörten Dörfern. Im Gegensatz dazu steht der lokale osmanische Krieger, mit Pluderhosen, Kaftan und Turban bekleidet, ein Gewehr in der Hand haltend, den Jatagan im Gürtel tragend und ein langes Messer zwischen den Zahnreihen festgeklemmt.62 Die Kriege von 1912 bis 1918 resultierten in einem generellen Abwertungsdiskurs des Balkans, der sich bis heute erhalten hat. Die bulgarisch-amerikanische Historikerin Maria Todorova benannte diesen pejorativen westlichen Balkandiskurs als »Balkanismus«, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden sei. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in den Augen der Autorin »Balkanisierung« zu einem neuen Schimpfwort in Europa. Dieser Terminus sei zu einem Äquivalent nicht nur für die Fragmentierung großer politischer Einheiten, sondern auch zu einem Synonym für einen Rückfall in Tribalismus, Primitivismus und Barbarismus geworden. Die Balkanbevölkerungen wären als die anderen 61 Martina Baleva: Bulgarien im Bild. Die Erfindung von Nationen auf dem Balkan in der Kunst des 19. Jahrhunderts, Köln u. a. 2012, S. 75–91. 62 Ebd., S. 98–118.

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Europäer stigmatisiert worden, da sie angeblich vom Standardverhalten der ›zivilisierten Welt‹ abwichen. Diesen Ruf, barbarischen und grausamen Charakters zu sein, habe die Bevölkerung der Region nie mehr völlig loswerden können; er sei durch die Kriege auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren aktualisiert worden.63 Todorovas reich rezipierte Thesen fokussieren primär auf textliche Diskurse und weniger auf visuelle, was auch verständlich ist, da die Arbeit mit visuellen Quellen andere Methoden erfordert als jene mit schriftlichen. Die visuelle Ebene ist jedoch gerade deswegen interessant, weil diese visuelle Revolution auf dem Balkan genau zu einem Moment angestoßen wurde, der nach Todorova entscheidend für die Formulierung von Balkanstereotypen durch ›den Westen‹ gewesen sei. Meine Annahme ist, dass die textlichen Narrative, auf die sich Todorova bezieht, im Vergleich zu den Bildern und Filmen, die im Verlauf dieser drei Kriege in Umlauf gebracht wurden, eine geringere oder zumindest eine andere Rolle in der Konstruktion von negativen Balkanimages spielten. Ich möchte betonen, dass es sich dabei um eine Hypothese handelt, die erst bewiesen werden muss. Der erste Kriegskorrespondent mit Filmkamera, der sich in der Region engagierte, war der Brite Frederic Villiers (1851–1922) im Griechisch-Osmanischen Krieg von 1897. Er nahm vier Kurzfilme auf. In der Meinung seines Auftraggebers, des internationalen Filmvertreibers Georges Méliès (1861–1938), waren diese unverkäuflich. Stattdessen stellte Méliès eine Kriegsszene nach, die er als »Kriegsschiff vor Kreta« benannte.64 Vom Italo-Osmanischen Krieg (1911) existierten angeblich bereits Wochenschauberichte65, von denen allerdings keine Details bekannt sind. Solche gibt es erst aus der Filmproduktion in den beiden Balkankriegen. In diesen waren 29, davon 26 westliche Filmproduktionsfirmen an und hinter der Front tätig; sie produzierten 109 Dokumentations- und Wochenschaufilme.66 Etwa die Hälfte davon wurde von »Pathé« hergestellt.67 Ein ungarisches Magazin berichtete am 13. Oktober 1912, dass bei wichtigen Kriegsereignissen bis zu 50 Kameraleute zugegen waren.68 Neben diesen Dokumentationen wurden 46 Spielfilme, deren Inhalte 63 Maria Todorova: Imagining the Balkans, Oxford 1997. 64 Oppelt 2001 (wie Anm. 29), S. 90, 96. Theodosiou o. J. (wie Anm. 52). Who’s Who of Victorian Cinema: Frederic Villiers: http://www.victorian-cinema.net/villiers, 2014 (Letzter Zugriff: 1. Juli 2015). 65 Theodosiou o. J. (wie Anm. 52). 66 Von diesen Filmen wurden 42 von französischen, 23 von italienischen, 15 von serbischen, elf von britischen, sieben von bulgarischen Firmen oder Kameraleuten, einer von einer deutschen und einer von einer österreich-ungarischen Firma hergestellt. Siehe Igor Despot: The Balkan Wars in the Eyes of the Warring Parties. Perceptions and Interpretations, Bloomington 2012, S. 229–231. Kostadin Kostov: Balkanskite vojni (1912–1913) v svetovnoto kino (Die Balkankriege im internationalen Film), Plovdiv 2006, S. 218–250, 279. 67 Kărdžilov 2011 (wie Anm. 54), S. 194. 68 Ebd., S. 186.

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sich auf die Balkankriege bezogen, produziert; darunter waren fünf bulgarische Produktionen, der Rest wurde von westlichen Produktionsfirmen hergestellt.69 Unter den Kameraleuten waren wichtige und erfahrene Bildberichterstatter wie Frederic Villiers oder der Ungar Lajos Zoltan Arpad Pitrolf (Louis Pitrolf de Beery, geboren 1879). Letzterer hatte bereits im Jahr 1909 Filme in Bosnien aufgenommen, und 1911 war er jener Kameramann, der den ersten serbischen Spielfilm hergestellt hatte. Der Franzose Jean Hémard war der aktivste Kameramann in den Balkankriegen. Er arbeitete in Montenegro, in Janina (als die Stadt von griechischen Truppen erobert wurde) sowie in Belgrad und filmte Aktionen der serbischen Armee in Makedonien. Seine filmischen Reportagen von der osmanisch-serbischen Front wurden zu einer zehnteiligen Dokumentationsserie unter dem Titel »Balkankriege« zusammengespielt.70 Der Australier George Hubert Wilkins (1888–1958) repräsentierte die britische Filiale von »Gaumont« an der osmanischen Front. Er war der erste Kameramann, der direkt an der Frontlinie filmte.71 Die Balkankriege stellten ein willkommenes Geschäft für die Wochenschauproduzenten dar. Die Sachfilmproduktion war in eine Krise geraten, nachdem die ersten permanenten Kinos errichtet worden waren und der Aufstieg des Spielfilms um 1905 eingesetzt hatte. Dieses Problem wurde von »Pathé« dadurch gelöst, dass die Sachfilme regelmäßig wöchentlich gewechselt und dadurch zu Wochenschauen wurden. »Pathé« führte dieses neue System zuerst in Paris (1908) und dann in ganz Frankreich, Deutschland und England (1909) ein. 1911 startete »Pathé Weekly« in den USA und rief zahlreiche US-amerikanische Nachahmungen hervor.72 In Deutschland führten die Balkankriege zu einer Intensivierung der Kriegsberichterstattung. Die Freiburger »Expreß Films Co. GmbH« brachte »Der Tag im Film. Erste deutsche tägliche kinematographische Berichterstattung« auf den Markt.73 Somit war eine Infrastruktur entstanden, die es ermöglichte, die Ereignisse der Balkankriege in die restliche Welt zu berichten. Die Hypothese ist daher nicht unbegründet, dass diese mehr als hundert Wochenschaudokumentationen über die Balkankriege und eine unbekannte Zahl über den Ersten Weltkrieg von einem Massenpublikum in westlichen Ländern konsumiert wurde. So gab es beispielsweise in Großbritannien 1914 bereits etwa 5.000 Kinos; die Arbeiterklasse stellte die Mehrzahl des Kinopublikums dar. Im Juli 1916 wurden 20

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Kostov 2006 (wie Anm. 66), S. 251–278. Kărdžilov 2011 (wie Anm. 54), S. 194. Ebd., S. 189–190. Charles Musser: Der frühe Dokumentarfilm. In: Geoffrey Nowell-Smith (Hg.): Geschichte des internationalen Films, Stuttgart u. a. 1998, S. 80–88, hier S. 81–82. 73 Oppelt 2001 (wie Anm. 29), S. 88–89.

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Millionen Eintrittskarten pro Woche verkauft.74 Darüber hinaus ist zu bedenken, dass »Pathé« ab Juli 1907 Filme nicht mehr verkaufte, sondern komplette Wochenprogramme verlieh. Durch das weltweite Vertriebsnetz wurden ab 1909 300 bis 400 Kopien der wöchentlichen Film- und Wochenschaublöcke verschifft, die von etwa 500 Millionen Menschen weltweit konsumiert wurden.75 Es wäre eine faszinierende Aufgabe, dieses Wochenschaukino in Kombination mit anderem visuellen Material (speziell Pressefotografien und illustrierten Postkarten) zu analysieren und der Frage der Konstruktion von Balkanstereotypen durch Kameraleute und Filmproduzenten nachzugehen. Leider existiert ein Großteil des Filmmaterials nicht mehr, und daher wird diese Forschungsfrage für immer offen bleiben müssen. Zu den am weitesten verbreiteten Dokumentationen über die Balkankriege zählt der Streifen »Mit der Kamera in der Schlachtfront«, der vom deutschen Kameramann Robert Schwobthaler (1876–1934) hergestellt wurde. Die »Expreß Films« erhielt vom griechischen König Konstantin I. die Erlaubnis, an der griechischen Seite des Frontverlaufs zu filmen. Die deutsche und französische Premiere war im Oktober 1913, die ungarische und griechische 1914. Er konzipierte den Film als Antikriegsfilm. Eine Filmszene wurde nachgestellt, die anderen (lange Szenen marschierender Soldaten; die makedonische Bevölkerung, die der griechischen Befreiungsarmee zujubelte, aber auch Szenen der Verwüstung) wurden original aufgenommen.76 Während sich die Fotografie in der Zwischenkriegszeit eines wachsenden Marktes erfreute, war die Schubkraft der Kriege zu schwach, um eine Filmindustrie in den Balkanländern hervorzubringen. Diese Schwäche sollte durch die Vertriebskanäle des Hollywoodfilms kompensiert werden. Zusammenfassend lässt sich also von einer regelrechten visuellen Revolution auf dem Balkan und in der Berichterstattung über den Balkan, die von den sechs Kriegsjahren von 1912 bis 1918 ausgelöst wurde, sprechen. Diese Kriege stellten einen starken Impuls für einheimische wie auch ausländische Fotografen und Filmemacher dar, den Balkan ins Bild zu setzen, und scheinen eine Übergangsschwelle in Richtung einer Popularisierung der visuellen Repräsentation in der Region über die engen bürgerlichen Grenzen hinaus dargestellt zu haben. Diese Schwelle als eine ›visuelle Revolution‹ zu bezeichnen, ist daher keine Übertreibung. Sie ließ allerdings auch visuelle Machtbeziehungen zwischen ›dem Balkan‹ und 74 Nicholas Hiley: The British Cinema Auditorium. In: Karel Dibbets, Bert Hogenkamp (Hg.): Film and the First World War, Amsterdam 1995, S. 160–170, hier S. 161–162. 75 Richard Abel: In the belly of the beast. The early years of Pathé-Frères. In: Film History 5 (1993), S. 363–385, hier S. 370, 374–375. 76 Jan-Christopher Horak: With the Greeks in the Firing Line (1913): (Letzter Zugriff: 1. Juli 2015).

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›dem Westen‹ entstehen. Fotografien und Filme wurden zum ›Beweismaterial‹ für eine Dominanz der ›westlichen Zivilisation‹ über einen ›barbarischen Balkan‹. In diesem Zusammenhang möchte ich die diesem Band zugrundeliegende These, welche die Existenz des Balkans infrage stellt, aufgreifen. Der Konstruktionscharakter dieses Terminus und seiner mitgedachten Essenzen stellt mittlerweile eine Binsenwahrheit dar. Die entscheidende Frage lautet also nicht, ob es sich um ein Konstrukt handelt, sondern wie dieses entstehen konnte. Wie Todorova überzeugend nachgewiesen hat, waren dafür auf diskursiver Ebene die beiden »Balkan«-Kriege von besonderer Relevanz. Der Balkan wurde herbeigeredet, er wurde aber auch auf einer ›viskursiven‹ Ebene herbeigezeichnet, -fotografiert und -gefilmt. Dokumentarfotografie und -film verliehen dem Konstrukt ein scheinbar wahres Gesicht – sowohl außerhalb der imaginierten Region als auch vermutlich in ihr selbst. Sie verliehen dem Konstrukt nicht nur ein Gesicht, sondern – viel wichtiger – sie ›bewiesen‹ anschaulich, dass es ›den Balkan‹ und ›die Balkanesen‹ tatsächlich gab. Eine systematische Analyse der Macht von Balkanbildern steht noch aus. Diese Beobachtungen eröffnen neue und bislang unberührte Forschungsfelder, die sich auf Amalgamierungsprozesse zwischen westlichen und regional-balkanischen visuellen Modernen beziehen. Diese Art von Forschung wäre schlecht beraten, wenn sie auf einer traditionellen Dichotomie zwischen einer ausschließlich im Westen formulierten visuellen Moderne einerseits und rückständigen Balkangesellschaften, die eilfertig das westliche Vorbild kopiert hätten, andererseits aufbauen würde. Solche Forschungen müssen ganz im Gegenteil auf akteurszentrierten und austauschorientierten Ansätzen beruhen, die nicht das vorgegebene Ziel verfolgen, die visuelle Dominanz ›des Westens‹ über seine ›balkanische Peripherie‹ zu beweisen, sondern auf offenen Modi von Amalgamierungsprozessen aufbauen.

Louisa Avgita

Den Balkan gibt es nicht Der folgende Artikel wurde 2007 veröffentlicht.1 Zu jener Zeit war die Neugierde auf den Balkan von Seiten des künstlerischen und kuratorischen Establishments schon abgeflaut, obwohl in den Folgejahren noch einige, mehr oder weniger lose mit dem Konzept »Balkan« verbundene Ausstellungen ausgerichtet wurden. 2007 waren die Kriege im alten Jugoslawien vorbei, der serbische »Teufel« Slobodan Milosević war während seiner Haftzeit tot aufgefunden worden (2006), und drei der früher sozialistischen Länder, zuerst Slowenien (2004), dann Bulgarien und Rumänien (2007), waren der EU beigetreten, sprich: hatten den Weg der »Normalisierung« begonnen. Seitdem gab es sowohl in Europa als auch auf dem Balkan tiefgreifende Veränderungen hauptsächlich aufgrund der anhaltenden Wirtschaftskrise und ihrer verheerenden Auswirkungen auf die europäischen Gesellschaften, insbesondere in dem Land, das für die Medien der Welt heute die erschreckenden Defizite und Defekte des Balkan darzustellen scheint: in Griechenland. In diesem Vorwort zu meinem damals publizierten Text möchte ich auf inzwischen eingetretene Änderungen in der künstlerischen und kuratorischen Konzeption der europäischen Geografie eingehen und Gedanken zu einigen der im Artikel zuvor diskutierten Punkte formulieren. Der aphoristische Titel des Artikels »Den Balkan gibt es nicht« beruhte vorwiegend auf der Analyse des Konzepts vom Balkan, das aus den an der Ausrichtung einer Reihe großer Ausstellungen zur zeitgenössischen Kunst des Balkan in Österreich und Deutschland von 2002 bis 2004 beteiligten Ideologiefabriken künstlerischer und politischer Institutionen stammte. Mit dem Titel, dass es einen Balkan nicht gibt, wollte ich ausdrücken, dass es sich beim Balkan um ein Konzept für eine Vermarktungsstrategie handelt, mit dem das Produkt »Balkan« auf dem internationalen Markt beworben und so das ideologische Konstrukt eines toleranten und multikulturellen Europa gestärkt werden sollte. Dieses Konstrukt, so meine Argumentation, wurde erfolgreich durch die Annahme des entpolitisierten balkanischen »Anderen« umgesetzt, das, in einer »zahnlosen Version«, als »Verstärker« der europäischen Version von Multikulturalismus diente und den toleranten Charakter Europas in kuratorischen Konzepten rechtfertigen sollte. Nach der Auflösung der sozialistischen 1 Louisa Avgita: The Balkans Does Not Exist. In: Third Text (= Special Issue: The Balkans) 21 (2007), Nr. 2, S. 215–221.

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Staaten und ihrer Streitkräfte sollte damit die durch die Intervention des »Westens« durchgeführte Politik der Einführung des Kapitalismus und der wirtschaftlichen Expansion und Ausbeutung überdeckt werden. Die Wirtschaftskrise, die nach 2008 langsam auf die gesamte Welt übergriff, hat den Diskurs über einen angeblichen europäischen Wohlstand und Wachstumspotential unterminiert, auf dem die Idee eines toleranten, multikulturellen Europa basierte. Die Idee vom kulturellen, postkolonialen »Anderen«, als Gegensatz zum alles umfassenden »Westen«, die den in den diskutierten kuratorischen Konzepten vorhandenen Begriffe des Balkanismus und des Balkan mehrheitlich als eines unvollständigen »Anderen« genährt hatte, hat seinen Wert als diskursives kuratorisches Element verloren.2 Nun wurde die Idee des »Anderen« an die neuen Konzeptualisierungen von Geografie angepasst, die während der Wirtschaftskrise aufkamen und in jüngere kuratorische Diskurse Eingang fanden. Die neu formulierten Konzepte wie dasjenige von »Mittelmeerraum«3etwa, die abwechselnd Länder des »europäischen Südens«4 und andere Krisengebiete adressieren, beruhen auf neuen Mustern im Zusammenhang mit den aktuellen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Entwicklungen und sozialen Unruhen, die sowohl in Europa als auch in den wichtigsten Ländern des sogenannten »Arabischen Frühlings« stattfanden. Solche Konzepte kamen sowohl in künstlerischen als auch in politischen Diskursen zum Einsatz und sollen »neue« Versionen des modus vivendi darstellen, die den bestehenden dominanten Varianten entgegenstehen und welche oft in geografischen Begriffen ausgedrückt werden. Der »Westen« und »Europa« sind Konzepte, die benutzt werden, um etwas vage verschiedene Politiken und Strategien zu bezeichnen, die in kritischen Diskursen mit neoliberalen und imperialistischen Politiken in Verbindung gebracht werden. Allerdings erlauben diese vagen Bezeichnungen ein Vertauschen von Bedeutungen, wenn Attacken in zivilisatorischen Begriffen interpretiert werden, so wie kürzlich beim Angriff auf das Magazin »Charlie Hebdo« in Paris. In diesem Kontext wird der »Westen« schnell von einem Quell alles Bösen zu einer Bastion der moralischen Werte und der Demokratie, während »Europa« einmal mehr wieder als das Herzstück der 2 Dies wird sich aber möglicherweise nach den letzten Angriffen durch fundamentalistische Muslime in Frankreich und anderen europäischen Ländern ändern. 3 Die 3. und 4. Biennale von Thessaloniki (2011 und 2013) basierten beispielsweise auf dem Konzept des Mittelmeerraums. Zusammen mit der folgenden 5. Biennale von Thessaloniki (2015), deren Fokus dasselbe Thema sein soll, werden diese Biennalen unter dem Titel »Old Intersections – Make it New« zusammengefasst und vom EU -Programm NSRF (National Strategic Reference Framework) finanziert. Ein weiteres Beispiel ist die Ausstellung »Terra Mediterranea – In Crisis« (2013–2014), organisiert vom Nicosia Municipal Arts Centre und der Pierides Foundation unter der Schirmherrschaft der Präsidentschaft Zyperns über den Europarat. 4 Besonders klar wird dieser Trend im Konzept der nächsten Documenta, die unter dem Titel »Learning from Athens« in Kassel und Athen 2017 stattfinden wird.

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Aufklärung gefeiert wird. Diese Konzepte bedingen, wenn sie politische und wirtschaftliche Probleme auf geografische und kulturelle Kategorien reduzieren, dieselben vereinfachten und entsprechend irreleitenden Ergebnisse wie der im folgenden Text kritisch diskutierte kuratorische Diskurs zum Balkan. Wenn ich aus heutiger Sicht an die Ausstellungen zum Balkan zurückdenke, möchte ich mit Nachdruck darauf hinweisen, dass nicht nur der Einsatz des fabrizierten, als alternative Existenzform beworbenen kulturellen und/oder politischen »Anderen«, das Pluralismus und Demokratie in den konservativen, monolithisch gedachten »Westen« oder in »Europa« einführen kann, trügerisch ist; was daran am meisten trügt, ist die Verwendung des Konzepts »Westen« oder »Europa« selbst, das – und hier hauptsächlich das erstgenannte Konzept – in der postkolonialen Kritik eingeführt wurde. Wie Neil Lazarus behauptete, »in solchen Texten wie Saids richtungweisendem ›Orientalismus‹ […] steht die Kategorie ›Westen‹ für imperiale Macht; was aber so benannt wird, ist hauptsächlich ein Zivilisationswert und nicht ein Produktionsmodus oder ein soziales Gebilde. Dieses Alibi des ›Westens‹ dient dazu, zu entmaterialisieren, was es stillschweigend adressiert«5. Darauf aufbauend möchte ich argumentieren, dass wir dazu verdammt sind, Stereotype zu wiederholen, also standardisierte Grundvorstellungen, die zu Widersprüchen und sinnlosen Argumenten führen, solange wir nicht historische Begriffe verwenden, die fraglos Produktionsmodi und die zugehörigen Sozialgebilde ansprechen, statt existierende Konflikte kulturell und geografisch zu verorten, die nur dann Sinn ergeben, wenn sie in materiellen Begriffen angesprochen werden und die existierenden Bedingungen und die Auswirkungen des Klassen- und Sozialkampfes berücksichtigen. * Eine der Strategien, die Marketing-Guru Seth Godin für ein »erfolgreiches Markenverhalten« empfiehlt, besteht darin, statt eine Botschaft zu erfinden, die ›Story‹ der Marke zu erzählen. Damit die ›Story‹ wirkungsvoll und verführerisch wirkt, muss sie von den Kunden selbst erzählt werden. Diese Methode von Godin nennt sich ›flipping the funnel‹: »Statt eine Menge Kunden oben in einen Trichter zu geben und unten ihr Geld rauszuquetschen, dreht man den Trichter um und erlaubt es den Kunden, ihn als Verstärker zu nutzen, durch den sie die ›Story‹ der Marke erzählen dürfen.«6 5 Neil Lazarus: The fetish of the ›West‹ in postcolonial theory. In: Crystal Bartolovich und Neil Lazarus (Hg.): Marxism, Modernity and Postcolonial Studies, Cambridge 2002, S. 54. 6 Zitiert in Morag Cuddeford Jones: Cover Story: The view from the top. In: Brand Strategy, März 2006, verfügbar unter: https://www.prophet.com/downloads/articles/Aaker_ViewFromTheTop.pdf (Letzter Zugriff: 27. März 2015).

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Für linke Kulturtheoretiker dürfte solcher Rat kaum angebracht sein oder gar zynisch erscheinen, aber hat der allgegenwärtige Kunde nicht längst den Bürger ersetzt? Zudem scheint die ›Vermarkung der Kultur‹ längst ein üblicher Bestandteil der Kulturpolitik zu sein. Hat diese Form der Markennarration etwas damit zu tun, wie die ›Story‹ des Balkan in Kunstprojekten und Ausstellungen erzählt wird? Eine der wichtigsten im Rahmen des von der Europäischen Kulturstiftung organisierten Programms »Policies for Culture: participative cultural policy-making in South East Europe 2000–2004« diskutierten Fragen war die nach der harmonischen Koexistenz zweier grundlegender Prioritäten mit Blick auf die Kulturpolitik im Südosten Europas. Zum einen sollten die nationalen Kulturpolitiken zur Förderung und zum Schutz der nationalen Identität erhalten bleiben, zum anderen sollte Europa in den nationalen Raum »eindringen«, mit dem Ziel, eine gemeinsame kulturelle Sprache Europas zu entwickeln. Eine der vorgeschlagenen Lösungen zum Schutz nationaler Entitäten vor deren Assimilation oder Auslöschung durch die Übernahme in den gemeinsamen europäischen Raum war der Prozess der »Markenbildung« oder des Branding. Das Programm »Branding Bulgaria«, vom British Council in Bulgarien ins Leben gerufen, hatte zum Ziel, »den an der Repräsentation ihrer Kulturen auf internationaler Ebene beteiligten Experten zu gestatten, die Wirkung ihrer Arbeit durch Strategien der interkulturellen Kommunikation, der nationalen Markenbildung und der Definition von Identitäten zu optimieren«.7 Die Diskurse der kulturellen Identität und Diversität wurden hier zur Produktion nationaler Kulturen in Gestalt konkurrierender Produktangebote gemäß den Regeln des freien Markts verwendet. Wie ein weiterer Marketing-Guru, Fons Trompenaars, mit Verweis auf die letzte Werbekampagne der HSBC-Bank unter dem Titel yourpointofview.com bemerkte: »Diversität erleichtert die Kundenbindung an Marken«.8 Aus dieser Sicht ist die Absicht großer Balkan-Ausstellungen wie »Blut & Honig: Zukunft ist am Balkan«9 nicht, wie diese behaupten, eine Unterstützung der kulturellen Diversität Europas, indem sie Kunst aus dem Balkan zeigen und fördern, sondern das Gegenteil: Sie nutzen den Diskurs des Multikulturalismus und der Diversität in Europa, um die Marke »Balkan« zu bewerben. Die Auswirkungen einer solchen Markenbewerbung beschränken sich keineswegs nur auf die offensichtliche ökonomische Ausbeutung der Region. Karlheinz Essl, Delegierter der Sammlung Essl, die »Blut & Honig« in ihrem Museum organisiert hat, schreibt im Ausstellungskatalog: »Der Zusammenbruch des 7 Zitiert in Hanneloes Weeda: Introduction. Touching the Context. Policies for Culture 2000– 2004. In: Hanneloes Weeda et al. (Hg.): The Arts, Politics and Change: Participative Cultural Policy-making in South East Europe, Amsterdam 2005, S. 19. 8 Zitiert in Cuddeford Jones (wie Anm. 6). 9 »Blut & Honig: Zukunft ist am Balkan« war eine von Harald Szeemann kuratierte Ausstellung der Sammlung Essl, Wien, Österreich, 2003.

