Qualitative Medienforschung: Konzepte und Erprobungen 9783111340234, 9783484340299

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Qualitative Medienforschung: Konzepte und Erprobungen
 9783111340234, 9783484340299

Table of contents :
Zur Einführung
I. Theoretische Konzepte
Medienforschung zwischen Stagnation und Innovation. Eine Skizze des Diskussionsstandes aus der Sicht qualitativer Forschung
Von der Medien – zur Kommunikationsforschung. Der Beitrag qualitativer Forschungsmethoden
Sozialökologie und Kommunikationsforschung
Sprachtheorie, Kommunikationsanalyse, Inhaltsanalyse
Mediennutzung und Lebensgeschichte. Die biographische Methode in der Medienforschung
II. Projekterträge und Fallstudien
Strukturanalytische Rezeptionsforschung. Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele
Analyse symbolischer Vermittlungsprozesse am Beispiel von Kindergruppen. Überlegungen zum Zusammenhang von Forschungsgegenstand und Forschungsmethoden
Die Macht der Gewohnheit. Wie Jugendliche mit dem Fernsehen umgehen
Von dienstbaren Dingen und Zauberlehrlingen – zur Psychologie des Umgangs mit Videorecordern
Videoproduktion mit Jugendlichen als qualitative Forschungsmethode
“Wechselspiel” und “Synthesisfunktion” medialer Erfahrungen Jugendlicher. Ein Fallbeispiel
Jugendliche und Computer. Fragestellungen und Beobachtungen aus der Perspektive der Jugendkulturforschung
Spielhallen als mediale Räume. Theoretische und methodologische Skizzen

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MEDIEN IN FORSCHUNG + UNTERRICHT Serie A Herausgegeben von Dieter Baacke, Wolfgang Gast, Erich Straßner in Verbindung mit Wilfried Barner, Hermann Bausinger, Hermann K. Ehmer, Helmut Kreuzer, Gerhard Maletzke Band 29

Dieter Baacke/Hans-Dieter Kübler (Hgg.)

Qualitative Medienforschung Konzepte und Erprobungen

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek. Qualitative Medienforschung : Konzepte und Erprobungen / Dieter Baacke ; HansDieter Kübler [HggJ. - Tübingen : Niemeyer, 1989 (Medien in Forschung + Unterricht: Ser. A ; Bd. 29) NE: Baacke, Dieter [Hrsg.]; Medien in Forschung und Unterricht / A ISBN 3-484-34029-0

ISSN 0174-4399

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Druck: arco-druck gmbh, 8605 Hallstadt.

Inhalt Dieter Baacke/Hans— Dieter Kubier Zur Einführung

I. Theoretische Konzepte Hans—Dieter Kübler Medienforschung zwischen Stagnation und Innovation Eine Skizze des Diskussionsstandes aus der Sicht qualitativer Forschung

7

Hans Heinz Fabris Von der Medien— zur Kommunikationsforschung Der Beitrag qualitativer Forschungsmethoden

72

Dieter Baacke Sozialökologie und Kommunikationsforschung Hans—Jürgen Bucher/Gerd Fritz Sprachtheorie, Kommunikationsanalyse, Inhaltsanalyse Uwe Sander/Ralf Vollbrecht Mediennutzung und Lebensgeschichte Die biographische Methode in der Medienforschung

87 135

161

Π. Projekterträge und Fallstudien Klaus Neumann/Michael Charlton Strukturanalytische Rezeptionsforschung Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele Ben Bacbmair Analyse symbolischer Vermittlungsprozesse am Beispiel von Kindergruppen Überlegungen zum Zusammenhang von Forschungsgegenstand und Forschungsmethoden Kurt Luger Die Macht der Gewohnheit Wie Jugendliche mit dem Fernsehen umgehen

177

194

223

VI

Inhalt

Christoph P. Melchers Von dienstbaren Dingen und Zauberlehrlingen — zur Psychologie des Umgangs mit Videorecordern

252

Helga Theunert/Bemd Schorb Videoproduktion mit Jugendlichen als qualitative Forschungsmethode

279

Thomas Voß—Fertmann "Wechselspiel" und "Synthesisfunktion" medialer Erfahrungen Jugendlicher Ein Fallbeispiel

305

Klaus — Jürgen Bruder/Klaus Strempel Jugendliche und Computer Fragestellungen und Beobachtungen aus der Perspektive der Jugendkulturforschung

324

Kurt Möller Spielhallen als mediale Räume Theoretische und methodologische Skizzen

342

Zur Einführung

"Kommunikative Sozialforschung" lautete in Kreisen zumal jüngerer Sozialwissenschaftler die Losung am Ende des letzten Jahrzehnts, um Verkrustungen und Engführungen der etablierten, vornehmlich empirisch — analytischen Forschung aufzubrechen, um alternative Formen der Erkundung und Validierung sozialwissenschaftlicher Erfahrungsbereiche zu erproben, um Forschung und alltägliche Lebenspraxis nicht noch weiter auseinanderzutreiben, vielmehr ihre Zusammenhänge, ihre gemeinsamen Wurzeln und ihre für die Erkenntnis nach wie vor unaufkündbaren Verbindungen neu auszuloten und konstruktiv werden zu lassen. "Kommunikativ" sollten also nicht nur die Verfahrensweisen, Methoden und Modalitäten des Forschungsprozesses im engeren Sinne, namentlich die Etappen der Erhebung, der Auswertung und Interpretation, sein, "kommunikativ" sollten sich auch die Beziehungen zwischen den Forschenden und zu Erforschenden gestalten, so daß professionelle Arbeitsteilungen oder gar sich einschleichende Hierarchien auf dem Wege übereinstimmender Erkenntnis— und letztlich Handlungsziele aufgebrochen, mindestens minimalisiert werden; "kommunikativ" meint aber auch eine völlig andere Wahrnehmung und Konstitution der zu erforschenden Gegenstandsfelder, rekurriert nämlich auf die fundamentale Einsicht, daß sozialwissenschaftliche Untersuchungsfelder gemeinhin nur zum geringsten (oder nie) positive, soziale Tatsachen im Sinne eines schieren Positivismus sind, sondern stets Gemenge aus (objektiven) Strukturen und (subjektiven) Rekonstruktionen, aus historisch petrifizierten Institutionen, funktionalen Zusammenhängen, Routinen und alltäglichen Gepflogenheiten, symbolischen Interaktionen, kommunikativen Verständigungen und Verarbeitungsweisen im individuellen wie im kollektiven Bewußtsein, daß "gesellschaftliche Wirklichkeit" mithin sozial gestiftet, wandelbar und kommunikativ thematisierbar ist. Wissenschaftliche Erkenntnis bedeutet daher zuallererst, diese Gemengelage für das jeweils gewählte Gegenstandsfeld zu sondieren und zu sortieren, somit seine Qualität zu entdecken und zu rekonstruieren, und da dies nicht ohne die lebenspraktischen Kompetenzen, ohne die Gepflogenheiten, Sichtweisen und Handlungsroutinen der an ihm Beteiligten, der es im Grunde Bewerkstelligenden geht, bedarf es jener diskursiven, reflexiven Forschungsmethoden. Erst über die verschiedenen subjektiven Lesarten der Partizipierenden erschließt sich — wenn überhaupt — der objektive Gehalt, mithin Struktur und Funktion, eines sozialen Gegenstandsbereichs. "Kommunikative Sozialforschung" postuliert und verkörpert insgesamt also ein Verständnis von sozialwissenschaftlicher Forschung.

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Dieter Baacke/Hans—Dieter Kübler

Mehr als ein Jahrzehnt dauert nun schon diese methodologische Diskussion an. Eine Vielzahl von Publikationen, modellartigen Projekten und Erfahrungen liegt inzwischen vor. Nicht alle Postulate und Ansprüche der kommunikativen, interpretativen oder auch qualitativen Sozialforschung haben sich — zumal uneingeschränkt — verwirklicht. Die Gründe dafür sind noch nicht genügend aufgearbeitet; vermutlich sind sie eher in äußerlichen, forschungspragmatischen Auflagen denn in den theoretischen Konzeptionen zu finden. Dennoch: als methodologische Alternative, mindestens als methodische Ergänzung ist diese Forschungsrichtung aus dem sozialwissenschaftlichen Spektrum nicht mehr wegzudenken. Dazu beigetragen hat wohl nicht zuletzt, daß im Laufe dieser Diskussion die geisteswissenschaftlichen Wurzeln, die hermeneutischen Prämissen sozialwissenschaftlicher Forschung wiederentdeckt und in ihrer epistemologischen Unaufhebbarkeit, wenn man will: Aporie begründet wurden. Zugleich sichtbar wurden — übrigens wie schon zu Zeiten der berühmten Werturteilsdebatte und des späteren Positivimusstreites — Grenzen, Hypostasierungen, aber auch natürlich Tauglichkeiten der repräsentativen, quantitativen Forschung. Im Zuge wachsender Indienstnahme und Finalisierung sozialwissenschaftlicher Forschung ist sie gefragt und beauftragt wie nie zuvor. Doch diese mittlerweile fast selbstverständlichen Einvernehmungen verunsichern, wenn nicht unterminieren nachhaltig Selbstverständnis und Ethos von Wissenschaft überhaupt. Für etliche Forscher, die sich aus verschiedenen Disziplinen während der 70er Jahre dem expandierenden, offenkundig relevanter werdenden Bereich der Massenkommunikation und Medien zuwandten und von der angestammten, dafür eigentlich zuständigen Publizistikwissenschaft wenige oder nur unzureichende Anhaltspunkte — zumal in methodologischer Hinsicht — für ihre Fragen bekamen, bot besagte Diskussion um qualitative Methoden und um die Unaufkündbarkeit hermeneutischer Aporien die willkommene, aber auch für dringlich erachtete Chance, nicht nur die evidenten terminologischen Affinitäten zwischen diesen Forschungszweigen zu eruieren, vielmehr die aufgezeigten Prämissen und Zielsetzungen der kommunikativen Sozialforschung gerade für eine Disziplin als grundlegend zu erachten oder auch zu machen, deren Gegenstandsfelder a priori von jenen reflexiven Implikationen, von jenen Aporien aus Zirkularität und hermeneutischer Unabgeschlossenheit, aus unausweichlicher Welt— und Selbstvergegenwärtigung elementar geprägt sind. Besonders für Vertreter aus der Pädagogik, die obendrein fachspezifische Hypotheken gegenüber den Medien, also notorische Vorbehalte und Verdächtigungen, unerschütterliche Forderungen nach Prävention vor den unterstellten Schädigungen zu bearbeiten und abzutragen hatten (und haben), die mithin handlungsorientierte und normative Komponenten aus ihrer Wissenschafts— und Forschungsverständnis nicht eliminieren können, vielmehr sie geradezu als konstitutiv betrachten, versprach (und verspricht nach wie vor) eine so begründete und ausgerichtete kommmunikative

Zur Einführung

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Medienforschung konstruktive Perspektiven, um die für sie relevanten, in ihren Forschungskontexten drängenden Fragen zu untersuchen, zu verstehen und zu erklären — und für sie, was Pädagogen unabdingbar ist, praktische Lösungen zu finden. Demgemäß näher stehen ihnen rezeptionsanalytische Zusammenhänge — greift man die konventionelle Aufteilung des Massenkommunikationsprozesses überhaupt als heuristische Aufteilung auf, und verpflichtet fühlen sie sich prinzipiell eher den (Laien)Rezipienten, ihren alltäglichen Erfahrungsbereichen, Kommunikationsgepflogenheiten und Verarbeitungsweisen denn professionellen Interessenten. Das Ethos, vielleicht auch der Charme, gewissermaßen eine "Kommunikationsforschung von unten" zu sein und die Obligationen der ungleich mächtigeren und gefragteren auftragsbestimmten empirisch — analytischen Forschung zu ergänzen, wenn nicht zu konterkarieren, ist der hier vorgestellten Richtung mehr oder weniger explizit schon zueigen. Unvermeidlich ist es wohl, zumal angesichts der noch spärlichen Anerkennung, der überaus restriktiven Arbeitsmöglichkeiten und der daraus resultierenden Diskontinuität, daß die vorgenommenen, objektiv auch erforderlichen Untersuchungsfelder nur teilweise und sporadisch bearbeitet werden können. Die Beiträge des vorliegenden Bandes wollen diese Defizite nicht vertuschen. Waren in den turbulenten 60er und 70er Jahren die (als ideologisch beargwöhnten) Medienprodukte, zumal tendenziöse Presseerzeugnissse und evasorische Film — und Fernsehbilder, bevorzugte Untersuchungs — und Kritikobjekte, so sind gegenwärtig die alltäglichen Rezeptionskonstellationen und subjektive Verarbeitungsweisen in das Zentrum des analytischen Interesses gerückt — vielfach ungeachtet der zu rezipierenden Manifestationen, ihrer Qualitäten und ihrer nach wie vor immanenten Intentionen. Daher wurde schon hie und da der Vorwurf laut, im Vergleich zu den damaligen Engagements scheuten sich qualitative Medienforscher vor inhaltlichen Auseinandersetzungen mit den allfälligen Medienprodukten oder sie nähmen gar deren Beschaffenheit, Tendenz und Absicht billigend in Kauf. Dabei stellt die analytische wie strukturtypologische Erfassung von Medienprodukten, ihrer tragenden Intentionalität, Semiotik wie Ästhetik, immer noch die genuine hermeneutische Herausforderung und methodologische Bewährungsprobe dar. Bezüglich des dafür maßgeblichen Verhältnisses von quantitativer und qualitativer Inhaltsanalyse sind eingehende Erörterungen und Vorschläge vorgebracht worden; sie brauchen hier nicht rekapituliert zu werden, werden allerdings hier bestenfalls implizit vorangetrieben und differenziert. Zu hoffen ist, daß die zu verzeichnenden verstärkten Anstrengungen von Seiten der aus der Literaturwissenschaft hervorgegangen Medienwissenschaft, deren Nähe zum singulären, nur interpretativ erschließbaren Oeuvre unverkennbar ist und nun auch nützlich werden könnte, und von Seiten einer sich dadurch

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Dieter Baacke/Haas—Dieter Kübler

anbahnenden, zwischen den Disziplinen entfaltenden Medienhistoriographie die vorhandenen sachlichen wie methodischen Leerstellen sukzessive füllen und die notwendigen Vermittlungen zur Rezeptionsforschung schaffen. Der vorliegenden Band versteht sich als eine Art Zwischenbilanz, sowohl was methodologische Überlegungen anbelangt als auch — oder vor allem — hinsichtlich bereichsspezifischer empirischer Sachverhalte. Das ursprüngliche Ziel, gleichsam ein Lehrbuch vorzulegen, konnte noch nicht eingelöst werden, bleibt mithin weiteren Initiativen vorbehalten. Dafür ist die Diskussion noch zu wenig ausgereift, zu diffus und sprunghaft, eben im Stadium andauernder Erprobung, Überprüfung und fallweiser Verifikation. Diverse methodische Zugänge sind mittlerweile in die qualitative Medienforschung eingeführt, daraus schöpft sie ihre Unkonventionalität, ihre Produktivität und Phantasie. Aber ebenso wird man unverblümt konstatieren müssen, daß noch vieles nebeneinander her— oder auch gegeneinander läuft, daß Überlappungen und Doubletten, mitunter auch unerkannt, hervorgebracht werden und daß vor allem dringliche theoretische Abklärungen noch ausstehen. Daher bietet der Band neben einigen grundsätzlichen, sozusagen theorie— oder approach — orientierten Beiträgen vor allem als exemplarisch gedachte Erfahrungsberichte, Fallstudien und Projektbefunde, sozusagen qualitative Rezeptionsforschung in work, wobei darauf geachtet wurde, daß möglichst viele der derzeit diskutierten und erprobten Vorgehensweisen repräsentiert sind. Diese beispielhafte Symptomatik wurde mithin gegenüber der Aktualität der einen oder anderen Studie bevorzugt. Erhofft war anfangs, daß mit ihr auch nahezu alle relevanten Felder und Situationen des alltäglichen Mediengebrauchs eingefangen werden könnten, und zwar sowohl hinsichtlich der am meisten frequentierten Medien, aller bedeutsamen und empirisch ergiebigen Probandengruppen wie auch hinsichtlich aller habituellen Gepflogenheiten und Routinen. Daß im Hinblick auf diese Erwartung die Medienlandschaft ebenfalls noch weiße Flecken aufweist, dürften die Leserinnen unschwer entdecken, ist aber angesichts der beschriebenen beeinträchtigenden Umstände kaum verwunderlich. Auch in dieser Hinsicht mag das Prädikat 'Zwischenbilanz' zutreffen. Während der Konzipierung— und Erarbeitungsphase dieses Bandes baten die Herausgeber einige gleichgesinnte, einschlägig arbeitende Kolleginnen um Mitarbeit an und um Stellungnahme zu einem programmatischen Profil der qualitativen Medienforschung. Die eingehenden Positionsbeschreibungen sollten zu einem schon recht konzisen Entwurf verarbeitet werden, zu einer pointierteren und forschungsstrategisch ambitionierteren Einleitung als dieser. Das leider schwache Echo bekräftigt nochmals obiges Prädikat. Unter seinen Vorzeichen scheint es aber angebracht, diese Thesen nun einer breiteren Öffentlichkeit

Zur Einführung

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vorzustellen und sie um engagierte, zustimmende, weitertreibende oder natürlich auch um kritische Resonanz zu bitten. Vielleicht beleben und tragen die nun eingehenden Rückläufe das angestrebte Unterfangen; als ein solches Projekt verstehen die Herausgeber diesen Band immer noch und würden es begrüßen, es weiterhin in der skizzierten Weise vorantreiben zu können: 1. Medienforschung war bisher vorwiegend Medien w/rAungsforschung mit zwei zusätzliche Einschränkungen: Zum einen handelt es sich um die Untersuchung von Kurzzeit—Effekten, zum anderen hat die experimentelle oder in anderer Weise auf Isolation von Variablen und auf Meßbarkeit angelegte Forschungsstrategie zwar zu einer Unmenge von Daten, aber zu einer nur begrenzten Anzahl konsistenter Einsichten geführt. 2. "Qualitative Medienforschung" ist ein Schlagwort. Es soll einen Forschungsansatz umreißen, der — die bisherigen Medienwirkungsforschungs — Ansätze ergänzend und erweiternd — davon ausgeht, daß die "Ganzheit einer Kommunikationssituation" ins Auge zu fassen ist. Dazu gehört, daß diese "Ganzheit" nur zu erfassen ist, wenn die vor —situationeilen, biographischen Zusammenhänge und die post — situationellen Verarbeitungsmöglichkeiten und Handlungsspielräume in die Überlegung einbezogen werden. Nicht die präzise Isolation von Variablen zur methodisch sauberen Erfassung ist das primäre Ziel dieses Ansatzes, sondern eine möglichst angemessene Annäherung an die Wirklichkeit. 3. Diese "möglichst umfassende Annäherung an die Wirklichkeit" hat zur Voraussetzung, daß qualitative Medienforschung nicht in erster Linie dazu dient, Theorien der scientific community zu verifizieren oder zu falsifizieren; es geht vielmehr darum, möglichst offen und vorbehaltlos die Komplexität von Kommunikationssituationen zu erfassen, zu beschreiben und zu deuten. Dies bedeutet im übrigen nicht, daß qualitative Medienforschung nicht theoriegeleitet wäre, zumal der Ansatz einer "theoretischen Offenheit" sich selbst einer theoretischen Grundhaltung verdankt. 4. Den Zielsetzungen entspricht die Vorgehensweise qualitativer Medienforschung. Ohne daß experimentelle Designs, der Einsatz geschlossener Fragebögen und die bisher erfolgreich genutzten Methoden der Feldforschung abgetan werden, geht es doch in der qualitativen Medienforschung in der Regel um eine komplexe Methodenkombination, die darauf aus ist, die lebensweltliche Qualität von Kommunikationssituationen zu erfassen. Darum verwendet qualitative Medienforschung im Anschluß an das interpretative Paradigma auch Methoden wie: teilnehmende Beobachtung, Gruppendiskussionen, Verfasssen von Aufsätzen, narrative Interviews etc.

