Quo vadis Europa?: Gegenwarts- und Zukunftsfragen der europäischen Einigung [1 ed.] 9783428580323, 9783428180325

Die spätestens mit der Eurokrise, der Migrationskrise und dem Brexit offen zutage tretende Fragilität der Europäischen U

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Quo vadis Europa?: Gegenwarts- und Zukunftsfragen der europäischen Einigung [1 ed.]
 9783428580323, 9783428180325

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 101

Quo vadis Europa? Gegenwarts- und Zukunftsfragen der europäischen Einigung Herausgegeben von Arnd Uhle

Duncker & Humblot · Berlin

ARND UHLE (Hrsg.) Quo vadis Europa?

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 101

Quo vadis Europa? Gegenwarts- und Zukunftsfragen der europäischen Einigung

Herausgegeben von

Arnd Uhle

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-18032-5 (Print) ISBN 978-3-428-58032-3 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Eurokrise, Migrationskrise, Brexit: Die Entwicklungen der letzten Jahre haben die Fragilität der Europäischen Union offengelegt und deutlich werden lassen, dass sich das europäische Einigungswerk in einer tiefen Krise befindet. Sie sind Ausdruck des Umstands, dass es in zentralen europäischen Politikfeldern gegenwärtig an dem Willen und an der Fähigkeit mangelt, drängende Probleme gemeinsam zu lösen. Hierunter leidet das Vertrauen in die Institutionen der Europäischen Union. Dieser Vertrauensverlust geht einher mit einer zunehmenden Tendenz zur Rückbesinnung auf mitgliedstaatliche Handlungsspielräume  – einer Tendenz, die namentlich zu Beginn der Corona-Krise des Frühjahres 2020 in nahezu allen Staaten Europas unübersehbar geworden ist. Vor diesem Hintergrund erheben sich vielfältige Fragen, die ebenso die Bewältigung einzelner Herausforderungen wie auch die Zukunft des europäischen Einigungsprojektes als Ganzes betreffen: Bilden die gemeinsamen kulturellen Grundlagen Europas auch zukünftig ein tragfähiges Fundament für das europäische Einigungswerk? Wie stellt sich der europäische Einigungsprozess aus zeitgeschichtlicher Sicht dar? Welche langfristigen Konsequenzen folgen namentlich aus Eurokrise und Brexit? Und wie entwickelt sich das Verhältnis von Mitgliedstaaten und Europäischer Union im Allgemeinen sowie das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof im Speziellen? Diese und eine Vielzahl weiterer aktueller Fragen waren der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Sektion der Görres-Gesellschaft im Herbst 2019 Anlass, sich im Anschluss an ihre im Jahre 2016 durchgeführte Tagung zur Migrationskrise1 erneut und nunmehr 1  Dokumentiert im Tagungsband „Migration und Integration – Die Migrationskrise als Herausforderung des Rechts“, hrsg. von Arnd Uhle, Berlin 2017.

6 Vorwort

grundsätzlich mit Zustand und Entwicklungsperspektiven der Europäischen Union auseinanderzusetzen und ihre jährliche Sitzung, die erstmalig in Kooperation mit der Fachschaft Jura des Cusanuswerks durchgeführt wurde, dem Rahmenthema „Quo vadis Europa?  – Gegenwarts- und Zukunftsfragen der europäischen Einigung“ zu widmen. Nicht zuletzt bot die Sitzung hierbei den Rahmen für die ­Eröffnung des neu geschaffenen „Jungen Forums“, das fortan jungen Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern eine institutionalisierte Möglichkeit eröffnet, ihre Forschungsperspektiven in die Beratungen der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Sektion einfließen zu lassen. Die nachfolgend abgedruckten Beiträge sind hervorgegangen aus den Vorträgen, die vor der Sektion am 20. und 21.  September 2019 im Rahmen der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft in Paderborn gehalten wurden. Für die Publikation wurden sie im Anschluss an die Tagung überarbeitet und mit Anmerkungen versehen. Für die Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung der Sektionssitzung danke ich den Stipendiaten des Cusanuswerks, Herrn cand. iur. Dominik Schwab und Herrn cand. iur. Paul Schafmeister, für die redaktionelle Bearbeitung der hier veröffentlichten Abhandlungen den Mitarbeitern meines Lehrstuhls, namentlich Herrn ref. iur. Marcus Müller und Herrn cand. iur. Max Steinert. Für die Durchsicht der Druckfahnen bin ich Frau Sabine Dorn B. A. im Lehrstuhlsekretariat verbunden. Dem Geschäftsführer des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Dr. Florian Simon LL. M., danke ich schließlich herzlich für die Aufnahme des Bandes in die renommierte Reihe der „Wissenschaftlichen Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte“ und für die hervorragende verlegerische Betreuung. Leipzig, im Juni 2020

Arnd Uhle

Inhaltsverzeichnis Ein tragfähiges Fundament? Zu den kulturellen Grundlagen der europäischen Einigung Von Professor Dr. Otto Depenheuer, Köln  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Ein Europa der Nationen. Der europäische Einigungsprozess aus zeitgeschichtlicher Sicht Von Professor Dr. Dominik Geppert, Potsdam  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Der Euro. Zu den politischen und rechtlichen Implikationen der Governance in der Eurozone Von Professor Dr. Ulrich Hufeld, Hamburg  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Der Brexit. Zu Ursachen, Austrittsverfahren und Perspektiven Von Professor Dr. Katja S. Ziegler M.A., Leicester  . . . . . . . . . . . . . . 77 Der europäische Verfassungsgerichtsverbund: Zum Verhältnis von EuGH und BVerfG Von Professor Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier, Präsident des Bundesverfassungsgerichts a. D., München  . . . . . . . . 165 Die dreigliedrige Residualkompetenz des BVerfG: Solange II, ultra ­vires, Verfassungsidentität Von Rechtsreferendar Robert Pracht, Heidelberg  . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Quo vadis Europa? Zur Ausbalancierung des Verhältnisses von Mitgliedstaaten und Europäischer Union Von Professor Dr. Volker Kronenberg, Bonn  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Autoren und Herausgeber  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

Ein tragfähiges Fundament? Zu den kulturellen Grundlagen der europäischen Einigung Von Otto Depenheuer I. Eine aus der Zeit gefallene Fragestellung?   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1. Der Befund: Die Krise der europäischen Einigung  . . . . . . . . . . . 10 2. Die Fragestellung: Was kann Europa noch zusammenhalten?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 3. Gang der Untersuchung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 II. Die Logik der neuzeitlichen Ausdifferenzierung: Von der Gemeinschaft zur Gesellschaft der Singularitäten  . . . . . . . 14 1. Der moderne rationale Staat  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 a) Die Entdeckung des „Ich“ und die Lust an rationaler Erkenntnis   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 b) Die Eroberung der Welt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 c) Merkmale des rational-modernen Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2. Zweckrationalismus als Prinzip   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 3. Grenzenloser Individualismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 III. Die uralte-neue Sehnsucht nach „Heimat“   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. „Heimat“  – Ubi patria, ibi bene  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 a) Sehnsucht nach dem Vertrauten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 b) Das Wort „Heimat“ als Indikator  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 c) Was aber ist „Heimat“?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 2. Haltgebende Grundlagen im Prozess der Rationalisierung  . . . . 23 a) Religion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 b) Nation als Schicksal   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 c) Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

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IV. Europäische Demokratie im Zeitalter des Multilateralismus?  . . . . 29 1. Die EU vor der Frage ihrer Legitimation  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Theoretische und praktische Probleme multilateraler Demokratie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3. Die Europäische Union als technokratisches Konstrukt  . . . . . . 34 4. Vor einer unangenehmen Entscheidung   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

I. Eine aus der Zeit gefallene Fragestellung? 1. Der Befund: Die Krise der europäischen Einigung Die Frage nach den kulturellen Grundlagen der europäischen Einigung scheint wie aus der Zeit gefallen. Die Europaeuphorie der vergangenen Jahrzehnte ist weithin verflogen – und zwar europaweit. Sie war nach dem gescheiterten Verfassungsprojekt sowie im Zuge von  – noch nicht bewältigter  – EURO- und Migrationskrise zunächst deutlich leiser und ist zwischenzeitlich ziemlich kleinlaut geworden. Zwar versuchten im letzten Europawahlkampf die Plakate der „Altparteien“, neue Zuversicht zu verbreiten: „Europa ist die Antwort“ (SPD), „Kommt, wir bauen das neue Europa“ (Die Grünen)“  – so konnte man lesen. Doch das Elitenprojekt „Spitzenkandidat“ zerstob nach der Wahl so schnell und rückstandslos, dass alle vermeintlichen Hoffnungen, jetzt gehe es wirklich demokratisch los in Europa, von der Brüsseler Bürokratie erfolgreich aufgesaugt wurden. Die Europäische Union (EU) scheint das Lebenselixier ihrer Existenz in der globalen Welt immer mehr aus den Augen zu verlieren: anfangs gegründet zur – militärischen, wirtschaftlichen, finanzpolitischen  – Einhegung Deutschlands, sieht sich die EU gerade in diesen Kernbereichen als tief gespalten und kann Desintegrationswirkungen in der Bandbreite ihrer Agenden kaum mehr verschleiern: Finanzpolitik (EURO), Migrationspolitik, Sicherheitspolitik. Die hintergründige Auflösung der kulturellen Bindungskräfte früherer Jahrzehnte ist nicht mehr zu übersehen und kaum noch zu verschleiern. In den Niederungen der demokratischen Basis wird die EU immer skeptischer, zuweilen gar feindlich gesehen: ein undemokratisches Bürokratiemonster, das tagein tagaus Vorschriften produziert, über die niemand – im eigenen politischen Sprachraum – diskutiert hat, von denen kaum einer etwas weiß, und die auf einmal als scharf



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sanktioniertes Recht exekutiert werden: Bananenkrümmung, Glühlampe, Abgaswerte, Schadstoffgrenzwerte etc. Die eigentlich nicht überraschende Folge: Die EU stößt in den Völkern ihrer Mitgliedsstaaten auf immer größere Skepsis bis hin zu offener Ablehnung: Könnte gar der Brexit als unübersehbares Fanal zum Menetekel für den baldigen Tod der EU gedeutet werden? 2. Die Fragestellung: Was kann Europa noch zusammenhalten? Stellt sich auch für die EU heute die altbekannte, über 200 Jahre alte Frage zum Zustand des Heilgen Römischen Reiches, wie sie Goethe dem Studenten Frosch in Auerbachs Keller in den Mund legt: „Das liebe, heil’ge röm’sche Reich, wie hält’s nur noch zusammen?“ Die dahinterstehende Frage war auch schon seinerzeit: Worin bestanden der Kitt, die Idee, die Solidarität, die Identität, oder – um das Vortragsthema aufzugreifen  – die „kulturellen Grundlagen“ des Reiches, die ihm ein tragfähiges Fundament über fast 1000 Jahre gegeben hatten? Und waren diese kulturellen Grundlagen seinerzeit noch lebendig? Hätten sie sich gegebenenfalls revitalisieren lassen? Und wenn ja, wie? Für das alte Reich war die Frage wenige Jahre später definitiv beantwortet: Es gab keine politisch tragfähigen kulturellen Grundlagen mehr und das Reich dankte ab. An seine Stelle traten die aufstrebenden Nationalstaaten.  – Und wie steht es heute um die Vitalität der EU? Besteht für sie noch Hoffnung? Anders formuliert: Geht die Zeit des zweckrationalen Multilateralismus auf europäischer Ebene zu Ende und muss sie einem neuen Unilateralismus Platz machen? Und wenn ja, welche politischen Kräfte sind es, die in dieser Entwicklung nach einer neuen politischen Formation suchen? Aber selbst am Bestehen dieser „unilateralen“ Alternative bestehen heute Zweifel. Die Frage nach den kulturellen Grundlagen der EU scheint nämlich auch deshalb aus der Zeit gefallen, als auch bei den „Herren der Gründungsverträge“  – also im Binnenbereich der Mitgliedstaaten  – die kulturellen Grundlagen immer stärker und nachhaltiger zu zerbröseln scheinen. Dabei erfasst dieses Phänomen fast alle Staaten der früher sogenannten „freien Welt“ des Westens, was das Problem nicht einfacher, aber umso erklärungsbedürftiger macht.

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Apodiktisch auf den Punkt gebracht stehen weltoffene Eliten populistischen Landbewohnern, kosmopolitische Anywheres heimatverbundenen Somewheres gegenüber. Unter den Gründen, die dafür genannt werden, stehen die Ängste breiter Bevölkerungsschichten in Ansehung der modernen, immer komplexer werdenden Welt, ein überbordender Individualismus, der zu einer „Gesellschaft der Singularitäten“ (Reckwitz) geführt habe, eine Ökonomisierung nahezu aller Lebensbereiche zu Lasten religiöser und politischer Gemeinschaftserfahrungen, einer Digitalisierung, die sich langsam und unmerklich in alle Poren menschlicher Lebensbereiche einzunisten beginnt. All das vollzieht sich unter den Augen und sehr zur Freude „lupenreiner“ Demokraten: Wladimir Putin hat den liberalen Demokratien bereits attestiert ihren Zenit überschritten zu haben und ihnen zugleich vorsorglich den Totenschein ausgestellt:1 die liberale Idee – so Putin – habe sich überlebt, weil sie sich in einem Konflikt mit der überwältigenden Mehrheit des Volkes begeben habe.2 Nur weil die Diagnose von Wladimir Putin ist, muss sie übrigens prinzipiell nicht falsch sein. Also gehen wir auf die mühevolle Strecke der Untersuchung und fragen: Welche kulturellen Grundlagen fundieren die freiheitlichen Staaten und die EU? Gab es sie, gibt es sie (noch), sind sie gegebenenfalls zu revitalisieren? 3. Gang der Untersuchung Da es mir wenig Sinn zu machen scheint, auf der supranationalen Ebene nach kulturellem Kitt zu suchen, während dieser gleichzeitig schon im nationalen Rahmen erodiert, beginne ich bei der Plausibilität des Putin’schen Diagnose und stelle sie in den historischen Kontext der Herausbildung der liberalen Demokratie in Europa. 1  In einem Interview mit der Financial Times vom 27.  Juni 2019.  – Dazu: Ivan Krastev, Der Überlebende des liberalen Zeitalters, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) v. 31.08.2019, S. 11. 2  Genderfragen dürften – so Putin – Kultur, Traditionen und Werte der Mehrheitsbevölkerung nicht „überschatten“ und Zuwanderung führe zu einem Zustand der Gesetzlosigkeit: „Migranten können töten, klauen, vergewaltigen und bleiben straffrei, weil ihre Rechte als Migranten geschützt werden müssen“ (zitiert nach Die Zeit Nr. 28/2019, 04.07.2019).



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Zunächst sei mir daher eine stark verkürzte Geschichte der politischen Entwicklung der Neuzeit seit der Reformation erlaubt, die den Bogen spannt vom Gottesgnadentum bis hin zum Multilateralismus, oder: von der umfassenden Geborgenheit des Einzelnen im Kollektiv zur riskanten Freiheit des Individuums im Reich der Singularitäten, kürzer: von der wärmenden Kultur zum kalten Zweck (II.). Ein zweiter historischer Abriss wird zeigen, dass jeder dieser Entwicklungsschritte sich gegen massive Ängste in der Bevölkerung und damit gegen diese Ängste aufgreifende politische Widerstände durchsetzen musste und sich im Wesentlichen auch durchzusetzen vermochte. Gemeinsamer Nenner dieser Strategien zur Stabilisierung politischer Ordnung in Ansehung immer weiter ausgreifenden individuellen Freiheitsrechten und damit zur Wahrung politischer Identität war die Schaffung resp. Pflege der „kulturellen Grundlagen“, oder  – wie es derzeit unter einem wieder in Mode kommenden Begriff geschieht  – von Heimat (III.). Das führt abschließend zur Frage, ob und wie unter den Bedingungen der durchweg zweckrational programmierten Moderne  – des Multilateralismus zur Bewältigung globaler Problemlagen, der Digitalisierung aller kulturellen Erscheinungen, der sich anbahnenden globalen wirtschaftlichen Herausforderungen sowie im Kontext einer „Gesellschaft der Singularitäten“  – wie also unter diesen Bedingungen sich die politische Lebensform des freiheitlichen Verfassungsstaates resp. die EU behaupten kann. Anders formuliert: Wie die „kulturellen Grundlagen“ freiheitlicher politischer Gemeinschaftsbildung heute gegründet sein müssen, um fortbestehen zu können. Die Antwort könnte ganz unprätentiös bereits in einer kleinen Erinnerung an eine uralte Idee liegen, die jeder zu kennen vermeint, deren Potential es aber gegenwärtig neu zu entfalten und der Moderne anzuverwandeln gilt: der Demokratie (IV.).

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II. Die Logik der neuzeitlichen Ausdifferenzierung: Von der Gemeinschaft zur Gesellschaft der Singularitäten 1. Der moderne rationale Staat a) Die Entdeckung des „Ich“ und die Lust an rationaler Erkenntnis Die mittelalterliche Welt gründete auf der christlich geprägten Glaubensüberlieferung und dem darauf aufbauenden politischen System des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“. Beides bildete für die Menschen dieser Zeit den allein denkbaren Horizont ihres Weltverständnisses. All das, was uns heute selbstverständlich ist, nämlich die Welt zu hinterfragen, sie zu erforschen und sie zu „verbessern“, all das gab es nicht nur nicht; es war buchstäblich „undenkbar“. Das änderte sich im Zeitalter des Renaissance-Humanismus seit dem 12. Jahrhundert nach und nach. In einem historischen, sich aus vielen Quellen und Herausforderungen entwickelnden Prozess erwachte allmählich das Selbstbewusstsein des Individuums, das seinen prägnantesten Ausdruck in den Worten Martin Luthers auf dem Reichstag zu Worms 1521 gefunden hat: „Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Das war die auf den Begriff gebrachte Geburtsstunde des souveränen Individuums, um das sich fortan alles drehen sollte. Dieser Revolution des Denkens und Handelns fiel – in einem 500 Jahre dauernden Prozess  – politisch erst der Kaiser, dann das Reich zum Opfer. An ihrem Ende steht die grundrechtlich basierte Freiheit zur individuellen Selbstbestimmung wie die demokratisch basierte zur kollektiven Selbstbestimmung. Diese Evolution hin zum Individualismus, zur säkularen Selbstermächtigung des Individuums, zum methodischen Skeptizismus und zum gnadenlosen Rationalismus führte zu einer erkenntnistheoretisch begründeten Absage an alle „unbezweifelbaren“ Wahrheiten: Alles musste sich fortan rechtfertigen vor dem Gerichtshof der Vernunft. In der Folge wurde nach und nach alles hinterfragt, alles unter rationalen Begründungszwang gestellt: die historische Wahrheit der Bibel, die Legitimation aller Herrschaft „von Gottes Gnaden“, die Rechtfertigung staatlicher Gewalt. Die Wirklichkeit insgesamt steht seither unter Rechtfertigungszwang: Sie darf nur sein, wenn sie sich



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normativ zu rechtfertigen weiß. Erst wenn sich die kontingente Wirklichkeit vor dem Tribunal der Vernunft rechtfertigen konnte, darf sie den Anspruch stellen, auch real sein zu dürfen. Mittelalter und Neuzeit unterscheiden sich in erster Linie nicht in ihrer Fähigkeit zur Rationalität, sondern in ihrer unterschiedlichen Bereitschaft, die Wirklichkeit mehr oder weniger Infrage zu stellen. „Neu“ war in der Neuzeit nur das infragestellen von immer mehr und letztlich allen Lebensbereichen. Die fundamentale Tragweite dieser Revolution wird erkennbar vor dem Hintergrund der biblischen Erzählung von den ersten Menschen im Paradies. Sie lebten buchstäblich in paradiesischen Verhältnissen, verboten war ihnen einzig, die Früchte vom „Baum der Erkenntnis“ zu essen. Der mittelalterliche Mensch hielt sich noch an das göttliche Gebot. Er nahm die Welt, so wie sie war, unbefragt als die gottgegebene und damit als die beste aller denkbaren Welten an. Doch das zum Bewusstsein seiner selbst erwachte „Ich“ hielt nichts mehr von Frageverboten. Und so übertrat der neuzeitliche Mensch selbstbewusst das göttliche Verbot, verzehrte den verführerischen Apfel vom Baum der Erkenntnis und schickt sich seither an, die teuflische Prophezeiung in die Tat umzusetzen, die da lautete: „An dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.“ b) Die Eroberung der Welt Munter begann der neuzeitliche Mensch, immer mehr vom Baum der Erkenntnis zu naschen und alle Tradition, Kultur und Natur zu befragen mit der Folge, dass diese sich erst einmal rechtfertigen mussten, ob sie auch  – überhaupt und gerade so, wie sie geworden sind  – sein dürften. An die Stelle von Frageverboten traten unbändige Neugier und unersättliche Wissbegier. Der moderne Mensch schärfte sein Erkenntnisvermögen und suchte nach kantischer Wegweisung den „Ausweg aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. In der Logik der Rationalität wurde nunmehr nur das gesicherte, beweisbare, intersubjektiv übertragbare positive Wissen akzeptiert. Derart entdeckte man die Unterschiede zwischen glauben, wissen, ahnen, vermuten etc. und achtete auf die strikte Trennung von Wis-

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sen und Glauben. Beweisbarkeit, Begründungsfähigkeit und Korrekturoffenheit werden die Maximen des rational-positivistischen Denkens. Das europäische Projekt der „Rationalität“ entband grenzenlose Leidenschaften des Entdeckens und Erfindens, des Vermessens und Verbesserns, des Konstruierens und Missionierens  – und das alles in einer unumkehrbaren Entwicklungslogik: theoretisch immer abstrakter und universaler, praktisch immer höher und weiter, länger und intensiver. Und das alles wurde mit glänzenden weltgeschichtlichen Erfolgen gekrönt: in der systematischen Erforschung der Welt, mit Entdeckungen und Erfindungen verschafften sich die europäischen Staaten Reichtum, Kultur und Macht, die zur sukzessiven Eroberung resp. Kolonisierung und „Unterwerfung der Welt“3 führten. Der zeitgleich zunehmenden „Vermessung der Welt“4 (Zeitrechnung, Maßeinheiten etc.) folgten seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts bis heute eine immer weiter ausgreifende Ökonomisierung und permanente Optimierung nahezu aller Lebensbereiche. Derzeit erleben wir den ultimativen Triumph des menschlichen Machbarkeitsstrebens: die genetische Verbesserung des Menschen und die digitale Totalvermessung der Welt.5 Letzte Geheimnisse des Lebens werden über unendliche Datenreihen in Wahrscheinlichkeiten übersetzt, die das Leben der Menschheit immer berechenbarer werden lassen. Am Horizont winkt bereits eine künstliche Intelligenz, die den Menschen hinter sich lassen könnte. c) Merkmale des rational-modernen Staates In diesem geistesgeschichtlichen Umfeld und von diesem Geist geprägt entstand auch das moderne Denken von der res publica, das den modernen, säkularen wie souveränen Staat hervorbrachte. Die rationale Frage, warum denn überhaupt Staat sei, führte zur Legiti3  Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, 2016. 4  So der Titel des einschlägigen Romans von Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt, 2005. 5  Vgl. nur Yuval Noah Harari, Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen, 2017.



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mation des Staates aus einem Staatsvertrag (Thomas Hobbes). Alle Staatsattribute, so sie sich nicht rechtfertigen konnten, wurden nach und nach entsorgt und neu konstituiert: Gott wurde als nicht beweisbar säkularisiert und privatisiert; an seine Stelle wurde der Mensch mit seiner säkularisierten, aber unantastbaren „Menschenwürde“ (Art. 1 GG) inthronisiert. Das politische System wurde vom Monarchen auf das Individuum umbasiert (Volkssouveränität) und dieses mit demokratischer Mitwirkung‑ und grundrechtlicher Selbstbestimmungsfreiheit gekürt. Der Verlust der religiösen Wahrheit wurde durch die Umstellung der Entscheidungsfindung in ergebnisoffene Verfahren ersetzt: Legitimation durch Verfahren.6 Aus dem unwandelbaren und unanfechtbaren göttlichen Recht wurde so das relative, jederzeit änderbare positive Recht. Am Ende dieses Prozesses „von der traditionalen zur rationalen Herrschaft“ (Max Weber) steht der moderne, freiheitliche Verfassungsstaat. Und tatsächlich kann auch dieser eine beeindruckende Erfolgsgeschichte vorweisen. Fast alle Staaten dieser Welt verstehen sich heute – jedenfalls semantisch – als Verfassungsstaaten. Insbesondere das Grundgesetz gilt in Deutschland als unübersteigbare Krönung der politischen Kulturentwicklung der westlichen Welt und entwickelte sich zum ideellen Exportartikel der Republik. Doch wie alle Erfolgsgeschichten: Sie machen satt, selbstzufrieden, konservativ, innovationsskeptisch. Selbst Historiker suchen das Grundgesetz als die beste aller denkbaren Verfassungen unter Veränderungsschutz zu stellen:7 „Verweile doch, Du bist so schön“. 2. Zweckrationalismus als Prinzip Die Herrschaft der Zweckrationalität differenzierte die eine Welt alsbald aus in eine Vielzahl von „Welten“ mit je eigenen Systemrationalitäten: Politik, Wirtschaft, Kultur etc. In der Folge treten an die Stelle der Suprematie der Politik nur noch wechselseitige AbhängigNiklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 1969. Exemplarisch die Kontroverse: Andreas Wirsching, Westliche Demokratien sind bedroht, in: Süddeutsche Zeitung (SZ) v. 08.08.2016, vs. Patrick Bahners, Wir haben die Demokratie von unseren Lehrern nur geborgt, in: FAZ v. 09.08.2016. 6  7 

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keiten der Systeme, die keine Berechenbarkeit, sondern nur noch Kontingenz kennen, keine stabilisierende Mitte mehr (Heimat, Volk, Staat), sondern nur ein stetiges Neuarrangement der Kräfte. In den neuzeitlichen Staaten der Moderne führte dieser Prozess zu einer unaufhörlichen Optimierung der Systemleistungen, besonders augenfällig im Bereich der Ökonomie. Alsbald überwand das Denken in Zweckrationalitäten immer mehr auch die nationalen Grenzen: Der Multilateralismus machte die Welt zum Global Village und entband eine Global Economy. So ermöglichte etwa die EU als das politische Großprojekt Europas zur rationalen Selbstbehauptung in einer sich verändernden Welt mit ihren offenen, grenzenlosen Märkten maximale ökonomische Erfolge. Kurz: In dem Maße, in dem sich die Welt ausdifferenziert, suchen die Staaten aus rationalen Gründen nach neuen kollektiven Formationen ihrer Selbstbehauptung: Zunächst wirtschaftlich, technologisch, militärisch, kommunikativ  – aber auch eingebettet und getragen von gemeinsamen kulturellen Grundlagen? 3. Grenzenloser Individualismus Im Zeitalter des Rationalismus wurde das Individuum  – das „Ich“ – zum zentralen Baustein der theoretischen Welterfassung. Das fragende „Ich“ verwandelt alles Bestehende, Verbindliche, Vorgegebene und Selbstverständliche in Fragen: das „Normale“ wird fraglich, unnormal, zerbröselt, weil alles in Frage gestellt werden kann und wird. Historisch emanzipierte sich derart das Individuum von kirchlicher Bevormundung (Religionsfreiheit), von Zünften (Berufs‑ und Eigentumsfreiheit), und großfamiliären Bindungen, um sich schließlich in einer „Gesellschaft der Singularitäten“8 wiederzufinden. Selbst Sprache und Recht verlieren ihre stabilisierende Funktion: sie werden als freiheitsfeindliche Konstruktion „dekonstruiert“ und als performative Akte diskreditiert. Das Konventionelle und Normale darf es nicht mehr geben, weil es nur als Konstruktion existiere, folglich dekonstruiert werden müsse, um alles neu, besser, erfolgreicher rekonstruieren zu können. Das alles rührt an den Grundfesten 8  Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, 2017.



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der repräsentativen Demokratie, weil sich eine „Gesellschaft der Singularitäten“ nicht repräsentieren lässt. Zudem verliert die Staatsform der Demokratie im Internetzeitalter ihren konstitutiven Bezugsrahmen zum „Volk“. Der Prozess der öffentlichen Meinungsbildung verliert in Zeiten von „sozialen Medien“ mit ihren „alternativen Fakten“ seine Voraussetzungen und lässt demokratische Legitimität zunehmend erodieren.9 Konsequenz dieser elenden, nicht enden wollenden Hinterfragerei: Es gibt immer weniger subjektübergreifende Identitäten, immer weniger Gemeinschaften, Normalitäten und Selbstverständlichkeiten, die Orientierung schaffen könnten, die nicht in Frage gestellt werden und an denen man sich festhalten kann. Vielmehr ist alles gleichwertig und allenfalls „contradictio in adjecto“ – der je aktuelle Zufallskonsens kann kurzzeitig Bestand haben. Der neuzeitliche Individualismus führt derart in eine „Gesellschaft der Einzelgänger“, in eine Welt der totalen Entfremdung, des einsamen, auf sich gestellten Individuums ohne kulturelle, Gemeinschaftlichkeit stiftende Grundlagen. Vereinzelung und Orientierungslosigkeit führen nicht nur zu Ängsten, sondern mehr noch zu Fluchtbewegungen in neue Unterwerfungen oder in Ablenkungen aller Art: panem et circenses. Doch im Hintergrund lauert latent die existentielle Frage: wer bin ich? Wer sind wir? Gibt es noch kulturelle Grundlagen und Gemeinsamkeiten, die ich bei anderen ungefragt voraussetzen, auf die ich vertrauen kann? III. Die uralte-neue Sehnsucht nach „Heimat“ 1. „Heimat“  – Ubi patria, ibi bene a) Sehnsucht nach dem Vertrauten Entgrenzungsprozesse schaffen nicht nur neue Spielräume für Freiheit, sondern werden regelmäßig begleitet von Ängsten. Schon vor über 100 Jahren hat der Soziologe Ferdinand Tönnies den neu9  Vincent F. Hendricks/Mads Vestergaard, Verlorene Wirklichkeit? An der Schwelle zur postfaktischen Demokratie, APuZ 13/2017.

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zeitlichen Prozess vom Verlust ungefragter Geborgenheit in Staat und Familie zu allein zweckrational organisierter Lebensführung beschrieben und begrifflich auf die Gegenüberstellung von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ gebracht.10 Gemeinschaft bezeichnet für ihn das selbstzweckhaft Gegebene (u. a. Volk, Staat, Familie), das Sicherheit in der Kontingenz des Lebens gewährleistet. Im Gegensatz steht der Zwang, sich als isoliertes Individuum in Freiheit interessensgeleitet stets neu erfinden zu müssen („lebenslanges Lernen“), um sich in steter Konkurrenz bewähren zu können, aber auch zu müssen. Ähnlich hat der Philosoph und Sozialpsychologe Erich Fromm diesen Befund beschrieben:11 Danach habe der moderne Mensch sich zwar von den Fesseln der vorindividualistischen Gesellschaft befreit, die ihm zwar ziemlich rigide Grenzen setzte, doch gleichzeitig Sicherheit gab. Doch er habe noch nicht die Freiheit  – verstanden als positive Verwirklichung seines individuellen Selbst  – errungen. Die Freiheit habe ihm zwar Unabhängigkeit und Rationalität ermöglicht, ihn aber auch isoliert, atomisiert und dabei ängstlich und ohnmächtig gemacht. Diese Isolierung kann der Mensch nicht ertragen. Er sieht sich daher vor die Alternative gestellt, entweder der Last seiner Freiheit zu entfliehen und sich aufs Neue bewusst in neue Abhängigkeit und Unterwerfung zu begeben oder voranzuschreiten zur vollen Verwirklichung jener positiven Freiheit, die sich auf die Einzigartigkeit und Individualität des Menschen gründet“.12 Diese Prognose scheint im Kern zutreffend und lässt sich heute anschaulich aufzeigen und bestätigen: Das optimistische Voranschreiten zur vollen Verwirklichung individueller Einzigartigkeit, Unabhängigkeit und Rationalität wurde zum Signum der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch der erwartete Preis zeigt sich allenthalben: Der Individualismus zeitigte gleichzeitig immer mehr isolierte und atomisierte Singularitäten, die sich ängstlich und ohnmächtig zeigen. Und weil der Mensch diese Isolierung auf Dauer Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 8.Aufl. 1938. Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, 1941. 12  Sehr deutlich ist in diesem Plädoyer die Zielrichtung der individuellen Selbstverwirklichung erkennbar: wir müssen die künftigen Herausforderungen der persönlichen Freiheit des Einzelnen bewältigen. Alles andere wäre gesellschaftspolitische Regression, Rückschritt statt Fortschritt. 10  11 



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nicht ertragen kann, mehren sich die Indikatoren für eine Rückbesinnung resp. eine neue Sehnsucht nach Gemeinschaft und Aufgehoben-Sein. Das Stichwort für die Frage der kollektiven Vertrautheit lautet Identität.13 Lebensweltlich zeigt sich dieses Bedürfnis u. a. in dem weite Teile der Bevölkerung umfassenden Gefühl des Nichtdazu-Gehörens und des Abgehängt-Seins, dessen politischer Ausdruck der sog. Populismus ist.14 Auch die aktuelle Frage nach den „kulturellen Grundlagen“ der EU ist Indikator für diese neue kollektive Gefühlslage. Sie stellt die Frage nach jenen Gemeinsamkeiten, die nicht im rationalen Diskurs zweckrational und vergänglich und daher jeden Tag neu zu erarbeiten und auf (relative) Dauer gestellt werden können, sondern fragt nach den historisch gewachsen, dafür relativ stabilen Selbstverständlichkeiten, die den fraglosen Hintergrund des kollektiven Zusammenlebens bilden können,15 auf die man sich ungeachtet aller Differenzen verlassen kann. Ein Indiz für diesen Umschlag vom selbstbewussten zum ängstlichen Kollektiv ist das zunehmende Klammern an das noch Bestehende, die Musealisierung allen erreichten Fortschritts in dem naiven Glauben, ihn derart auf Dauer stellen zu können. In der Folge wird fast nichts mehr grundsätzlich hinterfragt: Alles soll so bleiben, wie es ist. Könnte in dieser Musealisierung die Sehnsucht nach gemeinsamen kulturelle Grundlagen zum Ausdruck kommen, weil man ahnt, dass die Zeit der freiheitlichen Verfassungsstaaten zu Ende gehen könnte, da die historisch wirkmächtigen kulturellen Grundlagen in einen amorphen, strukturlosen Zustand übergehen und die Kräfte der atomistischen, grenzenlosen Freiheiten selbstzerstörend wirken könnten? Oder provokanter formuliert: Dass Putin mit seiner Prognose Recht haben könnte?

13  Dazu nunmehr Francis Fukuyama, Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, 2019. 14  Zur Analyse des Phänomens: Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen, 2019, S. 268 ff. 15  Joachim Gauck, Toleranz. Einfach schwer, 2019, S. 81 ff., 87.

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b) Das Wort „Heimat“ als Indikator Ein Indiz für das Bedürfnis nach kultureller Vergewisserung lässt sich gegenwärtig am Beispiel eines rhetorischen Sprachwandels beobachten: An die Stelle der lange Zeit ostentativ betonten „Weltoffenheit“ tritt zunehmend der Begriff der „Heimat“. Vor Jahren noch herablassend bespöttelt, ist er heute Teil  des Namens eines Bundesministeriums und wird sogar von Parteien des eher linken Spektrums aufgegriffen: „Wir lieben dieses Land, das ist unsere Heimat, und diese Heimat spaltet man nicht“ (Kathrin Göring-Eckardt). Wenn auch noch für das Wort „Vaterland“ (Helmut Kohl) etwas anderes gelten dürfte, so zeigt sich in diesem Sprachwandel unübersehbar ein Kontrapunkt zur gesellschaftlichen Entwicklungslinie zu immer mehr Rationalität, Entgrenzung und Globalisierung. Jedenfalls werden darin elementare Bedürfnisse, Ängste, Befindlichkeiten des Bürgers erkennbar, die sich rationaler Aufhebung trotzig widersetzen. Wie dem auch sei: Ängste und Gefühle der Bürger sind für die Politik „Tatsachen“, auf die sie reagieren muss. c) Was aber ist „Heimat“? Sicherlich: Zunächst einmal ist der Heimatbegriff heute eine noch undeutliche „Chiffre“ für ein Unbehagen, für eine Sehnsucht nach den kulturellen Grundlagen eines Gemeinwesens, für das, was eine „Gemeinschaft“ im Innersten, oftmals unbewusst, zusammenhalten kann, das kollektives Selbstbewusstsein vermittelt, das geeignet ist, die Herausforderungen in unübersichtlichen Zeiten zu bestehen.16 In diese kulturellen Grundlagen können unverfügbare Traditionen ebenso eingehen wie das kulturelle Gedächtnis des Volkes, die Sprache ebenso wie das Bewusstsein von Identität in Zeit und Raum. „Heimat“ ist gleichsam die Antwort auf die Suche nach dem Ort des unbedingt Guten, des Aufgehoben-Seins in Gemeinschaft mit Seinesgleichen. Dieses Gefühl der Heimat, des Vaterlandes kleidete 16  Vgl. näher Otto Depenheuer, Nationale Identität und europäische Gemeinschaft. Grundbedingungen politischer Gemeinschaftsbildung, in: Buchstab/Uertz (Hrsg.), Nationale Identität im vereinten Europa, 2006, S.  55 ff.



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Cicero in die bekannten Worte (Tusc. 5, 37): Patria est, ubicumque bene. Daraus wurde später der römische Spruch: Ubi patria, ibi bene. Damit ist die Frage vorformuliert: Was kann in heutiger Zeit den Bezugsrahmen für Integration, Frieden, für Kompromiss, für Solidarität material fundieren? Die Geschichte bietet uns insoweit ein kleines Tableau an möglichen Antworten: 2. Haltgebende Grundlagen im Prozess der Rationalisierung Parallel zu dem soeben skizzenhaft dargestellten Prozess der Rationalisierung und Individualisierung lassen sich in historischer Perspektive drei kulturelle Potenzen ausmachen, die den Prozess der Rationalisierung der Lebensverhältnisse begleitet haben und in denen die Sehnsucht nach „Heimat“ einen  – jedenfalls vorübergehend  – stabilisierenden Fokus fand. Diese kompensatorisch wirkenden „Herkunftsmächte“ (Hermann Lübbe) bilden gleichsam Kontrapunkte zu den Individualisierungs‑ und Rationalisierungsprozessen der Neuzeit und geben die Antwort auf die Fragen: Wo findet der Mensch noch fraglose Geborgenheit? Worin besteht die Substanz politischer Einheit im Staat, die wechselseitige Einstandspflichten und Umverteilungswirkungen begründen können?17 Wo also liegen die Voraussetzungen, die der freiheitlich-rationale Staat  – aus rationalen Gründen  – voraussetzen muss, weil er sie selbst nicht hervorbringen kann?18 a) Religion Die Antwort auf diese Frage fand Böckenförde in den religiös fundierten Werthaltungen der Bürger. Tatsächlich war die Religion auch nach der Glaubensspaltung noch lange, bis Ende des 19. Jahrhunderts, eine kaum wegzudenkende stabilisierende Kraft im Binnenbe17  Näher Otto Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat, 2. Aufl. 2016, S.  191 ff., 275 ff. 18  So die Formulierung von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Böckenförde (Hrsg.), Säkularisation und Utopie. Ebracher Studien. Festschrift für Ernst Forsthoff zum 65.  Geburtstag, 1967, S. 75 ff.

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reich des Staates. Doch hat sich seither die individuelle Religionsfreiheit immer weiter entfaltet. Heute bestimmt das souveräne Individuum, ob, woran und wie es glaubt. Der im 19. Jahrhundert einsetzende, im 20. Jahrhundert schon breiter werdende Prozess der Entchristlichung in Europa führt mittlerweile zu einer unübersehbaren Erosion der ehemaligen Volkskirchen. Kollektive Formationen der Wirklichkeitsbewältigung durch Transzendenzanspruch können gegenwärtig kaum mehr als politisch wirksame Stabilisierungsfaktoren gelten. Die christlichen Volkskirchen als Verkörperungen moralischer Orientierung, als zeitlose und stabile Garanten relativ homogener Werthaltungen, als Medien stabiler Gemeinschaften haben qualitativ wie quantitativ weithin abgedankt. Regenerationstendenzen sind in historischer Perspektive natürlich denkbar, aber auf mittlerer Frist gegenwärtig nicht ansatzweise erkennbar. Die politische Wirkungslosigkeit christlicher Prägung des Abendlandes hätte kaum deutlicher ausfallen können als in einer kleinen Episode im Zuge der Debatte um eine europäische Verfassung 2003/04: Der dort gescheiterte Kampf um einen direkten Gottesbezug in der nicht zustandegekommenen EU-Verfassung19 signalisiert dies ebenso wie die beschämende Ablehnung des italienischen Politikers und bekennenden Katholiken Rocco Buttiglione als EU-Kommissar allein wegen dessen (katholischen) Ansichten über Homosexuelle und zur Stellung der Frau in der Gesellschaft im Rahmen des förmlichen Bestellungsverfahrens. Pikanterweise wird Europa nur noch aus der Außenperspektive als „Christenclub“ (Erdogan) identifiziert, während es selbst davon immer weniger etwas wissen will. Fazit: Religion war historisch und könnte theoretisch auch heute ein Widerlager zur durchrationalisierten modernen Welt sein, praktisch aber hat sie diese Rolle in Europa zunehmend und möglicherweise unwiderruflich verloren.

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Näher: Gregor Waschinski, Gott in die Verfassung?, 2007.



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b) Nation als Schicksal Politisch haben die christlichen Religionen also mit dem Ende des Heiligen Reiches 1806 ihre Rolle als Katalysator politischer Einheitsbildung nach und nach verloren. Die vakante Stelle wurde jedoch alsbald mit der Ausbildung des Nationalstaates erfolgreich wiederbesetzt. Der Nationalstaat war die politisch verbreitete Antwort auf die politische Neutralisierung der Religion. Dabei hatte es Deutschland im Unterschied zu Frankreich etwas schwerer, dieses „Lebensgefühl der Zeit“ politisch auszubuchstabieren, wie es symptomatisch ErnstMoritz Arndt in seiner berühmt gewordenen rhetorischen Frage zum Ausdruck brachte: „Was ist des Deutschen Vaterland“? Das Geheimnis dieser neuen geistigen Macht lag in seiner kompensatorischen Funktion, mit der sie den Prozess der Rationalisierung des Politischen ebenso wie des Ökonomischen begleitete und kompensierte. Anknüpfungspunkte bildeten neben der Geschichte des alten Reiches insbesondere die deutsche Sprache und das Selbstverständnis als „Volk der Dichter und Denker“.20 Die Nationalbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann man als Erfolgsgeschichte lesen, nicht zuletzt deshalb, weil erst die Nationalstaatsbildung den Weg zur Demokratisierung des Staates ebnete: Referenzsubjekt der Staatswillensbildung wurde nämlich immer mehr und unaufhaltsam das Volk. Die Nationalbewegung brachte durch ihre Worte, Taten, Gedichte und Aufzüge jenes Bild von Deutschland hervor, das zwar nicht immer historisch richtig, aber politisch äußerst wirksam war. Insgesamt ein gelungenes Beispiel der Findung, Erfindung und Ausschmückung eines realen und politisch wirkmächtigen kollektiven Gemeinschaftsgefühls. Gegenwärtig ist schon das Wort „Nation“ in Deutschland nach wie vor kontaminiert, „vergiftet“ und löst Verkrampfungen allenthalben aus. Die nahezu totale Erosion des politischen Denkens in der Kategorie des Nationalen ist natürlich als Teil  der Reaktion auf das Dritte Reich und dessen „totale Kapitulation“ zu verstehen: poli20  Vgl. Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat (Anm. 17), 328 ff.; auch Hermann Lübbe, Abschied vom Superstaat, 1994, S. 39 ff., 87 f.

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tisch, wirtschaftlich, moralisch. Schon der Gebrauch des Wortes „Vaterland“, das Schwenken der Nationalflagge kann politisch gefährlich werden. Das neue Deutschland versuchte denn auch von Anbeginn und verständlicherweise seine desavouierte nationale Identität durch eine europäische Identität zu ersetzen. Kaum ein Land, das offiziell europabegeisterter ist als Deutschland, das am liebsten lieber heute als morgen die „Vereinigten Staaten von Europa“ proklamierte. Immerhin ist dieses Staatsziel bereits in der Verfassung vorgezeichnet. Nur stößt sich die europäische Vision an den harten Realitäten: Die Schaffung einer europäischen Verfassung ist ebenso gescheitert, wie die Schaffung eines demokratisch erforderlichen gemeinsamen Kommunikationsraumes nicht ansatzweise absehbar ist. An diesem Befund werden auch die eingangs zitierten Slogans zur letzten EU-Wahl nichts ändern. Die typisch deutsche Europaeuphorie wird bei unseren europäischen Freunden zunehmend als verkappter Nationalismus im Gewande der Europaphilie empfunden. Jedenfalls dürfte die These einiges für sich haben: Deutschland weiß als politisches Gebilde bis heute nicht, was es ohne Europa wäre oder auch nur sein könnte. Was kaum einer zu sagen wagt: Mit seiner „Nationalstaatsvergessenheit“ ist Deutschland unmerklich schon wieder auf einem „typisch deutschen“ Sonderweg unterwegs. Unsere Nachbarn kennen für sich nicht mal das Problem der Nationsvergessenheit. Dies ist vor allem deswegen bemerkenswert, weil derzeit in den freiheitlichen Verfassungsstaaten des Westens, insbesondere auch in der EU, mächtige Bewegungen unterwegs sind, die zwar als populistisch (dis‑) qualifiziert werden, aber aus objektiver Perspektive nichts anderes sind als Ausdruck eines (Wieder‑)Erstarkens des National­gefühls:21 „America first“ ist nicht auf Amerika beschränkt, sondern überzieht immer mehr Staaten innerhalb der EU: in den skandinavischen, osteuropäischen Staaten ebenso wie in Italien und Frankreich. Signifikantester Ausdruck ist der Slogan im Kontext des britischen Austrittsreferendums zum Brexit: „Take back Control“. Diese unübersehbaren Entwicklungen als eine Abkehr vom Multilateralismus im Namen eines unilateralen Nationalismus zu interpre21 

Ebenso Lübbe, Abschied vom Superstaat (Anm. 20), 31 ff.



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tieren, ist mehr als nur naheliegend. Auch in Deutschland bahnt sich diese Wende an, freilich mit historisch bedingt vorsichtigerer Begrifflichkeit: „Heimat“. Und die Stimmen werden lauter und prominenter, die  – so wie zum Beispiel der frühere Bundespräsident Joachim Gauck  – ein Plädoyer für einen „gesunden“ Nationalismus ablegen. „Aus Furcht vor Nationalismus nationale Prägungen nicht mehr zu akzeptieren oder automatisch zu verdächtigen, schieße nicht nur über das Ziel hinaus. So kann aus einer guten pädagogischen Absicht, aus einer positiven Selbstkritik auch so etwas wie neurotische Feindschaft gegen das Eigene werden.“22 Andernfalls blieben viele Menschen heimatlos, und das könnte ziemlich unangenehme politische Folgen haben. Das Plädoyer für einen „gesunden“ Nationalismus (Gauck) oder einen „Selbstbehauptungsnationalismus“ (Lübbe), ist schon deswegen alternativlos, als sich die EU als Solidargemeinschaft nur als Derivat nationaler Solidargemeinschaften wird behaupten können. Die EU wird ein „Europa der Vaterländer“ (Charles de Gaulle) sein müssen oder sie wird scheitern. Tatsächlich könnte die Idee nationaler Identität als notwendiger Katalysator der europäischen Einheit und Moderator des Tempos seiner Einheitsbildung vor einer Renaissance stehen.23 c) Demokratie? Wenn Religion nicht mehr, der Nationalismus jedenfalls in Deutschland kaum noch den Kontrapunkt zur Rationalität des Ökonomischen bereitzustellen vermag, so könnte eine weitere Errungenschaft des modernen Staates helfen, diese Lücke zu schließen: die moderne Demokratie. Obschon selbst ein Derivat von Individualismus und Rationalismus, bildet diese gleichwohl doch auch eine Antwort auf das Problem der Kontingenzbewältigung: Sie macht die Veränderungen, die Suche nach Neuem etc. zum Modus der Selbstregulierung aller Bürger. Während man ändert, bleibt man bei sich: Identität in und durch Wandel  – das ist das Geheimnis der Demo22  23 

Gauck, Toleranz (Anm. 15), 114. Lübbe, Abschied vom Superstaat (Anm. 20), 123 ff.

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kratie. Pathetischer formulierte Thomas Mann diesen Sachverhalt zu Beginn der zwanziger Jahre: „In unsere Hände ist er gelegt, in die jedes einzelnen; er ist unsere Sache geworden, die wir gut zu machen haben, und das eben ist die Republik.“24 Dass ohne die Bürger im wahrsten Sinne des Wortes kein Staat zu machen ist, gilt insbesondere für die freiheitliche Demokratie. In ihr wirken die Bürger als Größe eigenen Rechts und eigenen Urteils in der Politik mit, „muss sich […] die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen hin vollziehen“. Der Verfassungsstaat kann freilich nur gelingen, wenn die Bürger die ihnen angebotenen Rechte auch annehmen, verantwortungsvoll ausüben und nicht als Freiheit zum „Spaß und Vergnügen“ verstehen. Der Verwiesenheit der Republik auf ihre Bürger korrespondiert die Verantwortung eines jeden Bürgers für „seinen“ Staat, weshalb „ihr [sc. der Republik] anderer Name lautet[:] Verantwortlichkeit“. Aus dieser Perspektive ist staatsbürgerliches Engagement „schlechthin konstituierend“ für den demokratischen Verfassungsstaat: „Der Staat lebt […] von einem Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt.“25 Oder prägnanter: „Wir (sc. die Bürger) sind der Staat“ (Th. Mann). Demokratie ist in diesem Sinne also nicht in erster Linie ein Modus der Entscheidungsfindung, sondern vor allem ein Angebot zur Identifikation aller Bürger mit ihrem Staat durch ihr Mitwirken bei der Ausbildung kollektiver Identität.26 Das setzt freilich voraus, dass auch alle Bürger mit ihren Anliegen repräsentiert werden resp. sich repräsentiert fühlen. Wenngleich die demokratische Staatsform in Deutschland nunmehr 70 Jahre im Ganzen betrachtet sehr erfolgreich gelebt wurde, hat sich in den letzten Jahrzehnten wie in vielen anderen Ländern der westlichen Staatenwelt auch in Deutschland eine nicht ungefährliche Repräsentationslücke gebildet, deren notwendige Schließung derzeit – zumeist unausgesprochen – das politische Verhalten bestimmt. Insgesamt kann man im Rückblick für die Thomas Mann, Von deutscher Republik, 1923, S. 15. So – in enger Anlehnung an Ernest Renan – Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., 1968, S. 136. 26  Näher: Otto Depenheuer, Bürgerverantwortung im demokratischen Verfassungsstaat, VVDStRl 55 (1996), S. 92 (109 ff.). 24  25 



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Bundesrepublik Deutschland jedoch feststellen, dass die gelebte Demokratie die solidarspendende Kraft von Religion und Nation bislang weithin kompensiert hat. Doch eine Frage stellt sich: Gilt diese Aussage auch für multilaterale Formationen wie die EU? Kann Demokratie hier überhaupt eine Solidaritätswirkung erzeugen? Im Zeitalter eines fortgeschrittenen und technokratischen Multilateralismus stellt sich also die sehr grundsätzliche Frage, ob Demokratie auch „Heimat“ bilden resp. ersetzen kann. Sind multilaterale Organisationen wie die EU im Kern überhaupt demokratiekompatibel? IV. Europäische Demokratie im Zeitalter des Multilateralismus? Demokratie ist ein Modus der Legitimation von Entscheidungen. Da es absolute, von allen Bürgern geteilte Wahrheiten bzw. Wahrheitsrepräsentanten nicht mehr geben kann, entscheidet das Volk über seine Angelegenheiten. In diesem Sinne demokratisch legitimierte Entscheidungen müssen nicht „richtig“ sein, dafür aber muss das Volk mit den Folgen seiner Entscheidungen leben, d. h. die Konsequenzen ertragen. Doch das bedeutet auch: Wenn die Konnexität zwischen dem Entscheiden der gewählten Repräsentanten und der Legitimation durch die Wähler durchbrochen wird, dann wird aus Selbstbestimmung  – ganz oder teilweise  – Fremdbestimmung. Dann wird es früher oder später erst zu Akzeptanz‑ und sodann zu Legitimationsproblemen kommen müssen. Das gilt insbesondere dann, wenn diese Probleme nicht (mehr) mit viel Geld narkotisiert, das Gefühl der Fremdbestimmung also nicht mehr kompensiert und damit auch nicht noch mehr Zeit (zur Problemlösung) „gekauft“ werden kann.

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1. Die EU vor der Frage ihrer Legitimation Unübersehbar befinden sich die EU und zahlreiche ihrer Mitgliedsstaaten derzeit politisch in einem fragiler werdenden Zustand.27 Die grundlegenden Gründe für die Europäische Union sind zwar auch heute noch aktuell und plausibel: Der europäischen Agenda ging es von Anfang an um Frieden, Versöhnung und Zusammenarbeit. Und weil diese Zielsetzungen immer noch überzeugend sind, können sie das verbreitete Unbehagen nicht erklären. Ein Ansatzpunkt für die Erklärung der Krise könnte sein, dass die Europäische Union im Wesentlichen als eine eher technisch-ökonomische Angelegenheit konstruiert wurde, für die sich die Menschen nicht interessieren mussten (und sollten). Über Jahrzehnte herrschte insoweit tatsächlich ein „permissiver Konsens“ mit der Folge, dass die europäische Integration sich weithin hinter dem Rücken ihrer Bürger vollziehen konnte. Doch je dichter das Netz der europäischen Regelungswerke und Politikagenden geknüpft wurde, je mehr diese für die Bürger unmittelbar verbindliche Wirkungen zeitigten, desto dringlicher stellte sich die Frage nach der demokratischen Legitimation dieser Entscheidungen. Nunmehr rächte es sich, dass es eine effektive und wahrnehmbare demokratische Rückkopplung nie gegeben hat. Mittlerweile spüren viele Bürger immer klarer, dass und wie die EU unmittelbar und tief in ihr Leben eingreift (Negativzinsen, Fahrverbote etc.), ohne dass es darüber eine demokratische „europäische“ Diskussion gab. In der Folge fühlen die Bürger sich „nicht mehr mitgenommen“ und fordern zunehmend Transparenz und Mitsprache. Das berüchtigte Demokratiedefizit wird erkennbar und zeitigt inzwischen immer deutlicher negative emotionale Wirkungen. Immer mehr wird die Europäische Union mit ihren derzeit 28 Staaten, mit ihren zwei Legitimationsquellen (Rat und Parlament), mit ihren 24 Amtssprachen, mit ihren Ratsformationen, Komitees und Kommissionen als eine zwar stark formierte, aber auch freiheitsgefährdende Technokratie wahrgenommen. Das liegt sicherlich zum Teil  an den bestehenden Sachzwängen und den daraus folgenden intransparenten, weithin alternativlosen Entscheidungsverfahren. 27  Zum Folgenden: Eckart Stratenschulte, Die EU ist heute nötiger denn je, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) v. 25.08.2019, S. 6.



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Tatsächlich ist die EU zu einer hochkomplexen Verhandlungsmaschine geworden, die Kontroversen durch Kompromisse und Blockaden durch Belohnungen (Geld) löst. In Gestalt von „package deals“ werden Dinge zusammengebunden, die nichts miteinander zu tun haben. All das braucht viel Zeit und verträgt wenig Öffentlichkeit. Müssen Probleme dann auch noch schnell gelöst werden, wird die Macht der europäischen Exekutive übermächtig, der sich die nationalen Regierungen nolens volens beugen müssen. So musste beispielsweise im Zuge der Eurokrise in einer Sonntagsnacht eine Lösung gefunden werden, bevor am Montagmorgen in Tokio die Börse öffnete. In solchen Situationen sind wirkliche Verhandlungen kaum möglich und demokratische Transparenz nicht herzustellen. Im Ergebnis bedeutet der europäische Multilateralismus de facto das Leerlaufen der Demokratie schon aus Gründen der Funktionalität. Hinzu kommt die leidige Praxis, nationale Probleme über die EUSchiene zu lancieren, weil man so national schneller ans Ziel kommt. In Ansehung dieses Befundes könnte man meinen, dass die EU eben etwas mehr demokratisiert werden müsse, wie es ja auch in zahlreichen Sonntagsreden gefordert wird, durch das europäische Parlament institutionell ins Werk gesetzt wurde, in regelmäßigen Wahlen und in Gestalt von „Spitzenkandidaten“ suggeriert wird. Doch das erweist sich weithin als Camouflage: Es gibt eine für die Demokratisierung der EU unabdingbar erforderliche europäische öffentliche Meinung ebensowenig wie ein europäisches Volk. 2. Theoretische und praktische Probleme multilateraler Demokratie Tatsächlich erweist sich das Problem aber als noch grundsätzlicher. Zeitdruck und Problemdruck existieren im Einzugsbereich des Politischen regelmäßig. Damit kann man das demokratische Leerlaufen des politischen Prozesses im Einzelfall camouflieren, aber nicht im Grundsatz überzeugend begründen und rechtfertigen. Könnte es stattdessen nicht sein, dass die Entdemokratisierung als Folge des Multilateralismus in der Sache unausweichlich ist, dass die EU aus der Natur der Sache heraus demokratieinkompatibel ist? Stehen also Multilateralismus und Demokratie als unvereinbare Größen nebeneinander? Ist das vielbeschworene Demokratiedefizit der EU system-

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immanent und müssen alle Versuche, es zu beheben, aus der Natur der Sache vergeblich sein, nur dass man „vergessen“ hat, den Völkern diesen Preis des Multilateralismus zu sagen? Zwar lautet das europäische Narrativ, dass die EU als Verfassungsstaat funktionieren sollte wie in den Mitgliedsstaaten: Europaparlament, Parteien, Wahlen, Spitzenkandidaten. Doch ganz entgegen dieser Intention ist die europäische Demokratie noch nie bei den Bürgern angekommen. Tatsächlich hat sich im Sinne dieser Befürchtungen in den letzten Jahrzehnten die EU zunehmend als ein liberalautoritäres Regime etabliert.28 Die Durchsetzung europäischer Agenden erfolgt immer mehr ohne oder gar gegen den erkennbaren Willen der Bevölkerungen in den Mitgliedsstaaten: Wesentliche Politikbereiche sind der nationalen Einflussnahme entzogen, und die europäischen Entscheidungsprozesse vollziehen sich weitab, unsichtbar, ohne öffentliche Kommunikation auf europäischer Ebene. Zudem sind zentrale Politikfelder der EU schon im Primärrecht geregelt, haben dadurch gleichsam Verfassungsrang erhalten, sind also weithin sakrosankt und der demokratischen Diskussion faktisch weithin entzogen. Europäische Kommission und Europäische Zentralbank pflegen zudem ihre Kompetenzen expansiv auszulegen, die überaus integrationsfreundliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs („effet utile“) hat immer mehr Politikfelder der Gesetzgebung, aber auch dem Verwaltungshandeln den Nationalstaaten nahezu ohne Gegenwehr entzogen. Während sich die europäischen Institutionen also immer mehr zu gestaltungsmächtigeren und immer gestaltungswilligeren Institutionen entwickelt haben, ist es ihnen gleichzeitig gelungen, sich demokratischer Einflussnahme weitestgehend zu entziehen. Nicht zu bestreiten ist jedenfalls: In dem Maße, in dem die europäische Ebene den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten und ihrer demokratisch legitimierten Parlamente und Regierungen beschränkt hat, ist es zu einem Verlust an demokratischer Gestaltungsmacht in den Mitgliedsstaaten gekommen. Die Nationen haben keine Kompetenzen mehr und die EU entzieht sich demokratischen Beschränkungen. 28 

S. 84.

Vgl. Dirk Jörke, (Supra)Nationales Europa, Merkur 2019, Heft 843,



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Doch in dem Maße, wie Regulierungsvorschriften, Verbots‑ und Gebotsbestimmungen, Umverteilungseffekte für die Bürger immer mehr spürbar werden, wird das demokratische Defizit auf europäischer Ebene immer spürbarer. Widerstände bauen sich subkutan auf. EURO‑ und Flüchtlingskrise haben denn auch mehr Brüche als Konsens innerhalb der Gemeinschaft offenbart mit dem Ergebnis, dass die Europäische Union gegenwärtig weit entfernt davon ist, eine politische Gemeinschaft zu sein. Sie beruht auf den gleichgerichteten Interessen ihrer Mitgliedsländer, nicht aber im selbstbestimmten Willen eines europäischen Staatsvolks. Auf EU-Ebene besteht kein gemeinsamer Kommunikations‑ und Bedeutungsraum, der eine „öffentliche Meinung“ tragen könnte. Eine „europäische Identität“ zirkuliert allenfalls in akademischen Milieus und die Wahlen zum Europäischen Parlament sind größtenteils durch nationalstaatliche Wahrnehmungsmuster geprägt.29 Fazit: die Demokratie ist in Europa „liberal entgleist“ (Dirk Jörke). Frage: Kann man diese Defizite beheben? Darüber hat man schon lange nachgedacht und kann man noch viel länger diskutieren. Aber was eine Diskussion über Demokratiedefizite im Ansatz belasten könnte, wäre die Erkenntnis, dass diese Demokratiedefizite nicht etwa unbeabsichtigte Kollateralschäden einer großartigen Idee – der 29  Historisches Beispiel: Schon die amerikanische Verfassungsdiskussion im späten 18. Jahrhundert hatte ein vergleichbares Problem gesehen und diskutiert. Aufgabe der neuen Verfassung von 1787 sollte es sein, sowohl die unterschiedlichen ökonomischen Strukturen als auch die ausgeprägten Mentalitätsunterschiede zwischen den Republiken des Nordens und denen des Südens im Sinn zu vermitteln. Die sog. Anti-Federalists sprachen sich gegen eine Vereinigung aus. Ihre Begründung: die erheblichen Interessensgegensätze auf der einen Seite und die Nichtexistenz einer gemeinsamen politischen Kultur auf der anderen stünden dem entgegen. Ebenso wie heute auf EUEbene gebe es kein multilaterales Volk, das repräsentiert werden konnte, oder das die Macht habe, seine Repräsentation zu erzwingen. Zudem befürchteten die Anti-Federalists eine beträchtliche Abschwächung demokratischer Einflussnahme als Folge des größer werdenden politischen Raums: Die politischen Eliten würden sich nicht nur deutlicher von der Mehrheit der Bürger unterscheiden und sich im fernen Philadelphia auch weniger leicht kontrollieren lassen. Das Resultat könnten despotische Verhältnisse sein. Vgl. dazu näher: Jörke, (Supra)Nationales Europa (Anm. 28), 83 ff.; ders., Die Größe der Demokratie. Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation, 2019.

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Vereinigung Europas  – sind, sondern dass sie aus der Natur der Sache unabänderlich sein könnte. 3. Die Europäische Union als technokratisches Konstrukt Denn das, was heute auf EU-Ebene realisiert wird, haben sich Theoretiker der Technokratie bereits in den späten 30er-Jahren ausgedacht. 1939 publizierte kein geringerer als Friedrich von Hayek unter dem Titel „The Economic Conditions of Interstate Federalism“30 einen Beitrag, der sich 80 Jahre später wie eine Blaupause für die soeben skizzierte Entwicklung der heutigen EU liest.31 Damit ist nicht gesagt, dass Hayek ein Konzept für eine künftige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) vorgelegt hat. Ebensowenig soll hiermit suggeriert werden, dass die Gründungsväter der EWG Hayeks Konzepts vor Augen hatten, als sie die Idee eines vereinten Europas angingen. Gleichwohl lässt sich ein ideengeschichtlicher Bogen von Hayeks Ideen vor 80 Jahren und den gegenwärtigen Legitimationsproblemen der EU ziehen. Seine scharfsinnige Analyse erlaubt nämlich, die vorgenannten Probleme der EU in ihrer Logik zu erkennen, den möglichen Handlungsspielraum der Politik zu deren Behebung aufzuzeigen und deren Wahrscheinlichkeit abzuschätzen. Der Aufsatz Hayeks beschäftigt sich mit der Frage, wie die potentiell wirtschaftsfeindliche Macht souveräner Nationalstaaten eingedämmt werden könnte und wie eine neue internationale Ordnung für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut sein müsste. Seine Antwort: Man müsse den Staaten die Verfügungsgewalt über wirtschaftliche Prozesse dadurch entziehen, dass man diese auf einer supranationalen Ebene hebe.32 Supranationale Agenturen und internationales Recht sollten Freihandel und Investorenschutz gegen die 30  Friedrich von Hayek, The Economic Conditions of Interstate Federalism, New Common Wealth Quarterly, V, Nr. 2 (September 1939; S. 131– 149; Deutsche Übersetzung in: Hayek., Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 1952, S. 324 ff.; vgl. dazu auch Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit, 2013, S.  141 ff. 31  Vgl. Streeck, Gekaufte Zeit (Anm. 30), 146. 32  Vgl. Quinn Slobodian, Globalists. The End of Empire and the Birth of Neoliberalism, 2018.



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Begehrlichkeiten demokratisch gewählter Regierungen schützen. Dabei komme es vor allem darauf an, dass die untergeordneten Ebenen sich den Entscheidungen und den Gesetzen der supranationalen Ebene fügen müssen. Ein weiterer Vorteil eines solchen Arrangements läge in der Invisibilisierung der Prozesse der ökonomischen Governance. Insbesondere spricht sich Hayek daher für eine föderale Ordnung aus, die sich nicht nur auf das traditionelle Feld der Friedenssicherung bezieht, sondern darüber hinaus auch die Wirtschafts‑ und Währungspolitik auf die suprastaatliche Ebene verlagert. Er plädiert dabei ebenso für den freien Verkehr von „Menschen, Gütern und Kapital“ wie für einen gemeinsamen Währungsraum.33 Nur dadurch könne, so Hayeks Argument, verhindert werden, dass die Interessengegensätze zwischen den Mitgliedstaaten ein Ausmaß annehmen, das dem Ziel der Friedenssicherung entgegensteht. Der eigentliche, systematische Grund für Hayeks Plädoyer für multilaterale Strukturen ist jedoch ein anderer: Nur auf diese Weise könne die Macht der Nationalstaaten, steuernd in die Wirtschaft einzugreifen, nachhaltig geschwächt werden. Die Föderation müsse daher über die „negative“ Macht verfügen, die Einzelstaaten daran zu hindern, in bestimmter Weise in die Wirtschaftstätigkeit einzugreifen, während die Föderation selbst keine „positive“ Macht haben solle, dies an ihrer Stelle zu tun. Kürzer und prägnanter: der Markt soll dem Markt überlassen bleiben. Bemerkenswerterweise begrüßt Hayek den Effekt einer „negativen“ Integration bei gleichzeitiger Verunmöglichung einer „positiven“ Integration, welche die sozialen Folgekosten abfedern könnte. Ist Ersteres die gleichsam naturwüchsige Folge des Wirtschafts- und Währungsföderalismus, so fehle es für eine einheitliche Sozial- oder Steuerpolitik regelmäßig an einem kollektiven Willen in einer Föderation. Denn in einer Föderation aus mehreren Nationalstaaten bestehe zwangsläufig eine Vielfalt der Interessen, jedoch keine gemeinsamen kulturellen Grundlagen, d. h. keine kollektive Identität, die diese Interessensgegensätze überbrücken könne.34 33  34 

von Hayek, Economic Conditions (Anm. 30), 328 ff. von Hayek, Economic Conditions (Anm. 30), 334 ff.