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Kommunismus und der Zerfall des Sowjetimperiums übten eine starke Faszination auf mich aus, die gravierende Auswirkungen sowohl auf die Strategie unserer Unternehmensgruppe als auch auf das Sammlungskonzept hatte. Bereits 1991/92 eröffneten wir die ersten bauMaxBaumärkte in Ungarn und Tschechien. In der Folge wurde die südosteuropäische Region zu unserem wichtigsten Expansionsgebiet.«10 Diese Aussage legt einen direkten Zusammenhang zwischen »Balkan-Kunst« und finanziellem Profit nahe, aber es können noch weitere Schlüsse aus der Verbindung zwischen der Bewerbung der »Balkan-Staaten« und der starken Verbreitung des Kapitalismus gezogen werden. Was ist die Markenstory, die uns durch die umgedrehten Trichter solcher Ausstellungen über den Balkan erzählt werden? Das Konstrukt Balkan bietet bekanntlich ein einzigartiges Feld für dessen ideologische Indienstnahme. Obwohl nicht mehr rückständig, gewalttätig und traditionell, oder genauer, weil rückständig, gewalttätig und traditionell kein Problem im multikulturellen, politisch korrekten Europa mehr darstellt, ist der Balkan weiterhin die zahnlose Version des »Anderen« auf seinem Weg nach Europa, ganz frei von unerwünschten politischen Implikationen. Der Balkan ist in seiner jüngsten Manifestation mehr ein Naturphänomen als eine geopolitische Entität; und wie wir später sehen werden, führt jeder politisch kritische Blick auf die Region zur sofortigen Auflösung des Begriffs »Balkan«. Ein gemeinsamer Nenner aller großen »Balkan-Shows« zwischen 2002 und 2007 ist einerseits die behauptete Resistenz gegenüber den Stereotypen über die Region, wie sie vom Westen sowohl in der jüngeren als auch älteren Vergangenheit etabliert wurden, und andererseits die Auflehnung gegen die negativen Konnotationen dieser Stereotype. In allen diesen Ausstellungen wurden verschiedene Vorstellungen vom Balkan produziert, die neue Dimensionen für die Analyse der »Andersartigkeit« des Balkan eröffnen.11 Jede der Ausstellungen hat ihre eigene Herangehensweise an den Balkan als das »Andere« in Abgrenzung zu den anderen Ausstellungen begründet. Die grundlegende Idee der Ausstellung »In Search of Balkania«12 von 2002 war: »Balkanien ist keine Welt für sich, sondern unser

10 Karlheinz Essl: Editorial. In: Blut & Honig. Zukunft ist am Balkan, Ausstellung, Sammlung Essl Privatstiftung, Wien, 2003, S. 6. Die Familie Essl besitzt die internationale Baumarktkette »Baumax«, die in den letzten Jahren neue Geschäfte in Zentral- und Osteuropa eröffnet hat und so ihren Gewinn bedeutend steigern konnte. Weitere Informationen finden sich in »Baumax continuing Slovak Expansion«. In: The Slovak Spectator, 25. Februar 2002. 11 »Balkanismus« wurde als eigener Diskurs von Maria Todorova in ihrem Buch: Imagining the Balkans, Oxford 1997, eingeführt. 12 »In Search of Balkania«, Ausstellung, Neue Galerie, Graz, 2002, kuratiert von Roger Conover, Eda Cufer und Peter Weibel.

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aller Spiegel«.13 Wie die Kuratoren Roger Conover, Eda Cufer und Peter Weibel im Katalog schreiben: »[...] wenn diese Ausstellung den Balkan anders präsentiert, als dies je zuvor in Europa geschehen ist, liegt das daran, dass für Europa und den Westen der Balkan Schicksal ist […]. Den Balkan zu verstehen heißt, die Merkmale und Syndrome zu verstehen, aus denen Städte, Kriege, Zivilisationen, Experimente, Ideen und Vision bestehen.«14 Hier geht es darum, die Idee vom Balkan vom Balkan selbst zu lösen und alle seine Merkmale dem Erbe und der Vorstellung des Westens zu übereignen. Denn wie von den Kuratoren angemerkt wurde, ist »das Identitätsmerkmal des Balkan schlechthin der Widerstand gegen die Balkan-Identität.«15 Allerdings scheint die Ausstellung nicht umhin zu kommen, das fiktionale Land Balkanien16 stereotypisierend zu beschreiben. Die Präsentation des Balkan durch Kunstwerke, welche Folklore, Brauchtum, aber auch avantgardistische Traditionen sowie die aktuelle Situation reflektieren, folgt der Ästhetik eines balkanischen Straßenmarktes und vermischt all das unter der Überschrift »Balkanien«, wodurch nicht nur die Stereotype, sondern auch die Verwirrung darüber, was denn der Sinn der Ausstellung sei, erhalten bleiben. Die Suche nach Balkanien entspricht, so die Kuratoren, der Suche nach den Balkan-Räumen als Heterotopie, wie sie von Michel Foucault definiert wurde, also der Suche nach den »heiligen, verbotenen, abweichenden und nicht konformen Räumen, die zwar im Raum, jedoch außerhalb der konventionellen Zeit existieren« und in allen Kulturen zu finden sind.17 Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass die Ausstellung in einer sehr »konventionellen« Zeit stattfand – nach den Kriegen in Jugoslawien und in der Zeit des »Übergangs zur Demokratie«, an einem ganz bestimmten Ort, in Graz in Österreich, das auch als das »Tor zum Anderen« gilt.18 Obwohl es die Absicht der Kuratoren war, bekannte Vorstellungen vom »Anderen« am symbolischen Ort Graz zu dekonstruieren, zeigen ihre Entscheidungen an, dass Raum und Zeit wie auch die Art der Präsentation von Werken ziemlich wichtig sind. Ihre Bedeutung liegt hier in der Tatsache, dass all diese Entscheidungen politisch sind, in etwas, das im heterotopischen Raum Balkaniens verloren gegangen ist. 13 Roger Conover, Eda Cufer und Peter Weibel: Introduction. In: Roger Conover et al. (Hg.): In Search of Balkania: A User’s Manual, Graz 2002, S. 3. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 5. 16 »Balkania« als Name erinnert an das fiktionale Königreich Ruritania aus dem Roman »The Prisoner of Zenda« (1894) von Anthony Hope. Siehe Vesna Goldsworthy: Inventing Ruritania: The Imperialism of the Imagination, New Haven u. a. 1998, S. 45–50. Es war zudem der Name einer 1997 vorgeschlagenen Konföderation aus Kosovo, Serbien und Montenegro, siehe dazu ebd., S. 86. 17 Conover, Cufer, Weibel 2002 (wie Anm. 13), S. 14–17. 18 Ebd., S. 2.

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Die in der Ausstellung vorherrschenden Elemente von Folklore und Kitsch führten dazu, dass der Kurator der nächsten »Balkan-Show«, Harald Szeemann, einen anderen Ansatz wählte. Wie er im Katalog zur Ausstellung »Blut & Honig: Zukunft ist am Balkan« schreibt: »Balkan ist nicht Bazar. Die Ausstellung versucht dieses Image zu ändern und auch formbewusstere Künstler zu zeigen.«19 Sein Hauptziel ist es nicht, »das Aufzeigen von Exotik«, sondern »die Integration einer Kulturlandschaft ins Bewusstsein der westlichen Sensibilität«.20 Die Sensibilisierung des Westens geht, wie oben erwähnt, mit seiner wirtschaftlichen Expansion Hand in Hand, was wiederum zu Szeemanns Ziel passt, den Balkan als neue, freundlich gesinnte Region für (kulturelle sowie finanzielle) Investitionen zu präsentieren, die auf dem Weg zur politischen Stabilität Fortschritte macht. Das bestätigt auch Erhard Busek, Koordinator des Stabilitätspakts für Osteuropa, im Ausstellungskatalog. Das Blut des Balkan ähnele inzwischen eher einem würzigen Honig, und das mache den Balkan im multikulturellen Europa zu etwas Besonderem: »Ökonomie allein nützt nichts, wenngleich sie gerade in Gebieten mit mangelnder Entwicklung eine große Rolle spielt. Das Antlitz Europas gilt es zu prägen, die Eigenschaften Europas festzuschreiben, zu lernen mit dem ›Anderssein‹ zu leben, denn die Vielfalt ist das wirklich spannende Element unseres Kontinents.«21 Busek hat absolut Recht. Wirtschaft ohne ideologischen Überbau macht keinen Sinn; kurz: ist nicht effizient. Die Story, die die Ausstellung über den Balkan durch ihren umgedrehten Trichter erzählt, ist viel effizienter, als wenn man das Geld einfach aus der Region rauspressen würde. Indem die Balkan-Stereotype durch Kunst neu bewertet werden, konstruiert sich der Balkan selbst, und zwar als das positive »Andere« Europas, und garantiert diesem zugleich, dass er dem Wesen nach »tolerant« ist. René Block entdeckte in einem Interview mit Martin Glaser im Katalog zur Ausstellung »In den Schluchten des Balkan – Eine Reportage«, die er 2003 in Kassel kuratierte, einen weiteren Balkan. Seine »Balkan-Show« wurde unmittelbar nach »Blut & Honig« gezeigt und setzte ihr Augenmerk auf den Balkan selbst statt auf die westliche Sicht auf den Balkan.22 Die Ausstellung war der erste Teil einer auf zwei Jahre angelegten Reihe von Veranstaltungen mit dem Titel »Die Balkan Trilogie», darunter das Projekt »In den Städten des Balkan«, das verschiedene Aktivitäten in verschiedenen Städten auf dem Balkan umfasste, sowie zwei Einzelausstellungen zum Thema »Jenseits des Balkan«.23 Ziel war es, Künstlern, Kuratoren und Kunstkritikern aus der Region eine Plattform zu bieten, auf der sie ihre Arbeit 19 20 21 22

Harald Szeemann: Zur Ausstellung. In: Blut & Honig 2004 (wie Anm. 10), S. 20. Ebd., S. 26. Erhard Busek: Österreich und der Balkan. In: Blut & Honig 2004 (wie Anm. 10), S. 38. »Eat Balkanik!«, ein Interview mit René Block von Martin Glaser. In: In Den Schluchten Des Balkan, Ausstellung, Kunsthalle Fridericianum, Kassel, 2003, S. 7–12. 23 Ebd., S. 8–9.

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und ihr Selbstbild ohne »westliche Einmischung« zeigen könnten.24 Die »Demut« des Kurators zeigt sich auch im Nachsatz des Titels, »eine Reportage«, der einen journalistischen, »objektiven« Charakter nahelegt, obwohl der Haupttitel eine Referenz auf eine »Abenteuerreise« ist: In den Schluchten des Balkan von Karl May (1892), der die Region nie besucht hat. Der Unterschied zwischen den Reportagen von May und Block ist, dass die erste auf den westlichen Vorurteilen gegenüber dem Balkan basiert, während die zweite die »echten« Berichte der Künstler über ihre Region präsentieren will. »Mit dieser Bezeichnung möchte ich noch einmal deutlich machen, dass es von diesen Reisen ungeheuer viel zu berichten gibt. Aber nicht ich bin es, der berichtet, sondern die Künstler selbst. Ihre Arbeiten werden meine Worte überflüssig werden lassen. Ich kreiere keine Vision vom Balkan, wie dies May und andere taten, und enthalte mich jeglicher Interpretation.«25 Allerdings sagt Block später im Interview: »Der Titel bedient zu Genüge unsere Vorstellung vom Balkan: wilde Gebiete, wilde Menschen, Partisanen. Das ist Klischee genug.«26 »In den Schluchten des Balkan« ist typisch für eine Ausstellung, die den »Trichter« für die Erzählung der »Balkan-Story« ohne Eingriff des Produzenten verwendet. Entsprechend wird die Geschichte vom »Balkan« von Personen aus der Region erzählt und nicht vom Westen, um so den Westen von der mit dem Diskurs des Balkanismus verbundenen Schuld zu befreien und ihm Neutralität und »Objektivität« zu verleihen, während den »Balkaniern« ein Gefühl der Selbstbestimmung gegeben wird. Obwohl im Fall dieser Ausstellung die Distanz zu den mit dem Balkan verbundenen Stereotypen klar ausgedrückt wird, ist eine Präsentation des »echten« Balkan in den Selbstdarstellungen und den Herangehensweisen aller großen »Balkan-Shows« gewünscht. Doch funktioniert diese angebliche Neutralität, welche die Distanz zum seit dem 19. Jahrhundert existierenden negativen westlichen Diskurs über den Balkan bewahrt, tatsächlich? Die Antwort ist ein definitives Nein. Was hier wirksam ist, ist das, was Hegel »reflexive Bestimmung«27 nannte. Das Bild, das der Balkan von sich selbst produziert, ist tatsächlich die Kopie der Marke »Balkan«, für die der westliche Diskurs die Urheberrechte hält. Diesen Spiegeleffekt beschreibt Boris Groys mit Hinblick auf die Moskauer Architektur nach dem Kollaps der Sowjetunion. Ihr scheinbar nationalistischer Charakter ist tatsächlich ein Beispiel davon, wie »der Osten westliche Erwartungen des ›AndersSeins‹ reflektiert und künstlich in seine kulturelle Identität einbaut«.28 In diesem 24 25 26 27 28

Ebd., S. 8. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Slavoj Žižek: The Parallax View, Cambridge u. a. 2006, S. 377. Boris Groys: Beyond Diversity: Cultural Studies and its Postcommunist Other. In: Okwui Enwezor et al. (Hg.): Democracy Unrealized. Documenta 11 – Platform 1, Ostfildern-Ruit 2002, S. 313.

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Sinne kann man das erste Ausstellungsstück von »Blut & Honig«, den Bestattungswagen, der den Leichnam des Erzherzogs Franz Ferdinand nach Wien brachte, tatsächlich als ein aufrichtiges Bild ansehen. Szeemanns Wahl ist tendenziös, da die Ermordung Franz Ferdinands durch den serbischen Anarchisten Gavrilo Princip in Sarajevo 1914 seit langem als Auslöser des Ersten Weltkriegs gilt, der somit dem Balkan, dem »Pulverfass Europas«, zugeschrieben wird. Szeemanns Symbolisierung kann als westliche Sicht auf die Geschichte des Balkans mit all ihren negativen Konnotationen verstanden werden. Im Gegensatz zu Szeemann und um der eigenen Objektivität willen, beginnt René Block seine Ausstellung mit einem Denkmal für Gavrilo Princip, also mit einem Symbol, das die Sicht des Balkan auf die Geschichte ausdrückt. Hier wird nicht nur deutlich, dass der Westen niemals angesichts seines eigenen Produkts – seines Selbst – neutral sein kann, sondern auch dass die Symbole, die der Balkan für seine Geschichte und Kultur verwendet, nichts anderes sind als Spiegelungen der westlichen Erwartungen oder Ansprüche. Es gibt keine Sicht des Balkans auf die »Story« des Balkans aus dem einfachen Grund, weil der Balkan ohne den Westen nicht existiert. In diesem Sinn ist Franz Ferdinands Leichenwagen der perfekte Startpunkt der Balkan-Story. An Szeemanns Ausstellung ist der Umstand nicht aufrichtig, dass er das in einem multikulturellen Europa verbriefte »Recht, anders zu sein« nutzt, um die Existenz des »anderen Balkan« zu belegen. Der Balkan ist ein inhärent stereotypes Konzept. Ohne den Einsatz von Stereotypen kann man nicht über den Balkan reden, unabhängig davon, ob diese positiv oder negativ konnotiert sind. Die neutrale oder gar positive Darstellung des Balkan stärkt die Marke »Balkan«, die sowohl als Mittel zur wirtschaftlichen Verwertung als auch und vor allem als ideologisches Produkt der absoluten Entpolitisierung dient. In diesem Sinne versucht der jüngere Diskurs zum Balkan nicht, uns davon zu überzeugen, dass die Stereotype über den Balkan nicht wirklich existieren, sondern davon, dass der Balkan sogar ohne diese Stereotype existiert – dass der »wahre« Balkan als Entität tatsächlich ist, wodurch dieser Diskurs keinerlei politischen Inhalt mehr zulässt. Ein typisches Beispiel dafür sind die Kriege im früheren Jugoslawien und die gewaltsamen Aufstände in anderen Teilen der Region, die als »Balkankriege« bezeichnet wurden. Eine solche Bezeichnung entpolitisiert die Kriege – und den Eingriff durch den Westen – unmissverständlich, indem sie als »Naturphänomen« beschrieben werden, das dem Wesen des Balkans entspreche. Folgerichtig ist zu unterstreichen, dass aus demselben Grund, wie es keinen »echten Balkan« gibt, jegliche stereotype Annäherung an den Balkan entfällt. Der »Balkan« ist in sich ein Stereotyp, und die hier beworbene Marke ist direkt mit dem entpolitisierten Diskurs des »Anderen« verbunden. Folgen wir dem Konzept des »parallaktischen Blicks«, wie von Slavoj Žižek analysiert, existieren Gegensatzpaare (wie männlich und weiblich) nicht als separate Entitäten, sondern als

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abweichende, nicht kompatible Wahrnehmungen des Einen.29 Wenn wir dementsprechend akzeptieren, dass der »andere« Balkan im Kontext des Multikulturalismus ein zur Entpolitisierung der Realität geschaffenes Konzept ist, dann ist jeder Versuch, dieses zu politisieren, eine abweichende Wahrnehmung der Realität – oder, in Žižeks Begriffen, die Kluft zwischen dem Einen und seinem Selbst –, was den Einsatz des Konzepts »Balkan« unmöglich macht. Mari Carmen Ramírez bemerkt, dass »der jüngere Verbraucherkapitalismus sich nicht, wie viele fälschlicherweise glauben, durch die kulturelle Homogenisierung durchsetzt, sondern durch die Vermarktung des Erscheinungsbilds von ›Differenz‹ und ›Eigenheit‹«30. Denn was die Marke des »anderen« Balkan, der Teil eines multikulturellen Europa wird, sowohl verbirgt als auch verstärkt, entspricht der Entpolitisierung vom Wesen Europas – von seinen Entscheidungen, Institutionen, Handlungen, Operationen und Überzeugungen. Die Marke des »anderen« Balkan ist das Mittel, das die Erste Welt des Kapitalismus nutzt, um die politischen Implikationen ihres Funktionierens zu kontrollieren, namentlich den Prozess der Entpolitisierung. In diesem Sinne ist es die »emotionslose« Haltung, die die amerikanischen Medien Slavoj Žižek nicht verzeihen konnten, als er in den USA einen Vortrag über Hitchcock mitten in den Jugoslawienkriegen hielt. Wie konnte er über Hitchcock reden, während sein Land litt? Žižek sagt: »Das Unerträgliche ist nicht der Unterschied. Unerträglich ist die Tatsache, dass es da eigentlich keinen Unterschied gibt: Es gibt keine exotischen, bluthungrigen »Balkanier« in Sarajevo. Es gibt nur normale Bürger, wie wir es sind. Sobald wir uns dieser Tatsache gänzlich bewusst werden, wird die Differenz zwischen ›uns‹ und ›ihnen‹ als rein zufällige Kategorie deutlich, und wir verlieren die sichere Distanz des unbeteiligten Beobachters […]. Wir werden gezwungen, zuzugeben, dass wir den Frieden nur imitieren, dass wir in der Fiktion des Friedens leben.«31 Die Imitation des Friedens findet nicht nur statt, solange das »Andere« sich im Krieg befindet. Sie existiert auch in den »friedlichen« Momenten der »Toleranz«. Der Multikulturalismus ist das absolut entpolitisierte Konzept der Imitation des Friedens. Entsprechend ist der positive, im Zwischenfeld angesiedelte »glokale« Raum, den Ausstellungen wie »Cosmopolis: Microcosmos x Macrocosmos«32 für 29 Žižek 2006 (wie Anm. 27). 30 Mari Carmen Ramírez: Brokering Identities: Art Curators and the Politics of Cultural Representation. In: Reesa Greenberg et al. (Hg.): Thinking About Exhibitions, London u. a. 1996, S. 25. 31 Slavoj Žižek: The Metastases of Enjoyment: Six Essays on Woman and Causality, London u. a. 1994, S. 2. 32 »Cosmopolis: Microcosmos x Macrocosmos«, kuratiert von Magda Carneci, war die erste Biennale für Kunst aus dem Balkan, ausgerichtet 2004 vom Staatlichen Museum für Zeitgenössische Kunst und vom Mazedonischen Museum für Zeitgenössische Kunst in Thessaloniki, Griechenland.

168 Louisa Avgita Abb. 1:  Ivan Fijolić:  Denkmal für Bruce Lee, Mostar (BosnienHerzegowina), 2005, Foto: Dan Grover, 2014.

den Balkan beanspruchen, komplett entpolitisiert. Was der Balkan als »Brücke« zwischen Ost und West, global und lokal, verbirgt, ist der Balkan als Produkt liberaler Ideologie. Wenn wir die Realität in politische Begriffe fassen wollen, dann müssen wir dem Konzept der Differenz zwischen dem Westen und dem Balkan, zwischen dem großen Selbst und dem Anderen abschwören und über Gegensätze – wirtschaftliche, soziale, ideologische – im heutigen, globalisierten Kapitalismus sprechen, die eine andere Wahrnehmung der Realität (des Einen) konstituieren. Als rein »apolitisches« Symbol ist das Denkmal für Bruce Lee, 2005 in Mostar (Bosnien-Herzegowina) errichtet, ein Beleg für die Verbindung zwischen Vermarkung und Entpolitisierung (Abb. 1 und Taf. IV). Das Projekt war eine Initiative der

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NGO »Urban Movement Mostar« in Zusammenarbeit mit dem Sarajevo Centre for Contemporary Art: Das Denkmal für Bruce Lee wurde im zentralen Zrinjski-Park aufgestellt. Laut Nino Raspudi, einem der Gründer der NGO, war das wichtigste Ziel der Aktion, Mostar von der Politik und der Ideologie zu befreien, die »alle Aspekte des Alltags in unserer Stadt und in ganz Bosnien-Herzegowina belagert und vergiftet hatten«, und die Bewohner der Stadt unter dem universalen Friedenssymbol zu vereinen, das der Filmheld darstelle, in der Hoffnung, dass, wenn eines Tages »jemand […], der den Namen Mostar hört, nicht mehr an Krieg denkt, sondern fragt: Mostar? Ist das nicht die Stadt mit dem Denkmal für Bruce Lee?«. Entsprechend würde das Monument »zu einem Touristenmagnet werden«.33 Der Trichter »Bruce Lee« bringt zum Ausdruck, dass durch den Entpolitisierungsprozess das andere Mostar (assoziiert mit Gewalt und Krieg) ein unterschiedenes und dennoch gleiches Mostar (das Touristenmagnet, ja die »Bruce Lee«-Stadt) werden kann. Dabei wird aber unterschlagen, dass die Entpolitisierung wiederum eine politische Aktion ist, die nur vom gleichen Gleichen durchgeführt werden kann: vom Kapitalismus selbst. (Übersetzung aus dem Englischen Sven Holly Nullmeyer, Berlin, Redaktion Martina Baleva und Boris Previšić)

33 Nino Raspudić: Bruce Lee Monument in Mostar, verfügbar unter: http://www.policiesforculture.org/administration/upload/bruce_lee_pfc.pdf (Letzter Zugriff: 31. März 2015).