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Dieter Baacke/Haas—Dieter Kübler

5. Gerade die Entwicklung sog. "Neuer Medien" (besser: Medientechnologien) läßt komplexere und qualitativ gesättigte Ansätze als notwendig erscheinen, und zwar insofern, als die Ausbreitung neuer Medientechnologien in der Alltags — , Büro— und Massenkommunikation nicht nur "Rezeptions" — Verhalten ändert, sondern den kommunikativen Alltag insgesamt. Da Kommunikation von Menschen ganzheitlich erlebt wird, muß es zudem das Ziel der Medienforschung sein, diese Ganzheitlichkeit nicht aus den Augen zu verlieren. 6. Der "Neue Weg" in der Erweiterung theoretischer Vorgaben, von Zielen und Verfahren ist insgesamt nicht weniger aufwendig als die konventionelle Medienwirkungsforschung. Aber er verspricht konkretere und detailliertere Ergebnisse, führt — so steht zu erwarten — zu sensitivierenden Konzepten, die auch für praktische Anwendungen und Lösungen (etwa in der Medienpädagogik, Medienästhetik) brauchbar sind. Im März 1989

Dieter Baacke Hans —Dieter Kübler

I.

Theoretische Begründungszusammenhänge

Hans—Dieter Kübler

Medienforschung zwischen Stagnation und Innovation Eine Skizze des Diskussionsstandes aus der Sicht qualitativer Forschung

1.

Dilemmata theoretischer Selbstverständigung

An kritischen, oft genug schroffen, wenn nicht polemischen Begutachtungen ihres theoretischen Fundaments und ihres Erkenntnisertrages gebricht es der deutschen Publizistik— und Kommunikationswissenschaft — die Bezeichnung wird noch zu thematisieren sein — wahrlich nicht; ja einer der hartnäckigsten Vorwürfe attackiert die fast schon chronische "Selbstbespiegelung" der akademischen Disziplin. Sie könne längst nicht mehr über ihren "desolaten Zustand" hinwegtäuschen, im Gegenteil: aus ihr resultiere und durch sie verfestige er sich obendrein. Verteidiger der Disziplin pflegen bei solchen Verdikten zunächst auf ihr relativ junges Alter, ihre geringe Ausstattung und personelle Enge hinzuweisen, wie sie von einer Umfrage zu Beginn der 80er Jahre neuerlich bestätigt wurden (Kröll, 1980) — die freilich infolge der danach eingeleiteten Expansion nicht mehr in allen Punkten aktuell sein dürfte. Nach den nationalsozialistischen Kompromittierungen habe sich das peripher gehaltene Fach erst allmählich konsolidieren können und mußte lang bei den angestammten Wissenschaften um seine Anerkennung ringen. Erst 1972 erreichte es, klagte kürzlich noch seine Nestorin, E. Noelle—Neumann (1986, S. 137), seine lang erstrebte Reputation, indem die deutsche Forschungsgemeinschaft es als eigenes Fachgebiet akzeptierte. Außerdem verhindere die ungeheure Dynamik, die gewaltige Expansion und unaufhaltsame, amalgamartig vordringende Diffundierung des Gegenstandsfeldes dessen verläßliche, vor allem breit respektierte Definition, die sukzessive Sicherung seriöser Theorien, Methoden und valider Resultate sowie die klar konturiertfc, sinnfällig begründete Verortung innerhalb des Wissenschaftsgefüges: Kommunikation, wenn auch häufig wohlweislich auf gesellschaftliche, öffentliche und/oder soziale eingegrenzt, Massenmedien, Medien und/oder öffentliche Publikationsmittel sind nun einmal (tendenziell) universelle, mindestens ubiquitäre

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Hans —Dieter Kubier

Objektfelder, so daß sich korrespondierende, globale Zuständigkeiten immer wieder aufdrängen, zumindest Ansprüche dahingehend, als synoptische oder Integrationswissenschaft zu gelten, erklärlich sind. Umgekehrt entkräften solche Prätentionen nicht das oft monierte, widersprüchliche Bild einer Disziplin, die zwischen eingeübter Unempfindlichkeit und anmaßender Pauschalkompetenz, zwischen persönlichen Vorlieben ihrer Repräsentanten, wissenschaftlichen Moden und Willfährigkeiten gegenüber außerwissenschaftlichen, auftragsbezogenen Ansinnen kommerzieller und politischer Machtzentren, aber auch immer wieder zwischen akademischem Egoismus und (medien)politisehen Involvierungsgelüsten hin und her schwankt. Solche Wechselhaftigkeiten und Inkonsistenzen, vor allem aber mangelnde Kontinuität und Gründlichkeit in Theorie und Methodologie, Unklarheiten über Gegenstand, Selbstverständnis und Grenzen des Faches, sträfliche Unsensibilität gegenüber den allgemeinen wissenschaftstheoretischen Diskussionen und nicht zuletzt eine bedenkliche Selbsteinschätzung hinsichtlich ihrer politischen Neutralität und vermeintlichen Objektivität kreiden ihr Kritiker, stammen sie aus ihrem anerkannten Umkreis oder aus benachbarten Disziplinen, wiederholt an. All diese Defizite seien dafür verantwortlich, daß die Publizistik— und Kommunikationswissenschaft weder bei den traditionellen Disziplinen angemessen gewürdigt und um ihres Erkenntnisreichtums beachtet würde — obwohl sie ja eines der allgemeinsten und gewiß auch essentiellsten Gegenstandsfelder für sich beansprucht —, noch bei ihren (stets umworbenen) Adressaten, den Kommunikatoren, und Auftraggebern jenen (gebührenden) Ruf und Einfluß genießt, den sie sich freilich selbst immer wieder bescheinigt (Bessler, 1986). Besonders offenkundig (und für junge Wissenschaftler vor allem auch peinlich) wurden die Defizite der Publizistik— und Kommunikationswissenschaft in jener krisenhaften, später reformorientierten Phase bundesdeutscher Geschichte, in der die Proteste der Studenten und Schüler von sich reden machten. Diese richteten sich demonstrativ gegen die ökonomisch fundierte Konzentration publizistischer Macht (namentlich im Springer — Konzern) und gegen die damit einhergehende Aushöhlung demokratischer, im Grundgesetz garantierter Öffentlichkeit. Arrogante Mißachtung und üble Verfälschung bis hin zur Aufstachelung unkontrollierbarer Ressentiments in der journalistischen Sensationsmache der Massenblätter forderten mehrfach zu ostentativen Gegenreaktionen heraus; die Manipulations— und Indoktrinationsabsichten weniger — soll heißen: der sog. "Kultur—" und "Bewußtseinsindustrie" — zur ideologischen Verblendung des breiten Publikums und zur legimatorischen Konservierung des gesellschaftlichen Status quo, wie man damals zu diagnostizieren pflegte, denunzierten sich sozusagen täglich an den Kiosken, Lautsprechern und Bildschirmen selbst.

Medienforschung zwischen Stagnation und Innovation

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Doch selbst in diesen turbulenten Zeiten übte sich die Publizistikwissenschaft mehrheitlich in politischer Abstinenz oder realitätsfernem Normativismus, sofern sie sich nicht hie und da wohlfeiler Apologetik befleißigte. Für die brisanten Themen wie die voraufgegangene Pressekonzentration, für die "studentische Wiederentdeckung der Politischen Ökonomie" gerade auch als antagonistische Basis der Massenmedien (Stichwort: Inserentenmarkt versus Publikumsmarkt), für die "Manipulation durch die Massenpresse", selbst für die sich daran entzündenden Demokratisierungsbestrebungen in Form der Redaktionsstatutenbewegungen und "alternativen Medien" wußte die eigentlich zuständige Disziplin kaum analytische Einordnungen oder gar Erklärungen aufzubieten (Bohrmann/ Sülzer, 1974; Beth, 1976; Bohrmann, 1976). Unbeeindruckt, vielleicht sogar erleichtert überließen ihre etablierten Vertreter, damals noch vorzugsweise drei "Schulen" zurechenbar: nämlich der harmonistischen Zeitungsontologie in München, dem Münsteraner Funktionalismus sowie der normativen Phänomenologie Dovifats, allerdings schon in Frage gestellt von Eberhards Empirismus, das analytische Feld wissenschaftlichen Außenseitern oder aus ihrer Sicht Unberufenen, die nun — grob rubriziert — als kritische Massenkommunikationsforschung firmierten. Spätestens virulent waren Versagen und Kontroverse geworden — so die Göttinger J. W. Scharf und O. Schlie (1973) —, als die beiden Soziologen R. Zoll und E. Hennig (1970) im Rahmen eines groß angelegten Forschungsprojekts über "Bedingungen und Formen politischer Teilnahme" nicht nur eine breite und zugleich kritische Bestandsaufnahme zu "Angebot, Reichweite, Nutzung und Inhalt der Medien in der BRD" vorlegten; die Publizistikwissenschaft hatte nämlich nichts Vergleichbares vorzuweisen, denn Dovifats gerade erschienenes " Handbuch" (1968 — 69) beleuchtet von geisteswissenschaftlicher Warte aus vornehmlich Historie, Formen und redaktionelle Praxis der Medien, die ebenfalls in Publikation begriffenen 'Handlexika', Koszyks und Pruys' "Glossarium" (erste Auflage 1969, bis 1976 in 4 Auflagen erschienen, dann von einem "Handbuch der Massenkommunikation" (1981) abgelöst), und Noelle — Neumanns und Schulz' "Fischer —Lexikon: Publizistik" (1971; derzeit in Neuauflage begriffen) konnten die aufgerührten Erwartungen nach ebenso systematischer wie kritischer Auseinandersetzung mit den vorfindlichen, beargwöhnten Medienverhältnissen nicht erfüllen, ebensowenig wie das aus didaktischen Gründen zu knapp und wohl auch zu glatt geratene Kompendium H. Meyns (erste Auflage: 1966, 1985 in der 3. Auflage mit über 100.000 Exemplaren im nachhinein ungemein populär). Vielmehr sparten sie auch nicht mit Kritik an einer Wissenschaft, die "theoretisch wie empirisch Jahre hinter der allgemeinen Entwicklung der Sozialwissenschaften zurück" sei (Zoll/Hennig, 1970, S. 8).

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Hans—Dieter Kübler

Dabei beriefen sich die beiden Soziologen auf durchaus respektable, in der Disziplin kaum zu verdächtigende Zeugenschaften: nämlich auf die Research Bibliography "Mass Communication" von Hansen und Parsons aus dem Jahr 1968, die nach der Sichtung von rund 3.000 relevanten Veröffentlichungen seit 1945 das "Fehlen von systematischen Verallgemeinerungen über die sozialen Kontexte von Medien", insgesamt also die unzulängliche "Entwicklung von abstrakten und weiterreichenden Theorien der Massenkommunikation unter gesellschaftlichen Fragestellungen" sowie die "ungenügende Behandlung der Medienwirkungen" an der internationalen Kommunikationsforschung bemängelten (Ebd., S . 13). Für deutsche Verhältnisse zitierten sie außerdem das Monitum des Münchner Zeitungswissenschaftlers Roegele (1966), das Fach sei reichlich voluntaristisch zersplittert und allenthalben herrsche "Unklarheit über [dessen] Gegenstand, Grenzen und Methoden" (S. 391). Dennoch ernteten Zoll und Hennig vehementen Widerspruch (siehe: Scharf/Schlie, 1973, S. 54). Immerhin: Erfordernis wie Nachfrage nach grundsätzlicher Auseinandersetzung mit sämtlichen Aspekten des Faches, prinzipieller als j e zuvor, ließen sich nicht mehr zügeln oder gar unterdrücken. In der Folgezeit häuften sich kritische Stellungnahmen, engagierte, aber auch tendenziöse Einwürfe, Aufarbeitungen der Disziplingeschichte und des Selbstverständnisses, schließlich auch individuelle und kollektive Versuche, das gegenständliche und analytische Terrain in hergebrachter Weise oder aus gesellschaftstheoretischer Perspektive neu zu vermessen. Und die Dispute halten bis heute — wenn auch weniger energisch — an, zumal sie etlichen nicht gründlich und folgenreich genug geführt wurden (Eurich, 1977, 1980; Langenbucher u.a. 1978; Saxer, 1980; Scheidges, 1981, Kübler, 1982, Baum/Hachmeister, 1982; Hachmeister, 1987). Vorbei (und erst recht nicht durch ebenso vereinzelte wie verzweifelte Vorstöße wiederherstellbar) sind für die Publizistikwissenschaft indessen die vergleichsweise beschaulichen, vornehmlich aus ihrer akademischen Marginalität rührenden, selbstgenügsamen Zeiten, seit sich immer mehr Wissenschaften intensiver um die bekanntlich mächtig explodierenden und sich verzweigenden Gegenstandsfelder kümmern, vielleicht sich sogar infolge der technologischen Umwälzungen ihrer herkömmlichen Bereiche recht unbedacht in sie hineindrängen, nicht selten sich der Lücken und Desiderate annehmen, die die Publizistikwissenschaft aus welchen Gründen auch immer gelassen hat und läßt, die sie jedoch eigentlich um der eigenen konsistenten und umfassenden Theoriebildung willen nicht unberücksichtigt lassen darf: Soziologie, Psychologie, Textwissenschaften und Pädagogik, Jurisprudenz, Volkswirtschaft und nicht zuletzt die jüngsten Zweige der Informations— und Computerwissenschaften erarbeiten längst eigenständig Theoreme, Methoden und empirische Befunde und fügen sie zu unabhängigen, weitgehend eigendynamischen Wissenssträngen, die nicht mehr über-

Medienforschung zwischen Stagnation und Innovation

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schaubar, geschweige denn integrierbar sind, gleichwohl um der Sache willen nicht unbeachtet bleiben dürften. Umso nachhaltiger setzen sie den ehedem attestierten, objektiv immer noch, heute sogar nötigeren Integrations— und synoptischen Anspruch der Kommunikationswissenschaft auf die Tagesordnung. Soll er allerdings, wie gelegentlich vorgeschlagen (Saxer, 1980), vornehmlich mittels verstärkter Abgrenzung des Disziplin Verständnisses und des Gegenstandsfeldes sowie mittels (wie immer zu erwirkender) erhöhter Normierung des wissenschaftlichen "Leistungsniveaus" eingelöst werden, mag ein solches Postulat vor dem Hintergrund jener unbefriedigenden Tradition begreiflich sein, doch angemessen und ersprießlich verwirklichen lassen dürfte er sich so nicht (mehr) — allenfalls um den Preis weiterer Marginalisierung und Verdinglichung nur noch akademisch definierbarer, jener Tradition geschuldeter Gegenstandsfelder. Denn deren dynamische Entwicklung insgesamt, deren sich beschleunigende und in den diversen Gerätschaften sich niederschlagende Ausdifferenzierung wie deren tendenziell universelle Vernetzungen lassen sich nicht (mehr) durch eine wie immer geartete, nur disziplinar erstrebte und begründbare Parzellierung von Kompetenzen aufhalten — ebensowenig wie die daraus erwachsenden Probleme, für die die aufgerüttelte wie besorgte Öffentlichkeit Erklärungen, wenn nicht Lösungen verlangt und sie offensichtlich auch bekommt, von wissenschaftlicher Seite, entschiedener und spektakulärer jedoch von weniger seriöser Warte aus. Eher fördern eine dem jeweiligen Sachgebiet angemessene, unvoreingenommene Offenheit und konstruktive Interdisziplinarität die für erforderlich gehaltene wissenschaftstheoretische Breite und Fundierung sowie die Ergiebigkeit von Erkenntnissen und Befunden. Gewiß, solche Vorgehensweisen implizieren unweigerlich ein Stück Eklektizismus, wenn nicht heuristische Verwegenheit — die dann aber unbedingt durch besondere methodologische Solidität gestützt und gerechtfertigt werden müssen. Und daran hapert es beim gegenwärtigen Stand der Medienforschung auf weiten Strecken, dies wird man unumwunden konzedieren müssen! Aber wenn schon die Komplexität und Verflochenheit der Gegenstandsfelder solche Denkhaltungen verlangen, wenn obendrein insgesamt auf allen Feldern menschlichen Tuns die tradierte, einst fast selbstverständliche Autorität von Wissenschaft auf dem Prüfstand steht (Beck, 1986, S. 254ff), dann kann sich gerade eine gering ausgestattete, mit einem amorphen Gegenstand geschlagene Disziplin nicht durch rigide Ausgrenzung und Konservierung retten wollen. "Etikettenschwindel oder ... bestenfalls eine illusionäre Wissenschaftsprogrammatik" bedeutet der Anspruch, "Kommunikationswissenschaft" zu sein (Saxer, 1980, S. 533), nur so lange und insoweit, wie die sich so bezeichnende Diszi-

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Hans—Dieter Kubier

plin für sich die exklusive und erschöpfende Zuständigkeit prätendiert. Käme sie hingegen in beschriebener Weise ihrem selbstgestellten integrativen Auftrag nach, könnte sie Fokus und Impuls für — natürlich — zahlreiche und vielfaltige, womöglich auch konkurrierende wissenschaftliche Bemühungen um besagtes Gegenstandsfeld werden.