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Für Hayek ist eine Wirtschafts- und Währungsunion daher der ideale Rahmen, um die demokratische Gestaltungsmacht von Nationalstaaten in der Steuer‑ und Sozialpolitik zu überwinden, deutlicher: um auf Föderationsebene demokratiefrei „schalten und walten“ zu können. Die Voraussetzungen kollektiver Selbstregierung fehlten in einer Föderation von Nationalstaaten und könnten auch nicht erzeugt werden. Mit dieser Einschätzung liegt Hayek noch heute richtig: Die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union dürfte gegenwärtig als gering einzustufen sein, wie sich im Zuge der EURO-Krise ebenso zeigte wie im Kontext der Migrationskrise. Und auch die von Hayek so begrüßten Interessensgegensätze innerhalb der Föderation sind reichlich vorhanden. Bei allen Vorhaben auf eine „positive“ Integration gibt es auf EU-Ebene Widerstände, um sie abzulehnen oder zumindest zu verschieben.35 Nach Hayek ist also wegen der Heterogenität innerhalb der Föderation eine „positive“ Integration auf Föderationsebene unwahrscheinlich; allenfalls könnte sie nur in kleinen Schritten und nur gegen Widerstand großer Teile der Bevölkerungen zu erreichen sein. Belege für diese Vermutung bietet die jüngste Geschichte der EU zuhauf.36 Doch ist die EU über alle ihre „negativen“ Integrationserfolge gleichzeitig dabei, die Loyalität der Völker ihrer Mitgliedsstaaten zu verlieren. Höhepunkt des Widerstandes eines Volkes gegen die EU und gleichzeitig warnendes Menetekel bildet der Brexit. In lapidaren Worten hat Jean-Claude Juncker am Ende seiner Amtszeit diesen Sachverhalt in einem Interview auf den Punkt gebracht: Einerseits sei es „uns gelungen, europäische Geschichte und europäische Geographie wieder zusammenzubringen. […] Denn nach dem Krieg gab es ein Dekret, das Europas dauerhafte Trennung festschreiben sollte. Dennoch ist es gelungen, die Geschichte zu ändern, Menschen wieder zu vereinen  – und zwar mit friedlichen Mitteln. 35  Besonders einschlägige Beispiele hierfür sind die nicht enden wollenden Diskussionen über die Einführung einer europäischen Finanztransaktionssteuer, über gemeinsame Sätze bei den Unternehmenssteuern, die tatsächliche Austrocknung der Steueroasen innerhalb der Europäischen Union oder auch die Einführung eines gemeinsamen Mindestlohns. 36  Vgl. dazu mit Beispielen und belegen Streeck, Gekaufte Zeit (Anm. 30), 151 ff.



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Es ist eine glückliche Fügung der Zeitgeschichte.“ Doch dieser Würdigung hat ihren Preis: „Die Gegensätze (sc. innerhalb der EU) sind, wenn sie ausgetragen werden, schroffer geworden. Man liebt sich nicht mehr genug in Europa.“37 Das erklärt in lapidaren Worten den Zustand fehlender „positiver Integration“, d. h. von Solidarität innerhalb der EU und die Richtigkeit der Hayek’schen Argumentation. Aber nicht nur das: Aus dieser Perspektive dürfte allen Bestrebungen einer weiteren „Demokratisierung“ der EU von Anfang an kein Erfolg beschieden sein: Diese könnten nur wenig mehr als die Illusion einer Scheindemokratisierung sein. Fazit: Als Zweckverband ist die EU aus sich heraus nicht demokratisierungsfähig, d. h. aber auch: Sie wird entgegen allen gegenteiligen Beteuerungen und ungeachtet des guten Willens von Europapolitikern Zweckverband bleiben. Deutlicher: Die Suche nach kulturellen Grundlagen muss in der EU leerlaufen.38 Auch die formaldemokratischen Ansätze können auf der Ebene der multilateralen EU nicht ansatzweise ein Gemeinschaftsgefühl erzeugen, die gelebte Solidarität tragen könnten. Ihrer technokratischen Konstruktion nach muß sich die EU geradezu dagegen wehren, gemeinsame kulturelle Grundlagen anzuerkennen, um europäische Identität zu fördern. Denn wäre sie demokratiefähig, könnte sie in der Hayek’schen Logik ihre ökonomischen Zwecke nicht mehr uneingeschränkt erfüllen. 37  In: Generalanzeiger v. 27.09.2019, S. 2. Gleichsinnig bemerkte schon der frühere Kommissionspräsident Jacques Delors vor über 25 Jahren „Wer verliebt sich schon in einen gemeinsamen Markt?“. 38  Daher ist das Jean Monnet zugeschriebene Zitat (nach Lübbe, Abschied vom Superstaat (Anm. 20), 103)  – „Wenn ich noch einmal Gelegenheit hätte, mit der Politik europäischer Einigung einen Anfang zu machen, so würde ich mit der Kultur beginnen.“ – Ebenso sympathisch wie es in der Sache kaum hilfreich gewesen wäre: Ein europäisches Volk lässt sich nicht „schaffen“. Denn „von der unbestreitbaren kulturellen Identität Europas zur künftigen Europäischen Union führt kein gangbarer Weg“, so Lübbe, Abschied vom Superstaat (Anm. 20), 108. Die Begründung verdient Beachtung: „Die kulturelle Identität Europas sei zentral durch Elemente geprägt, die gerade nicht exklusiv europäisch geblieben sind, vielmehr inzwischen sich als weltkulturell wirksam erwiesen haben“ (S. 111). M. a. W.: Gerade wegen des weltweiten Erfolgs der europäischen Kultur und ihrer universellen Gehalte lasse sie sich nicht auf den europäischen Raum begrenzen und diesen als „politischen Raum“ konstituieren.

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4. Vor einer unangenehmen Entscheidung Wenn dies tatsächlich zutreffen sollte, dann steht die EU vor einer ebenso unangenehmen wie existentiellen Entscheidungsalternative. Sie muss sich entscheiden zwischen dem Fortbestehen ihres technokratischen Multilateralismus’ oder einem kulturellem Getragen-Sein der Völker in den Mitgliedsstaaten, zwischen technokratischen Optimierungsstrategien oder dem in Großbritannien bei der BrexitAbstimmung ebenso exemplarischen wie siegreichen Slogan „Take back Control“, d. h. zwischen Fremdbestimmung der EU über die Bürger der Mitgliedsstaaten oder demokratischer Selbstbestimmung in den einzelnen Mitgliedstaaten. Die EU müsste also ein institutionelles wie rechtliches Arrangement finden, das den Bürgern der EU die pragmatische Evidenz der Lebensvorzüge, in ihr zu leben, vor Augen führt und real unter Beweis stellt. Dass sich die Völker der Mitgliedstaaten schon heute zu einem „multilateralen Volk“ vereinigen, das repräsentiert werden könnte oder das die Macht hätte, seine Repräsentation auf EU-Ebene zu erzwingen, steht in absehbarer Zukunft nicht zu erwarten. Da eine theoretisch mögliche Stärkung der demokratischen Komponente und damit der kulturellen Grundlagen der EU auf mittlerer Frist also als unrealistisch erscheint, dürfte als praktische Alternative in der Konsequenz einzig die partielle (Rück‑)Verlagerung wesentlicher wirtschafts‑ und finanzpolitischer Kompetenzen von der EU zurück auf die Ebene der Nationalstaaten in Betracht kommen. Eine dadurch bewirkte Stärkung der einzelstaatlichen Parlamente und Regierungen könnte die demokratisch-kulturelle Heimatlosigkeit immer größerer Teile der Bevölkerung überwinden helfen. Das britische „Take back Control“ wäre vor diesem Hintergrund also zu übersetzen als ein Aufschrei nach „Heimat“: „Wir wollen ‚wir‘ bleiben.“ Dagegen lässt sich demokratisch wenig einwenden. Ob es auch politisch und ökonomisch erfolgreich sein wird, wird die Geschichte zeigen.

Ein Europa der Nationen Der europäische Einigungsprozess aus zeitgeschichtlicher Sicht Von Dominik Geppert I. Europa im Spiegel der Nationen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 II. Föderation oder Gleichgewicht: Deutsch-britische Missverständnisse über Ziel und Zweck des Einigungsprozesses  . . . . . . . . . . . . . . 40 1. Speyer, April 1989  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2. Europa nach 1945. Politischer und wirtschaftlicher Wiederaufbau  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3. Deutsche und britische Sichtweisen auf Europa  . . . . . . . . . . . . . . 44 4. Das Erbe des Reiches und die Hinterlassenschaft des Empires  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 III. Primat der Stabilität oder Vorrang der Politik: Der deutschfranzösische Streit um den Euro  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 1. Dublin, 1996  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Ziele einer europäischen Gemeinschaftswährung  . . . . . . . . . . . . . 51 3. Entwicklungen im Lichte der Währungsunion  . . . . . . . . . . . . . . . 52 IV. Fazit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

I. Europa im Spiegel der Nationen Europa, die europäische Integration und die Europäische Union werden immer noch oder vielleicht heute sogar wieder verstärkt durch das Prisma der Nation gesehen. Will man die geschichtliche Entwicklung und die Zukunftsperspektiven der europäischen Einigung richtig einschätzen, muss man diese nationalen Sichtweisen auf Europa in Rechnung stellen.1 Diese Einschätzung ist weniger banal, als sie klingt, 1  Vgl. Dominik Geppert, Die europäische Union in historischer Perspektive, in: Kirchhof/Kube/Schmidt (Hrsg.): Von Ursprung und Ziel der Europäischen Union, 2. Aufl. 2016, S. 29 ff.

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wenn man unter den verschiedenen nationalen Sichtweisen nicht nur die unterschiedlichen Interessen versteht, die man in verschiedenen Ländern mit der europäischen Einigung verband und immer noch verbindet, sondern darüber hinaus auch die übergreifenden und weit in die Vergangenheit zurückreichenden historischen Deutungsmuster, in die man die Entwicklung der Nachkriegszeit einordnete. Im Folgenden soll diese These anhand von zwei Episoden etwas genauer erläutert werden, wobei sich das erste Beispiel auf Deutschland und Großbritannien bezieht und das zweite auf Deutschland und Frankreich. II. Föderation oder Gleichgewicht: Deutsch-britische Missverständnisse über Ziel und Zweck des Einigungsprozesses 1. Speyer, April 1989 Ein guter Startpunkt für eine solche Erkundung ist der Dom zu Speyer. Dorthin hatte im April 1989 der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl seine britische Amtskollegin Margaret Thatcher eingeladen, um die chronisch schlechten persönlichen Beziehungen zwischen den beiden zu verbessern. Kohl hoffte, sein schwieriges Verhältnis zur Eisernen Lady zu entkrampfen, indem er ihr sein Heimatland nahebrachte. Zu diesem Zweck empfing er die Britin in Deidesheim, ließ pfälzischen Saumagen servieren und führte die Besucherin zur Grablege der salischen Kaiser im Speyerer Dom. Dort zog der Kanzler den engsten außenpolitischen Berater der Premierministerin, Charles Powell, hinter einen Pfeiler und raunte ihm zu, nun da Thatcher ihn, Kohl, in seiner Heimat erlebt habe, im Herzen Europas, werde sie doch verstehen, dass er nicht nur Deutscher, sondern Europäer sei: „Sie müssen sie davon überzeugen!“ Falls Powell jemals im Sinn gehabt haben sollte, dieser Aufforderung nachzukommen, wurde ihm die Aussichtslosigkeit seines Vorhabens rasch deutlich. Thatcher ließ sich, kaum an Bord des Flugzeugs, das sie zurück nach London brachte, in ihren Sitz fallen, streifte die Schuhe ab und rief: „Mein Gott, der Mann ist so deutsch!“2 2  Die Begebenheit ist mehrfach überliefert, zum Beispiel bei John Campbell, Margaret Thatcher, Bd. 2, 2003, S. 304.



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Diese Anekdote wirft nicht nur Licht auf die persönliche Chemie zwischen Kohl und Thatcher, die bekanntermaßen schlecht war. Sie erhellt auch einige tiefer liegende und weiter verbreitete Probleme in den deutsch-britischen Beziehungen und in den europäischen Verhältnissen im Allgemeinen. Die Schwierigkeiten gehen weit über die persönlichen Sympathien und Antipathien zweier Spitzenpolitiker hinaus und können uns helfen zu verstehen, wie Deutsche und Briten ihre eigene Rolle in Europa sahen und warum sie sich bis heute darin so wenig einig sind. Als Erklärung sollen im Folgenden drei geschichtliche Traditionskomplexe, historische Vorstellungsbündel oder auch Mythen, welche die deutsche und britische Sicht auf Europa beeinflusst haben und immer noch beeinflussen, genauer ­ betrachtet werden: erstens unterschiedliche Erfahrungen beim politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau nach 1945; zweitens unterschiedliche Vorstellungen von Nation, Nationalstaat und nationaler Geschichte, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen; und drittens spezifische Erinnerungen an die eigene imperiale Vergangenheit.3 2. Europa nach 1945. Politischer und wirtschaftlicher Wiederaufbau Die besondere westdeutsche Bindung an Europa ist eng mit dem Mythos der europäischen Integration nach 1945 verwoben. Diese Gründungsgeschichte handelt vom Wiederaufstieg des Kontinents aus den Trümmern zweier verheerender Kriege, von der Überwindung der Feindschaft zwischen den europäischen Nationen, von der Sicherung der Zukunft durch Zusammenarbeit und gemeinsame Lösung von Problemen, kurz: von der Konstituierung eines prosperierenden und demokratischen Europa als Gegenmodell zu den Irrwegen nationalistischer Gewaltherrschaft mit ihren unübersehbaren Folgen von Verwüstung und Leid. Es gehörte zu den größten Erfolgen der europäischen Einigung und zugleich zu ihren wichtigsten Bedingungsfaktoren, dass sich sowohl Sieger als auch Verlierer der 3  Vgl. hierzu und zum Folgenden Dominik Geppert, The Power of History. British and German Views of the European, National and Imperial Past, Contemporary European History 28 (2019), S. 14 ff.

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beiden Weltkriege, sowohl Opfer als auch Täter auf diese Lesart der Geschichte einigen konnten.4 Tatsächlich lag nach der Katastrophe des „Dritten Reiches“, der Niederlage im Zweiten Weltkrieg und der sich abzeichnenden Spaltung des Landes im Kalten Krieg gerade für die geschlagenen und geteilten Deutschen in der europäischen Vision ein attraktives Identitätsangebot. Besonders die Aussöhnung mit dem „Erbfeind“ Frankreich fand in der Bundesrepublik von Anfang an breiten Anklang. Das zeigte sich nicht nur bei den frühen Städtepartnerschaften zwischen beiden Ländern. Auch beim Schuman-Plan 1950 und den Römischen Verträgen 1958 waren Paris und Bonn die treibenden Kräfte. Rückschläge wie das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 konnten in der französisch-deutschen Erfolgsgeschichte, die im Élysée-Vertrag von 1963 kulminierte, gleichsam „wegerzählt“ werden.5 Für den ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer ging es darum, über die europäische Integration nationale Souveränitätsrechte für die Bundesrepublik überhaupt erst zu gewinnen. In der Situation der Jahre nach 1945 wies nur ein solches Vorgehen einen Weg aus der Besatzungsherrschaft heraus und vermochte eine Perspektive zu eröffnen, wie eine deutsche Isolation in Europa vermieden werden konnte. Ein Überleben der Marktwirtschaft und eine wirtschaftliche Erholung waren für Adenauer nicht anders denkbar als durch eine Wiederherstellung der organischen Verflechtung zwischen den Industriegebieten an Rhein und Ruhr, im Saarland, in Luxemburg und in Lothringen. Insofern war die europäische Einigung für Adenauer nicht nur Herzensangelegenheit. Sie war zugleich eine Sache des kühlen Verstandes, denn sie zielte auf wirtschaftliche Prosperität der Bundesrepublik und die Reintegration des westdeutschen Staates in die europäische Staatenwelt.6 4  James Sheehan, Kontinent der Gewalt. Europas langer Weg zum Frieden, 2008, S. 201. 5  Dominik Geppert, Vorbildliche Europäer? Der deutsche Mythos vom Vorkämpfer und Zahlmeister Europas, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Deutsche Mythen seit 1945, 2016, S. 138 ff. 6  Hans Peter Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg. 1876–1952, 1986; ders., Adenauer. Der Staatsmann. 1952–1967, 1991.



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Die deutsche Sichtweise auf Europa war und ist bis heute unauflöslich mit dem Wirtschaftswunder der 1950er und dem wachsenden Wohlstand der 1960er Jahre verbunden. Aus britischer Sicht nimmt sich die Geschichte etwas anders aus. In Großbritannien hat es die ökonomisch goldenen dreißig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zwar auch gegeben, aber erstens weniger ausgeprägt als auf dem Kontinent und zweitens nicht als Teil  einer europäischen Zugewinngemeinschaft, sondern vor deren Toren. Die Briten sind am 1.  Januar 1973 mit miserablem Timing ausgerechnet zu einem Zeitpunkt in die Gemeinschaft eingetreten, als Europa für längere Zeit in Schwierigkeiten steckte, nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich. Die ersten Jahre der britischen Zugehörigkeit zur EG waren für die Briten von dem Bemühen geprägt, in wirtschaftlichen Krisenzeiten Spielregeln zu verändern, die sie als ungerecht und jedenfalls für ihr Land als nachteilig empfanden: von der Landwirtschaftspolitik über die Fischereipolitik bis zum Haushalt. Dies waren insofern prägende Jahre, als sich in der britischen Wahrnehmung der Eindruck festsetzte, die europäische Integration sei eine Veranstaltung, von der die europäischen Partner mehr profitierten als Großbritannien.7 Als es dann in den 1980er Jahren auch in Großbritannien wirtschaftlich aufwärts ging, wurde diese Entwicklung nicht „Europa“ zugeschrieben, sondern als Ergebnis eines heroischen britischen Alleingangs gegen Widerstände aus „Brüssel“ interpretiert.8 In dieser nationalen Meistererzählung spiegeln sich historische Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg und mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die Großbritannien grundsätzlich von vielen Ländern Kontinentaleuropas unterschieden. Dem Land fehlte (und fehlt bis heute) das Erlebnis der Niederlage ebenso wie die Erschütterung der politischen Institutionen und der tiefgreifende Vertrauensverlust in die nationale politische Führung, den die meisten kontinentaleuropä7  Vgl. zuletzt etwa Mathias Häußler, Ein britischer Sonderweg? Ein Forschungsbericht zur Rolle Großbritanniens bei der europäischen Integration seit 1945, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 2019, S. 263. 8  Geradezu klassisch in den Erinnerungen der Premierministerin Margaret Thatcher: Margaret Thatcher, Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, 1993; dies., Die Erinnerungen 1925–1979, 1995.

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ischen Völker erlitten hatten.9 Europa wurde errichtet, so hat es der britische Historiker Brendan Simms einmal formuliert, „um etwas zu reparieren, das in Großbritannien nie zu Bruch gegangen ist“.10 3. Deutsche und britische Sichtweisen auf Europa Es griffe jedoch zu kurz, würde man die deutsche Einstellung zu Europa nur aus der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg und als eine Art positives Gegenmodell zu den düsteren Aspekten der deutschen Nationalgeschichte begreifen. Weiter zurückreichende nationale Traditionen und Denkmuster verschwanden keineswegs. Analogien zur Reichseinigung 1871 spielten und spielen bei der deutschen Deutung der europäischen Einigung eine bedeutende, wenn auch oft kaum bewusst gemachte Rolle. Wie der Zollverein von 1834 angeblich die Gründung des Deutschen Reiches handelspolitisch vorbereitete, erscheinen Montanunion, EWG und Euro aus deutscher Sicht als Vorläufer einer künftigen politischen Union  – oder jedenfalls war das bis vor kurzem der Fall. 1984 wurde beispielsweise zum 150. Jubiläum der Zollvereinsgründung eine 5-MarkMünze geprägt, die von dieser Interpretationslinie Zeugnis ablegt. Auf ihr war zu lesen: „Zollverein – Deutschland – EWG – Europa“.11 Bis 1871 gingen die Deutschen davon aus, ihre deutsche Nation sei geistig-kulturell schon vorhanden, habe aber noch nicht ihre endgültige staatliche Form gefunden. Heute verhält es sich tendenziell ähnlich in den deutschen Debatten über Europa: Es ist immer schon da, und bleibt zugleich stets unfertig. Europa als Wille und Vorstellung  – das ist eine sehr deutsche Sichtweise.12 Im Vereinigten Königreich hingegen hat man Europa und die europäische Integration stets als Sache handfester Vor- und Nachtei9  Vgl. Dominik Geppert, Ein Europa, das es nicht gibt. Die fatale Sprengkraft des Euro, 2013, S. 33. 10  Brendan Simms/Benjamin Zeeb, Europa am Abgrund. Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa, 2016, S. 89. 11  Dominik Geppert, Vorbildliche Europäer? (Anm. 5), 138 ff. 12  Max Müller-Härlin, Nation und Europa in Parlamentsreden zur Europäischen Integration. Identifikationsmuster in Deutschland, Frankreich und Großbritannien nach 1950, 2008, S. 569.



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le gesehen: Handelsvorteile, die Stärkung der europäischen Verteidigung im Kalten Krieg, später die Chance eines koordinierten Vorgehens in der Außen- und Sicherheitspolitik  – jeweils im engen Anschluss an die USA und unter deren Führung. Davon abgesehen haben viele Briten die EU als einen Bund souveräner Nationalstaaten betrachtet, in dem sich die Gewichte schon viel zu sehr in Richtung einer bundesstaatlichen Lösung verschoben haben. Das unstete und aus ihrer Sicht ziellos vorwärts Strebende, das in der Formulierung des „immer engeren Zusammenschlusses“ (ever closer union) des Kontinents zum Ausdruck kommt, stimmt viele skeptisch.13 Diese unemotionale und pragmatische Sichtweise mag erklären helfen, warum man in Großbritannien nach dem Brexit lange Zeit mit übertriebener Zuversicht darauf setzte, am Ende werde auf dem Kontinent (und ganz bestimmt in Deutschland) schon die wirtschaftliche Vernunft siegen und einen Kompromiss ermöglichen, der in jedermanns Interesse (und ganz bestimmt im Interesse der deutschen Automobilindustrie) war. Das war eine allzu optimistische Sichtweise, die sich als grundlegendes Missverständnis durch die Beziehungen Großbritanniens zur Europäischen Union und speziell zur Bundesrepublik Deutschland zieht. Für die meisten auf dem europäischen Festland war und ist die EU vor allem ein politisches und kein rein ökonomisches Projekt. Um es etwas zuzuspitzen: Für die britische Seite ging es in den Brexit-Verhandlungen darum, eine Lösung für ein politisches, wirtschaftliches und diplomatisches Problem zu finden. Aus Sicht der EU27 handelte es sich um einen Fall von Sezession. 4. Das Erbe des Reiches und die Hinterlassenschaft des Empires Ein dritter Aspekt der deutsch-britischen Missverständnisse verweist auf historische Traditionen, die noch weiter zurückreichen als ins 19. Jahrhundert. Von Ferne hallt in den deutschen Vorstellungen, wenn man genau hinhört, auch noch das Echo des 1806 untergegangenen Alten Reiches nach. Der Historiker Golo Mann hat einmal 13 

Vgl. Dominik Geppert, Europa (Anm. 9), 43.

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gesagt, das Alte Reich sei für die deutsche Geschichte nicht so sehr durch seine Erfüllung bedeutungsvoll gewesen, sondern durch seine Legende, seine Vorstellung, Idee, Erinnerung.14 Lange Zeit wurde von deutschen Historikern die negative Wirkung des Reichsmythos betont, der erst Demokratie und Nationalstaatsgründung in Deutschland verzögert und später als Brücke zwischen Hitler und dem konservativen Bürgertum gedient habe.15 Doch in sublimierter Form lebt die Erinnerung auch in den positiven deutschen Europavorstellungen fort. Wenn von universalen Ideen, einem übernationalen Staatsgedanken und der grenzüberschreitenden Gemeinschaft im Recht die Rede ist, kann man den Widerhall der alten Reichstradition vernehmen. In jüngerer Zeit haben deutsche Historiker wie Georg Schmidt aus Jena auf funktionale Ähnlichkeiten zwischen dem Alten Reich und der Europäischen Union verwiesen: Beide seien politische Mehrebenensysteme, die Frieden sichern, aggressive und expansive Absichten der stärkeren Mitglieder auf Kosten der schwächeren vereiteln und Kompromisslösungen in einem hochkomplexen politischen Gebilde erzwingen, in dem Akteure von ganz unterschiedlicher Größe, Stärke und Status zusammenwirken.16 Nach dieser Lesart zeichnen sich sowohl das Alte Reich als auch die EU dadurch aus, dass sie keinen Anspruch darauf erheben, die Identität der in ihnen lebenden Menschen allein zu bestimmen und alle anderen Zugehörigkeiten (kommunaler oder regionaler Art) zu überlagern wie das der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts getan habe. Vielmehr ermöglichten und ermutigten sie jene multiplen Identitäten, die es im Zeitalter der ungebremsten Nationalstaaten schwer hatten. Derartige Nachklänge resultierten nicht bloß aus retrospektiven Zuschreibungen späterer Historiker. Sie ziehen sich vielmehr wie ein roter Faden durch die deutsche Geistes- und Ideengeschichte des 14 

S. 26.

Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, 1958,

15  So etwa bei Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 1, 2000. 16  Georg Schmidt, Das Alte Reich und die Europäische Union. Ein Versuch, in: Vielberg (Hrsg.): Vorträge der Geisteswissenschaftlichen Klasse 2010–2011, 2013, S. 79 ff.



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19. und 20. Jahrhunderts. Eben das sei der Unterschied des deutschen Reiches von allen anderen Staaten und Reichen, schrieb beispielsweise Leopold von Ranke 1837: „In allen anderen ist die Idee des Rechts an den Inhalt der Gewalt selbst geknüpft gewesen, wodurch sie […] nicht selten gewaltig ins Gedränge gekommen: In Deutschland gab es immer über all den einzelnen Staatsgewalten noch etwas, was nicht Gewalt war, sondern den Einwirkungen derselben so viel als möglich entrückt, auf dem Boden der Reichsgesetze, der Vergangenheit und der Gelehrsamkeit ruhend, die Idee eines rechtlich, juridisch gesicherten Zustandes an und für sich repräsen­ tierte.“17 Europa müsse ein Reich werden, erklärte Otto von Habsburg noch Mitte der 1980er Jahre, „ob es nun diesen Namen trägt oder nicht. Als großer Markt wird es keine Dauer haben. Sucht man nach dieser Idee, wird man sie in der europäischen Geschichte finden. Europa war jeweils in seinen reichischen Perioden groß“.18 Noch deutlicher formulierte es der Sohn des letzten Kaisers von Österreich und Königs von Ungarn und langjährige Abgeordnete des Europäischen Parlaments in einem Interview wenige Jahre vor seinem Tod: „Wir heißen heute Europäische Union, aber dahinter steht das Reich. Das Reich war das gemeinsame Symbol, gemeinsame Einstellung, die gemeinsame Sache, die alle Leute irgendwie angezogen hat.“19 Manche Historiker in Großbritannien zeichnen interessanterweise ein ganz anderes Bild des Alten Reiches. Brendan Simms aus Cambridge meint sogar, die Deutschen hätten einen Großteil ihrer vormodernen politischen Kultur in die Europäische Union eingebracht – und zwar zum ausgesprochenen Schaden der EU: insbeson17  Zitiert nach Hans-Christof Kraus, Die Spätzeit des Alten Reiches im Blick der deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts, in: Asche/Nicklas/ Stickler (Hgg.), Was vom Alten Reiche blieb. Deutungen, Institutionen und Bilder des frühneuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im 19. und 20. Jahrhundert, 2011, S. 33 ff., S. 40 f. 18  Otto von Habsburg, Die Reichsidee. Geschichte und Zukunft einer übernationalen Ordnung, 1986, S. 10. 19  Zitiert nach Eva Demmerle, Der Habsburg-Faktor. Visionen für das neue Jahrtausend. Eva Demmerle im Gespräch mit Otto von Habsburg, 2007, S.  103 f.

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dere die Neigung zur Verrechtlichung politischer Dispute, zu endlosen Debatten und zur Ausrichtung auf Verfahren.20 Ein viel angemesseneres Modell einer politischen Union, das als Vorbild für die EU dienen könnte, sieht Simms in der Union zwischen England und Schottland von 1707. Damals beendeten Engländer und Schotten Jahrhunderte militärischer, diplomatischer und wirtschaftlicher Konkurrenz, indem sie ihre Kräfte bündelten. Das Ziel der Union bestand zum einen darin, einen lange schwärenden Konflikt zu beenden, der die englische Nordgrenze permanenter Gefahr ausgesetzt hatte. Zum anderen sollten die Machtmittel der beiden Staaten kombiniert werden, um sie effektiver gegen gemeinsame äußere Feinde (und zum Aufbau eines Weltreichs) einsetzen zu können, anstatt sie in englisch-schottischen Handels- und Kolonialrivalitäten zu verschwenden.21 Diese Analogie ist insofern typisch für die britische Sichtweise auf die europäische Integration, als sie die gemeinsamen Ziele in der Außen- und Sicherheitspolitik ins Zentrum rückt. Zugleich fehlt ihr jeder Gedanke an einen immer weiter fortschreitenden Einigungsprozess. Eine Angleichung der inneren Verhältnisse der beteiligten Staaten ist nicht beabsichtigt. So wie Schottland in der Union von 1707 sein eigenes Rechts- und Bildungssystem behielt, so sollte sich nach britischer Auffassung auch die EU aus den gewachsenen nationalen Traditionen und Institutionen ihrer Mitgliedsländer heraushalten. Es geht nicht darum festzustellen, Simms habe Recht oder Schmidt und andere deutsche Historiker hätten Unrecht oder umgekehrt. Mythen und historische Vorstellungswelten sind weder richtig noch falsch. Sie sind entweder wirkmächtig oder nicht. So wie imperiale Nostalgie eine nicht unwichtige Rolle beim Brexit spielte, so gibt es auch in deutschen Europavorstellungen eine versteckte Nostalgie für ein anderes Imperium: das Heilige Römische Reich Deutscher Nation.22

Simms/Zeeb, Europa am Abgrund (Anm. 10), S. 39. Brendan Simms, Towards a Mighty Union. How to Create a Democratic European Superpower, International Affairs 88 (2012), S. 49 ff. 22  Zur britischen Empire-Nostalgie siehe Michael Kenny/Nick Pearce, Shadows of Empire. The Anglosphere in British Politics, 2018. 20  21 



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III. Primat der Stabilität oder Vorrang der Politik: Der deutsch-französische Streit um den Euro 1. Dublin, 1996 Die zweite Episode trug sich knapp acht Jahre nach Thatchers und Kohls Begegnung in Speyer zu, nämlich auf dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs, der am 13. und 14. Dezember 1996 in Dublin zusammenkam. Der Gipfel kreiste vor allem um ein Thema: Den Beginn der Europäischen Währungsunion, die als „europäische Antwort auf die Globalisierung“ gedacht war, wie der deutsche Finanzminister Theo Waigel rückblickend formulierte.23 Die in der irischen Hauptstadt versammelten Staatsleute wollten demonstrieren, dass die Gemeinschaftswährung, auf die man sich 1992 im Vertrag von Maastricht geeinigt hatte, Gestalt annahm. Als greifbares Zeichen der Fortschritte, die man auf dem Weg zum Euro erzielt hatte, wurden in Dublin und zeitgleich am Sitz der künftigen Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt die Entwürfe für die Geldscheine der neuen Währung präsentiert. Die Banknoten, vom grünlichen Fünf-Euro-Schein bis zum (später wieder abgeschafften) violetten 500-Euro-Schein, sollten in Umlauf kommen, sobald die Mitgliedsstaaten alle Beitrittskriterien erfüllt und eine Vorlaufzeit von drei Jahren durchschritten hatten; in dieser Übergangsperiode würde die europäische Währung zunächst als Buchgeld existieren, ehe sie dann auch in bar verfügbar sein sollte. Die stilisierten Fenster und Tore, die auf der Vorderseite der Geldscheine zu sehen waren, standen für Europas „Geist der Offenheit“, wie der designierte erste EZB-Präsident, der Niederländer Wim Duisenberg, erklärte. Die Brücken auf der Rückseite symbolisierten den „Weg der Kommunikation“ innerhalb der EU, aber auch mit anderen Teilen der Welt.24 Hinter den Kulissen ging es allerdings weniger zukunftsgewiss und harmonisch zu. Der deutsche Finanzminister Theo Waigel forderte, die bereits beschlossenen Beitrittskriterien (Stabilität von 23  24 

Theo Waigel, Ehrlichkeit ist eine Währung, 2019, S. 247. Zitate aus: Der Spiegel 51/1996, S. 80 f.

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Preisniveau, Haushalt, Wechselkurs und langfristigen Zinssätzen) durch möglichst verbindliche Vereinbarungen über die Fiskalpolitik der Mitgliedsstaaten nach Beginn der Währungsunion zu ergänzen. Er verlangte Sanktionen, sollte das Haushaltsdefizit eines Landes die in Maastricht vereinbarte Obergrenze von drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes überschreiten. In Frankreich und anderswo regte sich Widerstand. Der ehemalige Staatspräsident Valéry Giscard d’Estaing beklagte in der Nationalversammlung deutsche Vormachtgelüste und forderte: „Zusammenarbeit ja! Unterwerfung nein!“25 In Dublin spitzte sich die Auseinandersetzung auf die Frage zu, ob Strafen für Verstöße gegen die Defizitregeln automatisch fällig werden sollten (wie die Deutschen und Niederländer verlangten) oder nur auf ausdrücklichen Beschluss der Regierungen (das war die Position der meisten anderen Länder unter Führung Frankreichs). Zudem war strittig, unter welchen Bedingungen ein Land, das unter einer Rezession litt, Ausnahmen von der Drei-Prozent-Regel erwarten durfte. So kleinteilig diese Fragen erscheinen, so heftig waren sie im Dezember 1996 umkämpft. Zeitzeugen berichteten, zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac sei es fast zu einem Handgemenge gekommen. Waigel erinnerte sich später, der niederländische Ministerpräsident Wim Kok habe danebengestanden und gerufen: „Helmut, gib nicht nach!“26 Die Vehemenz der Kontroverse wird nur verständlich, wenn man bedenkt, dass im Gewand der Detailregelungen letztlich Grundsatzfragen ausgefochten wurden. Zwar stand seit 1992 fest, dass es eine europäische Gemeinschaftswährung geben würde. Wann sie beginnen würde, welche Länder ihr angehören könnten, wie sie im Einzelnen funktionieren und welchen Zielsetzungen sie dienen sollte, war jedoch 1996 noch offen. Die zeithistorische Forschung hat sich mit diesen Aspekten  – auch wegen des beschränkten Aktenzugangs  – bisher wenig beschäftigt.27 Im Mittelpunkt des Interesses stand, 25 

Zitiert nach Die Zeit v. 06.12.1996. Zitiert nach David Marsh, The Euro. The Battle for the New Global Currency, 2011, S. 201. 27  Zwei Ausnahmen mit ganz unterschiedlichen Deutungen des europäischen Einigungsprozesses sind John Gillingham, European Integration 26 



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wenn überhaupt, meist der „Weg nach Maastricht“ und die Frage, ob der Euro der „Preis für die Wiedervereinigung“ war.28 Im Folgenden steht die Post-Maastricht-Phase im Mittelpunkt und die Beobachtung, dass die gemeinsame europäische Währung zwar mit mehr als einem Seitenblick auf weltwirtschaftliche Entwicklungen und globale Finanzströme konzipiert und implementiert worden war, dass sie sich aber in den vergangenen zehn Jahren mit der Virulenz und Latenz fortbestehender nationaler Traditionen und Sichtweisen konfrontiert sah, die sie in ihrem Kernbestand gefährden. 2. Ziele einer europäischen Gemeinschaftswährung Sucht man nach den Triebkräften für die Entstehung einer europäischen Gemeinschaftswährung, so stößt man auf eine knappe Handvoll strategischer Grundüberlegungen. Hierzu zählen erstens der Wunsch nach einer Vertiefung der deutsch-französischen Verständigung; zweitens das Bedürfnis nach Einhegung des ökonomischen und währungspolitischen Übergewichts der Bundesrepublik Deutschland in Europa; und drittens das Bestreben, Wechselkursrisiken zu minimieren, um auf diese Weise das Wirtschaftswachstum sowie den innereuropäischen Handel zu stärken. Daneben spielte viertens schon früh auch der Wunsch eine Rolle, eine europäische Ergänzung oder Gegenmacht zum US-Dollar als globale Leitwährung zu schaffen und mit ihrer Hilfe den europäischen Kapitalverkehr in einer volatilen Währungswelt auf ein berechenbares und belastbares Fundament zu stellen.29 Entsprechend intensivierten sich die Diskussionen über eine europäische Gemeinschaftswährung meist dann, wenn das Weltwäh1950–2003. Superstate or New Market Economy?, 2003; Wilfried Loth, Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, 2014. 28  Kenneth Dyson/Kevin Featherstone, The Road to Maastricht. Negotiating Economic and Monetary Union, 1999; Wilfried Loth, Helmuth Kohl und die Währungsunion, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61 (2013), S.  455 ff.; Dominik Geppert, Der Euro. Geburt aus dem Geist der Wiederver­ einigung?, in: Mayer (Hrsg.), In der Mitte Europas. Deutschlandforschung aus nationaler und internationaler Perspektive, 2016, S. 9 ff. 29  Hierzu und zum Folgenden siehe Harold James, Making the European Monetary Union, 2012, besonders S. 387.

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rungssystem von Erschütterungen heimgesucht wurde. Anders als bei den ersten Anläufen in den 1970er Jahren mit dem Werner-Plan, der Europäischen Währungsschlange und dem Europäischen Wechselkurssystem30 gelang in den Weltwährungsturbulenzen Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre der Durchbruch zu einer europäischen Währung. Werner-Plan und Währungsschlange waren nicht zuletzt durch das Ende von Bretton Woods und die erste Ölkrise gescheitert. Die zweite Weltwirtschaftskrise 1979 hatte das EWS gleich nach seiner Entstehung geschwächt und alle Versuche, es zu einer gemeinsamen europäischen Währung auszubauen, im Keim erstickt. Dass die Pläne für eine umfassende Europäische Währungsunion zehn Jahre später nicht ein ähnliches Schicksal erlitten, lag maßgeblich an politischen Erwägungen. Mit Helmut Kohl und François Mitterrand verfügten die politischen Protagonisten anders als zehn Jahre zuvor Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing über keinen ausgeprägten ökonomischen Sachverstand. Sie straften technische Details eher mit Nichtachtung und waren entschlossen, ihre Pläne auch gegen Widerstände der Fachleute durchzusetzen. 3. Entwicklungen im Lichte der Währungsunion Für den weiteren Gang der Dinge war entscheidend, dass sich die verschiedenen Mitgliedsstaaten in den ersten Jahren der Währungsunion unterschiedlich entwickelten.31 Länder mit zuvor eher schwachen Währungen profitierten von niedrigeren Zinsen. In Deutschland hingegen erfüllten sich die Erwartungen, die man in die Gemeinschaftswährung gesetzt hatte, zunächst nicht. Das Land litt 30  Andreas Wilkens: Der Werner-Plan. Währung, Politik und Europa 1968–1971, in: Knipping/Schönwald (Hrsg.), Aufbruch zum Europa der zweiten Generation. Die europäische Einigung 1969–1984, 2004, S. 217 ff.; Peter Ludlow, The Making of the European Monetary System. A Case Study of Politics in the European Community, 1982; Emmanuel Mourlon-Druol, A Europe Made of Money. The Emergence of the European Monetary System, 2012. 31  Für das Folgende greife ich auf Überlegungen zurück, die ich bereits an anderer Stelle angestellt habe; Geppert, Europa (Anm. 9), 67 ff.



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unter schwachen Wachstumsraten und hoher Arbeitslosigkeit. Die Probleme hatten überwiegend strukturelle Ursachen. Sie hingen aber zum Teil auch mit dem überhöhten Wechselkurs zusammen, zu dem das Land in die Währungsunion eingetreten war. Insofern stimmt die These, die Deutschen hätten wie niemand sonst wirtschaftlich vom Euro profitiert, für die Zeit bis etwa 2005 nicht. In dieser Situation reformierte die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder Arbeitsmarkt und Sozialstaat. Die Gewerkschaften übten über Jahre hinweg Zurückhaltung bei den Lohnabschlüssen. Viele Deutsche arbeiteten bei gleichem, teilweise sinkendem Realeinkommen länger, während in anderen Ländern der Währungsunion die Löhne stiegen. Umgekehrt blieben die Strukturreformen weitgehend aus, von denen man gehofft hatte, dass sie in Weichwährungsländern als Folge der Einführung des Euro durchgeführt würden. Anders als erhofft, glichen sich die Wirtschaftsmodelle in der Eurozone nicht einander an. Im Gegenteil: Die Wettbewerbsfähigkeit der verschiedenen Mitgliedstaaten der Währungsunion driftete auseinander. Unter den weltwirtschaftlichen Bedingungen der späten 1990er und frühen 2000er Jahre fielen die volkswirtschaftlichen Disparitäten im Euroraum nicht weiter auf. Das änderte sich, als nach 2007 die von den USA ausgehende Weltwirtschafts- und Finanzkrise mit aller Wucht auf Europa durchschlug.32 Dabei war das Zerplatzen der Immobilienblase in den USA und die Insolvenz der Lehman-Bank 2008 nur Anlass, aber nicht Ursache für die Schwierigkeiten in der EU. Die Malaise des Euro war nicht zuletzt deswegen so hartnäckig, weil aufgrund unterschiedlich vorgeprägter nationaler Denkweisen weder über die Ursachen der Probleme noch über mögliche Auswege und wünschenswerte Zukunftsszenarien Einigkeit zu erzielen war (und ist).33 Die föderale Tradition Deutschlands sah ein verbindliches Regelwerk als Rahmen der Konfliktaustragung in einem heterogenen Gemeinwesen vor. Frankreichs zentralstaatliches Erbe präferierte hingegen die Flexibilität 32  Für eine Darstellung, die insbesondere mit der Politik der Bundeskanzlerin Angela Merkel hart ins Gericht geht, siehe Adam Tooze, Crashed. Wie zehn Jahre Finanzkrise die Welt verändert haben, 2018. 33  So die These von Markus Brunnermeier/Harold James/Jean-Pierre Landau, Euro. Der Kampf der Wirtschaftskulturen, 2018.

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und Handlungsfähigkeit einer starken Exekutive in den Diensten des Allgemeinwohls. Für die ordoliberale Schule der deutschen Volkswirtschaftslehre war der Grundsatz der Haftung wichtig. In der französischen Denkweise blieb die revolutionäre Parole der Solidarität der Starken für die Schwachen bestimmend. Französische Ökonomen interpretierten die Schulden von Banken oder Staaten eher als vorübergehende Liquiditätsprobleme, die durch Interventionen des Staates überwunden werden können. Ihre deutschen Kollegen tendierten dazu, die Solvenz der betreffenden Institute oder Länder in Frage zu stellen. Daraus ergaben sich in Krisensituationen gegensätzliche Handlungsempfehlungen: Im deutschen Fall für Sparmaßnahmen, um grundlegende Verhaltensänderungen zu bewirken; aus französischer Sicht gegen scharfe Einschnitte, die Liquiditätsschwierigkeiten angeblich verschlimmern und tatsächliche Insolvenzen erst herbeiführen. Anglo-amerikanische Ökonomen schenkten Haftungsfragen weniger Aufmerksamkeit, veranschlagten die Gefahren des Moral-Hazard geringer und forderten in Krisenlagen das tatkräftige Eingreifen des Staates. Sie lagen damit in wichtigen Streitfragen der Eurokrise näher bei der französischen als bei der deutschen Position. Diese Präferenzen helfen zu erklären, warum die diskursbestimmende Wirtschaftspresse englischer Sprache vom Wall Street Journal über die New York Times bis zum Economist und der Financial Times kaum Sympathien für deutsche Bedenken aufbrachte. Blickt man im Abstand von fast einem Vierteljahrhundert auf die Diskussionen um die Einführung des Euro zurück, fällt auf, wie wenig sich die national vorgeprägten Argumentationsmuster und Wahrnehmungsweisen verändert haben. Auf dem oben beschriebenen Gipfel von Dublin im Dezember 1996 schimpfte der französische Präsident den Bundesfinanzminister einen „deutschen Technokraten“, dem man in einer eminent politischen Frage wie der Währung nicht das letzte Wort überlassen dürfe.34 Der Präsident der deutschen Volks- und Raiffeisenbanken hingegen spottete, jedermann wisse, „dass die Franzosen Weltmeister in Sachen Kosmetik sind und die Italiener etwas von gefälligem Design verstehen“, aber das dürfe sich nicht auf die 34 

Waigel, Ehrlichkeit (Anm. 23), 238.



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Währungsunion auswirken.35 Die deutsche Position blieb, ähnlich wie in der Eurokrise seit 2010, auf den rechtlichen und institutionellen Rahmen fixiert.36 Sie folgte einem Primat der Stabilität und setzte auf fachliche Expertise statt politischer Anleitung. Prägende historische Erfahrungen waren die lange föderalistische Tradition und das Trauma der Geldentwertung nach zwei verlorenen Weltkriegen im „Jahrhundert der Inflationen“.37 In den französischen Vorstellungen hatte die Sozialpolitik Vorrang vor der Währungspolitik, um einen Primat der „Politik“ gegenüber der „Wirtschaft“ zu sichern und der universalistischen Zivilisations- und Fortschrittsidee der französischen Republik mit ihrem Leitgedanken zentralstaatlicher demokratischer Kontrolle und Legitimation gerecht zu werden. Historische Währungserfahrungen als Bestandteile des kollektiven Gedächtnisses einer Nation, so hat es Bernhard Löffler einmal formuliert, müssen sich in bestimmten handfesten Institutionen wie einem Notenbank- und Währungssystem gleichsam materialisieren und verdichten, um dauerhaft Wirkung entfalten zu können. Und andersherum bedürften solche Institutionen ihrerseits einer Legitimierung durch ideelle Grundlagen und tradierte Gewissheiten, um im politischen oder wirtschaftlichen Alltag Akzeptanz gewinnen zu können.38 Hier liegt aus historischer Perspektive eine wichtige Schwäche der europäischen Währung. 35  Zitiert in Die Zeit v. 06.12.1996; allgemein zu den deutsch-französischen Gegensätzen vgl. Bernhard Löffler, „Eine Art Religionskrieg“. Argumentationsmuster, Diskursstrategien und politische Symbolik in den deutsch-französischen Debatten um die Einführung des Euro, in: Löffler (Hrsg.), Die kulturelle Seite der Währung. Europäische Währungskulturen, Geldwerterfahrungen und Notenbanksysteme im 20. Jahrhundert (Beiheft der Historischen Zeitschrift Bd. 50), S. 123 ff. 36  Siehe hierzu und zum Folgenden Löffler, „Eine Art Religionskrieg“ (Anm. 35). 37  Erwin Hielscher, Das Jahrhundert der Inflationen in Deutschland. Ein Beitrag aus der Bundesrepublik Deutschland, 1968. 38  Bernhard Löffler, Währungsgeschichte als Kulturgeschichte? Konzeptionelle Leitlinien und analytische Probleme kulturhistorischer Ansätze auf wirtschafts- und währungsgeschichtlichem Feld, in: Löffler (Hrsg.), Die kulturelle Seite der Währung. Europäische Währungskulturen, Geldwerterfahrungen und Notenbanksysteme im 20. Jahrhundert (Beiheft der Historischen Zeitschrift Bd. 50), S. 3 ff.

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IV. Fazit Damit ist sicher nicht gemeint, dass wir in einer historischen Endlosschleife feststecken und gezwungen sind, dieselben Fehler immer aufs Neue zu wiederholen. Geschichtliche Wiederholungszwänge gibt es nicht. Aber umgekehrt sollten wir uns auch von der Illusion verabschieden, die Europäische Union biete die Perspektive einer Erlösung von der Geschichte oder auch nur von unseren Na­ tionalgeschichten. Europa  – und zwar das gegenwärtig real existierende ebenso wie das künftige erträumte Europa  – sieht ganz unterschiedlich aus, wenn man es durch die Brille verschiedener Nationalgeschichten betrachtet. Helmut Kohl fühlte sich im Speyerer Dom vom Mantel alteuropäischer Geschichte umhüllt; für Margaret Thatcher hingegen markierten die Salier allenfalls einen von vielen gescheiterten Versuchen, den Kontinent zu einigen. Während Jacques Chirac eine Gemeinschaftswährung im Einklang mit französischen Traditionen des Primats der Politik anstrebte, war Theo Waigel zutiefst davon überzeugt, dass der Euro nur dann eine europäische Erfolgsgeschichte werden könne, wenn er die deutsche Stabilitätskultur fortschreibe, die politische Einflussnahmen minimierte. Hierin liegt die tiefere Ursache für den Dialog der Taubstummen, den sowohl Kohl und Thatcher am Grab Heinrichs IV. als auch Waigel und Chirac in Dublin miteinander führten.

Der Euro Zu den politischen und rechtlichen Implikationen der Governance in der Eurozone Von Ulrich Hufeld I. Das Währungsgebiet  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 II. Die Krisenerfahrung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 1. Mythos EZB  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2. Europäischer Stabilitätsmechanismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3. Bankenunion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 III. Wagnis der Asymmetrie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 1. Bauelemente der Währungsunion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2. Kann die Wirtschaftsunion Abbild der Währungsunion sein?  69 a) Eine supranationale Wirtschaftsunion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 b) Eine expertokratische Wirtschaftsunion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 c) Eine konstitutionalisierte Wirtschaftsunion? . . . . . . . . . . . . . . . 72 IV. Komplexe Governance  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

Wenn der im Oktober 2004 unterzeichnete Vertrag über eine Verfassung für Europa in Kraft getreten wäre, hätte das Unionsrecht fünf „Symbole der Union“ (Überschrift Art. I-8 VVE) in aller Form und prominent positiviert: Die Europa-Flagge, die Hymne Beethovens „Ode an die Freude“, den Leitspruch „In Vielfalt geeint“, den Europatag am 9. Mai – und in Art. I-8 Abs. 4 VVE hätte dieser Satz Eingang gefunden: „Die Währung der Union ist der Euro.“ In dieser Dramaturgie wäre dem Euro ausweislich der amtlichen Überschrift zuallererst der Status eines Symbols zugewiesen worden, sodann, einfach und klar, sein Platz als Währung der gesamten Union. Wohlgemerkt: Der Verfassungsvertrag hätte nicht etwa eine symbolische Norm, sondern eine Norm über Symbole gebracht. In der damals auf 25 Mitgliedstaaten vergrößerten Union hätten allerdings die NichtEurostaaten auf das eine Symbol verzichten und ihr Glück suchen

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müssen in einer – unter symbolischen Vorzeichen – Vierfünftelzugehörigkeit! Auch textlich wäre die Währung unmittelbar mit „der Union“ verknüpft worden, nicht wie heute (Art. 3 Abs. 4 EUV) mit der Wirtschafts- und Währungsunion, die nach wie vor unterscheidbar bleibt als Club in der Gesamtunion. Bis heute gilt: Der unwiderrufliche Transfer der staatlichen Währungshoheit auf die suprastaatliche Ebene versteht sich nicht von selbst, auch nicht für einen Mitgliedstaat der Europäischen Union. Deshalb soll zunächst vom Euro-Territorium, vom Euro-Währungsgebiet die Rede sein (u. I.), aber auch von der Krisenerfahrung in der zweiten Dekade1 der Währungsunion (u.  II.). Im Schwerpunkt will ich aber die Schlüsselfrage nach der vermeintlich unvollendeten Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) aufgreifen, nach der richtigen Balance zwischen Wirtschafts- und Währungsunion  – das ist die ebenso traditionelle wie aktuelle Diskussion über das „Wagnis der Asymmetrie“ (u.  III.). Auf dieser Grundlage sind Kernthesen möglich zur Governance in der Eurozone (u.  IV.). I. Das Währungsgebiet Der Maastrichter Weg in die Währungsunion erreichte den historischen Wendepunkt am 1.  Januar 1999. An diesem Tag übertrugen die ersten elf Staaten ihre Währungshoheit auf die Europäische Union. Zwei Jahre später, noch vor der Euro-Bargeldeinführung 2002, trat Griechenland bei. Nach der Osterweiterung 2004 schlossen sich in den Jahren 2007 bis 2009 Slowenien, Zypern, Malta und die Slowakei an. Und mit dem Beitritt der baltischen Staaten 2011 bis 2015 erreichte die Währungsgemeinschaft ihre heutige Größe: 1  Die „Euro-Zeitrechnung“ begann am 01.01.1999 mit der sog. dritten Stufe der WWU, der Festlegung der Wechselkurse, der Substitution der nationalen Währungen durch den Euro und dem Beginn der EZB-Tätigkeit mit allen Befugnissen; vgl. die Nachw. bei Martin Selmayr, Das Recht der Europäischen Währungsunion, in: Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Wirtschaftsordnungsrecht. Enzyklopädie Europarecht, Bd. 4, 2015, § 23 Rdnr.  39. „Die Krise“ nahm ihren Anfang im „Lehman-Moment“ am 15.9.2008 (Chapter  11-Insolvenz der Lehman-Brothers). Umfassend nunmehr Dirk Meyer, Europäische Union und Währungsunion in der Dauer­ krise, 2020.



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eine WWU-19 in der EU-28. So hat sich das Euro-Territorium stetig vergrößert. Nur einmal, im Sommer 2015, stand für einen kurzen historischen Augenblick die Verkleinerung der Eurozone zur Debatte. Der Bundesfinanzminister lancierte am 10. Juli 2015 – unmittelbar vor einem Treffen der Euro-Gruppe – ein Positionspapier, damals berühmt geworden als Initiative für einen Grexit auf Zeit.2 Der sich anschließende Euro-Gipfel hat die Idee verworfen. Der Brexit berührt das Euro-Währungsgebiet nicht in seiner Ausdehnung, aber doch in seiner Statik. Nach dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs verbleibt mit Dänemark nur noch ein letzter Unionsstaat im Sonderstatus – mit Rückhalt in einem sogenannten Opt-out3 berechtigt, der Währungsunion dauerhaft fernzubleiben. Zudem scheidet mit dem Vereinigten Königreich ein Mitgliedstaat aus, der bislang auch ohne Euro-Zugehörigkeit kraft seiner Vetoposition über jede Fortentwicklung der Verträge mitbestimmen konnte. Man darf nicht übersehen, dass die Euro-Staaten über die primärrechtlichen Grundlagen der Währungsunion nicht alleine verfügen, sondern nur im Konsens mit allen Unionsstaaten (Art. 48 Abs. 4 UAbs. 2 EUV). Das allgemeine Recht der Vertragsänderung kennt keine Euro-Bereichsausnahme. Dass das WWU-Recht der 19 Zugehörigen in seinen primärrechtlichen Grundlagen der Gesamt­ union gehört, führt zurück zum Verfassungsvertrag, zum Euro als Symbol und Währung „der Union“  – bewirkt aber eine politisch prekäre Unwucht. Der reformatorische Zugriff auf das Basisrecht der WWU-19 findet nicht statt ohne Mitwirkung auch der Außenseiter. London wird seine Mitbestimmungsmacht über die Vertragsgrundlagen mit dem Brexit verlieren. 2  Das Dokument ist dem Bundestag nicht „zum frühestmöglichen Zeitpunkt“ (Art. 23 Abs. 2 Satz  2 GG) zugeleitet worden. Diese Verletzung des Art. 23 Abs. 2 GG ist Streitgegenstand im anhängigen Organstreitverfahren 2  BvE 4/15. 3  Protokoll Nr. 16 „über einige Bestimmungen betreffend Dänemark“ (konsolidierte Fassung: ABl. EU 2016 C  202, 1 v. 7.6.2016). Dort Ziff.  2: „Zur Aufhebung der Freistellung wird das Verfahren nach Artikel  140 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union nur dann eingeleitet, wenn Dänemark einen entsprechenden Antrag stellt.“ Das Protokoll, als „Bestandteil der Verträge“ (Art. 51 EUV) seinerseits Primärrecht, durchbricht das Recht der „Übergangsbestimmungen“, Art. 139 ff. AEUV.

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Im Blick auf die Ausdehnung der Währungszone fällt auf, dass sich in der Krisenära nur mehr die baltischen Staaten auf den Euro eingelassen haben. Deren Entschlossenheit ist ein eindrucksvoller Hinweis auf die gesamtpolitische, auch sicherheitspolitische Dimension der Euro-Zugehörigkeit. Estland, Lettland und Litauen haben in der Phase 2011–2015 nicht allein unter ökonomischen Vorzeichen entschieden. Die Länder haben der Welt und namentlich Russland das Zeichen gegeben: Geostrategisch mögen wir in kritischer Grenzlage verortet sein – politisch verankern wir unser Schicksal im Zentrum der Union, im innersten Kerneuropa: in der Währungsunion. II. Die Krisenerfahrung 1. Mythos EZB So kann man die räumliche Entwicklung der Eurozone, aber auch ihre Widerstandsfähigkeit in den Jahren der sogenannten „EuroKrise“ als Erfolgsgeschichte erzählen. Ja, die baltischen Staaten, alle Euro-Staaten und die Unionsorgane haben der Krise widerstanden – und doch hat sich die Krisenerfahrung tief eingeprägt. Am Ende der Ära Mario Draghi liest man allenthalben, die Europäische Zentralbank, ihr Präsident gar persönlich habe mit dem legendären, nur angekündigten, nie umgesetzten OMT-Programm4 den Euro gerettet, jedenfalls aber eine Rückbaudynamik verhindert und damit die Integrität der Eurozone so effektiv geschützt wie niemand sonst.5 Als Schlüsselmoment gilt Draghis Pressekonferenz am 26.  Juli 2012  – 4  Ausführliche Darstellung und Würdigung in der OMT-Vorlage des BVerfG, BVerfGE 134, 366 (372 ff. Rdnr. 2 ff. und – im Kontext der „Interpretation des Unionsrechts durch das Bundesverfassungsgericht“  – 398 ff. Rdnr.  55 ff.). 5  Umfassend Alexander Thiele, Die Europäische Zentralbank. Von technokratischer Behörde zu politischem Akteur?, 2019; Ewald Nowotny, 2008–2019 Gouverneur der österreichischen Nationalbank und Mitglied im EZB-Rat, in einem Interview der FAS v. 01.09.2019, S. 27: „Es gibt wenige Beispiele in der Währungsgeschichte, wo ein einzelner Satz eine solche Wirkung entfaltet hat“; „[Draghi] hatte ganz wesentlichen Anteil daran, die schwere Krise des Euroraumes zu Anfang des Jahrzehnts zu überwinden“.



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Lancaster House London, 27° Celsius, 39 % Luftfeuchtigkeit  –, der Augenblick, in dem der EZB-Präsident die Aufmerksamkeit gewinnt mit dem Hinweis, sein dritter Punkt sei „in a sense more political“. Dann folgt das Versprechen, die EZB werde den Euro schützen  – „whatever it takes“  –, und der Gipfel-Satz zum Schluss: „And believe me, it will be enough.“6 Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht in einem bald fünfjährigen Ringen mit dem Europäischen Gerichtshof und der Europäischen Zentralbank hartnäckig die Kompetenzfrage gestellt.7 Zweimal hat der Zweite Senat den EuGH mit Vorlagefragen befasst,8 das Schlussurteil in Sachen „Anleihenkäufe“ (PSPP) steht noch aus. Ich zitiere aus der ersten Vorlage von 2014, der OMT-Vorlage, nur diesen einen Satz: „Soweit sich die Europäische Zentralbank darauf beruft, mit dem OMT-Beschluss die aktuelle Zusammensetzung des Euro-Währungsgebietes sicherzustellen, ist dies offenkundig keine Aufgabe der Währungspolitik, sondern der in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten verbliebenen Wirtschaftspolitik.“9 Ein denkwürdiger Satz. Er bestreitet der EZB letztverantwortlich zu sein als Retter in der Not und Hüter des Euro-Territoriums. Der Satz beleuchtet aber auch Zusammenhang und Verschiedenheit der beiden Pole Wirtschaftsunion und Währungsunion  – zusammengespannt und doch getrennt, vereint und doch unterscheidbar in der WWU. Vom großen Wagnis der Asymmetrie soll gleich die Rede sein. Ich will zuvor im Rückblick auf die Krise festhalten, dass „das Vgl. auch Sven Simon, „Whatever it takes“: Selbsterfüllende Prophezeiung am Rande des Unionsrechts?, EuR 2015, S. 107 ff. 6  Rekonstruktion der Pressekonferenz bei Thiele, Europäische Zentralbank (Anm. 5), 1 ff. 7  Ulrich Hufeld, Machtkampf im Dreieck. Die Europäische Zentralbank und ihre Kontrolleure in Karlsruhe und Luxemburg, in: Schubel/Kirste/ Müller-Graff/Diggelmann/Hufeld (Hrsg.), Jahrbuch für Vergleichende Staats- und Rechtswissenschaften, 2017, S. 11 ff. 8  Nach der OMT-Vorlage (BVerfGE 134, 266) die PSPP-Vorlage vom 18. Juli 2017, BVerfGE 146, 216. Antwort des EuGH: Urt. v. 11. Dezember 2018, C-493/17 – Heinrich Weiss u. a.; dazu Roland Broemel, Unionsrechtlicher Rahmen währungspolitischer Maßnahmen des ESZB, ZG 2019, S.  276 ff. 9  BVerfGE 134, 366 (405 Rdnr.  72).

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beherzte Eingreifen der EZB“10 gewiss bedeutsam war  – nicht minder wichtig jedoch war der Krisenbewältigungs- und Reformbeitrag der Wirtschaftspolitik. Die herausragenden Reformprojekte heißen Europäischer Stabilitätsmechanismus und Bankenunion. Die folgenden Anmerkungen dazu sind nicht als Exkurs zu verstehen. Zum WWU-Gesamtarrangement post Maastricht, das den Euro auf Dauer tragen soll, gehören heute wesentlich der Europäische Stabilitätsmechanismus und die Bankenunion. 2. Europäischer Stabilitätsmechanismus Vor wenigen Monaten hat die Kommission die Einrichtung des ESM in der Rückschau noch einmal als „Meilenstein auf dem Weg zu einer stabileren Wirtschafts- und Währungsunion“ gewürdigt.11 Dieser sogenannte Rettungsschirm, aufgespannt in Luxemburg, ist ein Thema für sich;12 alle Einzelheiten müssen hier auf sich beruhen. Ich will mich auf drei Hinweise beschränken. Erstens: In welcher Situation trägt der Stabilitätsmechanismus Mitverantwortung für den Euro? In einer Notlage, in der nicht mehr  – wie vertragsrechtlich gefordert (Art. 119 Abs. 3 AEUV)  – von „gesunden öffentlichen Finanzen“ die Rede sein kann. Damit ist das Fiskalische Kriterium angesprochen.13 Eine staatlich tragbare Finanzlage, insbesondere die Schuldentragfähigkeit, gehört nicht nur zu den Maastricht-Konvergenzkriterien. Sie ist rechtlich eine permanente Verpflichtung und ökonomisch eine Voraussetzung für die suprastaatliche Währungsgemeinschaft. Der infolge „ungesunder“ öffentlicher Finanzen erkrankte Staat wird isoliert und notfinanziert. Thiele, Europäische Zentralbank (Anm. 5), Fn. 145. Vertiefung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion: Eine Bilanz vier Jahre nach dem Bericht der fünf Präsidenten, COM (2019) 279  final, S. 10; vgl. auch die ESM-eigene Rückschau: Safeguarding the Euro in times of crisis. The inside story of the ESM, 2019. 12  Umfassend Hannes Rathke, Sondervertragliche Kooperationen. Systemrationalität einer Handlungsform der europäischen Integration am Beispiel der Kooperationen der EU-Mitgliedstaaten in der europäischen Staatsschuldenkrise, 2019. 13  Selmayr, Währungsunion (Anm. 1), § 23 Rdnr.  50. 10  11 



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Der ESM tritt als solidarischer Helfer und Geldgeber auf den Plan. Wichtig aber: Bei dieser sogenannten Rettung geht es nicht nur um „den anderen“, sondern um den gemeinsamen Euroraum, also auch um „Selbst-Rettung“. Der Euro ist auch unsere Währung  – keine Fremdwährung! Zweitens: Die ESM-Politik beruht im Kern auf dem Gegenleistungsprinzip, auf do  ut  des. Das Vertragsprinzip, das eiserne Prinzip Finanzierung gegen Sanierung oder Solidarität gegen Solidität, macht den ESM durchsetzungsstark und unattraktiv.14 Ein wohlkomponierter Darlehens- und Sanierungsvertrag zwischen dem ESM und dem Euro-Mitgliedstaat in Not stellt alle Stabilitätspakt-Kapriolen der Kommission in den Schatten. Ein durchsetzungsstarker und unattraktiver ESM kann einerseits Akteur der Rettung und Sanierung in größter Finanznot sein, andererseits präventive Wirkung entfalten durch Abschreckung. Er muss Nikolaus und Knecht Ruprecht in Personalunion sein. Damit sind wir  – drittens  – bei der Governance-Frage: Wer regiert im ESM, wer verfügt über seine gewaltigen Ressourcen, wer billigt den Sanierungsvertrag? Das ist der Gouverneursrat, in dem die Personen und Amtsinhaber sitzen, die sich auch in der EuroGruppe begegnen: Die 19 Finanzminister der Euro-Staaten. Un­ terschied aber: Die Euro-Gruppe handelt als Quasi-Unionsorgan und ­ innerhalb der Union, der Gouverneursrat „außerhalb der Unions­rechts­ordnung“.15 Der ESM ist eine völkerrechtliche Finanzinstitution und sondervertragliche Kooperation16 im Euro-Währungsgebiet. Er soll den in der Maastricht-Konzeption noch verdrängten Ausnahmezustand beherrschen, steuern und zügig beenden. Seit 2012 wird der Krisenfall nicht mehr verdrängt. In der Ausnahmelage gilt jetzt Ausnahmerecht  – eine historische Errungenschaft in der Entwicklungsgeschichte der Wirtschafts- und ­Währungsunion. 14  Ausführlich Ulrich Hufeld, Das Recht der Europäischen Wirtschaftsunion, in: Müller-Graff (Hrsg.), Europäisches Wirtschaftsordnungsrecht, Enzyklopädie Europarecht Bd. 4, 2015, § 22 Rdnr.  150 ff. 15  EuGH 20.9.2016 – C-8/15 P–C-10/15 P, Rdnr. 54 – Ledra Advertising. 16  Grundlegend: Rathke, Sondervertragliche Kooperationen (Anm. 12), 79 ff.

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3. Bankenunion Auch die Bankenunion ist ein Thema für sich. Sie zielt auf Finanzstabilität17 durch „Aufbrechen der negativen Rückkopplungen zwischen Staaten, Banken und der Realwirtschaft“ und „Verhütung von Schäden, die durch Ausfälle von Banken in der Vergangenheit verursacht wurden“.18 Wie der ESM, so ist auch die Bankenunion ein krisengetriebener Integrationsschub: strukturelle Europäisierung, nicht nur Krisenreaktionsrecht. Sie ruht auf drei Säulen, der einheitlichen Bankenaufsicht im SSM,19 der einheitlichen Bankenabwicklung im SRM,20 zudem einer gemeinsamen Einlagensicherung. Über die dritte Säule – die gemeinsame Einlagensicherung EDIS21 – wird seit Jahren diskutiert; deren Vollendung steht noch aus. Auch zur Bankenunion wiederum nur wenige Hinweise. Erstens: Der Aufsichtsmechanismus SSM ist ein Instrument der Vorsorge. „Bankenrettung“ zu Lasten der Staatskasse, mit allen Folgen für die Gesundheit der öffentlichen Finanzen im Euroraum, soll vermieden werden, präventiv im Wege strenger Aufsicht. Bestenfalls

17  Jonathan Bauerschmidt, Finanzstabilität als Ziel der Bankenunion, ZHR 2019, S. 476 ff. 18  Erwägungsgründe 6 und 8 der SRM-Verordnung (Anm. 20). 19  Single Supervisory Mechanism: VO (EU) Nr. 1024/2013 des Rates v. 15.10.2013 zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank, ABl. EU 2013 L 287, 63 v. 29.10.2013. Dazu umfassend Christoph Ohler, Bankenaufsicht und Geldpolitik in der Währungsunion, 2015, § 5. 20  Single Resolution Mechanism: VO (EU) Nr. 806/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.07.2014 zur Festlegung einheitlicher Vorschriften und eines einheitlichen Verfahrens für die Abwicklung von Kreditinstituten und bestimmten Wertpapierfirmen im Rahmen eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus und eines einheitlichen Abwicklungsfonds sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010, ABl. EU 2014 L  225, 1 v. 30.07.2014. 21  European Deposit Insurance Scheme. Die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat sich in ihrer Bewerbungsrede vor dem Europäischen Parlament am 16. Juli 2019 für das EDIS stark gemacht: „Damit sich die Menschen keine Sorgen um die Sicherheit ihrer Bankeinlagen machen müssen, brauchen wir ein europäisches Einlagenversicherungssystem.“



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erübrigt vorsorgliche Aufsicht alle Folgefragen22 der Restrukturierung, Abwicklung und „Rettung“. Das leuchtet ebenso ein wie das Anliegen, Regulierungsarbitrage zu verhindern.23 Eine so weit wie nötig zentralisierte Bankenaufsicht kann sinnvoll sein. Auf einem anderen Blatt steht, ob gerade die Europäische Zentralbank betraut werden musste. Freilich war die im Sommer 2012 reformfreudige Politik festgelegt auf die eine Kompetenznorm, auf Art. 127 Abs. 6 AEUV. Diesen Schläfer hat der Unionsgesetzgeber 20 Jahre nach Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages aktiviert: Der SSM ist eine neue Struktur in der EZB. Sie hat „besondere Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute und sonstige Finanz­ institute mit Ausnahme von Versicherungsunternehmen“ übernommen (Art. 127 Abs. 6 AEUV). In der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts zur Bankenunion am 27. November 2018 hat der Richter Peter Müller gefragt, ob es richtig sein könne, einem Hund den Wurstvorrat anzuvertrauen.24 Trefflich formuliert Christoph Ohler: Fortan schlagen „zwei Herzen in der Brust der Zentral­ bank“.25 Zweitens: Die Bankenunion ist ein Projekt der Eurozone. De  jure könnten sich die Nicht-Eurostaaten anschließen,26 tatsächlich aber sind sie nicht interessiert. Damit stehen sowohl der ESM als auch die Bankenunion repräsentativ und paradigmatisch für eine auf den Währungsraum beschränkte Integrationsverdichtung. Das kann politisch nicht folgenlos bleiben. Auch für die Zukunft wird die Übernahme des „Euro-Acquis“  – der Wechsel aus dem Lager der NichtEurostaaten in den Währungsraum  – anspruchsvoller mit jeder 22  Zum SRM: Tobias H. Tröger, Zu kompliziert, um zu funktionieren. Eine kritische Bewertung des Bail-in-Instruments im europäischen Recht der Bankenabwicklung, ZBB 2018, S. 20 ff. 23  Art. 1 Abs. 1 SSM-VO: „Ziel, Aufsichtsarbitrage zu verhindern“. 24  Prozessbericht der Süddeutschen Zeitung (SZ) v. 28.11.2018, S. 21. 25  Ohler, Bankenaufsicht (Anm. 19), § 5 Rdnr.  54, dort (Rdnr.  53 ff.) auch zu etwaigen Interessenkonflikten zwischen Geldpolitik und Bankenaufsicht. 26  Art. 2 Nr. 1, Art. 7 SSM-VO: „enge Zusammenarbeit“ mit „teilnehmenden Mitgliedstaaten, deren Währung nicht der Euro ist“ auf „Ersuchen“ (Art. 7 Abs. 2 lit. a). Art. 4 SRM-VO verweist auf Art. 2 Nr. 1, Art. 7 SSMVO.