Nada Boškovska

Skopje 2014 Makedonien auf der Suche nach seiner Vergangenheit

Als einziger postkommunistischer Staat ist Makedonien seit seiner Unabhängigkeit im Jahr 1991 damit konfrontiert, dass seine Nachbarn wahlweise den Namen, die Nation oder beides nicht anerkennen und dem Land außenpolitisch Steine in den Weg legen. Die Anfechtungen ließen im Verlauf der letzten zwanzig Jahre nicht nach und haben dazu geführt, dass das nation-building, das abgeschlossen schien, wieder auf die Tagesordnung kam, und zwar mit einem neuen Schwerpunkt auf der Antike. Dies soll der jungen Nation historische Tiefe geben und die Angriffe auf den Namen abwehren. Die aktuelle rechtsnationale Regierung inszeniert diese Bezugnahme – und die eigene Geschichtsdeutung insgesamt – mit unzähligen Denkmälern und gravierenden Eingriffen ins Stadtbild von Skopje. Dabei nimmt sie eine weitere Spaltung der multiethnischen Gesellschaft in Kauf, berücksichtigt doch die Erinnerungspolitik fast ausschließlich die ethnisch makedonische Bevölkerungsmehrheit. Unter Historikerinnen und Historikern ist es eine banale Erkenntnis, dass es nicht einfach die Vergangenheit gibt und es unsere Aufgabe wäre, aufzuzeigen, »wie es eigentlich gewesen« ist, um es mit unserem berühmten Vorfahren Leopold von Ranke zu sagen. Dass es also in unserer Zunft darum ginge, eine gegebene, wahre Vergangenheit durch möglichst exakte und gewissenhafte Forschung freizulegen. So ist es keineswegs. Die Vergangenheit ist in höchstem Maße veränderlich und formbar. Als in der Sowjetunion ab Mitte der 1980er Jahre mit Beginn von Glasnost die weißen Flecken in der Geschichte thematisiert wurden, kursierte das Bonmot: »Die Vergangenheit ist unvorhersehbar geworden.« Die Beschäftigung mit Geschichte entspringt immer und überall den Interessen der Gegenwart. Das können sehr handfeste politische Interessen sein, die allenfalls von staatlicher Seite vorgegeben werden. Aber selbst vermeintlich reines Forschungsinteresse ist nie losgelöst von aktuellen gesellschaftlichen Prozessen. Die Gegenwart sucht sich aus, was sie an der Vergangenheit interessiert. Der italienische Schriftsteller Italo Svevo hat es bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts anschaulich formuliert: »Die Gegenwart dirigiert die Vergangenheit wie

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die Mitglieder eines Orchesters. Sie benötigt diese Töne und keine anderen.«1 Wir sollten auch nicht der Illusion verfallen, das gelte nur für Staaten mit diktatorischen oder autoritären Regimen. Dort ist der Umgang mit der Vergangenheit gewiss stärker und ungeschminkter politisch beeinflusst. Aber auch in den freiheitlichen Demokratien ist die Beschäftigung mit dem Vergangenen von Prämissen und Ideologien geprägt. Die Überzeugung, die westlichen Vorstellungen von Pluralismus, Demokratie und freier Marktwirtschaft seien anderen Idealen überlegen und vorzuziehen, ist genau eine solche Prämisse, welche die Wahrnehmung steuert. Die Gegenwart zimmert sich jene Vergangenheit, die sie gerade braucht, mit Hilfe von Erzählungen, Epen, Mythen, Denkmälern, Museen und der professionellen Geschichtsschreibung. Wo eine pluralistische Meinungsbildung möglich ist, können verschiedene Geschichtsbilder nebeneinander existieren. Wo die staatlichen Organe viel Macht für sich beanspruchen, werden sie auch die ihnen genehme Variante der Geschichte propagieren, inszenieren und durchzusetzen versuchen. Allerdings ist es nicht so, dass sich der Kampf um die Deutung und Konstruktion der Vergangenheit nur innerhalb von Staaten und Gesellschaften abspielen würde. Besonders in Osteuropa, wo sich die Grenzen im 20. Jahrhundert immer wieder verändert haben, wird die Vergangenheit auch zu einer internationalen Kampfarena. Dabei sind jene Staaten im Nachteil, die mit dem Zerfall der Sowjetunion und Jugoslawiens 1991 erstmals unabhängig wurden und die zuvor immer zu anderen Staatsgebilden gehört hatten. Beim Versuch, eine möglichst weit zurückreichende Nationalgeschichte zu konstruieren – denn eine solche meint jeder Staat haben zu müssen –, sind sie mit dem Problem konfrontiert, dass ihre Vergangenheit bereits vergeben ist. Andere, schon länger existierende Staaten haben sie in ihre eigene Geschichte integriert und wollen sie nicht hergeben, denn das würde bedeuten, dass Bausteine aus der eigenen Meistererzählung entfernt würden. Typische Beispiele solcher Staaten sind die Ukraine und noch stärker die Republik Makedonien, deren Fall noch komplexer ist als der ukrainische. Makedonien war bis zum Zerfall Jugoslawiens nie ein unabhängiger Staat. Das Gebiet, das im 19. Jahrhundert von Geographen als Makedonien bezeichnet wurde, gehörte im Mittelalter abwechselnd zu Byzanz, zum Bulgarischen und zum Serbischen Reich. Im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts wurde es von den Osmanen erobert und bis 1912, also weit über 500 Jahre lang, von ihnen beherrscht. In den beiden Balkankriegen von 1912/13 verloren die Osmanen Makedonien an Griechenland, Serbien und Bulgarien. Die Aufteilung der geographischen Region 1 Zitiert nach Aleida Assmann: Wie wahr sind Erinnerungen? In: Harald Welzer (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, S. 103–122, hier S. 109.

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Makedonien vom August 1913 blieb in der Folge bestehen. Die heutige Republik Makedonien entspricht jenem Teil, der 1913 an Serbien fiel und 1918 zusammen mit diesem Bestandteil des ersten jugoslawischen Staates wurde. Im föderalistischen Jugoslawien der Nachkriegszeit entstand daraus die Sozialistische Republik Makedonien, die, wie die anderen fünf Republiken und zwei autonomen Provinzen Jugoslawiens, einen hohen Grad an Staatlichkeit erhielt, ähnlich den Schweizer Kantonen. Die Republik hatte eine eigene Verfassung, Gesetzgebung, eigene Justiz-, Bildungs- und Kulturinstitutionen und anderes mehr. Makedonien war eine jugoslawientreue Republik und erklärte sich 1991 beim Zerfall des Staates eher widerwillig unabhängig. Seitdem führt das Land einen beständigen und kräftezehrenden Kampf um seinen Namen, um die Anerkennung der makedonischen Sprache und Nation durch die Nachbarn und um seine Geschichte. Kein einziger anderer Neuling auf der politischen Landkarte Osteuropas wurde vor ähnliche Probleme gestellt, alle wurden weitgehend anstandslos anerkannt. Bei diesen Konflikten geht es – kurz gesagt – darum, dass Griechenland Makedonien zwingen will, seinen Namen zu ändern, und weder eine makedonische Nation noch Sprache anerkennt. Bulgarien hat zwar Makedoniens Unabhängigkeit bereits am 15. Januar 1992 anerkannt, betrachtet das Land jedoch, ethnisch gesehen, als einen zweiten bulgarischen Staat, bestreitet also, dass es eine makedonische Sprache und Nation gibt. Griechenland, Bulgarien und Serbien verweigern gleichermaßen die Anerkennung der makedonischen orthodoxen Kirche, die sich 1967 autokephal erklärt hat. Die Nachbarn haben überdies eine grundlegend andere Deutung der Geschichte, was nicht so problematisch wäre, wenn dies nicht in politische Forderungen münden würde. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verlor das Osmanische Reich sukzessive seine Besitzungen auf dem Balkan, es entstanden unter anderem die Nationalstaaten Griechenland, Serbien und Bulgarien – allesamt einflusslose Kleinstaaten, die hofften, auf Kosten der Pforte zu wachsen. Das größte Gebiet, das sich noch unter osmanischer Herrschaft befand, war Makedonien, der ethnische »Fruchtsalat«. Dort lebten Türken, Albaner, Juden, Walachen, Griechen, Roma und andere, kleinere Volksgruppen. Die Mehrheitsbevölkerung, die christlichen Slawen, wurde von den Nachbarstaaten je der eigenen Nation zugerechnet, um damit den Anspruch auf Makedonien zu legitimieren. Es ist aus heutiger Sicht keine geringe Ironie des Schicksals, dass es damals ausgerechnet griechische Wissenschaftler und Priester waren, die den Slawen in Makedonien einzureden versuchten, sie seien Nachfahren der antiken Makedonen – und somit Griechen.2

2 Anastas Vangeli: Nation-building ancient Macedonian style: The origins and the effects of the so-called antiquization in Macedonia. In: Nationalities Papers 39 (2011), Nr. 1, S. 13–32, hier S. 15.

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Die makedonischen Slawen dachten damals noch nicht in nationalen Kategorien; sie waren es nach über 500jähriger muslimischer Herrschaft gewohnt, sich in erster Linie als Christen zu verstehen, da im Osmanischen Reich die religiöse Zugehörigkeit das maßgebliche Kriterium war. Wenn sie aber ein nationales Bekenntnis abgeben mussten, bezeichneten sie sich am ehesten als Bulgaren, weil sie mehrheitlich dem bulgarischen Exarchat unterstanden und weil die bulgarische Sprache ihrem eigenen Idiom am nächsten war. Als Reaktion auf die massive Vereinnahmungspropaganda der Nachbarn und auf die Assimilierungsversuche der jeweiligen Staaten nach der Teilung von 1913 entwickelte sich ab dem Ersten Weltkrieg erstaunlich schnell ein makedonisches Bewusstsein, das in der Zwischenkriegszeit zunehmend Fuß fassen konnte, obwohl es von den jeweiligen Staaten rigoros bekämpft wurde. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg war ein Bekenntnis zur makedonischen Nation möglich, allerdings nur im jugoslawischen Teil, wo die Sozialistische Republik Makedonien entstanden war. Es ist deshalb richtig, dass das eigentliche makedonische nation-building erst im Tito-Jugoslawien stattfand, da erst dann die entsprechenden Institutionen entstehen konnten und es nicht mehr verboten war, sich als Makedonier zu bezeichnen. Hingegen ist die makedonische Nation nicht eine Erfindung des Kommunismus. Weite Teile der slawischen Christen sahen sich schon in der Zwischenkriegszeit als Makedonier, sie durften sich allerdings nicht offiziell als solche bezeichnen. Alle Vereinigungen oder Institutionen, welche die Festigung und Entwicklung einer makedonischen Nation hätten befördern können, waren verboten und wurden, falls sie sich dennoch bildeten, zerschlagen.3 Erst im sozialistischen Jugoslawien war es möglich, die makedonische Sprache zu kodifizieren, ein Bildungswesen mitsamt Universität in dieser Sprache aufzubauen und Institutionen einzurichten, wie sie überall in Europa jeweils für die Ausformung der Nation gegründet worden waren, so etwa eine Akademie der Wissenschaften und Künste, eine Nationalbibliothek, Museen, Theater und anderes mehr. Das makedonische nation-building folgte dem gängigen Muster in Europa, spielte sich aber infolge der spezifischen Umstände um einiges später ab als andernorts. Für die Gewinnung der Hoheit über die Geschichtsdeutung war die Gründung des Instituts für Nationalgeschichte (Institut za nacionalna istorija) im Jahr 1948 von großer Bedeutung.4 Weil die Nation noch jung war und ihre Existenz damals schon von den Nachbarn negiert wurde, war es Aufgabe des Institutes, die Geschichte der Makedonier zu schreiben, eine Geschichte, die bis dahin aus 3 Siehe dazu Nada Boškovska: Das jugoslawische Makedonien 1918–1941. Eine Randregion zwischen Repression und Integration, Wien u. a. 2009. 4 Zur makedonischen Historiographie vor 2006 und zu den Institutionen, an denen in Makedonien historische Forschung betrieben wird, siehe Ulf Brunnbauer: Historiography, myths and the nation in the Republic of Macedonia. In: Ders. (Hg.): (Re)Writing history – historiography in Southeast Europe after socialism, Münster 2004, S. 165–200, hier S. 170–173.

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serbischer, bulgarischer, griechischer Perspektive dargestellt worden war. Die Historikerinnen und Historiker des Instituts konstruierten in der Folge eine makedonische Vergangenheit in vollkommener Analogie zu den Nationalgeschichten der balkanischen Nachbarn: Einem mittelalterlichen makedonischen Reich folgte die osmanische Eroberung; nach jahrhundertelanger Knechtschaft ereignete sich im 19. Jahrhundert die nationale Wiedergeburt, die in den Freiheitskampf gegen die Osmanen mündete. Da enden allerdings die Gemeinsamkeiten, denn anders als bei den Nachbarn kam es nicht zum erhofften Ziel, einem unabhängigen Makedonien, sondern zur Aufteilung zwischen den bestehenden Staaten Griechenland, Serbien und Bulgarien im Jahr 1913. Mit dieser Deutung der Vergangenheit wurde jedoch insbesondere die bulgarische historische Meistererzählung herausgefordert, weil damit die makedonische Region aus dem herausgelöst wurde, was die Bulgaren als ihre eigene Geschichte betrachten. Denn die makedonische Historiografie fand ihren mittelalterlichen Staat im kurzlebigen Reich des Herrschers Samuil (Zar von 997 bis 1014), das im Wesentlichen auf dem Territorium Makedoniens lag und Ohrid und Prespa als Zentren hatte. Während sich die makedonische Historiografie auf den Standpunkt stellt, das Reich, da es wesentlich auf makedonischem Territorium lag, als makedonisch bezeichnen zu können, sieht die bulgarische Seite darin eine Usurpation, denn die damaligen Quellen sprechen von »Bulgaren« und keineswegs von »Makedoniern«. Es ist zweifellos ein unzulässiger Anachronismus, eine makedonische ethnische Zuschreibung aus dem 20. Jahrhundert ins Mittelalter zurück zu projizieren. Gleichzeitig sollte bedacht werden, dass auch der damalige Quellenbegriff »Bulgaren« nicht die heutige, national konnotierte Bedeutung hatte. Im Falle Russlands und der Ukraine, wo es analoge Probleme um die Deutung der Vergangenheit gibt, sind einige Forscher davon abgekommen, für die mittelalterliche Kiever Rus’ wie üblich von »Russen« und »russisch« zu sprechen, obwohl die Quellenbegriffe »Rus’« und »russisch« lauten. Andreas Kappeler, ein profunder Kenner der russischen wie der ukrainischen Geschichte, hielt schon 1994 fest: »Das Kiever Reich war kein ukrainischer oder russischer Nationalstaat, sondern wie die meisten vormodernen Herrschaftsbildungen ein Vielvölkerreich [...].« Er findet es nicht richtig, dass »Kiever Herrschergestalten wie Vladimir der Heilige oder Jaroslav der Weise als Russen bezeichnet werden« oder dass das kulturelle Erbe Kievs von den Russen beansprucht wird. Seiner Meinung nach führt es in die Irre, die Bezeichnungen »Russland für das Kiever Reich, Russen für seine Bewohner und Russisch oder Altrussisch für seine Sprache, Literatur oder den Herrschaftsverband« zu verwenden. Gleichzeitig hält er aber auch unmissverständlich fest, dass das Kiever Reich, entgegen den Behauptungen der ukrainischen Historiografie, kein ukrainischer Staat war. Sein Fazit lautet deshalb: »Zur Bezeichnung des Kiever Reiches und seiner Bevölkerung taugen deshalb die Begriffe »russisch« und »ukrainisch« nicht. An ihre Stelle sollten für das Reich und seine Bevölkerung die

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Substantive Rus’ und Ostslawen und das Adjektiv ostslawisch treten.«5 Kappeler schlägt also vor, sich von den Quellenbegriffen, auf die gerne rekurriert wird, zu lösen, da sie falsche Vorstellungen wecken, und Termini aus dem Vokabular der Wissenschaft zu verwenden.6 So wie es im Mittelalter noch keine Russen und Ukrainer im heutigen Sinn gab, kann auch nicht die Rede von Bulgaren und Makedoniern sein. Für den südslawischen Raum gibt es allerdings noch keine Vorstöße und Vorschläge zur Änderung der Terminologie. Man könnte sagen, es handle sich hierbei um akademische Probleme, die man der Wissenschaft überlassen sollte. Der Konflikt um die Deutung von Vergangenheit hat für Makedonien allerdings handfeste nichtakademische Konsequenzen, denn bulgarische Politiker fordern zum Beispiel in den Verhandlungen um einen Vertrag über gutnachbarliche Beziehungen – den Bulgarien einseitig wünscht – von der makedonischen Seite Zugeständnisse bei der Geschichtsinterpretation und bei der Bezeichnung der makedonischen Sprache, die nicht als solche benannt werden soll. Aber nicht nur das Mittelalter, auch die ausgehende osmanische Zeit gibt Anlass für Unstimmigkeiten. Die Kämpfer gegen die Osmanen auf makedonischem Territorium betrachten die makedonischen Historikerinnen und Historiker, und so lernen es die Kinder in der Schule, als Makedonier, auch wenn sie sich selbst möglicherweise als Bulgaren bezeichnet haben. Die bulgarische Seite sieht darin wiederum eine Usurpation und verlangt energisch, dass zum Beispiel Goce Delčev, der strahlendste Held im makedonischen Pantheon der Freiheitskämpfer, nicht als Makedonier bezeichnet wird. Der bulgarische Botschafter bei der EU, Dimităr Cančev, warf im August 2013 Makedonien vor, »die Geschichte seiner Nachbarländer zu stehlen«.7 Auf dem EU-Gipfel im November 2012 war es zur Abwechslung Bulgarien, das sein Veto gegen die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Makedonien einlegte.8 Die makedonische Geschichtsforschung in sozialistischer jugoslawischer Zeit widmete sich vornehmlich dem Mittelalter und der spätosmanischen Phase, weil sie die nationsbildenden und nationslegitimierenden Elemente vor allem dort lokalisierte. Die Antike spielte noch kaum eine Rolle. Gemäß Novica Veljanovski, einem Mitarbeiter und zeitweise auch Direktor des Instituts für Nationalgeschichte, hatte 5 Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine, München 1994, S. 37, 39. 6 Nicht wenige folgen ihm darin. Siehe zum Beispiel Erich Donnert: Das altostslavische Großreich Kiev. Gesellschaft, Staat, Kultur, Kunst und Literatur vom 9. Jh. bis zur Mitte des 13. Jh., Frankfurt a. M. 2012. Imke Mendoza: Zur Nominaldetermination im Altostslavischen (Pronomina in den Birkenrindentexten). In: Zeitschrift für Slavische Philologie 61 (2003), S. 291–311. 7 Veselin Zhelev: Dimitar Tsanchev, Bulgaria’s ambassador to the EU: Skopje’s attitude to neighbours causes concerns (http://www.focus-fen.net/opinion/0000/00/00/3244/, letzter Zugriff: 1. Juli 2015). 8 Nato Defense College Foundation. Balkan strategic trends, May–June 2013.

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die Zurückhaltung in Bezug auf die Antike ihren Grund auch darin, dass der jugoslawische Staat freundschaftliche Beziehungen mit Griechenland wünschte. »Aus diesem Grund war die Antike kein Gegenstand in der jugoslawischen Geschichte und Historiographie [...]«.9 Es war in der Folge die makedonische Diaspora in Australien, Kanada und den USA, welche die Symbole der Antike zu verwenden begann, wobei Makedonier aus Griechenland, Flüchtlinge des griechischen Bürgerkriegs, eine wichtige Rolle spielten. Die ursprüngliche Flagge des unabhängigen Makedonien mit dem Stern von Vergina war von der Symbolik beeinflusst, die Makedonier in Australien verwendeten.10 Nach dem Zerfall Jugoslawiens 1991 und der Unabhängigkeit Makedoniens verstärkte sich das Bedürfnis, die historischen Wurzeln des neuen Staates weiter in die Vergangenheit zu treiben, da Griechenland Makedonien die Legitimität zu entziehen versuchte und ein exklusives Recht auf den Namen Makedonien und das historische Erbe des antiken Königreichs beanspruchte. Es nutzte seinen Einfluss als EU- und NATO-Mitglied, um Makedonien zu zwingen, den Namen aufzugeben, wohl wissend, dass die Änderung des Namens einer Ausradierung der makedonischen Nation gleichkäme, die keine andere Bezeichnung zur Verfügung hat. Die Makedonier sind auch keineswegs die einzigen, die ihren Namen einer Bevölkerung entliehen haben, die das Land lange vor ihnen besiedelte. Es handelt sich dabei um ein relativ gängiges Verfahren, historische Tiefe herzustellen, das wir ebenso etwa bei den Briten, Schotten und den Franzosen finden. Auch die Confoederatio Helvetica beruft sich auf einen keltischen Stamm, der vor 2000 Jahren auf Schweizer Boden lebte. Die Frustration über die anhaltende griechische Obstruktionspolitik und die Tatenlosigkeit des Westens waren und sind in Makedonien groß. Die Menschen fühlen sich gedemütigt und mit Füßen getreten, sie sehen ringsherum Feindseligkeit und Verweigerung des Existenzrechts und ein gleichgültiges Europa. Da Makedonien mit Hinweis auf die Antike der Name verweigert wird, steht diese Periode mittlerweile weit stärker im Dienst des nation-building, das abgeschlossen schien, aber aufgrund der äußeren Anfechtungen wieder verstärkt betrieben wird. Das Reich Alexanders, in sozialistischer Zeit marginal behandelt, erhielt immer mehr Raum in historischen Werken. Die neue, siebenbändige »Geschichte des makedonischen Volkes« widmet in ihrem ersten, im Jahr 2000 erschienenen Band über 200 Seiten der Antike, während es in der dreibändigen Ausgabe von 1969 9 Veljanovski im Interview mit Blagorodna Tsvetkova: Blagorodna Tsvetkova: »Skopje 2014«. Ein Bauprojekt als aktuelles Beispiel für Nationsbildung in Südosteuropa. MA-Arbeit an der Universität Regensburg, 2014, S. 45. 10 Tchavdar Marinov: Anticommunist, but Macedonian. Politics of memory in post-Yugoslav Macedonia. In: Tokovi istorije 1–2 (2009), S. 65–83, hier S. 69; Vangeli 2011 (wie Anm. 2), S. 16.

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erst rund zwanzig sind.11 Dieselbe Verschiebung der Gewichte lässt sich in den Schulbüchern feststellen. Außerdem wird neu eine Kontinuität von den Makedonen des Altertums zum heutigen Makedonien insinuiert.12 Diese Neuausrichtung fand in den Regierungszeiten der rechtsnationalen Partei VMRO-DPMNE statt, etwas weniger ausgeprägt 1998–2002, aber umso stärker seit 2006. So wurde im Jahr 2007 der Flughafen von Skopje nach Alexander dem Großen umbenannt. Die Verweigerung der Aufnahme in die NATO im Jahr 2008 wegen des griechischen Vetos führte zu einem enormen Schub der sogenannten »Antiquisierung«. In einer Kampagne der rechtsnationalen Regierung zur »Hebung der nationalen Würde und des Optimismus« wurde zunehmend auf die Antike rekurriert und entsprechende Symbole und Feste wurden eingeführt im Bestreben darum, Traditionen zu erfinden13 und Bezüge zur Antike zu schaffen, die offenbar als einzige ein Recht auf den Namen sicherte. Einflussreiche Persönlichkeiten wie Pasko Kuzman, Archäologe und früher Direktor des Amtes für Schutz des kulturellen Erbes, behaupteten, Makedonien könne seinen Namen nur verteidigen, wenn es beweise, dass die makedonische Nation antike Wurzeln habe.14 Teil der groß angelegten Suche nach diesen Wurzeln sind umfangreiche Ausgrabungsprojekte an verschiedenen Orten des Landes. Am sichtbarsten für Bewohner wie Besucherinnen und Besucher Makedoniens ist die Geschichtspolitik der regierenden Partei in der Errichtung von unzähligen Denkmälern15 und neuen Gebäuden, vornehmlich in der Hauptstadt, aber auch etwa in den Städten Prilep und Bitola. Den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung bildet die Umgestaltung der Hauptstadt seit 2011 unter dem Titel Skopje 2014. Die VMRO-DPMNE unter Nikola Gruevski hat in wenigen Jahren vor allem das Zentrum radikal verändert und der Stadt ihre Geschichtsinterpretation aufgedrückt. So einschneidend und verstörend die baulichen Veränderungen auch sind – man kann nicht behaupten, dass sie ein über lange Zeit gewachsenes Stadtbild zerstört hätten. Skopje war nicht schön im landläufigen Sinn, das Stadtbild wirkte eher chaotisch.

11 Brunnbauer 2004 (wie Anm. 4), S. 180. 12 Irena Stefoska: Some aspects of history textbooks for secondary school. The case of Macedonia. In: Sabrina P. Ramet et al. (Hg.): Civic and uncivic values in Macedonia. Value transformation, education and media, London 2013, S. 258–275, hier S. 262–268. 13 Vangeli 2011 (wie Anm. 2), S. 18. 14 Milan Mijalkoviḱ, Katarina Urbanek: Skopje – svetsko kopile. Arhitekturata na podeleniot grad (Skopje – ein Bastard der Welt. Die Architektur der geteilten Stadt), Skopje 2011, S. 80. 15 »Wie lange noch?«, fragte die Nachrichtenagentur MKD am 7. September 2014, nachdem sie die Errichtung von fünf weiteren Denkmälern bekannt geben musste: http://www.mkd. mk/fotogalerija/spomenici-vo-skopje-pak-fotogalerija#14 (Letzter Zugriff: 1. Juli 2015).

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Abb. 1:  Stadtansicht von Skopje, Foto: Nada Boškovska.

Dies war die Folge eines starken Erdbebens, das sich am 26. Juli 1963 ereignete. Es forderte über 1000 Todesopfer und 3000 Verletzte, ließ 120’000 von 170’000 Einwohnern ohne Obdach und zerstörte 70 Prozent der Stadt16, so auch fast alle repräsentativen Bauten aus der Zwischenkriegszeit, etwa das Nationaltheater, den Offiziersclub (Oficerski dom) und den Bahnhof. Der Wiederaufbau wurde vom aufstrebenden Jugoslawien energisch an die Hand genommen. Auch die Solidarität der internationalen Gemeinschaft mit dem angesehenen Mitglied der blockfreien Bewegung war enorm. Die UNO und nicht weniger als 77 Staaten leisteten Hilfe.17 Skopje wurde zu einem guten Teil gemäß den Plänen des renommierten japanischen Architekten Kenzo Tange 16 Mijalkoviḱ, Urbanek 2011 (wie Anm. 14), S. 13. Robert Home: Reconstructing Skopje, Macedonia, after the 1963 earthquake. The Master Plan forty years on. Papers in Land Management No. 7, Anglia Ruskin University 2007, S. 5. Ein Hochwasser im Jahr 1962 hatte bereits das Fundament vieler Häuser beschädigt. United Nations Development Programme (Hg.): Skopje resurgent. The story of a United Nations special fund town planning project, New York 1970, S. 79. 17 Home 2007 (wie Anm. 15), S. 6. Zum Wiederaufbau siehe auch Mirjana Lozanovska: Kenzo Tange's forgotten Master Plan for the reconstruction of Skopje. In: Fabrications. The Journal of the Society of Architectural Historians, Australia and New Zealand 22 (2012), S. 140–163.