2.

Geringgeschätzte Traditionsstränge und universale Aufgabenfelder: theoretische Begründungszusammenhänge

Angemahnt wurde ein solch wissenschaftstheoretisches, systematisches Fundament schon recht früh. Max Webers Entwurf einer "Soziologie des Zeitungswesens", vorgetragen auf dem ersten Deutschen Soziologentag 1 9 1 0 in Frankfurt, gilt mittlerweile als bedeutendstes, großenteils noch unerledigtes Auftragsprofil. Alle relevanten Dimensionen waren nämlich bereits Inbegriffen: von den gesellschaftlichen "Machtverhältnissen..., welche die spezifische Zeitungspublizität schaffen)", von den Organisationsformen als "kapitalistisches, privates Geschäftsunternehmen" über Rezeptionsprobleme ("Welche Art von Lesen gewöhnt die Zeitung dem modernen Menschen an?") bis hin zu kultursoziologischen Überlegungen und Wirkungsfragen: "Wie werden die objektiven überindividuellen Kulturgüter beeinflußt, was wird an ihnen verschoben, was wird an Massenglauben, an Massenhoffnungen vernichtet und neu geschaffen, an ' Lebensgefühlen' — wie man heute sagt —, an möglicher Stellungnahme für immer vernichtet und neu geschaffen?" (zit. nach Langenbucher, 1986, S. 18 — 24). Wohl schlug Weber als bevorzugte Methode Inhaltsanalysen vor, die es nun "mit der Schere und dem Zirkel" anzugehen gelte, aber Selbstzweck war diese Vorgehensweise für ihn nicht, wie die umrissenen Erkenntnisziele belegen. Und entgegen manch nachträglicher Inanspruchnahme erachtete er diese "quantitativen Bestimmungen" nicht für ausreichend; vielmehr wollte er von ihrer Basis aus zu den "qualitativen übergehen" — eine Abfolge, die durchaus als wertend verstanden werden darf. Mit solch qualitativen Zugängen erhoffte er sich, den erwähnten "weittragende(n) Frage(n) langsam näher zu kommen". Mithin ist sein Entwurf immer noch und jeweils von neuem Auftrag der sich dafür zuständig erklärenden Disziplin. Seine Bedeutung früh gewürdigt zu haben, gebührt O. Groth (zit. nach Langenbucher, 1986, S. 17; siehe auch Eberhard, 1963), der bald nach 1945 der "Zeitungswissenschaft" den Mangel an "theoretischen Grundlagen" vorwarf (zit. nach Beth, 1976, S. 12). Und diese theoretische Defizienz bzw. Inkonsistenz, genährt von den Kontroversen der drei genannten, tonangebenden Schulen, hielt augenscheinlich an — mindestens bis Ende der 6 0 e r Jahre, als dann von außen Reputation und Ergiebigkeit der Publizistikwissenschaft angezweifelt wurde, oder

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auch, nach Auffassung etlicher, bis in diese Tage (Bohrmann/Sülzer, Beth, 1976; Hachmeister, 1987).

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1963 tadelte ein wissenschaftlicher Außenseiter, der Kölner Soziologe A. Silbermann, abermals die "eiserne Starrsinnigkeit", mit der die Publizistikwissenschaft "an althergebrachten, von der Zeitungswissenschaft herrührenden Prinzipien" festhalte, "die schon längst dem sozialen Wandel zum Opfer gefallen sind". Daher sei sie "bei ihrem augenblicklichen wissenschaftlichen Stand" nicht zur "systematischen soziologischen Analyse der Massenkommunikationsmedien" imstande (zit. nach Beth, 1976, S. 19; vgl. auch Silbermann, 1972). Silbermanns Kritik fußt aber bekanntlich auf einer — wie er später einmal deutlich bekundete — "erklärten 'positivistischen' Orientierung" (Silbermann/Krüger, 1973, S. 18); im Grundsatz war sie daher den Positionen in Münster und Berlin nicht allzu fern. Gleichwohl stützt sich Silbermann bei seinem umfänglichen Literaturbericht zur Soziologe der Massenkommunikation für das "Handbuch der empirischen Sozialforschung" (1969) vorzugsweise auf die angloamerikanische Forschung und spricht der hiesigen Disziplin den von ihren maßgeblichen Vertretern geäußerten Anspruch auf Alleinzuständigkeit ab: "Gerade auf dem Gebiet der Massenkommunikation erscheint uns eine vorurteilslose, flexible wissenschaftliche Argumentation wichtiger als eine Wissenschaftspolitik, die nur darauf bedacht ist, ihre eigenständige Position anerkannt zu sehen..." (Silbermann, 1977, S. 151). Auch der zweite, nicht weniger umfassende und profunde Report über den Stand der internationalen Kommunikationsforschung, der hierzulande über die engen Fachgrenzen der Publizistikwissenschaft hinaus beachtet wurde, stammt von 'fachfremder' Feder, von dem damals in Konstanz lehrenden Politologen F. Naschold. In einer dreibändigen "Einführung in die moderne politische Theorie" (Zusammen mit W.D. Narr, 1969, 1969, 1971) formulierte er unter dem generellen Blickwinkel "Systemsteuerung" — das damals virulente Paradigma der politischen Kybernetik und der Systemtheorie ist unverkennbar — ein Kapitel über "Kommunikationstheorien", eine Aufarbeitung der amerikanischen Kommunikationsforschung unter dem Gesichtspunkt, welche Erkenntnisse und Erklärungsmodelle sie zur Stabilität, Modernisierung und Steuerung politischer Systeme beizutragen habe. Abermals fiel das Fazit nun unter Berücksichtigung internationaler Resultate recht ernüchternd aus: "Die Kommunikationsforschung auf ihrem heutigen Stand ist eine noch relativ unterentwickelte und vor allem heterogene Disziplin. Bis heute ist es noch nicht gelungen, klar umrissene Grundlagen der Disziplin in Form von präzise definierten Grundeinheiten der Forschung zu entwickeln. Dies konnte an der immer wieder neu zur Diskussion gestellten Frage aufgezeigt werden, ob ein weiterer oder ein verengter Kommunikationsbegriff verwendet werden soll. Auf diesen relativ ungesicherten Grund-

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Hans —Dieter Kubier

lagen wurde zwar eine Reihe theoretischer Konzepte und Modelle entwickelt, mit denen eine Vielzahl einigermaßen bewährter qualitativer wie quantitativer Hypothesen gewonnen wurde. Der Einbau dieser deskriptiven Generalisierungen in den Rahmen einer systematischen 'middle range* oder 'general theory' steht jedoch noch weitgehend aus.." (Naschold, 1969, S. 125f). Immerhin erschien Nascholds Sekundärstudie der hiesigen Publizistikwissenschaft als derart solider und reichhaltiger Uberblick, daß sie sie inzwischen in zwei Sammel— oder Lehrbücher reproduziert hat (Aufermann u.a, 1974, Bd. 1, S. 11—48; Langenbucher, 1986, S. 40—81). Langenbucher meint zwar, seit Anfang der 70er Jahre die Genese und den Bestand "weiterer 'Theorien mittlerer Reichweite'" in der Kommunikationswissenschaft notifizieren zu können, nennt aber in seinem einleitenden Kommentar zu der Wiederveröffentlichung keine konkreten; sie müßten demnach in den weiteren Bänden dieser Reihe also solche identifiziert und anerkannt werden (Langenbucher, 1986, S. 17). Allerdings regte sich der Wunsch nach Horizonterweiterung und theoretischer Systematisierung in den 60er Jahren auch in der Publizistikwissenschaft selbst, namentlich unter ihren jüngeren Vertretern; ungerecht wäre es, die Vorstöße gänzlich zu verschweigen (wovon R. Zoll und E. Hennig (1970) nicht ganz freizusprechen sind). In Berlin trieb der seit 1961 lehrende, ehemalige Intendant des Süddeutschen Rundfunks, F. Eberhard (s. Kötterheinrich u.a., 1976) die sozial wissenschaftliche Öffnung der Publizistikwissenschaft voran und suchte die Defizite an empirischem Wissen über die Medien, vor allem über ihre Nutzung und Wirkung abzubauen — nicht zuletzt mit Hilfe der aus den USA zurückkehrenden Gastdozentin E. Noelle — Neumann, die seit 1965 nach ihrer Berufung an das Mainzer Institut für Publizistikwissenschaft und in Kooperation mit dem kommerziellen Institut für Demoskopie in Allensbach allerdings die Empirisierung in strikter, für viele auch in bedenklicher Weise forcierte. Sein eigenes Werk über "De(n) Rundfunkhörer und sein Programm" (Eberhard, 1962) rühmte Eberhard "als das erste und zunächst einzige seiner Art in Deutschland" und klassifizierte es als einen "Beitrag zur empirischen Sozialforschung". Damit hob er vor allem auf das ostentativ befleißigte Axiom der (vermeintlichen) Werturteilsfreiheit ab, das er dem normativen Anspruch seines Berliner Kollegen Dovifats entgegenhielt. In Münster bereitete der Prakkesche Funktionalismus, selbst soziologischer Provenienz, den Boden für die Berücksichtigung angloamerikanischer sozialwissenschaftlicher Modelle und Befunde, die von den Mitarbeitern W.B. Lerg und F. Dröge aufgearbeitet wurden: Ihre "Kritik der Kommunikationswissenschaft" (Dröge/Lerg, 1965) formulierten sie zunächst in behutsamer, komparatistischer Weise oder in Fußnoten in der zweiten Auflage von Hagemanns Einführung in

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die Publizistik (s. Bohrmann/Sülzer, 1974, S. 91). Mittels der systematischen, entlang der Lasswellschen Kategorien vorgenommenen Sichtung zeigten die beiden Autoren das theoretische Defizit, die methodologische Rückständigkeit, aber auch die empirische Indifferenz hiesiger Kommunikationsforschung im Vergleich zur amerikanischen auf, die — so ihr geschickt verteiltes Lob — das Stadium der "reinen Deskription" (Dröge/Lerg, 1965, S. 255) bereits verlassen, den "Primat der medienkundlichen Betrachtung" mithilfe der "neuen Vorstellung von einem kommunikativ verwobenen Netz pluralistischer Kleingruppen" preisgegeben habe und kommunikatives Verhalten nunmehr interdisziplinär als "Sozialverhalten" zu untersuchen beginnt: "Eine Theorie der Publizistik", postulierten die beiden Autoren am Ende kategorisch, "kann nur aus einer Theorie der allgemeinen Kommunikation entwickelt werden" (S. 277). "Ihr Mittelpunkt", heißt es an anderer Stelle (S. 253) "ist der integrierte Mensch als gesellschaftlich Handelnder in einem öffentlichen und aktuellen Kommunikationsprozeß." Wiederum ist anzufragen, ob und wie dieser weitreichende Anspruch inzwischen eingelöst oder seine Bewerksetilligung zumindest angegangen worden ist, in der adressierten Disziplin oder (eher) außerhalb von ihr. Wohl stärker registrierten Niederschlag fanden diese sekundäranalytischen Recherchen in der erstmals im deutschen Sprachraum geleisteten Synopse der angloamerikanischen Wirkungsforschung (der seither einige Nachahmungen folgten (z.B. Koszyk, 1972; Hackforth u.a., 1976; Schenk, 1978; Maletzke, 1981; Schenk, 1987): Etwa 3300 Arbeiten zwischen 1946 und 1966 sichteten die Münsteraner Autoren (Dröge u.a., 1969; 19732) für ihre "Dokumentation", die sich auf die "funktionale Publizistik" als "theoretisches Gerüst" stützte. In Deutschland, wenigstens im universitären wissenschaftlichen Bereich, konnten sie "keine nennenswerte Wirkungsforschung" entdecken. Ob diese Unternehmungen bereits das Prädikat einer "kopernikanischen Wendung" der hiesigen Publizistikwissenschaft verdienen (Bohrmann/Sülzer, 1974, S. 291), wird man aus heutiger Retrospektive gewiß vorsichtiger beurteilen. Eine quasi pikante Symptomatik erlangte besagte Wirkungsstudie dadurch, daß ihre zweite Auflage die nächste, die materialistisch orientierte Kehre explizit nachzeichnete, die ihr maßgeblicher Autor, F. Dröge, nach seiner Berufung an die Universität Bremen vollzog. Nun zieh er die Wirkungsforschung des "Konformismus und der unbegriffenen Interessenorientierung" insofern, als, "sie dem Oberflächenschein verhaftet, nicht begreift, daß die zu befriedigenden Bedürfnisse immer schon von den Instanzen produziert wurden, die sie auch befriedigen sollen" (Dröge u.a., 19732, S. XVI). Und da die Wirkungsforschung schon nach der Einschätzung der wissenschaftlichen Pioniere E. Katz und P.F. Lazarsfeld als Paradigma für die gesamte Kommunikationsforschung gelten kann oder diese jener zu dienen habe, offenbare sie ihren "instrumentellen Verwertungs-

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Charakter" wie auch ihre eklatante "Theorieunfähigkeit" besonders in dem "Widerspruch", "vom wissenschaftlichen Anspruch auf Verallgemeinerung her das Durchschnittsinteresse des Gesamtkapitals formulieren zu müssen, in der Forschungspraxis sich aber allein an den Interessen der konkurrierenden (werblichen oder Medien—)Einzelkapitale orientieren zu können. Damit wird aus der Kommunikationswissenschaft, wenn man es scharf formuliert, das, was wissenschaftlich an ihr ist, beseitigt, zugunsten ihres ökonomischen und ideologischen Auftrags. Übrig bleibt der wissenschaftstheoretisch sublimierte Wissenschaftsanspruch als Legitimationsgebäude" (S. XX). Soweit F. Dröge im Vorwort zur zweiten Auflage, die ansonsten unverändert blieb, mithin immer noch Stand und auch wissenschaftstheoretischen Geist der für die funktionale Publizistik aufgearbeiteten Wirkungsforschung repräsentierte. Explizit war von den Vorzügen oder gar Orientierungspotentialen des Funktionalismus freilich schon nicht mehr die Rede. Unvollständig wäre die Beschreibung der sozialwissenschaftlichen Öffnung der Publizistikwissenschaft, sparte sie das singulär erarbeitete und lange Zeit ungenügend beachtete Verdienst eines weiteren 'fachfremden' Vorkämpfers aus: Am Hamburger Hans—Bredow —Institut für Rundfunk und Fernsehen bemühte sich seit den frühen 5 0 e r Jahren der Psychologe G. Maletzke (z.B. 1984), Theoreme und Befunde (sozial)psychologisch orientierter (Massen)Kommunikationsforschung hierzulande zu verbreiten und zu adaptieren. Seine Anstrengungen kulminierten zunächst in der über Jahre konkurrenzlosen Monographie "Psychologie der Massenkommunikation" (1963a) — sein dort publiziertes "Feldschema", wenngleich ob seines harmonistischen Tenors nicht unkritisiert, errang fast Lehrcharakter — und setzten sich in zahlreichen weiteren Veröffentlichungen bis heute fort. Doch nicht nur Maletzkes empirisch gesättigte Sekundärstudien fanden in besagter scientific community erst zögernd Resonanz, wie ja überhaupt psychologische Komponenten in die Kommunikationsforschung hierzulande äußerst unzureichend und einseitig integriert sind (siehe auch: Charlton/ Neumann, 1986, S. 15ff); auch seine Anstöße, den wissenschaftstheoretischen Standort der Kommunikationswissenschaft zu ergründen und zu lozieren, sind kaum gebührend bedacht, geschweige denn weiterentwickelt worden: Zwischen "Geistes— und Sozial Wissenschaft" steht die Kommunikationswissenschaft faktisch heute immer noch, auch wenn sich die Begründungen und wissenschaftstheoretischen Paradigmen in gut 25 Jahren zumindest oberflächlich gewandelt haben (Maletzke, 1963b). Die sich aus der Literaturwissenschaft heraus entwikkelnde "Medienwissenschaft" (z.B. Kreuzer, 1977; Faulstich, 1979; Medienwissenschaft, 1987; Bohn u.a., 1988) behauptet sich nämlich immer deutlicher und plausibler als zweite Säule bundesdeutscher Kommunikationswissenschaft (vgl. auch das Rezensionsorgan "Medienwissenschaft") — selbst wenn oder gerade weil sich die publizistikwissenschaftlich beerbte Kommunikationsforschung zu-

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nehmend als pure (empirische) Sozialwissenschaft begreift (Maletzke, 1980). Doch zumindest auf dem noch wenig beackerten, aber objektiv wachsenden Feld der Kommunikations— und Mediengeschichte zeichnen sich erste Annäherungen und Abstimmungen ab (Bobrowsky/Langenbucher, 1987). Jedenfalls scheint diese (noch solider und profunder zu begründende) Zwischenlage der tatsächlichen Praxis kommunikationswissenschaftlicher Forschung heutzutage weitaus angemessener und förderlicher zu sein als alle rigiden Versuche, sie definitiv zu rubrizieren, vollends als alle absurden Vorstöße, ihr naturwissenschaftliche Denkkategorien und Vorgehensweisen andienen zu wollen (Noelle—Neumann, 1986, S. 138ff). Theoretisch völlig unvorbereitet und ohne empirische Anhaltspunkte geriet die Publizistikwissenschaft dann in die Turbulenzen der Studentenbewegung und der breiten Reformphase, die sich nicht zuletzt an den disproportionalen Kommunikationsverhältnissen hierzulande ("Enteignet Springer!") entzündeten (Bohrmann/Sülzer, 1974; Beth, 1976). Auf dem Campus wurden sie von der heftigen Renaissance des Materialismus sowie von der breiten Aufarbeitung und Ausfaltung der Kritischen Theorie Frankfurter Herkunft flankiert. Wer sich damals an den Universitäten mit den brisanten Problemen von Kommunikation und Massenkommunikation beschäftigen wollte, stieß kaum, allenfalls in den wenigen speziellen Instituten, auf die dafür eigenüich zuständige Disziplin. Wie weggetaucht erschien sie insgesamt, Medienforschung und Medientheorie firmierte (fast) ausschließlich als kritische (Prokop, 1972; 1973a; 1977; 1973b; Baacke, 1974). Nachträglich bestätigt sich nochmals das theoretische Unverständnis der Publizistikwissenschaft, wenn einer ihrer führenden Repräsentanten die "marxistische Reideologisierung" der späten 60er und in den 70er Jahren als Folge "ungenügender Kontrollen" der Disziplingrenzen einordnet und die "Rückbildung marxistischer Positionen in der deutschen Publizistikwissenschaft zu Randphänomen", die ja keineswegs naturwüchsig, sondern hie und da mit massivem Druck ergangen ist, ebensosehr als "Reflex entsprechender Vorgänge im Mediengesamtsystem und in der Gesamtgesellschaft" wie auch "als Ausdruck gesteigerter wissenschaftstheoretischer Reflexion" wertet (Saxer, 1980, S. 5290Mindestens wird dabei übersehen oder in Abrede gestellt, daß diese Phase Perspektiven und Erkenntnisse aufzeigte, die für viele nicht mehr hintergehbar sind und längst konstruktiv weiterentwickelt wurden: "Die kritische Kommunikationsforschung", heißt es im Vorwort einer so betitelten Textsammlung (Prokop, 1973 b), "erkannte die Dialektik zwischen ökonomischer Basis und kritischem Bewußtsein. Der bloß ökonomistischen Aufklärung setzt sie ein System entgegen, das die psychoanalytischen, sozialen und ästhetischen Komponenten einbezieht" — eine Programmatik, die — ungeachtet mancher Formulierung — nichts an Gültigkeit eingebüßt hat, zumal sie noch weithin auf ihre forschungs-