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weiteren Vertiefung im Euroraum. Und wer zurückbleibt, mag sich, je länger je mehr, zurückgestuft sehen in eine Art privilegierte Partnerschaft. Und drittens: Die Bankenunion betraut unionseigene Behörden, das Single Supervisory Board in der EZB und das Single Resolution Board, Agentur der Union,27 mit Verwaltungszuständigkeiten und Durchgriffsbefugnissen. Der direkte, unionseigene Vollzug wird wichtiger. Das Bundesverfassungsgericht hat sich im BankenunionUrteil dazu sehr deutlich und kritisch geäußert, will direkte Exekutivgewalt der Europäischen Union nur als „Ausnahme“ akzeptieren und würdigt die „föderale Brechung“ im Vollzug  – sie sei dem Bundesstaat und „erst recht“ der Europäischen Union „wesens­ gemäß“.28 Ob das in dieser Strenge auch für einen supranationalen, hochintegrierten Währungsverbund gelten kann, wird im Urteil nicht vertieft. III. Wagnis der Asymmetrie Im Haupttitel meines Referats steht der Name unserer Währung ganz für sich: „Der Euro“. Anders aber das Vertragsrecht. Dort begegnet die Währung zuerst in Art. 3 Abs. 4 EUV – in einem Satz, der je nach Zählung, zwei oder drei Mal das Wort „Union“ voranstellt: „Die Union errichtet eine Wirtschafts- und Währungsunion, deren Währung der Euro ist.“ Diese Grundlagennorm stellt den Euro von Beginn an in den WWU-Zusammenhang. Auch der Arbeitsweise-Vertrag zieht Wirtschaft und Währung im gemeinsamen Titel „Die Wirtschafts- und Währungspolitik“ zusammen (vor Art. 119 ff. AEUV). So haben wir mit einem normativ-konzeptionellen und ganz gewiss mit einem sachlichen Zusammenhang zu tun. Dass eine Gemeinschaftswährung jedenfalls ein Minimum wirtschaftspolitischer Koordinierung voraussetzt, kann als Gemeingut gelten. Das wusste auch der legendäre Delors-Bericht vom April 1989. In seinen Schlüsselpassagen handelt er von der Unabweisbarkeit der „Koordinierung“ 27  Art. 42 Abs. 1 Satz  2 SRM-VO. Satz  3: „Er (sc. der Ausschuss = das Single Resolution Board) besitzt eigene Rechtspersönlichkeit.“ 28  BVerfG, EuGRZ 2019, 371 (Rdnr.  243 f.).



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als Vergemeinschaftungsminimum, verlangt aber  – kurz vor der großen Zeitenwende im Herbst 1989  – für die Währungspolitik, dass sie über Zusammenarbeit in der losen und schlichten Form einer Koordinierung hinausgreift. Ich zitiere einen Satz aus dem Delors-Bericht: „Die Koordinierung so vieler nationaler Geldpolitiken, wie Währungen an der Union teilnehmen, würde nicht ausreichen.“29 Demgegenüber sollte und soll bis heute für den Zwilling, die Wirtschaftsunion, gelten, dass die Mitgliedstaaten „ihre“ Wirtschaftspolitik lediglich koordinieren.30 Diese wenigen Andeutungen müssen genügen, um ein Leitmotiv aufzurufen, das seit Jahrzehnten alle Debatten über den Euro bestimmt: Das „Wagnis der Asymmetrie“. Die kühne Entscheidung, eine WWU zu gründen, das eine wie das andere „W“ groß zu schreiben – in einer Union zu verbinden –, aber nur das zweite große „W“ einer Einheitspolitik zu überantworten, galt und gilt manchen Beobachtern als Hochrisikoprojekt.31 Und haben uns nicht die langen Jahre der Krise gelehrt, dass wir uns auf ein zu großes Wagnis eingelassen haben? Drängt die Inte­ grationsentwicklung dahin, das „Wagnis der Asymmetrie“ zu beenden, also Symmetrie herzustellen? Brauchen wir für die Wirtschaftsunion die baugleiche Statik  – jene Bauweise, die die Währungs­ union auszeichnet? 1. Bauelemente der Währungsunion Betrachten wir das „Wagnis der Asymmetrie“ etwas genauer – zunächst aufseiten der Währungsunion. Diese beruht in ihrer Maastrichter Statik auf den drei miteinander kombinierten Elementen der 29  Delors-Bericht in: Krägenau/Wetter (Hrsg.): Europäische Wirtschaftsund Währungsunion, 1993, S. 148 f. Rdnr.  24. 30  Art. 5 Abs. 1 UAbs. 1 Satz  1 AEUV, allerdings koordinieren die Mitgliedstaaten „ihre“ Wirtschaftspolitik „innerhalb der Union“. Und Satz  2 ergänzt: „Zu diesem Zweck erlässt der Rat Maßnahmen; insbesondere beschließt er die Grundzüge dieser Politik“. Dazu ausführlich Hufeld, Wirtschaftsunion (Anm. 14), § 22 Rdnr.  25 ff. 31  Alexander Thiele, Das Mandat der EZB und die Krise des Euro, 2013, S. 3 ff. (Nachw.) zur „Heterogenität der Mitgliedstaaten“.

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Supranationalisierung, der Expertokratisierung und der Konstitutionalisierung. Indem das Vertragsrecht die Währungspolitik den wenigen ausschließlichen Zuständigkeiten der Union zuschlägt (Art. 3 Abs. 1 lit. c AEUV), hat es die Hoheit über den Euro vollumfänglich supranationalisiert: Die Währungshoheit gehört der Europäischen Union. Otmar Issing hat angemerkt, dass man der Übertragung der geldpolitischen Souveränität „staatsbildenden Charakter“ nicht absprechen könne.32 Im Zentrum der supranationalen Ordnung steht die Europäische Zentralbank, ein unabhängiges expertokratisches Unionsorgan mit Rechtspersönlichkeit. Sie steuert das Europäische System der Zentralbanken aller Staaten der Union und steuert insbesondere das Eurosystem, das die EZB mit den nationalen Zentralbanken der Eurostaaten bildet (Art. 282 Abs. 1 AEUV). Im Eurosystem wird unabhängig (Art. 130, Art. 282 Abs. 3 Satz 3 AEUV) und fachmännisch regiert  – ein Dorado der Expertokratie. Und die normativen Grundlagen, alle wesentlichen Aufgaben, Kompetenzen und Befugnisse finden sich im Primärrecht: Konstitutionalisiert im Unionsvertrag, im Arbeitsweise-Vertrag, im Protokoll über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken. Damit aber haben sich die Gründer- und Beitrittsstaaten in ihrer Währungsgemeinschaft auf eine historische Kombination mit tiefgreifenden Wirkungen eingelassen. Die Supranationalisierung hat einen drastischen Entstaatlichungseffekt, indem sie den Mitgliedern der Währungsunion ein klassisches Kennzeichen der Eigenstaatlichkeit streitig macht. Die Eurostaaten sind Staaten ohne Währungshoheit. Zweitens koppeln sich die unabhängigen Fachleute der Währungspolitik von allen politischen Organen auf Staaten- und Unionsebene ab, damit auch von Legitimationszufuhr  – ein gewaltiger Entparlamentarisierungs- und Entpolitisierungseffekt. Und drittens zeitigt das Bauelement der Konstitutionalisierung einen Versteinerungseffekt. Nur isoliert betrachtet verlängert die EZB in ihrer Unab32  Otmar Issing, Die Währungsunion im Spannungsfeld von Politik und Ökonomie, in: Pache/Schwarz (Hrsg.), Grundlagen, aktuelle Entwicklungen und Perspektiven der Europäischen Währungsunion, 2012, S. 50 (51). Zu Staatsleistungen ohne Staatsbildung Ulrich Hufeld, Staatsleistungen der ­Eurozone, in: Bieling/Große Hüttmann (Hrsg.), Europäische Staatlichkeit, 2016, S.  135 ff.



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hängigkeit die uns altvertraute Frankfurter Bundesbank-Tradition. Denn wer an der Vertragsverfassung des supranationalen Eurosystems rütteln will, am Primat der Preisstabilität (Art. 127 Abs. 1 Satz  1 AEUV), an der expertokratischen Kompetenzwahrnehmung, kann mit Mehrheiten nichts ausrichten. Politische Änderungsbereitschaft etwa in der französischen Nationalversammlung oder im Deutschen Bundestag genügt nicht. Auch eine Mehrheit der Eurostaaten kann das Vertragsrecht nicht antasten. Sogar der Konsens der Euro-Mitgliedstaaten greift zu kurz. Dem historischen Maastricht-Konsens der damals 12 Staaten müsste sich heute ein gegenläufiger Konsens der 28 (oder 27) Unionsstaaten widersetzen. Das ist praktisch ausgeschlossen. Die suprastaatliche Währung unter expertokratischer Regentschaft erweist sich als politisch uneinnehmbare Festung. 2. Kann die Wirtschaftsunion Abbild der Währungsunion sein? Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Abkehr von Asymmetrie durch Herstellung von Symmetrie: Wollen wir, um den Euro zu befestigen, die Wirtschaftsunion dem Muster der Währungsunion angleichen  – also baugleich entwerfen: supranational, expertokratisch und streng konstitutionalisiert? a) Eine supranationale Wirtschaftsunion? Die erste Teilfrage nach einer supranationalen Wirtschaftsunion führt zu einer differenzierten Antwort. Wer sich die Reichweite des Begriffs „Wirtschaft“ und die der Materie „Wirtschaftsrecht“ bewusst macht, wird einräumen, dass partielle Supranationalisierung längst stattgefunden hat und weiter stattfinden darf, im Binnenmarktrecht, im Wettbewerbs- und Kartellrecht oder im Recht der Bankenunion, auch im Steuerrecht. Zugleich aber können wir europapolitisch und staatsrechtlich ausschließen, dass der Europäischen Union eine ausschließliche Kompetenz über das „Recht der Wirtschaft“ oder eine Dominanz in der Steuer- und Fiskalpolitik zuwächst. Die Wirtschafts- und Währungsunion soll sich weder zum Einheitsstaat noch zum unitarischen Bundesstaat fortentwickeln. Das will niemand (abgesehen

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vielleicht von den tapferen Verfechtern einer utopistischen Republik Europa). Wir Europäer haben nur die eine Option: Die der Union, die eine Union der Staaten sein und bleiben muss. Diesen Staaten in der Union muss dauerhaft im relevanten Umfang eigene ­Hoheitsgewalt über Einnahmen und Ausgaben verbleiben  – so viel Eigenzuständigkeit in der Fiskal-, Steuer- und Haushaltspolitik, dass auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts von lebendiger Demokratie33 und demokratischer Selbstgestaltungsfähigkeit34 die Rede sein kann. Erstes Zwischenfazit: vollumfängliche Supranationalisierung mit Entstaatlichungseffekt kommt für die Wirtschaftsunion nicht in Betracht. b) Eine expertokratische Wirtschaftsunion? Die zweite Teilfrage nach einer expertokratischen Wirtschaftsunion führt zu einer wiederum differenzierten, zugleich aber restriktiven Antwort. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu vor wenigen Wochen das bereits erwähnte Grundsatzurteil gesprochen, konkret zur Bankenunion, jedoch abgesichert in allgemeinen verfassungsrechtlichen Maßstäben. Wenn ich in der Analyse etwas zuspitzen darf: Das Urteil vom 30.  Juli 2019 schützt die offene Arena der Politik, die Unwägbarkeit im demokratischen Ringen, auch die Irrationalität politischer Kämpfe vor dem Königtum der Experten, die sich ihrer Kenner- und Könnerschaft allzu sicher sind. Oder kürzer: Das Urteil schützt die Demokratie vor unelected power.35 Nicht zufällig findet sich im Maßstäbeteil der Rückverweis auf die gute alte Debatte über den „ministerialfreien Raum“.36 Der Zweite Senat hat Anlass, das Klassikerthema aufzugreifen, und stemmt sich gegen eine offenbar unaufhaltsame Tendenz in der europäischen Rechtsentwicklung.

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BVerfGE 89, 155 (Ls. 3b). BVerfGE 123, 267 (359). 35  Vgl. BVerfG, EuGRZ 2019, 371 (Rdnr. 131): Verweis auf Paul Tucker, Unelected Power, 2018. 36  BVerfG, EuGRZ 2019, 371 (Rdnr.  133). 34 



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Dass sich die Europäische Union nach und nach Verwaltungsräume im eigenen, direkten Vollzug erobert, ist für sich genommen noch nicht bedenklich. Doch die Agenturen, die sie gründet, werden nicht selten mit Unabhängigkeit ausgestattet, in der Bankenunion und weit darüber hinaus.37 Das Bundesverfassungsgericht reagiert auf die neue europäische Expertokratie streng und restriktiv, entfaltet eine Dogmatik der „eng begrenzten Ausnahmefälle“38 – verknüpft mit einer Dogmatik der demokratischen Kompensation: Behörden­ unabhängigkeit und die mit ihr verbundene „Absenkung des demokratischen Legitimationsniveaus“39 seien nur erträglich, wenn der regelwidrige Status „durch besondere Vorkehrungen kompensiert“40 wird. Entlang dieser Maßstäbe hat der Senat aufmerksam einzelne Legitimationsbausteine im Recht der Bankenunion registriert und aufaddiert  – den Rechtsschutz gegen Eingriffe dieser Behörden, die Rechenschaftspflichten gegenüber dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten, zudem die intensive, detailgenaue Programmierung des Behördenhandelns im Sekundärrecht und besonders deutlich die „Letztkontrolle“ im gesetzgeberisch möglichen Zugriff auf die Rechtsgrundlagen der unabhängigen Aufsichts- und Abwicklungsbehörden.41 Mit dieser ausnahme- und kompensationsrechtlichen Dogmatik hat sich der Zweite Senat aus einem Dilemma befreit. Er kann auf der Linie des Maastricht-Urteils bleiben, der dortigen Festlegung, dass sich die „Verselbständigung der Währungspolitik in der Hoheitskompetenz einer unabhängigen Europäischen Zentralbank“ „nicht auf andere Politikbereiche übertragen“ lasse.42 Er muss aber die grassierende Agenturisierung auf Unionsebene nicht auf Biegen und Brechen bekämpfen. Er kann „mit Blick auf den konkreten 37  Umfassend Andreas Orator, Möglichkeiten und Grenzen der Einrichtung von Unionsagenturen, 2017; Vassilios Skouris, Demokratie und Rechtsstaat, 2018, S. 83 ff. 38  BVerfG, EuGRZ 2019, 371 (Rdnr.  128 ff. [Maßstäbe], 209 ff. [Unabhängigkeit der EZB im SSM], 266 ff. [Unabhängigkeit des SRB im SRM]). 39  BVerfG, EuGRZ 2019, 371 (Rdnr.  131 f.). 40  BVerfG, EuGRZ 2019, 371 (Rdnr.  209). 41  BVerfG, EuGRZ 2019, 371 (Ls.  2 und Rdnr.  130, 211, 227, 272). 42  BVerfGE 89, 155 (209).

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Fall“43 einen anspruchsvollen, aber doch beweglichen Maßstab hochhalten: Unabhängigkeit ausnahmsweise hinnehmen, jedoch kompensatorische Legitimationselemente einfordern, letztlich „ein bestimmtes Legitimationsniveau“.44 Zweites Zwischenfazit: Die weitreichende Expertokratisierung mit Entparlamentarisierungs- und Entpolitisierungseffekt, wie wir sie im Bereich der Währungspolitik akzeptiert haben, kommt für die Wirtschaftspolitik nicht in Frage. Soweit dort unabhängige Agenturen handeln, muss die Verselbständigung wohldosiert und streng balanciert sein. c) Eine konstitutionalisierte Wirtschaftsunion? Mit der dritten und letzten Vergleichsbetrachtung wird überdeutlich, dass sich die Kernelemente der Währungsunion nicht ebenbildlich in das Recht der Wirtschaftsunion übertragen lassen. Um den ambivalenten Befund vorwegzunehmen: Ja, die Europäische Wirtschaftsunion hat eine konstitutionelle Basis, im Binnenmarktrecht, in der marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung und in den Grundrechten. Soweit aber die Wirtschaftspolitik der Hoheitsträger in Rede steht, der Union und der Mitgliedstaaten, deren Regulierungs-, Steuer- und Haushaltspolitik, dürfen wir uns allzu viel Konstitutionalisierung mit Versteinerungseffekt nicht wünschen. Ich plädiere dafür, dass wir uns auf die Rahmenverfassung eines Marktordnungsrechts beschränken: Auf den Vorrang der Freiheit, der die hoheitliche Intervention unter Rechtfertigungsdruck setzt. Wirtschaftspolitik wird damit nachgeordnet, aber nicht determiniert. Sie wird ausgerichtet (Art. 120 AEUV), jedoch inhaltlich nicht festgelegt. In ihrer Ausrichtung auf den prinzipiellen Primat der Grundrechte und Grundfreiheiten (Art. 2, Art. 3 Abs. 1–4 EUV) soll sie offenbleiben für politischen Streit. Der bereits zitierte Art. 3 Abs. 4 EUV über die Wirtschafts- und Währungsunion, „deren Währung der Euro ist“, steht im systematischen Kontext der Unionsziele. Verpflichtet auf die Förderung des 43  44 

BVerfG, EuGRZ 2019, 371 (Rdnr.  133). BVerfG, EuGRZ 2019, 371 (Rdnr.  129).



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Friedens, der Werte, auf die sich die Union gründet, und des Wohlergehens ihrer Völker  – so formuliert Abs. 145  –, verheißen die folgenden Absätze  2 und 3, noch vor dem Versprechen, eine Wirtschafts- und Währungsunion zu errichten, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen – einen Binnenmarkt und eine wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft. Das sind in der Dramaturgie des Art. 3 EUV buchstäblich Vor-Entscheidungen. Art. 3 EUV stellt den Euro in diesen „axiomatischen Rahmen“.46 Die wirtschaftsverfassungsrechtlichen Vorentscheidungen können nicht hinweggedacht werden. Das Vertragsrecht der WWU setzt sie voraus: Das fundamentale Binnenmarktkonzept der gleich freien Marktzugangsberechtigung für alle Unionsbürger und die marktwirtschaftliche Primat-Regel: Freiheit vor Hoheit. Das Primärrecht der Union hat den grundsätzlichen Vorrang der Privatinitiative und der Privatautonomie fest verankert und in den großen suprastaatlichen Raum der Gesamtunion erstreckt. Das Recht der Wirtschaftsund Währungsunion soll sich im Ensemble der operativen Hauptziele nicht verselbständigen.47 Art. 119 Abs. 1 AEUV stellt ausdrücklich klar, dass die Wirtschaftspolitik  – auch die der Mitgliedstaaten  – auf dem Binnenmarkt beruht „und dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist.“ Drittes Zwischenfazit: Binnenmarkt und Marktwirtschaft fundamentieren die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Union. Das sind unverrückbare Fundamente, haben ganz gewiss Verfassungscharakter  – wollen aber Entpolitisierungs- und Versteinerungseffekte gerade vermeiden. Diese Wirtschaftsordnung will Dynamik freisetzen, private Präferenzentscheidungen und transnationalen Wettbewerb. Sie will auch den demokratischen Streit über Wirtschaftspolitik nicht ersticken. Sie steht allerdings immer wieder neu vor der 45  Jörg Philipp Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Stand der 53. Erg-Lfg. (Mai 2014), Art. 3 EUV Rdnr.  29, zu den „Metazielen“ des Abs. 1, zugleich „Gemeinwohlorientierung der Union“. 46  Peter-Christian Müller-Graff, Die Wirtschafts- und Währungsunion als Herausforderung der Autorität des Unionsrechts, in: Heusel/Rageade (Hrsg.), The Authority of EU Law, 2019, S. 195 (206). 47  Müller-Graff, Wirtschafts- und Währungsunion (Anm. 46), 203  f., 205 f.

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Herausforderung, den „besser“ (Art. 5 Abs. 3 UAbs. 1 EUV) geeigneten Akteur zu finden für Wirtschaftsrecht und Wirtschaftsverwaltung: den berufenen Regulierer oder Steuergesetzgeber, die passgenaue Behördenstruktur, den richtigen Aufseher auf lokaler, regionaler, mitgliedstaatlich-zentraler oder doch auf europäischer Ebene. IV. Komplexe Governance Wenn die bisherigen Überlegungen zutreffen, haben wir mit einer überaus komplexen Governance in der Eurozone zu tun. Zusammenfassend sieben Schlaglichter: –– Die Euro-Mitgliedstaaten bestimmen über die vertragsrechtlichen Grundlagen ihrer Währungsunion nicht allein. Über das Primärrecht, auch das der Wirtschafts- und Währungsunion, verfügen alle Unionsstaaten, die Euro- und die Nicht-Eurostaaten, im Konsens. Das anspruchsvolle Verfahren der Vertragsänderung unter Konsensvorbehalt befestigt und konserviert den Status  quo. Die Unberührbarkeit des marmornen Primärrechts ist auch (reform-) politisch ein Fundamentaldatum. –– Die Eurostaaten können allenfalls mit einer Flucht aus dem Unions­recht auch dem Konsensvorbehalt entfliehen. Der Rettungsschirm ESM ist völkerrechtlicher Club-Vertrag  – ein Rütlischwur der Club-Mitglieder. In die gleiche Kategorie gehört der sogenannte Fiskalvertrag VSKS48. Insoweit hat sich das Krisen­ reaktionsrecht dem anspruchsvollen Konsensprinzip des Unionsprimärrechts entzogen und ein konkurrierendes GovernanceMuster etabliert. Von beweglicher Geometrie kann allerdings keine Rede sein. Allemal wird von den Euro-Staaten erwartet, dass sie zusammenhalten  – im ESM, im Fiskalvertrag, in der Bankenunion. Die eingeschworene Club-Gemeinschaft ist keine ad  hocKoalition der Willigen. 48  Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion v. 02.03.2012, BGBl. II S. 1008 (S. 1006 Deutschlands Zustimmungsgesetz). Analyse: Rathke, Sondervertragliche Kooperationen (Anm. 12), 115 ff.



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–– Der Fiskalvertrag hat seinerseits ein neues Governance-Zentrum konstituiert, den Euro-Gipfel. Ich zitiere aus Art. 12 VSKS: „Die Staats- und Regierungschefs der Vertragsparteien, deren Währung der Euro ist, und der Präsident der Europäischen Kommission treten informell zu Tagungen des Euro-Gipfels zusammen.“ Ich habe auf die Initiative hingewiesen, einen Grexit auf Zeit vorzubereiten (o.  sub  I). Der deutsche Finanzminister konnte seine Kollegen in der mächtigen Euro-Gruppe befassen, musste aber gewärtigen, dass die im Euro-Gipfel versammelten Chefs seiner Linie nicht folgen. So kam es. Der Euro-Gipfel kann als verkleinerter Europäischer Rat für die Eurozone gelten; ein Unionsorgan ist er noch nicht. –– Die Euro-Gruppe wiederum kann sich umstandslos, ohne jede personelle Veränderung, in den Gouverneursrat verwandeln und als solcher Regierungskompetenzen im ESM wahrnehmen (Art. 5 ESMV). Dann formieren sich die Finanzminister der Eurostaaten als Finanznotstandsregierung  – mit Verfügungsgewalt über 700 Mrd. Euro (Art. 8 Abs. 1 Satz 1 ESMV). Einzelne Finanzminister jedoch sind, sobald sie in die Funktionen der ESM-Gouverneure eintreten, gebundene Mandatare ihrer nationalen Parlamente.49 –– Die EZB steht im Zentrum des Eurosystems und nimmt mit ihrer Kompetenz, „die Geldpolitik der Union festzulegen und auszuführen“ (Art. 127 Abs. 2 AEUV), unabhängig-fachmännisch eine Regierungsfunktion in der Währungsunion wahr. Mit Gründung der Bankenunion ist ihr zudem eine bedeutsame Verwaltungsfunktion zugewachsen: die Aufsicht über die systemrelevanten Banken in der Eurozone. –– In der zweiten Säule der Bankenunion trägt eine Unionsagentur Verantwortung, nicht nur für die Restrukturierung oder Abwicklung einer notleidenden Bank, sondern auch als Eigentümerin des 49  Österreich: Art. 50b B-VG. Deutschland: § 4 ESMFinG („Parlamentsvorbehalt für Entscheidungen im Europäischen Stabilitätsmechanismus“); ausführlich dazu Christoph Peterek, Haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages, in: von Arnauld/Hufeld (Hrsg.): Systematischer Kommentar zu den Lissabon-Begleitgesetzen, 2018, § 18; Ulrich Hufeld, Europäisierung der Finanzverfassung, in: Hufeld/Kube/Reimer (Hrsg.), Entwicklungslinien der Finanzverfassung, 2016, S. 75 ff.

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Abwicklungsfonds SRF50. Diesen hat die Bankenbranche selbst auszustatten. Die Agentur soll im Krisenfall die Kollateralschäden begrenzen, im sogenannten Bail-in die Eigentümer und Gläubiger der Bank in Haftung nehmen und im Notfall auf ihren Fonds zurückgreifen („Haftungskaskade“), um die Gemeinschaft der Steuerzahler zu schonen. –– Soweit die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Zuständigkeit der Gesetzgeber verblieben ist, entscheidet der Unionsgesetzgeber in ausschließlicher Kompetenz über Wettbewerbsregeln, soweit sie für das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlich sind (Art. 3 Abs. 1 lit. b AEUV), ansonsten in der Konkurrenz mit den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern (Art. 2 Abs. 2 Satz  2, Art. 4 AEUV). Der Bundesgesetzgeber in Berlin muss aber auch in seinem Zuständigkeitsbereich die Wirtschaftsverfassung der Union beachten und insbesondere mit binnenmarktrechtlichen Vorgaben rechnen, etwa in der Steuergesetzgebung. Der Überblick macht bewusst: Von Übersichtlichkeit kann keine Rede sein. Nimmt man die komplexen Regierungsstrukturen der WWU in den Blick, erscheint der Euro als Wunderwerk. Ohne die Stabilisierungsfunktion des Rechts  – ohne „Integration durch Recht“  – ist er nicht zu denken. Er ist ein Erfolg der europäischen Rechtsgemeinschaft. Eine vollverrechtlichte, „vollversteinerte“ WWU wird ihn aber auf Dauer nicht tragen können. Letztlich ist er wie die gesamte Währungs- und Wirtschaftsverfassung der Union auf Akzeptanz und politischen Rückhalt angewiesen. Die zwei Seiten der EuroMünzen spiegeln die asymmetrische Wirtschafts- und Währungsunion und die historische Mission der Europäer. In ihrer Union der Staaten soll und muss beides gelingen: Eigenstaatlichkeit in je eigener Identität und Zusammenhalt in der größeren Einheit, die sich global behaupten kann als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.

50  Single Resolution Fund. Rechtsgrundlagen: Art. 67 ff. SRM-VO und ein zwischenstaatliches Übereinkommen (IGA); dazu BVerfG, EuGRZ 2019, 371 (Rdnr.  293 ff.).

Der Brexit Zu Ursachen, Austrittsverfahren und Perspektiven Von Katja S. Ziegler I. Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 II. Ursachen und Hintergründe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1. Ursachenspektrum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2. Hintergründe des Referendumsversprechens. Ideologisch ­begründete Euroskepsis und eine Serie fehlgeschlagener politischer Strategien und Taktiken  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3. Referendumskampagne  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 4. Fazit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 III. Austrittsverfahren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 1. EU Recht: Art. 50 EUV  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 a) Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) Rücknahme einer erfolgten Notifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 c) Problematik der Verfahrensaufspaltung des Art. 50 Abs. 2 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 d) Außerkrafttreten der Verträge durch Fristablauf nach Art. 50 Abs. 3 EUV im „no deal“-Szenario . . . . . . . . . . . . . . . 106 aa) Auslegung des Verweises auf die nationalen verfassungs­ rechtlichen Vorschriften  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 bb) Vorliegen eines Verstoßes gegen nationales Verfassungsrecht  im Rahmen des Austrittsverfahrens nach Art. 50 EUV und europarechtliche Überprüfbarkeit . . . . . . . . . . . 113 cc) Konsequenzen eines Verstoßes gegen nationales Verfassungsrecht im Rahmen des Austrittsverfahrens nach Art. 50 EUV auf der Ebene des Europarechts . . . . 117 2. Britisches Verfassungsrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 IV. Austrittsvertrag  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Übergangszeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2. Rechte der Unionsbürger  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3. Nordirland-Protokoll  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4. Streitbeilegung und Zuständigkeit des EuGH  . . . . . . . . . . . . . . . 132

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V. Die innerstaatliche Umsetzung des Austritts im Vereinigten Königreich  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 1. „Retained EU Law“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2. Auslegung von „retained EU Law“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 3. Ausnahmen von der Überleitung ins britische Recht, insbesondere: Grundrechte-Charta der EU  . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 VI. Perspektiven  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 1. Zukünftige EU-UK Beziehungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 a) Politische Erklärung über den Rahmen der zukünftigen Beziehungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 b) Verhandlungen „im Rückwärtsgang“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 2. Ausblick  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 VII. Fazit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

I. Einleitung Der Ausgang des Referendums vom 23.  Juni 2016, in dem sich eine knappe Mehrheit von 1,3 Millionen Briten (oder 51,9 % der Abstimmenden) für einen Austritt des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland (UK) aus der Europäischen Union aussprachen, stellte den Gipfelpunkt einer lange schwelenden Euro­ skepsis dar. Die politische und rechtliche Umsetzung dieser Entscheidung, die zwar verfassungsrechtlich nicht formal verbindlich war, wohl aber weitgehend politisch so angesehen wurde, gestaltete sich als ausgesprochen schwierig. Zwar erfolgte der formale und poli­ tische Austritt aus der EU dreieinhalb Jahre nach dem Referendum am 31.  Januar 2020, und es entfällt die für die Übergangszeit fortbestehende Anwendung des EU-Rechts auch auf das UK zum 1.  Januar 2021. Viele Fragen der Austrittsphase aber erscheinen als Bumerang in den Verhandlungen zum Vertrag über die zukünftigen Beziehungen. Dieser Beitrag beleuchtet einleitend die Gemengelage von Ursachen der Entscheidung für den Brexit (II.). Sodann werden einige Problembereiche des sich über dreieinhalb Jahre hinziehenden Austrittsverfahrens sowie dessen Ergebnis, der Austrittsvertrag, und dessen innerstaatliche Umsetzung im UK erörtert (III., IV., V.). Abschließend reflektiert der Beitrag, ausgehend von der Politischen Erklärung über die zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und



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dem UK und den angelaufenen Verhandlungen, die Perspektiven einer weiteren Umsetzung der Brexit-Entscheidung (VI.). II. Ursachen und Hintergründe Der Ausgang des Referendums vom 23. Juni 2016 war zwar knapp, aber dennoch unerwartet. Die Regierung von David Cameron hatte erst gar nicht für einen solchen Ausgang geplant. Selbst die „Vote Leave“-Kampagne überraschte ihr Sieg. Nigel Farage hatte nach Schließung der Wahllokale am Abend der Abstimmung und bereits vor Bekanntwerden der Ergebnisse von einer Niederlage gesprochen.1 Der Ausgang des Referendums für den Brexit ist unmittelbar die Folge eines fehlgeschlagenen politischen Kalküls des damaligen Premierministers David Cameron. Wenn die Erwartung sich erfüllte, dass eine Mehrheit sich für den Verbleib in der EU entscheiden würde, sollte dadurch die langjährige, mehr oder wenig offen schwelende Herausforderung der Regierung durch den euroskeptischen Flügel in der Conservative Party ein für alle Mal ruhiggestellt sein. Angesichts einer weit verbreiteten Euroskepsis im UK ist die Entscheidung für den Brexit aber auch nicht vom Himmel gefallen, und die Frage nach den Ursachen reicht tiefer. In einer komplexen Gemengelage verketteten sich Schichten von Ursachen, die letztlich zur Brexit-Entscheidung führten. Die Frage nach den langfristigen Ursachen und kurzfristigeren Auslösern des Ausgangs des Brexit-Referendums ist ein eigenes Forschungsfeld der Politikwissenschaften. Teils wird dabei der Austritt aus der EU langfristig als unausweichlich, teils als bewusste Entscheidung,2 teils als das Ergebnis von einer Reihe von Zufälligkeiten und eines gescheiterten politischen Kalküls 1  Charlie Cooper/Katie Foster, EU Referendum: Nigel Farage says it ‚looks like Remain will edge it‘ as polls close, in: The Independent v. 23.06.2016 (22:02 Uhr), abrufbar unter https://www.independent.co.uk. Siehe auch Molly Scott Cato, Why did Nigel Farage tell the world he thought remain had won?, in: The Guardian v. 26.06.2018, abrufbar unter https:// www.theguardian.com zu Spekulationen über eine Manipulation der Währungsmärkte, von denen Hedgefunds, die die britische Währung geshortet hatten, profitierten. 2  Kenneth A. Armstrong, Brexit Time, 2017, S. 1 (9).

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von David Cameron als Premierminister gesehen.3 Es soll hier nicht der Versuch einer abschließenden Bewertung des Spektrums politikwissenschaftlicher Ursachenanalysen unternommen werden. Insbesondere die relative Gewichtung der Ursachen, Auslöser und Determinanten des Referendumsausgangs und ihrer Kausalzusammenhänge untereinander bedarf komplexer empirischer Analysen. Es ist aber von einer Mischung von langfristigen und kurzfristigen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen „Ursachen“ und deren populistischer Instrumentalisierung in einer demagogisch und „algorithmisch“ geführten „Vote Leave“ Referendumskampagne auszugehen.4 Im Folgenden sollen die Hintergründe der Entscheidung, ein Referendum abzuhalten und die Faktoren, die für dessen Ausgang verantwortlich waren, perspektivisch beleuchtet werden. Zu diesem Zweck wird zunächst ein Blick auf die Bandbreite der diskutierten Ursachen geworfen. Sodann werden die Hintergründe der Entscheidung von Premierminister David Cameron, ein Referendum abzuhalten, erläutert. Schließlich werden Themen und die Art des Referendumswahlkampfes im Überblick aufgerissen. 1. Ursachenspektrum Das Spektrum der Ursachenanalysen5 ist breit: Einerseits werden sozio-ökonomische Ursachen betont:6 Brexit als langfristige Folge 3  Vgl. zu beiden Dimensionen Helen Thompson, Inevitability and Contingency. The Political Economy of Brexit, British Journal of Politics and International Relations 19 (2017), S. 434 ff. 4  Jonathan Hopkin, When Polanyi Met Farage. Market Fundamentalism, Economic Nationalism, and Britain’s Exit from the European Union, British Journal of Politics and International Relations 19 (2017), S. 465. 5  Daniel Wincott/John Peterson/Alan Convery, Introduction: Studying Brexit’s Causes and Consequences, British Journal of Politics and Interna­ tional Relations 19 (2017), S. 429 (und die weiteren Beiträge in diesem Sonderheft zum Brexit). Siehe auch Jeremy Richardson/Berthold Rittberger (Hrsg.), The Brexit Policy Fiasco. Sonderheft des European Journal of Public Policy 2020 (Bd. 27, Heft 5). 6  Siehe hierzu die Symposiumsbeiträge Jacqueline O’Reilly et  al., Brexit. Understanding the Socio-economic Origins and Consequences, Socio-Economic Review 14 (2016), S. 807 ff.



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einer ökonomischen Ungleichheit im UK und einer besonders strengen Austeritätspolitik seit der Finanzkrise, verbunden mit einer Kürzung von staatlichen Ausgaben für öffentliche Einrichtungen (insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen) und wachsender sozialer und wirtschaftlicher Spaltung.7 Auch Erklärungsansätze, die Brexit als Konsequenz der „Globalisierungsverlierer“ sehen, führen diesen letztlich auf soziale und ökonomische Faktoren zurück, die sich in Xenophobie und Sorge um Einwanderung ausdrückten.8 Andererseits werden Ursachen im politischen System hervorgehoben: die Wahrnehmung fehlender Alternativen in der politischen Profilierung der beiden großen Parteien, verbunden mit dem Gefühl von Teilen der Gesellschaft zurückgelassen zu sein und einer allgemeinen Politikunzufriedenheit,9 die das Referendum zum Ventil für andere Probleme machte, die mit der Sachfrage des EU-Austrittes nichts zu tun hatten.10 Daneben bestehen Erklärungsansätze, die vermehrt an ein wachsendes ideologisch-nationales Selbstverständnis und konservative Werte der Wähler anknüpfen.11 Teils wird dabei nur auf eine Korrelation verwiesen, teils wird versucht, damit eine mögliche Sonderstellung des UK im restlichen Europa zu erklären, weil das UK im europäischen Vergleich eine stärkere Assoziation von nationaler Identität (als Britisch) und Euroskepsis aufweise, die in einer vergleichsweise schwach ausgeprägten europäischen Identität begründet liege.12 Im Blick auf das sich regional stark unterscheiden7  Sascha O. Becker/Thiemo Fetzer/Dennis Novy, Who voted for Brexit? A  Comprehensive Districtlevel Analysis, Economic Policy 21 (2017), S. 601. 8  Sarah B. Hobolt, The Brexit Vote. A Divided Nation, a Divided Continent, Journal of European Public Policy 23 (2016), S. 1259. 9  Hopkin, BJPIR (Anm. 4), 465 ff. 10  Zum Einfluss von „second order issues“ in den beiden irischen Referenda zum Vertrag von Nizza siehe John Garry/Michael Marsh/Richard Sinnott, „Second-order“ versus „Issue-voting“ Effects in EU Referendums. Evidence from the Irish Nice Treaty Referendums, European Union Politics 6 (2005), S. 201. 11  Geoffrey Evans/Anand Menon, Brexit and British Politics, 2017. 12  Noah Carl/James Dennison/Geoffrey Evans, European but not European enough. An Explanation for Brexit, European Union Politics 20 (2019), S. 282 (siehe auch 286 m. w. N., 289).

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de Abstimmungsverhalten im Referendum13 suchen andere Studien subtilere Antworten im Verständnis der innerstaatlichen nationalen Identitäten innerhalb des UK („Englishness [im Gegensatz zu „Britishness“] was also a significant driver of the choice for Leave.“14). Teils werden hieraus durchaus kontroverse Erklärungen versucht, die auf eine historische, geographische und kulturelle Sonderstellung des UK verweisen, die sich dann in einer im europäischen Vergleich euroskeptischeren Grundhaltung ausdrückte.15 Daneben wird die Dauerbeschallung durch ausgeprägte und überwiegend euroskeptische Medien und deren problematische Symbiose mit Teilen der Politik hervorgehoben, die langfristig und penetrant ein negatives Bild von der Europäischen Union skizziert hat.16 Eine von der Universität Loughborough durchgeführte Inhaltsanalyse der Medienberichterstattung in der Referendumskampagne wies nach, dass ca. 80 % der Medienberichterstattung einen Austritt favorisierte.17 13  Ailsa Henderson et al., How Brexit was made in England, British Journal of Politics and International Relations 19 (2017), S. 631: „Brexit was made in England“ mit 53,4 % für den Austritt gegenüber 46,6 % für „Remain“; siehe auch bereits Ailsa Henderson et  al., England, Englishness and Brexit, The Political Quarterly 87 (2016), S. 187. 14  Henderson et  al., BJPIR (Anm. 13), 631. 15  Carl/Dennison/Evans, EUP (Anm. 12), 297 f., die allerdings die möglichen Grenzen ihrer Analyse anerkennen; siehe auch James Dennison/Noah Carl, The Ultimate Causes of Brexit. History, Culture, and Geography, v. 18.07.2016, abrufbar unter https://blogs.lse.ac.uk/politicsandpolicy/explain ing-brexit/. 16  Dazu Benjamin Hawkins, Nation, Separation and Threat. An Analysis of British Media Discourses on the European Union Treaty Reform Process, Journal of Common Market Studies 50 (2012), S. 567; Oliver Daddow, The UK Media and ‚Europe‘. From Permissive Consensus to Destructive Dissent, International Affairs 88 (2012), S. 1219; Nicholas Startin, Have we Reached a Tipping Point? The Mainstreaming of Euroscepticism in the UK, International Political Science Review 36 (2015), S. 311; David Mead, „You Could’t Make it Up“. Some Narrative of the Media’s Coverage of Human Rights, in: Ziegler/ Wicks/Hodson (Hrsg.), The UK and European Human Rights. A Strained Relationship?, 2015, S. 453 und Lieve Gies, Human Rights, the British Press and the Deserving Claimant, in: Ziegler/Wicks/Hodson, a. a. O., S. 473. 17  Loughborough University Centre for Research in Communication and Culture, Media Coverage of the EU Referendum, 5th Report, v. 27.06.2016, abrufbar unter http://blog.lboro.ac.uk/crcc/eu-referendum.



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Dazu treten Erklärungsansätze, die auf die Art und Weise, wie die „Vote Leave“-Kampagne geführt wurde, oder die auf Fehler der „Remain“-Kampagne abheben.18 Vor diesem allgemeineren Hintergrund sollen im Folgenden die beiden spezifischen und kurzfristigeren Ursachen des Referen­dums­ ausgangs betrachtet werden. 2. Hintergründe des Referendumsversprechens. Ideologisch begründete Euroskepsis und eine Serie fehlgeschlagener politischer Strategien und Taktiken David Camerons Versprechen, ein „in/out“ Referendum über die EU-Mitgliedschaft abzuhalten, hatte seinen Ursprung in der akuten Gespaltenheit der Conservative Party über Europa. Die Wende von einer pro-europäischen zu einer mehr antieuropäischen Haltung in der Conservative Party zeichnete sich längst in der Rede von Margaret Thatcher in Brügge im September 1988 ab, in der sie vor einem „European super-state exercising a new dominance from Brussels“ warnte. An der Europafrage scheiterten bislang fünf Premierminister der Conservative Party  – von Edward Heath bis Theresa May.19 Ironischerweise war es die Koalitionsregierung von Conservatives und Liberal Democrats unter David Cameron und Nick Clegg, die in ihrem Regierungsprogramm20 2010 ein Referendum auf die Tages18  Siehe z. B. Äußerungen von David Cameron in seinen Memoiren: David Cameron, For the Record, 2019. Relativierend bzw. nicht überzeugt von der Kausalität der Kampagne für den Ausgang des Referendums Carl/Dennison/Evans, EUP (Anm. 12), 284. 19  Die Europafrage spaltete aber auch die Labour-Partei, und das von Harold Wilson angesetzte Referendum von 1975 war ebenfalls ein Mittel, interne Spaltungen in der Labour-Partei zu bewältigen, siehe Armstrong, Brexit Time (Anm. 2), 21 f. 20  „The Government believes that Britain should play a leading role in an enlarged European Union, but that no further powers should be transferred to Brussels without a referendum. This approach strikes the right balance between constructive engagement with the EU to deal with the issues that affect us all, and protecting our national sovereignty.“, The Coalition, Our Programme for Government, Mai 2010, S. 19, abrufbar unter https://assets.

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ordnung setzte, um dem wachsenden Druck des euroskeptischen Flügels der Conservative Party („European Research Group“, ERG) etwas Wind aus den Segeln zu nehmen. In der Folge sah der European Union Act 2011 erstmalig in einzelnen näher bestimmten Fällen ein weiteres Parlamentsgesetz und zusätzlich ein Referendum vor,21 so zum Beispiel für förmliche Vertragsänderungen (Art. 48 EUV)22 und für die Frage der Übertragung weiterer Kompetenzen an die EU. Das Gesetz war in vielerlei Hinsicht eher von symbolischer Bedeutung, krankte es doch an zahlreichen rechtlichen und politischen Widersprüchen sowie impraktikablen Regelungen.23 Es hatte unter anderem zum Ziel, eine Art „Identitätskontrolle“ ausüben zu können. In den Gesetzeserläuterungen und Debatten des Gesetzes wurde ausdrücklich auf das Lissabon-Urteil24 des Bundesverfassungsgerichts als Vorbild verwiesen.25 Daneben betont der European Union Act 2011, in einer rechtlich rein deklaratorischen (und daher überflüssigen) Vorschrift die nationale Souveränität des UK und verrät damit den Kern seines Anliegens.26 Das Mantra der Berufung auf die nationale Souveränipublishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment _data/file/78977/coalition_programme_for_government.pdf. 21  Zusätzlich wurden weitere Entscheidungen von einem förmlichen Parlamentsgesetz abhängig gemacht, siehe Sections 7 bis 10, z. B. Parlamentsvorbehalt für Entscheidungen unter Art. 352 AEUV oder Opt-ins in Maßnahmen im Raum der  Freiheit, der  Sicherheit  und des  Rechts  (RFSR). 22  Sections 2 bis 4 und 6 des European Union Act 2011. Gemäß Section  6 sind auch Entscheidungen, die die sog. Passerelle von Art. 48 Abs. 7 EUV aktivieren, von einem Referendum abhängig. 23  Paul Craig, The European Union Act 2011. Locks, Limits and Legality, Common Market Law Review 48 (2011), S. 1915 (insbes. 1927–35, 1940–42). 24  BVerfGE 123, 267 Rdnr. 334, 340, 343. 25  Hierzu im Detail Craig, CMLR (Anm. 23), 1942. Der Vergleich mit der Rolle des Bundesverfassungsgerichts wurde auch später im Zusammenhang mit dem EU Referendum in David Camerons Chatham-House-Rede am 10.  November 2015 gemacht und als Argument angeführt, die EU verfassungsrechtlichen Grenzen zu unterwerfen, https://www.gov.uk/govern ment/speeches/prime-ministers-speech-on-europe. 26  Section 18 des European Union Act 2011. Kritisch Craig, CMLR (Anm. 23), 1937 ff., der darauf hinweist, dass die Regelung sowohl aus Sicht



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tät würde zukünftig sowohl die Referendumskampagne, die Verhandlungen zum Austrittsvertrag und der Politischen Erklärung sowie auch in jüngster Zeit die Verhandlungen zum Vertrag über die zukünftigen Beziehungen27 mit der EU prägen. Ein konkretes „in/ out“-Referendum war allerdings noch nicht Gegenstand des European Union Act 2011 und stand aus damaliger Sicht bis zur nächsten Vertragsänderung auch nicht auf der Tagesordnung. Unter weiter anwachsendem Druck des euroskeptischen Flügels der Conservative Party sowie aufgrund der Gewinne der populistischen UK Independence Party (UKIP) unter Nigel Farage in den Wahlen zu Gemeinderäten und zum Europaparlament versprach David Cameron schließlich doch in seiner Bloomberg-Rede am 23.  Januar 2013 ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft.28 Das Versprechen war an zwei Voraussetzungen gebunden: Explizit sollte ein Referendum erst nach Neuverhandlungen mit der EU über einen neuen „Deal“ für das UK erfolgen, der David Camerons Position auf der nationalen Bühne stärken sollte. Implizit wurde aber vorausgesetzt und erwartet, dass das politische Versprechen eines Referendums nicht eingelöst werden müsste. Jedenfalls solange sich die Konservativen in einer Koalition mit den Liberal Democrats befanden, wäre dies nicht denkbar gewesen. Die Wahlen von 2015 führten dann aber entgegen allen Voraussagen zu einer Mehrheit der Konservativen und einem Ende der Koalition. Auch die Neuverhandlungen mit der EU führten nicht zu dem von der Regierung geplanten und werbewirksam auszuwertenden Ergebnis. Dies hatte zum einen damit zu tun, dass die Pläne, mit der EU einen neuen „Deal“ auszuhandeln, eher von einem allgemeinen Sentiment als von konkreten Beanstandungen getragen wurde. Die Strategie, ein Referendum abzuhalten, ähnelte stark dem Muster für das Referendum 1975, unterschied sich aber davon in einem wesentlichen Punkt: Anders als 1975 war es von vornherein unklar, was der Rechtsprechung des EuGH als auch des UK Supreme Court überflüssig ist. 27  Siehe für ein Beispiel unten Anm. 287. 28  Abrufbar unter https://www.gov.uk/government/speeches/eu-speechat-bloomberg.

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Cameron mit Neuverhandlungen überhaupt erreichen könnte.29 Die umfassende, hierzu von der Regierung 2012 in Auftrag gegebene Überprüfung der Ausübung der Kompetenzen seitens der EU (Balance of Competence Review),30 die sich über mehr als zwei Jahre erstreckte und 32 Einzelberichte umfasste, sollte die öffentliche Debatte anregen und zielte auf ein umfassendes Audit der EU-Kompetenzen und deren Auswirkungen auf die nationalen Interessen des UK.31 Die Überprüfung brachte allerdings nicht die von Euroskeptikern erhoffte „Ammunition“, sondern bewertete im Ergebnis die Kompetenzverteilung im Großen und Ganzen als ausgewogen.32 Paul Craig bewertete diese umfassende Überprüfung zusammenfassend: „The inquiry conducted by government departments was indeed unimpeachable in terms of process, and well judged in terms of substance, but it did not produce the ammunition that the Eurosceptics had hoped for. Armstrong, Brexit Time (Anm. 2), 26. Review of the Balance of Competences between the United Kingdom and the European Union, Command Paper 8415 ( Juli 2012), https://assets. publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attach ment_data/file/35431/eu-balance-of-competences-review.pdf. Die Berichte sind abrufbar unter https://www.gov.uk/guidance/review-of-the-balance-ofcompetences#semester-2. Siehe auch den Bericht des House of Lords European Union Committee, The Review of the Balance of Competences bet­ ween the UK and the EU, HL Paper 140 v. 25.03.2015. 31  So der damalige Außenminister William Hague, House of Commons, Debates, 12.07.2012, col 468: „an audit of what the EU does and how it affects us in the United Kingdom. It will look at where competence lies, how the EU’s competences, whether exclusive, shared or supporting, are used and what that means for our national interest.“ 32  See Charlotte O’Brien, Cameron’s renegotiation and the burying of the balance of competencies review, UK in a Changing Europe, 02.02.2016, abrufbar unter https://ukandeu.ac.uk/camerons-renegotiation-and-the-burying-of-the-balance-of-competencies-review/#. Siehe auch die Analyse der durch das Centre for European Policy Studies (CEPS) angefertigten Berichte: Michael Emerson/Steven Blockmans, British Balance of Competence Reviews, Part I. „Competences about right, so far“, CEPS/EPIN Working Paper No. 35, 2013, S. 12; Emerson et  al., British Balance of Competence Reviews, Part II. „Again, a Huge Contradiction between the Evidence and Eurosceptic Populism“, EPIN Policy Network Paper No. 40, 2014; Emerson et al., British Balance of Competence Reviews, Part III. „More Reform than Renegotia­tion or Repatriation“, EPIN Paper No. 42, 2014. 29  30 



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All of which goes to show that the best laid plans often go off the tracks …“33 „It is clear from the reports that the distribution of competence was felt to be about right and that membership on these terms was beneficial to the UK.“34

Zwar erreichte Cameron mit dem „Deal“, den er im Februar 201635 mit dem Europäischen Rat aushandelte, folgende seiner Verhandlungsziele weitgehend:36 –– eine Abschirmung gegen finanzielle Risiken der Euro-ZonenLänder; –– eine Betonung des Wettbewerbs und der Deregulierung (Abschaffung von „red tape“); –– eine Betonung der nationalen Souveränität durch die Lösung von der vertraglichen Verpflichtung Großbritanniens an einer immer engeren Union mitzuwirken; –– die Begrenzung von Einwanderung, insoweit Zugeständnisse auf den Bereichen des Zugangs zu Sozialleistungen, des Missbrauchs der Freizügigkeit (Scheinehe) und der Auszahlung von Kindergeld an nicht Gebietsansässige gemacht wurden. Die Zugeständnisse bezüglich der Einwanderung entsprachen naturgemäß nicht dem Wahlversprechen Camerons von 2015, die Einwanderung zahlenmäßig auf 100.000 Personen pro Jahr zu beschränken. Einwanderungsbeschränkungen im Bereich der EU-Freizügigkeit wären, wie auch dem Premierminister selbst klar war, wegen der grundsätzlichen Natur der europäischen Freizügigkeit keine Angelegenheit gewesen, die in bilateralen Verhandlungen mit der 33  Paul Craig, Brexit. A Drama in Six Acts, European Law Review 41 (2016), S. 447, 450. 34  Craig, Drama in Six Acts (Anm. 33), 451. Ebenso Emerson/Blockmans, Balance of Competence Reviews, Part  I, (Anm. 32), 12. 35  Decision of the Heads of State or Government, meeting within the European Council, concerning a New Settlement for the United Kingdom within the European Union, enthalten in den Conclusions des Europäischen Rates anlässlich seines Treffens in Brüssel, EUCO 1/16, 18./19.02.2016. 36  Hierzu detaillierterer Überblick bei Armstrong, Brexit Time (Anm. 2), 31 ff.

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EU geregelt werden könnte. So blieb Cameron im Hinblick auf das Erreichte angreifbar. Seine Verhandlungsziele gingen auch von vornherein nicht so weit, wie es der euroskeptische Flügel der Konservativen Partei gefordert hatte.37 Dieser hatte in seinem sog. Fresh Start-Projekt38 gefordert, einen Notbremsenmechanismus der Mitgliedstaaten für die EU-Gesetzgebung zur Bankenunion zu schaffen, sozial- und arbeitsrechtliche Kompetenzen auf die nationale Ebene zurück zu übertragen, „Opt-out“-Mechanismen in Fragen der polizeilichen und justiziellen Maßnahmen, die über die bestehenden Ausnahmen unter dem Lissabonner Vertrag hinausgingen, einzuräumen, sowie den Straßburger Sitz des Europäischen Parlaments abzuschaffen. Cameron räsonierte im Rückblick darüber, ob weitergehende Zugeständnisse der EU zum Thema Einwanderung, wie z. B. ein „Notbremsen-Mechanismus“ im Zusammenhang mit EU-Freizügigkeit, es ihm ermöglicht hätten, den „Deal“ mit Brüssel der Öffentlichkeit im UK besser zu „verkaufen“ und ob das Referendum dadurch anders hätte ausgehen können.39 So oder so spielte weder die Balance of Competence Review noch der „Deal“ mit Brüssel im Vorfeld des Referendums eine große Rolle. David Cameron befand sich sprichwörtlich zwischen der Scylla der Euroskeptiker der eigenen Partei und der Charybdis der Neuverhandlungen mit der EU, die eine deutlichere Publikation und Kommunikation der Ergebnisse der Balance of Competence Review verhinderte. Allerdings ist fraglich, ob der euroskeptische Flügel überhaupt zufriedenzustellen gewesen wäre oder ob der ERG nicht in jedem Fall einfach weiter Druck ausgeübt hätte. Das Thema Einwanderung wurde politisch und von einer entsprechend ausgerichteten Presse so verzerrt dargestellt,40 dass auch weitere Zugeständnisse Craig, Drama in Six Acts (Anm. 33), 452 f. Manifesto for Change. A New Vision for the UK in Europe ( Januar 2013), S. 3, abrufbar unter https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/278507/Fresh_Start__ full_.pdf. 39  BBC Documentary, The Cameron Years, BBC 2019. Vgl. auch dahingehend Tim Shipman, All Out War. The Full Story of How Brexit Sank Britain’s Political Class, 2016. 40  So wurde z. B. vielfach die europäische Freizügigkeit in einen Topf mit der Einwanderung insgesamt geworfen und so zum Teil bewusst verschleiert, 37  38 



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zur Einwanderung möglicherweise nichts am Ausgang des Referendums geändert hätten. Angesichts der Großwetterlage in der Conservative Party muss allerdings schon die Entscheidung an sich, ein Referendum anzusetzen, als leichtfertig bewertet werden. Ihr politisches Kalkül ist fehlgeschlagen und war ggf. von Anfang an zum Scheitern verurteilt. 3. Referendumskampagne Die offizielle „Vote Leave“-Kampagne41 wirft ein Prisma auf die Gründe, aus denen eine Mehrheit des UK für den Brexit stimmte, auch wenn Substrat eher die mit bestimmten Themen verbundenen Fiktionen waren als deren Realität. „Fact and fiction“ gingen fließend ineinander über.42 „Vote Leave“ stellte die Schlagworte „money, economy, security, borders, trade“ in den Vordergrund ihrer Kampagne. Die Themen Wirtschaft, Einwanderung, Souveränität (Kontrolle über Gesetzgebung nach innen, und die Fähigkeit, Handelsabkommen nach außen abzuschließen), der finanzielle Beitrag zur EU und ein allgemeines Anti-Establishment Sentiment bestimmten die Kampagnen und beeinflussten den Ausgang des Referendums.43 Die Kampagne war gedass letztere, mit Ausnahme des Asylrechts, ohnehin unter nationaler Kompetenz und „Kontrolle“ stand. 41  Neben der offiziellen „Vote Leave“-Kampagne warb die vom Geschäftsmann Arron Banks mit hohen Beträgen finanzierte Kampagne von UKIP/Nigel Farage „Leave.EU“ ebenfalls prominent für den Brexit und ergänzte die Kampagne von „Vote Leave“ mit zum großen Teil  radikaleren Botschaften. Der genaue Umfang der Ausgaben von „Leave.EU“ ist unklar. Peter Geoghegan, Democracy for Sale. Dark Money and Dirty Politics, 2020, Kapitel 3, Text bei Anm. 35, geht von mindestens £  8.4 Millionen aus. Ein von der National Crime Agency eingeleitetes Verfahren wegen des Verdachts auf Verstöße gegen Finanzierungsregeln für politische Kampagnen wegen des Verdachts der Herkunft der Mittel aus ausländischen Quellen wurde im September 2019 mangels Beweisen für etwaige Verstöße eingestellt. Das Verfahren brachte allerdings Lücken in der britischen Gesetzgebung im Falle einer ausländischen Herkunft von finanziellen Mitteln ans Licht (Kap. 3, Text bei Anm. 82 ff.). 42  Craig, Drama in Six Acts (Anm. 33), 454. 43  Craig, Drama in Six Acts (Anm. 33), 454–457.

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prägt von Missrepräsentationen, Halbwahrheiten oder schlichtweg auch Lügen, die nicht unbedingt neu, aber vermehrt mit dem Referendum von 2016 umliefen.44 Einige besonders krasse Beispiele hierfür waren: die bereits am Tag nach dem Referendum von Nigel Farage zurückgenommene Behauptung, bei einem Austritt würden Haushaltsmittel an das UK in einem Umfang zurückfließen, dass £  350 Millionen pro Woche statt an die EU an den NHS gehen würden;45 die falsche Behauptung, dass ein Beitritt der Türkei zur EU nicht vom UK verhindert werden könnte und zu einer massiven Einwanderung führen würde; die Suggestion, dass durch die Grenzöffnung der Bundeskanzlerin Merkel in der Flüchtlingskrise 2015 in der Zeit des Syrienkonflikts eine weitere (muslimische) Einwanderungswelle auf das UK zurolle, repräsentativ zusammengefasst in dem umstrittenen Poster der UKIP/„Leave.EU“-Kampagne („Breaking Point“).46 Vielfach wurden Falschinformationen verbreitet, ohne dass die vom UK bereits eingenommene Sonderstellung in der EU berücksichtigt wurde. Dass das UK weder an der Währungsunion noch am Schengen-Abkommen teilnahm und „Opt-outs“ vom Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts sowie seit Thatcher einen Budgetrabatt genoss, wurde regelmäßig falsch dargestellt bzw. unterschlagen. Die Debatte 44  Vgl. hierzu Richard Clayton, The Brexit Case That Never Was, in: U.K. Constitutional Law Blog v. 22.03.2017, abrufbar unter https://ukcon stitutionallaw.org/. 45  Zugrunde liegende Kalkulationen ließen sowohl außer Acht, dass das UK aufgrund des Budgetrabatts von vornherein gar nicht in dieser Höhe zum EU-Haushalt beitrug, als auch, dass das UK Zuwendungen aus dem EU-Haushalt erhielt (insbesondere im Rahmen der Regional- und Strukturförderung sowie Landwirtschaft), die entweder durch nationale Maßnahmen zu ersetzen oder komplett zu streichen wären. Siehe hierzu auch Armstrong, Brexit Time (Anm. 2), 89 ff. Jon Stone, British public still believe Vote Leave ‚£ 350 million a week to EU’ myth from Brexit referendum, in: The Independent v. 28.10.2018. 46  Das kurz vor dem Referendum von UKIP/Leave.EU unter dem Titel „Breaking Point“ verbreitete Poster zeigte ein Bild von Flüchtlingen, die 2015 die kroatisch-slowenische Grenze überquerten, Heather Stewart/Roweena Mason, Nigel Farage’s anti-migrant poster reported to police, in: The Guardian v. 16.06.2016, https://www.theguardian.com. Zur Macht der Bilder in der Brexit-Debatte siehe Sionaidh Douglas-Scott, Brexit, Boundaries and the Power of Images. Pólemos, Journal of Law, Literature and Culture 13 (2019), S. 63, 73 ff.



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um die EU-Freizügigkeit war im Widerspruch zur Realität vom Paradigma eines Einwanderers aus der EU dominiert, der „nur“ zur Inanspruchnahme von Sozialleistungen ins UK einreise.47 Dazu kam eine (weit verbreitete) häufig fehlende Differenzierung der Systeme von EU und Europarat und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, der schon in den Jahren vor dem Referendum weitaus mehr im Kreuzfeuer öffentlicher Kritik stand als die EU.48 Hierdurch wurde teils bewusst und vorsätzlich ein allgemeines „europäisches“ Bedrohungsszenario heraufbeschworen. Der „Vote-Leave“ Campaign Director, Dominic Cummings, hat sich dahingehend geäußert, dass drei Botschaften der Kampagne von „Vote Leave“, die er als „Baseball bats“ bezeichnete, entscheidend für den Ausgang des Referendums waren:49 Nämlich erstens, die der Unvermeidbarkeit einer EU-Mitgliedschaft der Türkei und einer damit verbundenen muslimischen Zuwanderungswelle;50 zweitens Vgl. Craig, Drama in Six Acts (Anm. 33), S. 455. Insbesondere aufgrund der Feststellung des EGMR, im Fall Hirst v. United Kingdom [2005]  ECHR 681, (2006) 42 EHRR 41, dass der Ausschluss von Strafgefangenen vom Wahlrecht gegen die EMRK verstieß, kam es zu einem langjährigen offenen Konflikt des UK mit dem EGMR. Da der Wahlrechtsausschluss unmittelbar durch Gesetz erfolgte, stand die EGMREntscheidung im unmittelbaren Konflikt mit dem Prinzip der Parlamentssouveränität und wurde daher als besonderer Eingriff in die nationalen Souveränität angesehen. Siehe hierzu im Überblick: Neil Johnston, Prisoners’ Voting Rights: Developments since May 2015, House of Commons Briefing Paper 7461, 2 April 2020; hierzu im Detail Ed Bates, The UK and Strasbourg: A Strained Relationship – The Long View, in: Ziegler/Wicks/Hodson (Hrsg.), The UK and European Human Rights: A Strained Relationship?, 2015, S. 39 f.; Ed Bates, Analysing the Prisoner Voting Saga and the British Challenge to Strasbourg, Human Rights Law Review 14 (2014), S. 503; Ruvi Ziegler, Voting Eligibility: Strasbourg’s Timidity, in: Ziegler/ Wicks/Hodson, a. a. O., S. 165, 167–171. 49  Dominic Cummings,  Dominic Cummings: How the Brexit Referendum Was Won, The Spectator, 9.  Januar 2017: „Would we have won without immigration? No. Would we have won without £ 350m/NHS? All our research and the close result strongly suggests No.“ „If  Boris,  Gove, and ­Gisela [Stuart, Labour MP] had not supported us and picked up the baseball bat marked ‚Turkey/NHS/£ 350 million’ with five weeks to go, then 650,000 votes might have been lost.“ 50  Dies wurde auch von Regierungsmitgliedern wie etwa von Penny Mordaunt (zum Zeitpunkt Armed Forces Minister) verbreitet, in ausdrück47  48 

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das Versprechen, £ 350 Millionen pro Woche statt an die EU an den NHS zu überweisen;51 sowie drittens das Thema Einwanderung/ Flüchtlingskrise. Nach Cummings Analyse waren diese Botschaften in den fünf Wochen vor dem Referendum kausal für den Gewinn von ca. 680.000 Stimmen, die das Referendum entschieden. Nach Umfragen der Financial Times lag zum Zeitpunkt der Behauptungen zum Türkei-Beitritt „Remain“ bei 47 % und „Leave“ bei 40 % und der Tenor der FT war: „the pro-Brexit campaign needs a gamechanger“.52 Der „game-changer“ von „Vote Leave“ waren die drei Emotionen ansprechenden „messages“ zusammen mit extrem individualisierten und gezielten Methoden der Wählerbeeinflussung. Die Methode der Kampagne von „Vote Leave“53 beinhaltete die als unentschieden oder als Nichtwähler identifizierten, ausgangsentscheidenden Gruppen ganz gezielt anzusprechen, insbesondere über Facebook.54 Diese bereits in den USA in größerem Stil praktizierten Methoden hatten bis dato im UK keinen Präzedenzfall. Hierfür lichem Widerspruch zu Äußerungen von Premierminister Cameron; der damalige Justizminister Michael Gove behauptete, das UK würde bis 2030 mit 5,2 Millionen türkischen Einwanderern zu rechnen haben: Adam Whithnall, Minister Penny Mordaunt ‚plain and simple lying‘ over Turkey joining EU, The Independent, 22. Mai 2016; George Parker, Turkey unlikely to join EU ‚until the year 3000‘, says Cameron, Financial Times, 22.  Mai 2016. S. auch Daniel Boffey, Vote Leave embroiled in race row over Turkey security threat claims, The Guardian, 22. Mai 2016, abrufbar unter https:// www.theguardian.com. Zur Rolle des EU-Beitritts der Türkei im Referendum: James Ker-Lindsay, Turkey’s EU Accession as a Factor in the 2016 Brexit Referendum, Turkish Studies 19 (2018), S. 1; siehe auch Yasmin Khan, Refugees, Migrants, Windrush and Brexit, in: Ward/Rasch (Hrsg.), Embers of Empire in Brexit Britain, 2019, S. 101, 104. 51  Stone, The Independent (Anm. 45). 52  Parker, Financial Times (Anm. 50). 53  Geoghegan, Democracy for Sale (Anm. 41). 54  Ein Teil  der Anzeigen wurden von Facebook einem Parlamentsauschuss, dem Digital, Culture, Media and Sport Committee des House of Commons in seiner Untersuchung zu „Disinformation and Fake News“ übermittelt, abrufbar unter https://www.parliament.uk/documents/com mons-committees/culture-media-and-sport/Fake_news_evidence/Ads-sup plied-by-Facebook-to-the-DCMS-Committee.pdf. Siehe auch den Abschlussbericht des Ausschusses „Disinformation and ‚Fake News‘. Final Report“, HC1791, 18.02.2019.