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wieder aufgebaut (Abb. 1 und 2). In der Folge entstand eine überaus moderne Stadt, auch wenn nicht alles wie projektiert umgesetzt wurde. Architekten schätzten die Modernität der Neubauten gewiss – auch wenn Skopje keineswegs zu einem Mekka für Architekturinteressierte wurde –, aber weder die einfache Bevölkerung noch die Touristen wussten sie besonders zu würdigen. Das kann nicht weiter verwundern, explodierte doch die Bevölkerungszahl der Stadt geradezu nach dem Erdbeben. Die Zugezogenen, die zur Hauptsache vom Land kamen, konnten – wie wohl überall auf der Welt – mit den Visionen der Architekten und Stilen wie »Brutalismus« wenig anfangen. Ähnliches galt für Besucher. In Reiseführern wurden die modernen Bauten als »a tad ugly«, »the weighty communist paw«18 und die Betonfassaden als »auf den ersten Blick nicht unbedingt einladend«19 beschrieben.

Abb. 2:  Teil der »Stadtmauer« von Skopje, errichtet im Rahmen von Kenzo Tanges Masterplan.

18 Richard Plunkett, Vesna Maric, Jeanne Oliver: Western Balkans, London 2006, S. 236, zitiert nach Home 2007 (wie Anm. 15), S. 4. 19 Philine von Oppeln: Makedonien entdecken. Unterwegs auf dem südlichen Balkan, Berlin 2005, S. 66.

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Abb. 3:  Ein Teil der Hauptpost, 1971, 1982, 1989, Architekt: Janko Konstantinov.

Abb. 4:  Studentenwohnheim Goce Delčev, Architekt: Ǵorǵi Konstantinovski, 1971.

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Die wichtigste und beliebteste Sehenswürdigkeit war die Čarsija, der Basar auf der linken Seite des Flusses, der weit weniger beschädigt worden war. Das Erdbeben hatte die Einwohner Skopjes nicht nur obdachlos, sondern auch heimatlos gemacht. Wer die Stadt vorher kannte, trauerte ihr nach, denn nur wenig blieb erhalten. Einiges, was das Erdbeben stehen ließ, fiel dem Masterplan für den Wiederaufbau zum Opfer. Nicht wenige Einwohner sahen Kenzo Tange als einen »japanischen Tyrannen«, der ihre Stadt zerstörte, indem er sie aufbaute.20 Wer neu zuzog, fand sich mit den modernen Bauten ab, ohne sie zu verstehen. Skopje vor 2011 war also keineswegs eine Schönheit, aber eine sehr lebendige, interessante und in ihrer unprätentiösen Art sympathische Stadt. Zu Recht wird nun im In- und Ausland heftige Kritik daran geübt, dass mit Rückgriff auf ältere Stile architektonisch eine Art Disneyland geschaffen wird, anstatt etwas Neues zu wagen. Skopje hat allerdings keine alte Substanz mehr, welche der Bevölkerung Vertrautheit spenden würde und auf deren Fundament Neues integriert werden könnte. Vielmehr mag die abrupte und radikale Modernisierung des Stadtbildes nach 1963 die Lust auf Gefälligeres gesteigert haben (Abb. 3 und 4). Die großen Veränderungen, mit denen in Skopje nun erinnerungspolitische Zeichen gesetzt werden, begannen allerdings nicht mit der Unabhängigkeit im Jahr 1991, sondern erst zwanzig Jahre später. Die schwierige außenpolitische Lage des Landes hatte sich in dieser Zeit kaum verbessert, ebenso wenig die wirtschaftlichen Perspektiven und die interethnischen Beziehungen – alles Bereiche, die wie kommunizierende Gefäße miteinander verbunden sind. Eine zermürbte und enttäuschte Bevölkerung wählte im Jahr 2006 zum zweiten Mal mehrheitlich die nationalkonservative VMRO-DPMNE, die sich nun daran machte, das Land und dessen Vergangenheit nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Massive sichtbare Veränderungen kündigten sich im Februar 2010 an, als das Projekt Skopje 2014 offiziell vorgestellt wurde. Eine Reihe von Skulpturen, Denkmälern, Brunnen, Obelisken, repräsentativen öffentlichen Bauten und Kirchen sollte das Stadtzentrum umgestalten. Es wurden damit mehrere Ziele verfolgt: Zum einen bestand die Notwendigkeit, für verschiedene Ministerien und wichtige öffentliche Institutionen wie das Verfassungsgericht, die Philharmonie oder das Archäologische Museum, die in gemieteten und teilweise ungeeigneten Gebäuden untergebracht waren, adäquate Räumlichkeiten zu schaffen.21 Andererseits ging es darum, die Stadt zu »verschönern«22 und aufzuwerten, so etwa mit Skulpturen, von denen dem Kulturministerium gemäß die Hauptstadt im Vergleich zu anderen europäischen Städten zu wenig hatte.23 20 Home 2007 (wie Anm. 15), S. 20, 22. 21 Tsvetkova 2014 (wie Anm. 9), S. 80 f. 22 So der Ministerpräsident Nikola Gruevski im Dokumentarfilm von Svetozar Ristovski: Skopje prodolžuva (Skopje geht weiter), Small moves film mit MRT, 2013, Teil 1, 6:12 ff. 23 Mijalkoviḱ, Urbanek 2011 (wie Anm. 14), S. 76.

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Es ging also darum, aus dem unscheinbaren Skopje – dessen moderne Architektur erst jetzt, da sie verschwindet, größere und auch internationale Beachtung findet – eine »würdige« Hauptstadt zu machen, die über die nötigen eindrücklichen Bauten verfügt. In der Tat hatte sich die Stadt seit der Unabhängigkeit kaum verändert, war staatlicherseits fast nichts gebaut worden, was angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage nicht weiter verwundern kann. Der aktuellen, antikommunistischen Regierung ging und geht es allerdings nicht nur darum, eine schönere Stadt zu bauen und die nötige Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Sie nutzt die Gelegenheit, um mit Hilfe der neuen Bauten und zahlreicher Denkmäler eine offensive Geschichtspolitik zu betreiben. Das Epizentrum dieser Umwälzungen ist die Stadtmitte um den großen Hauptplatz »Makedonija« (Abb. 5). Bis vor kurzem war dies ein weitgehend leerer Platz, auf dem an den sozialistischen Feiertagen die Manifestationen abgehalten wurden und in der postsozialistischen Zeit die Demonstrationen stattfanden. Die Perlen des ansonsten schmuck- und denkmallosen, von modernen Bauten umgebenen Platzes waren einerseits die Ristiḱeva palata aus dem Jahr 1926, die als eines der wenigen Gebäude der Zwischenkriegszeit das Erdbeben überstanden hatte, andererseits die Brücke über den Vardar, ein eindrückliches osmanisches Bauwerk aus dem 15. Jahrhundert und das Wahrzeichen der Stadt. Heute ist der Platz mit zahlreichen Monumenten versehen, welche die alten Bauwerke völlig in den Hintergrund drängen.

Abb. 5:  Der Hauptplatz »Makedonija«, Foto: Nada Boškovska.

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Abb. 6:  »Krieger zu Pferd«. Im Hintergrund links die Hauptpost, Foto: Nada Boškovska.

Die imposantesten Denkmäler erhielten als Folge der aktuellen Erinnerungspolitik Alexander der Große, dessen riesiges Reiterstandbild, das nur »Krieger zu Pferd« (Abb. 6 und Taf. V) heißt, den Hauptplatz vollständig dominiert, und sein Vater Philipp II. Seiner wird auf der anderen Seite des Flusses ebenfalls sehr monumental gedacht. Beginnend mit diesen beiden, werden auf beiden Seiten der Brücke alle Epochen der Geschichte Makedoniens abgedeckt. Am Rand des Hauptplatzes steht ein Denkmal für Justinian I., den bedeutenden oströmischen Kaiser des 6. Jahrhunderts, der für die Kompilation des Corpus Iuris Civilis und als Erbauer der Hagia Sophia in Konstantinopel berühmt ist. Was wohl den Wenigsten bekannt ist und mit diesem Denkmal ins Bewusstsein gehoben wird: Justinian wurde ganz in der Nähe von Skopje geboren. Auf dem Platz, neben Alexander, hat der mittelalterliche Herrscher Samuil seinen Ort gefunden (Abb. 7 und Taf. VI). Auf der anderen Seite der Brücke sind die Slawenapostel Kyrill und Method verewigt, ebenso die beiden Heiligen Kliment und Naum. Gedacht wird auch des Karpoš, der im 17. Jahrhundert einen Aufstand gegen die Osmanen anführte. An der Brücke befinden sich, ebenfalls hoch zu Ross, die späteren Kämpfer gegen die Osmanen, Goce Delčev und Dame Gruev. Frauen finden in einer solcherart konzipierten Erinnerung nur als Mütter

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Abb. 7:  Denkmal Zar Samuils. Im Hintergrund die neuen Fassaden, mit denen die alten sozialistischen Bauten versehen wurden, Foto: Nada Boškovska.

Abb. 8:  Alexander mit seiner Mutter Olympia. Im Hintergrund die monumentale Statue Philips II ., Foto: Nada Boškovska.

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Abb. 9:  Triumphbogen, Foto: Nada Boškovska.

Abb. 10:  Die Gebäude am linken Vardarufer beherbergen unter anderem das Archäologische Museum, das Verfassungsgericht, das Staatsarchiv und das Außenministerium, Foto: Nada Boškovska.

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von Helden Platz: Neben dem Denkmal für Philipp II . ist auf einem großen Brunnen nebst Alexander in verschiedenen Altersstufen auch seine Mutter dargestellt (Abb. 8 und Taf. VII). Noch stärker als mit den Denkmälern, von denen hier nur einige wenige erwähnt wurden, wird mit zahlreichen neuen Bauten auf die Antike Bezug genommen: Ein Triumphbogen (Abb. 9 und Taf. VIII) wurde errichtet und das linke Vardarufer säumen nun Gebäude in neoklassizistischem Stil, die an antike Tempel erinnern (Abb. 10). Angesichts dieser massiven Eingriffe ins Stadtbild stellt sich die Frage, wer die Initiatoren von Skopje 2014 sind und wie das Vorhaben konkret und im Detail umgesetzt wird, wer zum Beispiel darüber entscheidet, welchen Persönlichkeiten an welchem Ort ein Denkmal gesetzt wird. Nach den Aussagen des Historikers Novica Veljanovski setzte sich die Kommission, die über die Auswahl und Platzierung der Denkmäler bestimmte, aus Vertretern des Stadtrats, Historikern, Politologen, Soziologen, Archäologen und anderen zusammen. Gemäß Zoran Todorovski, dem Direktor des Staatsarchivs, wurde für jedes Denkmal eine eigene Kommission gebildet. An der Planung der Gebäude waren nebst Politikern und Architekten auch Urbanisten beteiligt. Die Erteilung eines Auftrags erfolgte dann nach der Ausschreibung eines Wettbewerbs. Für die Denkmäler wurden den Bildhauern die Maße und der Stil – Realismus – vorgegeben, in der Ausführung waren sie frei.24 So plausibel es die Beteiligten auch darstellen mögen – in der Realität ist die Transparenz minimal. In der Stadt jagen sich vielmehr die Gerüchte und schieben sich die Ämter gegenseitig die Verantwortung zu. So stand im November 2013 plötzlich vor dem neuen Gebäude des Verfassungsgerichts ein Denkmal für den mittelalterlichen serbischen Herrscher Stefan Dušan, das ursprünglich offenbar nicht vorgesehen war und von dem niemand zu wissen schien, wer die Errichtung veranlasst hat. Später schien belegt zu sein, dass es die Kulturministerin war. Es hagelte harsche Proteste vonseiten der Albaner, die auch versuchten, das Denkmal zu entfernen; es gelang ihnen jedoch nur eine geringfügige Beschädigung. In der Folge wurde Dušan während Monaten aufwendig von der Polizei bewacht, was die Behörden leugneten, obwohl es laut Zeitungsberichten offensichtlich war. Als das Denkmal Anfang August 2014 plötzlich in altem Glanz dastand, wollte sich wiederum niemand dazu bekennen, die Reparatur veranlasst zu haben.25 Offenbar hält es die Führung nicht für nötig, offen zu kommunizieren. Auch bezüglich der Kosten herrscht völlige Unklarheit. Nach offiziellen Angaben betragen die Ausgaben für Skopje 2014 rund 80 Millionen Euro, die Kritiker sprechen von 500 Millionen.26 24 Tsvetkova 2014 (wie Anm. 9), S. 84 f. 25 http://www.plusinfo.mk/vest/146685/FOTO-Tajna-e-i-koj-go-obnovi-car-Dushan (Letzter Zugriff: 1. Juli 2015). 26 Tsvetkova 2014 (wie Anm. 9), S. 74.

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Es wird in Skopje jedoch nicht nur Neues in neoklassizistischem Stil gebaut; es werden auch Gebäude wieder errichtet, die das Erdbeben zerstört hatte, so das Nationaltheater aus dem Jahr 1927. Dieses war damals Teil des nation-building-Projektes der Belgrader Behörden, es sollte dazu beitragen, der Bevölkerung Makedoniens ein serbisches Nationalbewusstsein zu vermitteln.27 Dass auch ein Bauwerk rekonstruiert wurde, das für die Serbisierungsbestrebungen der Zwischenkriegszeit steht, zeigt, dass mit Skopje 2014 versucht wird, historische Tiefe zu schaffen in einer Stadt, die 1963 alles verloren hat, und dem ästhetischen Empfinden der breiten Bevölkerung entgegenzukommen, die in der Regel weiter zurückliegende Stile »schöner« findet als moderne. Die Deutung der Geschichte ist nicht nur in der Beziehung zu den Nachbarn ein Minenfeld, im Innern geriet die Vergangenheit ebenfalls aus den Fugen. Mit dem Zusammenbruch Jugoslawiens erhielt auch in Makedonien die kommunistische Interpretation der Geschichte, welche die Nachkriegszeit geprägt hatte, Konkurrenz, und das gängige Narrativ wurde in Frage gestellt. Antikommunistische Historiker und Politiker hängten Protagonisten in die Ahnengalerie Makedoniens, die bis dahin Unpersonen gewesen waren, so etwa Vertreter des rechten Flügels der Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation (IMRO, mak. VMRO) der Zwischenkriegszeit wie Ivan Mihajlov und Todor Aleksandrov. Diese Richtung spielt die Bedeutung der makedonischen Kommunisten für das makedonische nation-building herunter und prangert etwa die Standardisierung der makedonischen Sprache ab 1944 als »Serbisierung« an.28 Während die frühen Revisionisten der 1990er Jahre eine probulgarische Richtung einschlugen, negiert die aktuelle antikommunistische Geschichtsinterpretation die makedonische Nation nicht, sondern sucht sie auf anderer Basis zu affirmieren. Protagonisten der neueren Geschichte wie Metodija Andonov – Čento und Metodija Šatorov – Šarlo, die sich im Zweiten Weltkrieg oder unmittelbar danach gegen die jugoslawische Kommunistische Partei gestellt hatten und in sozialistischer Zeit geächtet waren, werden nunmehr als verfolgte makedonische Patrioten gesehen.29 Sie haben inzwischen alle ein Denkmal in Skopje erhalten. Ihrer wird auch im neuen »Museum des makedonischen Kampfes für Staatlichkeit und Unabhängigkeit. Museum der VMRO und Museum der Opfer des kommunistischen Regimes« gedacht. Dieses Museum, das nur mit einer Führung, jedoch nicht eigenständig besichtigt werden kann, präsentiert die Geschichte so, wie sie die regierende rechtsnationale Partei gesehen haben möchte. Eindrückliche Inszenierungen mit lebensgroßen, gut gearbeiteten Wachsfiguren und riesigen, auf 27 Boškovska 2009 (wie Anm. 3), S. 336. 28 Marinov 2009 (wie Anm. 10), S. 70. 29 Ebd., S. 74, 76.

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Leinwand gemalten Bildern zeigen, dass das makedonische Volk – aus Männern bestehend – offenbar seit den 1870er Jahren nichts anderes getan hat, als für seine Unabhängigkeit zu kämpfen. Das sozialistische Jugoslawien, das die Makedonier, die es noch erlebt haben, mehrheitlich positiv konnotieren und mit einem gewissen Wohlstand, Reisemöglichkeiten und vielfältigem freundschaftlichen Austausch mit den anderen Republiken verbinden, wird im Wesentlichen auf die Verfolgung von politischen Gegnern reduziert und als ein repressiver Staat dargestellt, der die nichtkommunistischen makedonischen Patrioten brutal unterdrückt und nicht zugelassen habe, dass ein unabhängiges Makedonien entsteht. Nicht nur bei der Ausgestaltung des Museums, sondern auch bei Skopje 2014 war eine treibende Idee der regierenden Partei, die sozialistische Phase des Landes zu diskreditieren und so weit wie möglich ungeschehen zu machen. Skopje 2014 richte sich gegen das Grau des Sozialismus und die »Betonbauten, die uns vom Schönen abschotten sollten«, so der Kommentar im ersten Teil des Dokumentarfilmes Skopje prodolžuva.30 Zu diesem Zweck werden nicht nur neue Gebäude errichtet, sondern zahlreiche Bauten aus der sozialistischen Zeit erhalten neue, gefällige Fassaden und sind nicht mehr wiederzuerkennen. Die Dekonstruktion des in der Zeit des Sozialismus entstandenen geschichtlichen Narrativs war nicht zuletzt eine Folge internationaler Forderungen. Schon 1996 verlangte eine Resolution des Europaparlaments Maßnahmen, um das Erbe der »totalitären kommunistischen Systeme niederzureißen«, und 2006 verurteilte es »die Verbrechen der totalitären kommunistischen Regime«. Das makedonische Parlament reagierte prompt und entschuldigte sich bei den »Opfern des Kommunismus«. Die politischen Kreise in Makedonien, auch die Sozialdemokraten, glaubten, dass eine Abrechnung mit dem Kommunismus die Voraussetzung für die Aufnahme in EU und NATO war.31 Die unterschiedliche und sich verändernde Deutung der Geschichte unter den ethnischen Makedoniern ist aber nur eine Facette der Problematik. Makedonien ist ein multiethnischer Staat, die Minderheiten, allen voran die Albaner, die ein Viertel der Bevölkerung bilden, finden sich in der aktuellen staatlichen Erinnerungspolitik überhaupt nicht repräsentiert. Der Kampf der Makedonier um die Anerkennung ihrer Nation lässt sie gleichgültig; dass er so dominant im Stadtbild inszeniert wird, empört sie. Sie haben ganz andere Vorstellungen davon, wessen gedacht werden soll und welche Bauten zu erstellen wären. Wo etwa die Behörden eine Kirche planen, machen sie geltend, dort habe früher eine Moschee gestanden, die wieder zu errichten wäre. Sie monieren, dass der Helden ihrer Vergangenheit praktisch nicht gedacht wird. Gewisse Denkmäler wie dasjenige für Stefan Dušan provozieren Demonstrationen und Gewaltausbrüche. Wie ein 30 Skopje prodolžuva 2013 (wie Anm. 21), Teil 1, 4:30 ff. 31 Marinov 2009 (wie Anm. 10), S. 77 f.

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makedonischer Autor betont, spaltet das Projekt die Gesellschaft gleich mehrfach. Es treibt einen Keil zwischen die ethnischen Gruppen, da es sich praktisch ausschließlich an die Titularnation, die Makedonier, wendet. Aber auch diese wird geteilt, denn beileibe nicht alle folgen der Geschichtspolitik der aktuellen Führung.32 Skopje 2014 entzweit auch die Regierungskoalition, die aus der ethnisch makedonischen VMRO-DPMNE unter Nikola Gruevski und der ethnisch albanischen DUI unter Ali Ahmeti besteht.33 Das Projekt öffnet auch der Einmischung von außen Tür und Tor. Denn wenn ein mittelalterlicher serbischer Zar, der im 14. Jahrhundert über makedonisches Territorium herrschte, mit einem Denkmal bedacht wird – was in Serbien mit Freude vermerkt wurde –, warum nicht auch bulgarische Herrscher und osmanische Sultane? Angesichts der radikalen Eingriffe ins Stadtbild und der überbordenden Geschichtspolitik der Regierung stellt sich die Frage nach den Reaktionen der Bevölkerung. Im Oktober 2011, als das Projekt noch nicht realisiert war, erwarteten 63 Prozent der ethnischen Makedonier, die im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung befragt wurden, dass die makedonische Geschichte und ihre Protagonisten korrekt dargestellt würden, während es bei den ethnischen Albanern nur 18 Prozent waren. Und während letztere zu 58 Prozent davon überzeugt waren, dass sich das Projekt schlecht auf die interethnischen Beziehungen auswirken würde, waren es bei den ersteren nur 28 Prozent.34 Die albanische Bevölkerung der Stadt mit einem Anteil von 20 Prozent35 steht dem Unterfangen klar negativ gegenüber. Aber auch bei den Makedoniern lösen die Veränderungen zwiespältige Gefühle aus. Eine nicht repräsentative persönliche Umfrage bei Passanten und Bekannten im November 2013 ergab, dass die meisten Angesprochenen es einerseits begrüßten, dass endlich etwas unternommen werde, da in Skopje schon sehr lange nichts mehr gebaut worden sei. Die meisten fanden aber, dass mit der Zahl der Denkmäler und mit ihrer dichten Platzierung übertrieben worden sei. Alle gaben auch zu bedenken, dass man das Geld vielleicht besser für dringendere Bedürfnisse ausgegeben hätte. Andere, vor allem Angehörige der intellektuellen Elite, die sich von Anfang an kritisch geäußert haben, schämen sich und ertragen es kaum, durch das Zentrum ihrer Stadt zu gehen, das sie nicht wiedererkennen. Sie sind wütend auf die Regierung, die das zu verantworten hat; gleichzeitig tut 32 Vangeli 2011 (wie Anm. 2), S. 24. 33 http://www.utrinski.mk/?ItemID=D58AD6F76B76904FACA54F78FB2F9E34 (Letzter Zugriff: 1. Juli 2015). 34 Strategies of symbolic nation-building in West Balkan states: Intents and results. http://www. hf.uio.no/ilos/english/research/projects/nation-w-balkan/ Makedonien, S. 48, 49 (Letzter Zugriff: 1. Juli 2015). 35 Gemäß Volkszählung von 2002. Census of population, households and dwellings in the Republic of Macedonia, 2002. Final data. Hg. v. Republic of Macedonia, State Statistical Office, Skopje, May 2005, Book XIII, S. 34.

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ihnen der überhebliche Spott der Welt weh, die sich über das kleine, arme Land lustig macht, das seine Ressourcen auf unsinnige Art verschleudert. Es ist für Außenstehende ein Leichtes, von Disneyland zu sprechen, vernichtende Urteile zu fällen und womöglich die Dinge zu verkehren. So schreibt etwa der kroatische Schriftsteller Jurica Pavičić, der an sich nicht uninformiert ist, über seine Eindrücke: »Inmitten diese Irrsinns befand sich das Reiterstandbild, das zwar nicht den Namen Alexanders des Großen trägt, aber wir alle wissen, dass er es ist, während Griechenland genau deshalb, »weil wir es alle wissen«, wütend ist und den Beitritt Mazedoniens zur NATO und zur EU verhindert.«36 Es verhält sich aber umgekehrt: Das Denkmal steht dort, weil Griechenland seit 1991 all dies und noch viel mehr verhindert. In erster Linie ist das, was mit Skopje geschieht, tragisch und es hätte durchaus nicht so kommen müssen. Wäre Makedonien 1991 wie alle anderen Länder, welche die Unabhängigkeit erlangten, behandelt worden, das heißt, wäre es ohne weiteres in die Staatengemeinschaft aufgenommen und sein Existenzrecht nicht in Frage gestellt worden, hätte sich das Land ganz anders entwickelt und wäre die in Stein gehauene Erinnerungspolitik eher weniger aufdringlich als in den anderen postkommunistischen Staaten. Der Kulturanthropologe Andrew Graan betrachtet Skopje 2014 noch unter einem anderen Blickwinkel, nämlich jenem des nation branding, das neoliberale Regierungen anwenden, um Kapital in ihr Land zu locken. Der Gedanke dahinter ist, dass nation branding die Wettbewerbsfähigkeit auf dem globalen Markt stärkt. Dank solchem branding, so Ökonomen, habe sich Irland zu einem Finanzzentrum entwickelt, habe chilenischer Wein Märkte erobert und der Drogenstaat Kolumbien sich zu einer Tourismusdestination gemausert. Skopje 2014, so Graan, passt ins Modell, da es Aufmerksamkeit erregt, die in einen ökonomischen Vorteil umgemünzt werden kann. Die Gegner des Projekts fürchten jedoch, dass das Gegenteil eintritt, dass sich die Stadt und das Land in den Augen der Welt lächerlich machen und dass Makedonien als brand ein negatives Image bekommt.37 Im Moment scheint das die wahrscheinlichere Variante zu sein. In einer Hinsicht wenigstens hat Skopje 14 aber dennoch einen positiven wirtschaftlichen Effekt: Skopje ist in den letzten fünf Jahren zur wichtigsten touristischen Destination im Land geworden.38 Während früher ausländische Touristengruppen und Souvenirstände völlig fehlten, prägen sie jetzt, zusammen mit den Denkmälern und den antiquisierenden Bauten, das neue Stadtbild.