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praktische Einlösung wartet. Jedenfalls läßt sie sich gewiß nicht als lästigen, schon überwundenen 'Betriebsunfall' abtun (Baum/Hachmeister, 1982, S. 209). Umgekehrt müßte nämlich die Publizistik— und Kommunikationswissenschaft, wäre sie empathisch und klarsichtig genug, bereits wieder Leerstellen und Desiderate erkennen, die sich nicht zuletzt infolge des spürbaren Mangels an genügend weitreichenden Erklärungsmodellen auftun (Meier/Bonfadelli, 1987). Diese fehlen namentlich in sämtlichen makrostrukturellen Feldern, besonders im Hinblick auf ihre ökonomischen, immer evidenter werdenden Determinanten; sie vermißt man ferner für kulturgeschichtliche Zusammenschauen und Strukturuntersuchungen und endlich für besagte dialektische Mechanismen zwischen objektiven Dispositionen und subjektiven Ausformungen. Ein auffallendes Indiz für diese Mängel läßt sich darin erkennen, daß just diese prekären Felder, die außerdem ihre gesellschaftliche Bedeutung mächtig verstärken, zunehmend von populärwissenschaftlichen Untersuchungen traktiert und deren spekulative Befunde von einer breiten, an den internen Valenzen der Wissenschaft uninteressierten Öffentlichkeit begierig aufgenommen werden. Namentlich das gesamte Feld 'Pädagogik und Medien' ist davon okkupiert, und manch autoritative Scharlatanerie übertrumpft alle seriösen Argumente (Kübler, 1987a; Maletzke, 1988). Über solche Diffusionsprozesse von (populärem) Wissen hätte die Publizistik — und Kommmunikationswissenschaft nicht nur aus innerdisziplinärem, sondern auch aus objektiv — sachlichem Interesse — als Identifikation neuer ergiebiger, weil einflußreicher Untersuchungsgebiete — intensiver nachzudenken. Sie nur als "erneute Ideologisierungsschübe" geringzuachten (Saxer, 1980, S.530), denen mit einer strikteren Grenzziehung und Systemkontrolle zu begegnen sei, verrät immer noch ungenügende Sensibilität für das Wechselverhältnis von Theoriebildung, Wissenschaftsbetrieb und praktischem Lebensvollzug. Die Stadien und Intensitäten der Rezeption der Kritischen Theorie durch die hiesige Kommunikationswissenschaft, freilich nur bei ihren jüngeren und weniger etablierten Vertretern, sind noch nicht hinlänglich rekonstruiert; diese ebenso umfängliche wie aufschlußreiche Aufgabe kann hier nicht aus dem Stand geleistet werden (siehe außerdem Held, 1973). Schwierig dürfte sie sich zunächst deshalb gestalten, weil sich diese Rezeption anfangs nicht in den anerkannten Publikationsformen und offiziellen Organen niederschlug, sondern über ganz unkonventionelle Modalitäten, nicht zuletzt über die berüchtigten Raubdrucke (wieder ein originäres, aber noch wenig bearbeitetes Thema der Kommunikationswissenschaft!) vollzog. Kaum förderlich war ihr dabei zu Beginn, daß die prominentesten Vertreter zwar in der honorigsten Tradition der Sozial — und Kommunikationsforschung standen, die vor deren Emigration vor dem nationalsozialistischen Terror begründet worden war. Ihre zunächst periphere Wiederentdeckung mutete vielen deshalb eher als recht künstliche, wenn nicht

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sogar irreführende Zäsur an. Tatsächlich handelte es sich um einer der typischen, lange verdrängten Nachholungen, die damals, spät genug, aufgegriffen wurde. Ihre Würdigung gewinnt erst allmählich angemessene und auch erkenntnisergiebige Züge; denn inzwischen werden Forschungspioniere wie P.F. Lazarsfeld, S. Kracauer und L. Löwenthal von den verschiedenen Seiten als maßgebliche wissenschaftliche Wegbereiter anerkannt (Dröge/Lerg, 1965; Prokop, 1973a; Drabczynski, 1982; Noelle-Neumann, 1986, S. 130). 1953 bereits hatte Th.W. Adorno seine Essays zum amerikanischen Fernsehen in der Zeitschrift "Rundfunk und Fernsehen" des Hans — Bredow — Instituts veröffentlicht. Die paradigmatischen "Philosophischen Fragmente" über die "Dialektik der Aufklärung" — und darin die Tendenzen der "Kulturindustrie", nämlich "Aufklärung als Massenbetrug" anzuprangern — folgten offiziell erst 1969, wiewohl schon vorab Raubdrucke kursierten. Ihre markanten Begrifflichkeiten prägten fortan die Diskussionen und beförderten auch die Resonanz der anfangs wenig beachteten Studien. Mit seiner 1962 veröffentlichten Habilitationsschrift zum "Strukturwandel der Öffentlichkeit" setzte der herausragendste Schüler J. Habermas neue interdisziplinäre und kategoriale Maßstäbe. Wiewohl nur als begriffsgeschichtliche Rekonstruktion konzipiert, die die ergangene Wandlung, besonders Aushöhlung eines der vornehmsten bürgerlichen Ideale nachzeichnete, integrierte sie Theoreme und Befunde diverser Disziplinen. In ihrer analytischen Nachfolge verstand sich die weniger systematische, aber facettenreiche Arbeit des Soziologen O. Negt und des Filmemachers A. Kluge über die Veränderungen der "proletarischen Öffentlichkeit" (1972), die sie durch die Erosion struktureller Lebenslagen und durch die legitimatorische Überwölbung von Seiten der Massenmedien, vor allem des Fernsehens, verursacht sahen. Vergleicht man diese theoretischen Konstruktionen und empirischen Vorgehensweisen mit den unter Publizistikwissenschaftlern geführten Diskussionen um den Begriff und die empirische Substanz von Öffentlichkeit, etwa um Noelle — Neumanns These der Schweigespirale (1979; 1980; Saxer, 1983) oder — neuerdings — um das Konzept der Agenda Setting (Ebd.; Ehlers,1983a;b), wird man schwerlich das 1974 vermutlich eher erwünschte denn gefestigte Urteil teilen können, J. Habermas habe "Soziologie, Geschichtswissenschaft, Politikwissenschaft und Philosophie ... mit Publizistik bzw.. Kommunikationswissenswissenschaft zusammen(geführt)", und gemeint war wohl als unwiderrufliches Gebot zur Interdisziplinarität (Bohrmann/Sülzer, 1974, S. 94). Etliche Vorstöße zur theoretischen Fundierungen in systematischer Hinsicht, aber auch unter Rückgriff der voraufgegangenen Wissenschaftsentwicklung, Aufarbeitungen der strukturellen, insbesondere der ökonomischen Determinanten und empirischen Gegebenheiten der bundesdeutschen, letztlich: der gesamten kapitalistischen Medienverhältnisse sowie — freilich zu wenig beachtet und differenziert

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— methodologische Sondierungen hinsichtlich der (besonderen) Gegenstandsfelder und ihrer analytischen Erschließung in den benachbarten Sozialwissenschaften, erinnert sei nur an den sog. Positivismusstreit (Adorno u.a., 19702; Bonß, 1982) — das sind grosso modo die zentralen Herausforderungen, aber auch die (partiellen) Errungenschaften jener kritischen Irritationen. Äußerlich betrachtet machten sie 'die' Kommunikationswissenschaft hierzulande überhaupt erst populär und bescherten den einschlägig publizierenden Autoren erstmals nennenswerte Resonanzen. Besonders bekannt wurden der Münchner Soziologe H. Holzer (1971) mit der Darstellung von "Politik, Ökonomie und Kommunikation in der Bundesrepublik Deutschland" aus der später so bezeichneten Sicht des staatsmonopolistischen Kapitalismus sowie der Frankfurter Soziologe D. Prokop mit seinem dreibändigen Reader "Massenkommunikationsforschung" (1972; 1973a; 1977), der für deutsche Leser in dieser Form erstmalig, wenn auch keine "erste systematische und repräsentative Zusammenstellung der Ergebnisse und Theorien" der europäischen wie der amerikanischen Massenkommunikationsforschung (wie der Klappentext behauptet) war. Immerhin spannten sich die Themen der drei Bände paradigmatisch und anschaulich über das gesamte Gebiet möglicher Kommunikationsforschung, gerade auch der umstrittenen Rezeptions— und Wirkungsforschung, und sparten nicht mit kritischen Beurteilungen. Die gestiegene Nachfrage nach solch eingehenderen Erörterungen befriedigen sie offenbar nachhaltig. In den recht schwierig, für viele auch kryptisch formulierten Einleitungen suchte Prokop selbst eine theoretische Basis für eine "kritische Kommunikationsforschung" zu begründen, die die als dominant erachtete Kategorie des Tauschwerts auch symboltheoretisch und sozialpsychologisch konkretisieren sollte. Mit diesem Ansatz wollte sich Prokop von der — wie er es nannte — "kritischen Produktionsforschung" Holzerscher Prägung unterscheiden, führte aber zugleich die unsägliche Übung wechselseitiger Klassifikation und Bezichtigung fort. Auch F. Dröge (1972) wartete mit "Materialien zur Medienanalyse der Bundesrepublik Deutschland" auf, musterte aus der Sicht einer (noch zu entfaltenden) "materialistischen Kommunikationstheorie" "Methode und Funktion der Kommunikationsforschung" und bezog selbst wiederum kontradiktorische Position zur besagten Kontroverse. Eine einigermaßen konsensfahige, diskursiv zu erlangende theoretische Plattform wurde zumal unter ihren zahlreichen Epigonen immer aussichtsloser, obwohl sie für die Etablierung und Entwicklung einer kritischen Medienforschung unverzichtbar gewesen wäre. Selbst so salomonische Klammern, wie sie D. Baacke (1974) vorschlug, hielten offenbar nicht. Baacke hatte angeregt, (kritische) "'Medientheorie' im Schnittpunkt von Ökonomie, Gesellschaftstheorie und gesellschaftlicher Praxis" zu entwickeln und "Medien (als) Instrumente zur Organisation von Klassenhandeln" zu begreifen.

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So verstanden, sei "'Medientheorie' nicht Bestandteil autonomer Kommunikation, sondern Element materialistischer Erklärung" (Baacke, 1974, S. 8). Fast von selbst versteht sich, daß bei diesem Schlagabtausch, bei Positionsbeschreibungen auf derart abstraktem Niveau, methodologische und methodische Fragen hintanstanden. Allein D. Prokop befaßte sich später mit diesem diffizilen Gebiet und wagte die Gratwanderung zwischen eigenen, speziellen Fallstudien und der kongenialen Auswertung repräsentativer, der Demoskopie— und Marktforschung entnommenen Daten (Prokop, 1979; 1981). Sarkastisch, sich wohl nicht ohne Grund an seine respektablen Filmstudien (Prokop, 1970; 1971) erinnernd, karikierte er in einem "polemischen Exkurs zur empirischen Sozialforschung" den typischen akademischen Medienforscher als vorindustriellen "Kleinunternehmer", womöglich sogar als anachronistischen Rancher in Amerikas verblichenem Westen, der verzweifelt, letztlich erfolglos versucht, "Wahrheit ständig als Unternehmen freier Konkurrenz kooperativer Kleinbetriebe einzurichten" (Prokop, 1981, S. 63): "Die empirische Sozialforschung (jene, die das methodische Vorgehen formalisiert und fetischisiert)", lautet das resignative Fazit, "ist indifferent gegenüber der Psyche ihrer Untersuchungsobjekte; ihr Ideal, das sie unverhohlen vergöttert, ist der 'realistische Mensch', dessen 'Normen und Werte' der realen Situation angepaßt sind; am liebsten ist es ihr, wenn autoritäre Menschen in autoritären 'Strukturkontexten' und demokratisch orientierte Menschen in demokratischem Milieu sich befinden" (Prokop, 1981, S. 65). Auf treffende Weise thematisiert Prokop damit mehrere Probleme der Medienforschung zugleich: nämlich das ihrer notorisch ungenügenden Organisation, das ihres eingeschränkten Forschungs— und Methodenverständnisses und — darunter liegend bzw. prinzipiell maßgebend — das ihres verengten Gegenstandskonzepts und Menschenbildes, das sich mit einem fragwürdigen Forschungsethos im Sinne einer Finalisierung um jeden Preis verbindet. Daß solche ebenso grundsätzlichen wie unbequemen Einwände bei der kürzlich erfolgten Neuauflage und Überarbeitung des dreibändigen Standardwerkes zur "Medienforschung", einschlägiger "Bestseller", wie die Verlagswerbung herausstreicht, von dem Herausgeber nicht mehr explizit vorgebracht werden, kennzeichnet wiederum, wenn auch womöglich unfreiwillig den (eher konformistischen) Weg, den die "Medienforschung" (diese Bezeichnung scheint mittlerweile eingeführter als die ehemalige) inzwischen genommen hat (Prokop, 1985a; 1985b; 1986): Entsprechend sind in die neue Zusammenstellung mehr Beiträge aufgenommen worden, die Prokop nach seiner früheren Klassifikation zur "positivistischen Massenkommunikationsforschung" (Prokop, 1972, S. 17) gerechnet hätte.

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Von jenen methodologischen Diskrepanzen zwischen theoretisch weitreichenden Projektionen und empirisch einholbaren Teilbefunden wußte freilich schon Th.W. Adorno in seinen erwähnten frühen Arbeiten zu berichten: Zum einen falle es den Soziologen ungemein "schwer zu sagen, what television does to poeple. Denn mögen immer die fortgeschrittenen Techniken der empirischen Sozialforschung die 'Faktoren' isolieren, welche dem Fernsehen eigentümlich sind, so empfangen doch diese Faktoren selber ihre Kraft einzig im Ganzen des Systems" (Adorno, 1970 6 , S. 70). Selbst wenn noch so viele wissenschaftlich verifizierte Einzelresultate angehäuft und aufeinander bezogen würden, in jedem Fall mehr als heute und ungleich subtilere, wie man hinzufügen müßte, könnte ihre Summe nicht die systematische Erkenntnis über das Ganze aufwiegen oder gar ersetzen, über das — wie es Adorno bezeichnete — "Zusammenspiel all der abgestimmten und dennoch nach Technik und Effekt voneinander abweichenden Verfahren", das das "Klima der Kulturindustrie ausmacht" (Ebd.). Doch dieses vielschichtige, ineinander, wenn auch widersprüchlich verwobene Gesamt erschließt sich nicht durch noch so ausgeklügelte empirische Verfahren, aber auch nicht durch schiere Inspektion und Spekulation. Darin gründet das objektive, erkenntnistheoretische Dilemma, das seither wiederholt, allerdings kaum klarsichtiger und kategorischer, in der Medienforschung konstatiert wurde. Allein hermeneutische Vorgehensweisen bieten sich dafür an, die empirischen Befunde im Lichte theoretischer Reflexion immer wieder zu eruieren, zu überprüfen und so Annäherungen an den amorphen, obendrein überaus dynamischen Erkenntnisgegenstand zu erreichen, ohne in den pompösen Trugschluß zu verfallen, ihn endgültig und vor allem dauerhaft erschließen zu können. Denn letztlich wird auch der wissenschaftliche Betrachter gewärtigen müssen, daß selbst seine vermeintlich unbeeinflußten analytischen Wahrnehmungen und Prämissen nicht exterritorial geschöpft sind, sondern üblichen Prägungen dieses Systems unterliegen, mithin stückweise aporetisch sind — eine Einsicht, die Adorno für sich selbst zu wenig beherzigte, die aber aus der Logik seiner Erkenntnistheorie nicht wegzudenken ist: Wenn das Fernsehen die Menschen nochmals "zu dem macht, was sie ohnehin sind, nur noch mehr so, als sie es ohnehin sind" (Ebd.), dann läßt sich aus diesem strukturell — ideologischen Verhältnis wissenschaftliche Erkenntnis nicht prinzipiell dispensieren, ohne es allerdings als persönliches (Versagen) dem einzelnen Betrachter ankreiden zu wollen (Siehe auch: von Friedeburg/Habermas, 1983) Allein der transparente, intersubjektiv überprüfbare Modus ständiger wissenschaftlicher Selbstkontrolle kann solche Aporien demnach einigermaßen zügeln, überschaubar halten und gehört explizit ins methodologische Repertoire so verstandener Kommunikationsforschung (Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, 1973; Bonß, 1982). Damit ist gleichsam das methodologische Außenverhältnis