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waren zunächst gezielt Wählerdaten gesammelt worden, z. B. durch ein auf Fußballticketverkaufswebsites auftauchendes Gewinnspiel zur Europameisterschaft 2016. Aufgrund so erlangter Daten wurden individuelle Profile erstellt und Wähler sodann mittels Algorithmen gezielt mit stark auf sie abgestimmten Nachrichten angesprochen, und zwar exponentiell vermehrt in den Tagen unmittelbar vor dem Referendum.55 Mittels scheinbarer „grassroot“-Kampagnen, wie z. B. der Studentengruppe BeLeave kam es zu einer Umgehung der Finanzierungsgrenzen für Wahlwerbung56 sowie zu Verstößen gegen Datenschutzregeln.57 Die Electoral Commission leitete eine Reihe von Verfahren gegen Gruppierungen wegen Finanzierungsverstößen ihrer Kampagnen ein, so zum Beispiel sowohl gegen die offizielle „Vote Leave“-Kampagne, als auch gegen „Leave.EU“ und andere Personen oder Gruppen. Diese führten zum Teil  zur Verhängung von (als moderat zu bezeichnenden) Bußgeldern.58 Die „Remain“-Kampagne, der ebenfalls massive finanzielle Mittel für Wahlwerbung zur Verfügung standen, setzte dem inhaltlich 55  Siehe Geoghegan, Democracy for Sale (Anm. 41), Kapitel 2, Text bei Anm. 4 und Anm. 45, wonach laut Cummings die Kampagne von „Vote Leave“ fast ausschließlich auf digitale Anzeigen setzte, u. a. 1,5 Billionen Facebook-Anzeigen, die an 7 Millionen Wähler gerichtet waren. 56  Geoghegan, Democracy for Sale (Anm.  41), Kapitel 2, Text bei Anm. 31. 57  So z. B. die von „Vote Leave“ eingesetzte kanadische Firma AggregateIQ, die für die Facebook-Werbung verantwortlich war: „Brexit data firm broke Canadian privacy laws, watchdog finds“, in: The Guardian v. 26.11.2019. Aufgrund unklarer Beziehungen mit Cambridge Analytica suspendierte Facebook 2018 AggregateIQ von seiner Plattform: Carole Cadwalladr, Facebook suspends data firm hired by Vote Leave over alleged Cambridge Analytica ties, in: The Guardian v. 07.04.2018, abrufbar unter https://www.theguardian.com. 58  Emma Graham-Harrison, Vote Leave broke electoral law and British democracy is shaken, in: The Guardian v. 17.07.2018; Matthew Weaver/Jim Wateson, Leave. EU fined £ 70,000 over breaches of electoral law, in: The Guardian v. 11.05.2018, abrufbar unter https://www.theguardian.com; Rob Merrick/Arron Banks, Key Ukip donor faces investigation for allegedly breaking finance rules during Brexit referendum, in: The Independent v. 01.11.2017. Siehe aber auch Verstöße von „Remain“: Henry Mance, Electoral commission fines Remain campaigners £ 19,000, in: Financial Times v. 19.12.2017.

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nichts Positives entgegen. Sie war aber der technologisch geführten Kampagne von „Vote Leave“ und anderen Gruppen haushoch unterlegen. Der Vergleich mit der an alle Haushalte versandten Broschüre, in der David Cameron recht lauwarm für „Remain“ warb, ist drastisch. Statt mit den Vorteilen durch die EU zu punkten, legte „Remain“ den Schwerpunkt auf die (wirtschaftlichen) Nachteile eines Austritts und nicht auf die vergangenen und zukünftigen Vorteile einer Mitgliedschaft,59 was von der Gegenseite und der Tabloid-Presse, etwa der Daily Mail, regelmäßig als „Project Fear“ zurückgewiesen wurde.60 Negativ für die „Remain“-Kampagne wirkte sich dabei die jahrzehntelange Praxis von „two level games“61 der Regierung aus: eine Praxis, wonach die EU regelmäßig als Sündenbock für unpopuläre Entscheidungen verantwortlich gemacht wurde, gleichzeitig aber positiv bewertete Verdienste als solche der Regierung dargestellt werden. Erstaunlich ist insbesondere, dass die Balance of Competence Review von 201262 keine Rolle in der Kampagne spielte, obwohl deren detaillierte Analyse eine insgesamt eindeutig positive Bilanz für der EU-Mitgliedschaft des UK zog. Auch die von Cameron ausgehandelten Anpassungen traten völlig aus dem Rampenlicht und spielten in der Kampagne keine Rolle mehr. Zumindest einige der von „Vote Leave“ gewählten Themen sprechen auch tieferliegende Ursachen der Unzufriedenheit mit der EU an. Die Einwanderungskrise, die Finanz- und Eurokrise waren dramatische Beispiele und bildeten den fruchtbaren Boden für diese Vorwürfe. Mit Blick auf die Einwanderung korrelierte die Wahrnehmung von Bevölkerungsveränderungen durch Migration mit dem 59  John Curtice, Why Leave Won the UK’s EU Referendum, Journal of Common Market Studies 55 (2017), S. 19 (23, 27, 29) 60  Vgl. auch David Paton, Ten myths from the ‚no-deal‘ Project Fear, in: The Spectator v. 01.12.2018. 61  Robert D. Putnam, Diplomacy and Domestic Politics. The Logic of Two-Level Games, International Organization 42 (1988), S. 427; ähnlich Craig, Drama in Six Acts (Anm. 33), 460, der auf die fehlende Konzeptionalisierung und Artikulation einer verfassungsrechtlichen Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten hinweist. 62  Siehe oben S. 86.



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Abstimmungsverhalten zugunsten des Brexit.63 Es geht hier nicht darum, die Diskrepanz von Wahrnehmung und Realität im Einzelnen zu diskutieren.64 Aber wegen der hohen Relevanz des Themas Einwanderung in der Referendumskampagne und wegen der Tatsache, dass Einwanderung sowohl Gegenstand eines Wahlversprechens von Cameron und damit Teil der Verhandlungen mit der EU Anfang 2016 waren, sollen hier zumindest einige Eckpunkte hervorgehoben werden, die zeigen, wie weit die Bedenken und Wahrnehmungen (und konstruierten Kausalzusammenhänge) der Realität widersprachen.65 Darüber hinaus waren sie auch in sich widersprüchlich,66 wurden aber von einer Rhetorik genährt, „that bordered on the xenophobic, and in some instances crossed that line.“67 Es ist evident, dass Einwanderung im öffentlichen Diskurs nicht differenziert nach EU und „Non-EU“ wahrgenommen wird. Dennoch soll hier der Kontext der EU-Einwanderung in den Jahren vor dem Referendum kurz zusammengefasst werden: Einwanderung aus der EU nahm, insbesondere nach den Osterweiterungen von 2004 und 2008 und nach der Finanzkrise, zu, mit Spitzen in 2007 und 2014. Das UK hatte unter Premierminister Blair wegen des arbeitsmarktpolitischen Bedarfs keine Restriktionen und Übergangsregelungen im Zusammenhang mit der Osterweiterung von 2004 getrof-

63  Matthew Goodwin/Caitlin Milazzo, Taking Back Control? Investigating the Role of Immigration in the 2016 Vote for Brexit, British Journal of Politics and International Relations 19 (2017), S. 450 ff. Siehe auch Armstrong, Brexit Time (Anm. 2), S. 73 ff. (Kapitel 6); Henderson et  al., BJPIR (Anm.  13), 631 ff. 64  Siehe z. B. Rachel Shabi, How immigration became Britain’s most toxic political issue, in: The Guardian v. 15.11.2019, abrufbar unter https:// www.theguardian.com. 65  Craig, Drama in Six Acts (Anm. 33), 455 „picture cohered so badly with reality“. 66  Armstrong, Brexit Time (Anm. 2), S. 74: „The concerns were often contradictory: Were migrants in the UK to take jobs or take welfare benefits? Migrant labour was also blamed for placing pressures on public services, and yet economically active migrants contribute to the tax revenues that pay for public services as well as providing a source of labour for valued public services like the National Health Service.“ 67  Craig, Drama in Six Acts (Anm. 33), 455.

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fen.68 Im Verlaufe der Osterweiterung ging der relative Anteil von Zuwanderern aus den alten EU Mitgliedsstaaten (EU14) an der EU-Zuwanderung von 84 % (2000) auf 47 % (2018) zurück.69 Innerhalb der verschiedenen Gruppen von Zuwanderern aus EU-Staaten verschob sich der Schwerpunkt der EU-Einwanderung von EU14 nach EU8 (Osterweiterung 2004) und sodann EU2 (Bulgarien und Rumänien), wobei eine deutlich abgesunkene Zuwanderung von EU8 im Jahr 201570 durch ein Anwachsen einer Zuwanderung aus EU271 ausgeglichen wurde. Im Jahr vor dem Referendum machte die EU-Zuwanderung etwas weniger als 50 % der gesamten Zuwanderung ins UK aus.72 Der Anteil von Zuwanderern aus Bulgarien und Rumänien an der EU-Zuwanderung war 2015 ca. 25 %.73 Einwanderung aus der EU erfolgte überwiegend zur Arbeitsaufnahme, nicht, wie vielfach dargestellt, um staatliche Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Auch korrelierten die steigenden Einwanderungszahlen mit einer wachsenden Beschäftigungsrate im UK ab 2012.74 Eine Studie von Wissenschaftlern des University College London von 2014 stellte eine detaillierte Bilanz des volkswirtschaftlichen Gesamtnutzens der EU-Einwanderung auf.75 68  Für die zweite Ostererweiterung wurden bis 2014 Zugangsbeschränkungen gemacht. 69  Migration Observatory, University of Oxford, EU Migration to and from the UK, 30.09.2019, abrufbar unter https://migrationobservatory.ox. ac.uk/resources/briefings/eu-migration-to-and-from-the-uk/. 70  Nettozuwanderung von 42.000 Personen im Jahr 2015. 71  Nettozuwanderung von 61.000 Personen im Jahr 2015. 72  Die EU-Zuwanderung wird insgesamt auf 284.000 (Nettozuwanderung 189.000) Personen geschätzt (von insgesamt 335.000 (Nettozuwanderung 385.000) Zuwanderern weltweit). 73  Office for National Statistics, Migration Statistics Quarterly Report: Dezember 2016, abrufbar unter www.ons.gsi.gov.uk, 01.12.2016, und Datenbank https://visual.ons.gov.uk/explore-50-years-of-international-migra tion/; siehe auch Armstrong, Brexit Time (Anm. 2), 75. 74  Office for National Statistics, UK Labour Market: Dezember 2016, https://www.ons.gsi, 14.12.2016. 75  See Christian Dustmann/Tommaso Frattini, The Fiscal Effects of Immigration to the UK, The Economic Journal 124 (2014), S. F593 ff., siehe auch https://www.ucl.ac.uk/news/news-articles/1114/051114-economic-im pact-EU-immigration; Craig, Drama in Six Acts (Anm. 33), 455 fasst deren



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Trotzdem wurden wirtschaftliche Verschlechterungen auch als Folgen der Einwanderung wahrgenommen: So etwa nach der Finanzkrise gesunkene Löhne und – infolge der staatlichen Austeritätspolitik  – gekürzte staatliche Ausgaben für öffentliche Dienstleistungen. Die tatsächlich regional sehr unterschiedlich ausfallenden und persönlich erfahrenen Zuwanderungsmuster bewirkten das ­Ihre.76 Die staatliche Austeritäts- und Sparpolitik resultierte teilweise regional in einer Überlastung öffentlicher Einrichtungen wie der schulischen Versorgung und des Gesundheitssystems sowie in einer Verknappung von Wohnraum. Soweit Einwanderung hierzu beigetragen haben mag, ist diese nicht ausschließlich die aus der EU, sondern einer Gemengelage aus anderweitiger Einwanderung, wie auch der regionalen Verteilung von Asylbewerbern zuzuschreiben. Dies wurde auf kommunaler Ebene umso spürbarer, da der nationale Ausgleichsfonds (Migration Impacts Fund), der die unterschiedliche Nachfrage nach sozialer Infrastruktur wie Wohnraum, Schulen und Gesundheitsversorgung von Städten und Kommunen ausgeglichen hatte, 2010 durch eine Einsparmaßnahme der Regierung Cameron gestrichen wurde.77 Ergebnisse prägnant zusammen: „European immigrants to the UK paid more in taxes than they received in benefits, helping to relieve the fiscal burden on UK-born workers and contributing to the financing of public services. EU migrants who arrived in the UK since 2000 contributed more than £ 20 billion to UK public finances between 2001 and 2011. Moreover, they have endowed the country with productive human capital that would have cost the UK £ 6.8 billion in spending on education. Between 2001 and 2011 EU migrants from the EU-15 countries contributed 64 per cent more in taxes than they received in benefits, while those from Central and East European countries contributed 12 per cent more than they received. The positive net fiscal contribution of those arriving since 2000 from these new Member States amounted to almost £ 5 billion, while the net fiscal contribution of recent European migrants from the rest of the EU was £ 15 billion. Migrants who arrived since 2000 were 43 per cent less likely than natives to receive state benefits or tax credits. They were also 7 per cent less likely to live in social housing. EU migrants post-2000 were on average better educated than UK citizens, […] and had higher employment rates.“ 76  Hierzu im Einzelnen und zur Korrelation zum Abstimmungsverhalten im Referendum, Armstrong, Brexit Time (Anm. 2), 79 ff. 77  Armstrong, Brexit Time (Anm. 2), 79; Patrick Wintour, Fund to ease impact of immigration scrapped by stealth, in: The Guardian v. 06.08.2010, abrufbar unter https://www.theguardian.com.

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Fest steht, dass die Wahrnehmung von Einwanderung besonders verzerrt war. Zwischen negativen wirtschaftlichen Entwicklungen und dem Phänomen der Einwanderung wurde oft ein unzutreffender, aber psychologisch wirksamer Nexus hergestellt. Es gab zwar spezi­ fische lokale Situationen in denen es teilweise auch tatsächlich zur ­inadäquaten und mangelhaften Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen, wie zum Beispiel des Beschulungsangebots kam.78 Aber diese komplexe Gemengelage der mit „Einwanderung“ verbundenen Wahrnehmung aus Ängsten und Fakten ließ sich in der Referendumskampagne gezielt ausnutzen. Nach dem Referendum haben sich die Positionen zur Begrenzung von Einwanderung im öffentlichen Diskurs abgeschwächt.79 Seit dem Referendum ist die EU-Einwanderung ins UK drastisch zurückgegangen; demgegenüber ist die Zuwanderung aus Nicht-EU Staaten seit 2013 kontinuierlich angestiegen.80 4. Fazit Letztlich wird der Ausgang des Referendums nicht auf eine einzige Ursache, sondern auf ein Zusammenwirken von langfristigen und akuten Faktoren rückführbar sein. Auch ist nicht von der singulären oder spezifischen Rolle des UK auszugehen. Man vergleiche nur die Referenden in Frankreich und den Niederlanden, die das Ende des Siehe näher Armstrong, Brexit Time (Anm. 2), S.  79 ff. Laut Umfragen des Oxforder Migration Observatory befürwortete eine Mehrheit in der Bevölkerung auch nach dem Referendum noch Einwanderung zu begrenzen. Das Thema wird nicht mehr als „one of the ‚most important issues‘ “ gesehen im Vergleich zu anderen Themenbereichen (etwa der EU oder dem NHS). Scott Blinder/Lindsay Richards, UK Public Opinion toward Immigration. Overall Attitudes and Level of Concern, The Migration Observatory at the University of Oxford, 7th Revision, 20.01.2020, abrufbar unter https://migrationobservatory.ox.ac.uk/resources/briefings/ uk-public-opinion-toward-immigration-overall-attitudes-and-level-of-con cern/. 80  Die Nettozuwanderung lag im Jahr 2019 insgesamt bei 270 000 Personen, davon kamen 49 000 aus der EU und 282 000 aus Nicht-EU Staaten, Office of National Statistics, Migration Statistics Quarterly Report: Mai 2020, abrufbar unter https://www.ons.gov.uk/peoplepopulationandcommu nity/populationandmigration/internationalmigration/bulletins/migration statisticsquarterlyreport/may2020#eu-and-non-eu-migration-over-time. 78  79 



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europäischen Verfassungsvertrages bedeuteten, aber auch frühere nationale Referenden wie etwa Dänemarks bzgl. des Maastrichter Vertrags, Irlands bzgl. der Verträge von Nizza und Lissabon, Dänemarks und Schwedens gegen eine Teilnahme an der ­Währungsunion.81 Vielmehr weist das Ergebnis im UK auf ein strukturelles Problem hin: Ökonomische Rationalität und Aufklärung allein reichen nicht aus, um die Bürger in der EU vom Wert und der Legitimität der europäischen Integration zu überzeugen, insbesondere wenn ihre persönlichen Erfahrungen und Konstrukte sie vom Gegenteil zu überzeugen scheinen – Erfahrungen, die durch die Finanz- und Wirtschaftskrise und Austeritätspolitik in vielen Teilen des UK, in denen man es für angebracht hielt, für „Leave“ zu votieren, akut wirksam wurden. „Brexit“ ist damit nur ein Symptom für den Zustand des politischen Systems. Dass es des Brexits dazu nicht bedarf, zeigen Trumps Winkelzüge in Amerika, sowie das Anwachsen von Populismus und der weltweiten Symbolpolitik. III. Austrittsverfahren Theresa May teilte am 29.  März 2017 dem Europäischen Rat förmlich die Austrittsabsicht des UK mit und setzte damit das Austrittsverfahren nach Art. 50 EUV in Gang. Nach zweimaliger Verlängerung erfolgte der Austritt schließlich am 31.  Januar 2020 mit dem von Boris Johnson im Oktober 2019 geschlossenen und im Januar 2020 vom britischen und Europäischen Parlament ratifizierten Austrittsvertrag. Damit wurde zunächst der politische Austritt vollzogen. Aufgrund der im Austrittsvertrag festgelegten Übergangszeit und der weitgehenden Fortgeltung des EU-Rechts werden dessen Konsequenzen in rechtlicher und wirtschaftlicher Hinsicht erst Ende 2020 eintreten. Wie die zukünftigen Beziehungen zwischen EU und UK aussehen werden, hängt aber vom Abschluss und Inhalt eines neuen Vertrags ab. Das Austrittsverfahren wird vom Zusammenspiel von Europarecht und nationalem Verfassungsrecht bestimmt. Art. 50 EUV steckt hierfür den Rahmen ab. Im Folgenden sollen einige rechtliche Prob81 

Siehe auch Armstrong, Brexit Time (Anm. 2), 17 f.

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leme skizziert werden, die das Austrittsverfahren des UK sowohl im Blick auf das Europarecht als auch auf das nationale Recht sichtbar gemacht hat. 1. EU Recht: Art. 50 EUV a) Überblick82 Bekanntermaßen gliedert sich das Austrittsverfahren nach Art. 50 in vier Phasen; drei davon sind explizit durch Art. 50 EUV vorgesehen, nämlich (1) die Notifizierung der Austrittsabsicht; (2) die Verhandlungsphase, die zum Abschluss eines Austrittsvertrags und einer Verständigung über den Rahmen zukünftiger Beziehungen führen kann; (3) der Austritt selbst, durch Abschluss eines Austrittsvertrags, oder automatisch mit Ablauf der Zweijahresfrist oder nach Ablauf einer oder mehrerer Verlängerungen (mit oder ohne Vertrag); (4) die Phase nach dem Austritt, nämlich die Neuregelung der Beziehungen zur EU sowie mit Drittstaaten durch zukünftige Verträge. Diese sind impliziert, liegen aber jenseits des Anwendungsbereichs von Art. 50 EUV Für alle Phasen verweist Art. 50 Abs. 1 EUV, darauf, dass sie im Einklang mit dem nationalen Verfassungsrecht geschehen. 82  Zu Art. 50 EUV: Christophe Hillion, This Way Please! A Legal Appraisal of the EU Withdrawal Clause, in: Closa (Hrsg.), Secession from a Member State and Withdrawal from the European Union. Troubled Membership, 2017, S. 215 m. w. N. in Anm. 1; Christophe Hillion, Leaving the European Union, the Union Way. A Legal Analysis of Article 50, Swedish Institute for European Policy Studies: European Policy Analysis, 2016–8 (2016); Christophe Hillion, Accession and Withdrawal in the Law of the European Union, in: Arnull/Chalmers (Hrsg.), The Oxford Handbook of European Union Law, 2015, S. 126. Frank Hoffmeister, „Should I stay or should I go?“. A Critical Analysis of the Right to Withdraw from the EU, European Law Journal 16 (2010), S. 589; Paul Craig, The Process: Brexit and the Anatomy of Article 50, in: Fabbrini (Hrsg.), The Law and Politics of Brexit, 2017, S. 49.



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Hintergrund und Sinn der Regelung von Art. 50 EUV ist es, klarzustellen, dass ein Austritt aus der EU überhaupt möglich ist und diesen im Vergleich mit den allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu erleichtern. Eine Regelung zum Austritt wurde erstmalig im Entwurf über einen Verfassungsvertrag von 2003 formuliert und war nicht unumstritten. So sprach sich beispielsweise der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer für eine Streichung der Vorschrift aus.83 Von ihrem Ursprung im Verfassungskonvent kann man ableiten, dass die Vorschrift einerseits als Gegengewicht zur Symbolik und Wahrnehmung einer fortschreitenden Konstitutionalisierung der EU betrachtet werden kann.84 Gleichzeitig supranationalisiert/ konstitutionalisiert die Vorschrift andererseits aber auch das Austrittsverfahren. Nach der allgemeinen Regel der Wiener Konvention über das Recht der Verträge von 1969 (WVRK) wäre ein Austritt aus einem multilateralen Vertrag nur im Einvernehmen aller Vertragsparteien möglich.85 Demgegenüber betont Art. 50 EUV die Einseitigkeit des Austritts und die Kontrolle des austrittswilligen Mitgliedsstaats über Auslösung und Abbruch des Austrittsverfahrens. Art. 50 EUV geht in zweierlei Hinsicht aber über die deklaratorische Niederlegung eines völkerrechtlichen Rechts zum Austritt hinaus: Zum einen, indem er als lex specialis das Verfahren bestimmt; zum anderen aber auch im Hinblick auf das EU-interne Verfahren. Der Austritt ist nicht allein eine Angelegenheit des Europäischen Rats als Vertreter der Mitgliedstaaten, sondern er richtet sich auch nach dem Vertragsschlussverfahren der EU mit Drittstaaten gem. Art. 218 Abs. 3 AEUV aus. Dies bedeutet eine Supranationalisierung des Verfahrens, die sich verfahrensmäßig in dem Erfordernis einer (nur) qualifizierten Mehrheit im Rat und einer Beteiligung des Europäischen Parlaments ausdrückt. Armstrong, Brexit Time (Anm. 2), 201. Vgl. hierzu Carlos Closa, Interpreting Article 50: Exit, Voice and … What About Loyalty?, in: Closa (Hrsg.), Secession from a Member State and Withdrawal from the European Union. Troubled Membership, 2017, S. 187 (193); Hoffmeister, Should I stay or schould I go? (Anm. 82), 592, 595 f.; Hillion, Accession and Withdrawal (Anm. 82), 149. 85  Art. 42, 54 WVRK. Daneben könnte ein Austritt noch infolge eines Vertragsbruchs oder aufgrund einer fundamentalen Änderung der Umstände (rebus sic stantibus) erfolgen (Art. 60, 62 WVRK). 83  84 

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Materiell-rechtlich führt dies dazu, dass die EU für die Regelung des Austritts Vertragsschlusskompetenzen besitzt, die über den Bereich der ausschließlichen Kompetenzen hinausgehen, ohne dass das für sog. gemischte Verträge übliche Vertragsschlussverfahren (und insbesondere ein Ratifikationsverfahren in den Mitgliedsstaaten) anzuwenden ist. Das vom Vereinigten Königreich eingeleitete Austrittsverfahren hat eine Reihe von Problemen mit der Regelung von Art. 50 EUV verdeutlicht. Zunächst musste die Frage, ob die Erklärung der Austrittsabsicht zurückgenommen werden kann, geklärt werden (b). Aber auch die Aufspaltung des Verfahrens, seine Fristen (c) und nicht zuletzt die Gefahr des automatischen Auslaufens der Verträge durch Fristablauf (d) haben sich als problematisch erwiesen. b) Rücknahme einer erfolgten Notifizierung Die Frage, ob ein einmal in Gang gesetztes Austrittsverfahren einseitig vom notifizierenden Staat zurückgenommen werden kann, war bis zur Entscheidung des EuGH in Wightman86 im Dezember 2018 umstritten.87 Als Argumente gegen eine Rücknahme wurden angeführt, einen möglichen Missbrauch eines austretenden Mitgliedsstaates auszuschließen, und ggf. einen anhaltenden oder wiederholten rechtlichen Schwebezustand und die damit ausgelöste Rechtsunsicherheit zu vermeiden. Der UK Supreme Court ging in seiner grundlegenden Entscheidung im Fall Miller Anfang 2017 noch davon aus, dass eine einseitige Rücknahme nicht möglich wäre und stellte damit den unmittelbaren Kausalzusammenhang von Notifizierung der Austrittsabsicht und Rechtsverlust von Individuen her, durch die ein parlamentarisches Zustimmungserfordernis bereits für die Notifizierung des Austritts begründet wurde.88 86 

EuGH, Rs. C-621/18  – Wightman. Zur Unklarheit von Art. 50 EUV diesbezüglich siehe schon Hoffmeister, Should I stay or should I go? (Anm. 82), 593 ff. 88  R (on the application of Miller and another) (Respondents) v Secretary of State for Exiting the European Union (Appellant) [2017] UKSC 5, Rdnr. 169: „This argument assumes that, once notification is given under article 50(2), the process of withdrawal from the EU cannot be stopped. It is com87 



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Die Entscheidung des EuGH im Fall Wightman klärte die Frage zugunsten einer einseitigen Rücknahmemöglichkeit einer erfolgten Notifizierung der Austrittsentscheidung überzeugend.89 Grund für diese Auslegung von Art. 50 Abs. 2 EUV ist die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft, verbunden mit der fehlenden Möglichkeit eines Zwangsausschlusses aus der EU:90 Einerseits kann kein Staat dazu gezwungen werden, an der EU (weiter) mitzuwirken. Ein Austritt ist einseitig ohne Austrittsvertrag infolge des Automatismus des Art. 50 Abs. 3 EUV (Ablauf der Zweijahresfrist, ggf. mit Verlängerung) möglich, sofern die innerstaatlichen verfassungsrechtlichen Vorgaben des Mitgliedsstaates eingehalten werden. Ein Mitgliedsstaat kann aber andererseits auch nicht gegen seinen Willen von der EU ausgeschlossen werden. Dies wäre aber die Folge, wenn eine einmal abgegebene Erklärung der Austrittsabsicht nicht einseitig zurückgenommen werden könnte.91 Das Argument eines möglichen Missbrauchs des Mechanismus von Art. 50 EUV durch wiederholt abgegebene und zurückgenommene Austrittserklärungen fiel demgegenüber weniger stark ins Gewicht. Richtigerweise ist einem solchen Verhalten mit anderen Mitteln rechtlich zu begegnen, zum Beispiel durch die Verpflichtung zur Loyalität (Art. 4 Abs. 3 EUV).92

mon ground in all the cases before the court that it should proceed on that assumption.“ 89  EuGH, Wightman (Anm. 86). 90  Vgl. aber hierzu den Vorschlag, bei anhaltenden Verstößen gegen die Werte von Art. 2 EUV durch einen Staat, der Gegenstand eines Verfahrens nach Art. 7 EUV ist, ein solches Verhalten als konkludente Erklärung einer Austrittsabsicht auszulegen: Christophe Hillion, Poland and Hungary are withdrawing from the EU, VerfBlog v. 27.04.2020, abrufbar unter https:// verfassungsblog.de/poland-and-hungary-are-withdrawing-from-the-eu/. Ungeachtet eines möglichen Handlungsbedarfs dürfte es allerdings zu weit gehen, eine Austrittserklärung zu fingieren. Vielmehr könnte in einem solchen Fall auf das allgemeine Völkerrecht zurückgegriffen werden. 91  EuGH, Wightman (Anm. 86), Rdnr. 65. Siehe hierzu auch Rudolf Streinz, Das Brexit Referendum. Hintergründe, Streitthemen, Reversibilität, in: Ludwigs/Schmahl (Hrsg.), Die EU zwischen Niedergang und Neugründung. Wege aus der Polykrise, 2020, S. 95. 92  So schon Hoffmeister, Should I stay or should I go? (Anm. 82), 598 f., 600; Hillion, This Way Please! (Anm. 82), 217 f.

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c) Problematik der Verfahrensaufspaltung des Art. 50 Abs. 2 EUV Das Verfahren des Art. 50 EUV ist stark aufgespalten in Verfahrensabschnitte, die jedenfalls zum Teil inhaltlich nicht ohne weiteres zu trennen sind: nämlich in den Abschluss des Austrittsvertrags („divorce agreement“) und den möglichen Abschluss eines Vertrages über die zukünftigen Beziehungen („future relationship agreement“), und ferner den Abschluss weiterer völkerrechtlicher Verträge. Am Beispiel des UK sind dies Verträge mit Drittstaaten, die Verträge ersetzen, an denen das UK als EU-Mitglied teilhatte oder Verträge mit der EU zu Regelungsbereichen, die nicht von einem Vertrag über die zukünftigen Beziehungen erfasst werden. Dies führt, wie der Beispielsfall des UK zeigt, zu einer weitgehenden Verschiebung der eigentlich erforderlichen Entscheidungen über die Regelungen der zukünftigen Beziehungen, außerhalb des Verfahrens von Art. 50 EUV. Dies ist insbesondere da problematisch, wo der Austritt an sich von der Regelung der zukünftigen Beziehungen so nicht zu trennen ist, wie das Rechtsproblem Nordirland zeigt. Die Lösung des „Backstop“ von Theresa May verdeutlichte diese Verzahnung besonders, aber auch die Lösung von Boris Johnson (Grenze in der Irischen See im UK) hebt die Spannung nicht auf. Die Trennung von Austrittsvertrag und der noch komplexeren Regelung zukünftiger Beziehungen liegt allerdings in der Logik eines einseitigen Austrittsrechts und des von Art. 50 EUV vorgesehenen relativ kurzen Zeitrahmens. Die technische Aufspaltung in separate Verträge in Art. 50 Abs. 2 EUV hätte es aber nicht ausgeschlossen, den einen Vertrag über die zukünftigen Beziehungen parallel zum Austrittsvertrag zu verhandeln. Die Verhandlungsphase hätte im Einvernehmen beider Parteien von vornherein zu diesem Zweck verlängert werden können. Die Loyalitätspflicht des Art. 4 Abs. 3 EUV stellt jedenfalls kein Hindernis dar, wenn ein Mitgliedsstaat mit der EU als Ganzes in Verhandlungen tritt. Die Situation ist insofern anders als beim Beginn von Verhandlungen mit Drittstaaten.93 Wäh93  Vgl. ähnlich auch Piet Eeckhout/Eleni Frantziou, Brexit and Article 50 TEU. A Constitutionalist Reading, Common Market Law Review 54 (2017), S. 695 (716 f.).



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rend einer noch bestehenden Mitgliedschaft ist die Kompetenzordnung der EU zu beachten, damit die Integrität der Rechtsordnung der EU gewahrt wird. Danach kann ein Mitgliedstaat keine völkerrechtlichen Verträge mit Drittstaaten schließen, die EU-Kompetenzen berühren, wie es im Regelfall und insbesondere für Handelsabkommen der Fall wäre. Parallele Verhandlungen mit der EU zu führen, war auch der Ansatz des UK gewesen. Allerdings hat die Europäische Kommission von vornherein auf eine geregelte Sequenz von Verhandlungen bestanden. Aufgrund der geringen Vorbereitungen im UK hatte die EU – verhandlungstechnisch gesehen – insbesondere zu Anfang der Austrittsverhandlungen die Oberhand bei verfahrensbestimmenden Entscheidungen.94 Dies mag von EU-Seite eine erfolgreiche Verhandlungsstrategie gewesen sein. Sie trug dazu bei, eine einheitliche Position der EU in der Austrittsphase sicherzustellen. Daneben wird wegen der in der Austrittsphase bestehenden Möglichkeit, die Notifikation einseitig zurückzunehmen, relevant gewesen sein, zu vermeiden, dass Mitgliedsstaaten die Verhandlungswilligkeit der EU „austesten“ könnten, was zu einer konstanten Gefährdung des Integra­ tionsprojektes führen könnte; oder auch umgekehrt, die Hoffnung, dass es sich das UK noch anders überlegen würde. Nüchtern betrachtet war jedenfalls post festum das Szenario einer Austrittsnotifikation als Testballon eher unwahrscheinlich. Damit überwiegen eher die Nachteile der Verfahrensaufspaltung, nämlich dass sie eine sachdienliche Lösung verzögerte und vielleicht erschwerte, insofern Regelungsbereiche inhaltlich schwer trennbar sind. Zumindest nach einer förmlichen Notifizierung der Austrittsabsicht könnte für die Anbahnung zukünftiger Beziehungen mit der EU mehr Flexibilität eingeräumt werden, als eine rein politische Erklärung zu vereinbaren, ohne dass das Interesse der EU völlig beiseitegeschoben werden müsste. Schließlich schützt das Prinzip der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) in gewissem Maße vor bloß taktischen Notifizierungen einer Austrittsabsicht. 94  Für eine Analyse der Fehler des UK in der Phase der Verhandlungen über den Austrittsvertrag Raoul Ruparel, Getting the UK Ready for the Next Phase of Brexit Negotiations, Institute for Government Insight, 2019, S. 3–7.

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Zwar reicht die von Art. 50 EUV eingeräumte Frist von zwei Jahren ab Notifizierung möglicherweise für einen nicht sehr ambitionierten Austrittsvertrag aus; für schwierigere Fragen über die Regelung des Austritts wie Übergangszeit, finanzielle Verantwortlichkeiten, Rechte von Unionsbürgern hinaus, ist sie allerdings recht kurz bemessen. Hinzu kommt, dass nach dem Referendum im UK nicht nur innenpolitisch, sondern auch EU-seitig ein gewisser Druck bestand, die Austrittsabsicht förmlich gem. Art. 50 EUV zu notifizieren. Dies hat möglicherweise dazu beigetragen, dass über Details des Austritts im UK nur rudimentär diskutiert wurde. Man kann deshalb von einem Informationsdefizit und unvollständiger Folgenabschätzung zum Zeitpunkt der Notifizierung im März 2017 sprechen. d) Außerkrafttreten der Verträge durch Fristablauf nach Art. 50 Abs. 3 EUV im „no deal“-Szenario Das Austrittsverfahren des Vereinigten Königreichs offenbarte ein weiteres Problem von Art. 50 EUV, wenn dieses sich auch letztendlich nicht realisierte:95 aus der EU durch Ablauf der Frist in Art. 50 Abs. 3 EUV auszutreten, ohne dass die innerstaatlichen Voraussetzungen für diese Austrittsform („no deal“) vorliegen. Es liegt in der Konsequenz der Einseitigkeit des Austritts, dass dieser auch ohne Austrittsvertrag allein durch Ablauf der Verhandlungsfrist des Art. 50 Abs. 3 EUV erfolgen können muss.96 Dies ist verfassungsrechtlich dann nicht zu beanstanden, sofern die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für einen Austritt auch ohne Austrittsvertrag zweifelsfrei vorliegen. Fehlen die innerstaatlichen verfassungsrechtli95  In dem unwahrscheinlichen Fall, dass der EuGH die Rechtswidrigkeit des Austrittsvertrags feststellen oder gar die Zustimmung des Rates hierzu für nichtig erklären sollte (vgl. unten Anm. 155), könnte die Frage allerdings wieder relevant werden. 96  Hoffmeister, Should I stay or should I go? (Anm. 82), 600 warnte diesbezüglich vor einem rechtlichen Vakuum und plädierte allein für einen vertraglich geregelten Austritt. Skeptisch ebenfalls Adam Lazowski, Be ­Careful What You Wish for. Procedural Parameters of EU Withdrawal, in: Closa (Hrsg.): Secession from a Member State and Withdrawal from the European Union. Troubled Membership, 2017, S. 234, 237.



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chen Voraussetzungen, ist dies aber nicht nur ein verfassungsrechtliches Problem des austrittswilligen Mitgliedsstaates, sondern es betrifft zugleich auch die EU und das Europarecht, nicht zuletzt, weil sich die EU wesentlich auf das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie gründet. Hier brauchen die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen des UK nicht abschließend erörtert zu werden.97 Es genügt, eine potentielle „Verfassungswidrigkeit“ aufzuzeigen, um das grundsätzliche Problem für die EU zu illustrieren, das sich durch den Austritt infolge Fristablaufs stellt. Zu mehreren alternativ avisierten Austrittsterminen liefen die sog. „no deal“-Vorbereitungen auf Hochtouren, insbesondere zum 31. Oktober 2019 nach der Regierungsübernahme von Premierminister Boris Johnson, aber auch schon zuvor zum 29. März 2019 und kurzfristig auch zum 12. April 2019 und 31. Januar 2020. Im UK stellte sich die Frage nach den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen eines „no deal“-Austritts allein infolge des Ablaufs der Verhandlungsfrist gleich zweimal: Zum einen war die Interpretation grundlegender verfassungsrechtlicher Prinzipien unklar. Hierzu gehörte die Frage, ob das Parlament nicht nur einem Austrittsvertrag zuzustimmen hatte (wie es der EU Withdrawal Act 2018 verlangte), sondern, ob auch ein „no deal“Exit grundsätzlich über die Zustimmung zur Notifizierung der Austrittsabsicht hinaus einer parlamentarischen Mehrheit bedürfte. Ob dies erforderlich sei, war umstritten und ist im Brexit-Verfahren im UK auch nicht gerichtlich geklärt worden. Es lässt sich aber argumentieren, dass die Kompetenzen der Exekutive aus der royal prerogative im Bereich der Außenpolitik nicht ausreichen, um einen „no deal“-Austritt verfassungsrechtlich zu legitimieren, sondern dass es hierzu einer parlamentarischen Zustimmung oder sogar eines Gesetzes bedarf.98 Das Argument stützt sich darauf, dass die royal prerogative Grenzen unterliegt. Solche Grenzen können nicht nur aus einem entgegenstehenden Parlamentsgesetz folgen (so die communis 97  Hierzu Katja S. Ziegler, Rechtliche und politische Herausforderungen des Brexit für das Vereinigte Königreich. Die Rolle des Parlaments im Brexit-Verfahren, in: Ludwigs/Schmahl (Hrsg.), Die EU zwischen Niedergang und Neugründung  – Wege aus der Polykrise, 2020, S. 127. 98  Im Detail: Ziegler, Herausforderungen des Brexits (Anm. 97), 161 ff.

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opinio), sondern sind vielmehr auch unmittelbar aus Verfassungsprinzipien (etwa als Teil  des Common Law) abzuleiten, wie etwa dem Demokratie-, Rechtsstaatsprinzip und dem Prinzip der Verantwortlichkeit der Regierung.99 Diese Prinzipien sind wegen der Bedeutsamkeit und Wesentlichkeit der Entscheidung eines Austritts und wegen der damit verbundenen Abschaffung von Individualrechten auch aus dem Europarecht berührt. Zum anderen stellte sich die Frage auch in der traditionelleren Konstellation eines Problems der politischen Verfassung: Das Parlament hatte mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass es einen „no deal“-Brexit ablehnte.100 Diese Abstimmungen waren allerdings nur politisch für die Regierung verbindlich, da hierzu nicht die Gesetzesform gewählt wurde. Wie hätte es sich aber verhalten, wenn das Parlament gezielt durch eine nach englischem Recht rechtswidrige Prorogation101 von jeglicher politischen Kontrolle des Verfahrens ausgeschlossen worden wäre, um so einen „no deal“-Exit durch Manipulation des zeitlichen Ablaufs herbeizuführen? Diese Möglichkeit drohte bis zur Nichtigerklärung der Prorogation durch den Supreme Court, als die Regierung das Parlament im September 2019 für einen Zeitraum von ca. fünf Wochen prorogierte.102 Das Problem ist nicht nur theoretisch relevant und das Beispiel des UK nicht einzigartig. Es wäre etwa durchaus eine vergleichbare Situation denkbar, 99  Der UK Supreme Court begründete die Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit der Prorogation des Parlaments mit einer derartigen Argumentation, die sich unmittelbar auf Verfassungsprinzipien stützte in R (on the application of Miller) (Appellant) v The Prime Minister (Respondent), Cherry and others (Respondents) v Advocate General for Scotland (Appellant) (Scotland) [2019] UKSC 41, Rdnr. 35 ff. Dazu auch Ziegler, Herausforderungen des Brexits (Anm. 97), 167 ff. Siehe auch noch unten III.  2., S. 119 ff. 100  Nämlich am 13.03.2019, 12.04.2019 und 09.09.2019 (mit dem Benn-Burt Act) für die Austrittsdaten vom 29.03., 12.04. und 31.10.2019. 101  Durch die Prorogation wird die Sitzungsperiode des Parlaments beendet. Das Parlament kann erst mit Beginn der neuen Sitzungsperiode wieder zusammentreten. Üblicherweise ist die Dauer einer Prorogation eher in Tagen als Wochen bemessen. 102  Vom 09.09. bis 14.10.2019. Nach der Entscheidung des UK Supreme Court vom 24.09.2019, in der das Gericht die Prorogation für rechtswidrig und nichtig erklärte, trat das Parlament am 25.09.2019 wieder zusammen: UK Supreme Court, Miller/Cherry (Anm. 99).



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dass etwa ein Mitgliedsstaat, gegen den die EU das Verfahren nach Art. 7 EUV eingeleitet hat, wie derzeit gegen Polen und Ungarn, hierauf mit der Einleitung eines nach innerstaatlichem Recht rechtswidrigen Austrittsverfahrens reagiert, das dessen Verfassungsrecht und/oder den Werten des Art. 2 EUV widerspricht. Für das Austrittsverfahren gemäß Art. 50 EUV  – und die Auslegung der Vorschrift – war somit zu fragen, welche Auswirkungen das Fehlen der innerstaatlichen Voraussetzungen für einen Austritt für das Europarecht hat. Die Frage stellt sich dabei sowohl für die innerstaatlichen Voraussetzungen der Notifzierung der Austrittsabsicht als auch für die Voraussetzungen beim Abschluss eines Austrittsvertrags oder beim „no deal“-Austritt durch Zeitablauf. Die materielle Rechtmäßigkeit lässt sich sowohl an der Einhaltung der nationalen verfassungsmäßigen Voraussetzungen als auch, mittelbar durch sie, an der Einhaltung der Werte von Art. 2 EUV messen.103 Dies mag zwar auf den ersten Blick der Einseitigkeit des Verfahrens widersprechen, liegt aber in der Konsequenz der tendenziellen Supranationalisierung/ Konstitutionalisierung des Austrittsverfahrens.104 Damit werden auf der Ebene des Europarechts gleich drei Fragen aufgeworfen: Erstens, wie ist der Verweis in Art. 50 Abs. 1 EUV auf die nationalen verfassungsrechtlichen Vorschriften auszulegen? (aa) Zweitens, wann liegt ein solcher Verstoß vor, und inwieweit ist dies von den europäischen Institutionen überprüfbar? (bb) Drittens, welche Konsequenzen hat eine Verletzung von nationalem Recht für das Austrittsverfahren auf europarechtlicher Ebene? (cc)

103  Ebenso bereits Hillion, This Way Please! (Anm. 82), 217 f. Hillion, Accession and Withdrawal (Anm. 82), 137. 104  Siehe dazu schon oben S. 101.

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aa) A  uslegung des Verweises auf die nationalen verfassungsrechtlichen Vorschriften Der Verweis auf die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen des austrittswilligen Mitgliedsstaates in Art. 50 Abs. 1 EUV kann unterschiedlich ausgelegt werden. Zwei prinzipielle Positionen stehen sich gegenüber.105 Überwiegend wird der Verweis in Art. 50 Abs. 1 EUV auf das innerstaatliche Verfahren als nur deklaratorisch angesehen. Die Norm enthält danach insoweit nur einen klarstellenden Hinweis auf die mitgliedstaatliche Souveränität, hat aber keinen eigenständigen Regelungsgehalt.106 Dies entspricht einem klassischen völkerrechtlichen Ansatz. Das Völkerrecht behandelt Staaten weitgehend als „monolithischen Block“, und deswegen sind Verstöße gegen nationales Recht völkerrechtlich irrelevant.107 Im Gegensatz hierzu macht nach anderer Ansicht Art. 50 Abs. 1 EUV das Vorliegen der nationalen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen zu einer materiell-rechtlichen Voraussetzung des Europarechts, die damit auch europarechtlich überprüfbar wäre.108 Dies entspricht einem „europarechtlichen“ Ansatz, der an die Supranationalisierung und Konstitutionalisierung des Europarechts anknüpft. In der deutschen Kommentarliteratur wird ganz überwiegend davon ausgegangen, dass der Verweis auf das nationale Verfassungsrecht nur deklaratorisch sei. Dabei wird im wesentlichen auf die Kompetenzordnung der EU und die nationale Identitätsklausel (Art. 4 105  Siehe Werner Meng, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 50 EUV, Rdnr. 8. 106  Siehe Meng, Art. 50 EUV (Anm. 105), Rdnr. 8; Simon Wieduwilt, Article 50 TEU. The Legal Framework of a Withdrawal from the European Union, Zeitschrift für europarechtliche Studien (ZeuS) 18 (2015), S. 169 (178); Dieter Dörr, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 2011, Art. 50 EUV, Rdnr. 19. 107  Vgl. etwa Art. 27 WVRK, Art. 32 Articles on State Responsibility for Internationally Wrongful Acts (2001). 108  Dahingehend wohl Raymond J. Friel, Providing a Constitutional Framework for Withdrawal from the EU. Article 59 of the Draft European Constitution, International and Comparative Law Quarterly 53 (2004), S. 407 (425); Hillion, Accession and Withdrawal (Anm. 82), 136 f., 142, 146 ff., 151; Hillion, This Way Please! (Anm. 82), 217 f.; Eeckhout/Frantziou, Brexit and Art. 50 TEU (Anm. 93), 695 ff., 705, 708.



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Abs. 2 EUV) und auf die fehlende Überprüfbarkeit der nationalen verfassungsrechtlichen Vorschriften im Europarecht und insbesondere durch den EuGH verwiesen.109 Allenfalls sieht ein am Völkerrecht orientierter Ansatz mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Vorschriften einen Verweis auf die völkerrechtliche Vertretungsbefugnis des nach nationalem Verfassungsrecht zuständigen Organs, ähnlich dem Rechtsgedanken von Art. 46 WVRK.110 Die Schwelle von Art. 46 WVRK ist zwar umstritten, wird aber in der Praxis sehr hoch angesetzt. Daraus folgt, dass eine Verletzung der innerstaatlichen Voraussetzungen für einen völkerrechtlichen Akt grundsätzlich irrelevant ist und nur in extremen Ausnahmefällen eine Evidenzkontrolle bei manifester Verletzung einer Norm von fundamentaler Bedeutung stattfinden könnte.111 In der völkerrechtlichen Praxis wurde selbst bei fundamentalen Rechtsverletzungen deren Offensichtlichkeit regelmäßig verneint.112 Ungeachtet der Frage, ob eine Fallgestaltung vorliegt, in der es sich um eine fundamentale und offensichtliche Verletzung nationalen Rechts im Sinne des Rechtsgedankens von Art. 46 WVRK handelt, sind aber bei Auslegung des Art. 50 Abs. 1 EUV die Besonderheiten des Europarechts zu berücksichtigen. Diese werden sowohl in der Entstehungsgeschichte, Systematik und dem Telos der Norm relevant und liefern Argumente, die für eine materiell-rechtliche Relevanz und zumindest einen gewissen Grad der Überprüfbarkeit des Vorliegens der nationalen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen auf der Ebene des Europarechts sprechen. 109  Meng, Art. 50 EUV (Anm. 105), Rdnr. 8. Wolff Heintschel von Heinegg, in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, 2. Aufl. 2018, Art. 50 EUV, Rdnr. 5; Clemens M. Rieder, The Withdrawal Clause of the Lisbon Treaty in the Light of EU Citizenship. Between Disintegration and Integration, Fordham International Law Journal 37 (2013), S. 147, 155 i. V. m. Anm. 37. 110  Rudolf Streinz, in: Streinz (Hrsg.): EUV/AEUV, 3. Aufl. 2018, Art. 50 EUV, Rdnr. 4; Jens Budischowsky, in: Mayer/Stöger (Hrsg.), Kommentar zu EUV und AEUV, 2011, Art. 50 EUV, Rdnr. 15; Dörr (Anm. 106), Rdnr. 25; Closa, Interpreting Art. 50 (Anm. 84), 195 f. 111  Statt aller Streinz, Art. 50 EUV (Anm. 110), Rdnr. 4 m. w. N. 112  Robert Kolb, The Law of Treaties. An Introduction, 2016, S. 91 ff., insbes. Beispielsfälle S. 95 f.

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Eine historische Auslegung des Art. 50 Abs. 1 EUV muss berücksichtigen, dass die „Verfasser“ das Problem, auf nationales Recht zu verweisen, erkannten, aber gleichwohl der Verweis im Text von Art. 50 Abs. 1  EUV belassen wurde;113 dies stand im Gegensatz zu dem vom UK in den Verfassungskonvent eingebrachten Vorläufer von Art. 50 EUV, den sog. „Cambridge Text“ aus der Feder von Alan Dashwood, der sich rein deklaratorisch auf ein Austrittsrecht bezog.114 Von noch größerer Bedeutung ist, dass das Europarecht sich (systematisch und seinem Telos nach) in wesentlichen Punkten vom allgemeinen Völkerrecht unterscheidet, nicht nur, aber auch durch die Supranationalisierung und Konstitutionalisierung des Austrittsrechts.115 Darüber hinaus hat das Europarecht gerade Durchgriffe in die nationalen Rechtsordnungen bewirkt und behandelt das nationale Recht nicht als undurchdringbaren „monolithischen Block“. Auch die Werte der EU sind ebenenübergreifend anwendbar, wie Art. 7 EUV demonstriert.116 Beides widerspricht der strikten (dualistischen) Trennung nach Sphären (national/international), die in der Artikulierung des Verhältnisses von Völkerrecht und nationalem Recht nach wie vor dominiert. Die Identitätsklausel des Art. 4 Abs. 2 EUV steht dem nicht entgegen: Danach achtet die EU bezüglich ihres eigenen Verfassungsrechts die „nationale Identität [der Mitgliedsstaaten], die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen“ vorgegeben ist. Das genau schließt aber eine Verifizierung eben der Einhaltung identitätsrelevanter Prinzipien des nationalen Rechts nicht aus. Mehr noch, man könnte eher daraus ableiten, dass die EU nicht wissentlich einen Austritt befördern kann, der im Widerspruch zu wesentlichen nationalen Verfassungsprinzipien steht. Ist demnach der Verweis auf die nationalen verfassungsrechtlichen Vorschriften materiell auszulegen, so bleiben die Fragen nach der 113 

703 ff.

Siehe hierzu Eeckhout/Frantziou, Brexit and Art. 50 TEU (Anm. 93),

Armstrong, Brexit Time (Anm. 2), 198 f. Hierzu Hillion, Accession and Withdrawal (Anm. 82), 136 f., 142, 146 ff., 151; Eeckhout/Frantziou, Brexit and Art. 50 TEU (Anm. 93). 116  Hierzu Theodore Konstadinides, The Rule of Law in the European Union. The Internal Dimension, 2017; Frank Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union. Ausgestaltung und Gewährung durch Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 EUV, 2000. 114  115 



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Überprüfbarkeit und den Konsequenzen eines Verstoßes auf europäischer Ebene weiter bestehen. bb) V  orliegen eines Verstoßes gegen nationales Verfassungsrecht im Rahmen des Austrittsverfahrens nach Art. 50 EUV und europarechtliche Überprüfbarkeit Auch wenn die Einhaltung der nationalen verfassungsrechtlichen Vorschriften Rechtmäßigkeitsvoraussetzung des Austritts nach Europarecht ist, stellt sich dennoch die Frage, inwieweit diese europarechtlich überprüfbar ist, ohne dass dies zu einer Vollkontrolle der nationalen Rechtsordnung durch das Europarecht führen würde. Die Kompetenzordnung lässt es jedenfalls in den folgenden Szenarien unbedenklich erscheinen, europarechtliche Konsequenzen für das Austrittsverfahren zu ziehen: (1) Wenn der innerstaatliche Rechtsverstoß bereits im Mitgliedsstaat verbindlich festgestellt wurde, käme es schon von vornherein auf europarechtlicher Ebene nicht zu einer inhaltlichen Überprüfung des nationalen Rechts, sondern das Europarecht würde nur an das nationale Recht anzuknüpfen. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn es um die Auslegung oder die Rechtsfolgen von Art. 50 Abs. 3  EUV ginge, und diese Fragen möglicherweise sogar dem EuGH von einem nationalen Gericht des austrittswilligen Staates vorgelegt würden. Das nationale Gericht würde hier die natio­ nale Rechtslage für den EuGH bereits verbindlich feststellen. (2) Wenn die innerstaatliche materielle Rechtsverletzung eine fundamentale Norm betrifft, aber dies nicht bereits innerstaatlich festgestellt ist, folgt aus der Besonderheit des Europarechts als supranationaler Rechtsordnung, dass jedenfalls bei einem Austrittsverfahren zu prüfen ist, ob die innerstaatliche Rechtsverletzung gleichzeitig eine Verletzung der Werte nach Art. 2 EUV darstellt. Das müsste durch die Institutionen der EU überprüft werden,117 d. h. im Austrittsverfahren zunächst durch den Europäischen Rat. 117  Ebenso Hillion, Accession and Withdrawal (Anm. 82), 137, der für eine Überprüfung der Voraussetzungen durch den Europäischen Rat plädiert.

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Zumindest in so gelagerten Fällen wäre es unhaltbar, wenn der Automatismus des Art. 50 Abs. 3 EUV zu einem Ende der Mitgliedschaft allein kraft Zeitablaufs führen würde, ohne dass dies fundamentalen Vorschriften des nationalen Rechts oder fundamentalen Prinzipien des Europarechts entspräche. Beides liefe den Werten der EU und den zunehmenden Maßnahmen zu ihrer Umsetzung118 derart massiv entgegen,119 dass von einer unbeabsichtigten Regelungs­ lücke auszugehen ist, falls nationale verfassungsrechtliche Voraussetzungen fehlen. Hierfür sprechen Wortlaut, historisch-genetische und systematische Analyse: Art. 50 Abs. 1 EUV bezieht sich ausdrücklich auf die nationalen verfassungsrechtlichen Vorschriften. In den Verhandlungen zum Text des Lissabonner Vertrags wurde ausdrücklich über die Streichung dieses Artikels als Ganzes sowie des Passus, der sich auf innerstaatliches Recht bezieht, diskutiert. Grund hierfür war die Sorge, dass die EU möglicherweise nationales Recht anwenden müsse.120 Gleichwohl wurden beide Streichungen abgelehnt und das einseitige Austrittsrecht an die nationalen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen gebunden, selbst wenn deren Feststellung für die EU schwierig oder kostenträchtig sein könnte.121 Im historischen Kontext betrachtet, war ein Austrittsszenario im Verfassungskonvent, in dem die Norm des Art. 50 EUV ihren Ursprung hat, kein Szenario, mit dem bei 118  Siehe hierzu z.  B. die Kommissionsmitteilung vom 17.07.2019: Strengthening the rule of law within the Union: A blueprint for action, COM (2019) 343, in der Maßnahmen zur Stärkung der Rechtsstaatlichkeit vorgeschlagen werden, z. B. ein „Rule of Law Review Cycle“ bzgl. der Mitgliedsstaaten, ähnlich der Universal Periodic Review im UN Human Rights Council. Siehe auch Frank Hoffmeister, Die Werteunion. Anspruch und Wirklichkeit, in: Ludwigs/Schmahl (Hrsg.), Die EU zwischen Niedergang und Neugründung. Wege aus der Polykrise, 2020, S. 21 (25 ff., 38 ff.) 119  Ebenso Eeckhout/Frantziou, Brexit and Art. 50 TEU (Anm. 93), 707. Hillion, This Way Please! (Anm. 82), 217 f. Hillion, Accession and Withdrawal (Anm. 82), 137. 120  Siehe den Änderungsantrag der Delegierten Duhamel und Paciotti zu Artikel 46 § 1 des Vertrags über eine Verfassung für Europa, „Part I of the Constitution: Article 59“, S. 60 und 61, abrufbar unter https://europeanconvention.europa.eu/docs/Treaty/pdf/46/global46.pdf. 121  Eeckhout/Frantziou, Brexit and Art. 50 TEU (Anm. 93), 708.



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realistischer Betrachtung gerechnet wurde.122 Die EU stand 2004 vor ihrer größten Erweiterungswelle. Daher wurde bei der Formulierung des Art. 50 EUV schon der Austritt eines Mitgliedsstaats und erst recht die Konstellation, dass nationale verfassungsrechtliche Voraussetzungen nicht vorliegen könnten und dass in einem solchen Fall Art. 50 Abs. 3 EUV wie ein zwangsweiser Ausschluss wirken könnte, nicht ernsthaft erwogen. Vielmehr bezweckte die Vorschrift allein, den einseitigen Austritt zu ermöglichen und den Missbrauch einer Notifizierung zu verhindern. Demgegenüber wurde ein zwangsweiser Ausschluss eines Mitgliedsstaates im Verfassungskonvent in anderem Kontext – nämlich mit Art. 7 EUV – diskutiert, aber selbst in diesem Zusammenhang abgelehnt.123 Dass ein zwangsweiser Ausschluss nicht von Art. 50 intendiert war, hat auch der EuGH in Wightman bestätigt.124 Damit ist ein automatisches Enden der Verträge bei Nichtvorliegen der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen in einem Mitgliedsstaat nicht nur bei einer historischen, sondern auch bei einer systematischen Auslegung problematisch, weil hierdurch ein Wertungswiderspruch zwischen Art. 50 und Art. 7 EUV hervorgerufen wird. Art. 7 EUV ist an strenge Verfahrensvoraussetzungen geknüpft, und ein Zwangsausschluss aus der EU ist selbst unter Art. 7 EUV nicht möglich.125 122  Zur bis zum Referendum im UK 2016 vorherrschenden Einschätzung, dass Art. 50 EUV keine praktische Relevanz habe Streinz, Art. 50 EUV (Anm. 110), Rdnr. 1, Anm. 6 m. w. N., insbesondere dieses allgemein verbreitete Sentiment zusammenfassend Wieduwilt, S. 203 f.; zur Bedeutung des Austrittsrecht als Handlungsoption in der politischen Praxis aber bereits Dörr (Anm. 106), Rdnr. 2; Federico Fabbrini, Introduction, in: Fabbrini (Hrsg.), The Law & Politics of Brexit, 2017, S. 1. 123  Siehe die Liste der vorgeschlagenen Änderungen der Artikel des Entwurfs für eine Vertrag für eine Verfassung Europas, „Part I of the Constitution: Article 59“ (Anm. 120), S. 60; Eeckhout/Frantziou, Brexit and Art. 50 TEU (Anm. 93), 714, 730. 124  EuGH, Wightman (Anm. 86), Rdnr. 65, 68: „a state cannot be forced to accede to the EU against its will, neither can it be forced to withdraw from the EU against its will.“ 125  Ein solcher ist (allenfalls) in Extremfällen unter Rückgriff auf allgemeine Normen des Völkerrechts möglich, etwa Art. 60 Abs. 2 oder 62 WVRK (als Folge eines „material breach“ bzw. unter der clausula rebus sic stantibus); Meng, Art.  50 EUV (Anm.  105), Rdnr. 12, 14  f.; Dörr (Anm. 106), Rdnr. 46.

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Gegen ein automatisches Außerkrafttreten der Verträge durch Fristablauf bei gleichzeitigem Verstoß gegen nationale verfassungsrechtliche Vorschriften im Falle eines Austrittsverfahrens spricht auch eine teleologische Auslegung, wenn die verfassungsrechtliche Relevanz einer Austrittsentscheidung für die Verträge als Ganzes betrachtet wird. Der Automatismus steht im Spannungsfeld zwischen dem einseitigen Charakter des Austrittsverfahrens und dem integrationsfreundlichen Grundgedanken der Verträge, der sich u. a. in der Rücknahmemöglichkeit einer erfolgten Austrittserklärung ausdrückt.126 Was für die Rücknahmemöglichkeit der Austrittsnotifizierung gilt, muss auch  – mit Blick auf die Verträge als Ganzes  – für das automatische Ende der Geltung der Verträge bei unklarem verfassungsrechtlich ausgedrücktem Willen gelten.127 Wenn die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen nicht vorliegen, würde ein automatischer Ausschluss den Werten in Art. 2 EUV (insbesondere Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte), der Zielsetzung einer „ever closer Union“, sowie dem grundlegenden Status der Unionsbürgerschaft genauso widersprechen, wie eine nicht zurückzunehmende Notifizierung unter Art. 50 EUV.128 In den Worten des EuGH: „ein Staat, da er nicht gezwungen werden kann, gegen seinen Willen der Union beizutreten, [kann] auch nicht gezwungen werden, gegen seinen Willen aus der Union auszu­ treten.“129 Mehr noch, ein Austritt hat weitreichende Folgen, nicht nur für die Bürger des austretenden Staates, die ihre Unionsbürgerschaft verlieren, sondern die Rechte aller Unionsbürger werden reduziert. Daher besteht gerade wegen der starken Einseitigkeit der Entscheidung ein besonderes Interesse daran, dass (wenigstens) nationale verfassungsrechtliche Voraussetzungen, wie etwa demokratische Legitimationsmechanismen, eingehalten werden,130 so dass es nicht 126  EuGH, Wightman (Anm. 86), Rdnr. 49: die Notifizierung sei „by its nature neither definitive nor irrevocable“. 127  EuGH, Wightman (Anm. 86), Rdnr. 44 ff., insbes. 46 f. und 61–62. 128  Siehe dahingehend EuGH, Wightman (Anm. 86), Rdnr. 61 f., 64, 65, 67. 129  EuGH, Wightman (Anm. 86), Rdnr. 65. 130  Eeckhout/Frantziou, Brexit and Art. 50 TEU (Anm. 93), 727 f.



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gleichzeitig zu einer Verletzung der Werte von Art. 2 EUV kommt.131 Erfolgt ein Austritt ohne Vertrag, lässt sich (ein Minimum) verfahrensrechtlicher Legitimation ausschließlich aus dem nationalen Recht ableiten. Liegt hingegen ein Austrittsvertrag vor, so legitimiert die Zustimmung des Europäischen Rates den Rechtsverlust gegenüber anderen EU-Bürgern. Aus all diesen Gründen muss im Austrittsverfahren zumindest eine gewisse Kontrolle der Einhaltung innerstaatlicher Voraussetzungen für einen Austritt ohne Vertrag gewährleistet sein, um einen fundamentalen Widerspruch mit den Werten und Zielen der Verträge, insbesondere dem Rechtsstaatsprinzip, zu vermeiden. cc) K  onsequenzen eines Verstoßes gegen nationales Verfassungsrecht im Rahmen des Austrittsverfahrens unter Art. 50 EUV auf der Ebene des Europarechts Das im Rahmen von Art. 50 Abs. 3 EUV bestehende Problem sollte bei nächster Gelegenheit durch eine Vertragsänderung beseitigt werden. Sofern ein austrittswilliger Staat bei Nichtvorliegen der verfassungsrechtlichen Voraussetzung die Notifizierung nicht selbst zurücknimmt, muss der Automatismus des Fristablaufs klarer an das Vorliegen nationaler verfassungsrechtlicher Voraussetzungen gekoppelt werden, und die Konsequenzen eines Verstoßes müssen geregelt werden. Dem Interesse an Rechtssicherheit kann dadurch begegnet werden, dass die Notifizierung rückwirkend ihre Wirkung verliert, wenn die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen nicht vorliegen. Bis zu einer Vertragsänderung kann diese Lücke durch eine teleologisch reduzierende Auslegung von Art. 50 Abs. 3 EUV geschlossen werden. Danach könnte Art. 50 Abs. 3 EUV entsprechend seinem Regelungsgedanken, die Unsicherheit oder einen andauernden Schwebezustand bzgl. einer Mitgliedschaft in der EU zu begrenzen, 131  Vgl. zur fortgesetzten Bindung des austrittswilligen Mitgliedsstaates Allan F. Tatham, „Don’t Mention Divorce at the Wedding, Darling!“. EU Accession and Withdrawal after Lisbon, in: Biondi (Hrsg.), EU Law After Lisbon, 2012, S. 128 (148 f.); sowie zur supranationalen Rechtsnatur des Austrittsverfahrens Hillion, Accession and Withdrawal (Anm. 82), 136 f., 142, 146 ff.

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im Einklang mit Art. 50 Abs. 1 EUV wie folgt ausgelegt werden: Bei Vorliegen der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen in einem Mitgliedstaat, der nach Art. 50 EUV notifiziert hat, ohne einen Austrittsvertrag abzuschließen, verlieren die Verträge ihre Wirkung spätestens nach Ablauf von zwei Jahren. Liegen aber die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen im Mitgliedstaat nicht vor, bleibt ein Schwebezustand für maximal zwei Jahre erhalten (zusätzlich etwaiger Verlängerungen der Verhandlungsphase); nach Ablauf von zwei Jahren ist die Notifizierung als gegenstandslos zu betrachten.132 In beiden Fällen muss gemäß Art. 50 Abs. 1 EUV ein eindeutiger Wille des Mitgliedsstaates vorliegen, der in den relevanten innerstaatlichen Verfahren explizit ausgedrückt werden muss. Dieses Erfordernis ist mit den weiteren Normzwecken von Art. 50 Abs. 3 EUV, nämlich einen einseitigen Austritt zu ermöglichen, Rechtsunsicherheit zu vermeiden sowie einen Missbrauch einer Notifizierung auszuschließen, in einen Ausgleich zu bringen, der dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip angemessen Rechnung trägt.133 Verfahrensrechtlich betrachtet könnte der Europäische Rat das Vorliegen der innerstaatlichen Voraussetzungen überprüfen.134 Eine gewisse Rechtsklarheit könnte zukünftig zudem dadurch geschaffen werden, dass ein austrittswilliger Mitgliedstaat schon bei Notifizierung der Austrittsabsicht gleichzeitig darlegen muss, welche weiteren innerstaatlichen Voraussetzungen zu erfüllen sind. Eine solche Erklärung könnte dann zur Kristallisierung etwaiger innerstaatlicher Debatten und zur Klärung etwaiger streitiger Rechtsfragen auf innerstaatlicher Ebene beitragen. Sie könnte ggf. auch als Ansatzpunkt für die gerichtliche Klärung der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen eines Austritts im betreffenden Mitgliedsstaat dienen und eine Überprüfung seitens 132  Ebenso In the Matter of Article 50 of the Treaty on the European Union. Opinion by Sir David Edward KCMG PC QC, Sir Francis Jacobs KCMG PC QC, Sir Jeremy Lever KCMG QC, Helen Mountfiled QC and Gerry Facenna QC, 2017, Rdnr. 61, abrufbar unter https://www.bind manns.com/uploads/fikes/documents/FinaArticle_50_Opinion_10.2.17. pdf; Rose Slow, No Deal Brexit may be unlawful, UK Human Rights Blog v. 19.03.2019, abrufbar unter https://ukhumanrightsblog.com/2019/03/19/ no-deal-brexit-may-be-unlawful-a-view-from-rose-slowe/. 133  Siehe hierzu EuGH, Wightman (Anm. 86), Rdnr. 39, 68. 134  Ebenso Hillion, Accession and Withdrawal (Anm. 82), 137.