36 Jurica Pavičić: Skopje im Delirium. Der Postkommunismus im Spiegelkabinett oder die Tilgung der Moderne. In: Lettre international 105 (2014), S. 130–133, hier S. 130. 37 Andrew Graan: Counterfeiting the nation? Skopje 2014 and the politics of nation branding in Macedonia. In: Cultural Anthropology 28, (2013), S. 161–179, hier S. 165–167, 173 f. 38 Dnevnik, 8. November 2013, S. 21.

Samuel M. Behloul

Zwischen Balkan-Hypothek und Balkan-Bonus Identitätsbildung der muslimisch-jugoslawischen Diaspora in der Schweiz

Der Beitrag fragt nach den verschiedenen und wechselnden Formen des Verhältnisses von religiöser und ethno-nationaler Identität unter den Bedingungen des Lebens im Diasporakontext. Der Ausgangspunkt der hier vorgenommenen Reflexion besteht in der Beobachtung, dass Religionen, neben ihrem Potenzial, mit Hilfe von Narrativen und Symbolen wichtige Grundlagen für ethno-nationale Identitätsbildungsprozesse zu liefern, als supranationale Werte- und Glaubenssysteme ebenso das Potenzial besitzen, die ethno-religiösen Engführungen zu überwinden. Wie diese Prozesse sich unter Migrantengemeinschaften abspielen, hängt nicht nur von der Situation im Herkunftsland ab, sondern auch von der Art und Weise der Wahrnehmung der betreffenden Gemeinschaften seitens des Residenzlandes. Die empirische Grundlage der Untersuchung bilden die muslimischen Migranten aus dem ex-jugoslawischen Raum (Albaner und Bosniaken) in der Schweiz. In der geschichtswissenschaftlichen Forschung gehört es schon seit Längerem zum Allgemeingut, dass sich die kognitive Zuordnung geografischer Räumlichkeiten nicht bloß in den Informationen zur rein geografischen Lage eines bestimmten Raumes erschöpft, sondern diese vielmehr auch normativ geladen ist. Robert M. Kitchin stellt folgerichtig fest: »Cognitive Maps are not just a set of spatial mental structures denoting relative position, they contain attributive values and meanings.«1 Zu den aus (west-)europäischer Perspektive vielleicht wirkmächtigsten Bildern, die auf kognitiven Karten fest verzeichnet und mit breiter Aura normativ geladener Faktizität umgeben sind, gehört – neben Orient oder Osteuropa – zweifelsohne auch der Balkan. Aufschlussreich dabei ist, dass der Begriff Balkan im Sinne einer mental map nicht nur außerhalb des Balkans zur Umschreibung des Fremden und Anderen dient, sondern auch auf dem Balkan selbst als Kategorie normativer Fremdzuschreibung und Abgrenzung eingesetzt wird. Mit anderen Worten: Der Balkan ist zwar auch auf den kognitiven Landkarten von Menschen 1 Robert M. Kitchin: Cognitive Maps: What Are They and Why Study Them? In: Journal of Environmental Psychology 14 (1994), S. 1–19, S. 2.

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in dem so bezeichneten geografischen Raum Balkan fest verankert. Nicht alle Menschen auf dem Balkan sind jedoch bereit, diese Fremdzuschreibung für sich selbst zu akzeptieren, sondern benutzen sie in unterschiedlichen Diskurskontexten als normative Zuschreibung für Andere. Dies scheint mir besonders charakteristisch zu sein für den Raum des ehemaligen Jugoslawiens. Dazu einige Beispiele. Meine vierjährige Gymnasialzeit verbrachte ich Mitte der 1980er Jahre in der kroatischen Hauptstadt Zagreb, im katholischen Jesuiteninternat. Im Internat wohnten und studierten Jugendliche aus allen Teilen Kroatiens. Gesellschaftspolitisch betrachtet war diese Zeit von zunehmend intensiver und expliziter ausgetragenen Grundsatzdiskursen über die Zukunft des Vielvölkerstaates Jugoslawien im Allgemeinen und nach dem zukünftigen Weg einzelner Teilrepubliken im Besonderen geprägt. Auf große politische Diskussionen haben wir uns im Gymnasium aufgrund politischer Rahmenbedingungen zwar nicht eingelassen. Eine Frage, vielleicht nicht weniger politisch, die wir aber immer wieder diskutiert haben, war die nach der genauen geografischen Verortung des Balkans. Dabei wurden nach Innen und nach Außen hin jeweils unterschiedliche und selbstredend normativ geladene mentale Kartierungen vorgenommen. Ein Zagreber Klassenkamerad betonte beispielsweise vehement, der Balkan beginne, sobald man die Brücke über die Sava passiert habe, das heißt in den südöstlichen Teilen der Stadt Zagreb. Er wohnte nördlich der Sava-Brücke. Als Beleg für die Richtigkeit seiner These verwies er jedes Mal darauf, wie ordentlich und habsburgisch die Zagreber Stadtviertel nördlich der Sava wirkten, während diejenigen Stadteile auf dem anderen Flussufer schmutzig, chaotisch und von Kriminalität geprägt seien. Diejenigen Gymnasiasten, die aus Nordkroatien stammten, haben sich wiederum über ihre Kollegen lustig gemacht, die aus den östlichen Teilen Kroatiens (aus der Provinz Slawonien) kamen, da diese viele türkische Worte in ihrem Vokabular hatten und gerne serbische Turbo-Folk-Musik hörten, während die Nordkroaten viele deutsche Worte benutzten und kroatische oder westliche Popmusik bevorzugten. Der jeweilige Wortschatz und Musikgeschmack dienten somit der eindeutigen Zuordnung zu Mitteleuropa bzw. zum Balkan. Als Kroatien zu Beginn der 1990er Jahre politische Unabhängigkeit erlangte, wurde der dortige politische Diskurs von neuartigen Grenzziehungssemantiken geprägt – wie beispielsweise diejenige, dass Serbien jetzt dorthin gehöre, wohin es schon immer gehörte, nämlich zum Balkan, und Kroatien zu ihrem historisch und kulturell natürlichen Umfeld zurückgefunden habe, nämlich zu Mitteleuropa. In Bezug auf den programmatischen Titel dieses Bands ließe sich anhand erwähnter Beispiele in diskurstheoretischer Perspektive und etwas karikierend auch schlussfolgern: Der Balkan existiert, aber wo? Wie auch immer, diese einzelnen Beispiele zeigen, dass die Gemeinsamkeit von Geschichte, Kultur und Sprache nicht automatisch das ausschließliche Identitäts- oder Zusammengehörigkeitskriterium einer ethnischen Gruppen bilden

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muss. Der norwegische Sozialanthropologe Frederik Barth, der als Begründer der boundary theory gilt, betont entsprechend, dass sich Zugehörigkeits- und Ausschlusskriterien in Abhängigkeit vom sozialen und politischen Kontext bilden und die damit einhergehenden Grenzziehungsprozesse sehr unterschiedlich, ja sogar widersprüchlich ausfallen können.2 Der Beitrag diskutiert exemplarisch identitätsstiftende Grenzziehungsprozesse im Kontext von Migration unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Religion. Die empirische Diskussionsgrundlage bilden zwei ethnisch zwar verschiedene, hinsichtlich der Religionszugehörigkeit aber gleiche Zuwanderergruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien in der Schweiz, nämlich diejenige der muslimischen Albaner und diejenige der Bosniaken. Ausgegangen wird dabei von den zwei für den Raum des ehemaligen Jugoslawiens relevanten sozio-kulturellen und gesellschaftspolitischen Aspekten. Der erste unterstreicht, dass sich die Komplexität dieses Gebietes, neben kulturellen, ethnischen und sprachlichen, auch in seinen religiösen Traditionen widerspiegelt und dass religiös basierte Grenzmarkierungen dort insbesondere seit dem 19. Jahrhundert die vielleicht wichtigsten Identitätsbildungsstrategien darstellen.3 Das zweite Spezifikum des ehemaligen Jugoslawiens besteht in seinen ebenso seit dem 19. Jahrhunderten anhaltenden Migrationsströmen, sei es in Form von Binnenwanderungen oder in Form von Auswanderungen nach Westeuropa seit den 1960er Jahren. Ausgehend von den zwei erwähnten Spezifika diskutiert der Beitrag die Frage der unterschiedlichen Gewichtung von ethnischer und religiöser Selbstzuschreibungen unter den Bedingungen der Diaspora. Zwei Fragen sind dabei zentral: Wie und auf Grundlage welcher Argumentationsstrategien wird Religion im Diaspora-Kontext zum Generator der Erhaltung der aus dem Herkunftsland mitgebrachten ethno-konfessionellen Identität? Ab wann und wie wird sie von religiösen Akteuren bewusst zum Zweck der Transformation ethno-religiöser Identität in eine supranationale universal-religiöse Identität eingesetzt? Aus dieser Fragestellung geht zugleich der wesentliche Aspekt des Lebens unter Diasporabedingungen hervor, nämlich der Aspekt der transnationalen Dimension. Aus diesem Grund werden mit Blick auf die hier zu diskutierenden beiden Migrantengemeinschaften folgende zwei Gesichtspunkte zu berücksichtigen sein: erstens die sozio-politische Entwicklung im Herkunftsland und zweitens die öffentliche Wahrnehmung der Migrantengemeinschaft seitens der Residenzgesellschaft. Beide können, wie ich aufzeigen möchte, die ethno-religiöse Selbstwahrnehmung und die damit einhergehende Gewichtung zwischen ethno-kulturellem Erbe einerseits und religiöser 2 Siehe Frederik Barth (Hg.): Ethnic Groups and Boundaries: The Social Organisation of Cultural Difference, Oslo 1969. 3 Klaus Buchenau: Orthodoxie und Katholizismus in Jugoslawien, 1945–1991. Ein serbisch-kroatischer Vergleich, Wiesbaden 2004.

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Tradition andererseits entscheidend beeinflussen. Entsprechend gliedert sich der Beitrag in zwei Teile. Im ersten Teil soll der Frage nachgegangen werden, wie sich die sozio-politische Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien ab Ende der 1980er Jahre auf die hier zu analysierenden Gemeinschaften im Schweizer Diaspora-Kontext ausgewirkt hat. Im zweiten Teil liegt das Augenmerk auf der Frage, ob und wie die spezifische öffentliche Wahrnehmung des Islam im Allgemeinen und der muslimisch geprägten Migranten aus Ex-Jugoslawien im Besonderen seitens der Schweizer Mehrheitsgesellschaft das Verhältnis der zwei Migrantengemeinschaften zu ihrem religiös-kulturellen Erbe beeinflusst.

Von den Gastarbeitern zu Diaspora-Gemeinschaften – Was ist Diaspora? Mit dem Begriff Diaspora wird hier nicht eine rein deskriptive Kategorie zur Umschreibung des Lebens einer oder mehrerer Migrantengemeinschaften in der Fremde verstanden. Diaspora meint hier vielmehr eine politisch und normativ besetzte Selbst- und Fremdbezeichnung, die für einzelne Zuwanderergruppen aus dem ehemaligen Jugoslawien im Westen seit Ende der 1980er Jahre unter den Bedingungen eines tiefgreifenden soziopolitischen Wandels im Herkunftsland relevant wurde. Diesen Prozess möchte ich im Folgenden zum Zweck eines besseren Verständnisses des in diesem Beitrag verwendeten Diaspora-Begriffs zunächst kurz skizzieren und zugleich in einen breiteren Kontext der Bedeutungsverschiebung des Begriffes Diaspora im Bereich der Migrationsforschung stellen. Der in der heutigen Migrationsforschung inzwischen fest etablierte Terminus durchlief hinsichtlich seiner Verwendung und seiner semantischen Umcodierung eine wechselvolle Geschichte.4 Das griechische Verb diaspeirein (zerstreuen), das dem Begriff Diaspora zugrunde liegt, hatte ursprünglich eine ausschließlich negative Konnotation und »bezeichnete Prozesse materieller Zerstreuung und Zerteilung, die Auflösung eines Ganzen in verschiedene Teile ohne weitere Beziehung zueinander.«5 Erst infolge der Übersetzung jüdischer Schriften ins Griechische um 250 v. Chr. erhält der Begriff seine später auch im christlichen Sprachgebrauch spezifischen sozio-geografischen und theologisch-soteriologischen Konnotationen. Diaspora wird fortan zur Beschreibungskategorie von Juden, die zumeist unfreiwillig außerhalb Palästinas leben6 und die durch Gottes Gnade am Ende 4 Martin Baumann: Migration, Religion, Integration. Vietnamesische Buddhisten und tamilische Hindus in Deutschland, Marburg 2000. 5 Matthias Krings: Diaspora: Historische Erfahrung oder wissenschaftliches Konzept? In: Paideuma 49 (2003), S. 137–156, hier S. 137. 6 Ebd., S. 139.

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der Zeiten in ihrem Gelobten Land wieder zusammengeführt werden.7 In dieser Bedeutung wurde der Begriff lange Zeit von jüdischen und christlichen Gelehrten zur Beschreibung von ausschließlich jüdischen und christlichen (griechischen und armenischen) Gemeinschaften außerhalb ihrer realen und intendierten Heimatländer verwendet. Ab dem 19. Jahrhundert setzte sich im erwähnten Verwendungskontext endgültig ein Diaspora-Begriff durch, der sich modellhaft an der historischen Erfahrung der jüdischen Diaspora (Vertreibung, Wanderschaft, Exil, Verfolgung) als »ideal type« von Diaspora anlehnte.8 Zu einer semantischen Ausweitung von Diaspora über den jüdischen und christlichen Erfahrungshorizont hinaus kam es erst in den 1960er Jahren im Rahmen der African Studies. In den leidvollen Erfahrungen schwarzer Menschen aus der Subsahara im Zuge des kolonialen Sklavenhandels (Fremdherrschaft, Sklaverei, Zerstreuung, Heimatsehnsucht) erblickte man ein Äquivalent zu den historischen Erfahrungen des jüdischen Volkes.9 Zu einer für die weitere semantische, konzeptionelle und disziplinäre Verwendung von Diaspora als Beschreibungs- und Analysekategorie folgenreichen Bedeutungsverschiebung kam es im Zuge ihrer sukzessiven Etablierung innerhalb der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung zur Migration ab den 1980er Jahren. Der Diaspora-Begriff wurde fortan nicht mehr mit ausschließlich negativen Konnotierungen (erzwungene Migration) verwendet, sondern auf die Gesamtheit der Prozesse und Motive von Migration und Deterritorialisierung konzeptionell ausgedehnt. Seither analysieren Studien zur Diaspora »[...] processes of institutionalisation and community building; identity formation and retention; forms of religious traditionalisation, adaptation and innovation in the new context.«10 Wenn nun die in der Schweiz lebenden Migrantengemeinschaften der muslimischen Albaner und Bosniaken in diesem Beitrag als ›Diasporen‹ bezeichnet werden, dann geschieht dies aus der Einsicht heraus, dass Diaspora-Gemeinschaften keine sozialen Fakten an sich bilden, sondern vielmehr als situative Diskursfelder anzusehen sind. Mit anderen Worten: Migrantengemeinschaften können infolge der sich verändernden soziopolitischen Bedingungen in ihren Herkunftsländern plötzlich als ›Diasporen‹ adressiert werden und entsprechend Bewusstsein und Praxis der Diaspora entwickeln. Fiona B. Adamson weist auf diesen prozessualen Charakter der ›Diasporen‹ hin, wenn sie feststellt, dass »diasporas are best viewed as the products or outcomes of transnational mobilisation activities by 7 Martin Baumann: Migration and Religion. In: Peter Clarke, Peter Beyer (Hg): The World’s Religions: Continuities and Transformations, London 2009, S. 338–353, hier S. 348. 8 William Safran: Diasporas in Modern Societies: Myths of Homeland and Return. In: Diaspora: A Journal of Transnational Studies 1 (1991), Nr. 1, S. 83–99. 9 St. Claire Drake: Diaspora Studies and Pan-Africanism. In: Joseph E. Harris (Hg.): Global Dimensions of the African Diaspora, Washington D.C. 1982, S. 451–514. 10 Baumann 2009 (wie Anm. 7), S. 349.

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political entrepreneurs engaged in strategic social identity construction.«11 Gerade die soziopolitischen Umwälzungen ab den 1980er Jahren im ehemaligen Jugoslawien sind hinsichtlich solcher ›Diasporisierungsprozesse‹ aufschlussreich. Für die Migrantengemeinschaften aus dieser Region lassen sich diesbezüglich zwei Beobachtungen machen, die sowohl das Beziehungsgeflecht Herkunftsland – Migrantengemeinschaft als auch die Verwendung des Diaspora-Terminus als Selbst- und Fremdzuschreibung betreffen. Unabhängig von der Intensität und der nominellen Verwendung des Diaspora-Terminus als Fremd- oder Selbstzuschreibung stellte der Herkunftskontext schon immer einen wichtigen Referenzpunkt für ex-jugoslawische Migrantengemeinschaften dar: Dies entweder in neutraler Hinsicht als geografischer Kontext, in den man nach vorübergehendem Arbeitsaufenthalt in der Fremde wirtschaftlich gestärkt wieder zurückkehren wird, oder aber als negative Projektionsfläche für Diskurse über politische Unterdrückung, Verfolgung und die ›wahre‹ Heimat, sei es als Utopie oder sei es als erst zu schaffende Wirklichkeit. Im Herkunftskontext selbst, das heißt im sozialistischen Jugoslawien, wurde wiederum bewusst Migrationspolitik betrieben. Parallel mit dem Beginn der vom jugoslawischen Staat legalisierten ökonomischen Auswanderung ab Mitte der 1960er Jahre wurden in den Zielländern der Auswanderer die so genannten ›Jugoslawischen Vereine‹ oder ›Jugoslawischen Klubs‹ gegründet und die Migranten über diplomatische Vertretungen gezielt aufgefordert, die kulturellen und sozialen Angebote der Vereine wahrzunehmen. Schon 1975 gab es in der Schweiz 130 jugoslawische Vereine mit jeweils etwa 150 Mitgliedern12 und im Jahr 1980 waren es 400.13 Trotz großzügiger staatlicher Unterstützung der Klubs war die Zahl der aktiv engagierten jugoslawischen Arbeitsmigranten darin eher gering. So waren in den 1970er Jahren nur etwa 4 % aller jugoslawischen Gastarbeiter in den Vereinen aktiv.14 Diese Art des transstaatlich betriebenen boundary maintanance gegenüber der Einwanderungsgesellschaft, zu der mehr oder weniger bloß ein Arbeitsverhältnis zu bestehen hatte, beruhte auf der Prämisse, dass Arbeitsmigration ein vorübergehendes Phänomen darstellt. Entsprechend wurden die Emigrierten nie als Diaspora, sondern vielmehr als integraler Teil der jugoslawischen Arbeiterklasse

11 Fiona B. Adamson: Constructing the Diaspora. Diaspora Identity Politics and Transnational Social Movements. In: Terrence Lyon, Peter Mandaville (Hg.): Politics from Afar. Transnational Diasporas and Networks, London 2012, S. 25–44, hier S. 2. 12 Othmar Nikola Haberl: Bibliografija ekonomskih migracija iz Jugoslavije u evropske zemlje (Bibliografie der Arbeitsmigration aus Jugoslawien in die europäischen Staaten), Zagreb 1979. 13 Thomas Brieden: Konfliktimport durch Immigration. Auswirkungen ethnischer Konflikte im Herkunftsland auf die Integrations- und Identitätsentwicklung von Immigranten in der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg 1996. 14 Haberl 1979 (wie Anm. 12).

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im Dienste der gesamtjugoslawischen Entwicklung betrachtet.15 Einen weiteren wichtigen Teil der staatlichen jugoslawischen Migrationspolitik stellte zudem die Kontrolle und Einflussnahme auf religiöse Institutionen jugoslawischer Migranten dar, namentlich auf die katholischen Missionen der Kroaten und auf die Institutionen der serbisch-orthodoxen Kirche.16 Der Diaspora-Terminus als Selbst- und Fremdzuschreibung wurde von religiösen und politischen Akteuren in der Migration bewusst verwendet. Er signalisierte nicht nur die geografische Entfernung von der Heimat, sondern markierte vielfach – sei es offen oder sei es verdeckt – auch eine kritische Distanz gegenüber dem real existierenden Herkunftsstaat. Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist die bewusste Analogisierung des Schicksals der eigenen ethnischen Gemeinschaft mit dem Schicksal der paradigmatischen jüdischen Diaspora. Insbesondere in der serbischen Diaspora und ab Ende der 1980er Jahre in Serbien selbst spielten Semantiken wie ›Serbisches Jerusalem‹, ›Heilige Diaspora‹17 oder etwa die Bezugnahme auf Kosovo als ›Serbisches Zion‹ sowohl im kirchlichen als auch im politischen Diskurs eine wichtige Rolle als identitätsstiftende Faktoren im Diaspora-Kontext und als Diskurswaffe zum Zweck politischer Mobilisierung im Herkunftskontext.18 Im kroatischen Fall wurde zu Beginn der 1990er Jahre eine bewusste Parallelisierung zwischen Kroatien und Israel gemacht, wonach Kroatien, ähnlich wie Israel im Nahen Osten, in kultureller und wertbezogener Hinsicht eine Art Oase in der westlichen Umgebung darstelle und – wie einst Israel – mit Hilfe seiner Diaspora aufblühen werde. Die kroatischen Migrantinnen und Migranten, sei es in Westeuropa oder sei es in Übersee, wurden von den neuen politischen Eliten in der Heimat bewusst als Diaspora zugleich aufgewertet und auf die politische Vision der Verwirklichung des lang ersehnten Heimat-Traums verpflichtet.19 Sogar die Kroaten in Bosnien und in der Herzegowina wurden von 15 Milan Mesic: External Migration in the Context of the Post-War Development of Yugoslavia. In: John B. Allcock et al. (Hg.): Yugoslavia in Transition, New York u. a. 1992, S. 171–198. 16 Klaus Buchenau: Titos Alptraum. Die Katholische Kirche und die kroatische Diaspora. In: István Keul (Hg.): Religion, Ethnie, Nation und die Aushandlung von Identität(en). Regionale Religionsgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa, Berlin 2005, S. 13–46. 17 Vjekoslav Perica: Mit o dijaspori. Postsocijalistički diskurs o emigrantima i iseljenicima iz bivše Jugoslavije. In: Radna verzija referata pročitanog na znanstvenom skupu »Izbjeglice, raseljena lica i emigranti na prostoru bivše Jugoslavije u 20. stoljeću« (Mythos Diaspora. Der postsozialistische Diskurs über Migranten und Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien. In: Arbeitsversion des Vortrags bei der wissenschaftlichen Tagung »Flüchtlinge und Migranten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens im 20. Jahrhundert«), Novi Sad, Serbien, 27.–28. November 2008. Online: http://www.centerforhistory.net/images/stories/ pdf/kamenica_vjekoslav_perica.pdf (Letzter Zugriff: 1. Juli 2015). 18 Vjekoslav Perica: Balkan Idols: Religion and Nationalism in Yugoslav States, Oxford u. a. 2002. 19 Francesco Ragazzi: The Croatian ›Diaspora Politics‹ of the 1990s: Nationalism Unbound? In: Ulf Brunnbauer (Hg.): Transnational Societies, Transterritorial Politics. Migrations from

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den politischen Akteuren in Kroatien als Diaspora bezeichnet, die nun besondere Fürsorge des Mutterlandes Kroatien verdienten.20 Im gleichen Sinne definiert das serbische Ministerium für Diaspora und Religion die in den neu entstandenen Nationalstaaten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens lebenden Serben als Diaspora. Gerade Letzteres zeigt, dass Diasporen nicht in jedem Fall durch grenzüberschreitende Bewegungen von Menschen entstehen, sondern sich auch durch, wie Rogers Brubaker es treffend formulierte, »boundaries crossing peoples« formieren können.21 Vom gestiegenen Diaspora-Bewusstsein auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens zeugt auch die Gründung von Büros in den jeweiligen neu entstandenen Nationalstaaten für die eigene Diaspora (1995 das Rijaset, die höchste Religionsbehörde der bosnischen Muslime in Sarajevo; 2008 das Ministerium für Religion und Diaspora in Belgrad). Die hier skizzierte Entwicklung zeigt beispielhaft, dass Diasporen kein von Natur aus gegebenes Phänomen darstellen. Sie konstituieren sich nicht von selbst, durch bloße Überschreitung von nationalen Grenzen. In der Entstehung und Aufrechterhaltung einer Diaspora manifestieren sich vielmehr komplexe politische und soziale Prozesse, an denen nicht nur unterschiedliche Akteure mit jeweils unterschiedlich ausgestatteter Diskurs- und Definitionsmacht beteiligt sind. Solche Prozesse finden auch in unterschiedlichen soziopolitischen Kontexten und unter unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Bedingungen statt. Welche Rolle spielt hier nun die Religion bzw. religiöse Akteure? Bleibt die Religion das einzige Medium zum Erhalt des Bewusstseins der Diaspora innerhalb der Migranten-Communities im Sinne der Verquickung von Religion und ethnischer Identität sowie der Heimatorientierung und Aufrechterhaltung von Grenzen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft?

Religion und (Trans-)Nationalismus in der Diaspora Die neueren kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschungen über die organisationellen Verortungs- und Identitätsbildungsprozesse in der Diaspora unterstreichen die Rolle von Religion als symbolträchtiger Lebensorientierungs- und Sinngebungsressource für die Stabilisierung von Migrantinnen und Migranten nach Innen und nach Außen und zur Artikulation ihrer kultureller Eigenheit

the (Post)Yugoslav Area, Oldenbourg 2009, S. 145–168. Daphne N. Winland: We are now a nation: Croats between »home« and »homeland«, Toronto 2007. 20 Perica 2008 (wie Anm. 17), S. 12. 21 Rogers Brubaker: Nationalism Reframed: Nationhood and the National Question in the New Europe, Cambridge 1996.