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zwischen erkennendem Subjekt und Erkenntnisobjekt angesprochen, das im Falle gesellschaftlicher Kommunikation besonders eingehender epistemologischer Überlegungen bedarf. Denn das Erkenntnisfeld 'Kommunikation', wie immer eingegrenzt und strukturiert, ist — anders als manches andere — dem Erkennenden nie äußerlich, sondern bleibt mindestens partiell, auf welch vertrackte Weise auch immer, ihm inhärent, gleichsam als zweite Natur. Als methodisches Innen Verhältnis, als Problem der Qualität der Methoden, thematisierte Adorno einen weiteren Aspekt dieser Aporie: "Vorbewußte oder unbewußte Wirkungen entziehen sich der unmittelbaren sprachlichen Kundgabe durch die Befragten", erkannte er zurecht (Ebd., S. 75f). "Diese werden entweder Rationalisierungen oder abstrakte Aussagen wie die, daß der Fernsehapparat sie 'unterhalte', vorbringen." Und wie als prophetische Kritik an der bis heute überwiegenden Forschungspraxis resümiert er: "Da das Material auf das Unbewußte spekuliert, hülfe direkte Befragung nicht. Worin die Reaktionen der Betrachter aufs gegenwärtige Fernsehen bestehen, ließe bündig sich [mithin] ausmachen nur durch weitschichtige Forschungen", die auch oder gerade umständliche, mittelbare und unkonventionelle Wege gehen. Fast 35 Jahre später mußte nämlich die eigens beauftragte Enquetekommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu Stand und Perspektive der Medienwirkungsforschung in der Bundesrepublik kritisch vermerken, daß die "Befragung auch in der Wirkungsforschung nach wie vor das Standardinstrument der Datenerhebung" ist (Merten, 1986a, S. 105), und insgesamt bemängelte sie die Kurzfristigkeit sowie das geringe methodische Entwicklungsniveau der meisten Studien, so daß sie oft nicht einmal den Standard der sie beleihenden Nachbarwissenschaften repräsentieren (DFG, 1986, S. 4 passim). Daher sind Blicke in die Wissenschaftsgeschichte schon lohnenswert, aber auch nötig, zumal bei einer Disziplin, die sich bis heute noch nicht all ihrer gegenständlichen und methodologischen Facetten unvoreingenommen vergegenwärtigt. Was unter der überlegenen Regie der Frankfurter Schule als sog. "Positivismusstreit" in den späten 60ern und den 70ern Jahren an epistemologischen Grundlagen und Reflexionen hervorgebracht wurde (Habermas, 1968; Adorno u.a., 197(T), ist im Grunde für keine Sozialwissenschaft mehr hintergehbar, auch wenn sie sich nicht selbständig an deren fach— und objektspezifischen Konkretisierung beteiligt hat. In den frühen 80er Jahren rekapitulierte sich diese theoretisch — methodologische Selbstdefinition und — konstitution in dem Disput zwischen sog. quantitativen und qualitativen Methoden, man könnte auch sagen: zwischen empiristischen (oftmals als erfahrungswissenschaftlich hypostasierten), naturwissenschaftlich orientierten und hermeneutischen, sich interaktionstheoretisch verstehenden

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Konzeptionen der Sozialwissenschaften — auch wenn er sich vorrangig auf methodische Probleme kaprizierte (Gerdes, 1979; Hopf/Weingarten, 1979; Soeffner, 1979; Kleining, 1982; Witzel, 1982; Garz/Kramer, 1983; Girtler, 1984; Zedler/Moser, 1984; Jüttemann, 1985; Kleining, 1986). Gleichwohl gerieten fast sämtliche Aspekte sozialwissenschaftlicher Theoriebildung und Methodologie auf den breit be— und verhandelten Prüfstand: die Beschaffenheit (und wissenschaftliche Rekonstruktion) sozialer Gegenstände, die Rolle und das Selbstverständnis des analytisch erkennenden Subjekts, die Reichweite und Aussagekraft der empirischen Methoden, vor allem ihre offenbar unausweichliche Tendenz, Objektfelder aporiehaft zu verdinglichen, in disziplinaren Routinen sukzessive zu verselbständigen und die Selbstreflexionsfähigkeit der zu Untersuchenden notorisch zu unterschätzen (Bungard, 1980), letztlich: das Erkenntnisideal und — ethos sozial wissenschaftlicher Forschung überhaupt. Eine Fülle von Literatur entstand dazu, mit befürwortender wie mit ablehnender Intention (Ferchhoff, 1986; Heinze, 1987). Die einen markierten sogleich den radikalen Paradigmenwechsel, behaupteten die Ausschließlichkeit der Positionen, die anderen deckten theoretische Traditionen und methodologische Kontinuitäten auf und plädierten für die wechselseitige Unverzichtbarkeit, mindestens Ergiebigkeit der beiden methodischen Pole. Annäherungen und Überlappungen, wenn auch hier und da eher halbherzige oder opportunistisch unausgegorene, haben sich mittlerweile ergeben; Differenzierungen dergestalt sind vorgenommen worden, daß die verschiedenen Phasen des Forschungsprozesses (neuerlich) durchmustert und Prioritäten bzw. Anteile der einen oder anderen Methodik jeweils gewichtet und gewertet werden. All dies hat zu gründlichen methodologischen Reflexionen und einigen Revisionen des methodischen Vorgehens geführt, eine bemerkenswerte Offenheit und Pluralität der Ansätze bewirkt, vor allem die Potentiale und Grenzen sozialwissenschaftlicher Erkenntnis neu sondiert — auch wenn in jüngster Zeit die Innovationsimpulse (bereits wieder) zu erlahmen drohen und sich — nicht zum geringsten unter dem Druck externer Prädikation — neuerliche Verkrustungen und Sanktionen abzeichnen. Besonders das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und alltäglicher, lebenspraktischer Erfahrung, namentlich die vorgebliche Besonderheit, wenn nicht Höherwertigkeit ersterer, wurde erneut problematisiert. Prinzipiell sind wissenschaftliche Methoden aus alltäglicher Lebenspraxis gewonnen, in langen wissenschaftlichen Normierungs— und Konventionalisierungsprozessen freilich derart abstrahiert und standardisiert, daß sie ihren alltäglichen, lebenspraktischen Ursprung kaum mehr erkennen lassen. Als kanonisiertes, autoritätsheischendes Methodenrepertoire treten sie dann dieser gegenüber, ohne nunmehr zu erkennen zu geben, vor allem nachvollziehbar zu machen, worin ihre erkenntnismäßige Überlegenheit und Unanfechtbarkeit

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begründet ist. Wissenschaftliche Erkenntnis schmückt und armiert sich mithin mit der Aura methodischer Exaktheit und Unbezweifelbarkeit. Doch immer wieder (und noch) werden solch apodiktische Prädikate mehr oder weniger radikal angezweifelt, Wissenschaft — und zwar jedwede — verliert ihren kategorischen, erratischen Nimbus —, auch wenn viele ihrer Vertreter ihn durch ständig ausgefeiltere, kompliziertere und vordergründig unangreifbarere Methodiken, nun auch mit modernsten, mikroelektronischen Gerätschaften unterstützt, zu verteidigen trachten (Beck, 1986; 1988). Einen pauschalen Automatismus erkenntnismäßiger Ergiebigkeit, vor allem Überlegenheit gegenüber alltäglicher, 'unsystematischer' Erkenntnis mögen jedenfalls zunehmend weniger Fachleute wissenschaftlicher Forschung unbesehen und uneingeschränkt zubilligen. Vielmehr müssen wissenschaftliche Methoden, so sie überhaupt zu anerkannten und brauchbaren Resultaten gelangen wollen, jeweils hinsichtiich der spezifischen Fragestellungen, der angestrebten Erkenntnisziele und des vorgenommenen Untersuchungsfeldes, aber auch unter Berücksichtigung der kontingenten Konstellationen des geplanten Forschungsprozesses neu konstruiert, mindestens konkretisiert werden und sich vor allem bewähren. Daher sind hermeneutische Prozesse, also solche des sukzessiven, rekursiven Verstehens und der sozialen, selbstreflexiven Deutung des eigenen Tuns, aus keiner Phase des Vorgehens zu eliminieren, sie finden unausweichlich statt, ob man sie eingesteht und mitbedenkt oder nicht. Zu entscheiden ist allerdings jeweils, wann, wie und woraufhin man sie um der erwünschten analytischen Generalisierbarkeit und Vergleichbarkeit willen derart vereindeutigt und standardisiert, daß sie sich möglicherweise auch quantitativen Koordinaten und Meßgrößen fügen. Von verschiedenen Warten aus stellt sich mithin die heftig traktierte Valenz der beiden methodologischen Extreme unterschiedlich: Quantitative Meßverfahren sind nur dann als höherwertig, (vermeintlich) wissenschaftlicher anzusehen, wie den Maximen der Generalisierbarkeit und formalen Vergleichbarkeit der Vorzug eingeräumt wird. Doch deren Geltung und Gültigkeit erweisen sich für soziale Sachverhalte als äußerst zeitbedingt und bereichsspezifisch — umso mehr, als sich die avisierten Gegenstandsfelder selbst in gravierendem und rapidem Wandel befinden. Vollends nivelliert sich die postulierte Priorität, wenn Intensität und Reichweite der Erfassung des jeweiligen sozialen Gegenstandes überprüft werden. Ohne die vielthematisierte Komplexitätsreduktion kommen quantitative Verfahren prinzipiell nicht zurande; natürlich fallt sie auch bei qualitativen Verfahren an, aber nicht schon im voraus, als conditio sine qua non des standardisierten Methodenrepertoires, sondern fallweise und kontrollierbar, als sensible Perzeption und Rekonstruktion des Gegenstandsfeldes im Hinblick auf das angestrebte Erkenntnisinteresse. Sicherlich können sich auch quantitative Verfahren solch behutsamer, gegenstandsadäquater Annäherungen befleißigen, so daß ungefähr analoge Vorgehensweisen der beiden "Schulen denkbar sind; aber in

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der Regel erfolgt die apriorische, oft genug unbedachte Isolierung und Konditionierung des Gegenstandsfeldes, meist auch schon der Fragestellung unter der Maßgabe der methodischen Potentiale. Daher beschränken sich letztlich die üblichen Validitätsprüfungen auf die Triftigkeit und Stimmigkeit der internen, vorab definierten Indikatoren und Relationen (getreu dem anerkannten Falsifikationspostulat); keinesfalls können sie als absolute Prädikate für den Erkenntniswert und das Niveau der jeweiligen Studie gelten. Mit Vorliebe, so scheint es jedenfalls, bewegt und begrenzt sich wissenschaftliche Routine in und mit solch hypostasierten Standards. Das Verdienst jeder offenbar periodisch anfallenden Grundsatzdiskussion über theoretisches Selbstverständnis und methodologische Validität ergibt sich mithin daraus, daß derart konventionalisierte, wenn nicht kanonisierte Vorgehensweisen problematisiert, von allen Warten aus neu beleuchtet und überprüft werden, eingespurte Gleise und Schematismen aufgedeckt, Defizite und Desiderate aufgezeigt und mittels innovativer Impulse revidiert, mindestens ergänzt werden. Dieser wissenschaftliche Progreß, dieses übliche Lösen von Problemen (ohne ständig die Dignität des Paradigmenwechsel beanspruchen zu wollen) resultiert zum einen aus dem Drang nach mehr und tieferer Erkenntnis, nach Optimierung analytischen K n o w - h o w s , zum anderen aus der Wahrnehmung, womöglich drängenden Evidenz der Veränderungen der in Betracht kommenden Objektfelder, die nach neuen Erkenntnissen rufen und dafür ebenso angemessene wie fündige Methoden, auch unkonventioneller Art, einfordern. Abermals zeigt(e) sich der main stream der Publizistik— und Kommunikationswissenschaft von diesen ebenso grundsätzlichen wie folgenreichen Diskussionen weitgehend unbeeindruckt, nimmt man die fast offiziösen Publikationen, vor allem die schon erwähnte Bestandsaufnahme bundesdeutscher Medienwirkungsforschung (DFG, 1986), aber auch die Dokumentationen der Jahreskongresse der Deutschen Gesellschaft für Publizistik— und Kommunikationswissenschaft (im Vergleich etwa zu denen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (Matthes, 1980; Bonß/Hartmann, 1985)) und endlich das restriktive Methodenverständnis bei den relevanten Forschungsprojekten, etwa den Begleitforschungen zu den Kabelpilotprojekten unter der Obhut der (vorzeitig aufgelösten) einseitig agierenden Gemeinsamen Kommission (Lange, 1986; Teichert, 1988), als Maß. Allenfalls an den Peripherien, in den weniger entscheidenden Filialen, regten und regen sich Aufgeschlossenheit, der Drang und die Bereitschaft zur Partizipation an den methodologischen Diskussionen, der Bedarf an Problematisierungen und Revisionen. Dabei drehten sich sämtliche methodologische Debatten (von neuem) letztlich um die zentrale Frage, was eigentlich der originäre Gegenstand, mindestens das prinzipielle Anliegen der Kommunikationswissenschaft — sofern sie es noch im weiten, unverstellten Sinn versteht — ausmacht, namentlich

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darum, welche Funktion und Teilhabe die soziale Kommunikation bei der "gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit" (Berger/Luckmann, 1969) wahrnimmt, und zwar in all ihren Facetten und Varianten. Brisanter und komplizierter in methodologischer Hinsicht wird diese Selbstprüfung durch die sich verbreitende Einsicht, daß sämtliche sozialwissenschaftliche Forschung weithin, wenn nicht gänzlich auf Kommunikationsakte rekurriert und sie zum Analysegegenstand hat, auch wenn sie sich vordergründig darauf beruft, 'harte' soziale Fakten zu erfassen (Soeffner,1979; Gross, 1981; Rudinger u.a, 1985). Umgekehrt verkörpert die gesellschaftliche, institutionalisierte und mediatisierte Kommunikation, der genuine, wenn auch disziplinär begrenzte Gegenstand der Kommunikationswissenschaft, nur in der wissenschaftlichen Rekonstruktion eine 'soziale Tatsache' im buchstäblichen und damit isolierbaren Sinn; in der konkreten Lebenspraxis der Menschen bleibt sie ein untrennbarer Teil ihrer selbst: Ergebnis, Ausdruck und Medium ihres praktischen Lebens Vollzuges, sogar dann, wenn sie ausschließlich professionell und kommerziell hergestellt wird. Denn die subjektiven Komponenten — vor allem bei der Perzeption und Rezeption — sind selbst unter solchen Kautelen nicht zu eliminieren. Vorrangig bleiben die alltagsweltlichen Konstrukte — soll heißen: Verarbeitungs— und Vergegenwärtigungsweisen — der einzelnen Individuen, besonders deren konstitutive, mindestens formelle Beziehungen, wenn nicht Abhängigkeiten, zu den kollektiven, gemeinhin massenmedial verbreiteten, symbolischen Wirklichkeiten. Sie in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit sowie in ihrer historischen Genese zu erschließen und ihre alltagsweltliche Relevanz zu erklären, beschreibt nicht nur in toto das Aufgabenfeld einer weiten, unvoreingenommenen Kommunikationswissenschaft. Unaufkündbar impliziert dieses Postulat auch die grundsätzliche wissenschaftstheoretische Problematik: die essentielle, allerdings seit jeher traktierte Frage, was sich menschlicher Erkenntnis materialiter, d.h. als objektiv existent, eröffnet und was gesellschaftlich, also symbolisch — kommunikativ, vermittelt ist, also rekursiv—hermeneutisch entschlüsselt werden muß. Und an sie schließt sich die nicht minder prinzipielle, aber eher methodische Überlegung an, wie sich gesellschaftliche Erkenntnis in dem unaufhebbaren Zirkel hermeneutischen Fremd— und Selbstverständnisses einigermaßen kontrolliert und kontrollierbar entfalten kann. Zweifelsohne ist damit das wohl wesentlichste Problem der allgemeinen Wissen(schaft)stheorie, obendrein untrennbar in zahllose dialektische Wechselbeziehungen mit den alltäglichen Lebens Vollzüge verstrickt, angesprochen. Letztlich ist es derart fundamental, daß es von keiner einzelnen Disziplin angegangen, geschweige denn bewältigt werden kann. Aber wenn menschliche Kommunikation sich zusehends medial vermittelt und so in alle Erfahrungsbereiche eindringt, wenn sie auf diese Weise ubiquitär und mächtig wird, dann bleibt die

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aufgeworfene Frage unweigerlich die zentrale und unumgehbare — gerade auch und besonders für die Kommunikationswissenschaft. Popularisierte Betrachtungen beschwören längst auf ihre Weise dieses breit spürbare, kollektive Desiderat, wenn sie über das "Verschwinden der Kindheit"(Postman, 1983) — allgemeiner: über die zunehmende Nivellierung der Generations— und Altersunterschiede — oder die Verflüchtigung von "Wirklichkeit" (v.Hentig, 1984), über die Instrumentierung (Weizenbaum, 1978; Dreyfus, 1985) oder den "Verlust des Denkens" (Roszak, 1986), über die Konditionierung der Wahrnehmung und die Disziplinierung menschlicher Sinnlichkeit (Postman, 1985, 1988; ν. Bismarck u.a., 1985; Volpert, 1985; Mettler—Meibom, 1987) räsonieren, und sie tun dies ja ungleich spektakulärer und damit prägender als alle wissenschaftlichen Diskurse, aber eben auch eindimensionaler und tendenziöser, auf der Grundlage eines unilinearen, simplen Wirkungsparadigmas, ohne allerdings die dafür maßgeblichen gedanklichen Voraussetzungen immer zu erkennen zu geben. Da sie wiederum von den Medien begierig aufgegriffen und oft genug in sensationeller Manier verbreitet werden, bestreiten solche eingängigen Metaphern und unausgegorenen Theorieversatzstücke umgehend das allfallige Repertoire kollektiver Verständigung, zumal über mediale Kommunikation. Auf diesem Feld ist nahezu jeder kompetent, nicht nur aus dem (notwendig beengten) Blickwinkel seiner eigenen Erfahrungen, sondern eben auch infolge jener Dauerunterrichtung durch die Medien, Daher kann die Kommunikationswissenschaft dieses vage, vagebundierende Halbwissen über gesellschaftliche Kommunikation nicht mehr länger vernachlässigen, die Verbreitungszahlen jener Bestseller im Vergleich zu denen ihrer eigenen Publikationen sollten sie aufhorchen lassen, und es gehören derart vergesellschaftete Diskursvehikel unbedingt in den Fokus theoretisch — analytischer Vergegenwärtigung und Erklärung. So unaufhaltsam zirkulär und auto — referentiell funktionieren heute kommunikative Systeme, zumal solche mit medialer Unterstützung und Dynamik (Luhmann, 1984).

3.