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des Europäischen Rats im Normalfall überflüssig machen. Eine solche könnte aber als in Situationen notwendig werden, in denen ein austrittswilliger Staat schon strukturell gegen Art. 2 EUV verstößt, so dass eine den Anforderungen von Art. 2 EUV genügende innerstaatliche Klärung der Rechtslage nicht möglich ist. In einem derart gelagerten Fall wäre aber sicherlich das Problem des Austritts aus der EU nur eines unter vielen. 2. Britisches Verfassungsrecht Die Voraussetzungen des britischen Verfassungsrechts waren sowohl für die Frage der Notifizierung als auch für die Ratifikation des Austrittsvertrags und einen automatischen Austritt durch Fristablauf umstritten. Dies liegt maßgeblich an der Betonung der politischen Kontrolle in der ungeschriebenen Verfassung des UK. In den drei Jahren nach dem Referendum kam es zu einem hoch dramatisch bis dramaturgisch ausgespielten, sich immer mehr zuspitzenden Konflikt zwischen Parlament und Regierung über die Brexit-Frage und das Brexit-Verfahren, zunächst unter Premierministerin Theresa May, aber noch schärfer unter ihrem Nachfolger Boris Johnson. Mit der rechtswidrigen Prorogation des britischen Parlaments durch Boris Johnson im September 2019, mit der er laut späterer Feststellung des UK Supreme Court gegen die Grundsätze der Demokratie und der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung verstieß,135 erreichte der Konflikt seinen Höhepunkt. Dieser Konflikt und die Rolle des Parlaments im Brexitverfahren wurden an anderer Stelle ausgeführt.136 Zusammengefasst ging es vor allem um die Rolle des britischen Parlaments im Brexitverfahren in seinen Rechten und Möglichkeiten gegenüber der Exekutive und um die Auslegung grundlegender Verfassungsgrundsätze wie dem der parliamentary sovereignty und der royal prerogative der Regierung in außenpolitischen Fragen. Im Rückblick haben die zahlreichen Kontroversen um den Brexit die Rolle des Parlaments in außenpolitischen Fragen verfassungsrechtlich zunächst gestärkt. Dies ist zum einen auf 135  136 

Miller/Cherry (Anm. 99). Ziegler, Herausforderungen des Brexits (Anm. 97), 143–173.

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die Entscheidung des Supreme Court von 2017 im Fall Miller zurückzuführen, in dem das Gericht feststellte, dass das Parlament aufgrund der Bedeutung der Entscheidung für das UK bereits der Notifzierung der Austrittsabsicht zustimmen musste. Die Wesentlichkeit folgt insbesondere daraus, dass durch den Austritt eine Rechtsquelle des nationalen Rechts sowie Individualrechte abgeschafft werden.137 Politische Folge der Miller-Entscheidung war das Versprechen von Premierministerin May, dem Parlament das Recht einzuräumen, über einen Austrittsvertrag abzustimmen (sog. „meaningful vote“). Ein parlamentarisches Zustimmungserfordernis wurde durch den EU Withdrawal Act 2018138 gesetzlich festgeschrieben. Das parlamentarische Zustimmungserfordernis ging über die normalen Regeln zur Beteiligung des Parlaments am Abschluss völkerrechtlicher Verträge hinaus, wonach abgeschlossene Verträge dem Parlament nur zuzuleiten sind und dieses allenfalls mit den Mitteln politischer Kontrolle einen Vertragsschluss verzögern kann, wenn auch auf potentiell unbegrenzte Zeit.139 Am „meaningful vote“, der Zustimmung des Parlaments zum Austrittsvertrag, scheiterte die Regierung May in der Folge dreimal.140 Grund hierfür war die tiefe Gespaltenheit der Positionen im Parlament über den Brexit, in der sich die gesellschaftliche Spaltung widerspiegelte. In der Ablehnung des Vertragsentwurfs von Theresa May vereinigten sich die diversen Positionen der Gegner des Brexits (insbesondere die Liberal Democrats, Scottish Nationalist Party (SNP) und Green Party, und Teilen von Labour und Conservatives) mit denen der Brexit-Befürworter (Teile der Conservatives, denen der „May Deal“-Brexit aber nicht „hart“ genug war). Die wesentlichen Kritikpunkte zentrierten sich um den irischen „Backstop“ mit der möglichen Auswirkung, das UK auf Dauer an die EU-Rechts137  Miller/Cherry (Anm. 99), Rdnr. 81 ff., 86; dazu Ziegler, Herausforderungen des Brexits (Anm. 97), 147 f. 138  Section 13 (in der Fassung von 2018, gestrichen durch den EU (Withdrawal Agreement) Act 2020). 139  Part II, Section 20 und 22 des Constitutional Reform and Governance Act 2010. 140  Nämlich am 15.01.2019: 432-202; 12. März 2019: 391-242; 29. März 2019: 344-286.



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ordnung anzubinden und die Zuständigkeit des EuGH fortzusetzen.141 Der irische „Backstop“ war deshalb nötig, weil man sich wegen der gezogenen „red lines“ auch über keine Lösung der zukünftigen Beziehungen zwischen EU und UK einigen konnte und daher mit dem „Backstop“ einen „Platzhalter“ schaffen musste. Die Austrittsverhandlungen wären sicherlich einfacher geworden, hätte man das Ziel, wie die zukünftigen Beziehungen zwischen EU und UK aussehen sollten, frühzeitig klarer definieren können bzw. definiert. Stattdessen standen die formulierten „red lines“, nämlich die Abschaffung von Personenfreizügigkeit, teilweiser Unterwerfung unter die Gerichtsbarkeit des EuGH und der Gewinn an Kontrolle über innerstaatliche Gesetzgebung und Regelungsstandards (keine Binnenmarktteilnahme) sowie die Fähigkeit des UK, Freihandelsabkommen zu schließen (keine Teilnahme an der Zollunion) im offenen Spanungsverhältnis mit den Verhandlungszielen für Nordirland. Hier standen die beiden Positionen in einem weiteren Konflikt, nämlich einerseits, die territoriale Integrität des UK zu wahren (keine Binnengrenze in der Irischen See zuzulassen) und andererseits den Friedensprozess in Nordirland seit dem Good Friday Agreement von 1998 nicht zu gefährden, der letztlich eine harte Grenze auf der irischen Insel praktisch ausschließt.142 Boris Johnson ließ im Oktober 2019 erst gar nicht mehr über den von ihm geschlossenen Vertrag abstimmen, nachdem das sog. Letwin-Amendment143 die Zustimmung zum Austrittsvertrag von der Verabschiedung der innerstaatlichen Implementierungsgesetzgebung, der EU (Withdrawal Agreement) Bill, abhängig gemacht hatte. Diese Koppelung exemplifiziert das tiefe Misstrauen, das eine Mehrheit des Parlaments, auch von Teilen der Regierungspartei, gegen die Regierung zu diesem Zeitpunkt hegte: Die Zustimmung zum Austrittsvertrag wurde deswegen von der vorherigen Verabschiedung des Implementierungsgesetzes abhängig gemacht, um auszuschließen, 141  Siehe zum Nordirland-Protokoll des Austrittsvertrags noch unten IV.  3., S.  131 ff. 142  S. hierzu Ziegler, Herausforderungen des Brexits (Anm. 97), 138 ff.; im einzelnen Überblick zu den Fragen bzgl. Nordirlands, Sylvia de Mars et  al., Bordering Two Unions. Northern Ireland and Brexit, 2018, S. 41 ff. 143  Mit der knappen Mehrheit von 322–306 Stimmen.

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dass die Regierung Johnson trotz einer vorliegenden parlamentarischen Zustimmung zum Austrittsvertrag (aber bei zugleich gescheitertem Umsetzungsgesetz) gleichwohl einen „no deal“-Brexit am 31.  Oktober 2019 kraft Fristablaufs herbeiführen könnte.144 Der Vertrauensverlust zwischen Regierung und Parlament war zu dem Zeitpunkt so groß, dass der Regierung solche „legalistischen Spielchen“ zugetraut wurden. Die Patt-Situation zwischen Parlament und Regierung änderte sich schlagartig nach den Neuwahlen vom Dezember 2019, in denen die Konservativen einen erdrutschartigen Wahlerfolg erzielten. Am 23.  Januar 2020 verabschiedete das Parlament den European Union (Withdrawal Agreement) Act 2020, der gleichzeitig auch das parlamentarische Zustimmungserfordernis zum Austrittsvertrag aufhob. Man mag insofern von einer Selbstentmachtung des Parlaments am Ende des Austrittsverfahrens sprechen. Gleichwohl kam es im innerstaatlichen Brexit-Verfahren zu zwei fundamentalen verfassungsrechtlichen Entscheidungen des UK Su­ 144  Es wurde befürchtet, dass die Regierung eine Lücke im Gesetzestext des Benn-Burt Act (European Union (Withdrawal) (No. 2) Act 2019 vom 09.09.2019) ausnutzen könnte. Das Gesetz hatte zum Ziel, einen „no deal“Brexit zu verhindern. Er enthielt aber eine Lücke im Text, da das Gesetz ausdrücklich nur verlangte, dass das Parlament dem Austrittsvertrag zustimmen müsse, und andernfalls die Regierung eine Verlängerung der Verhandlung beantragen müsste. Das Gesetz, das eine mit heißer Nadel gestrickte Vorlage aus der Mitte des Parlaments war (sog. „private members bill“), erwähnte allerdings die zweite (innerstaatliche) Voraussetzung des vertrag­ lichen Austritts nicht, nämlich die Zustimmung zum Implementierungsgesetz. Daher erschien zumindest aufgrund des Wortlautes (unter Außerachtlassen des Gesetzeszwecks) ein Szenario denkbar, in dem das Parlament nur dem Vertrag, nicht aber dem Implementierungsgesetz zustimmen könnte. Damit wäre die Regierung von ihrer gesetzlichen Verpflichtung unter dem Benn-Burt Act, eine Verlängerung der Verhandlungsphase zu beantragen, frei geworden. Wenn aber das Parlament nicht auch dem Implementierungsgesetz zustimmen würde (zu dem ggf. Änderungsanträge zu debattieren gewesen wären), hätte die Regierung den Austrittsvertrag nicht ratifizieren können, aber auch keinen Verlängerungsantrag stellen müssen, und es hätte dann möglicherweise zu einem „no deal“-Brexit allein aufgrund des Ablaufs der Verhandlungsfrist von Art. 50 Abs. 2, 3 EUV kommen können. Hierzu Jeff King, The Prime Minister’s Constitutional Options after the Benn Act. Part I, U.K. Constitutional Law Blog v. 09.10.2019.



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preme Court:145 mit dem Urteil im Fall Miller (zur parlamentarischen Zustimmung der Notifizierung des Austritts) und vielleicht mehr noch, im Fall Miller und Cherry (zur Rechtswidrigkeit der Prorogation des Parlaments durch Premierminister Johnson),146 in dem das Gericht seine Begründung unmittelbar auf ungeschriebene Verfassungsprinzipien stützt. Von ihnen kann möglicherweise ein langfristiger Konstitutionalisierungsprozess angestoßen werden.147 Dieser könnte eine weitere Dynamik entfalten angesichts der zu erwartenden Rechtsfragen zur Anwendung und Auslegung des ins britische Recht überführten EU-Rechts („retained EU law“).148 Im Folgenden soll der nach einem derart kontroversen und hingezogenen Austrittsverfahren geschlossene Austrittsvertrag im Überblick erörtert werden. IV. Austrittsvertrag Der Austrittsvertrag vom 17. Oktober 2019, der von Premierminister Johnson nachverhandelt und dann vom britischen Parlament verabschiedet und ratifiziert wurde, entspricht in großen Teilen dem Entwurf vom 14.  November 2018, der von seiner Vorgängerin im Amt, Theresa May, ausgehandelt worden war. Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden liegt im Protokoll zu Nordirland. Gemäß Art. 50 EUV regelt der Austrittsvertrag „nur“ die Bedingungen des Austritts. Die Regelung der zukünftigen Beziehungen zwischen UK und EU ist einem zukünftigen Vertrag vorbehalten. Sie werden von der den Austrittsvertrag flankierenden Politischen Erklärung über die zukünftigen Beziehungen nur unverbindlich und allgemein umrissen.149 Das umfängliche Vertragswerk sieht, entsprechend der Struktur der Verhandlungen, sechs Teile vor. Teil 1 legt allgemeine Bestim145  Siehe hierzu die Beiträge in Mark Elliott/Jack Williams/Alison Young (Hrsg.), The UK Constitution after Miller. Brexit and Beyond, 2017. 146  Miller/Cherry (Anm. 99). 147  Siehe hierzu im Detail Ziegler, Herausforderungen des Brexits (Anm. 97), 167 ff., 172 f. 148  Dazu mehr unten V., S. 134 ff. 149  Dazu noch unten VI., S. 147 ff.

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mungen nieder, so unter anderem die Wirkung des Austrittsvertrages im Vereinigten Königreich sowie Auslegungsregeln (Art. 4). Danach hat der Austrittsvertrag dieselbe Wirkung im Vereinigten Königreich wie EU-Recht in den anderen Mitgliedsstaaten: Er ist unmittelbar anwendbar und genießt Vorrang vor dem nationalen Recht. Das Vereinigte Königreich ist unmittelbar durch den Austrittsvertrag verpflichtet, die zur innerstaatlichen Umsetzung notwendige Gesetzgebung zu erlassen. Der Austrittsvertrag und in Bezug genommenes EU-Recht sind entsprechend der allgemeinen Auslegungsregeln für EU-Recht auszulegen. Für die Übergangszeit bedeutet dies, dass eine europarechtskonforme Auslegung auch in Bezug auf die EuGHRechtsprechung verbindlich ist. Nach Ende der Übergangszeit ist diese nur noch zu berücksichtigen.150 Teil 2 sichert die Rechte der Unionsbürger, die von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht haben, nach Ende der Übergangszeit.151 Teil 3 legt Regelungen zur Trennung der beiden Rechtsordnungen fest, also wie EU-Recht nach dem Ende der Übergangszeit für spezifische Regelungsbereiche anzuwenden ist, sofern diese nicht durch einen Vertrag über zukünftige Beziehungen geregelt werden sollten. Hierzu gehören Regelungen zu Warenverkehr, Zöllen, Steuern, geistigen Eigentumsrechten, polizeilicher und justizieller Zusammenarbeit, sowie zu bereits beim EuGH anhängigen Rechtsstreitigkeiten: Art. 86 sieht die fortwährende Zuständigkeit des EuGH für Verfahren vor, die vor Ende der Übergangszeit anhängig gemachten werden; darüber hinaus ist der EuGH für weitere vier Jahre für bestimmte Verfahren zuständig, die Rechtsstreitigkeiten über Verpflichtungen in der Übergangszeit betreffen (Art. 87 i. V. m. Art. 160). Teil 4 legt eine Übergangszeit (bis Ende 2020) fest), im Wesentlichen eine „Stillhaltevereinbarung“, um zukünftige Beziehungen zu regeln.152 Teil 5 trifft finanzielle Regelungen, insbesondere den Beitrag des UK zum Haushalt der EU bis zum Ende der Übergangszeit. 150 

Art. 4 Abs. 4 und 5 des Austrittsvertrags (AV). Dazu unten IV.  2., S. 129 ff. 152  Dazu unten III.  1., S. 131 ff. 151 



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Teil 6 sieht institutionelle und Schlussbestimmungen vor. Hierzu gehören der Streitbeilegungsmechanismus unter dem Austrittsvertrag und Vorschriften über die weitere Zuständigkeit des EuGH.153 Die direkten Errungenschaften des Austrittsvertrags im Vergleich zu einem „no deal“-Brexit sind die unmittelbar anwendbare Vereinbarung einer Übergangszeit von einem Jahr, die den vollständigen Austritt insoweit verschiebt in Teil 4 des Austrittsvertrags (unten 1.); sowie die Regelung der Rechte der Unionsbürger in Teil 2 (unten 2.). Mit dem Austrittsvertrag sind die Rechte der Unionsbürger unabhängig davon gewährleistet, ob es zum Abschluss eines Vertrages über die zukünftigen Beziehungen kommen wird oder nicht. Die Anwendung der weiteren Teile des Austrittsvertrags, wie auch des Protokolls zu Nordirland (unten 3.) und der Vorschriften der Zuständigkeit des EuGH154 (unten 4.), hängt größtenteils davon ab, ob und welchen Inhalts ein Vertrag zwischen dem UK und der EU über zukünftige Beziehungen verhandelt und geschlossen werden wird. 1. Übergangszeit Teil 4 des Austrittsvertrags bestimmt, dass EU-Recht für eine Übergangszeit (bis Ende 2020) grundsätzlich fortgilt. Der Vertrag sieht einige näher bestimmte Ausnahmen vom Prinzip der Fortgeltung des EU-Rechts, zum Beispiel im Bereich der Außenbeziehungen und Verteidigungspolitik, vor. Die Zuständigkeit des EuGH besteht während der Übergangszeit fort (Art. 131), wenn auch die institutionelle Repräsentation des UK beendet ist.155 Die Übergangszeit 153 

Dazu unten III.  4., S. 134 ff. Mit Ausnahme der Zuständigkeit zur Wahrung der Rechte der Unionsbürger gemäß Teil  2 des Austrittsvertrags. 155  Die britische Generalanwältin Eleanor Sharpston machte zwei Verfahren anhängig (gegen den EuGH und gegen die EU) wegen der vorzeitigen Beendigung ihrer Amtszeit: Owen Bowcott, British lawyer sues EU over her removal from its court due to Brexit, in: The Guardian v. 01.05.2020, abrufbar unter https://www.theguardian.com. Parallel hat der Oxforder Wissenschaftler Professor Joshua Silver eine Nichtigkeitsklage gegen die Zustimmung des Rats zum Austrittsvertrag anhängig gemacht, u. a. mit dem Argument der Unionsrechtswidrigkeit des Entzugs der Unionsbürgerschaft, EuGH, Rs. T-252/20  – Silver (anhängig). 154 

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kann laut Austrittsvertrag durch das Joint Committee einmalig für ein oder zwei Jahre verlängert werden. Eine solche Entscheidung wäre vor dem 1.  Juli 2020 zu treffen gewesen.156 Rechtlich „interessant“ sind die Übergangsregelungen für die Außenbeziehungen der EU mit Drittstaaten. Dem Vertrag zwischen EU und UK werden dahingehende externe Effekte beigemessen oder zumindest erwartet, dass Vertragspartner der EU sich insoweit kooperativ erweisen. Art. 129 des Austrittsvertrags sieht vor, dass die von der EU geschlossenen völkerrechtlichen Verträge für das UK auch nach dem Austritt am 31. Januar 2020 jedenfalls für die Übergangszeit fortgelten sollen. Aus völkerrechtlicher Sicht wirft dies zahlreiche Fragen auf. Art. 129 verpflichtet das Vereinigte Königreich gegenüber der EU, die Verträge weiter anzuwenden. In einer Fußnote zu Art. 129 verpflichtet sich die EU, ihren Vertragspartnern, mitzuteilen, dass das UK für die Übergangszeit wie ein EU-Mitgliedsstaat zu behandeln sei. Der Formulierung nach ähnelt diese Mitteilung einer Auslegungsregel. Soweit völkerrechtliche Verträge mit Drittstaaten geschlossen wurden, sind diese allerdings aufgrund des pacta tertiis-Grundsatzes ohne eine Zustimmung des Drittstaates nicht bindend.157 Ob das Vereinigte Königreich nicht nur gegenüber der EU, und damit auch indirekt Drittstaaten begünstigend, sondern auch unmittelbar gegenüber Drittstaaten aus solchen Verträgen gebunden wäre, würde davon abhängen, inwieweit Art. 129 zugleich eine einseitig verpflichtende Erklärung158 enthält. Ggf. wäre daran zu denken, die Rechtsgedanken159 von Staatensukzession in Verträge 156 

Art. 132 AV. Art. 34 WVRK. 158  Gemäß Art. 2 lit. d) WVRK. Siehe dazu Nuclear Tests  (Australia v France) [1974] ICJ Rep. 253, Rdnr. 46 and  Nuclear Tests  (New Zealand v France) [1974] ICJ Rep. 457. Vgl. aber Art. 9 der Wiener Konvention zur Staatennachfolge in Bezug auf Verträge von 1978, der eine solche Wirkung ausschließen würde, selbst wenn die Konvention anwendbar wäre. Die Konvention wäre weder ratione personae (nicht anwendbar auf internationale Organisationen), noch aufgrund ihrer fehlenden Bindungswirkung anwendbar (westeuropäische Staaten haben die Konvention bislang nicht ra­tifiziert). Allenfalls kann man aus der Konvention kodifiziertes Völkergewohnheitsrecht oder allgemeine Rechtsgedanken ableiten. 159  Siehe hierzu Anm. 158. 157 



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anzuwenden. Dieser Ansatz wäre insbesondere dann relevant, wenn vertragsrechtliche Regelungen nicht rechtzeitig mit dem Ablauf der Übergangszeit getroffen wurden. 2. Rechte der Unionsbürger Vor dem Hintergrund des vom UK angestrebten Ziel, mit dem Austritt die EU-Freizügigkeit für sich zu beenden, sichert Teil  2 des Austrittsvertrags die derzeit erworbenen Rechte der Unionsbürger, die bislang von ihrem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht haben, nach Ende der Übergangszeit. Hierzu gehören zum Beispiel Freizügigkeitsrechte als Unionsbürger, Rechte von Arbeitnehmern und Selbständigen, die Anerkennung von Qualifikationen sowie die Koordinierung der Sozialversicherungssysteme für relevante Personengruppen. Die Vorschriften über die Rechte der Unionsbürger im Austrittsvertrag sind die wesentliche Errungenschaft eines Austrittsvertrags gegenüber einem „no deal“-Brexit. Mit dem Austrittsvertrag sind die Rechte der Unionsbürger unabhängig davon gewährleistet, ob es zum Abschluss eines Vertrages über die zukünftigen Beziehungen kommen wird oder nicht. Der Austrittsvertrag verpflichtet das UK, eine Independent Monitoring Authority einzurichten.160 Diese fungiert im UK als Funk­ tionsäquivalent zur Europäischen Kommission als „Hüterin“ der Unionsbürgerrechte. Darüber hinaus bleibt im Zusammenhang mit den Rechten der Unionsbürger die Zuständigkeit des EuGH bestehen. Diese Zuständigkeit ist die zeitlich längste, die der Austrittsvertrag vorsieht, um die Anwendung und Auslegung von EU-Recht zu überwachen. Danach bleibt der EuGH für einen Zeitraum von acht  Jahren ab Ende der Übergangszeit für das Vorabentscheidungsverfahren von nationalen Gerichten zuständig. Darüber hinaus bleibt der EuGH im völkerrechtlichen Schiedsverfahren für die Klärung von Fragen über Auslegung und Anwendung des Europarechts zuständig,161 solange der Austrittsvertrag anzuwenden ist, d. h. so­ lange berechtigte Unionsbürger am Leben sind. 160  161 

Art. 159 AV. Art 174 AV.

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Grundregel ist, dass die bestehenden Rechte im Wesentlichen erhalten bleiben. Allerdings sieht der Austrittsvertrag einige Ausnahmen hiervon vor und modifiziert dadurch die Freizügigkeitsrechte teilweise: So sind z. B. Freizügigkeitsrechte von Briten territorial gebunden, das heißt, sie bestehen nur in dem jeweiligen EU-Mitgliedsstaat, in dem sie sich am Ende der Übergangszeit aufgehalten haben und wenn sie sich weiterhin dort aufhalten.162 In einem Mitgliedsstaat erworbene Freizügigkeitsrechte sind nicht auf einen anderen zu übertragen.163 Die Rechte auf Familienzusammenführung werden nach Ende der Übergangszeit in mehrfacher Hinsicht begrenzt. Dies gilt zum einen im sog. Rückkehrszenario. Hier erstreckt sich das Recht auf Familienzusammenführung nicht mehr auf Familienangehörige ­britischer Staatsangehöriger, die Drittstaatsangehörige sind.164 Bislang kann gemäß der Surinder Singh-Rechtsprechung des EuGH165 ein Ehepartner mit Staatsangehörigkeit eines Drittstaates aus dem Europarecht ein Recht auf seinen Aufenthalt im UK ableiten, wenn er mit einem britischen Staatsangehörigen, der von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, in das UK zurückkehrt bzw. erstmalig einreist. Zudem wird der berechtigte Personenkreis von Familienangehörigen enger gefasst. Das Recht auf Familienzusammenführung von Unionsbürgern und Drittstaatsangehörigen, die in einen erweiterten166 Kreis von Familienangehörigen fallen, wird zeitlich auf diejenigen Familienangehörigen begrenzt, die bereits in der Übergangszeit im UK ansässig waren und auch weiterhin ansässig bleiben.167 Die Ausübung der Freizügigkeit kann an Formalien geknüpft werden. Entgegen der allgemeinen europarechtlichen Regel168 dür162 

Art. 2 Abs. 1 lit. b) AV. Art. 10 Abs. 2 AV. 164  Art. 10 Abs. 1 lit. b) AV. 165  EuGH, Rs. C-370/90  – Surinder Singh. 166  Vgl. Art. 3 der Richtlinie 2004/38. Der engere Kreis von Familienangehörigen in Art. 2 Abs. 2 fällt nicht unter diese zeitliche Beschränkung. 167  Art. 10 Abs. 2 und 4 AV. 168  Siehe Art. 25 der Richtlinie 2004/38. 163 



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fen Mitgliedsstaaten das Freizügigkeitsrecht von der formalen Feststellung seiner Berechtigung abhängig machen.169 Im UK ist diese Statusfeststellung über das EU Settlement Scheme geregelt, das vom Innenministerium (Home Office) bereits vor dem Austritt eingeführt wurde. Danach können EU-Bürger, die vor dem Ende der Übergangszeit im UK ansässig waren, einen entsprechenden Aufenthaltsstatus beantragen („settled“ oder „pre-settled status“170). EUBürger machten hiervon lange nur zögerlich Gebrauch. Nicht zuletzt durch die zahlreichen Austrittstermine 2019 aus Furcht vor einem potentiellem „no deal“-Austritt ist hier eine gewisse Beschleunigung eingetreten. Dennoch ist zu erwarten, dass nicht alle berechtigten EU-Bürger bis zum Sommer 2021 den formalen Status erworben haben werden und dann über Nacht zu illegalen Einwanderern werden. Parallel zur Implementierung des Austrittsvertrages muss das UK bis zum Ende der Übergangszeit ein Einwanderungsrecht schaffen, dass die EU-Freizügigkeit ersetzt. Die Anforderungen an Abschiebungen aufgrund persönlichen Verhaltens (z. B. Straffälligkeit) richten sich nach Ende der Übergangszeit nicht mehr nach den hohen Voraussetzungen des Europarechts (Richtlinie 2004/38 und EuGH-Rechtsprechung), sondern nach nationalem Recht. Es ist zu erwarten, dass die Schwelle der Abschiebung hierdurch gesenkt wird. 3. Nordirland-Protokoll Der Austrittsvertrag von 2019 enthält im Vergleich zu dem von 2018 im wesentlichen Änderungen im Protokoll zu Nordirland.171 Hierbei ist in Erinnerung zu rufen, dass für die spezifische Situation

169 

Art. 18 AV. Abhängig von der Dauer des Aufenthalts („continuous residence“) zum Zeitpunkt der Antragstellung: „settled status“ (nach fünf Jahren Aufenthalt); bei kürzerem Aufenthalt kann „presettled status“ erworben werden, der ein fünfjähriges Aufenthaltsrecht verleiht, an das sich ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht („permanent residency“) anschließen kann. 171  Zum „Backstop“ im Entwurf des Nordirland-Protokolls von 2018 siehe oben I. 170 

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Nordirlands172 konzeptionell drei Lösungen möglich gewesen wären.173 Von vornherein politisch inakzeptabel im Hinblick auf den Friedensprozess in Nordirland war es, eine harte Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland einzuführen, die der neuen EUAußengrenze entsprochen hätte. Damit bestanden noch zwei alternative Ansätze: zum einen, Nordirland einen Sonderstatus einzuräumen, verbunden zumindest mit Zollkontrollen zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs (Grenze innerhalb des UK; dies war der ursprüngliche Ansatz der EU); zum anderen, ein teilweises Verbleiben des Vereinigten Königreichs als Ganzem im Binnenmarkt (Warenverkehr) und in der/einer Zollunion, bis die Beziehungen zwischen EU und UK neu geregelt werden und auch eine Lösung für Nordirland gefunden wird, die eine harte Grenze auf der irischen Insel vermeidet, sog. „Backstop“ (Lösung von Theresa May von November 2018). Der „Backstop“ hätte nach Ende der Übergangszeit dann eingesetzt, wenn keine Einigung über die zukünftigen Beziehungen zustande gekommen wäre. Damit wären aber Teile des EU-Rechts potentiell dauerhaft auf das UK als Ganzes anwendbar geblieben, so etwa Vorschriften zum freien Warenverkehr und „level playing field“ und mit ihnen die Zuständigkeit des EuGH, was für „härtere Brexiteers“ wie etwa die ERG nicht akzeptabel war. Allerdings wären selbst unter dem „Backstop“ wesentliche Teile des EU-Rechts nicht anwendbar gewesen, so zum Beispiel die Personenfreizügigkeit, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit. Außerdem hätte keine Verpflichtung des UK bestanden, sich am EUHaushalt zu beteiligen. Das ratifizierte Protokoll vom Oktober 2019 legte den „Backstop“ zu den Akten. Vom Ansatz her folgt es dem ursprünglichen Vorschlag der EU und verleiht Nordirland einen Sonderstatus: Formell bleibt Nordirland im Zollgebiet des Vereinigten Königreichs.174 Als „Preis“ hierfür bleibt es aber inhaltlich an bestimmte Teile des Bin172  Siehe hierzu im Überblick Michael Dougan, The ‚Brexit‘ Threat to the Northern Irish Border. Clarifying the Constitutional Framework, in: Dougan (Hrsg.), The UK After Brexit. Legal and Policy Challenges, 2017, S. 53. 173  Siehe bereits Ziegler, Herausforderungen des Brexits (Anm. 97), S. 139–142. 174  Art. 4–6 des Nordirland-Protokolls.



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nenmarktrechts gebunden und „level-playing-field“-Bedingungen unterworfen. Umfangreiche Annexe zum Nordirlandprotokoll listen die anwendbaren EU-Vorschriften auf (z.  B. Produktstandards, Mehrwertsteuer, Gewerbesteuer); allerdings fielen die Vorschriften zur Landwirtschaft und Umwelt, die im Protokoll von 2018 enthalten waren, weg. Der Gemeinsame Zolltarif der EU muss für Einfuhren nach Nordirland angewendet werden, nicht aber für den rein UK-internen Handel.175 Dies macht Zollkontrollen bei der Einfuhr vom übrigen UK nach Nordirland erforderlich. Die Bindung an EURecht ist an die fortgesetzte Zustimmung der Northern Ireland Assembly geknüpft.176 Die Implementierung von Verpflichtungen aus dem Austrittsvertrag muss während der kurz bemessenen Übergangszeit bis Ende 2020 erfolgen. Dazu gehört zum einen die Schaffung einer neuen Grenze zwischen Nordirland und dem Rest des UK in der Irischen See und (möglicherweise größtenteils elektronischer) Infrastruktur und Überwachungsmechanismen, z. B. für die Einhaltung europarechtlicher Produktstandards. Zum anderen müssen detaillierte Regelungen erlassen werden, die sicherstellen müssen, dass Waren aus dem Rest des Vereinigten Königreichs nicht durch die Hintertür (zollfrei) von Nordirland in die EU eingeführt werden. Diese sind laut Austrittsvertrag vom Joint Committee zu treffen.177 Zahlreiche Schwierigkeiten sind absehbar. Die Übergangszeit ist geprägt durch die Unsicherheit über die zukünftigen Beziehungen des UK mit der EU, die aber gleichwohl determinieren, welche Regelungen notwendig sind. Dies bedeutet, dass der Zeitrahmen für die Implementierung der Verpflichtungen des Protokolls an sich schon äußerst knapp bemessen ist. Unternehmen, die mit Nordirland Handel betreiben, beklagen die damit einhergehende Rechtsunsicherheit.178 Dies hat auch Befürchtungen genährt, dass das UK seinen Verpflichtungen 175  Siehe hierzu insbesondere Art. 7–10 des Nordirland-Protokolls und die in Bezug genommenen Annexe. 176  Sog. „Consent mechanism“, Art. 18 des Nordirland-Protokolls. 177  Siehe Art. 5 Abs. 2 des Nordirland-Protokolls. 178  Arthur Beesley, Lack of detail on Irish Sea border plan worries NI businesses, in: Financial Times v. 12.06.2020, abrufbar unter https://www. ft.com.

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zur Implementierung des Protokolls nur unzureichend nachkommen könnte. Sofern das UK seine Verpflichtungen aus dem NordirlandProtokoll nicht wird einhalten können, könnte der Handel mit Nordirland massiv betroffen sein. Die Kommission könnte sogar unter dem Protokoll ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten.179 Zudem könnte sich ein gegen Treu und Glauben verstoßendes Verhalten des UK, seine Verpflichtungen unter dem Austrittsvertrag einzuhalten, negativ auf die Verhandlungen eines Vertrags über die zukünftigen Beziehungen auswirken180 und damit die Gefahr eines „no deal“-Szenarios am Ende der Übergangszeit erhöhen. 4. Streitbeilegung und Zuständigkeit des EuGH Zu den institutionellen und Schlussbestimmungen in Teil  6 des Austrittsvertrags gehören Streitbeilegungsmechanismen und Vorschriften, die die weitere Zuständigkeit des EuGH regeln. Die Zuständigkeit des EuGH war (und bleibt) gerade im Hinblick auf die Rolle des EuGH, den besonderen Charakter des EU-Rechts zu wahren, und das Ziel des UK, die „Kontrolle“ durch den EuGH zu beenden, ein wesentlicher Konfliktpunkt in den Verhandlungen zwischen EU und UK. Nach der Übergangszeit ist der EuGH für acht Jahre in Vorabent­ scheidungsverfahren bzgl. der Rechte der Unionsbürger (Teil II des Austrittsvertrags) zuständig, sofern der Rechtsstreit in diesem Zeitraum vor einem britischen Gericht anhängig gemacht wird.181 Demgegenüber gilt keine zeitliche Beschränkung für Vorabentscheidungsverfahren zu Rechten von UK-Bürgern in den 27 Mitgliedsstaaten, die ihren Ausgang vor deren nationalen Gerichten finden.

179  Art.  12 Abs. 4 des Nordirland-Protokolls, i.  V.  m. Art. 258, 259 AEUV. 180  Vgl. den Nexus den Art. FINPROV.2 des Kommissionsentwurfs für einen zukünftigen Vertrag vorsieht (zu diesem siehe unten). 181  Art. 158 AV; anders als unter Art. 267 AEUV ist eine Vorlage auch im Falle letztinstanzlicher Gerichte des UK nicht verpflichtend. Demgegenüber bleiben letztinstanzliche Gerichte in den EU27-Mitgliedsstaaten weiterhin zur Vorlage verpflichtet.



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Der EuGH spielt auch eine Rolle im Streitbeilegungsmechanismus, der vom Austrittsvertrag vorgesehen ist. Im Rahmen des Schiedsverfahrens bleibt der EuGH zeitlich unbefristet für die Auslegung von EU-Recht bzgl. der Rechte der Unionsbürger zuständig, solange der Austrittsvertrag und dessen Protokolle anwendbar sind und solange entsprechende Rechtsstreitigkeiten noch auftreten können, d. h. solange noch berechtigte Unionsbürger im UK am Leben sind.182 Der EuGH ist auch in Vertragsverletzungsverfahren und Vorabent­ scheidungsverfahren, die finanzielle Regelungen betreffen, weiterhin zuständig,183 solange diese relevant sind. Daneben ist der EuGH für die Überwachung der Implementierung von Teilen der Protokolle zu Nordirland und der „Sovereign Base Areas“ in Zypern zuständig, solange diese anwendbar sind.184 Anders als im Entwurf des Austrittsvertrags von 2018 hat der EuGH nunmehr keine Zuständigkeit in Streitigkeiten über die Trennungsvorschriften, z. B. Streitigkeiten bzgl. des Europäischen Haftbefehls, die nicht vor Ende der Übergangszeit anhängig gemacht werden.185 Der Austrittsvertrag richtet in Art. 164 das Joint Committee zur Implementierung des Vertrags ein, dessen Entscheidungen bindend sind und die mit der gleichen Rechtswirkung ausgestattet sind wie die Vorschriften des Austrittsvertrags.186 Daneben sieht der Austrittsvertrag eine Reihe weiterer Ausschüsse vor, die die Umsetzung des Austrittsvertrags überwachen, z. B. den spezialisierten Unterausschuss für Unionsbürgerrechte (Art. 165). Das Joint Committee spielt auch eine Rolle im Streitbeilegungsverfahren des Austrittsvertrags, das auf völkerrechtlicher Grundlage beruht. Dieses beginnt mit Verhandlung im Joint Committee analog dem WTO Dispute Settlement Understanding.187 Damit wird die 182 

Art.  174 i. V. m. 39. Art. 160 AV. 184  Art. 170 ff. AV; Art. 12 Abs. 4 des Protokolls zu Nordirland (i. V. m. Art. 5, 7–10 und 12 Abs. 2); Art. 12 Abs. 1 des Protokolls zu Zypern. 185  Der entsprechende Verweis wurde aus Art. 160 AV in der vorliegenden Form gestrichen. 186  Art. 166 AV s. Art. 4 AV und oben S. 124 (unmittelbare Anwendbarkeit und Vorrang des AV). 187  Art. 4 WTO Dispute Settlement Understanding. 183 

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politische Dimension der Streitbeilegung betont, zusammen mit einer in Art. 167 niedergelegten „best efforts“-Verpflichtung. Scheitert eine politische Einigung im Joint Committee, können sowohl die EU als auch das UK ein Schiedsverfahren einleiten, das mit der Einsetzung eines Schiedsgerichts beginnt („arbitration panel“, Art. 171).188 Das Schiedsgericht, dessen Entscheidungen bindend sind,189 kann nach Art. 174 des Austrittsvertrags den EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren zur verbindlichen Klärung einer Frage der Anwendung oder Auslegung von EU-Recht anrufen. Der EuGH ist auch zuständig für die Durchsetzung von Urteilen, in denen er eine Verletzung von EU-Recht oder des Austrittsvertrags in der Übergangszeit feststellt.190 Hierzu ist Art. 267 AEUV mutatis mutandis anzuwenden.191 Die Entscheidung des EuGH ist verbindlich für das Schiedsgericht.192 Im Falle des Verstoßes gegen Entscheidungen des Schiedsgerichts kann dieses unmittelbar Zwangsgelder auferlegen. Diese sind, anders als unter dem WTO Dispute Settlement Understanding, nicht von Verhandlungen der Parteien abhängig.193 V. Die innerstaatliche Umsetzung des Austritts im Vereinigten Königreich Die Herkulesaufgabe der innerstaatlichen Entflechtung des EURechts vom britischen Recht wird sich  – ab Ende der Übergangszeit  – nach den schon größtenteils bereits im Juni 2018 verabschie188  In einem früheren Entwurf des Austrittsvertrags von 2018 war hier noch die Zuständigkeit des EuGH vorgesehen, aber schon der Vertragsentwurf von Theresa May von November 2018 reflektierte den Verhandlungserfolg des UK, die Rolle des EuGH im Streitbeilegungsverfahren zu reduzieren. 189  Art. 175 AV. 190  Art. 89 Abs. 3 AV. 191  Art. 174 Abs. 3 AV. 192  Art. 174 Abs. 1 AV. 193  Art. 178 Abs. 1 AV, vgl. Art. 23 Abs. 2 WTO DSU. Damit ist der AV an die Regeln des Art. 260 TFEU angelehnt, ohne unmittelbar auf diese zu verweisen. Der Entwurf des AV von 2018 hatte noch eine Zuständigkeit des EuGH vorgesehen.



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deten Regelungen des EU Withdrawal Act 2018 (EUWA) richten, der ausführlich im Parlament beraten wurde.194 Neben der innerstaatlichen Regelung des Austrittsverfahrens195 enthält das Gesetz drei Regelungsbereiche: Zunächst wird mit dem „exit day“196 der European Communities Act 1972, der die Grundlage für die Anwendung allen Europarechts im UK ist, aufgehoben.197 Allerdings wird er sodann sogleich für die Übergangszeit („implementation period“) wieder für anwendbar erklärt,198 um die Verpflichtung aus Art. 4 des Austrittsvertrags zu implementieren.199 Das Gesetz wurde anfänglich daher auch „Great Repeal Bill“ genannt. Mit dem EU Withdrawal Act wird für die Zukunft die Geltung und der Vorrang des EU-Rechts gegenüber dem nationalen Recht aufgehoben und die Bindung der innerstaatlichen Gerichte an die EuGH-Rechtsprechung beendet.200 Obwohl der Vorrang des EU-Rechts grundsätzlich wegfällt, ist das Prinzip weiter anwendbar auf EU-Rechtsakte, die bis zum Zeitpunkt des Austritts bereits erlassen wurden.201 Grundgedanke des Gesetzes ist es, Kontinuität zu wahren, so dass nach dem Austritt keine Lücken im Recht auftreten. Zudem sollen EU-Rechtsakte in die Form des britischen Rechts gegossen werden, so dass sie künftig mit Mechanismen des englischen Rechts geändert oder außer Kraft gesetzt werden können. Hierzu leitet der EU Withdrawal Act, von einigen Ausnahmen abgesehen, das komplette EU194  Einige Änderungen des Gesetzes erfolgten im Januar 2020 durch den EU (Withdrawal Agreement) Act 2020. 195  Section 13 EUWA, siehe schon oben S. 120. 196  Die Definition in Section 20 EUWA wurde durch Rechtsverordnung im Oktober 2019 geändert auf 31.01.2020, 23 Uhr. 197  Section 1 EUWA: „The European Communities Act 1972 is repealed on exit day.“ 198  Section 1A Abs. 2 EUWA: „The European Communities Act 1972, as it has effect in domestic law or the law of a relevant territory immediately before exit day, continues to have effect in domestic law or the law of the relevant territory on and after exit day so far as provided by subsections (3) to (5).“ 199  Siehe oben, S. 124. 200  Section 6(1) EUWA, siehe aber Section 6(3)(a) bzgl. „retained case law“ und unten S. 138. 201  Section 5(3) EUWA.

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Recht in einer „giant ‚copy and paste‘ exercise“202 mit Ablauf der Übergangszeit ins britische Recht über. Dafür wird eine neue Kategorie von Rechtsakten, das „retained EU law“ im englischen Recht geschaffen.203 An die Stelle des Vorrangs allen Europarechts im UK tritt eine ausdifferenzierte Hierarchie von „retained EU law“, die sich teils nach einer bereits erfolgten Inkorporierung ins Recht des UK und teils nach dem Charakter/Status des Rechtsakts im Europarecht richtet. Die genaue Zuordnung wird hierbei nicht immer unstreitig sein. Diese Kategorisierung unter nationalem Recht führt zum Teil  auch zu Ergebnissen, die quer zur Normenhierarchie im Europarecht liegen, insbesondere, wo keine innerstaatlichen Umsetzungsakte vorliegen, wie etwa für Teile des Primärrechts. Schließlich ermächtigt der EU Withdrawal Act die Exekutive umfassend zum Erlass von Verordnungen, um das britische Recht anzupassen und es in „praktikabler“ Weise, wie die Regierung argumentierte,204 vom EU-Recht zu entflechten. Hierbei handelt es sich nicht bloß um eine einfache Verordnungsermächtigung, sondern um die weitgehenden sog. „Henry VIII powers“: Verordnungs­ ermächtigungen, die sowohl zur Änderung förmlicher Parlaments­ gesetze als auch untergesetzlicher Normen ermächtigen.205 Diese Ermächtigungen sind auf starke Kritik gestoßen, sowohl aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit und wegen des Verhältnisses von Exekutive und Legislative, als auch aus der Perspektive der Devolution.206 202  Institute for Government, EU Withdrawal Act 2018, abrufbar unter https://www.instituteforgovernment.org.uk/printpdf/4417. 203  Section 6(7) EUWA. 204  Lord Keen of Elie (für die Regierung), House of Lords Debates, 05.03.2018, Vol. 789, cc895–896. 205  Section 8 EU EUWA: „Dealing with deficiencies arising from withdrawal.“ 206  Joint Committee on Human Rights, The Human Rights Implications of Brexit’, HL Paper 88/HC 695, 19.12.2016, Rdnr. 92; House of Lords Select Committee on the Constitution, European Union (Withdrawal) Bill, HL Paper 69, 24.01.2018, Rdnr. 157 ff., 197; Paul Craig, Constitutional Principle, the Rule of Law and Political Reality. The European Union (Withdrawal) Act 2018, Modern Law Review 82 (2019), S. 319, 338 ff., 345 f.; Sionaidh Douglas-Scott, The Constitutional Implications of the EU (Withdrawal) Act 2018. A Critical Appraisal, Queen Mary University of London, School of Law Legal Studies Research Paper No 299/2019, abruf-



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Die komplexen Regelungen des EU Withdrawal Act lassen zum Teil an Klarheit und Rechtssicherheit zu wünschen übrig. Zu erwarten ist, dass viele Fragen die britischen Gerichte in Zukunft beschäftigen werden. Es folgt zunächst ein Überblick über die Komplexität der neuen Rechtskategorie des „retained EU law“ und sodann werden die Ausnahmen erörtert, d. h. die Prinzipien des Europarechts, die mit Ablauf der Übergangszeit nicht ins englische Recht übergeleitet werden. Hierzu gehört insbesondere die EU-Grundrechte-Charta. 1. „Retained EU Law“ Die Überleitung von EU-Recht als „retained EU law“ an sich sagt noch nichts über dessen Status in der Normenhierarchie des UK und deren Änderungsmodi aus. Zu diesem Zweck schafft der EU Withdrawal Act207 drei Kategorien von „retained EU law“: „EUderived domestic legislation“, „direct EU legislation“ und „rights etc. under Section 2(1)“ des European Communities Act 1972. Die Kategorie von „EU-derived domestic legislation“ erscheint zumindest auf den ersten Blick relativ unproblematisch:208 Hier liegt bereits ein innerstaatlicher Akt vor, meist ein Gesetz oder eine Rechtsverordnung, der Status und Wirkung der Norm determiniert. Beispiele sind der Equality Act, die Working Time Regulations oder Rechtsverordnungen unter dem Competition Act. Für „EU-derived domestic legislation“ besteht keine Verpflichtung, diese europarechtskonform auszulegen; sie kann durch Gesetz oder Verordnung (sofern eine Ermächtigungsgrundlage besteht) geändert werden. bar unter https://papersssrncom/sol3/paperscfm?abstract_id=3316710, S.  8 ff.; Antonios Kouroutakis, The Henry VIII powers in the EU (Withdrawal) Bill. Political and Legal Safeguards, UK Human Rights Blog, 07.02.2018, abrufbar unter https://ukhumanrightsblog.com; Alison Young, Status of EU Law Post Brexit. Part One, U.K. Constitutional Law Blog v. 02.05.2017; Adam Tucker, A First Critical Look at the Scrutiny of Delegated Legislation in the Withdrawal Agreement Bill’, U.K. Constitutional Law Blog v. 24.10.2019, abrufbar unter https://ukconstitutionallaw.org. 207  Sections 2, 3 und 4 EUWA. 208  Section 2 EUWA.

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Probleme in der systematischen Einordnung in der Normenhie­ rarchie können sich hier aber daraus ergeben, dass bestimmte Materien aufgrund ihres Ursprungs im EU-Recht im nationalen Recht nur untergesetzlich geregelt wurden (aber das Prinzip des Vorrangs des Europarechts den Normen ein über ihren formalen Rang hinausgehendes Gewicht beimaß).209 Zwei weitere Kategorien beziehen sich auf unmittelbar anwendbares EU-Recht, das seiner Natur nach nicht innerstaatlich umgesetzt wurde, und das mit Ende der Übergangszeit ohne die Regelungen des EU Withdrawal Act inhaltlich wegbrechen würde: zum einen „direct EU legislation“210, d. h. im Wesentlichen unmittelbar anwendbares Sekundärrecht (Verordnungen, Entscheidungen, delegierte Rechtsetzung); und zum anderen Rechte, die unmittelbar aus Section 2(1) des European Communities Act (ECA) 1972 folgen,211 d. h. europarechtliches Primärrecht (etwa Freizügigkeitsregeln und Unionsbürgerschaft) und dessen Auslegung. Hierzu gehören auch die Rechtsprechung des EuGH und damit ungeschriebene allgemeine Rechtsgrundsätze und Grundrechte,212 die sich dort niedergeschlagen haben.213 In beiden Kategorien ist der formale Status und Rang im Recht des UK offengelassen worden.214 Dies könnte zu Folgeproblemen 209  Aus diesem Grund wurde im House of Lords ein Änderungsantrag eingebracht, der allerdings nicht angenommen wurde. Danach sollte die Schwelle für Änderungen für bestimmte Regelungsmaterien angehoben werden, damit sie nur mit Zustimmung des Parlaments erfolgen könnten, sog. „affirmative procedure“ (diskutiert für das Arbeitsrecht, Gleichheit, Verbraucherschutz, Umweltstandards). 210  Section 3 EUWA. 211  Section 4 EUWA. 212  Zur EU-Grundrechte-Charta, die in Section 5(4) EUWA ausdrücklich von der Überleitung ins britische Recht ausgeschlossen wurde, s. unten V.  3. S.  142 ff. 213  Ausdrücklich ausgeschlossen sind allerdings (unmittelbar anwendbare) Richtlinien, sofern sie nicht als allgemeine Rechtsprinzipien in der Rechtsprechung des EuGH Ausdruck gefunden haben, Section 4(1)(b) EUWA. Graeme Cowie, The Status of „Retained EU Law“, House of Commons Briefing Paper No 8375, 2019, S. 31 f. 214  Hierzu kritisch Craig, EU Withdrawal Act (Anm. 206), 324 f., 327.



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führen, zum Beispiel für die Frage, inwieweit britische Gerichte im Rahmen von Judicial Review Normen aufheben können; dies ist allenfalls für Normen möglich, die in der Hierarchie unterhalb eines Gesetzes stehen. Aber auch die fundamentale verfassungsrechtliche Frage, wie die auf einem „constitutional statute“ (European Communities Act 1972) beruhenden Rechte in die Normenhierarchie des UK einzuordnen sind, könnte aufgeworfen werden.215 Das House of Lords Constitution Committee sprach sich im Gesetzgebungsverfahren dafür aus, unmittelbar anwendbares EU-Recht aufgrund seiner Regelungsmaterien mit Gesetzesrang auszustatten.216 Damit hätten entsprechende Prinzipien nur unter Parlamentsbeteiligung geändert werden können. Allerdings hätte dies zu Verwerfungen in der Normenhierarchie geführt, z. B. hätte unmittelbar anwendbares EU-Tertiärrecht, etwa eine EU-Verordnung, die eine Richtlinie umsetzt („retained direct legislation“), möglicherweise einen höheren Rang im UK gehabt als die Richtlinie selbst, wenn diese untergesetzlich durch Rechtsverordnung im UK inkorporiert wurde („EU-derived domestic legislation“).217 Statt direkt anwendbarem EU-Recht abstrakt einen Rang in der Rechtsordnung des UK zuzuweisen, schreibt der EU Withdrawal Act 2018 in einer komplexen Regelung die Änderungsmodalitäten von unmittelbar anwendbarem EU-Recht vor, das nicht Gegenstand eines Umsetzungsaktes ist.218 Hierzu wird „retained direct EU legislation“ weiter differenziert in die Kategorien „principal“ und „minor“ EU-Rechtsakte, die respektive EU-Sekundärrecht und delegierten EU-Rechtsakten entsprechen. „Retained direct EU legislation sowie Rechte, die unmittelbar aus Section 2(1) ECA 1972 folgen, können danach grundsätzlich durch Parlamentsgesetz und, bei Vorliegen einer Henry VIII-Verordnungsermächtigung, von der Exekutive geändert werden. „Direct retained minor EU legislation“ kann zusätzlich grundsätzlich durch untergeVgl. Young, Status (Anm. 206). House of Lords Select Committee on the Constitution, European Union (Withdrawal) Bill, HL Paper 69, 24.01.2018, Rdnr. 39 ff., 52. 217  Craig, EU Withdrawal Act (Anm. 206), 325; Craig, The Withdrawal Bill, Status and Supremacy, U.K. Constitutional Law Blog v. 19.02.2018, abrufbar unter https://ukconstitutionallaw.org. 218  Section 7 EUWA. 215  216 

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setzliches Recht geändert werden.219 „Retained direct EU legislation“ sowie Rechte, aus Section 2(1) ECA 1972 können ebenfalls durch Rechtsverordnung geändert werden, wenn diese Änderungen mit solchen von „direct retained minor EU legislation“ verbunden sind („supplementary, incidental or consequential“).220 Der genaue Umfang der Verordnungsermächtigung ist allerdings unklar und es ist befürchtet worden, dass dies zu einer schleichenden Ausweitung der Verordnungsermächtigung führen könnte.221 2. Auslegung von „retained EU Law“ Die Auslegung von „retained EU law“ ist allein Sache der britischen Gerichte. Nach Ablauf der Übergangsphase besteht auf der Basis von „retained EU law“ keine Möglichkeit, den EuGH im Vorabentscheidungsverfahren anzurufen.222 Entscheidungen des EuGH, die vor Ablauf der Übergangsphase ergangen sind, gelten als „retained case law“ fort223 und sind daher Präzedenzfälle, die nach dem Prinzip des stare decisis nur von Obergerichten und dem Gesetzgeber geändert werden können (Supreme Court oder High Court of Justiciary in Schottland, wenn er als Court of Appeal entscheidet).224 Darüber hinaus können Minister durch Rechtsverordnung festlegen, ob und unter welchen Voraussetzungen auch untere Gerichte nicht an „retained case law“ des EuGH gebunden sind.225 Diese Anordnungsbefugnis wurde im Zuge einer Änderung des EU Withdrawal Act 2018 durch den EU (Withdrawal Agreement) Act 2020 eingefügt, mit dem das Parlament dem Austrittsvertrag zustimmte. Das Gesetz wurde am Tag vor der Weihnachtspause eingebracht und ist nur relativ kurz im Januar 2020 im Parlament debattiert worden. Ein 219  S. auch Überblick bei Cowie, Status (Anm. 213); Craig, EU Withdrawal Act (Anm. 206), 326 f. 220  Section 4 (3) EUWA. 221  Alison Young, Status of EU Law Post Brexit: Part Two, U.K. Constitutional Law Blog v. 04.05.2018, abrufbar unter https://ukconstitutionallaw. org/. 222  Section 6 EUWA. 223  Section 6(3) EUWA. 224  Section 6(4) EUWA. 225  Section 6(5A) EUWA.



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Änderungsantrag des House of Lords, in dem diese Verordnungsermächtigung stark kritisiert wurde,226 wurde vom House of Commons zurückgewiesen. Nach dem Ende der Übergangszeit ergangene Entscheidungen des EuGH sind nicht mehr bindend, können aber, wie das Gesetz prosaisch formuliert, berücksichtigt werden: „a court or tribunal may have regard to anything done on or after [IP  completion day] by the European Court, another EU entity or the EU“.227

Es wird daher ganz wesentlich von den Gerichten abhängen, inwieweit es zu einer abweichenden oder übereinstimmenden Auslegung von „retained EU law“ und EU-Recht kommen wird. Hierbei greifen eine Reihe von Einschränkungen im Rechtsschutz: Eine Nichtigkeitsklage gegen „retained EU law“ ist gesetzlich ausgeschlossen, es sei denn in Übergangsszenarien (wenn der EuGH vor Ende der Übergangszeit einen EU-Rechtsakt für nichtig erklärt hat) oder, wenn eine Ministerverordnung den Rechtsweg eröffnet.228 Dieser Ausschluss steht allerdings im direkten Widerspruch mit Section 6(3),229 der sich auf eine Legalitätskontrolle/Nichtigkeits­ erklärung bezieht, die auf der Grundlage von „retained case law“230 oder „retained general principles of EU law“ sowie um die Kompetenzordung der EU durchzusetzen, ausgeübt wird.231 Der Widerspruch könnte allenfalls aufgelöst werden, wenn damit Gerichten die Möglichkeit einer inzidenten Nichtigkeitserklärung gegeben werden sollte, ohne dass es hierzu eine entsprechende Anspruchs- oder Verfahrensgrundlage gibt. 226  Siehe House of Lords Constitution Committee, European Union (Withdrawal Agreement) Bill, HL Paper 5, 14.01.2020, Rdnr. 110; House of Lords Debates, 20.01.2020, Vol 801 c982. 227  Section 6(2) EUWA. 228  Schedule 1, §1(1) und (2) zum EU Withdrawal Act 2018. Vgl. hierzu die Fälle in der Verordnung: Challenges to Validity of EU Instruments (EU Exit) Regulations 2019. 229  Ebenso Craig, EU Withdrawal Act (Anm. 206), S. 337. 230  Section 6(7) EUWA definiert „retained case law“ als sowohl „retained domestic case law“ als auch „retained EU case law“. 231  Section 6(3) EUWA.

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Des Weiteren werden allgemeine Rechtsgrundsätze als Anspruchsgrundlage ausgeschlossen. Ihre Wirkung ist auf die Auslegung begrenzt worden.232 3. Ausnahmen von der Überleitung ins britische Recht, insbesondere: Grundrechte-Charta der EU Einige europarechtliche Prinzipien sind von der Überleitung ausgenommen. Im Wesentlichen handelt es sich hierbei um den Vorrang des Europarechts, das Prinzip der Staatshaftung für Verstöße gegen Europarecht (Francovich233, insbesondere bei der Nichtumsetzung von Richtlinien) sowie die Grundrechte-Charta.234 Dass der Grundsatz des Vorrangs des EU-Rechts auf nationales Recht nicht mehr anwendbar ist, das nach Ende der Übergangszeit erlassen wurde, liegt in der Logik des Austritts.235 Allerdings bleibt das Vorrangprinzip trotzdem weiterhin anwendbar auf nationale Rechtsakte, die vor dem Ende der Übergangszeit erlassen wurden.236 Im Detail bleiben viele Fragen unklar, z. B. ob und inwieweit „retained EU law“ vorrangig zu behandeln ist, wie das Verhältnis des Vorrangprinzips zum sich dynamisch fortentwickelnden Common Law aussieht, ob ein etwaiger Vorrang 1:1 dem europarechtlichen und vom EuGH definierten Prinzip folgt oder ob es von nationalen Gerichten unabhängig auszulegen ist.237 Dass die Überleitung des Anspruchs aus Staatshaftung238 nach der Francovich-Rechtsprechung239 ausgeschlossen wird, folgt ebenfalls der unmittelbaren Lo232 

S. dazu noch unten S. 145. EuGH, Verb. Rs. C-6/90 und C-9/90  – Francovich und Bonifaci; Verb. Rs. C-46/93 und C-48/93  – Brasserie du Pêcheur/Factortame. 234  Section 5 EUWA und Schedule 1. 235  Section 5 (1) EUWA. 236  Section 5(2) und (3) EUWA. Dies kann je nach Intention des Gesetzgebers sogar dann der Fall sein, wenn der Rechtsakt nach dem Exit Day modifiziert wurde. 237  Young, ‚Status of EU Law Post Brexit: Part Two‘ (Anm. 221); Cowie, Status (Anm. 213), 34 ff.; Craig, EU Withdrawal Act (Anm. 206), 329. 238  Schedule 1, § 4 zum EUWA. 239  Siehe oben (Anm. 233). 233 



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gik des Austritts, da künftig Verpflichtungen aus dem EU-Recht wegfallen.240 Die damit verbundene Immunisierung der Regierung gegen Rechtsverletzungen ist jedoch zu kritisieren. Section 5 (4) des EU Withdrawal Act 2018 schließt die Grund­ rechte-Charta von der Überleitung ins nationale Recht ausdrücklich aus.241 Gleichzeitig weist aber Absatz 5 darauf hin, dass die Grundrechte auf anderer Basis („which exist irrespective of the Charter“) am Status von „retained EU law“ teilhaben könnten.242 Regelungstechnisch bleibt hier vieles offen. Unklar ist zunächst, welche anderen Grundlagen das sind, d. h. was unter korrespondierenden Rechten oder Prinzipien zu verstehen ist. Damit wird verschleiert, auf welcher Grundlage und mit welchem Rang die Grundrechte gelten, und wie diese inhaltlich zu bestimmen sind. Darunter könnten zum einen alle Rechte der Grundrechte-Charta fallen; dies legen die Explanatory Notes zum Gesetz243 sowie der Hinweis zur Interpretation in Schedule  1 nahe.244 Eine mögliche engere Auslegung beschränkt nur solche Rechte auf diejenigen, die in der Rechtsprechung zum Beispiel als „retained general principles of EU law“245 und/oder in den Verträgen Niederschlag gefunden haben.246 Soweit diese Teil des „retained EU law“ sind, können auch die Rechte der Europäischen 240  So ausdrücklich Lord Keen of Elie, House of Lords Debates, 08.05.2018, Vol. 791, c140. 241  Section 5(4) EUWA: „The Charter of Fundamental Rights is not part of domestic law on or after exit day.“ 242  Section 5(5) EUWA: „Subsection (4) does not affect the retention in domestic law on or after exit day in accordance with this Act of any fundamental rights or principles which exist irrespective of the Charter (and references to the Charter in any case law are, so far as necessary for this purpose, to be read as if they were references to any corresponding retained fundamental rights or principles).“ 243  Explanatory Notes zum EUWA, Rdnr. 94. 244  Schedule 1, § 5: „References in section 5 and this Schedule to the principle of the supremacy of EU law, the Charter of Fundamental Rights, any general principle of EU law or the rule in Francovich are to be read as references to that principle, Charter or rule so far as it would otherwise continue to be, or form part of, domestic law on or after [IPcompletion day] in accordance with this Act.“ 245  Section 5(7) EUWA und Schedule 1. 246  Craig, EU Withdrawal Act (Anm. 206), 332.

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Menschenrechtskonvention (EMRK) und internationaler Menschenrechtsverträge einbezogen sein.247 Auch ist der Anwendungsbereich von EU-Grundrechten als „retained EU law“ unklar. Bekanntlich ist der Anwendungsbereich der Charta auf die EU und Mitgliedsstaaten bei der Anwendung von EU-Recht beschränkt (Art. 51 Abs. 1 der Charta). Ironischerweise wird aber gerade dieser beschränkte Anwendungsbereich durch die unklare Regelung zur künftigen Anwendung der Grundrechte in Zweifel ge­zogen.248 Selbst wenn man davon ausgeht, dass alle Rechte der Grundrechte-Charta inhaltlich übergeleitet werden, ist die Schutzwirkung im Vergleich zum Grundrechtskatalog der Charta weniger spezifisch und auch in der Rechtsfolge unklarer, insbesondere für die Garantie des effektiven Rechtsschutzes unter Art. 47 der Charta: Rechtsfolge eines Verstoßes gegen Art. 47 der Charta ist die Nichtanwendung des verstoßenden Rechts  – eine Rechtsfolge, die ansonsten den Gerichten im UK nicht zur Verfügung steht.249 Die Ausnahme der Grundrechte-Charta von der Überleitung als „retained EU law“ widerspricht der Logik und dem Grundgedanken der Kontinuität des EU-Rechts, um Regelungslücken zu vermeiden, und der Rechtssystematik des EU Withdrawal Act. Dies könnte unvorhersehbare Konsequenzen haben, nicht zuletzt deswegen, weil die Grundrechte-Charta EU-Recht begrenzt, das nunmehr aber ohne diese Schranken selektiv importiert wird.250 Die Regelungen sind 247  Arabella Lang/Vaughne Miller/Jack Simson Caird, EU (Withdrawal) Bill. The Charter, General Principles of EU Law, and ‚Francovich‘ Damages, House of Commons Library Briefing Paper No 8140, 2017, S. 14. 248  Ebenso Craig, EU Withdrawal Act (Anm. 206), 332: „applicable to all UK law, not merely other EU law that is ‚converted‘.“ 249  Benkharbouche (Respondent) v Secretary of State for Foreign and Commonwealth Affairs (Appellant) [2017] UKSC 62; hierzu auch Katja S. Ziegler, Immunity versus Human Rights. The Right to a Remedy after Benkharbouche, Human Rights Law Review 17 (2017), S. 127 ff. 250  House of Lords Constitution Committee, European Union (Withdrawal) Bill, HL Paper 69, 29.01.2018, Rdnr. 119 f.; Joint Committee on Human Rights, Legislative Scrutiny. The EU (Withdrawal) Bill. A Right by Right Analysis, HL Paper 70/HC 774, 26.01.2018, Rdnr. 6; siehe auch Katja S. Ziegler/Cristina Saenz Perez, EU Bill. ‚Supermaxing‘ EU Law and Reducing Fundamental Rights Protections, The UK in a Changing Europe



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auch in sich widersprüchlich und verursachen dadurch Rechtsunsicherheit. In den Ausnahmen spiegelt sich vielmehr eine reflexartige Ablehnung von fundamentalen Prinzipien des EU-Rechts, die regelmäßig Stein des Anstoßes für Euroskeptiker waren.251 Es ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, dass die Entscheidung, die Grundrechte-Charta nicht überzuleiten, ohne eine detaillierte Folgenabschätzung in den Entwurf des EU Withdrawal Act aufgenommen wurde. Das parlamentarische Joint Committee on Human Rights hat die Regierung deswegen stark kritisiert.252 Sollten die Grundrechte nur über die allgemeinen Rechtsgrundsätze einen gewissen Schutz als „retained EU law“ erhalten, ist zu bedenken, dass der EU Withdrawal Act 2018 die allgemeinen Rechtsgrundsätze auf den Moment des Endes der Übergangszeit „einfriert“253 und ihnen ausschließlich eine auslegungsleitende Wirkung beimisst.254 Damit wird ihr Potential zur Lückenfüllung und Rechtsfortbildung stark eingeschränkt. Sie können keine unmittelbare Anspruchsgrundlage mehr begründen. Rechtsakte, die mit allgemeinen Rechtsgrundsätzen unvereinbar sind, können nicht allein deswegen für nichtig erklärt werden.255 In inhaltlicher Hinsicht wird der Schutz der Grundrechte reduziert, da nicht alle Charta-Rechte v. 10.10.2017, abrufbar unter https://ukandeu.ac.uk/eu-bill-supermaxingeu-law-and-reducing-fundamental-rights-protections/. 251  Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass der EU Withdrawal Act 2018, in der Fassung des EU (Withdrawal Agreement) Act 2020 in Section 5 immer noch auf „exit day“ Bezug nimmt und nicht, wie sonst im Gesetz auf den „implementation period completion day“. Damit steht der EU Withdrawal Act im Widerspruch zu den Verpflichtungen aus dem Austrittsvertrag, siehe Art. 127 i. V. m. Art. 2 (a) des Austrittsvertrags, wonach die EU-Grundrechte-Charta für die Übergangszeit ausdrücklich vom anwendbaren EU-Recht umfasst ist  – mit Ausnahme der Vorschriften zum Wahlrecht zum Europäischen Parlament, siehe Art. 127 Abs. 1 (b). Die Vorschrift ist daher in Konformität mit dem Austrittsvertrag auszulegen und „exit day“ als „nach Ende der Übergangszeit“ auszulegen. 252  Joint Committee on Human Rights, Legislative Scrutiny (Anm. 250), Rdnr. 6. Die Folgenabschätzung wurde fünf Monate später nachgereicht. 253  Nur die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die bereits im Fallrecht des EuGH anerkannt wurden, werden übergeleitet, Schedule 1, § 2 zum EUWA. 254  Section 6(3)(a) EUWA und Schedule 1, §3. 255  Schedule 1, § 3.

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auch gleichermaßen unter dem Human Rights Act 1998 und der EMRK geschützt werden.256 Dies schafft Unsicherheit in der Grundrechte-Landschaft im UK257 just dann, wenn sie wegen der großen rechtlichen Umwälzungen zu vermeiden wäre. Durch den Austritt aus der EU geht ohnehin schon die besondere quasi-verfassungsrechtliche Änderungsfestigkeit der über den europäischen Grundrechtekatalog gewährleisteten Rechte verloren.258 Änderungen sind künftig durch einfaches Gesetz oder sogar Ministerialverordnung möglich. Dies ist auch angesichts der weitergehenden Skepsis gegenüber Grund- und Menschenrechten im UK relevant. Das Wahlmanifest der Conservative Party von 2019 enthielt die Ankündigung, „to update the Human Rights Act“259 und steht in einer Serie von Ankündigungen, den Human Rights Act und das Verhältnis zu EGMR und EMRK „anzupassen“. Auftretende Lücken im Grundrechtsschutz werden aber nach Lösungen verlangen. Diese Aufgabe wird den Gerichten zufallen. Diese könnten in ihrer Auslegung und Entwicklung des Common Law auf allgemeine Rechtsgrundsätze zurückgreifen, was zu einer weitergehenden Konstitutionalisierung führen und verfassungsrechtliche Begründungsansätze, die bereits in Miller und Miller/Cherry formuliert wurden, weiterentwickeln könnte.260 VI. Perspektiven 1. Zukünftige EU-UK Beziehungen Mehr als dreieinhalb Jahre nach dem Referendum über die EUMitgliedschaft wurde der Brexit mit Austrittsvertrag nach Art. 50 256  Joint Committee on Human Rights, Legislative Scrutiny (Anm. 250), Rdnr. 130. 257  Joint Committee on Human Rights, Legislative Scrutiny (Anm. 250), Rdnr. 1, 5. 258  Vernon Bogdanor, How Brexit Will Erase Your Rights, Prospect Magazine v. 18.04.2018. 259  The Conservative and Unionist Party Manifesto 2019: Get Brexit Done, Unleash Britain’s Potential, S. 48. 260  Siehe dazu oben.