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und Identität.22 Zugleich aber weisen diese Studien auch daraufhin, dass die gelebte Religiosität einer Migrantengemeinschaft neben ihrer lokalen immer auch eine transnationale Dimension aufweist. Peggy Levitt und Nina Glick Schiller betonen, dass Erforschung von zugewanderten Gruppen und ihrer Religionspraxis »provides an empirical window into ways of being and belonging that cannot be encompassed by a nation-state.«23 Mit einem generellen Blick auf den universalen, das heißt supraethnischen und supranationalen Charakter der Weltreligionen stellt Robin Cohen hinsichtlich des Beziehungsverhältnisses von Religion und Diaspora generell fest, dass »the myth and idealization of a homeland and a return movement are […] conspicuously absent in the case of world religions [and] that their programmes are extraterritorial rather than territorial.«24 Zugleich unterstreicht er aber das Potenzial von Religion unter den Bedingungen der Diaspora, »[to] provide additional cement to bind a diasporic consciousness […].«25 Um die transnationalen Aspekte des religiös-kulturellen Lebens von muslimischen Albanern und Bosniaken in der Schweiz besser zu verstehen, soll hier zunächst kurz skizziert werden, wie und entlang welcher Kriterien sie als Migranten und zugleich als religiöse Minderheiten im Schweizer Kontext organisiert sind. Anders als etwa bei den in der Schweiz lebenden Kroaten oder Serben setzte die Entstehung der spezifischen religiös-kulturellen Organisationsstrukturen der muslimischen Albaner und Bosniaken erst zu Beginn der 1990er Jahre ein. Dafür gab es im Wesentlichen zwei Gründe: Erstens kamen die Albaner und Bosniaken in größeren Kontingenten erst ab Ende der 1970er Jahre als Arbeitsmigranten in die Schweiz.26 Zweitens ist das lange Fehlen von spezifischen ethno-re22 Baumann 2000 (wie Anm. 4). Martin Baumann, Samuel M. Behloul (Hg.): Religiöser Pluralismus. Empirische Studien und analytische Perspektiven, Bielefeld 2005. Martin Söckefeld: Aleviten in Deutschland. Identitätsprozesse in der Diaspora, Bielefeld 2008. Andrea Lauser, Cordula Weissköppel (Hg.): Migration und religiöse Dynamik. Ethnologische Religionsforschung im transnationalen Kontext, Bielefeld 2008. 23 Peggy Levitt, Nina Glick Schiller (Hg.): Conceptualizing Simultaneity: A Transnational Social Field Perspective on Society. In: International Migration Review 38 (2004), Nr. 3, S. 1002–1039, hier S. 1027. 24 Robin Cohen: Global Diasporas: An Introduction, Washington D.C. 1997, S. 189. 25 Ebd., S. 189. 26 Die Gründung der meisten kroatischen und serbischen Gemeinden mit der spezifisch ethno-religiösen Ausrichtung im deutschsprachigen Raum und im übrigen Westeuropa vollzieht sich ab den 1960er Jahren und ist eng mit der ab diesem Zeitraum einsetzenden Arbeitsmigration verbunden. Die Gründung von ethno-religiösen Strukturen in der kroatischen und serbischen Diaspora in Westeuropa wurde vom sozialistischen Jugoslawien damals nicht nur geduldet, sondern aus politisch-ideologischen Gründen zum Teil auch inoffiziell unterstützt. Dies hatte einerseits mit der politischen Öffnung Jugoslawiens gegenüber dem Westen ab den 1960er Jahren zu tun. In diese Zeit fällt auch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit dem Vatikan (Frano Prcela: Kroatische katholische Missionen in Westeuropa, In: G2W, 5

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ligiösen Organisationsstrukturen unter albanischen und bosniakischen Arbeitsmigranten in der Schweiz auf ihr Verhältnis zur eigenen religiösen Tradition im Kontext des ehemaligen Jugoslawiens zurückzuführen. Bosnische Muslime beispielsweise waren bis zum Auseinanderbrechen des Vielvölkerstaates Jugoslawien Anfang der 1990er Jahre nicht nur keine strenggläubigen, sondern zum Teil gar keine praktizierenden Muslime. Die Tatsache, Nichtmuslime zu unmittelbaren Nachbarn zu haben, führte nämlich mit der Zeit zu vielen Anpassungen der Bosnischen Muslime – nicht nur im Hinblick auf Ess- und Trinkgewohnheiten, zum Beispiel Alkoholkonsum, sondern auch bezüglich der Partnerwahl, die sich etwa in zahlreichen Mischehen mit christlichen Partnern, respektive Partnerinnen ausdrückt.27 Wie andere Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien, die keine Nähe zu den eigenen ethno-religiösen Vereinen wie Missions-Kirchen suchten, trafen sich auch Bosniaken in der Regel in den ›Jugoslawischen Klubs‹. Falls religiöse Bedürfnisse wie etwa die Teilnahme am Freitagsgebet vorhanden waren, besuchte man türkische Moschee-Vereine, die zu dieser Zeit im Westen bereits zahlreich vorhanden waren. Parallel zu der Gründung erster religiöser Vereine, der so genannten Dzemats im Westen ab den späten 1980er Jahren, lässt sich im damaligen Jugoslawien unter Bosniaken ein Prozess der Emanzipation von den ideologischen Vorgaben des ›Jugoslawentums‹ und eine Neubesinnung auf die eigene Religion, Kultur und Ethnizität als untrennbare Einheiten der eigenen Identität beobachten. Die enge Kopplung des Islam an die eigene Ethnizität wurde vor allem von den politischen Eliten in Bosnien vorangetrieben.28 Zum wichtigsten und zuverlässigsten Refugium wurde die Religion des Islam für Bosniaken jedoch erst ab 1992 mit dem Ausbruch des Kriegs in Bosnien. Diese Entwicklung war auch in der westlichen Diaspora zu beobachten. So wurde der erste bosniakische Moschee-Verein in der Schweiz 1989 gegründet. In der Kriegszeit ab 1992 entstanden dann die meisten Moschee-Vereine bosnischer Muslime in Westeuropa. Während des Kriegs in der Heimat erfüllten diese Vereine im Wesentlichen zwei Aufgaben: Sie wurden zum einen zu den einzigen Orten in der Diaspora, die für eine schnelle und effiziente Organisation der humanitären Hilfe für die Heimat sorgten. Zum anderen wurden die Moschee-Vereine zu

(2011), S. 16–18, hier S. 17. Andererseits sollten die Arbeitsmigranten, so das politische Ziel des Staates, dem Einfluss politischer Emigration und ihrer Organisationen, die gegenüber dem jugoslawischen Staat feindlich gesinnt und zum Teil auch aktiv waren, entzogen werden: Buchenau 2005 (wie Anm. 16). Der jugoslawische Staat betrieb also nicht nur eine Diaspora-Politik des ›Jugoslawentums‹, sondern versuchte auch gezielt die ethno-religiöse Gesinnung der eigenen Arbeitsmigration zu kontrollieren und teilweise auch zu beeinflussen. 27 Smail Balic: Das unbekannte Bosnien. Europas Brücke zur islamischen Welt, Köln u. a. 1992. 28 Perica 2002 (wie Anm. 18), S. 80 f.

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den Orten, an denen verängstigte und traumatisierte Kriegsflüchtlinge, welche ab 1992 in größerer Zahl in den Westen strömten, eine erste Aufnahme fanden.29 Albaner im ehemaligen Jugoslawien zeichneten sich durch ein stark entwickeltes Nationalbewusstsein aus, das zu Beginn der 1980er Jahre zunächst in der Forderung nach einer eigenständigen Republik Kosovo und nach dem Auseinanderbrechen des Vielvölkerstaates 1991 in der Forderung nach einem unabhängigen Staat mündete. Im Vergleich zu den anderen ethnischen Gemeinschaften im ehemaligen Jugoslawien spielte die Religionszugehörigkeit unter muslimisch geprägten Albanern keine exklusive identitätsstiftende Rolle. Diese untergeordnete Rolle der Religion in den nationalen Diskursen der Albaner war in erster Linie der Tatsache geschuldet, dass es unter Albanern, neben Muslimen, auch Angehörige des katholischen und orthodoxen Christentums gibt. Obwohl die Mehrheit der kosovarischen und mazedonischen Albaner sunnitische Muslime sind und die Zugehörigkeit zum Islam insbesondere unter Albanern in Mazedonien ein wichtiges Unterscheidungskriterium gegenüber der slawisch-orthodoxen Bevölkerung war und ist, standen religiöse Zugehörigkeitskriterien nie im Zentrum albanischer politischer Aktionen und intellektueller Identitätsdiskurse.30 Ab Ende der 1980er Jahre ist nun auch unter den albanischen Migranten aus Ex-Jugoslawien, insbesondere in der Schweiz, wo im westeuropäischen Vergleich die zahlenmäßig größte albanisch sprechende Migranten-Community lebt, eine ähnliche, wenn nicht sogar identische Entwicklung wie bei den Bosniaken zu beobachten. So wurde der erste albanische Moschee-Verein in der Schweiz 1987 gegründet. Im Laufe der 1990er Jahre wurden Gründungsaktivitäten verstärkt und nach dem Ausbruch des Kosovo-Krieges 1999 wegen des großen Flüchtlingsaufkommens besonders intensiviert. Die ab Ende der 1980er Jahre gegründeten ethno-religiösen Vereine der Albaner und Bosniaken in der Schweiz zeichnen sich zum einen durch eine starke Verbindung mit dem Herkunftsland und zum anderen durch eine Vielfalt religiös-kultureller Dienstleistungsangebote aus. Auf den ersten Blick scheint der Schwerpunkt dieser Vereine auf der Islamizität als Selbstdarstellungskriterium zu liegen. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich jedoch, dass das Hauptkriterium nicht die Religion, sondern die Zugehörigkeit zur gleichen Ethnizität und die gemeinsame Sprache 29 Samuel M. Behloul: Religionspluralismus: europäischer »Normal-« oder »Notfall«? Muslimische Migranten in der Schweiz und die Einbettung in den öffentlichen Raum. In: Baumann, Behloul (wie Anm. 22), S. 145–170. Samuel M. Behloul: From ›problematic‹ Foreigners to ›unproblematic‹ Muslims. Bosniaks in the Swiss Islam-Discourse. In: The Refugee Survey Quarterly 26 (2007), Nr. 2, S. 22–36. 30 Robert Pichler: Makedonische Albaner im Spannungsfeld von Nationsbildung und islamischer Erneuerung. Alltagsperspektiven aus einem transstaatlichen sozialen Milieu. In: Christian Voss, Jordanka Telbizova-Sack (Hg.): Islam und Muslime in Südosteuropa, München 2010, S. 195–222.

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bilden. Dies kommt schon durch die jeweilige Selbstbezeichnung wie Bosniakisches oder Albanisches Kulturzentrum zum Ausdruck. Unabhängig von der Selbstbezeichnung findet man nun in fast allen Moschee-Vereinen der Albaner und Bosniaken in der Schweiz ein breites Spektrum an sozialen und kulturellen Angeboten für praktisch alle Altersstufen: von den landestypischen kulinarischen Angeboten und Religionsunterricht für Kinder und Erwachsene über Computerkurse und Sportveranstaltungen bis hin zu Folkloregruppen und Arbeitsvermittlung.31

Von Gastarbeitern zu Muslimen: Religion als normative Deutungskategorie In zahlreichen Studien zur Migration wird betont, dass die Art und Weise, wie die Residenzgesellschaft einzelne Diaspora-Gemeinschaften wahrnimmt und thematisiert, dafür ausschlaggebend sein kann, ob sich die betreffenden Gemeinschaften gegenüber der breiten Gesellschaft öffnen oder reaktiv ihre ethno- und religionsspezifischen Grenzen verstärken und ihre Aktivitäten nach Innen richten.32 In der Zeit nach dem 11. September 2001 hat die Frage nach der Religionszugehörigkeit von Zuwanderern im Kontext westeuropäischer Migrations- und Integrationsdebatten eine neuartige Relevanz erlangt und dies insbesondere – oder fast ausschließlich – mit Blick auf die Zuwanderer aus muslimisch geprägten Gesellschaften. Denn anders als etwa die nichtchristlichen oder nichteuropäischen Migranten in der Schweiz – wie beispielsweise tamilische Hindus, vietnamesische Buddhisten oder indische Sikhs – werden Migranten und Migrantinnen mit einem muslimischen Hintergrund fast ausschließlich auf ein als fremd und auf ein als ›nicht europäisch‹ wahrgenommenes Religions- und Migrationsphänomen reduziert, nämlich den Islam. Aus ursprünglich kulturell und sprachlich unterschiedlichen Gastarbeiteroder generell Zuwanderergruppen (Türken, Jugoslawen, Arabern) ist nun aus Sicht der Residenzgesellschaft ein muslimisches Kollektiv geworden. Und anders als christliche oder auch andere nichtchristliche Zuwanderer werden Muslime dauerhaft konfrontiert mit der Forderung, sich klar zum ›westlichen‹ Wertesystem und zur hiesigen Rechtsordnung zu bekennen und sich deutlich von jeder Form religiöser, das heißt islamisch legitimierter Gewaltanwendung zu distanzieren.33

31 Behloul 2005 (wie Anm. 22), S. 157. 32 Alex Stepick: Religion, Immigration, and Civic Engagement. In: Alex Stepick et al. (Hg.): Churches and Charity in the Immigrant City. Religion, Immigration and Civic Engagement in Miami, New Brunswick, London 2009, S. 1–38. 33 Samuel M. Behloul: Negotiating the ›real‹ Religion. Islam and Muslims in the Context of Western Understanding of Religion. In: Yearbook of Muslims in Europe 1 (2012), S. 7–26: http:// booksandjournals.brillonline.com/content/10.1163/221179512x644033 (Letzter Zugriff: 1.

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Neben den zwei für die identitätsbildende Gewichtung zwischen religiösen und ethno-nationalen Kriterien relevanten Aspekten, der Situation im Herkunftsland einerseits und der öffentlichen Wahrnehmung durch die Mehrheitsgesellschaft andererseits, kommt bei diesen Prozessen im Hinblick auf die Rolle der Religion ein dritter Aspekt hinzu: Geht man von der Annahme aus, dass es zumindest strukturell eine Dialektik von Religion und Ethnizität geben muss, da beispielsweise der Universalismus des Christentums und des Islam an sich keine Sprache, kein Blut und keine Territorialität als Referenzpunkt kennt, so stellt sich die Frage, wie sich muslimische Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien in der Schweiz gegenüber muslimischen Zuwanderern aus anderen Teilen der islamischen Welt positionieren. Im Kontext der Migration ist diese Annahme insofern relevant, als muslimische Albaner und Bosniaken im Migrationskontext der Schweiz nicht nur anderen nichtmuslimischen Religionstraditionen, sondern auch – kulturell, historisch und nicht zuletzt politisch bedingt – anders ausgeprägten Formen der Praxis und der Auslegung des Islam begegnen. Hinzukommt das Spezifikum des ehemaligen Jugoslawiens hinsichtlich der – mit Ausnahme der Albaner – historisch bedingten engen Kopplung der ethnischen an die religiöse bzw. konfessionelle Identität. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass neben der spezifischen Islam-Wahrnehmung eine weitere Herausforderung für muslimisch geprägte Migranten und Migrantinnen aus Ex-Jugoslawien in der Schweiz auch in der Begegnung mit dem muslimischen Anderen besteht.

Von Balkan-Hypothek zum Balkan-Bonus? Religion als (supra-)nationale Sache Wie positionieren sich nun die muslimischen Albaner und Bosniaken in der Schweiz gegenüber der öffentlichen Problematisierung des Islam und welche Auswirkungen hat dies auf ihre Identitäten im Hinblick auf die Gewichtung zwischen ethno-kulturellem und religiösem Erbe? Insbesondere bei der Dichotomisierung zwischen ›europäisch‹ und ›nicht europäisch‹ stellt die Schweiz ein besonders interessantes Feld dar – und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen stammen muslimisch geprägte Zuwanderer in der Schweiz – anders als etwa in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien – in ihrer Mehrheit (zu rund 58%) aus europäischer Binnenmigration (aus dem Kosovo, aus Bosnien und Herzegowina sowie aus Makedonien). Sie sind also selbst Europäer. Zum anderen hat sich in der Schweiz seit Beginn der 1990er Jahre in der Wahrnehmung ausländischer Personen ein Wandel vollzogen, der wesentlich mit der herkunftsmäßigen Verschiebung des Juli 2015). Samuel M. Behloul et al.: Debating Islam. Negotiating Religion, Europe and the Self, Bielefeld 2013.

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Migrantenanteils in der Schweiz zwischen 1969 und 1995 zusammenhängt. Während 1969 die meisten Migrantinnen und Migranten aus ›westlichen‹ Staaten in die Schweiz kamen (aus Italien 45,5 %, aus Deutschland 15,8% und aus Spanien 10,5 %), bestand 1995 die zahlenmäßig stärkste Migrantengruppe aus Zuwanderern aus dem ehemaligen Jugoslawien (21 %). Wurden 1969 noch die Italiener mit einem negativ konnotierten Ausländerbegriff konfrontiert und entsprechend als unbeliebteste Migrantengruppe wahrgenommen, waren es ab Ende der 1980er Jahre nun Migranten aus dem ehemaligen Jugoslawien, welche zusammen mit den Zuwanderern aus dem außereuropäischen Raum fast paradigmatisch für Fremde standen und mit Abstand die unbeliebteste Migrantengruppe, als so genannte ›Jugos‹, darstellten.34 Das bereits in den 1990er Jahren einsetzende Unterscheidungskriterium zwischen ›europäisch‹ und ›außereuropäisch‹ hat nun im Kontext des aktuellen Islam-Diskurses und seiner Wahrnehmung als eine ›fremde‹ und ›außereuropäische‹ Religion an zusätzlicher Schärfe gewonnen. Diese Perzeptionsverschiebung entlang religiöser Kriterien lässt muslimische Migranten aus Ex-Jugoslawien in einem neuen Licht erscheinen. Ihre Herkunftshypothek als ›Jugos‹ vom ›Balkan‹ hat sich ausgerechnet vor dem Hintergrund der religiösen Kategorisierung von Migranten und der negativen Wahrnehmung des Islam nicht zusätzlich verschärft. Aufgrund ihrer europäischen Herkunft werden sie vielmehr als ›Balkan-Muslime‹, das heißt als ›europäische‹ und von daher als ›unproblematische‹ Muslime wahrgenommen. Die herkunftsbedingte Balkan-Hypothek wird so offenbar zu einem religionsbedingten Balkan-Bonus. Dass dies zu neuen innermuslimischen Grenzmarkierungen im Diaspora-Kontext führen kann, zeigt sich gerade am Beispiel der Bosniaken. Das wesentliche Merkmal ihrer Gewichtung zwischen ethnischen und religiösen Kriterien besteht in der Betonung der eigenen europäischen Herkunft und der spezifisch bosnischen Prägung ihres Islam. Dabei lassen sich bei Bosniaken zum Teil widersprüchliche Formen der Identifizierung mit der Religion des Islam bzw. mit der eigenen ethnischen Herkunft beobachten. Auf ethno-religiöser Ebene verfolgen Bosniaken nämlich zum einen die Strategie einer europäisch- bzw. bosnisch-islamisch begründeten normativen Nähe zum schweizerischen Wertesystem und zum anderen die Strategie einer ebenso ›europäisch-islamisch‹ definierten normativen Abgrenzung gegenüber anderen muslimischen Migranten aus dem außereuropäischen Kontext. Angesprochen auf Zwangsehen, Ehrenmorde, religiös legitimierte Gewalt und Ähnliches reagieren Vertreter bosniakischer Mosche-Vereine nicht selten mit der Bemerkung, dies habe mit dem bosnischen Islam nichts zu tun und sei ein mentalitäts- und kulturbedingtes Problem anderer, außereuropäischer Muslime. 34 Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny (Hg.): Das Fremde in der Schweiz. Ergebnisse soziologischer Forschung, Zürich 2001, S. 33–75.

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Ebenso wird fast schon mit Stolz darauf verwiesen, dass Bosnien und Herzegowina im Zeitraum zwischen 1878 und 1918 einen Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie bildete, obwohl historisch und soziopolitisch gesehen sowohl die österreichische Okkupation (1878) als auch die Annexion (1908) Bosniens bei der muslimischen Bevölkerung damals einen Schock auslöste und zu großen Auswanderungswellen in die heutige Türkei führte. Während die Bosniaken aufgrund ihrer Situation im Herkunftsland und der spezifischen Wahrnehmung und Thematisierung des Islam im Residenzland gezielt die Strategie einer ›Ethnisierung‹ des Islam, des bosnischen Islam also verfolgen, lässt sich bei den Vertretern albanischer Moschee-Vereine dagegen eine Strategie von ›De-Ethnisierung‹ oder auch von ›Ent-Kulturalisierung‹ des Islam beobachten. Dabei wird kaum die albanische, das heißt die europäische Prägung oder Herkunft des eigenen Islam betont. Im Vordergrund steht – nicht zuletzt auch wegen des negativen Images der Albaner in der Schweiz – mehr das aufklärerische Potenzial eines ›wahren‹ oder ›authentischen‹ Islam gegenüber eigenen Sitten und Traditionen wie der Blutrache oder dem patriarchalen Denken. In Anbetracht der im Bereich religionssoziologischer Migrationsforschung generell beobachteten Tatsache eines, wie Steven Vertovec es formuliert, »conscious disaggregation of ›religion‹ from ›culture‹«,35 ist der hier diskutierte Vergleich zwischen Albanern und Bosniaken äußerst aufschlussreich: Während sich nämlich insbesondere in der zweiten Einwanderergeneration der Muslime die Tendenz einer bewussten Abwendung von einer tradierten kulturspezifischen Religionspraxis und eine Hinwendung zum ›wahren‹ Islam beobachten lässt,36 zeigt das Beispiel der Bosniaken, dass eine bestimmte muslimische Migrantengemeinschaft unter den Bedingungen eines spezifischen Islam-Diskurses gerade aufgrund ihrer Herkunft im öffentlichen Diskurs stärker den eignen kulturellen Hintergrund gewichtet als etwa die normativen Vorgaben des Korans oder der Sunna. Damit werden die Grenzen gegenüber anderen Muslimen markiert. Die religiös aktiven Albaner in der Schweiz heben sich mit ihren Semantisierungen eines ›wahren‹ und ›authentischen‹, das heißt eines von ethno-kulturellen Elementen ›befreiten‹ Islam wiederum von den säkular und national orientierten und organisierten Albanern ab – sei es im Herkunftsland, im Kosovo oder in Makedonien, oder sei es im Residenzland, in der Schweiz. Der Vergleich zwischen zwei ethnisch verschiedenen und religiös gleichen Gemeinschaften, die ursprünglich – zumindest politisch – dasselbe Herkunftsland verband, zeigt, dass die Migration einerseits und die soziopolitische Entwicklung im Herkunftsland andererseits mit Blick auf die Gewichtung von religiöser und 35 Steven Vertovec: Transnationalism, London u. a. 2009, S. 150. 36 Jacques Waardenburg: The institutionalization of Islam in the Netherlands. In: Thomas Gerholm et al. (Hg.): The New Islamic Presence in Europe, London, S. 8–31.

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ethnischer Zugehörigkeitskriterien bei zwei religiös gleichen Migrantengemeinschaften sowohl ethno-religiös partikularistische (Bosniaken) als auch religiös universale (Albaner) Entwicklungstendenzen auslösen kann. Die aufgezeigten Unterschiede sind aber nicht zuletzt auch den jeweils unterschiedlichen religionshistorischen Entwicklungen der zwei Gemeinschaften ab dem 19. Jahrhundert geschuldet. Im südosteuropäischen Raum beginnen in diesem Zeitraum religiös bzw. konfessionell basierte Grenzmarkierungen eine Schlüsselrolle bei der Bildung des nationalen Bewusstseins der dort lebenden Völker zu spielen. Die religiöse Landschaft dieses Raumes war bis dahin eher durch das Phänomen des Synkretismus geprägt. Gemeint sind damit eher unscharfe Übergänge zwischen den Glaubensbekenntnissen, die sich zwar orthodox, muslimisch und katholisch nennen, in der Religionspraxis und der Vorstellungswelt sich jedoch näherstehen, als die standardisierten Lehrkonzepte der einzelnen Konfessionen es vermuten lassen. Historische Ursachen dafür waren ein gemeinsames religiöses Substrat aus der Zeit vor der Ausbreitung der Buchreligionen, das intensive Zusammenleben oder die vor allem in osmanischer Zeit vollzogenen pragmatischen Konversionen, die sich nur begrenzt auf die gewohnte religiöse Praxis auswirkten, sowie ein relativ geringer Einfluss religiöser Experten und kirchlicher Autoritäten in der peripheren Lage Südosteuropas.37 Die für das 19. Jahrhundert spezifischen Modernisierungsprozesse erfassten nun auch den religiösen Bereich in Südosteuropa. Die Träger einer neuen Reflexion über Religion und religiöse Zugehörigkeit waren vor allem einheimische religiöse Eliten, die sich ihr religiöses Expertentum in den großen theologischen Zentren der Orthodoxie, des Katholizismus und des Islams meist außerhalb des Balkans erworben hatten. Sie bekämpften synkretistische Erscheinungen als ›unrein‹ und trugen zu immer schärferen konfessionellen Trennlinien bei. Obwohl die neuen religiösen Experten sich als Gegner des vordringenden säkularen Nationalismus sahen, ergab sich langfristig eine fruchtbare Zusammenarbeit. Der Nationalismus, angetreten als aufklärerisches Projekt, lernte immer mehr, sich auf den konfessionellen Unterschied zu berufen – also auf jene Reinheitsvorstellungen, welche die neuen religiösen Experten produzierten. Vereinnahmt durch den Nationalismus, nahm die religiöse Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine erneute Wende, jetzt kombinierte man pan-orthodoxe und pan-katholische Vorstellungen mit nationalem Partikularismus. Diese Entwicklung erfasste zwar zunächst nur die christlichen Gemeinschaften auf dem Balkan. Später aber, das heißt seit den 1930er Jahren, vollzogen auch Teile der bosnischen muslimischen

37 Gabriella Schubert: Verbindendes und Trennendes in den Alltagskulturen von Christen und Muslimen in Südosteuropa. In: Thede Kahl et al. (Hg.): Christen und Muslime. Interethnische Koexistenz in südosteuropäischer Perspektive, Münster 2009, S. 173–189.