Innovationszwänge: neuere Ansätze der Medienforschung

Mit zwei Ansätzen im wesentlichen trägt die bundesdeutsche Kommunikationsforschung mittlerweile den veränderten Kommunikationsverhältnissen — analytisch gesprochen: der unabwendbaren Diffusion, wenn nicht Erosion des Wirkungsparadigmas — Rechnung, und zwar inzwischen auf derart konzise, empirisch operationalisierte Weise, daß fast schon von kanonisierten Paradigmas gesprochen werden kann. Andere Vorstöße sind in der Diskussion oder werden fallweise postuliert (oder auch mitunter konkurrierend ins Feld geführt), genießen aber bislang noch nicht vergleichbare szientifische Approbation wie — so die mittlerweile eingeführten Bezeichnungen jener Ansätze — der "Uses and Gratifications — Approach" und der "Agenda Setting— Approach". Symptomati-

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scherweise wurden beide zu Beginn von ihren Protagonisten als grundsätzliche, mindestens überaus konstruktive Alternativen zur konventionellen Wirkungsforschung, vor allem zu deren unverrückbaren Kausalitätsprämissen, eingebracht, und ansatzweise sind sie es auch (Drabczynski, 1982; Schulz, 1982; Renckstorf/Teichert, 1984; Schenk, 1987): Der "Uses and Gratifications Approachhierzulande als "Nutzenansatz" modifiziert, aber auch theoretisch ambitiöser vertreten (Renckstorf, 1977; 1984; Teichert, 1972; 1973; 1976), ließ durch seine konsequente Orientierung auf die Rezipienten hin, vor allem durch seine Anerkennung von deren bewußter Teilhabe am Kommunikationsprozeß aufhorchen: Der aktive Rezipient stellt bekanntlich nicht mehr das nahezu willenlose, abhängige Reaktionsbündel dar, das sich gegen die Verlockungen und Wirkungsstrategien der Medien bestenfalls mit allfälligen Selektionsvorkehrungen (selective exposure, selektive attention, selective retention) behaupten oder sie mit ihrer Hilfe halbwegs abmildern kann; vielmehr nutzt er die Medien bzw. ihre Angebote absichtsvoll, entsprechend seinen erklärten oder zumindest erahnten Motiven, Bedürfnissen, Erwartungen, seinen Nutzungserfahrungen und/oder — Intentionen — all diese Begriffe für empirisch vorfmdliche, ermittelbare Dispositionen und Strebungen werden von den diversen Studien weitgehend synonym verwendet. Kategorisch (aber auch ein wenig optimistisch) formuliert: Der aktive Rezipient läßt Medien nur noch insoweit wirksam werden, wie es seinen Bedürfnissen und Erwartungen frommt (Schulz, 1982, S. 54). Das Subjekt 'Rezipient' ist mit diesem Ansatz rehabilitiert und soll selbständig, mündig — wie der demokratiegerechte Terminus lautet — , über sämtliche Medienangebote und — nutzungsweisen verfügen. Der diesbezüglichen Rezeptionsforschung obliegt es daher, die auf die Medien projizierten Erwartungen, Gewohnheiten und Befriedigungsweisen empirisch zu eruieren — zunächst ungeachtet, ob und wie diese tatsächlich verwirklicht werden. Denn nach ihnen befragt wird der Rezipient; er ist die unbezweifelte Auskunfts— und Deutungsinstanz, freilich gemeinhin nicht als konkretes Individuum, sondern als typisierbarer Rollenträger. Ob und wie er sich über seine Erwartungen und Befriedigungen belügt oder täuscht, dafür interessiert sich der Nutzenansatz primär nicht. Gemeinhin greifen seine repräsentativ angelegten Befragungsinstrumentarien nicht so tief, daß ein begründetes Urteil darüber gelingen könnte. Das traditionelle Wirkungsparadigma hebt der Nutzenansatz mithin sowohl kategorial als auch in etlichen speziellen Hinsichten auf: Weder der einzelne akute noch der generalisierte Wirkungspozeß steht im Zentrum seiner analytischen Betrachtung. Und ob die artikulierten Nutzungserwartungen der Rezipienten bereits von Mediengewohnheiten geprägt und/oder deren Konjunkturen ausgeliefert sind, kümmert ihn bestenfalls in zweiter Linie, in der Regel allerdings nicht. Relevant und entdeckenswert ist allein, ob die Probanden mediale

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Orientierungen — fakultative wie habituelle — äußern, soll heißen: in der Befragung für sich, für ihr Leben und ihre psychischen Befindlichkeiten, rekonstruieren (können) und als bedeutsam erachten. Der Wirkungsprozeß wird also auf die Wahrnehmung und Selbstinterpretation des sozial verallgemeinerten Individuums hin fokussiert, mithin verschoben und sublimiert, als spezifisches Objekt letztlich der Analyse entzogen. Erst recht nicht mehr von Belang sind demnach singuläre Wirkungsprozesse zumal von einzelnen Medien oder gar Medienprodukten. Die von der konventionell— kausalistischen Wirkungsforschung unterstellten Prämissen, Medienwirkungen seien gemeinhin singulär und terminiert (mindestens lassen sie sich unter diesen Vorzeichen leichter oder überhaupt empirisch untersuchen) (Schulz, 1982, S. 52), sind für den Nutzenansatz unerheblich. Von der (zunehmend unrealistisch werdenden) Erwartung, im 'Zeitalter der Medien', bei einer permanenten Sozialisation aller (nicht nur der Kinder und Jugendlichen) an und durch Medien, Wirkungsprozsse noch eindeutig, gleichsam materialiter identifizieren zu können, hat sich der Nutzenansatz konsequent verabschiedet. Fragen etwa wie: Wie wirkt das Fernsehen? oder: Schaden gewaltbeladendene Filme bzw. Videos Kindern in einem bestimmten Alter? — Fragen, wie sie gleichwohl die populären Diskussionen vornehmlich aufwerfen und sie auch bewegen — kann der Nutzenansatz nicht beantworten. Insofern trägt er der Realität der Medienrezeption, also ihrer (unabgeschlossenen, kaum mehr sachlich zu begrenzenden) Kontinuität und ihrer unauffälligen, ständig voranschreitenden Alltäglichkeit, angemessener Rechnung als die herkömmliche Wirkungsforschung — wiewohl die dadurch eingehandelten Gewichtungen und Nivellierungen nicht ignoriert werden dürfen. Treffender ist es daher allein schon terminologisch, von Rezeptions— und nicht mehr von Wirkungsforschung zu sprechen. Seine entscheidendste und zugleich fragwürdigste Prämisse setzt der Nutzenansatz mit seinem Subjektbegriff: So funktionalsiert und quasi — selbstverständlich kann er leicht er zum Artefakt gerinnen, der nicht ohne Grund an den des Wirtschaftsbürgers, wie in die Nationalökonomie schätzt (Hunziker, 1981), oder an den des unabhängigen Rollenträgers der konventionellen Soziologie gemahnt (Gerhardt, 1971). Jener handelt autonom, getreu seinen Interessen und Maximen, auf dem Markt, jedenfalls frei von übergeordneten und irrationalen Abhängigkeiten, dieser wechselt nicht minder souverän und fungibel die Positionen und Orientierungen, die eine "offene Gesellschaft" in ihren diversen Situationen und Anforderungsprofilen verlangt. All diese Sichtweisen rekurrieren offensichtlich auf einen ausschließlich rationalistischen und zudem statischen Subjektbegriff, mindestens im konkreten Stadium der Erhebung. Permanentes Lernen, sozialisatorische Interaktion, vor allem aber sämtliche kontingenten und affektiven Imponderabilien bleiben so außer oder allenfalls von geringem Be-

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tracht. Woher und wodurch — um sich nun wieder auf die Mediennutzung zu konzentrieren — das Subjekt die Erkenntnis und schlüssige Wahrnehmung seiner Bedürfnisse gelernt hat und wie es sie unter wechselnden Bedingungen ständig anpaßt, vor allem mit welchen Widersprüchen, Selbsttäuschungen und Abstrichen es sich einigermaßen seine Identität gegenüber den versierten, oftmals kontraproduktiven Offerten der Medien behauptet — dies kümmert die solcherart orientierte Rezeptionsforschung wenig. Entsprechend vordergründig und pragmatisch werden die Nutzungsprofile erfragt, in den vorliegenden wenigen deutschen Studien ebenso wie in den internationalen (Schenk, 1978, S. 212ff; Drabczynski, 1982; Schenk, 1987). Allein schon der im Deutschen vielfach gewichtete und umstrittene Begriff des Bedürfnisses wird von ihnen kaum zureichend gewürdigt (Hollenstein u.a., 1983; Möller, 1988). Da die (in der Regel standardisierten) Befragungen außerdem nur die individuellen Rekonstruktionen der Probanden aufgreifen (können), bleiben auch sämtliche situativen, akzidentiellen und interaktiv auftretenden Momente der Medienrezeption unberücksichtigt. Sie fallen in den alltäglichen Kontexten mehr oder weniger unbemerkt und/oder habitualisiert an, scheinen aber konstitutiv für die von Medien erzeugten oder beeinflußten Situationen, Räume wie sozialen Interaktionsfelder zu sein. Nach wie vor definiert der Nutzensansatz die 'Untersuchungseinheit' als das einzelne, sozial typisierte Individuum, kaum jedoch etwa als die Familie oder andere Gruppierungen, erst recht nicht als spezielle Teilpublika, wie sie das Theater, das Kino, die Diskothek oder die Spielhalle gemeinhin stiften. In methodischer Hinsicht bleibt schließlich zu bedenken, daß die Vergegenwärtigung und definitorische Zuschreibung individueller 'Bedürfnisse' mittels vorgegebener Kategorien, wie sie die standardisierte Befragung verlangt, zu Scheinrationalisierungen und Euphemismen verleiten kann. Dies umso mehr, als man davon ausgehen muß, daß der Medienkonsum einerseits hochgradig 'veralltäglicht', also weithin unbedachten Routinen und eingeschliffenen Gepflogenheiten unterworfen ist. Andererseits belasten ihn trotz oder gerade wegen seines gestiegenen Umfangs und seiner wachsenden Bedeutung immer noch vielfältige Vorbehalte, Gefühle des Unbehagens, des schlechten Gewissens etwa, absichtliche oder uneingestandene Einsamkeitskompensationen, Vorhaltungen derart, Medienkonsum, zumal (wie immer verstandener) extensiver, zeuge von geringer Antriebsstärke, von mangelnder Aktivität und Soziabilität. In all diese psychischen Dimensionen kann der Nutzenansatz analytisch nicht vorstoßen — vermutlich will er es auch gar nicht infolge seiner wissenschaftstheoretischen Prämissen und seines eingeschränkten, meist auftragsbezogenen Erkenntnisinteresses. Für den Medienverkäufer, den Kommunikator also, genügt es nämlich allemal, die von den Rezipienten geäußerten Erwartungen und Bedürfnisse zu kennen,

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womöglich auch erst grob zu definieren und für die so manifestierten Bedarfskontingente die passenden Medienprodukte anzubieten, so daß die Kunden bzw. Medienkäufer subjektiv den (oft nur illusionären) Eindruck der Befriedigung gewinnen können. Immerhin: gegenüber den psychologistischen Verkürzungen und Verdinglichungen der konventionellen Wirkungsforschung bedeutet die Anerkennung des aktiven Rezipienten fraglos einen erkenntnistheoretischen Fortschritt, weil sie die im Grunde unaufhebbare Dialoghaftigkeit und Subjektbezogenheit von Kommunikation, auch von der über Medien vermittelten, prinzipiell voraussetzt und analytisch thematisiert. Wichtig ist diese Prämisse vor allem deshalb, um bei der medial vermittelten Kommunikation die induzierten Reduzierungen, Vereinseitigungen und subjektiven Kompensationen erkennen und erschließen zu können. Viele ergeben sich nicht unmittelbar, als positiv vorflndliche Strukturen und/oder Fakten, vielmehr eröffnen sie sich als subjektive Rekonstruktionen, als individuelle wie kollektive (Selbst)Deutungsmuster und Verarbeitungsmodalitäten der Rezipienten. Gleichwohl: diese Zugangsweise dient nicht nur der adäquateren Beachtung der Rezipienten, sie dürfte auch — was vielfach ignoriert wird — den anhaltenden strukturellen Veränderungen des Medienmarktes entgegenkommen: Je mehr dieser seine Offerten vervielfältigt und für verschiedene Zielgruppen diversifiziert — bei einem doch letztlich begrenzten Repertoire von Formen, Intentionen und Zwecken der Medienprodukte, deren wachsende Zahl und Variation deshalb den Grad der Beliebigkeit ihrer Wahrnehmung und Nutzung erhöhen —, um so unmöglicher, vor allem unerheblicher wird es, die Rezeption und die Bedeutung, um nicht zu sagen die Wirkung eines Mediums oder gar eines einzelnen Medienprodukts als singuläre Besonderheit zu identifizieren und zu untersuchen. Fast jeder Inhaltstypus — so das Credo des Nutzensansatzes — kann praktisch jedem Funktionstypus, allerdings bei jeder Rezipientengruppe unterschiedlich, dienen (Drabczynski, 1982, S. 42). Die Nutzenstudien waren es daher auch, die erstmals das längst etablierte, vielfaltig korrespondierende Mediengeflecht als genutzte Gesamtheit ins analytische Blickfeld nahmen, international etwa die inzwischen berühmten Pionieruntersuchungen aus Israel (Katz/Gurevitch/ Haas) oder Schweden (Rosengren/Windahl), hierzulande die im Auftrag der Bertelsmann—Stiftung durchgeführte zum Thema "Kommunikationsverhalten und Buch" (1978) (vgl. Teichert, 1976; Drabczynski, 1982), die einige spezielle Nachahmungen (etwa Bonfadelli, 1986) fand und deren modifizierte Review in Arbeit ist. Seither ist diese umfassende und funktional vergleichende Sicht auf die Medien als wechselseitig komplementäres wie (begrenzt) konkurrierendes System geläu-

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fig, zumindest für die breite sozialwissenschaftliche Forschung, erst recht — versteht sich — für die marktorientierte, auftragsbedingte — wobei natürlich die Entsprechungen und Beeinflussungen unter den Medien nicht mit denen übereinstimmen zu brauchen, die sich für die und bei den Rezipienten — zumal unterschiedlich — ergeben. Besonders für den gesamten Marketing— und Werbungssektor, aber auch für jede andere, etwa politische Publikationsstrategie gehört inzwischen die exakt ausgeklügelte und terminierte Inseratekampagne in diversen Medien zur professionellen, weil erfolgsentscheidenden Routine. Allein unter wertenden, vor allem kulturbeflissenen Vorzeichen werden Prioritätspostulate über Medien vorgebracht und vehement verteidigt: Da rangiert das Buch nach wie vor unbezweifelt vor dem Fernsehen, dem Trivialmedium per se, ungeachtet der jeweiligen Inhalte und der konkreten (ästhetischen) Gestaltung. Funktionalistische Prämissen im allgemeinen, theoretisch nicht weiter spezifizierten Sinn sind also dem Nutzenansatz inhärent, wie ja überhaupt die These F.G. Klines bedenkenswert und wohl auch bezeichnend ist: "... in general, the major leitmotif of communication research has been functionalist from the beginning" (zit. nach Schulz, 1982, S. 55). Nur die bundesdeutsche Kommunikationsforschung probte in den 70er Jahren, mindestens in ihren progressiven Teilen, bekanndich die kritische, materialistische Variante, die heute aber wieder dem angepaßten Desinteresse anheimfällt. Dem Anschluß an und der Anerkennung durch die internationale Forschung steht also nichts mehr im Wege. Es war daher schon recht voreilig oder auch verwegen, den Nutzenansatz hierzulande als wissenschaftstheoretisch grundsätzliche Alternative anzuempfehlen (Renckstorf, 1977; 1984). Inzwischen sind seine Traditionslinien hinlänglich rekonstruiert und sie weisen ihn als recht kontinuierliches, bald standardisiertes und deswegen keinesfalls alternatives Denkmuster aus: So zeichnete sich bereits die 1940 durchgeführte Studie über Lesemotivationen ("What Reading Does to People"; Waples et a., 1942; zit nach Drabczynski, 1982)), die übrigens im Rahmen einer literaturwissenschaftlichen Arbeit erstellt wurde, durch eine beeindruckende, ungewöhnlich differenzierte Palette möglicher Motive und Gratifikationen aus, die heute erfragten kaum nachsteht. Getragen wurde sie von der ebenso noch gültigen Annahme, daß "Motive und Gratifikationen nicht isoliert betrachtet werden können, sondern im Kontext von 'psychologischen Bedingungen* und 'Gegebenheiten der Umgebung' beurteilt werden müssen". Lesen stellt sich — schon damals! — nach den Auffassungen und "Werten" der Befragten nicht als einzigartige und unersetzbare Möglichkeit heraus, um bestimmte Zielvorstellungen und Belohnungen zu erlangen, sondern als eine unter anderen (zit. nach Drabczynski, 1982, S. 96). Aus wissenschaftshistorischer Sicht verdankt sich also die hiesige Konjunktur des Nutzenansatzes vornehmlich der mangelnden Kontinuität und lückenhaften Registratur des internationalen Forschungsstandes; unter forschungspraktischen, namendich auftragsorientierten Vorzeichen