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Abs. 2 EUV vollzogen. Britannia locuta, causa finita? Doch ist der Austrittsvertrag nur ein erster kleiner Schritt, der, wäre nicht die enge Verbindung von Nordirland mit der Regelung zukünftiger Beziehungen gewesen, rechtlich und politisch weniger komplex und langwierig hätte verhandelt werden können. Jedenfalls sind die Rechte der Unionsbürger, die von ihrer Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, durch den Austrittsvertrag gesichert sowie eine potentiell dauerhafte Lösung für Nordirland vereinbart worden. Aber der Großteil inhaltlicher Fragen zu den zukünftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich sind auch fast vier Jahre nach dem Referendum ungelöst. Wie der dem politischen Brexit folgende ökonomische Brexit nach Ende der Übergangszeit am 31.  Dezember 2020 aussehen wird, bleibt unklar. Ähnliche Antagonismen wie schon in der Phase des Austritts charakterisieren die anhaltenden Verhandlungen: Die Forderung nach „regulatory alignment“ und „level playing field“ zur Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen und die Forderung nach einem institutionellen Rahmen zur Umsetzung und Überwachung durch einen Streitbeilegungsmechanismus, insbesondere die Frage der Zuständigkeit des EuGH, prallen mit der Insistenz und Behauptung nationaler Souveränität zusammen, die sich hinter Floskeln von „taking back control“ verschanzen.261 „No deal“-Vorbereitungen laufen einmal mehr. Nothing has changed.

261  Siehe die Verhandlungsdirektiven des UK: „Whatever happens, the Government will not negotiate any arrangement in which the UK does not have control of its own laws and political life. That means that we will not agree to any obligations for our laws to be aligned with the EU’s, or for the EU’s institutions, including the Court of Justice, to have any jurisdiction in the UK.“ HM Government, The Future Relationship with the EU. The UK’s Approach to Negotiations, 27.02.2020, Command Paper 211, abrufbar unter https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/sys tem/uploads/attachment_data/file/868874/The_Future_Relationship_ with_the_EU.pdf. Siehe auch Erklärung von Michael Gove: „On 1 January 2021 we will take back control and regain our political and economic independence.“, zitiert nach Financial Times v. 12.06.2020, abrufbar unter ­https://www.ft.com.

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a) Politische Erklärung über den Rahmen der zukünftigen Beziehungen Grundlage für den zukünftigen Vertrag ist die Politische Erklärung über den Rahmen der zukünftigen Beziehungen vom 19.  Oktober 2019.262 Sie ist nicht rechtlich verbindlich, gibt aber den Rahmen für Verhandlungen vor.263 Art. 184 des Austrittsvertrags, auf den die Politische Erklärung Bezug nimmt,264 verpflichtet die Parteien „to use their best endeavours, in good faith and in full respect of their respective legal orders, to take the necessary steps to negotiate expeditiously the agreements governing their future relationship referred to in the political declaration.“

Diese Verpflichtung wird nur begrenzt durchsetzbar sein. Allerdings gibt die Politische Erklärung die Richtung und zum Teil  auch das angestrebte Ziel der Verhandlungen vor. Die in der Politischen Erklärung vereinbarten konkreten Formulierungen begründen die Erwartung, dass zumindest insoweit bereits eine gemeinsame Basis für die Verhandlungen festgestellt wurde. Ein Beispiel hierfür ist der ausdrückliche Hinweis darauf, dass die zukünftigen Beziehungen nicht nur auf vage gemeinsame Werte, sondern ganz konkret an eine fortgesetzte Verpflichtung des UK auf die EMRK gegründet werden soll. In den Verhandlungen scheint bislang die Bedeutung der Politischen Erklärung als gemeinsame Basis mehr und mehr zu verschwinden. Kernstück der zukünftigen Beziehungen soll eine wirtschaftliche Partnerschaft sein (Teil II der Politischen Erklärung). War die Politische Erklärung in der Version von Theresa May 2018 noch für verschiedene engere zukünftige Beziehungen offen,265 so hat sich das 262  Siehe Political Declaration Setting out the Framework for the Future Relationship between the European Union and the United Kingdom vom 19.10.2019, Rdnr. 17 (im Folgenden „Politische Erklärung“). 263  Der von der Task Force der Europäischen Kommission am 18.03.2020 vorgelegte Entwurf eines Agreement on the New Partnership with the United Kingdom folgt der Struktur der Politischen Erklärung. 264  Rdnr. 135 der Politischen Erklärung. 265  Die diskutierten Alternativen unterschieden sich im Grad der Anbindung an die EU (Binnenmarkt, Zollunion, Personenfreizügigkeit), stießen aber (bis auf das Modell „Kanada“) alle auf „red lines“ des UK (s. oben



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Ziel in der Politischen Erklärung vom 19.  Oktober 2019 auf ein umfassendes Freihandelsabkommen (FTA) nach dem Modell derer mit Kanada, Japan oder Südkorea fokussiert, also auf eine „härtere“ Version des Brexit. Hinweise auf ein „trade area“ im Entwurf von 2018 wurden mit „Free Trade Agreement“ ersetzt.266 Dieses soll „ambitious, wide-ranging“ und „comprehensive“ sein und ein Freihandelsabkommen sowie weitergehende sektorale Kooperation umfassen, „underpinned by provisions ensuring a level playing field“.267 Die Politische Erklärung avisiert, weitreichende Wirtschaftsbereiche in die „Economic Partnership“ einzubeziehen268 auf der Grundlage eines „level playing field for open and fair competition.“ Hiervon umfasst ist auch die globale Kooperation in weiteren Bereichen, insbesondere Klimawandel, grenzüberschreitende Umweltverschmutzung, Public Health und Verbraucherschutz.269 Neben der „Economic Partnership“ sieht die Politische Erklärung als zweiten Hauptbestandteil zukünftiger Kooperation eine „Secur­ ity Partnership“ vor, die nach innen die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen und nach außen die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik umfasst. Darüber hinaus soll zusätzlich thematisch kooperiert werden, etwa bzgl. Cyber-Security, „health security“, illegaler Einwanderung und Terrorismusbekämpfung.270 S. 121), bzw. auf solche der EU, das ein Rosinenpicken von Kernbereichen der EU-Mitgliedschaft nicht zulassen würde: EWR-Mitgliedschaft (Norwegen) bzw. „Norwegen Plus“ (mit Zollunion), das Modell „Schweiz“ (maßgeschneidertes Bündel von Verträgen), „Türkei“ (Zollunion), „Ukraine“ (Assoziationsabkommen), „Kanada“ (Freihandelsabkommen); hierzu auch Streinz, Brexit Referendum (Anm. 91), 109 ff.; Ziegler, Herausforderungen des Brexits (Anm. 97), 138 f. 266  Siehe z. B. Rdnr. 3 der Politischen Erklärung. 267  Rdnr. 17 der Politischen Erklärung; zum „level playing field“ siehe Rdnr. 77. 268  Nämlich den Warenverkehr, Dienstleistungen, Finanzdienstleistungen, e-Commerce/Digitalisierung, Kapitalverkehr, Geistiges Eigentum, Öffentliches Beschaffungswesen, Mobilitätsregelungen (anstelle von Personenfreizügigkeit), Transport, Energiemärkte und Fischerei. 269  Rdnr. 75 f. 270  Teil III der Politischen Erklärung, Rdnr. 78 ff.

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Beide Partnerschaften sollen laut Politischer Erklärung institutionell verklammert werden („overarching institutional framework“) mit der Möglichkeit, auf einzelnen Gebieten spezifische Regelungen zur Governance zu treffen.271 Als eine mögliche institutionelle Verklammerung nennt die Politische Erklärung ein Assoziierungsabkommen gemäß Art. 217 AEUV.272 Die Überwachung der Implementierung der zukünftigen Beziehungen soll, ähnlich wie im Austrittsvertrag, durch ein Joint Committee erfolgen, das bei Streitigkeiten ein Schiedsverfahren einleiten kann. Ähnlich den in Art. 174 des Austrittsvertrags vorgesehenen Regelungen soll auch im Rahmen des Partnerschaftsabkommens der EuGH in einem solchen Schiedsverfahren allein für die verbindliche Auslegung von EU-Recht zuständig sein.273 b) Verhandlungen „im Rückwärtsgang“ Auf den ersten Blick scheint es, dass aufgrund der historischen Harmonisierung der Rechtsordnung des UK mit dem EU-Recht die Regelung der zukünftigen Beziehungen einfacher sein würde als der Austritt an sich. In der Politischen Erklärung haben das UK und die EU die Besonderheit bzw. Einzigartigkeit der Situation der Regelung zukünftiger Beziehungen im Fall der Trennung anerkannt: „The future relationship will inevitably need to take account of this unique context. While it cannot amount to the rights or obligations of membership, the Parties are agreed that the future relationship should be approached with high ambition with regard to its scope and depth, and recognise that this might evolve over time.“274

Dass eine größere Affinität der Rechtsordnungen und der wirtschaftlichen Regulierung die Verhandlungen einfacher machen würde, erscheint nunmehr als Trugschluss. Dass die Verhandlungspartner unterschiedlich interpretieren, was die Konsequenzen dieses „einzigartigen Kontexts“ sein würden, verdeutlicht nur, dass dieser zu falschen bzw. konträren Erwartungen beigetragen hat. Im Unterschied 271 

Rdnr. 118 der Politischen Erklärung. Teil IV der Politischen Erklärung, Rdnr. 120 ff. 273  Politische Erklärung, Rdnr. 126 ff., 131. 274  Politische Erklärung, Rdnr. 5. 272 



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zur Verhandlung „normaler“ Handelsabkommen, die darauf abzielen, Handelshemmnisse abzubauen und Handelsvolumen zu erhöhen, geht es bei den Verhandlungen zwischen dem UK und der EU darum, eine mehr als 45jährige Integration aufzulösen. Die Richtung ist aber, auch wenn das hinter Floskeln verschleiert wird (z. B. darin, künftig mit der Welt und nicht nur in der EU handeln zu wollen), von vornherein dadurch vorgezeichnet, dass das Ergebnis zu mehr Handelshemmnissen und ggf. auch weniger Handel mit der EU führen würde. Es geht also um Verhandlungen zum Abschluss eines Freihandelsabkommens „im Rückwärtsgang“.275 Dabei werden die Verhandlungen durch weitere Dynamiken zusätzlich erschwert. Die EU beschränkt ihre Verhandlungsfähigkeit durch die reale oder wahrgenommene Gefahr eines „Rosinenpickens“, welches die Integrität der Rechtsordnung der EU oder sogar das Integrationsprojekt „EU“ in Frage stellen könnte. Umgekehrt beruft sich das UK auf Freihandelsabkommen mit Drittstaaten, wie etwa Kanada, zumindest als nachahmenswerte Präzedenzfälle, oder sieht sich sogar berechtigt, einen vergleichbaren Vertrag mit der EU zu schließen. Die EU betont wiederum die Einzigartigkeit jedes FTA. Die derzeit laufenden Verhandlungen scheinen durch die Besonderheit der Situation aufgrund dieser speziellen Dynamik behindert, wenn nicht sogar blockiert zu werden. Gleichwohl zahlen beide Seiten auch einen höheren Preis im Falle des Scheiterns als bei „normalen“ Freihandelsabkommen: Scheitern die Verhandlungen, bleibt es nicht einfach beim Status quo, sondern es droht das steil abfallende Kliff eines „harten“ wirtschaftlichen Brexit, mit dem die Beziehungen zwischen EU und UK auf WTO-Niveau abfallen würden. Ein von vornherein unrealistisch erscheinender Zeitrahmen, der zusätzlich aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie noch verschärft wurde, erschwert den Abschluss eines Vertrages zusätzlich. Theresa May ging von einem Zeitrahmen von zwei Jahren plus

275  So trefflich formuliert von Holger Hestermeyer, Written evidence submitted to the House of Commons  Committee on the Future Relationship with the European Union,  Inquiry on Progress of the Negotiations on the UK’s Future Relationship with the EU, Mai 2020, Rdnr. 17: „trade agreement negotiations ‚in reverse‘ “.

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­erlängerungsmöglichkeit als „insurance policy“ aus.276 Dieser V schrumpfte unter der Regierung Johnson auf nur elf Monate ab Austritt zusammen, wobei eine Verlängerung bis zum 30.  Juni 2020 vom Joint Committee zu beschließen gewesen wäre. Die Regierung hat allerdings von vornherein deutlich gemacht, dass sie keine Verlängerung wünsche und hat diese sogar gesetzlich ausgeschlossen.277 Die Verhandlungen begannen am 2.  März 2020, wobei die ersten beiden Verhandlungsrunden, die für Mitte März und Anfang April geplant waren, aufgrund der Coronavirus-Krise ausfielen. Beide Seiten hatten davor ihre Verhandlungsleitlinien veröffentlicht.278 Die Task Force der Europäischen Kommission machte darüber hinaus am 18. März 2020 einen über 400 Seiten langen Entwurf eines Vertrages publik.279 Das UK, das sich zunächst lange darauf berufen 276  Dabei ging sie davon aus, dass der Zeitraum von knapp zwei Jahren wohl zu kurz sein würde. 277  Section 15A  EU Withdrawal Act 2018, die im Januar 2020 durch den EU (Withdrawal Agreement) Act 2020 eingefügt wurde,  verbietet Ministern, im Joint Committee eine Verlängerung der Übergangszeit zu vereinbaren. Vor einer solchen Vereinbarung, die laut Art. 132 des Austrittsvertrags vor dem 01.07.2020 zu erfolgen hätte, müsste daher im Normalfall ein Gesetzgebungsverfahren im UK durchlaufen werden, um Section 15A aufzuheben. Allerdings würde in diesem Fall aufgrund der weitgehenden Ermächtigungen zum Erlass von gesetzesändernden Rechtsverordnungen („Henry VIII powers“, s. oben S. 136) das Gesetz auf dem Verordnungswege änderbar sein. Dazu: Catherine Barnard/Alison Young, Delivering an Extension of the Transition Period, The UK in A Changing Europe v. 20.04. 2020, abrufbar unter https://ukandeu.ac.uk/delivering-an-extension-of-thetransition-period/. 278  Für die EU: Council of the European Union, Annex to Council Decision authorising the opening of negotiations with the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland for a new partnership agreement, 5870/20 ADD 1 REV 3 v. 25.02.2020, abrufbar unter https://www.consil ium.europa.eu/media/42736/st05870-ad01re03-en20.pdf; der Entwurf der Kommission, dessen Formulierungen nach Konsultation mit dem Rat und Parlament noch geändert wurden (z. B. bzgl. des „level playing field“ und der Fischerei), wurde bereits Anfang Februar 2020 veröffentlicht, COM(2020) 35 final COM (2020) vom 03.02.2020; für das UK: HM Government, The Future Relationship with the EU: The UK’s Approach to Negotiations (Anm. 261). 279  Draft text of the Agreement on the New Partnership with the United Kingdom (Kommissionsentwurf ), abrufbar unter https://ec.europa.eu/



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hatte, seine Verhandlungsdokumente vertraulich behandeln zu wollen, zog am 19.  Mai 2020 nach und veröffentlichte seinen Entwurf für ein Handelsabkommen und zehn weitere Entwürfe für sektorale Verträge.280 In den Verhandlungen trat eine Reihe von Konflikten hervor, die teils die Struktur der zukünftigen Beziehungen, teils thematische Konflikte betreffen.281 Einige davon werden hier selektiv angerissen. Dissens besteht schon vom Ansatz her über den umfassenden Charakter des zu schließenden Vertrags bzw. die Aufspaltung in eine Serie von Einzelverträgen; Dissens auch darin, inwieweit die zukünftigen Beziehungen institutionell verklammert werden sollten, d. h. die übergreifende „Governance“ der zukünftigen Beziehungen. Die Position der EU ist es, unter Berufung auf die Politische Erklärung, ein umfassendes Abkommen zu schließen, das insbesondere die Sicherheitspartnerschaft einbezieht, wohingegen das UK ein stark aufgespaltenes Bündel von Einzelverträgen ohne institutionelle Verklammerung und zentralen Streitbeilegungsmechanismus anstrebt. In bestimmten Bereichen hält das UK keinerlei institutionalisierte Beziehungen für erforderlich, so zum Beispiel für die Außenpolitik und Einwanderung. Uneinigkeit besteht auch darüber, ob Gibraltar in den territorialen Geltungsbereich eines zukünftigen Vertrags einbezogen wird.282 Mit der Struktur und institutionellen Verklammerung der Vereinbarung eng verbunden ist die materiellrechtliche Frage der fortgesetzten Bindung des UK an die EMRK und der Rolle des EuGH als Letztinstanz für die Interpretation des Europarechts. Der Vertragsinfo/publications/draft-text-agreement-new-partnership-united-kingdom_ en. 280    Abrufbar unter: https://www.gov.uk/government/publications/ourapproach-to-the-future-relationship-with-the-eu. 281  Die Presse im UK berichtete regelmäßig von den Schwierigkeiten der Verhandlungen und dem tiefen Graben zwischen den Parteien. Einen Eindruck über die Presseberichterstattung gibt die Zusammenstellung in Stefano Fella et  al., The UK-EU Future Relationship. The March 2020 EU Draft Treaty and Negotiations Update, House of Commons Libary Briefing Paper No 8923 (27.03.2020), 2020, S. 15 ff., 23 ff. 282  Die EU macht dieses vom Ergebnis von Verhandlungen zwischen Spanien und dem UK abhängig.

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entwurf der Kommission bezeichnet die gemeinsamen Werte, zu denen neben dem Demokratie-, Rechtsstaatsprinzip und den Menschenrechten auch der Klimawandel und die Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen gezählt werden, als essentielle Bestandteile einer Partnerschaft.283 Im Falle der Verletzung dieser „essential elements“ sollen „safeguard measures“ verhängt werden können, etwa die Suspendierung von Verpflichtungen aus dem Vertrag.284 Nach den Verhandlungsrichtlinien des UK soll der zukünftige Vertrag nicht vorschreiben, wie diese Werte innerhalb der „own autonomous legal systems“ zu schützen seien. Das verbindliche Auslegungsrecht des EuGH hinsichtlich EU-Rechts im Rahmen eines völkerrecht­ lichen Schiedsverfahrens, das für den Austrittsvertrag vereinbart wurde und für einen zukünftigen Vertrag von der Politischen Erklärung avisiert wurde,285 stößt für den zukünftigen Freihandelsvertrag nunmehr derzeit auf den Widerstand des UK.286 Die „level-playing-field“-Verpflichtungen sind ein weiterer Knackpunkt in den Verhandlungen. Während das UK davon ausgeht, dass ein zukünftiges FTA durch die regulatorische Nähe, rechtlich betrachtet, leichter zu erzielen sei und bestehende Handelsabkommen mit Kanada und Japan als Präzedenzfälle anführt287, geht die EU davon aus, dass aufgrund der geographischen Nähe sowie der historischen Handelsstrukturen und dem damit verbunden größeren Handelsvolumen aus diesen faktischen Besonderheiten ein besonderes Interesse sowohl an einem Schutz vor Wettbewerbsverzerrungen als auch an Implementierungs- und Überwachungsmechanismen 283 

Art. COMPROV.12 Kommissionsentwurf (Anm. 279). Art. INST.35 Kommissionsentwurf (Anm. 279). 285  Art. 174 AV und Rdnr. 131 der Politischen Erklärung; Art. INST.16 Kommissionsentwurf (Anm. 279). 286  Siehe die Verhandlungsrichtlinien des UK, UK’s Approach to Negotiations (Anm. 278), Rdnr. 6: „no role for the Court of Justice“. 287  Vgl. dahingehend ausdrücklich David Frost: „Overall, we find it hard to see what makes the UK, uniquely among your trading partners, so un­ worthy of being offered the kind of well-precedented arrangements commonplace in modern FTAs.“ Schreiben an Michel Barnier vom 19.05.2020 (https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/up loads/attachment_data/file/886168/Letter_to_Michel_Barnier_19.05.20. pdf ). 284 



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besteht. Hierzu ist anzumerken, dass das UK mit der Ankündigung, zukünftige Außenzölle (UK Global Tariff ) für Handel auf WTOBasis unterhalb des Niveaus des Gemeinsamen Zolltarifs der EU festzulegen,288 ein Signal gesetzt hat, die Wettbewerbsfähigkeit von UK-Exporten zu erhöhen.289 Dies wird die Bedeutung der „levelplaying-field“-Verpflichtungen für die EU weiter steigern. Außerdem hat die EU ein weites Verständnis des „level playing field“, das über Beihilfen, Wettbewerbsrecht und arbeitsrechtliche und soziale Mindeststandards hinausgehend auch Umweltschutz, Klimawandel und Mehrwertsteuer umfasst.290 Während die „level-playing-field“-Vorschriften insgesamt wohl als ausgewogen bewertet werden können, und meist als Regressionsverbot formuliert sind, so stechen die Regelungen zu staatlichen Beihilfen als auffällig hervor. Sie entsprechen großteils den Regelungen zum „Backstop“ des Nordirland-Protokolls zum Entwurf des Austrittsvertrags von Theresa May von 2018 und werden vom UK als zu weitgehend betrachtet: Dem Kommissionsentwurf für einen zukünftigen Partnerschaftsvertrag zufolge, müsste das UK die europarechtlichen Vorschriften dynamisch anwenden. Dabei sollen nationale Behörden und Gerichte nicht nur materiell der Rechtsprechung des EuGH folgen, wenn sie Europarecht auf nationaler Ebene auslegen und anwenden,291 sondern nationale Gerichte sollen auch künftig den EuGH direkt in einem Vorabentschei288  Department of International Trade, HM Treasury und The Rt Hon Elizabeth Truss, UK Global Tariff backs UK businesses and consumers (19.05.2020), abrufbar unter https://www.gov.uk/government/news/ukglobal-tariff-backs-uk-businesses-and-consumers. 289  Gleichzeitig erschwert dies die Verhandlung von Ursprungsregeln für die Herkunft von Gütern. Außerdem wird dadurch ein Anreiz gesetzt, statt nach Nordirland (wo unter dem Nordirland-Protokoll der Gemeinsame Zolltarif der EU gilt) Importe zunächst durch den Rest des UK zu leiten; damit werden in gesteigertem Maße Zollkontrollen zwischen Nordirland und dem Rest des UK erforderlich. Siehe hierzu Michael Gasiorek/Julia Magntorn Garrett, Reflections on the UK Global Tariff. Good in Principle, but Perhaps not for Relations with the EU, UK Trade Policy Observatory (21.05.2020), abrufbar unter https://blogs.sussex.ac.uk/uktpo/2020/05/21/ reflections-on-the-uk-global-tariff-good-in-principle-but-perhaps-not-for-re lations-with-the-eu/. 290  Rdnr. 77 der Politischen Erklärung. 291  Insoweit Art. COMPROV.14 Kommissionsentwurf (Anm. 279).

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dungsverfahren anrufen können.292 Andere „level-playing-field“-Bedingungen sollen demgegenüber ganz vom Streitbeilegungsverfahren des Vertrages ausgeschlossen werden und nur auf nationaler Ebene durchzusetzen sein, etwa das Wettbewerbsrecht, Mehrwertsteuerrecht und umweltrechtliche Vorschriften.293 Im Raum stehen zahlreiche Konflikte in einzelnen Regelungsbereichen der „Abwicklung“ des Binnenmarktes, wie etwa des Datenschutzes (im e-commerce), des Energiemarktes (im Hinblick auf grenzüberschreitende „interconnectivity“ im Elektrizitätsmarkt) oder Ursprungsregeln (angesichts komplexer Lieferketten). Der politisch brisante Konflikt über Fischereirechte könnte einen Vertragsschluss vereiteln. Zwar hat Fischerei für beide Seiten in einer wirtschaftlichen Gesamtbetrachtung kein allzu großes Gewicht. Allerdings spielen hier regionale Interessen von Küstenregionen im UK, bzw. die Interessen einzelner Mitgliedstaaten in der EU, sowie Referendumsversprechen eine disproportionale Rolle.294 Die EU besteht darauf, dass Fischerei Teil des Freihandelsabkommens wird, wobei es den bestehenden Zugang zu Fanggründen und ein gemeinsames komplexes Nachhaltigkeits-Management festschreiben möchte, das weitgehend der Gemeinsamen Fischereipolitik entspricht. Dagegen will das UK (allenfalls) ein separates Abkommen schließen und EUMitgliedsstaaten keinen oder nur beschränkt Zugang zu den Fanggründen des UK geben. Mit Blick auf eine zukünftige polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit spitzen sich Gegensätze sowohl für die Strukturfrage als auch die Governance-Vorstellungen zu. Als Teil  der „Security Partnership“ strebt die EU umfängliche vertragliche Regelungen zur zukünftigen Kooperation in Europol, Eurojust, zur Auslieferung, zur Rechtshilfe und justiziellen Kooperation im Bereich des Strafrechts, der Geldwäsche und der Terrorismusbekämpfung an. Das UK strebt einen weitgehenden Zugang zu Datenbanken im Bereich Sicherheit 292 

Art. LPFS.2.6(2) Kommissionsentwurf (Anm. 279). Art. LPFS.2.17, LPFS.2.25, LPFS.2.32 and LPFS.2.37, LPFS.2.50, GOODS.17, SME.4 Kommissionsentwurf (Anm. 279). 294  Jim Brunsden/Mure Dickie/Victor Mallet/Laura Hughes, Brexit. Why fishing threatens to derail EU-UK trade talks, in: Financial Times v. 28.01.2020. 293 



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an (z. B. Schengener Informationssystem (SIS II), Europol, Fluggastdatensätze (PNR)). Die EU knüpft diese aber an Grundrechtsgarantien durch fortgesetzte Bindung an die EMRK, deren innerstaatliche Anwendbarkeit (durch den Human Rights Act) und Datenschutzstandards.295 Dies ist auch wegen der gegebenen Grundrechtsstandards in den Mitgliedsstaaten, wie zum Beispiel für Deutschland,296 relevant,297 sowie angesichts von Befürchtungen, dass das UK, auch wegen eines geplanten Freihandelsabkommens mit den USA die Praktikabilität des digitalen Handels gegenüber dem Datenschutz priorisieren würde.298 Das UK lehnt jegliche Verpflichtungen, die es in der „control of its laws“ beschränken würden, ab. Seinen vorläufigen Höhepunkt hat der Konflikt im recht undiplomatischen Schlagabtausch zwischen David Frost und Michel Barnier nach Ende der dritten Verhandlungsrunde Mitte Mai 2020 erreicht.299 Auch nach der vierten Verhandlungsrunde Anfang Juni 2020 bedauerten beide Seiten weiterhin den mangelnden Fortschritt.300 295 

Art. LAW.OTHER.136 Kommissionsentwurf (Anm. 279). Hierzu berichtete The Guardian: Philip Oltermann/Daniel Boffey, UK Making ‚Impossible Demands‘ over Europol Database in EU Talks, in: The Guardian v. 23.04.2020, abrufbar unter https://www.theguardian.com. 297  Vgl. auch EuGH, Gutachten 1/15, ECLI:EU:C:2017:592 – Geplantes Abkommen zwischen Kanada und der Europäischen Union zur Übermittlung von Fluggastdatensätzen, das aufgrund von Grundrechtsverstößen in der vorgelegten Form nicht ratifiziert werden konnte. 298  Die Regierung veröffentlichte am 2.  März 2020 die Verhandlungs­ richtlinien für Verhandlungen mit den USA: Department of Trade, UK-US Free Trade Agreement, abrufbar unter https://www.gov.uk/government/ publications/the-uks-approach-to-trade-negotiations-with-the-us. Die Verhandlungen begannen am 05.05.2020. 299  Siehe hierzu den bemerkenswerten Briefwechsel zwischen den Verhandlungsführern David Frost vom 19.05.2020 (Anm. 287) und Michel Barnier vom 20.05.2020, abrufbar unter https://ec.europa.eu/info/file/ uktf20203060790-mb-replytodfpdf_en, der einen Eindruck von der Festgefahrenheit der Positionen vermittelt; sowie Statement by Michel Barnier following Round 4 of negotiations for a new partnership between the European Union and the United Kingdom, abrufbar unter https://ec.europa.eu/ commission/presscorner/detail/en/speech_20_1017. 300  Statement von Michel Barnier (Anm. 299). Jon Stone, Fears of nodeal in Brexit trade talks rise as another round of negotiations ends in 296 

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2. Ausblick Der enge Zeitrahmen und die Verhandlungssituation im „Rückwärtsgang“ sowie die sachlichen „red lines“ erschweren eine zeitige und umfassende Einigung. Wie schon in früheren Stadien des BrexitVerfahrens ist die Situation unberechenbar und der Ausgang daher kaum vorhersehbar. Der Cabinet Minister Michael Gove hat sich immerhin regelmäßig zuversichtlich gezeigt und dem Abschluss eines „Deals“ noch Chancen von mehr als 2:1 gegeben.301 Den Zeitrahmen hält er für völlig ausreichend, wobei er seine Hoffnung auf „leadership“ unter der Ratspräsidentschaft Deutschlands mit Angela Merkel ab Juli 2020 setzt.302 Erfolgt keine Verlängerung der Übergangszeit, ist zu erwarten, dass allenfalls ein rudimentäres Abkommen im Bereich der Handelsbeziehungen geschlossen werden kann und zahlreiche Einzelfragen auf später verschoben werden müssen, etwa die Zusammenarbeit bzgl. der inneren und äußeren Sicherheit, der geistigen Eigentumsrechte oder der Anerkennung von Qualifikationen. Damit wird aber auch gleichzeitig „no deal“ wahrscheinlicher, da das Interesse des UK an einem nur rudimentären Vertrag sinken dürfte. Denkbar sind: –– eine Verlängerung der Übergangsphase durch Joint Committee bis Ende Juni 2020 um ein oder zwei Jahre (dies ist aber unwahra­ crimony, in: The Independent v. 06.06.2020, abrufbar unter https://www. independent.co.uk. 301  Committee on the Future Relationship with the European Union, Oral evidence: Progress of the Negotiations on the UK’s Future Relationship with the EU, HC 203, 27.04.2020. 302  Jim Brunsden/George Parker, UK and EU officials remain far apart on core issues as Brexit talks falter, in: Financial Times v. 04.06.2020, abrufbar unter https://www.ft.com. Angesichts der weit verbreiteten Ansicht, dass eine Verlängerung nötig sei, haben Kommentatoren sich veranlasst gesehen, über die Motivation der Regierung zu spekulieren, siehe z. B. Alan Beattie, Coronavirus and hard Brexit – the last combination the UK needs, in: Financial Times v. 30.04.2020: „There’s a far darker view, that the government is betting the public won’t be able to tell the virus shock from the Brexit shock. It would be a savagely cynical strategy, but one definitely beneath Johnson’s government? Probably not.“



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scheinlich, angesichts des Insistierens der Regierung, keine Verlängerung zu wünschen303); –– keine Verlängerung, aber Abschluss eines voraussichtlich rudimentären Abkommens bis zum Treffen des Europäischen Rats am 15./16.  Oktober 2020; –– „No deal“ und Absinken der Handelsbeziehungen auf WTONiveau zum 1.  Januar 2021. Sieht man in dem Beharren des UK nicht nur einen taktischen oder politischen Schaukampf, bzw. Bluff, wird nur eine Kompromiss­ lösung sinnvoll und davon abhängig sein, dass beide Seiten von einigen „red lines“ und puristischen Positionen abrücken, die sich hinter der Rhetorik von Souveränität und Autonomie und wechselseitigen Ideologievorwürfen verstecken. Das UK muss sein quasi-absolutistisches Souveränitätsverständnis überdenken, in dessen Konsequenz es letztlich läge, keinerlei völkerrechtliche Verpflichtungen einzugehen. Die Position der EU ist aus Sicht der Rechtsordnung der EU zwar konsequent und folgt stringenter Logik der Prinzipien des EURechts. Sie unterschätzt aber womöglich die Bereitschaft des UK, Marktzugang hinter einer quasi-absolutistischen Konzeption nationaler Souveränität zurückstehen zu lassen. Um auszuloten, inwieweit Kompromisse möglich sein könnten, hilft es, die vielschichtigen Interessen zu trennen. Da ist zum einen das klassische wirtschaftliche Interesse an einem für die eigene Seite günstigen Freihandelsabkommen. Zum anderen sind da konkrete politische und ökonomische Sonderinteressen der Mitgliedsstaaten. Und schließlich besteht auch das Interesse, die Integrität der EU-Rechtsordnung zu wahren. Dieses manifestiert sich in zwei Dimensionen: einer klassisch verfassungsrechtlichen Dimension, nämlich der Aufrechterhaltung einer Verfassungsidentität, die sich insbesondere in den Werten der Verträge ausdrückt; und einer spezifisch supranationalen Dimension, die sich schlimmstenfalls zur existenziellen Frage für die europäische Integration auswachsen kann: nämlich das Potential, dass Mitgliedstaaten gerade im Bereich 303  Siehe zuletzt Jim Brunsden/Sebastian Payne, UK formally rejects Brexit transition extension, in: Financial Times v. 12.06.2020, abrufbar unter https://www.ft.com.

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der Außenbeziehungen die Kompetenzordnung der EU aushebeln. Dieses Problem wird mit dem Rekurs auf die sog. „Autonomie“ der EU-Rechtsordnung eingefangen. Wie Kompromisse im Einzelnen aussehen können, kann nur durch eine detaillierte feingliedrige Analyse der einzelnen Regelungsgebiete und ökonomischer Bewertungen ausgelotet werden. Allgemein lässt sich aber sagen, dass es für die EU (einerseits) leichter sein könnte, rein wirtschaftliche Zugeständnisse zu machen, als ihre Rechtsordnung aufs Spiel zu setzen. Insofern dürfte die Durchsetzung von „level-playing-field“-Regeln eher kompromissfähig sein als die korrekte Auslegung von Europarecht, das über einen zukünftigen Vertrag ggf. indirekt noch anwendbar sein wird. Dass den nationalen Gerichten weiterhin ein Vorabentscheidungsverfahren im Bereich des Beihilfenrechts zur Verfügung stehen soll, ist weitgehend und neben der Möglichkeit eines Schiedsverfahrens wohl nicht unbedingt erforderlich. Andererseits könnte den Gerichten des UK, in Verbindung mit der Eröffnung eines völkerrechtlichen Schiedsverfahrens ggf. durchaus das Vertrauen entgegengebracht werden, dass sie Standards aus dem Europarecht (ggf. bei Äquivalenzfeststellungen von Regelungsstandards) auch ohne förmliche Überwachung durch den EuGH anwenden können. Dies kann durch die Möglichkeit, EuGHRechtsprechung zu berücksichtigen und ggf. auch eine direkte ­Anwendbarkeit von Regeln des Vertrags über die zukünftigen Beziehungen zusätzlich eingeräumt sowie über einen internationalen Streitbeilegungsmechanismus mit oder ohne Involvierung des ­EuGH für die verbindliche Auslegung von Eu­roparecht abgesichert werden. Das Comprehensive Economic and Trade Agreement (CETA) der EU mit Kanada sieht einen Streitbeilegungsmechanismus ohne Letztkontrolle durch den EuGH für die Auslegung von EU-Recht vor, wobei Auslegung des EU-Rechts durch das CETA-Tribunal nicht intern für die Rechtsordnung der EU bindend ist.304 Dies birgt gewisse Risiken für die EU, wenn Standards oder Auslegungen des 304  Vgl. hierzu EuGH, Gutachten 1/17 vom 30.04.2019, Rdnr. 106 ff., 121  – CETA.



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EU-Rechts innerhalb der EU und im völkerrechtlichen Freihandelsabkommen divergieren. Diese Fragmentierung kann sich indirekt auf die Auslegung des EU-Rechts in der internen Dimension auswirken. Diese Gefahr ist aber auch nicht überzubewerten. Eine klare hierarchische Lösung, wonach der EuGH verbindlich EU-Recht auslegt, das von einem Schiedsgericht angewendet wird, ist zwar attraktiv und aus EU-Sicht vorzugswürdig, aber vielleicht nicht essentiell, solange materielle Standards des Europarechts vom Schiedsgericht als Tatsachen zu berücksichtigen sind. Der EuGH hat in seinem Gutachten 1/17 (CETA) zutreffend darin keine Verletzung der sog. „Autonomie“ der EU-Rechtsordnung gesehen.305 Die Betonung der „Autonomie“ des EU-Rechts stellt sich weitgehend als unnötige oder jedenfalls in ihrer Stoßrichtung fehlgeleitete Reaktion auf mögliche Herausforderungen der EU-Rechtsordnung durch die eigenen Mitgliedsstaaten in den Außenbeziehungen der EU dar.306 Solche Konflikte muss die Rechtsordnung der EU allerdings aushalten können und vorrangig intern mit ihren Mitgliedstaaten regeln. Es wäre verfehlt, einen möglichen Konflikt mit den eigenen Mitgliedsstaaten in die internationalen Beziehungen mit Drittstaaten (oder internationalen Organisationen) zu projizieren. Damit wäre zumindest ein Teil  der Fragen, die unter dem Stichwort „Autonomie“ in der supranationalen Dimension der euro­ päischen Verträge diskutiert werden, kompromissfähig. Anders sollte sich dies für die klassisch verfassungsrechtlichen materiellen Werte der Verträge verhalten. Aufgrund einer sich immer mehr abzeichnenden307 abgestuften Normenhierarchie innerhalb des EU305  Anders noch EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014  – EMRKBeitritt, sogar trotz des Verfahrens zur Vorabbefassung des EuGH für die verbindliche Auslegung des EU-Rechts. 306  Zur problematischen Natur der „Autonomie“ siehe schon Katja S. Ziegler, Beyond Pluralism and Autonomy. Systemic Harmonisation as a Paradigm for the Interaction of EU Law and International Law, Yearbook of European Law 35 (2016), S. 667; und Katja S. Ziegler, Autonomy. From Myth to Reality  – or Hubris on a Tightrope? EU Law, Human Rights and International Law, in: Douglas-Scott/Hatzis (Hrsg.), Research Handbook on EU Human Rights Law, 2017, S. 267. 307  Zumindest seit EuGH, Verbundene Rs. C-402&415/05, Rdnr. 303 – Kadi I; und Verb. Rs. C-402&415/05P,– Kadi II; hierzu schon Katja

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Rechts sollten höherrangige materielle Verfassungswerte der EU nicht durch einen Kompromiss „verwässert“ werden, wie etwa das Rechtsstaatsprinzip, das sich in einer zumindest fortgesetzten völkerrechtlichen Bindung an EGMR und EMRK manifestiert308, die auch als Voraussetzung für ein Abkommen festgeschrieben werden sollte.309 VII. Fazit Der Brexit wirft für die EU neben einer möglichen Reform von Art. 50 EUV eine Reihe fundamentaler Fragen auf, selbst wenn der Austritt des UK ob seiner Schwierigkeiten womöglich eher ein abschreckendes Beispiel bleibt. Die Frage nach den Ursachen des Brexit sind nicht nur für das UK relevant. Soziale und ökonomische Ungleichheit und Populismus in Europa bleiben virulent, sogar für das UK, das sich in seinem Bestreben nach „Globalisierung“ seiner Handelsbeziehungen auch nur umorientiert. Für die EU wirft die durch den Brexit hervorgerufene Krise daher einmal mehr die Frage nach der raison d’être der EU auf.310 Die Werte der EU, die als Friedensprojekt begann, und heute sichtbarer S. Ziegler, Strengthening the Rule of Law, but Fragmenting International Law. The Kadi Decision of the ECJ from the Perspective of Human Rights, Human Rights Law Review 9 (2009), S. 288 (297). 308  Die Verpflichtung, ein bestimmtes Gesetz, den Human Rights Act, beizubehalten, ist indes problematisch. Dadurch wird nicht nur die Frage aufgeworfen, ob dieser geändert werden oder ob der nationale Grundrechtsschutz auf eine andere Basis gestellt werden kann, sondern grundsätzlich in die Verfassungsorganisation des UK eingegriffen. Art. LAW.OTHER.136 Kommissionsentwurf wäre daher ggf. allgemeiner zu formulieren (z. B. einen nationalen Grundrechtsschutz zu gewährleisten, der mindestens auf dem Niveau der EMRK ist). 309  Hierdurch gibt es zwar einen Widerspruch mit anderen FTAs der EU, die eine solche Bindung nicht enthalten. Das Beispiel des FTA mit dem UK könnte damit zum Anlass gemacht werden, die bestehende Praxis zu verbessern und Bindungen an Menschenrechte in anderen FTAs einen höheren Stellenwert einzuräumen. 310  Gráinne de Búrca, Europe’s raison d’être, in: Kochenov/Amtenbrink (Hrsg.), The European Union’s Shaping of the International Legal Order, 2013, S. 21 (24, 26).



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in der Umsetzung von Rechten und Rechtsstaatlichkeit sind, spielten so gut wie keine Rolle in der Referendumsdebatte und scheinen die These zu belegen, dass heute die Desintegration und nicht tiefergehende Integration als „default“ erscheint.311 Global oder auch regional integrierte Märkte, deren Rationalität sich auf den volkswirtschaftlichen Gesamtnutzen bezieht, reichen allein nicht aus, wenn der Bürger als Wähler sich eher für Fragen interessiert, die in der nationalen Kompetenz der Mitgliedstaaten verbleiben, etwa öffentliche Einrichtungen und Dienste wie Schulwesen oder medizinische Versorgung.312 Das Dilemma liegt für die EU darin, dass die Kompetenzen für diese Angelegenheiten nicht bei ihr, sondern bei den Mitgliedsstaaten liegen. Wie das Abstimmungsverhalten in Wales und im Südwesten des UK zeigt, die trotz erheblicher Fördermaßnahmen der EU überwiegend für „Leave“ stimmten, reichen finanzielle Zuwendungen nicht aus, wenn der Sinn des Projekts der europäischen Integration nicht einleuchtet. Dies muss sowohl für die EU als auch für die verbleibenden 27 Mitgliedsstaaten Anlass sein, erneut über die Fragen von Zweck und Zielen der EU und mögliche Konsequenzen nachzudenken.313 Hinreichende Anknüpfungspunkte bestehen jedenfalls angesichts der Notwendigkeit, globale Herausforderungen wie Klimawandel, Migration und infektiöse Krankheiten kollektiv und solidarisch anzugehen.314 Das White Paper zur Future of Europe hat diesen Prozess angestoßen,315 auch wenn der für Mai 2020 geplante Beginn der Konferenz für die Zukunft Europas einstweilen verschoben worden ist.316 Aufgeschoben darf hier aber nicht aufgehoben heißen. Aber auch die Mitgliedstaaten tragen eine permanente Verantwortlichkeit dafür, wie sie mit dem „Integrationsprojekt EU“ umgeDe Búrca, Raison d’être (Anm. 310), 27. Armstrong, Brexit Time (Anm. 2), 280. 313  Ebenso schon de Búrca, Raison d’être (Anm. 310), 22. 314  De Búrca, Raison d’être (Anm. 310), 36 f. 315  White Paper on the Future of Europe, COM (2017) 2025. 316  Valerie Hopkins/Sam Fleming, Coronavirus re-sets agenda for Conference on Future of Europe, in: Financial Times v. 13.04.2020. 311  312 

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hen und dieses der Öffentlichkeit in ihrem Land „vermitteln“. Diese Verantwortlichkeit könnte und sollte mehr in den Vordergrund gestellt und „aktiviert“ werden. Sie ist auch nicht nur uneigennützig: Der Brexit hat Mitgliedsstaaten auch die Gefahr aufgezeigt, dass ein fehlender Konsens, insbesondere in seinen verschiedenen Regionen, über einen Austritt aus der EU, auch einen Mitgliedsstaat selbst zerbrechen lassen könnte. Wie sich der Brexit auf den Fortbestand des United Kingdom und die „union“ mit Schottland und Nord­ irland auswirken wird, bedarf einer längerfristigen Perspektive. Only history will tell.

Der europäische Verfassungsgerichtsverbund: Zum Verhältnis von EuGH und BVerfG Von Hans-Jürgen Papier I. Die Europäische Union als „Staaten- und Verfassungsverbund“  . . 165 II. Zur Bedeutung von Art. 23 GG für den „Europäischen Staatenverbund“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 III. Das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht  . . . . . . . . . 169 1. Grundsätzliches  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 2. „Ultra-vires“-Akte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 3. Anleihekäufe der EZB  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 4. Grundrecht „auf Demokratie“?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 IV. Grundrechtsschutz im Europäischen Staatenverbund  . . . . . . . . . . . . 175 1. Kooperativer und komplementärer Grundrechtsschutz  . . . . . . . 175 2. Grundrechtsschutz gegen Akte der Union  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 3. Grundrechtsschutz gegen innerstaatliche Rechtsakte  . . . . . . . . . 178 4. Kritik an der Rechtsprechung des EuGH  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 V. Schlussbemerkung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183

I. Die Europäische Union als „Staaten- und Verfassungsverbund“ Die Methode zur fortschreitenden europäischen Einigung hatte im Grunde schon Robert Schuman in seiner Erklärung vom 9. Mai 1950 vorgegeben. Darin war er der Ansicht, dass sich Europa nicht mit einem Schlage herstellen lasse und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es werde durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen.1 Durch diesen  – 1  Minister für Auswärtige Angelegenheiten Robert Schuman, Regierungs­ erklärung, 9. Mai 1950, in: Fontaine, Eine neue Ordnung für Europa. Vierzig Jahre Schuman-Plan (1950–1990), Luxemburg 1990, S. 46–48.

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von manchen auch „elitengeführten Gradualismus“2 genannten  – Entwicklungsstil hat Europa seinen heutigen Zustand erreicht, der mit dem gescheiterten Verfassungsvertrag eine endgültige Gestalt bekommen sollte und mit dem Vertrag von Lissabon dann letztlich auch erhalten hat. Selbst nach dem gescheiterten europäischen Verfassungsvertrag hätte die europäische Union kein Bundesstaat werden sollen, sondern ein Gemeinwesen eigener Art.3 Dies wurde nicht zuletzt durch die Wahl des Leitspruchs deutlich gemacht. Der lautete: „In Vielfalt geeint“ oder auf Latein: „in pluribus unum“. Dagegen lautet der Wahlspruch der Vereinigten Staaten von Amerika, die ja bekanntlich ein Bundesstaat sind: „E pluribus unum“, „aus Vielen eines“. An diesem feinen, aber wichtigen Unterschied kann man – wie ich meine – erkennen, dass selbst der gescheiterte europäische Verfassungsvertrag nicht die  – im Jahre 1956 von Winston Churchill noch geforderten  – „Vereinigten Staaten von Europa“ gründen wollte. Das Bundesverfassungsgericht hat daher bereits in seiner Entscheidung zum Vertrag von Maastricht einen neuen Begriff für die Europäische Union entwickelt, nämlich den des „Staatenverbundes“.4 Damit hat man für die teils supranationale, mit unmittelbar wirkender Hoheitsgewalt ausgestattete Union einen Begriff gewählt, der zwischen den im 19. Jahrhundert entwickelten Topoi des „Bundesstaates“ und des „Staatenbundes“ vermittelte. Das vom Bundesverfassungsgericht entwickelte „Verbundmodell“ hat sich in der Rechtswissenschaft mittlerweile als Leitbild für verschiedene Bereiche des Unionsrechts durchgesetzt. Im Anschluss an die Begriffsschöpfung „europäischer Staatenverbund“ ist mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Quellen in der Europäischen Union und ihre Verflochtenheit ein „europäischer Verfassungsverbund“ identifiziert worden.5 Mit dem Begriff „europäischer VerfassungsverUlrich Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, S. 124. Peter-Christian Müller-Graff, Systemrationalität in Kontinuität und Änderung des Europäischen Verfassungsvertrags, Integration 26 (2003), S. 301 ff. 4  BVerfGE 89, 155 (190)  – Maastricht. 5  Christian Walter, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, Art. 93, Rn. 179; grundlegend: Andreas Voßkuhle, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, 1 ff. 2  3 



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bund“ soll deutlich gemacht werden, dass nationales und europäisches Verfassungsrecht zwei Ebenen bilden, die materiell-rechtlich, funktional und institutionell zu einem einheitlichen System verbunden sind. Aber auch unterhalb der Ebene des Verfassungsrechts, nämlich in den gerade im Europarecht oft komplizierten „Niederungen“ des Verwaltungsrechts, hat sich das „Verbundmodell“ zur Qualifizierung des Phänomens durchgesetzt, dass die Kommission und die mitgliedstaatlichen Verwaltungen Europarecht nicht mehr getrennt voneinander vollziehen, sondern bei dessen Umsetzung in vielfältiger Weise kooperieren. Die Verwaltungskooperation in der Union reicht dabei von großem Informationsaustausch bis hin zur gemeinsamen Entscheidungsfindung und Konzeptentwicklung. Man spricht daher insoweit völlig zu Recht von einem „europäischen Verwaltungsverbund“.6 Sowohl durch diese vernetzte Verwaltungstätigkeit als auch durch die Verflechtung der verfassungsrechtlichen Grundlagen in der Union stellen sich besondere Herausforderungen für den Rechtsschutz, die meines Erachtens am besten ebenfalls durch ein Verbundmodell gelöst werden sollten, nämlich durch eine komplementäre Aufgabenverteilung und eine prozedurale Kooperation der Gerichte in der Europäischen Union, also – wenn man so will – durch einen „Europäischen Rechtssprechungsverbund“. Was den Grundrechtsschutz in der Europäischen Union anbelangt, wird später hierauf noch zurückzukommen sein. II. Zur Bedeutung von Art. 23 GG für den „Europäischen Staatenverbund“ Die Übertragung von Hoheitsrechten der Bundesrepublik Deutschland auf die Europäische Union  – darunter vor allem die Befugnis zum Erlass von im innerstaatlichen Bereich wirksamen Rechtsakten – erfolgt nach Maßgabe des Art. 23 GG, der sogenannten Integrationsermächtigungsnorm. Da die Übertragung von Ho6  Matthias Ruffert, Von der Europäisierung des Verwaltungsrechts zum Europäischen Verwaltungsverbund, DÖV 2007, 761 ff.; Christian Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 5.  Aufl. 2016, Art. 1 EUV, Rn.  41–50 ff.

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heitsrechten zumindest im Regelfall mit einer Änderung der vertraglichen Grundlagen bzw. einer vergleichbaren Regelung einhergehen dürfte, sind dabei die Vorgaben des Art. 23 Abs. 1 S. 1  GG (die sogenannte Strukturklausel) sowie gemäß Art. 23 Abs. 1 S. 3  GG die formellen und materiellen Grenzen des Art. 79 Abs. 2 und 3 GG zu beachten, wenn dadurch das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird. Die Erwähnung des Art. 79 Abs. 3 GG im Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG stellt klar, dass auch mit der Übertragung von Hoheitsrechten „die in den Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze“ nicht berührt werden dürfen, diese Grundsätze also die maßgebliche verfassungsrechtliche Integrationsschranke bilden. Bekanntlich hatte das Bundesverfassungsgericht vor allem in den Verfahren zum Vertrag von Maastricht und zum Vertrag von Lissabon zu prüfen7, ob die deutschen Zustimmungsgesetze zu den genannten Verträgen sowie die entsprechenden Verfassungsänderungen und die Begleitgesetze mit jenen Integrationsschranken vereinbar waren, wobei es im zuletzt genannten Verfahren die Begleitgesetze für teilweise verfassungswidrig befand, da die Beteiligungsrechte des Bundestages und des Bundesrates an gegenständlich begrenzten Vertragsänderungen nicht in hinreichendem Maße ausgestaltet worden waren.8 Das Gericht arbeitete in beiden genannten Grundsatzentscheidungen vor dem Hintergrund vor allem des Demokratieprinzips folgenden Leitsatz heraus: Im Hinblick auf die Übertragung von Souveränitätsrechten verlangt das Demokratieprinzip, „gerade in zentralen politischen Bereichen des Raumes persönlicher Entfaltung und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse, die Übertragung und die Ausübung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union in vorhersehbarer Weise sachlich zu begrenzen“, zumal in den „für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates“ seit jeher als „besonders sensibel“ gelten „Entscheidungen über das materielle und formelle Strafrecht, die Verfügung über das Gewaltmonopol polizeilich nach innen und militärisch nach außen, die fiskalischen Grundent7  8 

BVerfGE 89, 155 (190)  – Maastricht; BVerfGE 123, 267  – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (432 ff.)  – Lissabon.



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scheidungen über Einnahmen und  – gerade auch sozialpolitisch motivierte  – Ausgaben der öffentlichen Hand, die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen sowie kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen etwa im Familienrecht, im Schul- und Bildungssystem oder über den Umgang mit religiösen Gemein­ schaften“.9 III. Das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht 1. Grundsätzliches Sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der Europäische Gerichtshof gehen von einem grundsätzlichen Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht aus.10 Allerdings entwickeln beide Gerichte ihre Rechtsauffassung von unterschiedlichen Ausgangspunkten her, was dann letztlich auch zu einigen nicht unwesentlichen Divergenzen führt. Das Bundesverfassungsgericht betont, dass Deutschland nach wie vor Mitglied in einem Staatenverbund ist, „dessen Gemeinschaftsgewalt sich von den Mitgliedstaaten ableitet und im deutschen Hoheitsbereich nur Kraft des deutschen Rechtsanwendungsbefehls verbindlich werden kann. Geltung und Anwendung von Europarecht in Deutschland hängen von dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes ab“.11 Der Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes zu dem völkerrechtlichen Vertrag, mit dem Hoheitsrechte auf die Gemeinschaft bzw. die Union übertragen werden, ist der „Hebel“, mit dem sich das Bundesverfassungsgericht eine prinzipielle Überprüfungsbefugnis über das Unionsrecht eröffnet.12 Darauf werde ich sogleich zurückkommen. 9 

BVerfGE 123, 267 (357 f.)  – Lissabon. BVerfGE 126, 286 (301 f.) – Honeywell; EuGH, Rs. 106/77, Simmen­ thal II, Slg. 1978, 629 (643 f.). 11  BVerfGE 89, 155 (190)  – Maastricht. 12  Der Ausdruck des „Integrationshebels“ geht zurück auf eine Formulierung von Hans Peter Ipsen, vgl. etwa Hans Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 58; auch Hans-Jürgen Papier, Das Bundesverfassungs10 

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Der Gerichtshof der Union hingegen „kappt“ diese Verbindung. Die Mitgliedstaaten, so der EuGH, hätten das Unionsrecht als eine eigenständige Rechtsordnung mit autonomer Unionsgewalt geschaffen. Aus der damit verbundenen Loslösung der Union von ihren völkerrechtlichen und nationalverfassungsrechtlichen Grundlagen folgen nicht nur der Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht13, diese Autonomie impliziere auch, dass unionsrechtliche Rechtsakte in keinem Fall von nationalen Gerichten verworfen werden könnten.14 Aus diesen unterschiedlichen Begründungen wird ersichtlich, dass hinter der Frage nach der Befugnis zur letztverbindlichen gerichtlichen Entscheidung auch die Frage nach der „Herrschaft über die Verträge“ und damit nach der Souveränität der Mitgliedstaaten steht. Ein wirklicher und nicht nur theoretisch zugespitzter Jurisdiktionskonflikt zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof ist damit nicht ausgeschlossen.15 2. „Ultra-vires“-Akte In der Entscheidung zum Lissabon-Vertrag hat das Bundesverfassungsgericht für sich eine sogenannte ultra-vires-Kontrolle vorbehalten.16 Innerhalb der deutschen Jurisdiktion müsse es möglich sein, die Integrationsverantwortung im Falle von ersichtlichen Grenzüberschreitungen bei einer Inanspruchnahme von Zuständigkeiten durch Organe der Europäischen Union und zur Wahrung des unantastbaren Kerngehalts der Verfassungsidentität des Grundgesetzes im Rahmen einer Identitätskontrolle einfordern zu können. Das Bundesverfassungsgericht hat hierfür den Weg der ultra-vires-Kontrolle gericht im Kräftefeld zwischen Karlsruhe, Luxemburg und Straßburg, in: Hestermeyer/König/Matz-Lück/Röben/Seibert-Fohr/Stoll/Vöneky (Hrsg.), Coexistence, Cooperation and Solidarity. Liber Amicorum Rüdiger Wolfrum, Volume II, 2012, S. 2041, 2054. 13  So bereits EuGH, Rs. 6/64, Costa v. E.N.E.L, Slg. 1964, 1251 (1269 f.). 14  EuGH, Rs. 314/85, Foto Frost, Slg. 1987, 4199 (4230 ff.). 15  Siehe auch Papier, Das BVerfG im Kräftefeld (Anm. 12), 2054 f. 16  BVerfGE 123, 267 (353 ff.) – Lissabon; siehe auch BVerfGE 126, 286 (302 ff.)  – Honeywell; siehe auch Papier, Das BVerfG im Kräftefeld (Anm.  12), 2052 ff.



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eröffnet, die im Falle von Grenzdurchbrechungen bei der Inanspruchnahme von Zuständigkeiten durch Unionsorgane oder bei „Identitätsverletzungen“ greifen soll. Wenn Rechtsschutz auf Unionsebene nicht zu erlangen sei, prüfe das Bundesverfassungsgericht, ob Rechtsakte der Europäischen Union und ihrer Einrichtungen sich unter Wahrung des Unionsrechts und des unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips in den Grenzen der ihnen im Wege der begrenzten Einzelermächtigung eingeräumten Hoheitsrechte halten.17 Das gilt auch in Bezug auf die Entscheidungen des EuGH. Der Vorbehalt des Bundesverfassungsgerichts, derartige ultra vires ergangene Rechtsakte der Union für in Deutschland unverbindlich zu erklären, und die Inanspruchnahme einer prinzipiellen Prüfungskompetenz stehen – das lässt sich nun wirklich nicht verbergen – im Widerspruch zur Rechtsprechung des EuGH, der für sich die vorbehaltlose Befugnis zur Letztentscheidung über die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts, auch in Kompetenzfragen, in Anspruch nimmt.18 Ein möglicher Konflikt zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Gerichtshof der Union bei der Beurteilung eines Rechtsakts der Union würde sich in Kompetenzfragen zudem deutlich schärfer stellen als in Grundrechtsfragen. Denn beim Grundrechtsschutz verfolgen Bundesverfassungsgericht und Europäi­ scher Gerichtshof prinzipiell gleichgerichtete Ziele. Entsprechend bewegt sich hier die Rechtsprechung beider Gerichte in der Sache – ungeachtet fortbestehender Unterschiede im Detail und der Frage des Geltungsbereichs der EU-Grundrechte  – kontinuierlich aufeinander zu. Würde dagegen das Bundesverfassungsgericht die Kompetenz der Europäischen Union, ihrer Organe und Einrichtungen zum Erlass eines bestimmten Rechtsakts verneinen, während sie der ­EuGH bejahte, so wäre das ein Konflikt, der sich nicht ohne Weiteres durch wechselseitige Annäherung ausräumen ließe. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass im Interesse der Funktionsfähigkeit der Unionsrechtsordnung nicht jeder denkbare oder streitbare Kompetenzverstoß, sondern nur die offensichtlichen 17  BVerfGE 75, 223 (242)  – Kloppenburg-Beschluss; vgl. zusammenfassend auch BVerfGE 123, 267 (353 f.)  – Lissabon (m. w. N.). 18  Siehe auch Papier, Das BVerfG im Kräftefeld (Anm. 12), 2052 ff.

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und wesentlichen Befugnisüberschreitungen vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft werden können.19 Das Bundesverfassungsgericht erachtet es als verfassungsrechtlich unzulässig, wenn Rechtsakte der Union „aufgrund ersichtlicher Kompetenzüberschreitungen erfolgen“. „Ersichtlich“ ist eine Kompetenzüberschreitung in diesem Sinne dann, wenn „das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fällt“. Strukturell sind Kompetenzüberschreitungen nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts „insbesondere dann, aber nicht nur, wenn sie sich auf Sachbereiche erstrecken, die zur durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland rechnen oder besonders vom demokratisch diskursiven Prozess in den Mitgliedstaaten abhängen“.20 3. Anleihekäufe der EZB Praktische Relevanz erfährt in letzter Zeit die ultra-vires-Rechtsprechung vor allem im Hinblick auf das Handeln der Europäischen Zentralbank. Handelt diese mit ihren Beschlüssen außerhalb ihres geld- und währungspolitischen Mandats oder verstößt sie gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung, würde dies nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts eine offensichtliche und strukturell bedeutsame Kompetenzüberschreitung bedeuten.21 Zum „integrationsfesten“ Identitätskern des Grundgesetzes gehören die parlamentarische Demokratie und die für sie essentielle Haushaltautonomie des nationalen Parlamentes. Die parlamentarische Demokratie dürfe nicht dadurch beseitigt oder ausgehöhlt werden, dass Deutschland immer größeren Haftungsrisiken ausgesetzt werde und damit die haushaltspolitische Gesamtverantwortung Siehe Papier, Das BVerfG im Kräftefeld (Anm. 12), 2055. Siehe BVerfGE 126, 286 (307) – Honeywell; BVerfGE 134, 366 (392 Rdnr. 37)  – OMT-Beschluss. 21  BVerfGE 134, 366 (395 Rdnr. 42)  – OMT-Beschluss. 19  20 



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des vom Volk gewählten Parlaments leerlaufe. Es dürfe also nicht zu unüberschaubaren und unbegrenzten haushaltswirksamen Belastungen Deutschlands ohne Zustimmung des deutschen Parlamentes kommen.22 Ultra-vires-Akte in diesem Sinne lösen Unterlassungs- und Handlungspflichten der deutschen Staatsorgane aus. Diese sind vor dem Bundesverfassungsgericht jedenfalls insoweit einklagbar, als sie sich auf Verfassungsorgane beziehen. Handelt ein Organ oder eine sonstige Stelle der Europäischen Union in diesem Sinne ultra vires, so dürfen deutsche Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte an der kompetenzüberschreitenden Handlung nicht mitwirken. Das gilt auch für die Deutsche Bundesbank.23 Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung dürfen darüber hinaus eine offensichtliche und strukturell bedeutsame Usurpation von Hoheitsrechten durch Organe der Europäischen Union nicht einfach geschehen lassen  – so das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich.24 Das Grundgesetz ermächtigt die deutschen Staatsorgane nicht, Hoheitsrechte derart zu übertragen, dass aus ihrer Ausübung heraus eigenständig weitere Zuständigkeiten für die Europäische Union begründet werden können. Es untersagt die Übertragung der Kompetenz-Kompetenz. Das Parlament darf deshalb nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts die Befugnis zur Entscheidung darüber, ob und in welchem Umfang Hoheitsrechte übertragen werden sollen, nicht aufgeben oder Organen der Europäischen Union zur Ausübung überlassen. Es ist vielmehr verpflichtet, selbst und in einem förmlichen Verfahren über die Übertragung von Kompetenzen im Rahmen der europäischen Integration zu entscheiden, damit das verfassungsrechtlich gebotene Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nicht unterlaufen werden kann.25 Das Bundesverfassungsgericht spricht in diesem Zusammenhang von der Integrationsverantwortung des Parlaments und der Bundesregierung, woraus sich die Verpflichtung ergeben kann, auf die Ein22 

BVerfGE BVerfGE 24  BVerfGE 25  BVerfGE 23 

142, 142, 142, 142,

123 123 123 123

(231 Rdnr. 213)  – OMT-Programm. (228 ff. Rdnr. 205 ff.)  – OMT-Programm. (211 Rdnr. 170 f.)  – OMT-Programm. (219 f. Rdnr. 186)  – OMT-Programm.

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haltung des Integrationsprogrammes hinzuwirken. Sie müssen mithin im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen mit rechtlichen oder mit politischen Mitteln auf die Aufhebung vom Integrationsprogramm nicht gedeckter Maßnahmen hinwirken sowie, solange die Maßnahmen fortwirken, geeignete Vorkehrungen dafür treffen, dass die innerstaatlichen Auswirkungen der Maßnahmen so bald wie möglich begrenzt bleiben. Ein früheres Ankaufvorhaben der EZB, das sogenannte OMTProgramm, war bekanntlich unter Formulierung einschränkender Bedingungen vom EuGH im Vorabentscheidungsverfahren als primärrechtskonform gewertet und auch vom Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich akzeptiert worden.26 Ob das Bundesverfassungsgericht in ähnlicher Weise auch das jetzige Ankaufprogramm der EZB mit einem Volumen von 2,1 Billionen Euro verfassungsrechtlich hinnehmen würde, ist fraglich. Auch wenn der EuGH im vorangegangenen Vorabentscheidungsverfahren auch dieses Programm wiederum als primärrechtlich einwandfrei qualifiziert hat, so kann doch nicht ausgeschlossen werden, dass das Bundesverfassungsgericht diesmal die „Waffe“ des „ultra-vires“- und Verfassungsidentitätsschutzes wirklich einsetzt.27 4. Grundrecht „auf Demokratie“? Wichtig ist noch eine verfahrensrechtliche Ergänzung: Ein Verstoß gegen diese aus der Integrationsverantwortung folgenden Pflichten deutscher Verfassungsorgane tangiert zugleich subjektive, mit der Verfassungsbeschwerde rügefähige Rechte der Wahlberechtigten aus Art. 38  Abs. 1  GG.28 Diese nicht unbestrittene und auch 26 

BVerfGE 134, 366 (416 ff. Rdnr. 99 ff.)  – OMT-Beschluss. Dies ist nach Abfassung des Manuskripts mit Urteil vom 05.05.2020 (2 BvR 859/15) auch tatsächlich so geschehen. Allerdings begründet das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung nicht mit einem Verstoß gegen das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung, sondern in einer fehlenden Darlegung und Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen durch die EZB. Auf diese Entscheidung konnte im Text nicht mehr eingegangen werden, da dieser den Inhalt des Vortrags vom 20. September 2019 in Paderborn wiedergibt. 28  Siehe etwa BVerfGE 123, 267 (328 ff.)  – Lissabon. 27 



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nicht ganz unproblematische Ausdehnung des Verfahrensrechts der Verfassungsbeschwerde führt – salopp ausgedrückt – mit der Zuordnung zum grundrechtsgleichen Recht aus Art. 38 Abs. 1  GG letztlich zu einer Art Popularklage eines jeden Wahlberechtigten, oder anders formuliert, zu einem „Grundrecht auf Demokratie“. Dies ist deshalb bemerkenswert, weil Art. 20 des Grundgesetzes nicht zu den mit der Verfassungsbeschwerde rügefähigen Grundrechtsartikeln gehört. Außerdem wird dieses „Recht auf Demokratie“ nur in den unionsspezifischen Zusammenhängen anerkannt. IV. Grundrechtsschutz im Europäischen Staatenverbund Lassen Sie mich nun zum Grundrechtsschutz im „Europäischen Staatenverbund“ kommen. Er stellt  – wie ich meine  – den Kernbereich des „Europäischen Verfassungsverbundes“ dar, weil diesbezüglich die Verfassungsbestimmungen innerhalb der Europäischen Union am weitestgehendsten miteinander verwoben sind. 1. Kooperativer und komplementärer Grundrechtsschutz Der bereits erwähnte, vom gescheiterten Verfassungsvertrag gewählte Leitspruch der Union „In Vielfalt geeint“ hätte auch den Grundrechtsschutz in Europa beschreiben können. Die Vielfalt des Grundrechtsschutzes liegt offen zutage: In Europa existieren auf drei Ebenen Grundrechtsverbürgungen mit jeweils eigener Gerichtsbarkeit.29 Über die Einhaltung der Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention wacht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, über die Auslegung und Anwendung der EU-Grundrechte entscheidet der Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg und für die Kontrolle der Einhaltung der mitgliedstaatlichen Grundrechte existiert in vielen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein nationales Verfassungsgericht. In Deutschland kommt noch die Besonderheit hinzu, dass wir einen verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutz nicht nur auf der Bundesebene,

29 

Siehe dazu Papier, Das BVerfG im Kräftefeld (Anm. 12), 2042 ff.