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Intellektuellen diese Entwicklung nach.38 Eine diesbezügliche Ausnahme bilden die Albaner, bei denen aufgrund religiöser Heterogenität ein bestimmtes religiöses Zugehörigkeitskriterium nie im Zentrum politischer Aktionen und intellektueller Diskurse über ethnische Identität stand. Die unterschiedliche Gewichtung zwischen ethnischen und religiösen Kriterien setzt sich auch unter den Bedingungen der Migration fort. Eine vergleichende Analyse zwischen christlichen und muslimischen Migranten aus Ex-Jugoslawien in der Schweiz fehlt zwar bislang. Was sich aber generell beobachten lässt – vorbehaltlich einer genaueren Analyse gemeinschaftsinterner Diskurse und Generationenunterschiede –, ist die Tatsache, dass bei katholischen Kroaten, orthodoxen Serben und bosnischen Muslimen in der Schweiz im Gegensatz zu muslimischen Albanern die ethno-konfessionellen Partikularismen stärker ausgeprägt sind als etwas pan-katholische, pan-orthodoxe oder pan-islamische Identitätsmuster. Der hier vorgenommene Vergleich zwischen Albanern und Bosniaken zeigt nicht zuletzt, dass nicht nur – wie anfangs mit Verweis auf Barth erwähnt – die Gemeinsamkeit von Geschichte, Kultur und Sprache kein automatisches und ausschließliches Identitäts- oder Zusammengehörigkeitskriterium einer Gemeinschaft bilden muss, sondern auch die Gemeinsamkeit der Religion.

38 Srećko M. Džaja: Bosnien-Herzegowina in der österreichisch-ungarischen Epoche (1878–1918), München 1994. Ders.: Die politische Realität des Jugoslawismus. Unter besonderer Berücksichtigung Bosnien-Herzegowinas, München 2002. Zum Katholizismus siehe Sandra Prlenda: Young, Religious, and Radical. The Croat Catholic Youth Organizations, 1922–1945. In: John Lampe, Mark Mazower (Hg.): Ideologies and National Identities. The Case of Twentieth-Century Southeastern Europe, Budapest u. a. 2004, S. 82–109. Zur Orthodoxie siehe Klaus Buchenau: Auf russischen Spuren. Orthodoxe Antiwestler in Serbien, 1850–1945, Wiesbaden 2011. Zum Islam siehe Xavier Bougarel: Farewell to the Ottoman Legacy? Islamic Reformism and Revivalism in Inter-war Bosnia-Herzegovina. In: Nathalie Clayer, Eric Germain (Hg.): Islam in Inter-War Europe, London 2008, S. 313–343. Armina Omerika: Islam in Bosnien-Herzegowina und das Netzwerk der Jungmuslime, 1941–1983 (Diss., unveröffentlicht).

Andreas Ernst

Ein halbherziger Hegemon Überlegungen zum europäischen Konfliktmanagement auf dem Balkan

Das europäische Großprojekt der Nachkriegszeit – die EU – leidet seit Jahren an Legitimitätsproblemen bei seinen Bürgern. Die Ursachen sind vielfältig: Ihr demokratisches Defizit, die fehlende europäische Öffentlichkeit und akut natürlich die Folgen der zäh anhaltenden Wirtschaftskrise seit 2008. Die einen EU-Länder stöhnen unter aufgezwungenen, wachstumshemmenden Austeritätsprogrammen, die andern empört das Gefühl als Nettozahler, von eben diesen Ländern ausgebeutet zu werden. Und beide geben der EU dafür die Schuld. Eine Re-Nationalisierung der Politik in vielen Bereichen ist die Folge. So herrscht in ganz Europa EU-Verdruss. In ganz Europa? Nein, im Südosten, auf dem sogenannten Westbalkan, hält sich mit überraschender Zähigkeit die Vorstellung, dass die Integration in die EU der wahre Weg zu mehr Wohlstand und Sicherheit sei. Es gibt zurzeit nur marginale politische Gruppierungen, die das bestreiten. Das ist erklärungsbedürftig. Denn die Signale, die aus der EU kommen, sind durchaus nicht eindeutig und die EU selber befindet sich in einer Phase der krisenhaften Neuorientierung, die offen lässt, welche Gestalt sie in zehn Jahren haben wird. Weshalb erscheint der EU -Beitritt aus südöstlicher Perspektive weiterhin alternativlos? Ich vermute: Weil es schlicht an einer anderen Idee fehlt. Die Türkei oder Russland verstärken zwar ihren Einfluss als politische und wirtschaftliche Partner, aber ihre „soft power« ist jener der EU vorläufig klar unterlegen. Auch gibt es zwar Integrationsprozesse zwischen den jugoslawischen Nachfolgestaaten und – parallel dazu – auch in den albanisch besiedelten Territorien. Man fasst sie gelegentlich unter den Stichworten »Jugosphäre« bzw. »Albanosphäre« zusammen und meint damit den sich intensivierenden wirtschaftlichen und kulturellen Austausch zwischen den jeweiligen Gesellschaften. Doch diesen Kommunikationsverdichtungen fehlt bisher die zündende Idee, die aus ihnen ein politisches Projekt machen würde. Als Alternative zum EU-Beitritt treten sie kaum in Erscheinung. Liegt der Grund für dieses Festhalten an einer Perspektive in der EU daran, dass der heutige Zustand dieser Region zu einem großen Teil die Folge der Einmischung des Westens seit den 1990er Jahren ist? Martina Baleva und Boris Previšić

Europäisches Konfliktmanagement auf dem Balkan 209

weisen in der Einleitung zu diesem Band darauf hin, dass das imperiale Erbe der Osmanen, aber auch anderer »Ordnungsmächte« auf dem Balkan im sozialen und politischen Leben weithin Spuren hinterlassen hat. Ich glaube, man kann noch weiter gehen. Die imperiale Epoche auf dem Balkan ist nicht abgeschlossen. Allerdings ist die EU ein sehr eigenartiger Imperialist, den wir uns in der Folge genauer anschauen wollen. Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt auf dem Krisenmanagement der Mächte – und vor allem der EU – seit Ende der 1990er Jahre, jener dunkeln Dekade des Westbalkans. Zuerst soll skizziert werden, weshalb die EU die mit Abstand wichtigste Außen-Akteurin auf dem Westbalkan ist und wie sich die Verlangsamung des Integrationsprozesses auf die betroffenen Länder auswirkt. Dann werde ich anhand von drei Fallbeispielen – Serbien, Kosovo und Makedonien – verschiedene »Interventionsmodelle« der EU vorstellen und daraus schließlich einige Schlussfolgerungen ziehen. Beabsichtigt ist also nicht Vollständigkeit, sondern Exemplarität.

Die EU – ein halb blockierter Hoffnungsträger Am Wunsch dieser Gesellschaften, so schnell als möglich EU-Mitglied zu werden, besteht – vorerst – kein Zweifel. Aber jüngere Umfragen zeigen: Auf die gebremste Dynamik der EU -Integration reagieren die Bürger der Westbalkanländer mit wachsender Skepsis gegenüber dem europäischen Projekt. Allerdings scheint die Skepsis weniger der Wünschbarkeit des Beitritts geschuldet als dem Zweifel an dessen Machbarkeit. Die EU und die pro-europäischen Eliten des Westbalkans bekommen damit ein wachsendes Glaubwürdigkeitsproblem. Es verdichtet sich der Eindruck, dass trotz allem »Euro-Speech« den nationalen Eliten und den Brüsseler Kommissaren der Wille und die Fähigkeit vielleicht doch nicht reichten, um die Länder auf dem Weg nach Europa voranzubringen. Die erweiterungsskeptischen Stellungnahmen führender europäischer Politiker verstärken den Eindruck einer abgebremsten, wenn nicht blockierten Integration. Auch wenn es zum Standardrepertoire von Politikern aus den Mitgliedsstaaten bei Balkanbesuchen gehört, »die unverrückbare Beitrittsperspektive« zu beschwören, setzen sie ihre Akzente vor dem Heimpublikum eben anders. Kurz: Die europäischen Aussichten für den Westbalkan sind düster. Dafür gibt es wenigstens vier Gründe: Die EU befindet sich in einer Umbruchphase. Es ist ungewiss, ob sich die Vertreter einer stärkeren Vertiefung der Union durchsetzen werden oder ob der Trend in Richtung einer Re-Nationalisierung von Kompetenzen gehen wird. Klar scheint nur, dass die jetzige Ordnung niemanden befriedigt. Die Wirtschaftskrise in vielen EU-Staaten hat zu Budgetrestriktionen, Arbeitslosigkeit und Fremdenfeindlichkeit geführt. Es besteht kaum Bereitschaft, neue

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Nettoempfänger in die EU aufzunehmen – daran ändert auch die vom EU-Erweiterungskommissar immer wieder erwähnte Tatsache nichts, dass die große ostmitteleuropäische Erweiterungsrunde von 2004 allen Beteiligten, also auch den älteren EU-Mitgliedern, materielle Gewinne brachte. Bilaterale Problemen zwischen EU-Mitgliedsstaaten und Anwärtern aus dem Westbalkan blockieren den Prozess zusätzlich: Nachdem der Streit zwischen Slowenien mit Kroatien um den Grenzverlauf in der Adria beigelegt wurde, blockiert Griechenland weiterhin die Integration Makedoniens in die Nato und die EU, weil es den Namen des Landes als Anspruch auf griechisches Territorium auffasst. Ein wesentlicher Grund für die unsicheren Perspektiven der EU-Integration des Westbalkans ist das hundertjährige Imageproblem dieser Region. War der Balkan bis ins 20. Jahrhundert als »innerer Orient« Europas, mit seiner Rückständigkeit und Fremdheit einer Romantisierung zugänglich, änderte sich dies mit den Balkankriegen ab 1912 und dem ex-post zum »Auftakt« des Ersten Weltkriegs erklärten Attentat von Sarajevo von 1914. Zwar verdrängte Titos Jugoslawien als Kleinimperium zwischen den Blöcken den Negativdiskurs dank strategischer Geltung. Doch seit seinem Zerfall gilt das, was man nun den Westbalkan nennt, als Banlieue Europas: Rückständig, fremd und gewaltbereit, aber ohne exotischen Charme. Weil es seit den Kämpfen in Makedonien von 2001 keine größeren bewaffneten Auseinandersetzungen mehr gab, hat die Region aus westlicher Perspektive viel von ihrer Bedrohlichkeit verloren. Paradoxerweise ist es heute die relative Friedlichkeit des Balkans, welche den Integrationswillen der EU zusätzlich erlahmen lässt. Doch weshalb ist die EU-Integration dieser Region so wichtig für deren Stabilität? Weil sie, so die Optimisten, ein politisches Modernisierungsprojekt und Wachstumsmodell darstellt, welche die Staaten und Gesellschaften neu orientieren. Die Relevanz ethno-nationalistischer Projekte (Groß-Albanien, Groß-Serbien, Groß-Kroatien) wird dadurch relativiert. Über den Integrationsprozess mit seinen verschiedenen Stufen findet ein allmählicher Umbau der Verwaltung statt. Mit der Übernahme von EU-Gesetzgebung werden auch neue politische Argumente und Sichtweisen eingeübt. Der europäische Think Tank ESI spricht emphatisch von einem »EU-Memberstate-Building«. Dieser Prozess verändert die politischen Anreizstrukturen in den Ländern. Jene Politiker, die sich über Erfolge im Integrationsprozess und gute Kontakte zur EU auszeichnen, erhöhen ihre Wahlchancen auf Kosten von Politikern, die ein rein nationalstaatliches Programm verfolgen. Das wichtigste Argument für die Integration der Region ist aber dieses: In der ethnischen Gemengelage des Westbalkans, wo Staatsgrenzen und ethnische Siedlungsgebiete auseinanderfallen, ist ein politischer Kommunikationsraum über die einzelnen Länder hinaus notwendig, ein Kommunikationsraum, der moderierend zwischen den schwachen Staaten und den starken Volksgruppen wirkt. Diese

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gemeinsam getragene »Superstruktur« kann Spannungen innerhalb der Staaten, aber auch Streit zwischen den Staaten entschärfen. Nicht zuletzt deshalb, weil im Rahmen der EU die Staatsgrenzen fest, aber auch durchlässig sind. Umgekehrt führt der Beitrittsprozess zu zahlreichen Einflussmöglichkeiten der EU, die über ihre Gesandten oft in die Innenpolitik der Länder eingreifen. Es ist eine eigenartige Form einer quasi-imperialistischen Durchdringung der Kandidatenstaaten. Die Botschafter der EU und jene wichtiger Mitgliedsstaaten gehören heute fest zum innenpolitischen Personal der Beitrittskandidaten – auch dies eine alte Tradition in der Region. Es ist klar, dass das historische Experiment der nachhaltigen europäischen Einbindung und Entwicklung des Westbalkans nur gelingt, wenn die Integrationsdynamik aufrechterhalten bleibt. Die disziplinierende und orientierende Kraft des EU -Beitrittsversprechens hat allerdings eine Halbwertszeit. Jenseits davon verliert sich ihre Wirkung in den Öffentlichkeiten und bei den politischen Eliten. Diese werden sich nach Alternativen umsehen und schnell die tief im kulturellen Gedächtnis sitzende ethno-nationalistische Projekte wieder entdecken.

Serbien Serbien bot nach dem verlorenen Krieg um Kosovo im Sommer 1999 ein niederschmetterndes Bild: riesige Schäden der industriellen Infrastruktur durch die NATO -Bombardierungen, eine demoralisierte Bevölkerung, die sich als Opfer einer westlichen Verschwörung sah, ein Staatsapparat, der nicht mehr an die eigene Propaganda glaubte, und ein isolierter Autokrat, Slobodan Milošević, der die Zeichen der Zeit immer weniger zu deuten wusste. Die Niederlage Serbiens im Krieg gegen die Nato beschleunigte den Niedergang von Miloševićs Herrschaft. Nach dem kurzen Burgfrieden während der Bombardierung wurde der Widerstand der Opposition stärker und bündelte sich im Hinblick auf die Präsidentenwahlen im Herbst 2000 zu einem heterogenen Bündnis von Demokraten, Nationalisten und Nationalkonservativen. Die meisten Serben verweigerten Milošević die Zustimmung nicht, weil er im zerfallenden Jugoslawien Kriege für das großserbische Projekt geführt, sondern weil er sie verloren hatte. Die Ära Djndjić, die nach dem Sturz von Milošević am 5. Oktober 2000 anbrach, wird im Nachhinein oft überhöht. Die Revolution war eine Mischung aus Volksaufstand und Putsch gewesen. Damit sie nicht in einem Blutbad endete, sprachen sich die Anführer – allen voran Zoran Djindjić – mit Kadern in Armee und Polizei ab, welche den Glauben an Milošević verloren hatten. Das Zweckbündnis mit Protagonisten aus dem Machtzirkel Miloševićs blieb lange eine Hypothek für die Durchsetzung von Reformen im Staatsapparat. Dazu kam der bald einsetzende Grabenkrieg mit den Nationalkonservativen um Vojislav Koštunica. Djindjić

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regierte in einer Art von permanentem Ausnahmezustand. Die (zeitweise brillante) Improvisation kennzeichnete seinen Regierungsstil in den folgenden zweieinhalb Jahren. Nach seiner Ermordung im Frühjahr 2003 wurde schnell die bis heute gültige Formel für die Ursache seines Scheiterns gefunden: Er habe sich mit Kräften eingelassen, die er nicht kontrollieren konnte und die ihn – als er ihnen gefährlich wurde – aus dem Weg schafften. Die Interpretation stimmt wahrscheinlich. Es war der bewaffnete Arm des Geheimdiensts, aus dem sich seine Mörder rekrutierten. Mit denselben Leuten hatte Djindjić das Drehbuch für Miloševićs Sturz abgesprochen. Wahrscheinlich hätte nur ein »6. Oktober« die gewaltsame Auswechslung der Milošević-Elite als revolutionärer Bruch, Djindjićs Tod verhindern können. Doch dazu fehlten alle Voraussetzungen. Trauer und Verzweiflung bei den einen, Häme bei den andern. Es war eine innerlich zerrissene Gesellschaft, die Djindjić zurückließ. Nun erhielt Vojislav Koštunica seine zweite Chance. Koštunica war der »Mann ohne Eigenschaften«, den Djindjić im Herbst 2000 gegen Milošević ins Rennen geschickt hatte, weil er niemandes erklärter Feind im heterogenen Oppositionsbündnis war. Er war der Kompromisskandidat. Gegenüber dem geistig wendigen, schnell sprechenden Djindjić wirkte Koštunica bedächtig, fast unbeholfen. Er kompensierte dies politisch erfolgreich durch die Zurschaustellung von Prinzipientreue: Nation, Religion und Rechtsstaat als Pfeiler des neuen Serbiens. Viele westliche Diplomaten hofften, dass er den serbischen Nationalismus mit Prinzipien des Rechtsstaates, der Demokratie und Toleranz versöhnen würde. Wenn Djindjić viele Serben mit seinem Tempo überforderte, dann könnte vielleicht Koštunica das große nationalistische Segment der Gesellschaft auf einen nationalkonservativen, »europatauglichen« Pfad bringen. Es kam anders. Dafür gibt es viele Gründe und einen Anlass: Kosovo, das sich mit westlicher Unterstützung nach 2004 immer schneller Richtung Unabhängigkeit bewegte. Dessen Verlust wurde zur Obsession Koštunicas und führte zur Entfremdung von den Demokraten um Boris Tadić und schließlich zum Bruch der Koalition. Im Frühjahr 2007, als klar geworden war, dass die Westmächte nicht auf einen Kompromiss, sondern auf eine schnelle Lösung der Kosovo-Frage hinsteuerten, verstieg sich Koštunica zu einer seltsamen Forderung: Serbien werde das Assoziierungsabkommen (SAP) mit der EU nur unterzeichnen, wenn diese im Gegenzug die Zugehörigkeit Kosovos zu Serbien bestätigen würde. Das war ausgeschlossen und hätte bedeutet, die EU-Perspektive aufzugeben. Die Koalition zwischen Koštunica und Tadić zerbrach. Wieder einmal stand Serbien vor Schicksalswahlen: Würde es trotz des sich abzeichnenden Verlusts Kosovos den Weg nach »Europa« weiter verfolgen, oder würde eine Koalition von Nationalkonservativen und Radikalen die Anlehnung an Russland verstärken? Jetzt setzte die EU ihre »soft power« voll ein: Die Kräfte um Tadić wurden öffentlichkeitswirksam umworben und als Wunschpartner dargestellt. Belgrad

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unterzeichnete am 28. April 2008 das SAA (Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen) in Brüssel. Ein anderes Ereignis zeigte, was auf dem Spiel stand. Fiat gab bekannt, mehrere hundert Millionen in die maroden Zastava-Werke in Kragujevac investieren zu wollen, falls – so interpretierten die Medien – eine pro-europäische Mehrheit zustande käme. Die Rechnung ging auf. Bei den Neuwahlen im Mai siegten knapp jene, für die der Weg nach Europa die einzig mögliche Entwicklungsperspektive des Landes darstellt. Dazu gehörten jetzt auch die Wendehälse der vormaligen Milošević-Sozialisten (SPS). Sie gaben als Zünglein an der Waage den Ausschlag und sind Teil der pro-europäischen Koalition. Die Zuckerbrot-Taktik der EU führte im September 2008 zu einem zweiten Triumph: Die Spaltung der Radikalen Partei, deren Vizepräsident, Tomislav Nikolić, gegen den Führer Vojislav Šešelj rebellierte, der wiederum die Partei auf Fundamentalopposition zur EU-Annäherung festlegen wollte. Die Gründung der SNS, der »Fortschrittspartei«, war die Voraussetzung für den dritten Triumph der »soft power« der EU: Das sogenannte »Normalisierungsabkommen« zwischen Belgrad und Priština vom April 2013. Doch hier zeigen sich dann auch deutliche Schwächen beim Versuch, Konflikte dauerhaft zu lösen. Zur Überraschung vieler unterschrieben im August drei vormalige nationalistische Hardliner – Ivica Dačić, Aleksandar Vučić und Hashim Thaci – ein Abkommen, dessen Kern aus der Bildung einer »Gemeinschaft serbischer Gemeinden« in Kosovo besteht. Diese Gemeinschaft soll sich ins kosovarische System integrieren und erhält dafür erweiterte Autonomie. Damit soll das Problem des serbisch besiedelten Nordkosovo gelöst werden, der bisher nicht unter Prištinas, sondern unter Belgrads Kontrolle gestanden hatte. Der Lohn für Belgrad war der Beginn von Beitrittsgesprächen, für Priština ein Assoziierungsabkommen. Die Serben in Nordkosovo, um deren Schicksal es zentral ging, waren nicht in die Verhandlungen involviert worden. In sieben Monaten sollte die Bevölkerung Nordkosovos, die existenziell von Transferzahlungen aus Belgrad abhängt und 14 Jahre lang von dort als Bollwerk gegen die »albanische Gefahr« gestützt worden war, davon überzeugt werden, sich in den neuen Staat Kosovo zu integrieren. Das gelang natürlich nicht. Stattdessen wurde mit Drohungen und Druck ein fragwürdiger Urnengang durchgezogen, an dem etwa 20 Prozent der Stimmberechtigten teilnahmen. Das soll genügen, hofft die EU, um eine Behörde aufzustellen, die mit Priština kooperiert, eine effiziente Selbstverwaltung etabliert und von ihren Bürgern als legitime Vertretung betrachtet wird. In Belgrad wird der Handel als Stärkung des serbischen Einflusses in Kosovo verkauft, in Priština dagegen als Integration der bisher renitenten Serben. Dass auf diese Weise der EU-Beitrittsprozess mit dem Friedensprozess zwischen Serben und Kosovaren kurzgeschlossen wird, ist problematisch. Und dies aus zwei Gründen: Zum einen wurde dank des Integrationsversprechens das »Normalisierungsabkommen« schnell unterschrieben, doch bereits zeigt sich,

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dass die Umsetzung der vage gehaltenen 15 Punkte stagniert. Zum andern führt die Überformung der klassischen Beitrittskriterien mit friedens- und sicherheitspolitischen Forderungen dazu, dass letztere absolut im Vordergrund stehen. Die innenpolitischen Reformprojekte werden kaum mehr als erfolgsentscheidend betrachtet. Brüssel drückt bei der Beurteilung der Justizreform oder des Mediensystems ein Auge zu. Hauptsache, Belgrad zeigt sich kooperativ im Verhältnis zu Priština. Zweifellos soll der EU-Beitrittsprozess als Argument und Anreiz für friedenspolitische Schritte herangezogen werden – wenn die beiden aber vermischt werden, besteht das Risiko, dass weder der Friedens- noch der Beitrittsprozess wirklich vorankommen.