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erfordern die sich verändernden, vor allem expandierenden und komplementär, wenn nicht konzertant agierenden Medien Verhältnisse angemessenere, funktional tauglichere Vorgehensweisen, nachdem sich die konventionelle Wirkungsforschung zusehends für solche Erkenntnisse und Planungsaufgaben als unbrauchbar und unergiebig herausstellt. Solch zeitgemäßere Impulse sind dem Nutzenansatz somit nicht abzusprechen. Deutlicher noch in der Tradition des Funktionalismus bewegt sich die sog. Agenda Setting—Forschung, hierzulande versuchsweise auch als Untersuchung der "Thematisierungsfunktion" oder "Themenstrukturierungsfunktion" von Massenmedien etwa zu Beginn der 80er Jahre eingeführt und als zweite vielversprechende Perspektive, als "neues Konzept der Medienwirkungsforschung" (Ehlers, 1983a, S. 167) annonciert (Uekermann/Weiß, 1980; Saxer, 1983; Renckstorf/Teichert, 1984; kritisch dazu: Ehlers, 1983a; 1983b). Zwar verstehen ihre Verfechter ihr theoretisches Gerüst nicht als grundsätzliche Alternative zur konventionellen Wirkungsforschung — an der Medienzentrierung ihres analytischen Blickwinkels sowie an der Kausalitätsprämisse der Medienwirkungen halten sie nämlich fest —, aber Innovationen und Optimierungen für die Wirkungsforschung, zumal hinsichtlich der bislang vernachlässigten langfristigen und gesellschaftlichen Wirkungen von Medien (Maletzke, 1981, S. 1 Iff; Kaase/Langenbucher, 1986, S. 13ff), versprechen sie sich schon von ihr. Erkenntnistheoretisch betrachtet, entläßt der Agenda Setting—Approach die Wirkungsforschung aus zwei ihrer prinzipiellen Dilemmata (ohne daß dieser Dispens allerdings unumwunden eingestanden und methodologisch umgesetzt zu sein braucht): Einmal enthebt er sie des empirisch validen Nachweises eines eindeutigen, bis in jede einzelne Variable hinein identifizierbaren UrsacheFolge—Konnexes, des strikten Zusammenhangs also, daß ein bestimmtes Medium oder gar eine bestimmte Medienaussage eine bestimmte Wirkung in Meinung, Einstellung und/oder Handlung auslöst. Außerdem visiert er nicht mehr singuläre und spezifische Wirkungen an, sondern befaßt sich mit kollektiv bzw. gesellschaftlich aufkommenden Repräsentanzen virtueller Medienwirkungskonglomerate, ohne sich im einzelnen um ihre konkreten Urheber oder Manifestationsformen, vor allem um ihre speziellen Mechanismen der Entstehung und Verbreitung, analytisch kümmern zu müssen. Wohl werden namentlich anhand von Wahlkampf—Kampagnen, den bevorzugten Untersuchungsfeldern der Agenda Setting — Forschung (womit zugleich auf ihre gravierendste Verwendungshypothek hingewiesen sei), Ermittlungen themenstrukturierender Prioritäten angestrebt (Weiß, 1982; Schönbach, 1983), aber vorrangig sind deren Identifizierung im Sinne hierarchischer Klassifikationen nicht — und ob sie anhand jener Fallbeispiele allgemeingültig genug erkundet werden können, ist bereits wieder umstritten: So will R. Ehlers (1983a; 1983b) K. Schönbachs (1981;

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1983) Untersuchung des Europawahlkampfs 1979 und des Anteils der Medien — hier: der Presse und des Fernsehens im Vergleich — an der Willensbildung und Wahlentscheidung im "strengen Sinn" nicht als Agenda Setting — Studie gewertet wissen, da Inhaltsanalysen der Medienaussagen — in diesem Fall: der Wahlwerbung — fehlen. Die Agenda Setting — Forschung objektiviert und entspezifiziert mithin den traditionellen Wirkungsbegriff. Sie rekonstruiert nämlich im wesentlichen auf beiden Seiten, mittels Inhaltsanalysen auf der der statistisch erschließbaren Medienangebote und mittels Befragungen auf der der repräsentativ vermessenen Rezipientenschaft, thematische Repräsentanzen, und zwar sowohl in sachlicher Gewichtung, inhaltlicher Verteilung wie auch in zeitlicher Abfolge. Diese so ermittelten und strukturierten Themenrepräsentanzen vergleicht sie miteinander und schließt aus signifikanten Tendenzen — Übereinstimmungen wie Dissonanzen — auf virtuelle Wirkungszusammenhänge und Verursachungen — getreu dem vielzitierten Initialmotto des Agenda Setting—Ansatzes: "Die Massenmedien könnten zwar meistens nicht bestimmen, was die Leute denken, sie hätten jedoch einen mächtigen Einfluß darauf, worüber sie denken" (Cohen, 1963, zit. nach Schulz, 1982, S. 60). Mit anderen Worten: Massenmedien lenken die Aufmerksamkeit, mindestens die öffentlich lancierte und meist subjektiv übernommene, sie gewichten und rangieren Themen in Priorität und Termin (Themenkarrieren), sie verknüpfen und ordnen sie, wobei jedoch unbeachtet bleibt, vielfach sogar umstritten ist, ob und inwieweit sie nur als multiplizierende Vermittler oder als maßgebliche Urheber der öffentlichen Themen fungieren. Der lang währende Disput zwischen der sog. Reflex— und Kontrollfunktion der Medien (Inglis, 1968) wird also vom Agenda Setting—Approach auch nicht entschieden — geschickter oder 'funktionalistischer' noch: er wird nicht einmal mehr wahrgenommen und theoretisch bedacht. Insofern befleißigt er sich der mehr oder weniger expliziten Relativierung der strikten Wirkungsannahmen. Vollends unberücksichtigt läßt die Agenda Setting —Forschung, welche vielfaltigen, oft genug unvereinbaren oder gar gegenläufigen Wirkungsdimensionen auftreten können. Weithin begnügt sie sich mit kognitivistischen (Re)Konstrukten, die von den (zu befragenden) Rezipienten bei der Erhebung — recht besehen — zu aktualisierten und gewichteten öffentlichen Themen (um)definiert werden. Welche Faktoren bzw. Motive ihr Zustandekommen, mindestens ihre öffentliche Repräsentanz hervorgerufen oder wenigstens beeinflußt haben und/ oder ob die vorzugsweise beachteten kognitiven Dimensionen die maßgeblichen waren bzw. sind — wie namentlich für das Fernsehen nachhaltig bezweifelt und zugunsten dessen "emotionaler Wirkungen" (was immer diese sein mögen) votiert wird —, dies zu entscheiden und begründet zu belegen vermag der Agenda Setting — Ansatz nicht. Auf diese ungenügende explikatorische Reichwei-

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te, auf dieses eklatante "Theorie — Defizit" richtet sich die fundamentale Kritik an ihm (Ehlers, 1983a; 1983b). Nicht viel mehr, so folgert sie, als empirische Reformulierungen und Validierungen allgemeiner Funktionsmechanismen öffentlicher Meinung, wie sie bereits zu Beginn der 20er Jahre von W. Lippmann (1922) umrissen und von N. Luhmann systemtheoretisch oder strukturfunktionalistisch rekapituliert wurden, haben die einschlägigen Studien bislang erbracht. Luhmann (zit. 1979) erkennt jene Mechanismen im wesentlich darin, öffentliche Themen statt in rationalen, sich allmählich gesellschaftlich durchsetzenden Diskursen so zu disponieren und zu verteilen, daß sie als beherrschende Strukturen des Kommunikationsprozesses "an den jeweiligen Entscheidungsbedarf der Gesellschaft und ihres politischen Systems" angepaßt werden und ihm dementsprechend dienlich sind (Ebd., S. 26f). Unumwundener lassen sich die funktionalen Erfordernisse moderner politischer Systeme gegenüber den kommunikativen Legitimationsagenturen — sprich: Massenmedien — kaum aufweisen, stringenter könnte der vollzogene "Strukturwandel der (bürgerlichen) Öffentlichkeit" (Habermas, 19694) theoretisch nicht eingelöst werden. Es kann daher nicht verwundern, daß der Agenda Setting—Approach vorzugsweise bei intentional eindeutigen und zielgerichteten Kommunikations— und Willensbildungsprozessen Anwendung findet und sich dabei als ergiebig erwiesen hat, wie die einschlägigen Referate hierzulande verbürgen (Saxer, 1983; Renckstorf/Teichert, 1984; gegenteilig: Ehlers, 1983a; 1983b). Insofern knüpft dieser Forschungszweig außerdem an die berühmten Wahlkampagne — Studien der konventionellen Wirkungsforschung, namentlich an die Erie—County— Untersuchung zum Präsidentschaftswahlkampf 1940 von Lazarsfeld u.a. (1948; deutsch: 1969), an, die damals bekanntlich zur Anzweifelung der verbreiteten "Allmachtshypothese" der Medien (Hackforth u.a., 1976) und zur Formulierung der Zwei— bzw. Mehrstufigkeit des Wirkungsprozesses führten. Nichts anderes als die Wiederentdeckung und Anerkennung subjektiver Komponenten auch in den objektivierten, entsprechend isolierten und als linear erachteten Wirkungsprozessen der Massenkommunikation streben diese beiden Ansätze auf unterschiedliche Weise im Kern an; doch reichlich hypothetisch, wenn nicht deklamatorisch blieb die Revision seither, trotz aller Berücksichtigung und Integration sog. intervenierender Variablen und trotz aller Auffacherung des einschlägig wirksamen Faktorenensembles. An dem "per definitionem unabdingbaren Kausalnachweis" bei Wirkungsuntersuchungen, "d.h. (an der) Zurechnung beobachtbarer Wirkungen zu Medienursachen", will daher die bundesdeutsche Medienforschung laut der sie repräsentierenden DFG — Kommission "strikt" festhalten. Alle anderen theoretischen Überlegungen und methodischen Alternativen zeitigen nach ihrem unerschütterlichen Dafürhalten nur Erkenntnisse "mit

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ungesicherter Beweiskraft", untergraben letztlich die mühsam zu erlangende Reputation als empirische Wissenschaft, vor allem vermeintlich die, final verwertbare Ergebnisse zu liefern (DFG, 1986, S. 6). Auch keinem der anderen kuranten Ansätze, die hier nur noch gestreift werden sollen, gelang es bislang überzeugend, sich aus diesen Kautelen zu lösen, soll heißen: die unaufhebbaren Zusammenhänge zwischen den nur strukturell trennbaren, aber in der Rezeption unlösbar verschlungenen Kommunikationsweisen adäquat zu erfassen und ihre vielfaltigen Dimensionen validen empirischen Entschlüsselungen zuzuführen. Nach wie vor versuchen sich genügend sensible Theoretiker an einigermaßen treffenden, hinreichend differenzierten Beschreibungen und Typologien des gesamten, weithin noch unerfaßten Kommunikationsfeldes (Merten, 1986b), also an der primären, sozusagen grundlegenden Stufe analytischer Erkundung, um hernach erst Segmentierungen und (verdinglichte) Besonderungen wie etwa die Massenkommunikation identifizieren zu können — wohingegen andere bereits unverdrossen eindeutige, unwiderlegbare Beweise einklagen. Selbst so imponierende Theoreme (oder auch nur Etiketten) wie G. Gerbners vielzitierte wie —umstrittene "Kultivierungsthese" (vgl. dazu das Themenheft "Der Vielseher" von "Fernsehen und Bildung", 1981) oder die These von der "wachsenden Wissenskluft" (Bonfadelli, 1980; Saxer, 1985) ändern an diesem prinzipiellen Dilemma nichts Grundlegendes, auch wenn für dieses Urteil hier im einzelnen keine plausiblen Argumente angeführt werden können. Im Grunde handelt es sich bei diesen Ansätzen um methodische Modifikationen oder (einschränkende) Konkretisierungen des konventionellen Wirkungsparadigmas mit all den bereits aufgezeigten erkenntnistheoretischen Hypotheken. Vergleicht man diese neueren Konzepte der Wirkungsforschung aber generell mit den früheren, so ist insgesamt eine gewisse Bescheidung des analytischen Anspruchs unverkennbar: Wirkung wird vornehmlich, oft auch unausgesprochen als probate, von der Disziplin wohl unaufkündbare Metapher gehandelt, der man zwar explizit ihre fundamentale Kausalitätsprämisse nicht absprechen will, die man indes auch nicht (mehr) unbedingt als simplen, unilinearen, fast physikalisch funktionierenden Mechanismus zu verifizieren sucht oder hofft. Vielmehr rückt immer evidenter seine vorfindliche, unaufhebbare Komplexität und Kontingenz ins analytische Blickfeld, der man nun mit unterschiedlichen, eher heuristisch gemeinten 'Reduktions*—Bemühungen begegnen will, ohne daß sich deren Protagonisten bislang genügend darüber verständigt und theoretische Abstimmungen erzielt hätten. Und seine mannigfaltigen subjektiven Dimensionen, Voraussetzungen wie Konkretisierungen, werden ebenfalls mehr gesehen, freilich noch nicht hinlänglich genug methodisch berücksichtigt. So korrespon-

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diert sinnfalligerweise mit der existenten Vielfalt von Mediennutzungsweisen (und damit von Wirkungsoptionen) bereits ein pluralistisches Repertoire von methodischen Zugängen — ungeachtet manch autoritativer Setzungen oder gar Kanonisierungen (vermeintlich) berufener Wissenschaftskommissionen (Kübler, 1987b). Wirkung, so könnte man verallgemeinernd zuspitzen, heißt für den Nutzenansatz kollektive Rekonstruktion und Artikulation medienbezogener Erwartungen und Bedürfnisse von Seiten eines demoskopisch vermessenen Publikums, gleichgültig ob die geäußerten Motive und/oder Belohnungen tatsächlich von den Medien erwirkt, beeinflußt oder ihnen nur mental zugesprochen werden. Für den Agenda Setting—Approach bedeutet Wirkung evidente oder auch nur plausible Analogien — Übereinstimmungen wie Abweichungen — zwischen inhaltsanalytisch ermittelten Repräsentanzen öffentlicher Themen und kollektiven Meinungsprofilen repräsentativ strukturierter Publika. Von beiden Ansätzen werden Wirkungszusammenhänge zwar prätendiert (womöglich sogar als solcherart Ergebnisse interpretiert), aber ihre Faktoren, ihre Transfer —Effekte und psychischen Korrelationen werden nicht en detail empirisch eruiert und gemessen — wie es für die individualpsychologischen Vorgehensweisen immer noch selbstverständlich und maßgeblich ist. Hier verläuft offenbar die Kluft zwischen sozialwissenschaftlicher, auf repräsentative Verallgemeinerungen abzielender und individualpsychologischer Wirkungsforschung. Vielfach ist dieses Manko schon moniert worden, vor allem von Vertretern ersterer, aber überwunden ist es weder theoretisch noch methodologisch (Maletzke, 1981, S.llff; Kaase/Langenbucher, 1986). Nur konsequent ist es daher, wenn führende Vertreter bundesdeutscher Wirkungsforschung für die Suspendierung des theoretisch unergiebigen Wirkungsbegriffs plädieren (oder ihn allenfalls aus pragmatischen Gründen beibehalten wollen): K. Merten (1982) fürchtet durch seine Weiterverwendung die anhaltende Lähmung oder gar Irreleitung drängender Erkenntnisfragen, die aufgebrochen und innovativen Erprobungen zugänglich gemacht werden müßten. Sonst löse sich die Wirkungsforschung voraussichtlich nie aus ihren kausalistischen, letztlich mechanistischen Kautelen. W. Schulz (1982) hält den Terminus hingegen eher aus spezieller kommunikationstheoretischer Sicht für obsolet: Da jede Kommunikation seiner Auffassung nach per se Wirkung impliziere, letztlich sei, schließe auch jede Kommunikationsforschung stets Wirkungsforschung ein. Aber mit solch schlichter Gleichsetzung dürften wiederum Aporien verbunden sein, die einer Verengung und Verdinglichung von Kommunikation — nun von anderer Warte aus — neuerlichen Vorschub leisten. Nicht — intentionale und nicht —finale Kommunikations Vorgänge, zumindest nicht explizit und offensichtlich solche — man denke nur an die vielfältigen Formen der Monologe! —, können nicht a limine aus der analytischen Betrachtung ausgeklammert werden,

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nur um der terminologischen Konsistenz und der einfacheren forschungspraktischen Handhabbarkeit des Gegenstandsfeldes willen. Letztlich treffen sich wohl beide, zunächst nur semantisch gemeinte Vorschläge bei dem lediglich terminologischen Austausch von Wirkung durch Kommunikation, ohne daß für die anstehenden theoretischen und analytischen Desiderate auch nur aussichtsreiche Perspektiven gewonnen worden wären. Im Vergleich zur ehedem dominanten psychologischen Wirkungsforschung sind die gegenwärtig maßgebenden Ansätze, die hier nur exemplarisch vorgestellt wurden, nicht nur zurückhaltender in ihrer theoretischen Reichweite, sie konzentrieren sich auch stärker auf gesellschaftliche 'Wirkungszusammenhänge', allerdings mit den erwähnten epistemologischen Vorbehalten. Das müssen sie freilich auch, wenn sie dem anhaltenden gesellschaftlichen und (medien)technologischen Wandel einigermaßen gerecht werden wollen. Insofern folgt wissenschaftliche Erkenntnis wiederum 'nur' realgesellschaftlichen Veränderungen, antizipiert sie indessen noch nicht, wie es für eine prospektive und zugleich präventive Technologiefolgeabschätzungsforschung erforderlich wäre. Auch in dieser grundsätzlichen, bislang unbedachten Hinsicht bleibt sich die herkömmliche Wirkungsforschung treu (selbst wenn sie hin und wieder für weitergehende Aufgaben in Anspruch genommen wird): nämlich nur gesellschaftliche und kommunikative Prozesse ex post zu registrieren und zu erklären, und nicht im voraus. Objektive Veränderungen zeichnen sich bekanntlich dadurch ab, daß Medien nicht mehr einzeln und isoliert rezipiert werden, sondern in den von ihnen induzierten, sich wechselseitig stimulierenden Ensembleformationen. Und ferner: Wenn die sog. neuen Informations— und Kommunikationstechniken zu zentralen Wachstums— und Reproduktionsimpulsen der heraufziehenden 'Informationsgesellschaft' avancieren, in deren Systemkonfigurationen selbst die angestammten Massenmedien noch um ihren Stellenwert und ihre Funktionen ringen, dann entgrenzen sich vollends die überkommenen disziplinaren Zugangsweisen und Analyseterrains. Wirkungsforschung im klassischen Sinn erweist sich daher als immer unpassender und unergiebiger — nicht zuletzt auch oder gerade besonders für marktstrategische und kommunikationspolitische, für alle vorrangig finalen Zwecke. Zusehends verliert sie ihren unermüdlich angetragenen Wert für die praktische, gesellschaftlich honorierte Indienstnahme und ist allein schon deshalb zur methodologischen Innovation und Öffnung der analytischen Perspektiven gezwungen. Die expandierenden und sich tendenziell totalisierenden Medienverhältnisse werden von den psychologistischen, singularisierenden Mikro — Modellen nicht mehr erfaßt; vielmehr verklären und petrifizieren diese nur, was in der ubiquitären Medien—Wirklichkeit längst überholt ist: den einzelnen Rezipienten, wo-