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sondern regelmäßig auch auf der Länderebene haben, der in den letzten Jahren zunehmend an Gewicht gewonnen hat. Diese Vielzahl an Grundrechtsverbürgungen und Grundrechtsgerichten ist zunächst etwas Positives für die Bürgerinnen und Bürger Europas, denn ein Mehr an Grundrechtsschutz ist besser als ein Zuwenig. Gleichwohl besteht aufgrund der Vielfalt die Gefahr, dass der Rechtsschutz für den Bürger unübersichtlich und damit ineffektiv wird, weil er nicht weiß, an welches Gericht er sich wenden muss oder sollte oder welche Maßstäbe jeweils gelten. Auch kann die Verdopplung oder gar Verdreifachung der Rechtsschutzebenen in einer nicht unerheblichen Zahl von Fällen zu einer unangemessen langen Verfahrensdauer bzw. zu widersprüchlichen Entscheidungen führen. Diesen Gefahren kann zunächst durch eine dialogische und rezeptive Angleichung der materiellen Grundrechtsstandards begegnet werden.30 Dies geschieht schon seit Jahren dadurch, dass zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht bei seinen Entscheidungen die Rechtsprechung des EGMR berücksichtigt. Auch der EuGH orientiert sich bei der Auslegung der EU-Grundrechte an den Entscheidungen des EGMR. Darüber hinaus zieht der EuGH bei seiner Grundrechtsrechtsprechung rechtsvergleichend auch die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten heran. Umgekehrt können auch die mitgliedstaatlichen Gerichte bei der Auslegung der nationalen Grundrechte einzelne, bislang nur im Unionsrecht anerkannte Aspekte des Grundrechtsschutzes rezipieren. Durch einen solchen Dialog der Verfassungsgerichte in der Union könnte gewissermaßen ein Wettbewerb um die beste Lösung angestoßen werden, ohne dass die Vielfalt des Grundrechtsschutzes, die wegen nationaler Besonderheiten zum Teil erforderlich ist, verloren geht. Den oben genannten Gefahren, die durch die Vielzahl von Grundrechtsverbürgungen und Rechtsschutzmöglichkeiten für die Effektivität des Grundrechtsschutzes entstehen, ist zudem auch durch eine sich ergänzende Aufgabenverteilung und durch eine verfahrensmäßige Kooperation der Gerichte zu begegnen. Dieses Ziel 30  Näher: Hans Jürgen Papier, In Vielfalt geeint, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) v. 03.07.2008, S. 8.



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eines komplementären und kooperativen Grundrechtsschutzes in Europa ist in großem Umfang schon Wirklichkeit, aber auch hier zeigen sich noch Mängel und ergeben sich Notwendigkeiten einer Verbesserung. 2. Grundrechtsschutz gegen Akte der Union Das Ziel eines komplementären und kooperativen Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union ist in meinen Augen im Wesentlichen erreicht, soweit es um den Grundrechtsschutz gegen sekundäres Unionsrecht geht. Sie alle kennen die sogenannte „SolangeFormel“ des Bundesverfassungsgerichts: „Solange“, so heißt es, „die Europäischen Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu erachten ist, wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen“.31 Sieben Jahre später, im Maastricht-Urteil aus dem Jahre 1993, hat das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung noch einmal zusammengefasst und um eine weitere Formel ergänzt: Das Bundesverfassungsgericht übe „seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland in einem ‚Kooperationsverhältnis‘ zum Europäischen Gerichtshof aus, in dem der Europäische Gerichtshof den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall für das gesamte Gebiet der Europäischen Gemeinschaften garantiert, das Bundesverfassungsgericht sich deshalb auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards beschränken kann“.32 In dem Beschluss vom 07. Juni 2002 zur Bananenmarktordnung33 wurden dann die prozessrechtlichen Konsequenzen verdeutlicht. Das 31 

BVerfGE 73, 339 (387)  – Solange-II. BVerfGE 89, 155 (175)  – Maastricht. 33  BVerfGE 102, 147 (164)  – Bananenmarktordnung. 32 

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Bundesverfassungsgericht präzisierte hier, dass Verfassungsbeschwerden und Vorlagen von Gerichten von vornherein unzulässig sind, wenn ihre Begründung nicht darlege, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nach Ergehen der Solange-II-Entscheidung unter den erforderlichen Grundrechtsstandard abgesunken sei. Deshalb müsse die Begründung der Vorlage eines nationalen Gerichtes oder einer Verfassungsbeschwerde, die eine Verletzung von Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschaftsrecht geltend macht, im Einzelnen darlegen, dass der jeweils unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet ist. Damit ist, so meine ich, ein akzeptabler modus vivendi zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof erreicht.34 Aktuelle Konflikte zwischen beiden Gerichten sollten speziell in dieser Hinsicht praktisch ausgeschlossen sein. Denn ein Grundrechtsverfall im Unionsrecht erscheint praktisch ausgeschlossen, zumal seit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages gemäß Art. 6 EUV die Gewährleistungen der Grundrechtecharta der Union als Teil des Primärrechts rechtsverbindlich geworden sind. Damit scheint hier die Gefahr eines Rechtsprechungskonflikts zwischen dem Europäischen Gerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht speziell beim Grundrechtsschutz gegen sekundäres Unionsrecht gering. 3. Grundrechtsschutz gegen innerstaatliche Rechtsakte Ein erhebliches Konfliktpotenzial besteht allerdings im Hinblick auf den Grundrechtsschutz gegen innerstaatliche Rechtsakte. Soweit innerstaatliche Rechtsvorschriften zwingende Vorgaben des EURechts in deutsches Recht umsetzen, sind Verfassungsbeschwerden nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts, die sich gegen die Anwendung von in diesem Sinne verbindlichem Recht der EU durch innerstaatliche Rechtsakte richten, grundsätzlich unzulässig. Insbesondere in seiner das Treibhausgas-Emissionshandelssystem betreffenden Entscheidung aus dem Jahre 200735 hat das Bundesverfas34  35 

Siehe auch Papier, Das BVerfG im Kräftefeld (Anm. 12), 2050 f. BVerfGE 118, 79 (95 f.)  – Emissionshandel.



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sungsgericht klargestellt, dass es auch deutsche Rechtsvorschriften nicht am Maßstab des Grundgesetzes überprüfe, soweit damit zwingende unionsrechtliche Vorgaben umgesetzt werden. Soweit allerdings Rechtsvorschriften der EU nicht zwingende Vorgaben enthalten, sondern den Mitgliedstaaten Umsetzungsspielräume einräumen, können sich Beschwerdeführer auf die Grundrechte des Grundgesetzes nach wie vor insoweit berufen, als der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung von Unionsrecht Gestaltungsfreiheit hatte, das heißt durch das Unionsrecht nicht abschließend determiniert war. Kann eine EU-Richtlinie wegen dieses Spielraums der nationalen Gesetzgebung ohne Verstoß gegen die Grundrechte des Grundgesetzes umgesetzt werden, so ist die Frage eines möglichen Vorrangs des Unionsrechts vor den deutschen Grundrechten nicht mehr entscheidungserheblich, sodass auch eine Vorlage des Bundesverfassungsgerichts an den EuGH im Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen das deutsche Umsetzungsgesetz nicht in Betracht kommt.36 Eine vergleichbar restriktive, die Kompetenzen des nationalen Verfassungsgerichts achtende Rechtsprechung lässt der EuGH allerdings nach wie vor vermissen. Nach dem Verständnis des EuGH sollen die EU-Grundrechte mit Blick auf die Mitgliedstaaten nicht nur Geltung beanspruchen, soweit das Unionsrecht zwingende Vorgaben enthält, sondern auch soweit den Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des Unionsrechts ein Gestaltungsspielraum offensteht. Der EuGH verwendete die Formulierung, dass die Mitgliedstaaten  – im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts  – an die Unionsgrundrechte gebunden sind. Hierzu gehört nicht nur die Anwendung von EUVerordnungen durch die mitgliedstaatliche Verwaltung, vielmehr ist auch der deutsche Gesetzgeber an die Unionsrechte nach Auffassung des EuGH darüber hinausgehend gebunden, und zwar zum einen bei der Umsetzung von Richtlinien sowie zum anderen beim Erlass von gesetzlichen Regelungen, mit denen etwa die Grundfreiheiten des Binnenmarktes, wie die Dienstleistungs- oder Niederlassungsfreiheit, aus Gründen des Gemeinwohls eingeschränkt werden, etwa zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit oder des Umweltschutzes. 36 

BVerfGE 125, 260 (308)  – Vorratsdatenspeicherung.

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Der Anwendungsbereich der EU-Grundrechte wird vom EuGH in der neueren Rechtsprechung immer weiter ausgedehnt. Ein besonders herausragendes Beispiel dafür ist die Entscheidung in dem Fall Akerberg Fransson.37 Diese Entscheidung ist im Grunde auch der Anlass für eine mehr oder weniger offene Kollision zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof in dieser Frage des Anwendungsbereichs der EU-Grundrechte. In dem Ausgangsfall Fransson ging es darum, dass einem schwedischen Bürger von der eigenen Verwaltung vorgeworfen wurde, er habe Steuern und Sozialversicherungsabgaben, darunter knapp 150.000 Kronen Mehrwertsteuer, hinterzogen. Deshalb musste er im Jahr 2007 einen Zuschlag auf seine Steuern und Abgaben zahlen und wurde zusätzlich auch noch strafrechtlich angeklagt. Die zuständigen schwedischen Richter legten dem EuGH die Frage vor, ob das nicht gegen das Verbot der Doppelbestrafung aus der EU-Grundrechtecharta verstieße. An sich gilt die Grundrechtecharta gemäß ihrem Art. 51 nur für Organe und Behörden der Europäischen Union, für die Mitgliedstaaten nur dann, wenn sie Recht der Union „durchführen“. Der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs empfahl den Richtern deshalb, sich für unzuständig zu erklären. Das Steuerrecht beruhe schließlich auf nationalem Recht. Auch die EUKommission und fünf weitere EU-Staaten sahen das genauso. Da aber auch die Mehrwertsteuer tangiert werde, erklärte sich der Europäische Gerichtshof für zuständig. Weil das Mehrwertsteueraufkommen die Höhe der EU-Beträge beeinflusse, so die Begründung, habe der Mitgliedstaat die Verpflichtung der wirksamen Ahndung von Verhalten, das finanzielle Interessen der EU gefährden würde.38 In der Sache war der Fall wenig spektakulär, weil die EU-Grundrechtecharta eine mehrfache Bestrafung wegen ein und derselben Sache nur im Hinblick auf das Strafrecht verbietet. Eine Kombination von Verwaltungs- und Strafsanktionen tangiert also das Grundrecht ne bis in idem keinesfalls. Doch dieser scheinbar harmlose Rechtsstreit und die sehr weite Auslegung der Zuständigkeit, kombiniert mit dem Ignorieren von Stellungnahmen und Gutachten durch 37  38 

EuGH, Rs. C-617/10  – Akerberg Fransson. EuGH, Rs. C-617/10  – Akerberg Fransson.



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den EuGH, erregte das Misstrauen vieler EU-Staaten. Sie äußerten die Befürchtung, der Europäische Gerichtshof könnte seine Kompetenzen auf diese fragwürdige Weise immer weiter ausdehnen, beispielsweise auch im Straf- und Ausländerrecht oder im Beamtenwesen, denn das Recht der Europäischen Union lege den Mitgliedstaaten in nahezu allen Lebensbereichen irgendwelche Pflichten auf. 4. Kritik an der Rechtsprechung des EuGH Gerade diese Entscheidung im Fall Akerberg Fransson hat aber auch das Bundesverfassungsgericht auf den Plan gerufen. Es hat sich in einem späteren Fall ausdrücklich gegen ein allzu großzügiges Verständnis der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs in Grundrechtssachen ausgesprochen. In seiner Entscheidung zur sogenannten Anti-Terror-Datei im Jahre 201339 stellte es klar, dass unionsrechtliche Grundrechte nicht heranzuziehen sind und eine Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs nicht angenommen werden kann, wenn unionsrechtlich geordnete Rechtsbeziehungen von einem nationalen Gesetz unmittelbar nicht betroffen sein können. Nicht jeder irgendwie geartete Bezug einer innerstaatlichen Regelung zum bloß abstrakten Anwendungsbereich des Unionsrechts oder rein tatsächliche Auswirkungen auf dieses reichen aus. Das Bundesverfassungsgericht40 berief sich hier ausdrücklich auf den Wortlaut des Art. 51 der Grundrechtecharta der Union, wonach die EU-Grundrechte nur Geltung haben, wenn es um die „Durchführung“ von EU-Recht geht. Die Charta dürfe in keinem Fall dazu führen, dass der Geltungsbereich der EU-Grundrechte über die vertraglich festgelegten Zuständigkeiten hinaus ausgedehnt und so neue Zuständigkeiten der Union begründet werden könnten. Sie dürfe, so das Bundesverfassungsgericht in aller Deutlichkeit, nicht so ausgelegt werden, dass die Rechtsprechung des EuGH als „ultra-vires-Akte“ zu beurteilen wäre. „Schutz und Durchsetzung der mitgliedstaatlichen Grundrechte“ dürften nicht in einer Weise gefährdet werden, „dass dies die Identität der durch das Grundgesetz errichteten Verfassungs39  40 

BVerfGE 133, 277 (313 Rdnr. 88 ff.)  – Antiterrordateigesetz. BVerfGE 133, 277 (315 f. Rdnr. 90 f.)  – Antiterrordateigesetz.

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ordnung in Frage stellt“. Das Bundesverfassungsgericht macht also sehr deutlich, dass es – wie inhaltlich in den Vertragstexten und dem Art. 51 der Grundrechtecharta der EU festgelegt – auf eine restriktivere Anwendung der EU-Grundrechte besteht. Damit postuliert es auch eine engere Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs in Grundrechtssachen; eine Heranziehung der EU-Grundrechte auf rein national geregelte Fallgestaltungen würde es nicht hinnehmen. Es muss in der Tat vor einer in dieser Weise übergreifenden Judikatur des Europäischen Gerichtshofs gewarnt werden. Denn hier geht es eben nicht nur um eine – bei isolierter Betrachtung durchaus positiv zu bewertende  – Vermehrung des Grundrechtsschutzes. Es besteht nämlich die Gefahr, dass die Entscheidungen der verschiedenen Rechtsschutzebenen bezüglich der jeweiligen Grundrechtsgewährleistungen divergieren. Diese Aspekte können insbesondere dann zum Tragen kommen, wenn es nicht allein um Grundrechtsschutz gegen staatliches Handeln, sondern um die Abwägung verschiedener  – widerstreitender  – grundrechtsgeschützter Individualinteressen in sogenannten mehrpoligen Rechtsverhältnissen geht. Die recht großzügige Interpretation des Jurisdiktionsbereichs des Europäischen Gerichtshofs ist aber vor allem mit einem weiteren Unitarisierungsschub verbunden. Wird nationales Recht, das durch europäisches Recht nicht unmittelbar determiniert oder vorgegeben ist und unmittelbar nicht seiner Durchführung dient, in seiner Anwendbarkeit nach den Maßgaben der EU-Grundrechte und der dazu entwickelten Rechtsprechung des EuGH beurteilt und entscheidet darüber letztverbindlich der EuGH, so erfolgt indirekt eine weitere Vergemeinschaftung des Rechts auch dort, wo Unionsrecht unmittelbar gar nicht gilt und nach dem Primärrecht auch nicht gelten soll. Damit tritt genau das ein, was das primäre Unionsrecht gerade ausschließen wollte: „Durch die Bestimmungen der Charta werden die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert“  – so Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 EUV. Die weitere Folge ist ein gravierender Schnitt in das System des nationalen Grundrechtsschutzes, wenn es  – wie etwa in Deutschland  – besonders ausgeprägt ist. Wären in national geregelten Fallgestaltungen fast immer (auch) EU-Grundrechte betroffen, wären die Fachgerichte berechtigt oder verpflichtet, Vorabentscheidungs-



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verfahren vor dem EuGH einzuleiten, wodurch die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit weitgehend „ausgeschaltet“ werden könnte. Das Bundesverfassungsgericht scheint nach Lage der Dinge nicht länger gewillt zu sein, diese Entwicklung hinzunehmen. V. Schlussbemerkung Abschließend lassen Sie mich Folgendes bemerken: Der europäische „Rechtsprechungsverbund“ ist im Großen und Ganzen in recht guter Verfassung. Allerdings gibt es einige, nicht unwesentliche Konfliktpunkte. Ich habe versucht, in meinen Ausführungen diese herauszuarbeiten (Anleihekäufe der EZB jenseits des primärrechtlichen Mandats; Ausdehnung des Geltungsbereichs der EU-Grundrechte durch den EuGH). Der Rechtsprechungsverbund sollte von einem grundlegenden Prinzip geprägt sein: Nicht die größtmögliche Ausdehnung von Zuständigkeiten der beteiligten Gerichte und ihrer jeweiligen Ansprüche, „besseres Recht“ zu schaffen, sondern ein funktionsgerechter, effektiver und das heißt eben auch in angemessener Zeit erfolgender und beendbarer Rechtsschutz der Bürger muss das Maß aller Dinge sein.41

41 

Siehe auch Papier, Das BVerfG im Kräftefeld (Anm. 12), 2056.

Die dreigliedrige Residualkompetenz des BVerfG: Solange II, ultra vires, Verfassungsidentität Von Robert Pracht* I. Hinführung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 II. Verfassungsprozessualer Zugriff  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 1. Beschwerdegegenstand  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 2. Beschwerdebefugnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 III. Ultra-vires-Kontrolle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 1. Kurze Nachzeichnung der geschichtlichen Entwicklung des Prüfvorbehalts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 2. Grundsätzliche Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zur Vornahme einer ultra-vires-Kontrolle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 3. Kriterien der ultra-vires-Kontrolle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 IV. Verfassungsidentitätskontrolle  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 1. Allgemeines  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 2. Geschützte Grundsätze des Art. 1 GG  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 3. Geschützte Grundsätze des Art. 20 GG  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 4. Kommunikation mit dem Europäischen Gerichtshof  . . . . . . . . . 205 V. Ergebnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 VI. Ausblick: Der Fall Egenberger  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

I. Hinführung Der folgende Satz ist vielen noch in präsenter Erinnerung: „Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the Euro. And believe me, it will be enough.“1 Diese Worte *  Besonderer Dank für ihre vielfältige Unterstützung und ihre weiterführenden Hinweise sei Felix Kaiser und Laura Volk ausgesprochen. Daneben danke ich Alexander Archner, Dr. Patrick Hilbert, Elisabeth Kraft, Julia Kraft sowie Annika Vorfelder für wertvolle Anregungen.

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des damaligen Präsidenten der Europäischen Zentralbank Mario Draghi und das kurze Zeit darauf beschlossene OMT-Programm (Outright Monetary Transactions) mit der Ankündigung, am Sekundärmarkt Staatsanleihen kriselnder Euro-Mitgliedstaaten anzukaufen, haben in besonderer Weise die Aufmerksamkeit an den Börsen und Finanzmärkten erregt. Daneben haben sie eine lange Auseinandersetzung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof über die Recht- und Verfassungsmäßigkeit des OMT-Programms hervorgerufen.2 Dieser Fall eignet sich hervorragend, um das Dissertationsthema, welches den Arbeitstitel „Die dreigliedrige Residualkompetenz des Bundesverfassungsgerichts  – ultra vires, Solange II, Verfassungsidentität“ trägt, praktischer Anschauung zuzuführen. An dieser Stelle seien also nicht so sehr die einzelnen Kapitel des Dissertationsvorhabens oder gar schon fertige Lösungsansätze vorgestellt  – diese werden nur hin und wieder einmal angedeutet  – sondern auch mit Rekurs auf den OMTFall vielmehr die spezifischen Probleme herausgearbeitet und näher beleuchtet, die mit der ultra-vires-Kontrolle und dem Verfassungsidentitätsvorbehalt einhergehen. Zu Beginn sei noch einmal das ganz Grundsätzliche in Erinnerung gerufen: Mit dem Instrument der ultra-vires-Kontrolle will das Bundesverfassungsgericht kompetenzüberschreitende Handlungen der Unionsstellen ausmachen und ihnen die Anwendbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland versagen. Der Verfassungsidentitätsvorbehalt zielt darauf ab, dass sekundäres Unionsrecht nicht die sogenannte integrationsfeste Ewigkeitsgarantie des Art. 23 Abs. 1 Satz  3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG verletzt. Die ultra-vires-Kontrolle und die Prüfung einer etwaigen Verletzung der deutschen Verfassungsidentität haben also das gemeinsame Ziel, den Anwendungsvorrang des abgeleiteten Unionsrechts ausnahmsweise zu 1  Abrufbar unter https://www.ecb.europa.eu/press/key/date/2012/html/ sp120726.en.html (zuletzt abgerufen am 26.09.2019, Hervorh. d. Verf.). 2  Diese begann mit dem ersten Vorlagebeschluss des Bundesverfassungsgerichts an den Europäischen Gerichtshof vom Januar 2014 (BVerfGE 134, 366) über die Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, Rs. C-62/14  – Gauweiler) bis hin zum abschließenden Endurteil des Bundesverfassungsgerichts im Juni 2016 (BVerfGE 142, 123).



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durchbrechen und dem Unionsrecht die Anwendbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland zu versagen. Bei diesen richterrechtlich entwickelten Rechtsfiguren bestehen jedoch zahlreiche Problemfelder, die nun der Reihe nach kurz aufgezeigt werden sollen. Ehe in die rechtlichen Ausführungen eingestiegen wird, sei zuvor noch die besondere Aktualität des Themas hervorgehoben: Erst am 30. Juli 2019 verkündete das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zur Verfassungsmäßigkeit der Europäischen Bankenunion,3 bei der die Beschwerdeführer ultra-vires-Akte und Verfassungsidentitätsverletzungen gerügt hatten. Am Nachmittag des 30. Juli und den ganzen 31. Juli 2019 verhandelte das Bundesverfassungsgericht über ein anderes Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank, das sogenannte PSPP-Programm.4 Schließlich wurde in dem religionsverfassungsrechtlichen Fall Egenberger erst kürzlich Verfassungsbeschwerde erhoben. II. Verfassungsprozessualer Zugriff Doch nun zurück zum eingangs erwähnten OMT-Beschluss der Europäischen Zentralbank, der vor das Bundesverfassungsgericht gebracht wurde: Schon die Zulässigkeit möglicher verfassungsprozessualer Verfahren und insbesondere der Verfassungsbeschwerde im Zusammenhang mit den europaverfassungsrechtlichen Kontrollvorbehalten ist keinesfalls evident. 1. Beschwerdegegenstand Gegen den gerade angesprochenen OMT-Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank als Beispiel für eine unionsunmittelbare Handlung haben über 11.700 Personen Verfassungsbeschwerde erho3 

juris.

BVerfG, Urteil vom 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 und 2 BvR 2631/14,

4  Das Bundesverfassungsgericht rief zuvor zur Prüfung der Primärrechtskonformität den Europäischen Gerichtshof mittels des Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV an (BVerfGE 146, 216); in seinem Urteil bejahte der Europäische Gerichtshof die Rechtmäßigkeit des PSPP-Programms (EuGH, Rs.  C-493/17  – Weiss).

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ben.5 Doch was kann in diesem Verfahren eigentlich statthafter Beschwerdegegenstand sein? Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 lit.  a GG und §  90 Abs. 1 BVerfGG fordern einen Akt der „öffentlichen Gewalt“ – also jedenfalls expressis verbis keinen Akt der deutschen öffentlichen Gewalt. Und tatsächlich hatte das Bundesverfassungsgericht seit dem Maastricht-Urteil aus dem Jahr 1993 lange Zeit den Begriff der öffentlichen Gewalt in diesem funktionalen Sinne verstanden und die direkte Angreifbarkeit supranationaler Handlungen im Wege der Verfassungsbeschwerde ermöglicht.6 Kann dies überzeugen? Wohl kaum. Die Verfassungsbeschwerde ist das prozessuale Mittel zur Durchsetzung der Grundrechtsbindung aller öffentlichen Gewalt im Sinne des Art. 1 Abs. 3 GG  – mit der dort genannten „Gesetzgebung“, „vollziehenden Gewalt“ und „Rechtsprechung“ ist unbestrittenermaßen nur die deutsche Staatsgewalt adressiert.7 Aus diesem Grund kann auch mit der „öffentlichen Gewalt“ in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 lit.  a GG und §  90 Abs. 1 BVerfGG nur die deutsche öffentliche Gewalt gemeint sein  – Beschwerdegegenstand ist daher keinesfalls unmittelbar das supranationale Handeln eines Organs der Europäischen Union.8 Dies hat erfreulicherweise auch das Bundesverfassungsgericht im OMT-Urteil aus dem Jahr 2016 anerkannt9  – führte diese Feststellung aber dazu, dass das Bundesverfassungsgericht nun die Verfassungsbeschwerden als unzulässig verwarf ?

5  Die Anzahl ist dem Rubrum des OMT-Urteils in BVerfGE 142, 123 entnommen. 6  BVerfGE 89, 155 (175)  – Maastricht und in der Folge: BVerfG, NJW 2001, 2705 (2705) sowie BVerfGK 8, 266 (268); 16, 509 (513); 17, 266 (269 f.). 7  Vgl. Martin Eifert/Johannes Gerberding, Verfassungsbeschwerde und Unionsgewalt, Jura 2016, S. 628 ff. (635); Christian Walter, in: Maunz/ Dürig, Grundgesetz Kommentar, Stand der 84.  Erg.-Lfg. (August 2018), Art. 93 Rdnr.  343. 8  So auch Christian Hillgruber/Christoph Goos, Verfassungsprozessrecht, 4.  Aufl. 2015, Rdnr.  966 f.; Heiko Sauer, Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen, 2008, S. 174. 9  BVerfGE 142, 123 (179 Rdnr. 97) – OMT-Urteil. Siehe auch BVerfG, Urteil vom 30.07.2019  – 2 BvR 1685/14 und 2 BvR 2631/14, Rdnr.  112, juris  – Europäische Bankenunion.



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Keineswegs. Denn bei „verständiger Würdigung der Anträge“10 sollen die Verfassungsbeschwerden insoweit zulässig sein, als sie sich gegen das Unterlassen der Bundesregierung richten, auf rechtlichem oder politischem Weg gegen den OMT-Beschluss vorzugehen.11 Ist dies nun im Fall von unionsunmittelbaren Verhaltensweisen des Rätsels Lösung? Auch diese Unterlassungskonstruktion ist angreifbar: Neben der Unbestimmtheit der Verhaltensverpflichtungen der Bundesregierung  – was meint das BVerfG mit „rechtlichen oder politischen Mitteln“?12 – fragt es sich insbesondere, wie diese vorherigen Pflichten, gegen ultra-vires-Handlungen der Unionsstellen einzuschreiten, mit dem Monopol zu harmonisieren sein soll, dass das Bundesverfassungsgericht für sich im Hinblick auf Kompetenzüberschreitungen der Unionsstellen in Anspruch nimmt. Denn einzig das Bundesverfassungsgericht soll nach eigener Rechtsprechung eine unionale Handlung als ultra vires identifizieren dürfen; nicht aber auch andere Gerichte oder gar andere staatliche Stellen.13

10  So die Formulierung in BVerfGE 134, 366 (372 Rdnr.  1)  – OMTVorlagebeschluss. 11  BVerfGE 142, 123 (172 ff. Rdnr.  76 ff.)  – OMT-Urteil. 12  Im OMT-Urteil (BVerfGE 142, 123 [211 f. Rdnr.  171]) hat das Bundesverfassungsgericht dies noch zu konkretisieren versucht: „Dazu zählen mit Blick auf die Bundesregierung insbesondere eine Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (Art. 263 Abs. 1 AEUV), die Beanstandung der fraglichen Maßnahme gegenüber den handelnden und den sie konkretisierenden Stellen, das Stimmverhalten in den Entscheidungsgremien der Europäischen Union einschließlich der Ausübung von Vetorechten und der Berufung auf den Luxemburger Kompromiss (…), Vorstöße zu Vertragsänderungen (vgl. Art. 48 Abs. 2, 50 EUV) sowie Weisungen an nachgeordnete Stellen, die in Rede stehende Maßnahme nicht anzuwenden. Der Deutsche Bundestag kann sich insbesondere seines Frage-, Debatten- und Entschließungsrechts bedienen, das ihm zur Kontrolle des Handelns der Bundesregierung in Angelegenheiten der Europäischen Union zusteht  (…), sowie  – je nach Angelegenheit  – auch der Subsidiaritätsklage  (…), des Enquêterechts (Art. 44 GG) oder des Misstrauensvotums (Art. 67 GG) (…).“ Im Urteil zur Verfassungsmäßigkeit der Europäischen Bankenunion (BVerfG, Urteil vom 30.07.2019  – 2 BvR 1685/14 und 2 BvR 2631/14, juris) fehlt diese beispielhafte Aufzählung nun allerdings. 13  So die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit BVerfGE 123, 267 (354)  – Lissabon.

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An dieser Stelle sei auch noch eine ganz neue Entwicklung aus dem Urteil zur Europäischen Bankenunion in Abkehr zur früheren Rechtsprechung angesprochen: Neben der gerade vorgestellten Unterlassungskonstruktion soll – wenn eine Verordnung oder Richtlinie den möglichen ultra-vires-Akt darstellt  – auch die Mitwirkung der Bundesregierung beim Zustandekommen des Rechtsaktes im Rat angegriffen werden können.14 Hierbei bestehen die gleichen Bedenken im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit dem Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts; daneben fragt es sich, ob das Abstimmungsverhalten der Bundesregierung im Rat der Europäischen Union wirklich die Ausübung deutscher Hoheitsgewalt darstellt oder ob es sich nicht vielmehr funktional um Unionsgewalt handelt.15 Würde es daher nicht vielleicht näherliegen, den notwendigen Akt deutscher Staatsgewalt auf eine andere Weise zu begründen? Zur Geltung des Unionsrechts in der Bundesrepublik Deutschland ist ein Zustimmungsgesetz im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG erforderlich, das die Geltung des Unionsrechts anordnet. Das Unionsrecht wirkt in der Bundesrepublik Deutschland also allein über das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon, das im Wesentlichen auf diese europäischen Primärverträge verweist. Dieses konstitutive Zustimmungsgesetz ist zweifelsfrei ein Akt deutscher Staatsgewalt. Zulässiger Beschwerdegegenstand dürfte es somit sein, vor dem Bundesverfassungsgericht anzufragen, ob das deutsche Zustimmungsgesetz  – im Ergebnis wortlautidentisch mit den europäischen Primärverträgen – den Beschluss eines Staatsanleihenankaufprogramms wie bei OMT ermöglicht oder ob ein solches Programm aus den der Europäischen Union eingeräumten Kompetenzen ausbricht.

14  BVerfG, Urteil vom 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 und 2 BvR 2631/14, Rdnr.  102 f., juris  – Europäische Bankenunion. 15  Vgl. dazu Gert Nicolaysen, Tabakrauch, Gemeinschaftsrecht und Grundgesetz, EuR 1989, S. 215 ff. (218 f.).



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2. Beschwerdebefugnis Bedenken gegen die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden gegen den OMT-Beschluss ruft daneben das Erfordernis der Beschwerdebefugnis hervor. Klar ist, dass die Beschwerdeführer eine Verletzung ihrer durch das Grundgesetz gewährten Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte geltend machen müssen. Und ebenso klar dürfte es sein, dass eine Grundrechtsverletzung schon deshalb eigentlich offensichtlich ausscheiden müsste, weil die Europäische Zentralbank nicht an die deutschen Grundrechte gebunden ist und sie daher auch gar nicht verletzen kann. Wie kommt das Bundesverfassungsgericht über diese „Klippe“ hinweg? Fruchtbar macht es das grundrechtsgleiche Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz  1 GG, welcher lautet: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“ Dass aus der Verbürgung des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag nun auch ein Recht folgt, dass die Kompetenzausübung der Unionsstellen kontrolliert werden kann, ist erklärungsbedürftig und lässt sich nur dann verstehen, wenn man eine vor 25 Jahren geschaffene Konstruktion nachvollzieht. Seit dem Maastricht-Urteil versubjektiviert das Bundesverfassungsgericht bekanntlich das objektiv-rechtliche Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 und  2 GG und meint zu etwaig betroffenen subjektiven Rechten der Beschwerdeführer: „Das Recht des Beschwerdeführers aus Art. 38 GG kann demnach verletzt sein, wenn die Wahrnehmung der Kompetenzen des Deutschen Bundestages so weitgehend auf ein von den Regierungen gebildetes Organ der Europäischen Union oder der Europäischen Gemeinschaften übergeht, dass die nach Art. 20 Abs. 1 und 2 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG unverzichtbaren Mindestanforderungen demokratischer Legitimation der dem Bürger gegenübertretenden Hoheitsgewalt nicht mehr erfüllt werden.“16

Nur durch diese Konstruktion war es möglich, dass das Bundesverfassungsgericht im Vorfeld die Zustimmungsgesetze zum Vertrag von Maastricht und später zum Vertrag von Lissabon auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüfen konnte  – denn für die wohl primär einschlägige Verfahrensart einer abstrakten Normenkontrolle fanden 16 

BVerfGE 89, 155 (172)  – Maastricht.

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sich in der Vergangenheit nie ausreichend Antragsteller.17 Dass diese „38er-Konstuktion“ nun aber nicht nur vor der Ratifikation europäischen Primärrechts fruchtbar gemacht werden kann, sondern auch die Kontrolle sekundären Unionsrechts auf einen ultra-vires-Akt hin ermöglichen soll, ist eine Neuerung des OMT-Urteils und scharf zu kritisieren. Denn geschaffen wurde durch diese sehr weite Auslegung faktisch eine Popularklage. Jeder der gut 60 Millionen wahlberechtigten Deutschen kann sich an das Bundesverfassungsgericht mit der Rüge wenden, dass eine beliebige Handlung der Unionsstellen ultra vires ergangen sei oder eine Verfassungsidentitätsverletzung darstelle. Eine solch weitgehende Interpretation des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG widerspricht dem System des Individualrechtsschutzes im Allgemeinen und dem der Verfassungsbeschwerde im Besonderen, die gerade kein objektives Beanstandungsverfahren darstellt, sondern subjektiven Rechtsschutz vermitteln will. Das Bundesverfassungsgericht überschreitet daher seine Kompetenzen und verstößt gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz des Art. 20 Abs. 2 Satz  2 und Abs. 3 GG, wenn es Rügen der Verletzung der Kompetenzordnung oder der Verfassungsidentität auf der Basis des Art. 38 Abs. 1 Satz  1 GG zulässt. Es steht allerdings dem Gesetzgeber bei einem entsprechenden politischen Willen unter Berücksichtigung der möglichen Gefahr eines gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichteten Vertragsverletzungsverfahrens frei, zur Kontrolle der Handlungen der Unionsstellen ein eigenes verfassungsprozessuales Verfahren zu schaffen. Auch das Erfordernis einer qualifizierten Beschwer im Rahmen der Beschwerdebefugnis ist problematisch, sei an dieser Stelle aber nur angedeutet: Sind die auf der Grundlage des Art. 38 Abs. 1 Satz  1 GG klagenden Bürger durch den OMT-Beschluss der Europäischen Zentralbank wirklich „selbst“ und „unmittelbar“ im Vergleich zu anderen betroffen? Und wenn dies richtigerweise verneint wird: Kann man dann einfach ohne Weiteres auf die Prüfung dieser Voraussetzungen verzichten, so wie es die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nahezulegen scheint? Diese Ausführungen zur problematischen Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde im Kontext mit ultra-vires- oder verfassungsidenti17 

Vgl. Heiko Sauer, Staatsrecht III, 5.  Aufl. 2018, §  9 Rdnr.  65.



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tätsverletzenden Handlungen der Unionsstellen sollten zeigen, dass schon der verfassungsprozessuale Zugriff auf derartige Konstellationen keinesfalls zweifelsfrei ist. III. Ultra-vires-Kontrolle Nun aber zur materiellen Seite: Was ist ein ultra-vires-Akt und woraus ergibt sich die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zu prüfen, ob eine Handlung der Unionsstellen sich im Rahmen der Zuständigkeitsordnung bewegt oder aus diesem ausbricht? 1. Kurze Nachzeichnung der geschichtlichen Entwicklung des Prüfvorbehalts Seit dem Maastricht-Urteil aus dem Jahr 1993 unter maßgeblicher Federführung des Bericht erstattenden Richters Paul Kirchhof nimmt das Bundesverfassungsgericht für sich in Anspruch, Handlungen der Unionsstellen, die sich außerhalb der der Europäischen Union eingeräumten Zuständigkeiten bewegen, die Anwendbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland zu versagen  – der entsprechende Entscheidungspassus lautete: „Würden etwa europäische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die von dem Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt, nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden. Dementsprechend prüft das Bundesverfassungsgericht, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen (…).“18

In diesen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts lag eine enorme Brisanz  – fraglich war insbesondere, ob tatsächlich jede, noch so geringfügige, gar nebensächliche Kompetenzverletzung der Unionsstellen aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts zur Be­ 18 

BVerfGE 89, 155 (188)  – Maastricht.

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jahung eines ultra-vires-Akts ausreichte und daneben, ob tatsächlich jedes nationale Gericht oder gar jede deutsche Behörde die Einhaltung der Verbandskompetenz bei Handlungen der Unionsstellen zu überprüfen hatte.19 Diese Fragen wurden im Lissabon-Urteil aus dem Jahr 2009 und dem Honeywell-Beschluss im Jahr 2010 beantwortet: Zum einen liegt das Monopol für die Feststellung eines ultra-vires-Akts  beim Bundesverfassungsgericht:20 Fachgerichte sind analog Art.  100 Abs. 1 GG verpflichtet, eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts herbeizuführen. Zum anderen sollen nur „ersichtliche“ respektive „hinreichend qualifizierte“ Verstöße gegen die Kompetenzordnung beachtlich sein.21 Dieses Kriterium auf der Metaebene unterteilt sich in die beiden Unterkriterien der „Offensichtlichkeit“ der Kompetenzverletzung und der „strukturellen Bedeutung“ des Verstoßes im Kompetenzgefüge zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten.22 2. Grundsätzliche Befugnis des Bundesverfassungsgerichts zur Vornahme einer ultra-vires-Kontrolle Bevor auf diese einzelnen, vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Kriterien eingegangen werden soll, ist zuvor ganz grundsätzlich die Daseinsberechtigung der vom Bundesverfassungsgericht in Anspruch genommenen ultra-vires-Kontrolle zu hinterfragen. Denn im Grundgesetz findet sich jedenfalls nicht ausdrücklich eine Bestimmung, die dem Bundesverfassungsgericht die Aufgabe zuweisen würde, Handlungen der Unionsstellen auf ihre Kompetenzmäßigkeit hin zu überprüfen. Woraus ergibt sich nun also die Befugnis des Bundesverfassungsgerichts? Diesbezüglich fällt in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung und der sie begleitenden Literatur ein 19  Vgl. zu dem zuletzt genannten Punkt Franz C. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 111. 20  BVerfGE 123, 267 (354)  – Lissabon; BVerfGE 140, 317 (337 Rdnr. 43) – Europäischer Haftbefehl II; BVerfGE 142, 123 (204 Rdnr. 155) – OMT-Urteil. 21  Ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 126, 286 (304)  – Honeywell. 22  BVerfGE 126, 286 (304)  – Honeywell.



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hohes Begründungsdefizit auf: Oftmals heißt es nur, dass die „Souveränität“ der Bundesrepublik Deutschland es gestatten müsse, die supranationalen Handlungen der Unionsstellen auf die Wahrung der Kompetenzmäßigkeit hin überprüfen zu können.23 Dieser Schluss ist äußerst zweifelhaft, wie schon die oftmals vernachlässigte und unbekannte Vorschrift des Art. 24 Abs. 3 GG zeigt. Danach wird der Bund zur Regelung zwischenstaatlicher Streitigkeiten Vereinbarungen über eine allgemeine, umfassende, obligatorische, internationale Schiedsgerichtsbarkeit beitreten. Diese Bestimmung, die in ihrer praktischen Bedeutung mangels institutioneller Voraussetzungen zugegebenermaßen bisher weitgehend unbeachtet bleiben durfte, zeigt aber ganz eindeutig, dass das Grundgesetz keinesfalls schlechthin ein Letztentscheidungsrecht des Bundesverfassungsgerichts einfordert  – es akzeptiert vielmehr auch eine abschließende Unterordnung unter eine internationale Rechtsprechungsinstanz bei der Wahrung bestimmter Voraussetzungen.24 Ist es nicht vielleicht im Gegenteil – so könnte man denjenigen, die sich auf das „Souveränitäts-Argument“ berufen, entgegenhalten  – auch und gerade ein Ausdruck betätigter Souveränität, die Wahrung der Kompetenzordnung in die Hände eines supranational organisierten Gerichts zu legen?25 Dafür spricht zumindest prima facie der Normtextbefund. Die europäischen Primärverträge und vor allem das gleichlautende – und wie schon ausgeführt für die Geltung des Unionsrechts in der Bundesrepublik Deutschland konstitutive – Zustimmungsgesetz weisen dem Europäischen Gerichtshof für Kompetenzstreitigkeiten ein Rechtsprechungsmonopol zu. So spricht Art. 19 Abs. 1 Uabs.  1 Satz  2 EUV davon, dass der Europäische Gerichtshof die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge sichert. Daneben haben sich in Art. 344 AEUV die Mitgliedstaaten einander zugesichert, Streitigkeiten über die Auslegung oder Anwendung der Verträge nicht anders als hierin vorgesehen – also vor dem Europäischen Gerichtshof – zu 23  Beispielsweise Kay Windthorst, in: Gröpl/Windthorst/von Coelln (Hrsg.), Grundgesetz Studienkommentar, 3.  Aufl. 2017, Art. 23 Rdnr.  55a. 24  Vgl. hierzu auch Claus Dieter Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 7.  Aufl. 2018, Art. 24 Rdnr.  54. 25  Siehe dazu auch Alexander Proelß, Bundesverfassungsgericht und überstaatliche Gerichtsbarkeit, 2014, S. 266.

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regeln. Die Bundesrepublik Deutschland hat demnach bei der Ratifikation des Zustimmungsgesetzes zum Vertrag von Lissabon Hoheitsrechte nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG im Sinne judikativer Entscheidungsgewalt der Europäischen Union übertragen. Zumindest völkerrechtlich – bei den europäischen Primärverträgen handelt es sich im Grundsatz um übliche völkerrechtliche Verträge, auf die beispielsweise die Wiener Vertragsrechtskonvention Anwendung findet – ist damit die manifestierte Negation des Entscheidungsmonopols des Europäischen Gerichtshofs durch die Inanspruchnahme einer ultra-vires-Kontrolle eine Vertragsverletzung, auf die beispielsweise mit einem Vertragsverletzungsverfahren nach den Art. 258 ff. AEUV reagiert werden könnte. Dies rührt auch gerade daher, dass die Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifikation des Vertrags von Lissabon keinen völkerrechtlichen Vorbehalt dahingehend erklärt hat, dass das Bundesverfassungsgericht für sich die Kompetenz in Anspruch nimmt zu prüfen, ob in gewissen Fällen Unionshandlungen aus den der Europäischen Union übertragenen Kompetenzen ausbrechen.26 Hiermit ist aber nicht zugleich gesagt, dass auch innerstaatlich verfassungsrechtlich eine ultra-vires-Kontrolle ausgeschlossen wäre. Um des Gelingens der europäischen Integration und der einheitlichen Rechtsgeltung unionsweit Willens ordnet das Zustimmungsgesetz auf der Grundlage des Art. 23 Abs. 1 Satz  2 GG zwar einen Vorrang des Unionsrechts vor nationalem einfachen und auch Verfassungsrecht an. Aus systematischen Gründen findet dieser Anwendungsvorrang des Unionsrechts aber seine Grenze in der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz  1 GG und in der Bestandssicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG, welche auf die sogenannte Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG verweist  – letztere auch bekannt unter dem Stichwort der „Verfassungsidentität“. Aus dieser Bestandssicherungsklausel soll nach der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts27 und einem nicht unbedeutenden Teil der Leh26  Vgl. dazu auch Klaus Ferdinand Gärditz/Christian Hillgruber, Volkssouveränität und Demokratie ernst genommen. Zum Lissabon-Urteil des BVerfG, JZ 2009, S. 872 ff. (878). 27  Siehe dazu BVerfGE 142, 123 (201 Rdnr. 149)  – OMT-Urteil; BVerfG, Urteil vom 30.07.2019  – 2 BvR 1685/14 und 2  BvR 2631/14, Rdnr. 151, juris  – Europäische Bankenunion.



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re28 die Befugnis zur ultra-vires-Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts folgen, denn Art. 79 Abs. 3 GG verweist unter anderem auf die Grundsätze des Art. 20 und damit auf das Demokratieprinzip. Aus diesem soll sich  – unter dem Stichwort der „Volkssouveränität“ – nun ergeben, dass die wahlberechtigten Bürger einen Anspruch darauf haben, nicht von einer Hoheitsgewalt betroffen zu werden, die sie selbst nicht legitimiert haben.29 Überzeugen kann dies allerdings kaum. Die sogenannte Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG war bei der Schöpfung im Parlamentarischen Rat keinesfalls dazu gedacht, eine Einzelfallbefugnis des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf die Kontrolle supra­ nationaler Handlungen zu sichern.30 Auch der Wortlaut des Art. 23 Abs. 1 Satz  3 GG, der die Anwendbarkeit des Art. 79 Abs. 3 GG anordnet, spricht gegen das Verständnis des Bundesverfassungsgerichts: Danach gilt Art. 79 Abs. 3 GG für die Begründung der Europäischen Union sowie für Veränderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbare Regelungen, durch die dieses Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden  – adressiert wird also nur der vertragsändernde Gesetzgeber bei der Ratifikation neuen europäischen Primärrechts. Hinzu kommt, dass es das deutsche Demokratieprinzip durchaus gestattet, nicht nur materiell-rechtliche Befugnisse, sondern auch prozedurale Hoheitsrechte  – also die Befugnis zur Prüfung der Einhaltung der Verbandskompetenzen  – auf ein supranationales Rechtsprechungsorgan wie den Europäischen Gerichtshof zu übertragen.31 Insoweit werden die Bürger also nicht 28  Alexander Kees, Grundlagen und Grenzen der europäischen Integra­ tion, in: Scheffczyk/Wolter (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 4, 2017, S. 439 (452); Markus Ludwigs, Der Ultravires-Vorbehalt des BVerfG. Judikative Kompetenzanmaßung oder legitimes Korrektiv?, NVwZ 2015, S. 537 ff. (539). 29  BVerfGE 142, 123 (173 ff. Rdnr.  80 ff.)  – OMT-Urteil; BVerfG, Urteil vom 30.07.2019  – 2 BvR 1685/14 und 2  BvR 2631/14, Rdnr.  115, juris  – Europäische Bankenunion. 30  Vgl. Monika Polzin, Verfassungsidentität, 2018, S. 149 ff. 31  Vgl. Proelß, Bundesverfassungsgericht (Anm. 25), S. 265; Sven Simon, Grenzen des Bundesverfassungsgerichts im europäischen Integrationsprozess, 2016, S. 244 f.

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von einer Hoheitsgewalt betroffen, die sie selbst nicht legitimiert haben  – diese Legitimation ist gerade durch die Zustimmung zu Art. 19 Abs. 1 Uabs.  1 Satz  2 EUV und Art. 344 AEUV bewirkt worden. Daher muss eine Verortung in der integrationsfesten Ewigkeitsgarantie ausscheiden. Führt dies dazu, dass der ultra-vires-Kontrolle nun jedes verfassungsrechtliche Fundament entzogen wäre? Nein. Die Struktursicherungsklausel des – häufig vom Bundesverfassungsgericht und auch in der Literatur vernachlässigten – Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG bezweckt eine Kontrolle der Entwicklungen auf Unionsebene: Die Bundesrepublik Deutschland wirkt zur Verwirklichung eines vereinten Europas bei der Entwicklung der Europäischen Union  – man könnte ergänzen: nur dann  – mit, wenn diese demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Kommt es nun unter Billigung des Europäischen Gerichtshofs zu völlig willkürlichen Kompetenzbegründungen, ist ein Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze denkbar.32 Hierauf bezogen ist also eine ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht möglich. 3. Kriterien der ultra-vires-Kontrolle Welche Voraussetzungen sind sodann für eine beachtliche ultravires-Handlung zu erfüllen? Zur Erinnerung: Das Bundesver­ fassungsgericht fordert zum einen die „Offensichtlichkeit“ des Verstoßes und zum anderen die strukturelle Bedeutung der Kompe­ tenzverletzung im Verhältnis der Europäischen Union zu ihren Mitgliedstaaten.33 Daneben hält es  – wegen des Grundsatzes der Europa­ rechts­ freundlichkeit des Grundgesetzes in begrüßenswerter Weise  – ein Vorabentscheidungsverfahren an den Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV für erforderlich, bei dem diesem 32  So auch Alexander Thiele, Die Integrationsidentität des Art. 23 Abs. 1 GG, EuR 2017, S. 367 ff. (373). 33  Vgl. BVerfG, Urteil vom 30.07.2019  – 2 BvR 1685/14 und 2  BvR 2631/14, Rdnr.  150 ff., juris  – Europäische Bankenunion.



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Gelegenheit gegeben wird, über die Kompetenzmäßigkeit der angegriffenen Unionshandlung zu judizieren.34 Wenn die Überzeugungskraft der Kriterien untersucht wird, so ergeben sich Fragen, die wieder mit Rekurs auf den OMT-Beschluss der Europäischen Zentralbank beantwortet werden sollen. So fragt es sich zum einen, was mit der „Offensichtlichkeit“ des Kompetenzverstoßes gemeint sein soll. Unbefangen dürfte man wohl auf den ersten Blick annehmen, dass durch dieses einschränkende Kriterium die Annahme des Vorliegens einer Kompetenzverletzung allgemein in der Rechtswissenschaft auf Zustimmung stößt  – doch dies entspricht nicht dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts: „Die Annahme einer offensichtlichen Kompetenzüberschreitung setzt allerdings nicht voraus, dass keine unterschiedlichen Rechtsauffassungen zu dieser Frage vertreten werden. Dass  – nicht selten interessierte  – Stimmen im Schrifttum, in der Politik oder den Medien einer Maßnahme Unbedenklichkeit attestieren, hindert die Feststellung einer offensichtlichen Kompetenzüberschreitung grundsätzlich nicht. ‚Offensichtlich‘ kann die Kompetenzüberschreitung auch dann sein, wenn sie das Ergebnis einer sorgfältigen und detailliert begründeten Auslegung ist. Insoweit gelten im Rahmen der Ultra-Vires-Kontrolle die allgemeinen Grundsätze (…).“35

Nur so war es möglich, im Vorlagebeschluss an den Europäischen Gerichtshof der Ansicht zu sein, dass das Offensichtlichkeitskriterium im Hinblick auf das OMT-Programm erfüllt sei  – obwohl zwei der acht Richter ein abweichendes Sondervotum36 abgaben und in der rechtswissenschaftlichen Literatur die Rechtmäßigkeit des OMT-Programms stark umstritten war und es wohl sogar ein Überwiegen derjenigen gab, die dem Programm Kompetenzmäßigkeit

34  BVerfGE 126, 286 (304)  – Honeywell; BVerfGE 142, 123 (204 f. Rdnr.  156 f.)  – OMT-Urteil. 35  BVerfGE 142, 123 (201 Rdnr. 150) – OMT-Urteil; ähnlich: BVerfG, Urteil vom 30.07.2019  – 2 BvR 1685/14 und 2  BvR 2631/14, Rdnr. 152, juris  – Europäische Bankenunion. 36  Siehe dazu die abweichende Meinung der Richterin Gertrude LübbeWolff, in: BVerfGE 134, 366 (419 ff. Rdnr. 105 ff.) – OMT-Vorlagebeschluss sowie die abweichende Meinung des Richters Michael Gerhardt, in: BVerfGE 134, 366 (430 ff. Rdnr.  133 ff.)  – OMT-Vorlagebeschluss.

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bescheinigten.37 Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts könne eine offensichtliche Kompetenzüberschreitung aber sogar dann vorliegen, wenn der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil eine „sorgfältige und detailliert begründete Auslegung“ vorgenommen hat. Besteht dann aber auch wirklich der ebenfalls proklamierte „Anspruch auf Fehlertoleranz“38 zugunsten des Europäischen Gerichtshofs? Bei einem derartigen Verständnis der Offensichtlichkeit entfaltet das Kriterium des Bundesverfassungsgerichts jedenfalls keine filternde Funktion. Auch was mit einer strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge zulasten der Mitgliedstaaten gemeint sein soll, wird nicht restlos klar. Das Bundesverfassungsgericht meint zwar, dass diese Voraussetzung dann erfüllt sei, wenn eine Vertragsänderung nach Art. 48 EUV oder die Inanspruchnahme einer Evolutivklausel erforderlich ist.39 Hier ließe sich allerdings fragen, ob nicht jede Kompetenzüberschreitung der Unionsstellen nur mithilfe einer Vertragsänderung oder der Inanspruchnahme einer Evolutivklausel wie der Kompetenzergänzungsklausel in Art. 352 AEUV legitimiert werden könne. Besonders befremdlich wirkt an den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Kriterien allerdings, dass diese schon vor dem Vorlagebeschluss erfüllt sein müssen. Es kommt mit anderen Worten  – und so ist es auch in Bezug auf den OMT-Beschluss geschehen  – nur dann zu einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof, wenn das Bundesverfassungsgericht zuvor der Ansicht ist, dass der 37  Für Unionsrechtsmäßigkeit: Christoph Herrmann, Die Bewältigung der Euro-Staatsschuldenkrise an den Grenzen des deutschen und europäischen Währungsverfassungsrechts, EuZW 2012, S. 805 ff. (809 ff.); Werner Heun, Eine verfassungswidrige Verfassungsgerichtentscheidung. Der Vor­ lagebeschluss des BVerfG vom 14.01.2014, JZ  2014, S. 331 ff. (333 ff.); Alexander Thiele, Das Mandat der EZB und die Krise des Euro, 2013, S.  58 ff. 38  BVerfGE 126, 286 (307)  – Honeywell; BVerfGE 142, 123 (201 Rdnr.  149)  – OMT-Urteil; BVerfG, Urteil vom 30.07.2019  – 2 BvR 1685/14 und 2 BvR 2631/14, Rdnr. 151, juris – Europäische Bankenunion. 39  BVerfGE 142, 123 (201 f. Rdnr.  151)  – OMT-Urteil; BVerfG, Urteil vom 30.07.2019  – 2 BvR 1685/14 und 2  BvR 2631/14, Rdnr.  153, juris  – Europäische Bankenunion.



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Kompetenzverstoß „offensichtlich“ und von „struktureller Bedeutung“ ist. In diesem Fall hat der Vorlagebeschluss aber etwas „aufoktroyierendes“  – worüber soll der Europäische Gerichtshof eigentlich noch entscheiden? Daneben kommt das Bundesverfassungsgericht in Erklärungsnot, wenn der Europäische Gerichtshof die Bedenken des Bundesverfassungsgerichts nicht teilt und – wie ebenfalls tatsächlich geschehen  – dem OMT-Programm vollumfassende Primärrechtsmäßigkeit attestiert40 und das Bundesverfassungsgericht sodann im Endurteil plötzlich doch keinen offensichtlichen Verstoß von struktureller Bedeutung mehr zu erkennen meint.41 Aus diesen Gründen sollte zumindest vor dem Vorlagebeschluss auf eine Subsumtion unter diese Kriterien verzichtet werden  – ausreichend muss es sein, dass das Bundesverfassungsgericht einen „offensichtlichen Verstoß von struktureller Bedeutung“ für im Bereich des Möglichen hält und sodann ein Vorabentscheidungsverfahren initiiert. Noch überzeugender dürfte es angesichts der aufgezeigten Mängel mit den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Kriterien sein, auf diese ganz zu verzichten. Vor dem Vorlagebeschluss muss das Vorliegen einer Verbandskompetenzverletzung in Bezug auf eine bestimmte Unionshandlung nur möglich, also nicht schlechterdings ausgeschlossen sein  – dies würde im Übrigen wegen der hohen Anforderungen im Rahmen der Nichtigkeitsklage für Individuen nach Art. 263 Uabs.  4 AEUV42 auch eine Stärkung des Individualrechtsschutzes bedeuten. Nach der Vorabentscheidung ist wegen der vorhin bereits erwähnten, durch das deutsche Zustimmungsgesetz in Bezug genommenen, Art. 19 Abs. 1 Uabs.  1 Satz  2 EUV und Art. 344 AEUV die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zu akzeptieren  – sie kann wegen der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz  1 GG, in der nach hier vertretener Ansicht die Befugnis zur ultra-vires-Kontrolle wurzelt, nur auf die Wahrung 40 

EuGH, Rs. C-62/14  – Gauweiler. BVerfGE 142, 123 (185 ff. Rdnr.  114 ff.)  – OMT-Urteil. 42  Hier insbesondere durch die strengen Kriterien der „Plaumann-Formel“ für ein individuelles Betroffensein i. S. d. Art. 263 Uabs.  4 Var.  2 AEUV, siehe dazu näher: Alexander Thiele, Europäisches Prozessrecht, 2.  Aufl. 2014, §  7 Rdnr.  55 ff. 41 

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rechtsstaatlicher Grundsätze hin untersucht werden. Damit ist gemeint, dass der Europäische Gerichtshof bei seinem Urteil in einem weiten Sinne methodengerecht vorgegangen sein muss  – unter Bezugnahme auf Rechtsnormen muss er sich mit den Argumenten der Beteiligten auseinandergesetzt und die Entscheidung kohärent abgefasst haben. Völlig willkürlichen, rechtsstaatswidrigen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs bleibt daher die Anwendbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland verwehrt. Mit diesem Prüfungsmaßstab geht aber zugleich die Feststellung einher, dass eine derartige Fehlentscheidung des Europäischen Gerichtshofs sehr unwahrscheinlich ist  – so verstanden ist die ultra-vires-Kontrolle im besten Sinne eine Residual- resp. Notfallkompetenz. IV. Verfassungsidentitätskontrolle 1. Allgemeines An dieser Stelle sei nun noch kurz der zweite bedeutsame Vorbehalt näher vorgestellt, den das Bundesverfassungsgericht sekundärem Unionsrecht entgegenzuhalten bereit ist: die Verfassungsidentitätskontrolle, die verschiedentlich bereits angeklungen ist und vom Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil aus dem Jahr 2009 kreiert wurde.43 Nach dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts dürfen Handlungen der Unionsstellen nicht die sogenannte Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG verletzen, also nicht die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung und vor allem nicht die in den Art. 1 und  20 GG niedergelegten Grundsätze berühren. Während eine Beeinträchtigung der Gliederung des Bundes in Länder respektive die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung durch Handlungen der Unionsstellen eigentlich kaum zu besorgen ist  – ein gegenteiliges hypothetisches Extrembeispiel wäre die in einer Verordnung enthaltene Ausrufung eines zentralistischen europäischen Einheitsstaates – rückt in den Mittelpunkt die Frage, was mit den in den Art. 1 und  20 niedergelegten Grundsätzen eigentlich 43 

BVerfGE 123, 267 (354)  – Lissabon.



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geschützt werden soll. Diesbezüglich meint der Richter am Bundesverfassungsgericht Peter M. Huber sehr treffend: „Was die Grund­ sätze der Art. 1 und  20 GG sind, weiß eigentlich niemand so genau.“44 Eines darf aber als relativ gesichert gelten: Da Art. 79 Abs. 3 GG keinesfalls als „Integrationsbollwerk“ interpretiert werden darf, der kleinschrittig eine Einzelfallkontrolle des Unionsrechts ermöglichen wollte, müssen diese Grundsätze in jedem Fall restriktiv ausgelegt werden.45 Keinesfalls wird jede Ausprägung des deutschen Demokratie- oder Rechtsstaatsprinzips integrationsfest vor Einwirkungen der Europäischen Union geschützt. 2. Geschützte Grundsätze des Art. 1 GG Auch hinsichtlich der geschützten Grundsätze des Art. 1 GG bestehen konzeptionell Unsicherheiten. Keinesfalls können, obwohl Art. 1 Abs. 3 GG die nachfolgenden Grundrechte anspricht, diese ebenfalls alle am Schutz der Ewigkeitsgarantie teilhaben, denn anderenfalls hätte der verfassungsgebende Gesetzgeber nicht nur die Grundsätze der Art. 1 und  20, sondern diejenigen der Art. 1 bis  20 GG geschützt. Hinsichtlich des Menschenwürdeschutzes aus Art. 1 Abs. 1 GG lässt sich eine Verengung des Schutzbereichs der Menschenwürde auf den Schutz ihrer Grundsätze allerdings kaum bewerkstelligen  – immer dann, wenn der enge Schutzbereich der Menschenwürde nach der „Objektformel“46 betroffen ist, dürften auch die Grundsätze des Art. 1 Abs. 1 GG tangiert sein. Dies ist wohl auch der Grund dafür, dass das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss aus dem Dezember 2015 in einem Fall, in dem die Menschenwürde eines auf der Grundlage des Europäischen Haftbefehls auszuliefernden US-Amerikaners betroffen war, den Verfas44  Peter M. Huber, Grundlagen und Grenzen der Mitgliedschaft Deutschlands in der Europäischen Union, in: Stumpf/Kainer/Baldus (Hrsg.), Privatrecht, Wirtschaftsrecht, Verfassungsrecht. Privatinitiative und Gemeinwohlhorizonte in der europäischen Integration. Festschrift für Peter Christian Müller-Graff zum 70. Geburtstag am 29. September 2015, 2015, S. 893 ff. (895 Anm. 10). 45  Polzin, Verfassungsidentität (Anm. 30), 149 ff. 46  Dazu Matthias Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Stand der 55.  Erg.-Lfg. (Mai 2009), Art. 1 Rdnr.  36.

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sungsidentitätsvorbehalt erstmalig aktivierte.47 Auf diesen, in der Begründung nicht immer kohärent abgefassten Beschluss soll aber nicht weiter eingegangen werden, sondern nur vor einer weiteren neuen Ausprägung gewarnt werden, die das Bundesverfassungsgericht im OMT-Urteil geformt hat: Der absolute Schutz der Ewigkeitsgarantie soll sich auch auf den Menschenwürdekern der anderen Grundrechte beziehen.48 Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob überhaupt jedes Grundrecht über einen Menschenwürdekern verfügt und falls ja, wie dieser beschaffen sein soll.49 Insgesamt droht bei einer derart weiten Interpretation der durch Art. 79 Abs. 3 in Art. 1 GG geschützten Grundsätze eine zu weitreichende Einzelfallkon­ trolle sekundären Unionsrechts anhand der deutschen Grundrechtsverbürgungen. 3. Geschützte Grundsätze des Art. 20 GG Die Grundsätze des Art. 20 GG hat das Bundesverfassungsgericht ebenfalls im OMT-Urteil fruchtbar gemacht: Aus dem Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 und  2 GG ergebe sich als wesentlicher Grundsatz die Haushaltsautonomie des Deutschen Bundestages, die durch eine Handlung der Unionsstellen nicht ausgehöhlt werden dürfe.50 Dies wurde im Urteil durch den beabsichtigten massiven Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank und befürchteter negativer Auswirkungen auf den Bundeshaushalt in Folge etwaiger Nachschusspflichten an die Deutsche Bundesbank diskutiert, letztlich aber nicht angenommen.51 Hinzuweisen ist an dieser Stelle, bei der es um das durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Demokratieprinzip geht, auch auf eine Verschleifung der beiden grundsätzlich voneinander losgelösten Zugriffsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts auf sekundäres 47 

Siehe dazu BVerfGE 140, 317 ff.  – Europäischer Haftbefehl II. BVerfGE 142, 123 (195 Rdnr.  138)  – OMT-Urteil. 49  Dazu Mathias Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte, 2019, passim. 50  BVerfGE 142, 123 (230 f. Rdnr.  210 ff.)  – OMT-Urteil. 51  BVerfGE  142, 123 (231 ff. Rdnr. 215 ff.)  – OMT-Urteil. 48 



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Unionsrecht: Die ultra-vires-Kontrolle solle nämlich in der Ausprägung des Schutzes der Volkssouveränität als wesentlichem Ausfluss des Demokratieprinzips gemäß Art. 20 Abs. 1 und 2 GG ebenfalls in der sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG wurzeln. Das verfassungsdogmatische Fundament ist also nach der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts für die beiden Kontrollvorbehalte dasselbe. Ob damit aber auch tatsächlich  – so wie man es prima facie annehmen könnte  – die ultra-vires-Kontrolle einen Unterfall des Verfassungsidentitätsvorbehalts darstellt, ist unklar.52 4. Kommunikation mit dem Europäischen Gerichtshof Ungeachtet dieser Frage ist aber auch beim Verfassungsidentitätsvorbehalt der Zugriff des Bundesverfassungsgerichts auf das sekundäre Unionsrecht keinesfalls zweifelsfrei. Vorhin wurde schon ausgeführt, dass nach dem Wortlaut des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG nur der Zustimmungsgesetzgeber bei der Ratifikation neuen europäischen Primärrechts adressiert wird  – dieser soll sicherstellen, dass nicht wesentliche Grundzüge der deutschen Verfassungsordnung durch einen geänderten Unionsvertrag ausgehöhlt werden. Daneben sind Unionshandlungen, die tiefe Eingriffe in die deutschen Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 GG bedeuten, eigentlich kaum vorstellbar. Demnach dürfte es näherliegen, eine Identitätskontrolle anhand der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz  1 GG vorzunehmen, die ja gerade die Entwicklungen auf Unionsebene in den Blick nimmt. Sollten Handlungen der Unionsstellen demokratische, rechtsstaatliche, soziale oder föderative Grundsätze oder den Grundsatz der Subsidiarität verletzen, bzw. sollte auf Unionsebene kein dem deutschen Grundrechtsschutzniveau im Wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz mehr gewährleistet sein, darf das Bundesverfassungsgericht intervenieren. Diese Grundsätze  – das sei konzediert – können nur durch eine Einzelfallrechtsprechung konkretisiert werden, da die in Betracht kommenden Konstellationen zu vielgestaltig sind. 52  Siehe für die nicht gänzlich kohärenten Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts nur BVerfG, Urteil vom 30.07.2019 – 2 BvR 1685/14 und 2  BvR 2631/14, Rdnr.  204 f., juris  – Europäische Bankenunion.