Kosovo Kosovo ist seit dem 17. Februar 2008 ein unabhängiger Staat. Er wurde bisher von gut 100 der 192 Uno-Mitgliedsstaaten anerkannt, darunter 22 EU-Ländern und den USA. Ist die Kosovo-Frage damit gelöst? Nur teilweise. Als »Kosovo-Frage« bezeichne ich das Problem, dieses Territorium auf nachhaltige Weise und international anerkannt rechtsstaatlich und demokratisch zu organisieren. Dazu braucht der Staat innere und äußere Legitimation. Zwar ist Kosovo seit Juli 2009 Mitglied der Weltbank und des Währungsfonds, aber eine UNO -Mitgliedschaft ist auf absehbare Zeit unmöglich. Die äußere Legitimation dieses Staates bleibt umstritten. Mit der inneren Legitimation verhält es sich ähnlich: Kosovo teilt seine Souveränität mit der EULEX-Mission und KFOR, aber faktisch auch weiterhin mit Belgrad. Die Unabhängigkeit von Serbien genießt im Grundsatz fast hundertprozentige Zustimmung der kosovo-albanischen Mehrheit, die Unterstützung für die real existierende Variante dürfte erheblich tiefer sein. Mit »Vetevendosje« (Selbstbestimmung) gibt es in Kosovo eine schlagkräftige Oppositionsbewegung gegen das »neo-kolonialistische Zweckbündnis« aus internationalen Funktionären und lokalen Eliten. Ob die sich bildende »Gemeinschaft serbischer Gemeinden« – ein Resultat des »Normalisierungsabkommens« zwischen Belgrad und Priština – den Integrationsprozess der Serben auf Dauer eher befördert oder hindert, kann man noch nicht sagen. Die Erfahrungen mit ethnisch definierten politischen Einheiten in Bosnien sprechen eher für letzteres. Weshalb fehlt ein Konsens zu Kosovos Staatlichkeit? Die Antwort darauf findet sich in der Art und Weise, wie die Unabhängigkeit zustande kam. Das UNO-Protektorat, das 1999 nach dem Krieg eingerichtet wurde, war zeitlich unbeschränkt. Sein Ziel war die Etablierung eines Rechtssystems und einer Demokratie, ohne den völkerrechtlichen Status vorwegzunehmen. In der kosovo-albanischen Perspektive war das Protektorat eine Übergangslösung zur Unabhängigkeit. Die Kosovo-Albaner betrachteten sich als die Sieger in einem Unabhängigkeitskrieg, dessen

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Früchte ihnen allmählich in den Schoß fallen würden. Die Serben wussten zwar, dass sie den Krieg verloren hatten, aber nicht gegen die Albaner, sondern gegen die NATO. Und da die Sicherheitsratsresolution 1244 noch immer von Kosovo als Teil Serbiens (bzw. Jugoslawiens) sprach, gingen die meisten Serben davon aus, dass das Gebiet zumindest theoretisch serbisch bleibe. So groß der ideologische Wert Kosovos, so klein war seit Jahrzehnten das praktische Interesse der »Republik-Serben« an diesem lange schon albanisierten Gebiet. Seit den 1960er Jahren gibt es eine klare Mehrheit von Albanern. Mit diesen verschiedenen Interpretationen des status quo ließ es sich vorerst leben. Doch der Staatsaufbau in Kosovo ging mühsam voran. Vor allem das Rechtswesen entwickelte sich ungenügend. Die internationalen Funktionäre errichteten eine Herrschaft der »indirect rule« und begannen, Kompetenzen an die lokale Elite abzugeben. Doch das Misstrauen war beiderseits groß und, wenn Missstände zutage kamen, schob man sich gegenseitig die Schuld zu. 2002 etablierte der deutsche Unmik-Chef Michael Steiner eine neue Doktrin für das Protektorat: »Standard vor Status«. Erst nachdem definierte Qualitätsstandards in Regierung, Justiz und Verwaltung erreicht sein würden, sollte der völkerrechtliche Status diskutiert werden. Was als pädagogischer Ansatz gedacht war, empfanden viele Kosovaren als Verhinderungsstrategie, um dauerhaft die Statuslösung zu verschieben. Ein Gefühl der Stagnation und Frustration machte sich breit. Erst im März 2004 kamen die Dinge wieder in Bewegung. Eine Falschmeldung im Fernsehen, dass Serben drei Kinder in den Fluss Ibar getrieben hätten, ging wie ein Lauffeuer durch Kosovo. Es kam zu Pogromen, Kirchen und Klöster wurden angezündet. Die überraschten KFOR-Truppen sahen dem Treiben, einer Mischung aus spontanem Volkszorn und orchestrierter Gewalt, meist hilflos zu. 19 Menschen kamen ums Leben, über 4.000 wurden vertrieben und 1.000 Häuser sowie 27 Kirchen und Klöster beschädigt oder zerstört. Noch folgenreicher waren die politischen Konsequenzen. Ein Bericht des norwegischen Diplomaten Kai Eide kam im Oktober 2005 zum Schluss, dass Kosovo zwar weit davon entfernt sei, die geforderten Standards zu erfüllen, dass aber mit dem Statusprozess begonnen werden sollte. Dies entsprach dem in Priština bei westlichen Diplomaten weit verbreiteten Gefühl, Kosovo könne nicht länger als UNO-Protektorat »gehalten« werden. Man hatte Angst, von der Bevölkerung als Besatzer empfunden und bekämpft zu werden. In der Folge kam es zu einer eigentlichen Anbiederung der Uno-Protektoren bei den starken Figuren der lokalen Politik. Bekannt ist die Männerfreundschaft zwischen UNMIK-Chef Jessen-Petersen und dem Ex-UÇK-Kommandanten Ramush Haradinaj, der auch dessen Anklage vor dem Haager Kriegsverbrechertribunal nichts anhaben konnte. Von lokalen und internationalen Akteuren wurde ein Erwartungsmanagement betrieben, wonach eine schnelle Lösung der Statusfrage bevorstehe – und auch

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notwendig sei für die Stabilität der Region. Damit war eigentlich bereits klar, dass es zu einer aufgezwungenen Lösung kommen würde. Denn einen tragfähigen Kompromiss auszuhandeln, hätte bedeutet, sich auf einen jahrelangen Verhandlungsprozess einzulassen. Für die Ausarbeitung der Lösung wurde der finnische Diplomat Maarti Ahtisaari beauftragt. Die Verhandlungen wurden von serbischer Seite bald als abgekartetes Spiel zwischen der kosovarischen politischen Elite und ihren »westlichen Sponsoren« kritisiert. In der Tat hatten Großbritannien und die USA schon früh ihre Präferenz einer begrenzten Unabhängigkeit bekannt gegeben. Auch die Verhandlungsführer hatten kaum verklausuliert in öffentlichen Stellungnahmen auf das Endergebnis hingewiesen. Spätestens nachdem die serbische Delegation kolportierte, Ahtisaari habe am Rande einer Verhandlungsrunde gesagt, Serbien sei »guilty as a nation«, begann in Belgrad ein mediales Kesseltreiben gegen den Unterhändler. Der engere Verhandlungsprozess dauerte nur von Februar bis September 2006, dann begann Ahtisaari mit der Formulierung seines Planes. Dieser Plan ist heute im Wesentlichen die kosovarische Verfassung. Der heutige kosovarische Staat ist also nicht das Resultat eines Verhandlungsprozesses zwischen den Kriegsgegnern, sondern eines von den Westmächten nach Konsultationen mit den Betroffenen umgesetzten Plans. Man hat in Kosovo den Konflikt nicht mit einem ausgehandelten Kompromiss gelöst, sondern einen Staat um den Konflikt gebaut. Dieser Staat bildet den Konflikt institutionell ab, in dem die Ethnie zu einer zentralen politischen Kategorie gemacht wurde, in der Hoffnung, dass die Institutionen den Konflikt allmählich absorbieren. Tatsächlich aber werden die Konfliktlinien so auf Dauer gestellt und das politische Leben bleibt ethnisch strukturiert. Man ließ sich auch nicht auf die »autochthone« Interpretation der Gegner ein, welche die Auseinandersetzung seit je als einen Territorialkonflikt um die Kontrolle des beiderseits beanspruchten Landes betrachten. Ein Landtausch zwischen Serbien und Kosovo wurde von den lokalen Bevölkerungen durchaus erwogen, blieb aber dennoch ein Tabu. Stattdessen hielt man am eigenen westlichen Narrativ fest, das bereits die militärische Intervention begründet hatte. Danach ist die Kosovofrage im Kern eine Frage des Schutzes von Minderheitenrechten, die über deren internationale Garantie gelöst werden kann. Das im gleichen Zug auch internationale Grenzen unilateral verändert wurden, erscheint in dieser Lesart vergleichsweise unbedeutend. Doch die – über die Köpfe der Betroffenen hinweg – gefundene Staatskonstruktion hat ein dauerhaftes Legitimitätsproblem bei ihren Bürgern.

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Makedonien Makedonien ist unser drittes Fallbeispiel westlichen Krisenmanagements. Die dabei verwendeten Mittel liegen irgendwo zwischen dem harten Ansatz in Kosovo und Bosnien (Protektorat) und dem weichen Ansatz in Serbien (Druck und Anreiz via EU-Integration). Das Resultat lässt sich meines Erachtens sehen: Makedonien wurde 2001 vor dem Bürgerkrieg gerettet. Seine innere Ordnung wurde mit dem Ohrider Rahmenabkommen auf eine neue Basis gestellt. Dessen Akzeptanz allerdings bleibt nicht unbestritten. Und die jüngere Entwicklung seit 2008, dem Jahr der griechischen Blockade der euroatlantischen Integration Makedoniens, stellt – wie wir gleich sehen werden – eine deutliche Verschlechterung dar. Im Frühjahr 2001 machte sich im nordwestlichen Gebirgsbogen Makedoniens eine albanische Guerilla bemerkbar. Der Konflikt begann mit Anschlägen auf Polizeiposten. Bald eskalierten die Kämpfe zwischen Sicherheitskräften und der UÇK, bei denen Dörfer, in denen sich die Kämpfer verschanzt hatten, in Schutt und Asche gelegt wurden. Es war dieselbe Situation wie in Kosovo drei Jahre zuvor, und es ›roch‹ nach Bürgerkrieg. Doch es kam anders. Makedonien 2001 war mit Miloševićs Serbien nicht gleichzusetzen. Wohl wurden die Albaner im öffentlichen Leben diskriminiert. Aber immerhin war eine albanische Partei in der Regierung vertreten und dank ihrem Druck wurde der Anteil der Albaner im öffentlichen Dienst – wenn auch schleppend – erhöht. Auslöser der Rebellion war nicht das interethnische Verhältnis, sondern ein intraethnischer Konflikt zwischen der herrschenden Demokratischen Partei der Albaner (DPA) und einer Gegenelite um Ali Ahmeti. Allerdings, ohne die erwähnten interethnischen Spannungen wäre die Guerilla der albanischen Gegenelite erfolglos geblieben. Die meisten Albaner reagierten zuerst perplex auf die Männer mit den Kalaschnikows – zumal unklar war, was diese eigentlich wollten. Im Maß, wie die überforderten makedonischen Truppen mit Artillerie und Helikoptern einen unbeholfenen und brutalen Anti-Guerillakampf führten, solidarisierten sich die Albaner mit den UÇK-Kämpfern. Das interethnische Verhältnis wurde eisig. Bei Begegnungen zwischen Makedoniern und Albanern wurde bald nur noch übers Wetter geredet. Alles andere war kontrovers geworden. Der wichtigste Grund, weshalb Makedonien nicht in den Abgrund eines Bürgerkriegs schlitterte, war die Intervention der Westmächte. Sowohl die EU als auch die USA und die NATO einigten sich schnell auf drei Einschätzungen: Die makedonischen Sicherheitskräfte waren nicht in der Lage, mit der UÇK militärisch fertig zu werden; das Land sollte als Einheitsstaat erhalten, also nicht föderalisiert oder aufgeteilt werden; und die Lage der albanischen Minderheit sollte verbessert werden. EU, NATO und USA schickten Spezialgesandte ins Land, die mit allen Parteien verhandelten und in gegenseitiger Absprache mit Druck, Drohungen und

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Versprechen die Konfliktparteien an einen Tisch brachten. Davon ausgeschlossen war die Guerilla selber, die aber via Mittelsmänner präsent war. Das »Ohrider Rahmenabkommen« wurde nach sieben intensiven Verhandlungswochen am 13. August 2001 abgeschlossen und führte zur Beendigung der sieben Monate dauernden Kämpfe. Das Ohrider Rahmenabkommen ist eine eigenartige Mischung aus Friedensabkommen und Reformprojekt. Es hält am Einheitsstaat fest, verzichtet (allerdings nicht konsequent) auf ethnische Dezentralisierung, erhöht die Macht der Lokalverwaltung und stärkt symbolisch und praktisch die Teilhabe der Albaner im Staatswesen. Seither hat sich das Bild aber sukzessive verdüstert. Einige Jahre war das Land wieder zum Musterknaben der Nachfolgestaaten Jugoslawiens geworden, in dem viel eher als in Bosnien-Herzegowina oder Kosovo eine funktionierende multi-ethnische Demokratie möglich schien. Doch nachdem Griechenland 2008 erfolgreich die Integration des Landes in die NATO und den Beginn von Beitrittsgesprächen mit der EU blockiert hatte, hat sich das Land zunehmend zu einem halbautoritären System entwickelt. Die regierende nationalkonservative VMRO (Innere Makedonische Revolutionäre Organisation) hat sich das Land mit ihrem albanischen Juniorpartner faktisch aufgeteilt. Die ethnische Segregation hat sich verschärft. Die Medien stehen unter starkem Einfluss der Regierung, und die Opposition verliert seit sieben Jahren Wahl um Wahl. In Skopje wird mit einem immensen Aufwand an einem neuen Geschichtsbild gebaut. Mit neoklassizistischen Neubauten und Dutzenden von Statuen wird eine Kulisse aufgestellt, die den Anschein erwecken soll, der Ursprung der makedonischen Nation liege in die Antike.1 Dies verstärkt natürlich die griechische Blockadepolitik: Athen spricht von Geschichtsraub. Aus Nikola Gruevski, der 2006 als Technokrat angetreten war, die Wirtschaft zu erneuern, wurde – mit kräftiger griechischer Unterstützung – ein autoritärer Nationalist. Die Europäische Kommission versucht zwar, den Dialog mit Skopje aufrecht zu erhalten. Aber es stellt sich die Frage, ob diese Regierung wirklich ein Interesse an Beitrittsverhandlungen hat – denn der damit verbundene Reformprozess würde ihre Position unterminieren. In Makedonien sind viele überzeugt, dass die EU-Mitgliedsstaaten sich hinter Griechenland verbergen würden. Der griechische Widerstand käme den erweiterungsmüden Hauptstädten eben recht. Ob das zutrifft oder nicht: Unbestritten hat die faktische Blockade Makedonien wieder zu dem Westbalkanland gemacht, in dem ein offener Konflikt am wahrscheinlichsten ist.

1 Siehe dazu den Aufsatz von Nada Boškovska in diesem Band.

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Sieben Thesen zum europäischen Balkan Seit dem Mittelalter sind es, mit wenigen Ausnahmen, äußere Mächte, welche die staatliche Ordnung auf dem Balkan bestimmen (Osmanen, Venezianer, Russen, Österreicher, Deutsche). Das ist heute nicht anders. Anders ist, dass mit der EU kein klassisches Imperium, sondern eine schwer berechenbare Wertegemeinschaft die staatlichen Entwicklungen auf dem Balkan beeinflussen. Die mächtigste »Waffe« der EU ist ihr Integrationsangebot. Welche tiefgreifenden Veränderungen es auf die geostrategische Ausrichtung, den politischen Markt und das Parteiensystem haben kann, zeigt das Beispiel Serbiens. Diese Form von »soft power« funktioniert aber nur, wenn das Angebot als glaubwürdig wahrgenommen wird und keine attraktiven Alternativen dazu existieren. Wichtig ist, dass der Integrationsprozess für die Gesellschaften »spürbar« vorankommt. Entscheidend dürfte weniger das Tempo, als die Erfahrbarkeit des Fortschritts sein. Stagniert der Prozess über längere Zeit, lösen sich Gestaltungskraft und Einfluss der EU schnell wieder auf. Dies zeigt eindrücklich der Fall Makedoniens, das sich wegen der griechischen Integrationsblockade zu einem polarisierten und langfristig instabilen Land entwickelt hat. Dass Makedoniens Weg kein Sonderfall (aber ein Schulbuchexempel) ist, zeigt die Machtballung der Regierenden anderswo. Zum Beispiel in Montenegro, wo die 20-jährige Herrschaft der Djukanović-Clique den balkanischen Prototyp einer durch Wahlen legitimierten autoritären Herrschaft darstellt. In diesen »iliberalen Demokratien« (Fareed Zakaria) steht den Regierenden kein ausreichendes oppositionelles Korrektiv gegenüber. Auch die wechselseitige Kontrolle durch relativ autonome Institutionen funktioniert nicht. Die staatliche Verwaltung wird von den Regierenden benutzt, um über ein parteigestütztes Klientelsystem die Anhängerschaft zu versorgen und in permanenten Kampagnen ideologisch auf Trab zu halten. Weil die Medien abhängig sind und die Justiz schwach ist, wird die Opposition im staatlich dominierten öffentlichen Raum erfolgreich an den Rand gedrängt. Dieses Modell hat sich in Abstufungen von Griechenland bis Ungarn, von Serbien bis Rumänien in- und außerhalb der EU etabliert. Obwohl die EU der Hauptakteur der Konflikttransformation ist, spielen die USA, die Türkei und Russland weiterhin eine Rolle. Im Fall Kosovos und Bosniens machen Ankara, im Fall Serbiens Moskau immer wieder ihren Einfluss geltend. Je stärker die EU in einem kompetitiven Verhältnis zu den historischen Regionalmächten Russland und Türkei steht, desto mehr entwickelt sich daraus ein potentiell konfliktives Nullsummenspiel. Und je langsamer und ungewisser der

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Integrationsprozess Richtung EU verläuft, desto stärker werden die Konkurrenten aufgewertet. Fest steht, dass der Balkan für diese beiden Mächte noch immer eine Zone ist, in der sie Einfluss ausüben wollen und auch können. Die größten Erfolge zeitigt die EU dort, wo es um ein einfaches »member state building« innerhalb akzeptierter Grenzen und relativ homogener Nationalstaaten geht. Schwierig wird es, wenn der Beitrittsprozess direkt in den Dienst der Konfliktlösung gestellt wird (etwa im serbisch besiedelten Nordkosovo, der in einem Tauschhandel zwischen Brüssel und Belgrad, ohne die betroffene Bevölkerung zu involvieren, den Institutionen Kosovos unterstellt wird). Die Erfolge mit Protektoraten sind unbefriedigend. Sowohl in Bosnien wie in Kosovo konnte damit zwar eine Stabilisierung, aber keine politische und wirtschaftliche Entwicklung erreicht werden. Weil der Westen den lokalen Akteuren keine rationale Konfliktlösung zutraut, oktroyiert er diese auf. Daraus resultieren dann tiefreichende Legitimitätsprobleme in diesen Staaten. Die Fälle Montenegro (Trennung von Serbien) und Makedoniens (Ohrider Rahmenabkommen) legen nahe, dass eine Mischung aus Druck und Hilfestellung durch die Großmächte zielführend ist, solange die Streitparteien weiterhin ein gewisses Maß an Selbstverantwortung tragen. Der Balkan hat im kollektiven Bewusstsein des Westens den Charakter einer wirtschaftlich und kulturell zurückgebliebenen, problematischen Banlieue. Deshalb werden die balkanischen Akteure oft als unreife Störenfriede, im besseren Fall als manipulierbare Figuren betrachtet. Diese westliche Einstellung ist für einen Teil des Missmanagements von Krisen verantwortlich: In Friedensverhandlungen und bei der Implementierung von neuen Verfassungen werden die lokalen Akteure allzu oft ihrer Verantwortung enthoben. Statt, dass die Mächte sich darauf beschränken, moderierend die »Spielregeln« der Konfliktlösung zu definieren (etwa Gewaltlosigkeit, demokratische Legitimierung des Arrangements), werden die Lösungen von ihnen selber vorgegeben. Die EU hat sich die Stabilität der Region mit einem Wechsel auf deren spätere Einbindung erkauft. Wenn die Gesellschaften auf dem Westbalkan eines Tages an die Einlösung dieses Wechsels nicht mehr glauben, wird es mit der Stabilität von Ländern wie Makedonien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo vorbei sein. Denn deren institutionelle Gestalt ist direkt mit dem EU-Beitrittsziel verbunden. Die EU wird dann schnell zu spüren bekommen, dass sich die problematische Peripherie sehr nahe am Zentrum des Kontinents befindet.

Autorinnen und Autoren Louisa Avgita (Thessaloniki) ist Kunsthistorikerin, -kritikerin und -theoretikerin. Sie ist Lehrbeauftragte für Kunstgeschichte und Kunsttheorie am Departement für Bildende Kunst und Kunstwissenschaft an der Hochschule für Bildende Kunst der Universität von Ioannina, Griechenland.  Martina Baleva (Basel) ist Kunsthistorikerin mit einem Schwerpunkt auf der Kunst- und Bildgeschichte des Balkans, Ost- und Ostmitteleuropas vom 19. Jahrhundert bis heute sowie der Fotografiegeschichte des osmanischen und postosmanischen Raums. Sie ist FAG Stiftungs-Assistenzprofessorin (Juniorprofessur) für Kulturelle Topografien Osteuropas am Kompetenzzentrum Kulturelle Topographien der Universität Basel. Samuel M. Behloul (Freiburg) ist Religionsforscher mit besonderem Fokus auf dem Verhältnis von Religion, Kultur und Ethnizität in der Diaspora. Nach seiner Lehr- und Forschungstätigkeit am Religionswissenschaftlichen Seminar der Universität Luzern ist er seit 2013 Nationaldirektor der Kommission migratio bei der Schweizer Bischofskonferenz. Nada Boškovska (Zürich) hat den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich inne. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der Geschichte Russlands und des Balkans. Aktuell forscht sie zu Kroatien im Zweiten Weltkrieg und zu Makedonien in spätosmanischer Zeit. Andreas Ernst (Belgrad) schreibt für die Neue Zürcher Zeitung und die NZZ am Sonntag über den westlichen Balkan. Sein Interesse gilt Prozessen kultureller, wirtschaftlicher und politischer Integration in den albanischsprachigen Gebieten, den Gesellschaften der vormals jugoslawischen Republiken sowie dem Einfluss türkischer »soft power« auf verschiedene Gemeinschaften und Gesellschaften des Balkans. Elke Hartmann (Berlin) ist Historikerin und Islamwissenschaftlerin. Ihre Forschungsinteressen konzentrieren sich auf die moderne Geschichte des Osmanischen Reiches sowie die transkulturelle Selbstzeugnisforschung. Sie leitet das Forschungsprojekt »Houshamadyan« (www.houshamadyan.org) zur Alltagsgeschichte und -kultur der osmanischen Armenier und ist an der Freien Universität Berlin assoziiert. Karl Kaser (Graz) ist Professor für Südosteuropäische Geschichte und Leiter des Fachbereichs für Südosteuropäische Geschichte und Anthropologie an der

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Karl-Franzens-Universität Graz. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte der Familien- und Geschlechterbeziehungen auf dem Balkan sowie aktuell die visuellen Kulturen des Balkans und des Nahen Ostens. Boris Previšić (Luzern) ist Musiker mit langjährigem Engagement im Kaukasus und Balkan (www.pre-art.ch) und SNF-Förderprofessor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Luzern. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Literatur- und Raumtheorien, der Intermedialität und Interkulturalität. Maurus Reinkowski (Basel) ist Professor für Islamwissenschaft am Seminar für Nahoststudien der Universität Basel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der neueren und neuesten Geschichte des Nahen Ostens und des östlichen Mittelmeerraums. Daniel Ursprung (Zürich) ist Historiker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte der Universität Zürich. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte Südosteuropas und der Raum des heutigen Rumänien (www.daniel-ursprung.ch). Tanja Zimmermann (Leipzig) ist Professorin für Kunstgeschichte mit einem Schwerpunkt in der Kunst Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas und ihren interkulturellen Beziehungen an der Universität Leipzig. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Erinnerungskulturen, des kulturellen Ost-West-Transfers, der Medien- und Kunstpolitik vom 19. bis ins 21. Jahrhundert.

Bildnachweise Louisa Avgita: Abb: 1: Dan Grover, Surrey, Großbritannien. Martina Baleva: Abb. 1: Wikimedia Commons (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Eugène_ Delacroix_-_Le_Massacre_de_Scio.jpg, letzter Zugriff 2. Juli 2015); Abb. 2: Foto: Todor Mitov 2007; Abb. 3: Entnommen aus: Monika Flacke (Hg.): Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, Ausstellung, Berlin, Deutsches Historisches Museum, 1998; Abb. 4: Entnommen aus: http://daheshmuseum.org/collection/detail. php?object= cermakj_1 (Letzter Zugriff: 2010); Abb. 5: Wikimedia Commons (https:// bg.wikipedia.org/wiki/Светотатство#/media/File:Konstantin_Makovsky_-_The_ Bulgarian_martyresses.jpg, letzter Zugriff: 2. Juli 2015). Nada Boškovska: Abb. 1, 5–10, Fotos: Nada Boškovska; Abb. 2: Wikimedia Commons (http://commons.wikimedia.org/wiki/File:City_Wall_Skopje.jpg, letzter Zugriff: 22. September 2014); Abb. 3: Wikimedia Commons (http://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Hauptpost_skopje.JPG, letzter Zugriff: 22. September 2014); Abb. 4: Entnommen aus: http://www.balkanforum.info/f20/plattenbauten-balkan-211143/ (Letzter Zugriff: 22. September 2014) Tanja Zimmermann: Abb. 1: Entnommen aus: Oto Bihalji-Merin (Hg.): Yugoslav Sculpture in the Twentieth Century, Belgrad 1955, S. 44; Abb. 2, 3, 6, Fotos: Tanja Zimmermann; Abb. 4: Entnommen aus: Grgur Ninski. Preštampano iz Nove revije. Buch XX, Zagreb 1929, ohne Pagina; Abb. 5: Entnommen aus: Boris Klemen (Hg.): Skulpturen naiver Künstler aus Jugoslawien, Ausstellungskatalog, Stuttgart 1977, Abb. 35

TANJA ZIMMERMANN

DER BALKAN ZWISCHEN OST UND WEST MEDIALE BILDER UND KULTURPOLITISCHE PRÄGUNGEN (OSTEUROPA MEDIAL, BAND 6)

Der Balkan ist nicht nur ein Produkt der kulturellen und politischen Imaginationen des Westens, sondern entstand vielmehr im Fadenkreuz der Blicke aus Ost und West. Als Zwischenraum bot er sich für die Übertragung unterschiedlicher kultur politischer Entwürfe eines »dritten Raumes« an – vom Niemandsland bis zum jugoslawischen »dritten Weg«. Die medialen Gestalten des Balkans zeigen den Übergang fester Stereotype in entfesselte, imaginäre Phantasmen. Die Autorin untersucht Balkan-Narrative in unterschiedlichen Medien seit dem Niedergang der philhellenischen Begeisterung 1830 bis zur post-jugoslawischen Periode. 2014. X, 504 S. 120 S/W-ABB. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-22163-8

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