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Dabei sollte auch ein enger Dialog mit dem Europäischen Gerichtshof geführt werden. Denn auch die Unionsstellen – einschließlich des Europäischen Gerichtshofs selbst – sind unionsrechtlich wegen Art. 4 Abs. 2 Satz  1 EUV zur Achtung der jeweiligen mitgliedstaatlichen Identität verpflichtet, die wesentlich in ihren verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt. Der Europäische Gerichtshof ist auch durchaus in seiner Rechtsprechung dazu bereit, auf die nationale Verfassungsidentität Rücksicht zu nehmen: In einem Urteil aus dem Dezember 201753 behauptete er beispielsweise den Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht vor italienischen Verjährungsvorschriften, denen nach italienischem Recht im Unterschied beispielsweise zum deutschen Recht materieller Gehalt zukommt  – deswegen hatte der italienische Verfassungsgerichtshof Zweifel wegen der Wahrung des Gesetzlichkeitsprinzips bei deren Nichtanwendung angemeldet, denen der Europäische Gerichtshof abhalf. Identitätsschutz lässt sich also am besten in Kooperation mit der Europäischen Gerichtsbarkeit herstellen. Zur Intensivierung des Dialogs mit den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten und zur Konkretisierung des Gewährleistungsbereichs von Art. 4 Abs. 2 Satz  1 EUV könnte auch angedacht werden, in einem Vertragsänderungsverfahren eine Vorlageverpflichtung des Europäischen Gerichtshofs an die nationalen Verfassungs- und Höchstgerichte einzuführen, wenn die nationale Identität eines Mitgliedstaats betroffen sein könnte.54 V. Ergebnis Zusammenfassend hat sich also gezeigt, dass die vom Bundesverfassungsgericht in Anspruch genommenen Residualkompetenzen der ultra-vires-Kontrolle und des Verfassungsidentitätsvorbehalts verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden können. Sie erlauben aber nur eine sehr begrenzte Kontrolle abgeleiteten Unionsrechts und sind daher im besten Sinne Auffangzuständigkeiten, deren Gebrauch im besten Fall nie notwendig ist. Denn sollte tatsächlich einmal die Anwendung der Reservekompetenzen erforderlich werden, geht da53 

EUGH, Rs. C-42/17  – M.A.S. und M.B. Nach Simon, Grenzen des Bundesverfassungsgerichts (Anm. 31), 293 handelt es sich dabei um einen „bedenkenswerten Ansatz“. 54 



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mit immer die Möglichkeit eines unlösbaren Konflikts mit der Europäischen Union einher, die ein wohl begründetes Vertragsverletzungsverfahren anstrengen könnte. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, in welchem eine Vertragsverletzung dann festgestellt wurde, dürfte konsequenterweise ebenfalls einen ultra-vires-Akt respektive eine Verfassungsidentitätsverletzung darstellen und damit droht eine Eskalationsspirale in den Gang gesetzt zu werden, die nur schwer wieder entschärft werden könnte. Schon wegen dieser unabsehbaren Folgen sollte das Bundesverfassungsgericht nur im äußersten Fall von den angedrohten Residualkompetenzen Gebrauch machen und ansonsten auf eine enge Kooperation und Kommunikation insbesondere mit dem Europäischen Gerichtshof setzen. VI. Ausblick: Der Fall Egenberger Zum Abschluss dieser Ausführungen sei noch auf den erst vor kurzem beim Bundesverfassungsgericht anhängig gemachten Fall Egenberger eingegangen. In diesem, das kirchliche Arbeitsrecht betreffenden Fall scheint die Aktivierung der bundesverfassungsgerichtlichen Reservekompetenzen nicht ausgeschlossen zu sein. Kurz zum Sachverhalt: Frau Egenberger bewarb sich um eine Referentenstelle bei der Diakonie für die Erstellung eines Parallelberichts zu einem internationalen Abkommen der Vereinten Nationen. Diese Stellenausschreibung verlangte von den Bewerberinnen und Bewerbern die Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche. Da die konfessionslose Frau Egenberger nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurde – worin sie eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung sah – verklagte sie die Diakonie auf Zahlung einer Entschädigung auf der Grundlage des §  15 Abs. 2 AGG. Bei der Auslegung des §  9 Abs. 1 AGG, der eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion zulässt, ging es auch um das Verständnis des diesem Paragraphen zugrundeliegenden Art. 4 Abs. 2 Uabs.  1 der Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG. Daher rief das Bundesarbeitsgericht im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens den Europäischen Gerichtshof an und wollte wissen, ob die bis dahin von den deutschen Gerichten praktizierte  – und vom Bundesverfassungsgericht wegen Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 Satz 1 Weimarer Reichsverfassung vorgegebene – bloße Plausibilitätskontrolle für die Frage, ob

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die Konfessionszugehörigkeit für die berufliche Tätigkeit „wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt“ ist, unionsrechtskonform sei. Dies verneinte der Europäische Gerichtshof:55 Es sei eine effektive gerichtliche Kontrolle nötig, die die Belange der Religionsgemeinschaften mit dem Interesse des Einzelnen, keinen Diskriminierungen aufgrund der Religion ausgesetzt zu sein, abwiegen müsse. Die Begründung des Europäischen Gerichtshofs für sein Urteil war allerdings teilweise sehr knapp und kryptisch  – nahezu apodiktisch. Die Beschwerdeführerin rügt daher mit ihrer Verfassungsbeschwerde, dass der Europäische Gerichtshof entgegen der Bestimmung in Art. 17 AEUV ein Wesensmerkmal des deutschen Staatskirchenrechts aushebelte. Nach Art. 17 Abs. 1 AEUV achtet die Union nämlich den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt diesen Status nicht. Stellt das Urteil des Europäischen Gerichtshofs daher nach den referierten Kriterien des Bundesverfassungsgerichts nun einen ultra-vires Akt dar? Vertreten wird, dass Art. 17 AEUV letztlich als „negative Kom­ petenznorm“56 resp. „Bereichsausnahme vom Unions­ recht“57 den Mitgliedstaaten einen Bereich autonomer Handhabung der wesentlichen Bereiche des Staatskirchenrechts gewähre und dass hiervon gerade auch nationale Besonderheiten wie das kirchliche Arbeitsrecht und die hieraus gefolgerte Rücknahme der gerichtlichen Kontrolldichte erfasst seien. Dafür spreche zunächst der klare Wortlaut (Achtung und noch schärfer: Nichtbeeinträchtigung), und vor allem auch die Entstehungsgeschichte der Norm:58 Diese wurde gerade auf Initiative der großen christlichen Kirchen in Europa (maßgeblich der deutschen Kirchen mit Unterstützung von Helmut Kohl) in das 55 

EuGH, Rs. C-414/16  – Egenberger. Claus Dieter Classen, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.): Das Recht der Europäischen Union, Stand der 68. Erg.-Lfg. (Oktober 2019), Art. 17 AEUV Rdnr.  3. 57  Stefan Greiner, Neuausrichtung des Kirchenarbeitsrechts durch den EuGH? Die Rechtssache Egenberger, jM 2018, S. 233 ff. (233). 58  Vgl. Michael Lysander Fremuth, Das letzte Amen ist noch nicht gesprochen. Zum kirchlichen Selbstbestimmungs- und Arbeitsrecht im grundund menschenrechtlichen Mehrebenensystem, EuZW 2018, S. 723 ff. (729). 56 



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Unionsrecht und letztlich in den Vertrag von Lissabon aufgenommen. Einen so weitreichenden Eingriff in das mitgliedstaatliche Staatskirchenrecht, wie ihn das Egenberger-Urteil des Europäischen Gerichtshofs darstellt, wollten die Mütter und Väter der Verträge gerade verhindert wissen. Kritisiert werden auch „handwerkliche“ Mängel im Urteil des Europäischen Gerichtshofs: Weil dieser in gerade einmal drei Randnummern auf Art. 17 AEUV eingegangen ist, verfehle er die Anforderungen an eine rechtsstaatlichen Erfordernissen genügende Begründung. Bedenklich sei auch die Annahme, der Richtliniengeber habe mit der Ausnahmebestimmung zugunsten kirchlicher Arbeitgeber den Auftrag des Art. 17 AEUV vollumfänglich erfüllt. Dies laufe auf eine Auslegung des Primärrechts durch das Sekundärrecht hinaus und verstoße damit gegen den Grundsatz vom Vorrang der Verfassung/des Primärrechts.59 Diese Kritik mag in Teilen berechtigt erscheinen  – überzeugend sind allerdings die Gegenargumente zur Auslegung des Art. 17 ­AEUV: So kann argumentiert werden, der „Status“ der Kirchen umfasse allenfalls ganz grundlegende Pfeiler des Staatskirchenrechts wie beispielsweise die Entscheidung zur Trennung von Staat und Kirche, aber gerade nicht Einzelheiten des kirchlichen Arbeitsrechts. Daneben handelt es sich bei Art. 17 AEUV nicht um eine negative Kompetenznorm.60 Vielmehr stellt die Norm nur einen Abwägungsbelang ohne relativen Vorrang dar. Denn nicht zu vergessen ist, dass der Europäischen Union in Art. 19 AEUV die Befugnis eingeräumt ist, Diskriminierungen gerade auch aufgrund der Religion zu bekämpfen  – insofern kann es notwendigerweise zu einer Beeinträchtigung auch des Religionsverfassungsrechts kommen. Art. 19 AEUV und Art. 17 AEUV müssen dann einem schonenden Ausgleich im Sinne der Herbeiführung praktischer Konkordanz zugeführt werden.61

Vgl. Fremuth, Das letzte Amen (Anm. 58), 729. Thomas Klein/Ammar Bustami, Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung bei kirchlichen Arbeitgebern. Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG nach den Urteilen in den Rs. Egenberger und IR, ZESAR 2019, S. 18  ff. (19  f.); Christian Waldhoff, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV  – Kommentar, 5.  Aufl. 2016, Art. 17 AEUV Rn. 13. 59  60 

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Es fehlt daher wohl bereits an einer Kompetenzverletzung; jedenfalls muss die „Offensichtlichkeit“ derselben ausscheiden – ein ultravires-Akt des Europäischen Gerichtshofs liegt mithin nicht vor. 61

Neben dem Vorliegen einer ultra-vires-Handlung dürfte die evangelische Kirche auch einen Verfassungsidentitätsverstoß wegen einer Verletzung der demokratischen Selbstgestaltungsfähigkeit rügen. Dabei könnte sie sich auf eine Passage im Lissabon-Urteil berufen, der zufolge dem Deutschen Bundestag ausreichende Entscheidungsbefugnisse verbleiben müssen, da anderenfalls der Wahlakt des Bürgers entwertet und sein Recht auf demokratische Teilhabe verletzt sei.62 Dabei hat das Bundesverfassungsgericht insbesondere das Verhältnis des Staates zu den religiösen Gemeinschaften als nicht übertragbaren Kompetenzbereich der Bundesrepublik genannt.63 Freilich gilt auch hier die Frage: Wie weit reicht diese Verbürgung und sind zwingend auch die Einzelheiten des kirchlichen Arbeitsrechts garantiert? Die besondere Schwierigkeit liegt daneben in der Tatsache, plausibel zu machen, wie die kirchliche Selbstverwaltungsautonomie durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützt wird. Sich dem über das Demokratieprinzip zu nähern, so wie es das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil unternommen hat, scheint wenig überzeugend; die kirchliche Selbstverwaltungsgarantie als ungeschriebenen Grundsatz des Art. 20 GG aufzufassen, recht gewagt. Eine Berufung auf die Betroffenheit der Verfassungsidentität im bundesverfassungsgerichtlichen Verfahren dürfte aber nichtsdestotrotz mehr Erfolg versprechen. Von einer offenkundigen Kompetenzüberschreitung als Grundvoraussetzung für einen ultra-vires-Akt kann das Bundesverfassungsgericht wohl nicht ausgehen. Der Verfassungsidentitätsvorbehalt hingegen ist in der Rechtsprechung wohl bewusst relativ offen und weit gehalten und könnte  – was hier freilich nicht befürwortet wird  – dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs entgegengehalten werden. 61  Klein/Bustami, Ungleichbehandlung (Anm. 60), 20; Waldhoff, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV  – Kommentar, 5.  Aufl. 2016, Art. 17 AEUV Rn. 13. 62  BVerfGE 123, 267 (356 ff.)  – Lissabon. 63  BVerfGE 123, 267 (363)  – Lissabon.

Quo vadis Europa? Zur Ausbalancierung des Verhältnisses von Mitgliedstaaten und Europäischer Union Von Volker Kronenberg*

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I. Neue Perspektiven auf ein immer wiederkehrendes Thema der europäischen Integrationsgeschichte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 1. Die EU und ihre Mitgliedstaaten: Ein recurring topic der europäischen Integration  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 2. Ein Blick zurück nach vorn: Der Wert von Europas Gemeinschaftsverfassung sui generis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 3. Der Schatten des Populismus wächst im Licht des Friedens: Das sui-generis-Paradoxon  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 II. Quo vadis Europa?  – Empirische Befunde   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 1. Zufriedenheit mit der EU  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 2. Einstellungen zur Zukunft der EU  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 3. Wahlen zum EU-Parlament  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 4. Präsenz Europas  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 III. Heimat  – Patriotismus  – Europa  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 1. Europa der Vaterländer vs. Vaterland Europa  . . . . . . . . . . . . . . . . 227 2. Das Konzept des Patriotismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 3. Heimat und Heimatlichkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 4. Patriotismus in Europa  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 IV. Fazit: Plädoyer für einen europäischen Realismus   . . . . . . . . . . . . . . 233

*  Für die ausgezeichnete Unterstützung bei der Anlage und der Abfassung des Textes danke ich meinen Wissenschaftlichen Mitarbeitern Jakob Horn­eber und Christopher Prinz sehr.

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I. Neue Perspektiven auf ein immer wiederkehrendes Thema der europäischen Integrationsgeschichte 1. Die EU und ihre Mitgliedstaaten: Ein recurring topic der europäischen Integration Seien es, ganz zu Beginn, schon 1946, die „United States of Europe“1, von denen Sir Winston Churchill nur ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in seiner Züricher Rede sprach, über die nicht minder prominente und nach wie vor gleichsam häufig bemühte Chiffre des „Europe des patries“2 Charles de Gaulles und, ja, auch Paul Kirchhofs nüchternen und zugleich prägenden Neologismus des „Staatenverbundes“3 bis hin zur beinahe schillernden Begrifflichkeit der „Europäischen Republik“4, der erst in der jüngsten Vergangenheit in den Feuilletons nicht nur dieser Republik durch zahlreiche Für- und Widerreden aus wissenschaftlich interessierten wie politisch motivierten Kreisen eine überaus hohe Publizität zuteil wurde: Wie kaum ein zweiter Betrachtungsgegenstand zeichnet das Verhältnis von Europa  – oder: der Europäischen Union, vor ihr der Europäischen Gemeinschaft und vor ihr wiederum den Gemeinschaften, aus denen diese hervorging  – und ihren Mitgliedstaaten eine kontinuierliche Linie. Dies nicht nur durch die europapolitischen Debatten seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) im Jahre 1952. Auch die Rechts-, Staatsund Politische Wissenschaft befleißigt sich seither mit diesem Reflexionsobjekt europäischer Integrationsforschung  – oftmals nicht, ­ohne sich dabei in Affirmation oder Opposition zu einer wie auch immer gearteten, als erstrebenswert oder gefährlich, unrealistisch 1  Vgl. Winston Churchill: The United States of Europe, 19. September 1946, Universität Zürich, in: https://winstonchurchill.org/resources/ speeches/1946-1963-elder-statesman/united-states-of-europe/. 2  Vgl. Institut national d’audiovisuel: Charles de Gaulle „L’Europe d’patries“, 15. Mai 1962, in: https://www.ina.fr/video/I00012372. 3  Vgl. BVerfGE 89, 55. 4  Vgl. Ulrike Guérot, Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie, 2016.



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oder notwendig erachteten Finalitätsvorstellung genau dieses Projektes zu begeben. Vor allem aber sind die eingangs angeführten Begrifflichkeiten als semantische Wegmarken der Geschichte des gemeinsamen „Hauses Europa“ und seiner erst sechs, dann neun, zwölf und inzwischen 27 Mitgliedstaaten zu deuten, die, wie alle Geschichte, nie als linearer Prozess verlaufen ist. Von Frankreichs „politique de la chaise vide“ Mitte der 1960er Jahre über die „Eurosklerose“ in den 1970er und 1980er Jahren bis hin zur heutigen „Verblockung“ vor allem der intergouvernementalen Institutionen im politischen System der EU über eine gegenwärtig so elementare Frage wie jene der Migration: Die zahlreichen, in ihrem Ausgang zum gegebenen Zeitpunkt stets ergebnisoffen gewesenen, unregelmäßigen „Konjunkturen“ von Integration und Stagnation sind wohlbekannt, vielfach instruktiv verhandelt worden5 und aktualisieren  – historia magistra vitae  – unser Verständnis des Prozesses der Integration der europäischen Staaten fortwährend aufs Neue. Und gleichwohl alle diese Episoden des Aufschwungs, des Abschwungs, der Hochkonjunktur und der Depression in der europäischen Integrationsgeschichte in ihren Ursachen je unterschiedlich und nur multikausal zu erklären sind, so stellt das Spannungsverhältnis zwischen den partikularen Interessen eines Mitgliedstaates der EWG, der EG oder der EU zum Projekt Europa, oft formuliert als nationales Interesse, und seiner Ausbalancierung ein wiederkehrendes Motiv sowohl in der Gesamtheit ihrer Ursachen, als auch ihrer Folgen für das „Projekt Europa“ dar. Es besteht zumindest bisher kein Anlass, der Beobachter, die dieses Projekt kritisch, skeptisch, realistisch oder wohlwollend verfolgen, zu einer gegenteiligen Einschätzung verleiten dürfte. Mithin ist in dieser seit den Römischen Verträgen fortlaufenden Debatte auch  – frei nach Karl Valentin  – keineswegs schon alles und nur noch nicht von jedem gesagt worden. Vielmehr ist es lohnend, das sich stets wandelnde Verhältnis zwischen der Europäischen Union, ihren Mitgliedstaaten und die rechtlichen 5  Vgl. etwa für eine anschauliche Abhandlung der Geschichte Europas bis zum Maastrichter Vertrag als eine „Krisengeschichte“ dazu das nach wie vor lehrreiche Werk von Karl Dietrich Bracher, Die Krise Europas seit 1917, aktual. Ausg. 1993.

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wie politischen und historischen Kategorien, die dieses Verhältnis prägen, auch stets aufs Neue und aus unterschiedlichen Perspektiven in Betracht zu nehmen. 2. Ein Blick zurück nach vorn: Der Wert von Europas Gemeinschaftsverfassung sui generis Die eingangs angeführten Schlagworte spiegeln dies bereits wider und könnten noch um die Begriffe des Staatenbundes und des Bundesstaates ergänzt werden: Der neuralgische Punkt der Ausbalancierung des Verhältnisses zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten besteht letztlich in der kategorialen Frage nach der Existenz und  – sofern diese bejaht werden kann  – nach der Qualität einer europäischen Eigenstaatlichkeit und mithin dem Rechtscharakter, dem „Wesen“ der EU. Instruktiv ist in diesem Zusammenhang die Replik Jochen Abraham Froweins als damaliger Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht auf das MaastrichtUrteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1993. Angesichts der Begriffsprägung des „Staatenverbundes“, die von diesem Urteil ausging, fragte sich Frowein, ob dem Gericht entgangen sei, dass „[e]s (…) der ganze Sinn der integrierten Entwicklung der europäischen Gemeinschaften [gewesen sei], eben nicht eine allein gouvernemental bestimmte Zusammenarbeit festzulegen, sondern durch spezifische, mit besonderen Mandaten ausgestattete Organe ein Gemeinschaftsverfassungssystem ins Leben zu rufen“,6

das, wie das Bundesverfassungsgericht 1967 beschied, zwar weder Staat noch Bundesstaat sei, aber eine neue öffentliche Gewalt begründet habe, „die gegenüber der der Staatsgewalt der einzelnen Mitgliedstaaten selbstständig und unabhängig ist“.7 Insbesondere in der Folge des Maastrichter Vertrages sahen sich Rechts- und Politische Wissenschaft mit der Herausforderung konfrontiert, diesem europäischen Gemeinwesen, das sich weder als 6  Jochen Abraham Frowein, Das Maastricht-Urteil und die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, 1994, S. 1 ff. (6). 7  Frowein, Das Maastricht-Urteil (Anm. 6), 1.



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Staatsgebilde im Weber’schen Sinne,8 noch als ein zwischenstaatliches Regime bar jedweder Staatsqualität kategorisieren ließ,9 ein Prädikat zu geben. Erhellender noch – zumindest an dieser Stelle hier – als die direkte Beschäftigung mit der Frage nach der Staatlichkeit der EU in ihrem Verhältnis zu den sie konstituierenden Mitgliedstaaten ist ein Blick auf die Genese beider historischer Subjekte, die sich durch einen entscheidenden Unterschied auszeichnet: Denn während nach Dieter Langewiesche  – als historischer Befund und nicht als Werturteil  – „[n]ahezu alle Nationalstaaten (…) Kriegsgeschöpfe [sind], hervorgegangen aus Staatenkriegen oder Revolutionskriegen“10, ziele der institutionalisierte europäische Integrationsprozess infolge der Erfahrungen des Ersten, insbesondere des Zweiten Weltkrieges zum einen darauf ab, zwischenstaatliche Konflikte in Europa künftig zu vermeiden und folgerichtig zum anderen in der Ausformung dieses institutionalisierten europäischen Gemeinwesens selbst mit „einer Hauptlinie [nicht nur] der europäischen Geschichte“11 zu brechen, in der „Staatlichkeit stets mit den Mitteln der Gewalt geformt“12 worden war. Nach Langewiesche trennt die damit verbundene „Bereitschaft von Staaten, in einem offenen Prozess, dessen Verlauf nicht entlang historischer Erfahrungen eingeschätzt werden kann, eine Institutionenordnung zu schaffen, die Gemeinschaftsinteressen formuliert und sie gegenüber den Mitgliedsstaaten notfalls mit Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes durchsetzt, (…) die EU scharf von der Geschichte

8  Nach Max Weber konstituiert sich ein Staat und mithin Staatlichkeit aus dem Wesensmerkmal des legitimen Monopols physischer Gewalt auf einem bestimmten Territorium heraus – ein Wesensmerkmal, das die EU für sich auf ihrem Unionsgebiet zweifelsohne nicht für sich beanspruchen kann. Vgl. dazu Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Studienausgabe, 5. Aufl., 1972, S. 822. 9  Vgl. Tanja Börzel, EU-Staatlichkeit wie viel und wozu? Berliner Arbeitspapier zur Europäischen Integration Nr. 16, 2013, S. 4 ff. und 8 f. 10  Dieter Langewiesche, Nationalstaaten und Europäische Union – historische Vorbilder für eine staatspolitische Innovation?, ZSE 2009, S. 348 ff. (349). 11  Langewiesche, Nationalstaaten (Anm. 10), 351. 12  Langewiesche, Nationalstaaten (Anm. 10), 351.

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aller Nationalstaaten. Die Vergangenheit bietet nichts, was sich damit vergleichen ließe.“13

Statt an dieser Stelle nun den Artikel 5 des Vertrages über die Europäische Union zu rezitieren und die in diesem verankerten normativen Leitsätze für die Rechtsetzung der EU  – die Prinzipien der begrenzten Einzelermächtigung, der Subsidiarität, der Verhältnismäßigkeit  – und die sie ausbuchstabierenden Protokolle zu explizieren, ist eben diese „Originalität“14 der Union mit Blick auf die Ausbalancierung des Verhältnisses zwischen der EU selbst und ihren Mitgliedstaaten, wie zu zeigen sein wird, deutlich aufschlussreicher: Sie verweist im Wortsinn auf die in der jüngeren Vergangenheit eher gemiedene und von Josef Isensee15 einst als ein Ausdruck der Unzulänglichkeit der Jurisprudenz, ihrem komplexen, vertraglich verfassten Rechtscharakter mit deren terminologischen Arsenal habhaft zu werden, gedeutete Bezeichnung der EU insbesondere durch Armin von Bogdandy als ein „Gebilde sui generis“16: „Die sui-generis-Natur (sic!)“17, so schreibt von Bogdandy, „beruht darauf, dass die Mitgliedstaaten zumeist entwickelte und identitätsbewusste Nationalstaaten sind, die zwar ein europäisches Gemeinwesen wollen, ohne aber zu nachgeordneten Gebietskörperschaften eines europäischen Bundesstaates zu mutieren. Dieses Verständnis unterliegt bereits der ersten Bestimmung des Unionsvertrages (Art. 1 Abs. 1 und 2 EU), und zwar in besonderer Deutlichkeit unter dem Vertrag von Lissabon (Art. 1 Abs. 1 EUV-Liss.).“18

Selbstredend ist Geschichte, wie eingangs angeführt, ein prinzipieller offener Prozess, in dem sich zwar epochenübergreifend Muster Langewiesche, Nationalstaaten (Anm. 10), 352. Langewiesche, Nationalstaaten (Anm. 10), 353. 15  Vgl. Josef Isensee, Europäische Nation? Die Grenzen der politischen Einheitsbildung Europas, in: Decker/Höreth (Hrsg.), Die Verfassung Europas. Perspektiven des Integrationsprojekts, 2009, S. 254 ff. (255). 16  Armin von Bogdandy, Die Verfassung der europäischen Integrationsgemeinschaft als supranationale Union, in: von Bogdandy. (Hrsg.), Die Europäische Option, 1993, S. 97 ff. (120). 17  Armin von Bogdandy, Grundprinzipien, in: von Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2.  Aufl. 2009, S. 13 ff. (32). 18  von Bogdandy, Grundprinzipien (Anm. 17), 32. 13  14 



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identifizieren lassen, jedoch ohne, dass sich Vergangenes zwangsläufig wiederholen müsste, der vor allem aber kein Ende kennt – und es mithin nicht ausgeschlossen ist, dass sich der Nationalstaat auf der einen und die EU auf der anderen Seite in ihren gegenwärtigen Formen überleben könnten. Gerade aber die fortwährende und beinahe unbestrittene Apostrophierung der europäischen Integration als ein „Friedensprojekt“ verweist darauf, dass zum einen die historischen Kriegserfahrungen in den nationalen Öffentlichkeiten der Mitgliedstaaten in Bezug auf europäisches politisches Denken nach wie vor von Relevanz ist.19 Zum anderen  – und für die Frage nach der Ausbalancierung des Verhältnisses von EU und ihren Mitgliedstaaten entscheidender – spricht aus der vertraglichen Verfassung der Union die auf diesen Erfahrungen basierende kollektive Perzeption der europäischen Eliten, dass, eben weil dieser Weg, den die EU beschreitet, „in der Vergangenheit nirgendwo einen Vorläufer [hat]“,20 dieser pax Europae sowohl gegenüber einer Verstaatlichung der EU einer- und ihrer Desintegration andererseits einzig und allein im Modus Vivendi des sui-generis-Konstruktes am sichersten verbürgt ist. Die politische Praxis dieses Gebildes „eigener Art“  – das langund mühsame Austarieren von europäischen Gemeinschafts- und solchen Interessen, die von mitgliedstaatlichen Akteuren als national deklariert werden  – ist folglich viel weniger das Ergebnis, sondern vor allem die gegenwärtig grundlegendste Voraussetzung für das Gelingen europäischer Integration.

19  Dem weitbekannten Diktum Baruch de Spinozas, Frieden sei mehr als die bloße Abwesenheit von Krieg, dürfte wohl kein real existierendes politisches Gemeinwesen entsprechen – auch nicht die 2012 für ihren über sechs Jahrzehnte reichenden Beitrag zur Förderung des Friedens, der Versöhnung, der Demokratie und der Menschenrechte in Europa mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete EU. Vgl. The Nobel Prize, European Union (EU). Facts, 2012, in: https://www.nobelprize.org/prizes/peace/2012/eu/facts/. Freilich könnte auch die EU  – wie jedes andere real existierende politische Gemeinwesen  – kaum dem Diktum Baruchs de Spinozas entsprechen, nach dem Friede mehr sei als die Abwesenheit von Krieg. 20  Langewiesche, Nationalstaaten (Anm. 10), 353.

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3. Der Schatten des Populismus wächst im Licht des Friedens: Das sui-generis-Paradoxon Zugleich – und dies könnte als das sui-generis-Paradoxon bezeichnet werden  – ist es eben dieses sich im Verhältnis der EU zu ihren Mitgliedstaaten konstituierende „Zwitterwesen“ der Union, das auf der einen Seite zwar den Frieden und nicht zuletzt den Wohlstand in Europa verbürgt, aufgrund seiner Anfälligkeit für „Verblockungen“, der systemimmanenten Langsamkeit der mit ihm verbundenen Aushandlungsprozesse, der Komplexität der in eben diesen Aushandlungen produzierten „Paketlösungen“ und nicht zuletzt auch aufgrund seiner „typologischen Distanz“ zu den politischen Systemen seiner Mitgliedstaaten, die die Entscheidungsfindung auf Ebene der EU für die meisten Unionsbürger kaum nachvollziehbar werden lassen. Folglich ist es auf der anderen Seite jedoch mit ursächlich für das Legitimationsdefizit der EU und mithin Anlass für konstruktive Kritik. Zum anderen bietet es Auftrieb für politische Kräfte, die in destruktiver Opposition zum europäischen Integrationsprojekt als Ganzem stehen. So mehrten sich  – um nur einige prominente Beispiele für die konstruktive Kritik am europäischen Integrationsprojekt anzuführen – in den Politischen und Rechtswissenschaften in den vergangenen Jahren die Stimmen, die etwa mit Wolfgang Streeck von linker Seite im Ideal der europäischen Einigung durch die europäischen Bürger einen deutschen Traum von „neoliberale[r] Grenzenlosigkeit“21 erkennen oder von anderer Seite mit Udo Di Fabio bereits im Hinblick auf die gegenwärtige Verfassung der Union vor einem „Zentralisierungsfuror“22 warnen. Selbstredend muss sich an dieser Stelle beeilt werden, hinzuzufügen, dass die mit der Begrifflichkeit der destruktiven Opposition implizierten „Beinahe“- und tatsächlichen Wahlerfolge der Brexiteers im Juni 2016, Le Pens bei der fran21  Wolfgang Streeck, Nicht ohne meine Nation, 26.04.2017, in: https:// www.zeit.de/2017/18/europaeische-union-nationalstaat-deutschland-neo liberalismus/komplettansicht. 22  Udo Di Fabio, zit. nach Reinhold Michels, Wer Europa liebt, ist gegen einen „Zentralisierungs-Furor“, 02.07.2014, in: https://rp-online.de/kultur/ wer-europa-liebt-ist-gegen-einen-zentralisierungs-furor_aid-20326537.



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zösischen Präsidentschaftswahl im Mai 2017 sowie die parlamentarische Etablierung der Alternative für Deutschland (AfD) im Herbst desselben Jahres  – die Aufzählung ließe sich problemlos fortführen  – nur auf eine verbreitete Unzufriedenheit mit der EU zurückzuführen seien. In Komplizenschaft mit den die Union als Rechtsund Wertegemeinschaft offen herausfordernden mitgliedstaatlichen Regierungen Polens um Jarosław Kaczyński und Ungarns um Viktor Orbán sowie – wenn auch, insbesondere nach den Parlamentswahlen in Spanien im Frühjahr und in Griechenland im Sommer 2019, in zunehmend geringerem Maße – mit einem ebenfalls euroskeptischen Linkspopulismus stellen sie jedoch zweifelsohne das europäische Integrationsprojekt mindestens in seiner gegenwärtigen Verfassung infrage, setzen dort, wo sie nicht selbst (mit-)regieren, ihre nationalen Regierungen unter Druck und streuen Sand ins Getriebe der Union, wo sie selbst mit am Brüsseler Verhandlungstisch sitzen – so die verbreitete Lesart. Es scheint also kaum verwunderlich, dass vor den Wahlen zum Europäischen Parlament am 16. Mai 2019 immer wieder von einer „Schicksalswahl“ die Rede war. Gerade im Nachgang einer solchen Wahl erscheint es jedoch besonders erhellend, den Blick von allzu exklamatorischen Zustandsbeschreibungen und Zukunftsprojektionen Europas abzuwenden und sich mit den Einstellungen der Unionsbürger zu „ihrer“ Union zu befassen. Denn sofern wir die EU trotz ihrer eigentümlichen Gestalt als ein demokratisches Gemeinwesen verstehen möchten, in dem die Bürgerinnen und Bürger nicht sujets, sondern citoyens ihrer Nationalstaaten und der EU sind, sind sie es letztlich, von denen  – ob vermittelt durch ihre Repräsentanten im Europäische Parlament oder die mitgliedstaatlichen Regierungen im Rat  – als „doppelte“ Souveräne die legale politische Macht Europas ausgeht. II. Quo vadis, Europa? – Empirische Befunde 1. Zufriedenheit mit der EU Tatsächlich, das wissen wir, ist es um die Zufriedenheit mit der EU aktuell gar nicht schlecht bestellt. Nach Daten des Eurobarometers befindet sich ihr Ansehen Mitte 2019 auf einem Langzeithoch:

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45 % der Befragten geben an, ein positives Bild von der EU zu haben  – ein Wert, der zuletzt vor knapp zehn Jahren erreicht wurde. Lediglich 17 % sehen die EU mehrheitlich in schlechtem Licht. Während in allen Mitgliedsstaaten höhere Positiv- als Negativwerte erreicht werden, klafft der Abstand zwischen sehr EU-begeisterten Staaten wie Irland, Rumänien und Portugal mit jeweils mindestens 60 % Zustimmungsquote und Staaten wie Tschechien, Griechenland, aber auch Frankreich mit nur um die 30 % Positiv-Meinungen allerdings deutlich auseinander.23 Bemerkenswert hoch ist das Institutionenvertrauen in die EU, das mit aktuell 44 % nicht nur ebenfalls den höchsten seit zehn Jahren gemessenen Wert erreicht, sondern zudem im Durchschnitt zehn Prozentpunkte höher als das in die jeweiligen nationalen Regierungen und Parlamente gesetzte Vertrauen liegt. Indes fallen auch hier die Einzelergebnisse deutlich unterschiedlich aus: Großbritannien, Griechenland und Frankreich kommen auf die niedrigsten Werte.24 Ein eindeutig positives Bild ergibt sich hingegen aus der Einschätzung, ob das eigene Land von der EU profitiert habe. Dem stimmten im Juni dieses Jahres 68 % aller EU-Bürger zu – in Deutschland wurden gar 78 % gemessen, aber auch in allen anderen Staaten überwiegt die Zustimmung deutlich. Lediglich die italienische Bevölkerung zeigt sich mit 42 % Zustimmung mehrheitlich skeptisch.25 Entsprechend sind die Befürworter eines EU-Austritts ihres jeweiligen Staates mit im Durchschnitt 24 zu 76 % deutlich in der Minderheit. Hier macht sich mit Sicherheit auch das abschreckende Beispiel der BrexitHängepartie bemerkbar: Anfang 2017 gaben etwa noch durchschnittlich 34 % der EU-Bürger an, bei einem etwaigen Referendum für den 23  Vgl. Europäische Kommission, Standard Eurobarometer Nr. 91, Spring, 2019, unter: http://ec.europa.eu/commfrontoffice/publicopinion/index. cfm/survey/getsurveydetail/instruments/standard/surveyky/2253. 24  Vgl. Europäische Kommission, Standard Eurobarometer Nr.  91 (Anm. 23). 25  Vgl. Europäisches Parlament. The 2019 European elections. A proEuropean  – and young  – electorate with clear expectations, 2019, unter: http://www.europarl.europa.eu/news/en/press-room/20190710IPR56721/ 2019-eu-elections-a-pro-european-and-young-electorate-with-clear-expecta tions.



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Austritt aus der EU votieren zu wollen, in einigen Staaten in Süd- und Nordeuropa lagen die Werte gar bei um die 40 %.26 2. Einstellungen zur Zukunft der EU Nimmt man die künftige Verfasstheit der EU in den Blick, mehren sich allerdings auch die integrationsskeptischen Stimmen. Gefragt danach, wo die EU vermutlich in zehn Jahren stehen wird, erwartet die mit 35 % größte Gruppe der Befragten, dass der Brexit in den kommenden Jahren Nachahmer unter den dann 27 Mitgliedstaaten finden wird. Weitere 31 % rechnen mit einer Vertiefung der europäischen Einigung zwischen manchen Staaten – das Prinzip der abgestuften Integration –, während den anderen Staaten lediglich eine Nebenrolle zukommt, 20 % erwarten die Fortsetzung des Status Quo und lediglich 5 % gehen von einer grundsätzlichen Vertiefung in Richtung „Vereinigter Staaten von Europa“ aus.27 Deutlicher tritt die Skepsis noch an der Frage, ob sich die EU generell in die richtige Richtung entwickelt, hervor. Eine deutliche Mehrheit von um die 60 % ist der Ansicht, dass dies nicht der Fall ist. Zum Gesamtbild gehört allerdings nicht nur, dass noch Ende 2018 über 70 % der Befragten mit der Richtung nicht einverstanden waren und sich die Einschätzung gerade im Wahljahr über alle Mitgliedstaaten hinweg deutlich verbessert hat, sondern auch, dass die Entwicklung des eigenen Staats in fast allen Fällen und auch im Durchschnitt aller Befragten mit zuletzt 69 % pessimistischer Einschätzung deutlich negativer beurteilt wird.28 Diese Befunde scheinen mithin weniger Ausdruck einer Anerkennungskrise der EU als einer generell grassierenden Skepsis gegenüber allen Bereichen der Politik. Dem zum Trotz geben sich immerhin 61 % der Befragten optimistisch bezüglich der Zukunft der EU.29 26  Vgl. EUpinions, Opinions, Moods and Preferences of European Citizens, 2019, unter: https://eupinions.eu/de/trends/. 27  Vgl. EUpinions, Opinions (Anm. 26). 28  Vgl. EUpinions, Opinions (Anm. 26). 29  Vgl. Europäische Kommission, Standard Eurobarometer Nr.  91 (Anm. 23).

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Andere Erkenntnisse weisen zudem darauf hin, dass sich die eher kritische Evaluation nicht allein auf eine generelle EU-Skepsis zurückführen lässt, sondern sich im Gegenteil auch Befürworter einer vertieften EU unter denen befinden, die die Union auf dem falschen Weg wähnen  – schließlich gibt es seit Jahren eine knappe, aber stabile Mehrheit für einen Ausbau der europäischen politischen und ökonomischen Zusammenarbeit, knapp 20 % sprechen sich für eine Beibehaltung des aktuellen Status aus. Eine deutliche Mehrheit plädiert überdies für eine stärkere Rolle der EU in der Welt;30 freilich ohne, so steht es zu vermuten, bereit zu sein, entsprechende finanzielle Mittel dafür bereitstellen zu wollen. Der Wunsch nach Vertiefung wird indes nicht überall mehrheitlich geteilt. In aktuellen Befragungsdaten bestätigt sich die in den vergangenen Jahren durch verschiedenste Untersuchungen plausibilisierte These einer zunehmend sich auftuenden politischen Kluft zwischen meist urbanen, gut gebildeten und integrationsfreundlichen Gewinnern und eher ländlich verorteten, niedriger gebildeten, integrationsskeptischeren Verlierern der Globalisierung. Eng damit verbunden ist ein Wertekonflikt zwischen eher kosmopolitischen und universalistischen Orientierungen einerseits sowie kommunitaristisch und partikularistischen Vorstellungen auf der anderen Seite. Diese – häufig als Konflikt zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen beschriebene  – Spaltung verläuft quer durch alle EU-Staaten und es scheint nicht verwegen, ihr das Potenzial, den politischen Wettbewerb auf eine gesamteuropäische Ebene zu heben und dadurch die Gesamtunion zu politisieren, zuzusprechen. Denn neben der unterschiedlichen Positionierung zur europäischen Integration umfasst die Spaltungslinie auch grundsätzlich gegensätzlichen Positionen bei Themen wie Migration und der Per­ meabilität staatlicher Grenzen, Umwelt- und Klimaschutz oder dem Ausmaß politisch garantierter Minderheitenrechte und manifestiert sich parteipolitisch als Gegensatz zwischen den liberalen und grünen Parteien einerseits und den rechtspopulistischen und nationalistischen Parteien andererseits.

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Vgl. EUpinions, Opinions (Anm. 26).



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3. Wahlen zum EU-Parlament Die wachsende Bedeutung eines so konstituierten Grundkonflikts lässt sich auch anhand der vergangenen Wahlen zum Europaparlament nachvollziehen. Zu der deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung dürften nicht zuletzt sich angleichende politische Konstellationen beigetragen haben: So wurden neben den klassischerweise bedeutsamen Wirtschaftsthemen vor allem die der beschriebenen Konfliktlinie zuzuordnenden Themen – wie der Kampf gegen den Klimawandel, die Förderung von Demokratie und Menschenrechten sowie Migration  – als für die Wahlentscheidung bedeutend genannt.31 Nichtsdestoweniger bleibt die politische Diversität hoch und von den weiterhin bestehenden nationalen Eigenheiten kündet nicht zuletzt die bunte Landkarte der in den jeweiligen Mitgliedstaaten mehrheitlich gewählten Parteien bei den jüngsten Wahlen zum Europaparlament. Die Ergebnisse bleiben stark abhängig von den spezifischen Konstellationen in den Mitgliedstaaten, ein gemeinsames Parteiensystem und einheitliche diskursive Dynamiken sind in näherer Zukunft weder zu erwarten noch wünschenswert. Allerdings mag dieser erste Blick auf das Wahlergebnis dazu verleiten, der EU-Wahl etwas vorschnell jegliche politische Richtungsentscheidung abzusprechen. In der Tat scheinen die zum Teil in sehr unterschiedliche Richtungen weisenden Gewinne und Verluste etwa der europäischen Volksparteien oder der Sozialdemokraten und Sozialisten gerade diesen Schluss zu bestätigen: Dem starken Abschneiden der niederländischen Sozialdemokraten steht das relativ schwache Ergebnis der deutschen SPD gegenüber, der Absturz der französischen Republikaner wird durch den Wahlerfolg der griechischen Nea Demokratia kontrastiert. Dennoch lassen sich in der Gesamtschau Tendenzen ausmachen, die sich in der Größenänderung der Fraktionen im Europaparlament niederschlagen: Konservative und Sozialdemokraten büßen Sitze ein, während die Liberalen, Grünen und Rechtspopulistischen Parteien ihr Stimmgewicht ausbauen können. Und bemerkenswerterweise lassen sich diese Trends nahezu vollständig auf die vier größten Mit31 

Vgl. Europäisches Parlament, The 2019 European elections (Anm. 25).

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gliedstaaten  – die „Big Four“  – zurückführen. Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien stellen gemeinsam nicht nur mehr als die Hälfte der Einwohner und Wirtschaftsleistung der EU, sie entsenden auch einen Großteil  – allerdings bei weitem nicht die Mehrheit  – der Abgeordneten. Es zeigt sich, dass die Gewinn- und Verlustrechnung der Parteien in den vier größten Staaten absolut deckungsgleich mit den Gesamtveränderungen der Fraktionsgrößen im Parlament ist, während für die übrigen EU-Mitgliedstaaten ein sehr heterogenes Bild konstatiert werden kann. Gerade die Gesellschaften, denen man aufgrund ihrer Größe am ehesten einen autonomen politischen Diskurs und daraus resultierend eine ganz eigene Wahldynamik zusprechen würde, weisen ganz grundsätzliche politische Gemeinsamkeiten auf, durchlaufen ähnliche Entwicklungen – selbstverständlich in sehr unterschiedlichen Intensitätsgraden und immer noch stark geprägt von nationalen Spezifika: Sowohl die Brexit-Debatte als auch die Dominanz der populistischen Parteien in Italien sind nicht ohne weiteres auf an­dere Staaten übertragbar.

Abb.  1: Gewinne und Verluste der Fraktionen im Vergleich zu 2014



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Dennoch ist dieser Befund in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: 1. Er zeigt, dass es gerade in den großen EU-Mitgliedstaaten gemeinsame Dynamiken gibt, dass politische Diskurse und Entwicklungen auch über die Grenzen hinweg stattfinden und sich verstärken sowie, dass von einer europäischen Öffentlichkeit zwar keine Rede sein kann, wohl aber von miteinander verschränkten europäischen Öffentlichkeiten. 2. Zudem findet das oft gescholtene Prinzip des Europäischen Parlaments, kleine Staaten proportional stärker als große zu berücksichtigen und die Interessen der EU-Bürger unterschiedlich stark zu gewichten, hier zumindest keine neue Nahrung. Im Gegenteil prägen gerade die sich in den „Big Four“ vollziehenden gesellschaftlich-politischen Auseinandersetzungen das neue Parlament ganz wesentlich. Auch ein Befund der jüngsten Wahl: Die zur Zeit in vielen Mitgliedstaaten reüssierenden EU-kritischen Parteien haben allen Unkenrufen zum Trotz nur eine Minderheit der Wähler überzeugt. Die erwarteten Erfolge der europakritischen Populisten haben nicht nur zu einer Mobilisierung der Gegner, sondern gerade auch der expliziten Befürworter einer europäischen Einigung beigetragen. Antipathie, noch mehr aber Sympathie der EU gegenüber wurden in den Eurobarometer-Umfragen als entscheidende individuelle Gründe für die Wahlbeteiligung genannt.32 Der mitunter befürchtete erdrutschartige Sieg der Europafeinde ist denn auch ausgeblieben. Die prozentualen Zuwächse entsprechender Parteien beschränken sich im Wesentlichen auf die Lega in Italien und die AfD in Deutschland. Insgesamt, so kann man konstatieren, handelt es sich bei dem Ergebnis des vergangenen Wahlgangs trotz einiger Zugewinne europakritischer Parteien um ein klares Votum pro Europa.33 Zudem wird die sich  – durch eine Stärkung des Europäischen Parlaments sowie die zunehmend polarisierte und mitten durch die Mitgliedstaaten verlaufende Debatte über grundsätzliche RichtungsVgl. Europäisches Parlament, The 2019 European elections (Anm. 25). Mit knapp zehn Prozent der Sitze ist die neugegründete, rechtspopulistisch ausgerichtete Fraktion „Identität und Demokratie“ zudem weniger stark vertreten als in vielen nationalen Parlamenten in Europa. 32  33 

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fragen europäischer Zusammenarbeit  – vollziehende Politisierung der EU offenbar von einem Großteil der europäischen Bürgern goutiert: 56 % der Befragten haben das Gefühl, dass ihre Stimme zähle  – im Jahr 2016 gaben dies noch lediglich 37 % an. Und für immerhin 18 % der Befragten war das Gefühl, durch die Wahl aktiv politische Veränderungen herbeiführen zu können, ein maßgeblicher Grund für die Wahlteilnahme.34 4. Präsenz Europas Ohne Frage, Europa und die EU haben in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen, berühren das tägliche Leben mehr und sind in der medialen und politischen Debatte insgesamt präsenter geworden. Dies lässt sich im deutschen Fall sehr gut durch eine Häufigkeitsauswertung der im DWDS zusammengefassten Zeitungsdatenbanken wie auch der Bundestagsdebatten illustrieren. In Printmedien35 und auch der parlamentarischen Debatte36 kommt Begriffen wie „Europa“, „europäisch“ und „EU“ eine nicht nur absolut, sondern auch relativ über die letzten Jahre hinweg stetig wachsende Bedeutung zu. In den Debatten des Bundestags lässt sich zudem eine Annäherung des Europavokabulars an die nationalstaatlich orientierten Begriffe  – „Deutschland“, „Deutsch“, „Bundesrepublik“  – beobachten, jedoch ohne, dass letztere an Bedeutung verlieren. Entsprechend plausibel erscheint es, in der EU weniger ein Konkurrenz­ modell, denn ein Komplement zu den nationalen Politikebenen zu sehen.

Vgl. Europäisches Parlament, The 2019 European elections (Anm. 25). Begriffsuche nach „Europa“, „EU“, „Europäisch“ im DWDS-Zeitungskorpus, vgl. Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache DWDS, unter: https://www.dwds.de/. 36  Begriffsuche nach „Europäischen“, „Europa“, „Europäische“, „Europas“, „EU“ sowie „Deutschland“, „Deutschlands“, „Deutsche“, „Deutschen“, Bundesrepublik“ in der Datenbank der Plenarportokolle des Deutschen Bundestags, vgl. Zeit Online, Darüber spricht der Bundestag, unter: https://www. zeit.de/politik/deutschland/2019-09/bundestag-jubilaeum-70-jahre-parla ment-reden-woerter-sprache-wandel#. 34  35 



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Abb.  2: Bundestagsdebatten im Zeitverlauf: Deutschland und verwandte Begriffe (blau) im Vergleich mit Europa und verwandten Begriffen (gelb)

Abb.  3: Zeitungsbeiträge im Zeitverlauf: Europa (blau), EU (violett) und europäisch (grün) im Vergleich

III. Heimat – Patriotismus – Europa 1. Europa der Vaterländer vs. Vaterland Europa Die Aufeinanderverwiesenheit der nationalen und europäischen Ebene – das zu erwähnen ist ebenso trivial wie eben auch notwendig im Kontext der Relationierung von Heimat, Patriotismus und Europa – reicht deutlich tiefer. Ausgehend von dem vermeintlichen Anta­ gonismus zwischen einem „Europa der Vaterländer“ und einem „Va-

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terland Europa“,37 wie er in seinen Varianten auch in den im Zeichen der Behauptung nationaler Souveränität geführten nationalen Abgrenzungsdiskursen Niederschlag findet, erscheint sie allerdings zunächst einmal kontraintuitiv. Nicht allein die Rhetorik der BrexitBefürworter und mit ihnen der Gegner der EU in ganz Europa nimmt Bezug auf einen so konstruierten Gegensatz. Auch von Befürwortern einer vertieften europäischen Zusammenarbeit wird regelmäßig auf einen unvereinbaren Dualismus zwischen europäischer und nationaler Verbundenheit referiert, wird letztlich die Auflösung nationaler Identität in einem europäischen Gesamtstaat zum Idealfall erhoben. Die Auseinandersetzung um einen vornehmlich nationalen oder europäischen Bezugsrahmen hat auch die bundesdeutsche Debatte jahrzehntelang geprägt und prägt sie zum Teil noch immer. Davon künden einerseits die vor allem im Umfeld der Grünen vertretene Utopie einer vollständigen Überwindung nationalstaatlicher Gebilde und der Auflösung nationaler Identitäten in einem europäischen Staat, andererseits umgekehrt die Warnungen vor einer „Aushöhlung der Souveränität und der Identität Deutschlands“ (Björn Höcke, AfD) mit dem Vorhaben, „die nationalen Identitäten auszulöschen“ (Jens Maier, AfD), um „die Deutschen in einem großen europäischen Brei aufgehen“ (Armin-Paul Hampel, AfD) zu lassen. Dasselbe meinend beschwört Marine Le Pen den Abwehrkampf einer „Allianz der Patrioten“ gegen die „Globalisierer“38. Die Identifikation, die Verbundenheit, der Bürger könne  – darin gleichen sich diese Perspektiven  – demnach nur einer Nation oder Europa gehören, aber nicht beiden. Elementar beziehen sich beide Seiten dabei auf eine  – freilich fehlgeleitete, weil kaum oder gar nicht vom Nationalismus unterschiedene  – Idee des Patriotismus: die einen abgrenzend, die anderen affirmativ.

37  Vgl. Volker Kronenberg, Patriotismus 2.0. Gemeinwohl und Bürgersinn in der Bundesrepublik Deutschland, 2010, S. 103f. 38  Zit. nach: Georg Blume, Die siegende Verliererin, Zeit Online vom 08.05.2017, unter: https://www.zeit.de/politik/ausland/2017-05/marinele-pen-front-national-wahlparty-frankreich.



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2. Das Konzept des Patriotismus Dabei liegt gerade im Konzept des Patriotismus  – so ja eine der Annahmen meiner Publikationen  – der Schlüssel zur Auflösung des vermeintlichen Widerspruchs von Nation und Europa. Patriotismus als in der Tradition europäischer Geistesgeschichte stehend meint die emotionale Verbundenheit mit der patria. Historisch bezogen auf die polis, die Kommune, orientiert er sich neuzeitlich an der Nation bzw. dem Nationalstaat. Anders als im Nationalismus ist die Nation dabei allerdings kein Selbstzweck, sondern Rahmen der ­Realisierung des bonum commune, des Gemeinwohls.39 Patriotismus richtet sich insofern zwar gegen das Primat individueller Interessen  – findet seinen Ausdruck eben gerade im über das Eigene, das Private, den oikos Hinausgehenden und in der tätigen Selbstbindung des Teils im Dienste des Ganzen –, bleibt gleichzeitig jedoch jeglichem Kollektivismus und unhinterfragter Staatshörigkeit gegenüber skeptisch. Getragen von der von Ernst-Wolfgang Böckenförde so treffend formulierten Erkenntnis, dass der „freiheitliche, ­säkularisierte Staat […] von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann“40, ist Patriotismus gerade kein staatszentriertes Konzept, sondern lebt von einer gewissen kritischen  – man mag auch sagen: bürgerlichen  – Distanz zum Staat. Kern eines so verstandenen Patriotismus ist stattdessen ein zivilgesellschaftliches Verantwortungsgefühl für das solidarische Gemeinwesen, ein Bekenntnis zum freiwilligen Dienst an der res publica. Patriotismus als gelebter freiheitlicher Republikanismus zielt nicht auf gesellschaftliche Homogenität, sondern auf den aktiven Staatsbürger, der allein den dauerhaften gemeinschaftlichen Zusammenhalt zu garantieren vermag. In der Bundesrepublik wurde Patriotismus lange vor allem als Verfassungspatriotismus verstanden. Indes wurzelt auch das zum 39  Vgl. Volker Kronenberg, Patriotismus in Deutschland. Perspektiven für eine weltoffene Nation, 3.  Aufl. 2013, S. 33–36. 40  Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation. Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, 1991, S. 92 ff. (112).

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Bezugspunkt erhobene Grundgesetz  – mit Paul Kirchhof  – im ­„Humus einer gewachsenen Kultur“, womit auch der Verfassungs­ patriotismus darauf angewiesen bleibt, „dass sich Bürger“, wie Jürgen Habermas schreibt, „die Prinzipien der Verfassung nicht allein in ihrem abstrakten Gehalt, sondern konkret aus dem geschichtlichen Kontext ihrer jeweils eigenen nationalen Geschichte zu Eigen machen“. Insofern muss es im Sinne des Verfassungsstaates sein,  – so Habermas  – „mit allen kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speist“. 3. Heimat und Heimatlichkeit Deutlicher noch hat Dolf Sternberger herausgestellt, dass sich Patriotismus nicht allein auf formale Strukturen und auf rationale Einsichten stützen kann, sondern dass zudem ein „Element natürlicher Heimatlichkeit“41 erforderlich ist, um emotionale Verbundenheit zu wecken und die Bereitschaft zur bürgerlichen Selbsthilfe zu stimulieren. Patriotismus ist ohne Heimatbezug, ohne einen identitätsstiftenden, sozialen Mikrokosmos, in welchem politische Mitgestaltung möglich und Solidarität erfahrbar wird, nicht vorstellbar. Nur im Kleinräumlichen, im Überschaubaren, im persönlich Erfahrbaren kann er sich entfalten. Stellt man zusätzlich in Rechnung, dass die Begriffe der „Heimat“, geschweige denn der „Heimatlichkeit“ in den übrigen Amtssprachen der Union kaum Entsprechungen finden, die ihnen im Umfang ihres Facettenreichtums gerecht werden könnten, erscheint es wenig verwunderlich, dass – zumindest, wenn man dem die Verträge von Rom, von Maastricht und von Lissabon als Gründungsakten der gegenwärtigen Union zugrunde legt  – sich der Heimatbegriff den Gründungsvätern und -müttern aller Generationen nicht als ein supranationales Narrativ für das europäische Integrationsprojekt angeboten zu haben scheint. Gleichwohl stünde dies nicht im Widerspruch zu den national verfassten patriae.

41  Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus. Rede bei der 25-Jahr-Feier der „Akademie für Politische Bildung“, in: Sternberger, Verfassungspatriotismus, 1990, S. 17 ff. (23).



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Denn Heimat mag individuell durchaus sehr unterschiedliche Gestalten annehmen, sehr unterschiedliche Bezugsräume finden. Ein zentraler Befund der von mir im vergangenen Jahre durchgeführten Analyse zur Heimat und Heimatlichkeit in Deutschland unter dem Titel „Heimat bilden. Herausforderungen, Erfahrungen, Perspekti­ ven“42 war, dass es sich bei Heimat um eine zwar elementare, für jeden greifbare Kategorie handelt, sich die Assoziationen mit Heimat wie auch die als zugehörig wahrgenommene politische Ebene regional, aber auch individuell stark unterscheiden. Ausgangspunkt patriotischer Selbstverpflichtung kann durchaus auch Europa oder gar eine Weltgesellschaft sein. Für die meisten wird Heimat  – im Übrigen keinesfalls statisch, sondern wechselbar, ja „bildbar“ – allerdings nach wie vor nur im Lokalen, Regionalen, Nationalen greifbar. Darüber hinaus setzt die mit Heimat immer auch verbundene Möglichkeit, dieselbe mitzugestalten, der Rahmung gewisse Grenzen. Die benannte Politisierungstendenz der EU kann darüber nicht hinwegtäuschen, dass zentrale Elemente demokratischer Erfahrung auf den Nahraum beschränkt bleiben.43 4. Patriotismus in Europa Im Kleinen fundiert und dadurch gestärkt für eine weltoffene Ausrichtung sucht echter Patriotismus das Wohl der eigenen Region oder Nation allerdings nicht auf Kosten anderer voranzubringen und steht insofern auch in keinem Widerspruch zur Existenz und Anerkennung anderer patriae oder zu einer Einbettung in ein geeintes Europa und ist sich, es wird darauf zurückzukommen sein, eben auch der Notwendigkeit multilateraler Kooperation bewusst, um die demokratische Gestaltung der eigenen Heimat im Konzert einer zunehmend multipolaren Welt(un)ordnung sichern zu können. Im Gegenteil bleibt Europa zwingend auf die nationalstaatlich verfassten Bürgergesellschaften, auf den Patriotismus seiner Bürger 42  Volker Kronenberg, „Heimat Bilden“. Herausforderungen, Erfahrungen und Perspektiven vor Ort, 2018. 43  Vgl. Dirk Jörke, Die Größe der Demokratie. Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation, 2019.

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angewiesen. Ja, das Böckenförde-Diktum gilt für die europäischen Institutionen sogar in Potenz. Das gemeinwohlorientierte, solidarische Engagement eines jeden ist es erst, welches das europäische Gebilde zusammenhalten kann. Der Staat, der auf der Nation als Solidargemeinschaft gründet, ist dafür der stärkste und stetigste Garant. Europäische Solidarität wird hingegen nur dann wirkmächtig, wenn sie durch eine staatsbürgerliche vermittelt wird. Eine intakte, in der Partizipation am Gemeinwesen ihren Ausdruck findende Verbundenheit mit der gemeinsamen Nation als politischer Nation, mithin der eigenen Heimat ist dafür Voraussetzung – eine Voraussetzung die die kontinentale Dimension der EU aufgrund der Orts­ gebundenheit von „Heimatlichkeit“ nicht selbst schaffen kann. Selbstbewusste Nationalstaaten sind insofern kein Hindernis einer gemeinsamen europäischen Politik, sondern sind im Gegenteil Prämissen eines langfristig stabilen Zusammenhalts in Europa. Erst auf Grundlage sich selbst bewusster Zivilgesellschaften können die noch immer bestehenden national sehr unterschiedlichen Präferenzen und Vorstellungen Ausdruck und Vermittlung finden. Insofern sollte der zuvor zitierte Befund, dass die EU aktuell höheres Vertrauen und größere Demokratiezufriedenheit genießt als die politische Ordnung der Mitgliedstaaten, keinen Europafreund freudig stimmen, sind doch die Befürwortung europäischer Einigung und die positive Einstellung zur eigenen patria zwei Seiten derselben Medaille. Im Gegenteil sollte es Ansporn sein, die nationalen Demokratien und ihre Akzeptanz zu stärken  – und dadurch gleichzeitig Europa zu kräftigen. Europa kann nur auf Grundlage starker Nationen realisiert werden; umgekehrt sind die Nationalstaaten zum Erhalt ihrer Souveränität ihrerseits auf eine europäische Rahmung angewiesen. Das ist nicht nur in aus den Erfahrungen der deutschen Geschichte und der Bundesrepublik, die ihre Souveränität im Zuge der Wiedervereinigung nur eingebettet in ein friedlich geeintes Europa gewinnen konnte, einsichtig. Angesichts der wachsenden, nur global zu bewältigenden Herausforderungen bei einer gleichzeitigen relativen Marginalisierung der europäischen Mächte in der Welt, wird die Bündelung gemeinsamer Interessen zur Voraussetzung zum Erhalt nationaler Gestaltungsspielräume. Gleichzeitig bleiben die europäischen



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Nationalstaaten so vor allzu aggressiver – ökonomischer und machtpolitischer – Konkurrenz auf dem eigenen Kontinent weitestgehend verschont. Die Abtretung politischer Kompetenz an die europäische Ebene auf der einen Seite wird durch den Erhalt politischer Einflussmöglichkeiten, ja, sogar das Erschließen neuer Handlungsebenen auf der anderen Seite kontrastiert. Ein partieller Autonomieverlust an die europäische Ebene ist insofern auch keine den Nationalstaat gefährdende Schwäche, sondern stellt im Gegenteil seine Überlebenskunst und die angesichts neuer Herausforderungen erforderlichen Wandlungsfähigkeit zum Erhalt nationaler Souveränität unter Beweis. IV. Fazit: Plädoyer für einen europäischen Realismus Wo der Nationalstaat in Europa sich früher gegen andere Nationalstaaten behaupten musste, behauptet er sich heute, geeint in gemeinsamen geschichtlichen Erfahrungen mit diesen gegen die natürlichen wie menschengemachten Herausforderungen, die nicht erst seit gestern globale sind. Weder die nationalstaatliche noch die europäische Ebene sind füreinander verzichtbar, sondern bleiben  – im besten Fall vermittelt durch einen freiheitlichen, weltoffenen Patriotismus  – miteinander verwoben und stärken sich gegenseitig. Ralf Dahrendorf sprach nicht zufällig schon vor Jahrzehnten von Patriotismus als der Voraussetzung des „Weltbürgertums“. Die auf eben diesen Erfahrungen, die mit dem Hinzutreten vor allem der osteuropäischen Mitglieder nochmals um neue Perspektiven ergänzt wurden, gründende vertragliche Verfassung der Union als ein Gebilde sui generis, in der es stets gilt, in komplexen Aushandlungsprozessen aus den als national deklarierten Interessen der Mitgliedstaaten einerseits und den im Wesentlichen von Kommission und Parlament als europäisch deklarierte Interessen andererseits tatsächliche Gemeinschaftsinteressen und -ziele zu extrahieren  – kurzum: der Status quo  – scheint festzementiert. Auch über 60  Jahre nach den Römischen Vertragen steht weder jener große voluntaristische Akt der europäischen Völker, der das europäische Integrationsprojekt etwa in einem Bundesstaat finalisiert, noch der Zerfall der Union bevor.

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Die Beschäftigung mit den verschiedentlichen „Verblockungen“ der innerhalb und zwischen den intergouvernementalen und den gemeinschaftlichen Institutionen auf verschiedenen Politikfeldern, insbesondere auf solchen, auf denen konkretes Handeln, ja, auch zeitnah, eigentlich Not tun würde, verdecken jedoch den eigenen Mehrwert dieses eigentümlichen Gemeinwesens. Gleich den Werken impressionistischer Meister werden aus diesen komplexen, für das ungeübte Auge unzugänglich erscheinenden „unique set of multilevel, non-hierarchical and regulatory institutions, and a hybrid mix of state and non-state actors“44, so Simon Hix, das die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zum einen und ihre Gemeinschaftsinstitutionen zum anderen ausbilden, erst Konturen, ein stimmiges Bild und – in unserem Fall – die historischen Linien erkennbar, wenn der Betrachter einen Schritt zurücktritt: Gerade die in ihrer vertraglichen Verfassung als ein Gebilde sui generis verbürgte, gegenseitige Anerkennung und Achtung aller Mitgliedstaaten und ihrer unterschiedlichen Interessenlagen, war es, die mit der Geschichte der Gewaltsamkeit auf diesem Kontinent brechen konnte und den pax Europae bis zum heutigen Tage ermöglicht hat. Gerade aber auch, da Geschichte, wie bereits mehrfach betont, aber nicht gegeben, sondern „gemacht“ ist und täglich aufs Neue entsteht, sollten wir uns nicht damit zufriedengeben, den Status Quo lediglich zu verwalten. Notwendig ist vielmehr eine Debatte über die Identität und Zukunft Europas. Diesen Diskurs offen zu führen, heißt Unterschiedlichkeiten innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten nicht auszublenden, sondern zu respektieren; es heißt anzuerkennen, dass eine „Vollendung“ der Union durch Europas Bürger  – aktuell jedenfalls  – mehrheitlich nicht gewünscht ist, dass die Grenzen politischer Vergemeinschaftung momentan erreicht scheinen, dass auch die Frage, der Zweckmäßigkeit einer „Finalität“ immer wieder neu gestellt werden muss; es heißt aber auch, Gemeinsames selbstbewusst zu betonen und  – nicht zuletzt emotional  – fassbar zu machen. Es heißt, die damit verbundenen, an die Ideen der gemeinsamen europäischen Geistesgeschichte anknüpfenden 44  Simon Hix, The Study of the European Union II: The ‚New Governance‘ Agenda and its Rival, Journal of European Public Policy, 1997, S. 38 ff. (39).



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Werte- und Grenzdebatten nicht den radikalen Deutern zu überlassen. So lässt sich etwa die Verbundenheit des Europäischen mit dem Patriotischen durch ein unter der Chiffre des Einigenden fruchtbar gemachtes Konzept eines humanistisch aufgeklärten und freiheitlich orientierten „Abendlandes“ plausibilisieren  – das begrifflich zuletzt freilich fast ausschließlich im Kontext einer ausgrenzenden Instrumentalisierung durch Pegida zu vernehmen war. Innerhalb eines solchen Diskurses sind Visionen, sind Utopien etwa eines europäischen Staates, einer kosmopolitisch gelebten Gemeinschaft keineswegs schädlich. Um Josef Isensee zu zitieren zieht der „Kosmopolitismus“ seinen Wert gerade aus seiner utopischen Fundierung, und „bildet [so] eine moralische Gegenmacht zu den Mächten der Wirklichkeit. Die Differenz zur Wirklichkeit schützt die Utopie davor, dass sie sich durch Vollzug desavouiert, und sie schützt die Menschheit davor, dass sich das Unheilspotential, das in ihr steckt, entlädt. Dafür aber schaffen die kosmopolitischen Gegenentwürfe permanente Stachel im Fleisch der etablierten Staaten, Maßstäbe der Kritik, Zwang zur Rechtfertigung. Die Utopie bildet eine Insel der Hoffnung für alle, die unter der Realität leiden, und bietet Hilfe, die Realität, die sich nicht aufheben lässt, wenigstens auszuhalten.“45

Dass ein immer auch im Zeichen des Utopischen stehender Diskurs über die „Finalität Europas“ allerdings selbst gerade nicht final werden darf, sondern der steten Erdung und Neubewertung bedarf, ist essentiell. Denn auch Utopien  – nennen wir sie realistischer „Visionen“  – taugen nur dann als Orientierungspunkt, wenn sie sich den wandelnden Bedingungen anpassen, wenn sie aktualisiert werden und so greifbar bleiben. Die Vision eines gemeinsamen Europas  – in welcher Ausgestaltung auch immer  – verfängt langfristig nur dann, wenn sie konkret, wenn sie mit Leben gefüllt wird, wenn sie sich mit Gesichtern und Geschichten verbindet. Nichts zeigt dies so deutlich wie die Tatsache, dass die jahrzehntelang überzeugende Erzählung eines „Friedensprojektes Europa“ immer weniger zu tragen vermag – nicht zuletzt, möchte man anfügen, durch den eigenen Erfolg, eben diesen Frieden selbstverständ45  Josef Isensee, Die vielen Staaten in der einen Welt. Eine Apologie, ZSE 2003, S. 7 ff. (31).

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lich erscheinen zu lassen. Diese Entwicklung mag man mit einigem Recht beklagen. Gleichzeitig zeigen allerdings alle Umfragen, dass gerade die jüngste Generation, welcher die Kostbarkeit friedlicher Koexistenz altersbedingt am fernsten liegen dürfte, in allen Fragen die höchste Affinität und Verbundenheit mit dem Europa, wie es heute existiert, aufweisen. Für sie ist Europa schlicht eine tagtäglich gelebte, praktische Selbstverständlichkeit geworden. Dies ist ohne Frage ermutigend. Daraus allerdings zu folgern, die EU könne auf eine gemeinsame, auch das Pathos ansprechende, Erzählung verzichten, hieße, die für die meisten Unionsbürger noch immer gefühlte Ferne zum europäischen Institutionengeflecht zu ignorieren. Vielmehr verweist es auf zweierlei: Zum einen wird deutlich, dass jede Generation ihre eigene europäische Erzählung finden muss und damit auch die Frage nach dem zweckmäßigen Verhältnis von Nationalstaat und Europa immer wieder neu stellen und beantworten muss. Zum anderen aber, so scheint es, vermag die EU ihre Akzeptanz vor allem aus dem oft allzu alltäglich erscheinenden und sicherlich, wie alle Ergebnisse im demokratischen Konsens getroffener Entscheidungen, nicht allseits satisfaktionsfähigen Output des organisch Gewachsenen, dem als selbstverständlich Empfundenen, pragmatisch Gelebten  – mit anderen Worten: aus dem sui-generisCharakter selbst  – zu ziehen.

Autoren und Herausgeber Otto Depenheuer, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft sowie Promotion und Habilitation an der Universität Bonn. Bis 2019 Inhaber des Lehrstuhls für Allgemeine Staatslehre, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität zu Köln sowie Direktor des dortigen Seminars für Staatsphilosophie und Rechtspolitik. Dominik Geppert, Prof. Dr. phil., Studium der Geschichte, der Philo­ sophie und der Rechtswissenschaft an der Universität Freiburg und der Freien Universität Berlin, Promotion und Habilitation an der Freien Universität Berlin. Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte des 19./20. Jahrhunderts an der Universität Potsdam. Präsident der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Ulrich Hufeld, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft sowie Promotion und Habilitation an der Universität Heidelberg. Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Steuerrecht an der Helmut-SchmidtUniversität der Bundeswehr Hamburg. Volker Kronenberg, Prof. Dr. phil., Studium der Politikwissenschaft, des Staatsrechts und der Soziologie sowie Promotion und Habilitation an der Universität Bonn. Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der dortigen Universität, Dekan der Philosophischen Fakultät. Hans-Jürgen Papier, Prof. em. Dr. iur. Dres. h. c., Studium der Rechtswissenschaft sowie Promotion und Habilitation an der Freien Universität Berlin. Emeritierter Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Deutsches und Bayerisches Staats- und Verwaltungsrecht sowie öffentliches Sozialrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Präsident des Bundesverfassungsgerichts a. D. Robert Pracht, Ref. iur., Studium der Rechtswissenschaft an den Universitäten Heidelberg und Genf, Promotionsstudium an der Universität Heidelberg bei Frau Prof. Dr. iur. Ute Mager. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsches und europäisches Verwaltungsrecht bei Prof. Dr. iur. Dr. h. c. Wolfgang Kahl M.A. Arnd Uhle, Prof. Dr. iur., Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Bonn, Promotion und Habilitation an der Universität München. In­ haber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere für Staatsrecht,

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Autoren und Herausgeber

Allgemeine Staatslehre und Verfassungstheorie an der Universität Leipzig sowie Richter des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen. Leiter der Sektion für Rechts- und Staatswissenschaft der Görres-Gesellschaft. Katja S. Ziegler, Prof. Dr. iur. M.A., Studium der Rechtswissenschaft an der Universität Bonn, Promotion an der Universität Bielefeld. I­ nhaberin des Sir Robert Jennings Chair of International Law und Direktorin des Centre for European Law and Internationalisation an der University of Leicester.