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möglich noch als speziellen Hörer, Seher oder Leser, der sich einer singulären, eindeutigen Medienaussage einmalig in einer kontrollierbaren Rezeptionssituation ausschließlich, d.h. in all seinen Perzeptions— und Kognitionsleistungen evident und isolierbar, widmet und der danach ebenso unzweideutig, klar (also valid und reliabel) erfaßbare, objektiv meßbare Reaktionen (Wirkungen) in Einstellung, Meinung und/oder Handlung zeigt, die exklusiv und stringent auf die perzeptive und mentale Verarbeitung dieser Aussage zurückzuführen sind, ohne daß diese Vorgänge unbedachte, unbewußte und/oder unentschlüsselbare Metamorphosen zeitigen. Allein die Zahl der zu isolierenden und zu vereindeutigenden Variablen läßt erahnen, wie fern und inadäquat psychologische Wirkungsforschung dem alltäglichen Medienverhalten, aber auch der verbreiteten Struktur und Interferenz des Medienangebots geworden ist. Denn ein zweites Dilemma bleibt nicht aus: Auch wenn die psychologische Wirkungsforschung einzelne, individuelle Variablen (oder bestenfalls Variablenbündel) untersucht, unterstellt sie ihnen a priori Generalität und Universalität, die anschließend 'nur' noch mittels statistischer Verfahren belegt werden müssen. Jedem von ihr identifizierten Einzelnen inhäriert mithin die erstrebte Gesamtheit, nur um ihrer zu extrapolierenden Erkenntnis willen ist jenes untersuchungswert und zwar vorzugsweise in seiner momentanen Verfassung. Wird nämlich dasselbe Analysearrangement (unter der berüchtigten ceteris—paribus —Maxime) wiederholt, muß sich jeweils dasselbe Ergebnis, die Konstanz und die Konsistenz der erkannten Strukturgesetzlichkeiten nämlich, einstellen. Damit setzt die psychologische Wirkungsforschung (wie alle empiristische Forschung) von vornherein etwas voraus, was sich bestenfalls als fundamentales Resultat von Langzeitstudien herausstellen könnte, gleichwohl auf deren sachliche und zeitliche Koordinaten beschränkt bleibt. Übersoziale und überzeitliche Erkennmisse sind nun einmal durch menschliche Forschung, zumal auf gesellschaftlichen Feldern, nicht zu erreichen. Bestenfalls kann psychologische Wirkungsforschung mithin darauf abzielen, hinter den dichten, viel verzweigten Geflechten von Gewohnheiten, Erfahrungen, gelernten Verhaltensweisen, situativen Gegebenheiten und subjektiven Kontingenzen auf basale, gleichsam phylogenetisch erzeugte und erworbene Dispositionen und Kompetenzen zu stoßen, wie sie sich etwa für die Konstitutionsbedingungen (und ihre schleichenden Mutationen) der elementaren, aber keineswegs metasozialen Perzeptions— und Kognitionsweisen der Individuen vermuten lassen. Doch auch deren Erkenntnis und empirische Erfassung gelingt nicht, jedenfalls immer weniger ohne erkenntnisleitende Vorgaben und heuristische Konstrukte — obgleich die psychologische Wirkungsforschung hierzulande auf der vermeintlich objektiven Erhebung positiver Befunde beharrt und/oder die derart (scheinbar) voraussetzungslos geschöpfte Erkenntnis zur generellen Norm erhebt. Besonders der hierlands immer noch tonangebende und vielzitierte, sog. "rezipientenorientierte Ansatz" der Medienpsychologin H. Sturm (1986; Grewe —

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Partsch/Groebel, 1987), der zwischen freilich unpräziser empiristischer Datenhuberei und apodiktisch wiederholten Behauptungen laviert, muß als bedenkliches Beispiel solch unhaltbaren Wissenschaftsverständnisses gewertet werden — übrigens auch mit Blick auf die internationale psychologische Forschung, die von seinen Verfechterinnen zwar unentwegt bemüht wird, tatsächlich aber längst solch beengten Blick überwunden hat (z.B. Wartella, 1979; Meyer, 1984; Dorr, 1986; Greenfield, 1987; Meyrowitz, 1987). Dieses Urteil wiegt umso schwerer, als die fragliche Richtung bislang von der sonst nicht gerade zimperlich verfahrenden Publizistikwissenschaft keinerlei fundierten Begutachtung, geschweige denn Kritik unterzogen worden ist. Entweder begnügen sich ihre Repräsentanten mit der freundlichen, aber unverbindlichen Zitierung formelhaft rekapitulierter, weitgehend entleerter Topoi, häufig mit dem salvatorischen Hinweis auf die eigene Inkompetenz in dieser Sache, oder sie ignorieren ihre von anderen als epochal gefeierten Einsichten und strafen deren Hochschätzung Lügen. Daher kursieren die unermüdlich ventilierten Metaphern — etwa die von der längeren Erinnerbarkeit von Bildern im Vergleich zu Tönen oder die von der größeren Eindrücklichkeit formaler Strukturen der Fernsehbilder im Vergleich zu den Inhalten — autoritätsheischend, gänzlich unbezweifelt durch sämtliche diesbezüglichen Verlautbarungen, ohne daß noch eine kritische, modifizierende, differenzierende oder auch in Frage stellende Auseinandersetzung mit ihnen als nötig erachtet wird. In Wahrheit weist die psychologische Wirkungsforschung mindestens ebenso viele, womöglich noch gravierendere Defizite und Desiderate auf wie die soziologische, die auf gesellschaftliche, zumindest auf soziale Wirkungen gerichtet ist. Nachhaltig, mitunter auch schmerzlich bewußt werden sie jedesmal in pädagogischen und jugendbezogenen Diskussionen, wenn darum gerungen wird, welche Folgen und Veränderungen die expandierenden und aggressiver werdenden Medienangebote sowie die sich verstärkenden Nutzungsgewohnheiten in den nachwachsenden Generationen, in deren Perzeptionsweisen, Wirklichkeitsmodellen, kognitiven Fähigkeiten, kulturellen Vorlieben und emotionalen Befindlichkeiten zeitigen. Gegenüber dem Gewicht und der Bedeutung der dabei geäußerten Argumente, vor allem Befürchtungen nehmen sich die Theoreme und Befunde der psychologischen Wirkungsforschung gemeinhin als recht spröde, wenn nicht unempfindlich aus.

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Prämissen und Perspektiven subjektorientierter, qualitativer Rezepdonsforschung

Kommunikation - dies zeigt sich zunehmend deutlicher — läßt sich analytisch immer weniger auseinanderdividieren, zumal nicht mehr kategorisch in die

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überkommene Opposition von Massen— und personaler Kommunikation; genereller noch: bevor neuerliche, auch nur heuristisch passable Typisierungen vorgeschlagen werden, bedarf es gründlicher, genügend ausgreifender und tiefschürfender Erkundungen der realen Objektfelder und Dynamiken. Ob dabei das Schlagwort vom Ende der Massenkommunikation, wie es bereits vielfach ventiliert wird (Maletzke, 1987), hilfreich ist, könnte ebenfalls erst hernach entschieden werden. Denn zunächst macht es nur darauf aufmerksam, daß sich die medialen Angebote — nun nicht mehr nur die Printmedien, sondern auch die elektronischen Medien — auf vielfaltige Weise, in spezielle Programme, Zielgruppen und Nutzungsmodalitäten diversifizieren. Damit verliert die vielbeschworene öffentliche Integrationsfunktion der Medien vollends ihre materiellen Voraussetzungen; allerdings dürfte sie ohnehin nur bei wenigen großen (Informations)Themen realisiert worden sein; und ob sie dabei jemals mehr als oberflächliche und pauschale Zusammenhänge — zumal bei den dafür von vornherein aufgeschlossenen und sozial prädestinierten Gruppen — stiftete, ist bislang empirisch noch zu wenig belegt. Dies wäre das genuine Sujet der Agenda Setting—Forschung, idealiter auch in historischer Perspektive. Nivellierungen ähnlicher Intention werden die Medien gewiß auch in Zukunft anstreben, jedoch immer weniger für die explizit demokratierelevanten Themen, sondern eher für die von ihnen eigens inszenierten, für die ihnen opportunen Attraktionen und Sensationen, die sog. Medienereignisse, seien sie dokumentarischer, seien sie fiktionaler Art. Denn die Wirklichkeitsreferenzen, zumal ihre verläßlichen Maßstäbe, verflüchtigen sich in der überbordenden Medienszenerie zusehends bzw. werden selbst als integrale Momente der Medienereignisse fingiert. Mit anderen Worten: der Grad der (suggerierten, für das Publikum jedenfalls nicht mehr kontrollierbaren) Autonomie des Mediensystems, sein selbstreferentielles und autopoietisches Potential (Luhmann, 1984; 1985), wächst und verfestigt sich als nicht mehr durchschaubares, nur noch konsumierbares oder (partiell) ignorierbares Arrangement, als tendenziell absolute Imaginationsmacht. Dadurch bilden sich ständig gänzlich fiktive, nichtsdestoweniger einflußreiche und orientierende Nivellierungen oder gar Uniformierungen, die zwar in diversifizierten Produkten und Programmen erscheinen oder sich mit variablen Outfits drapieren, dennoch im Grunde die (immer)gleichen Themen, Figuren und Dramaturgien, die gängigen Wirklichkeitsschablonen und Mythen verbreiten. Global vermarktete Serien wie "Dallas", "Denver" etc. figurieren dafür nur als besonders markante und erfolgreiche Beispiele, denn auch andere Publikumsköder wie Sport, Unterhaltungsshows, Publicity — Programme (Starkults) und Informationspanoramen huldigen denselben Maximen (Kübler, 1987c). Denn insgesamt gehorchen sie den sich weltweit oligopolisierenden Medienverhältnissen, d.h. den kapitalintensiven Zusammenballungen der Medienproduktion

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bei wenigen global operierenden, national kraß ungleich verteilten Konzernen, die bereits drastisch neue, rationellere Produktionsformen und schematisierte Ästhetiken erzwingen (Schiller, 1984; 1988; Hoffmann-Riem, 1986; 1987). Im ganzen wird der Medienmarkt von einschneidenen, auf längere Sicht noch nicht kalkulierbaren Diskrepanzen durchgeschüttelt: Außer diesen vehementen Konzentrations— und Fusionsprozessen der Weltmedienproduktion in all ihren Zweigen, namentlich auf der Ebene der Kapitalien, die globale Reichweiten der Medienprodukte und damit auch modale Nivellierungen der überkommenen nationalen Kultur— und Kommunikationsformen kaum mehr aufhaltbar erzwingen, differenzieren und spezifizieren sich — wenn auch meist nur formal — ständig neue Teilpublika aus. Unterstützt und plausibilisiert werden ihre Besonderungsprozesse noch durch die oberflächliche Vermehrung und Pluralisierung von Medien und ihren Produkten, in nonprofit— oder ökonomisch marginalisierten Zonen sogar tatsächlich, also auf substantielle oder mindestens inhaltliche Weise, da der Medienmarkt ständig neue, eben auch privatisierbare und laienhaft handhabbare Gerätschaften hervorbringt und die sich verändernden Lebensweisen, die sich vervielfältigenden Lebenstile (besonders in den modernen Industriegesellschaften) sowie die wachsende Orientierung auf kommunikative Ausdrucks— und Verständigungsformen hin nach solchen Artikulations — und Gestaltungsmöglichkeiten verlangen. Doch nicht nur nach außen drängende, expansive und usurpatorische Tendenzen kennzeichnen die vielfach beschworene informationstechnologisch—elektronische Revolution; auch intensivierende, gleichsam nach innen kolonisierende sind nicht zu übersehen, und zwar wenigstens in zwei Stoßrichtungen: Zum einen werden bereits technisierte, medial vermittelte Verkehrs— und Kommunikationsformen weiter effektiviert und optimiert, wie sie besonders die Investitions — und Innovationspolitik der Deutschen Bundespost (z.B. Digitalisierung des Telefons, Erweiterung seiner Nutzungskapazitäten, aber auch seiner technologiepolitisch und datenrechtlich bedenklichen Mißbrauchsmöglichkeiten als universales Vermittlungsnetz) forciert (Kubicek/Rolf, 19862; Mettler - Meibom, 1986; Kubicek/Mettler — Meibom, 1988); zum anderen werden bislang noch untechnisch, direkt und manuell bewerkstelligte Kommunikationsfunktionen zunehmend technisiert und informatisiert, wozu die anhaltende Computerisierung nahezu sämtliche Lebensbereiche und Alltagsaufgaben treibt. Außerdem dürften sich diese Veränderungen unter den herrschenden Marktkautelen in derart standardisierten Formen vollziehen, daß sich darunter, daneben oder auch dagegen immer wieder informelle, begrenzt subversive Nutzungsfacetten herausbilden. Ob sie allerdings bei der obwaltenden Dominanz und Macht der 'Main Stream' — Technik ihren zumeist alternativen Anspruch werden einlösen können (wie ihn etwa die diversen Mailbox—Netze von Jugendlichen verfolgen), ist fraglich, jedenfalls aus heutiger Sicht nicht uneingeschränkt positiv zu beantworten. Eher

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werden sie periphere, ökonomisch unrentable Nutzungsmöglichkeiten, geduldete und abseitige Nischen der telematischen Makrostruktur erschließen und aktualisieren, dann freilich ohne systembedrohendes Potential. Auf Seiten der Rezeption von Massenmedien war und ist Massenkommunikation stets eine Form personaler, direkter Kommunikation, wie immer auch eingeschränkt und imaginiert — es sei denn, man spricht der Massenkommunikation überhaupt die Qualität von Kommunikation ab (wie es beispielsweise K. Merten (1977, S. 135ff; 1986b) schon seit Jahren fordert). Dann allerdings fragt es sich, weshalb sich die Kommunikationsforschung überwiegend auf diese sozusagen nicht—kommunikativen Themen kapriziert, und dies sogar in wachsendem Maße, mit steigenden Ressourcen, sich erweiternden Gegenstandsbereichen und aufwendigeren Verfahren. Trotz derart puristischer Vorstöße: unmittelbare, subjektive Kommunikation bleibt die Medienrezeption im Kern deshalb, weil letztlich nur das Individuum, so untrennbar und konstitutiv es in gesellschaftliche Bedingtheiten eingebunden, so nachhaltig es mithin vergesellschaftet ist, die dargebotenen Inhalte und Formen aufnehmen, verarbeiten und für sich als bedeutsam erachten kann; Wahrnehmen und Verstehen bleiben bei noch so objektivierten Konstitutionsbedingungen subjektive Prozesse, bewerkstelligt eben mit subjektiven Kompetenzen, und sie zeitigen jeweils individuelle, mindestens partiell eigenständige, nicht gänzlich manipulierbare und vorhersagbare Analogien (Bilder, Projektionen, Mutationen) des Präsentierten bzw. Aufgenommenen im Bewußtsein des einzelnen, zusammengesetzt aus zahllosen subjektiven wie objektiven Komponenten, initiiert, angeregt und arrangiert von diesen, aber motiviert, konkretisiert und ausgefüllt von jenen. Dies meint der Topos vom 'aktiven Rezipienten' in nuce, und auch die anderen Beschreibungsvokabeln wie der "Film im Kopf" oder die "para - soziale Interaktion" (Teichert, 1972; 1973) rekurrieren auf diesen jeweils sich aktualisierenden, letztlich nie abgeschlossenen hermeneutischen Verstehensprozeß, der gerade mit der Vielzahl der Medien und Nutzungsoptionen immer verwickelter, diffuser und kontingenter wird. Angebracht, wenn nicht notwendig ist es deshalb, und zwar immer wieder von neuem, Kommunikations — , vor allem Rezeptionsforschung mit den wissenschaftstheoretischen Richtungen zu verknüpfen bzw. von ihren Prämissen aus und mit ihren Perspektiven zu betreiben, die sich selbst erklärtermaßen und von Grund auf kommunikativen Prozessen verpflichtet fühlen bzw. die soziale Wirklichkeit essentiell von kommunikativer Vergegenwärtigung und Konstruktion gestiftet sehen. Solch theoretische wie methodologische Affinitäten sind längst noch nicht genügend ausgelotet und entwickelt, obzwar die Diskussion darüber nun schon einige Jahre anhält — und auch, bedauerlicherweise, von Seiten der etablierten Publizistikwissenschaft bereits kategorisch zurückgewiesen bzw. als unqualifiziert diskreditiert worden ist (DFG, 1986). Über die passenden Be-

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Zeichnungen solcherart Frage— und Forschungsrichtungen braucht mittlerweile wohl nicht mehr grundsätzlich gestritten zu werden, auch der Titel dieses Bandes versteht sich eher als Programm und Auftrag denn als normierende Festlegung. Von selbst versteht es sich, daß kommunikative Prozesse nicht auf den Rezeptionsbereich beschränkt sind. Sie finden sich ebenso häufig und maßgeblich in der Produktion von Massenkommunikation, also in den Kommunikatorsektoren, vor allem in deren inneren Strukturen und Beziehungen, sofern man diese übliche, hilfsweise verwendbare Aufteilung überhaupt akzeptiert. Ohne symbolische Interaktionen und Kommunikationsakte, ohne Verständigungen und interindividuelle Vergegenwärtigungen aller Beteiligten sind Produktionen von Medienaussagen, Gestaltungen ästhetischer Wirklichkeiten, aber auch die soziale Organisation von Arbeitsprozessen und Betriebsstrukturen, zumal unter den Vorzeichen der Arbeitsteilung und der wachsenden Spezialisierung verschiedener Tätigkeiten, nun einmal undenkbar, mithin unmöglich. Sie erzeugen und vermitteln all jene ideellen Komponenten der Medienproduktion, die eher verlegen denn treffend mit Metaphern wie Klima, Philosophie, professionelles Selbstverständnis, feeling, früher mit journalistischer Spürnase und verlegerischem Geschäftssinn umschrieben werden. So banal, ja plattitüdenhaft diese Einsicht ist, in den dafür zuständigen Disziplinen findet man darüber nur wenige brauchbare Studien, und zwar nicht nur, weil sich dieser Bereich notorisch der analytischen Durchdringung verschließt und deshalb schwer empirisch zu fassen ist, sondern eben auch weil er unter besagten wissenschaftstheoretischen Prämissen geringgeachtet und weitgehend ignoriert wurde. Allein die ehrwürdige geisteswissenschaftliche Publizistik schätzte ihn unter normativen Ausspizien und statuierte für ihn Verhaltensregeln und ständische Kodices, die ihre ideologische Überhöhung oder Wirklichkeitsfremdheit nie ganz verleugnen konnten (Dovifat, 1968 — 69). Wenn in diesem Band vor allem Felder und Methoden der Rezeptionsforschung konzipiert und exemplarisch vorgestellt werden, dann ist der Anspruch seines Titels offensichtlich noch nicht erfüllt; vielmehr handelt es sich um eine pragmatische Akzentuierung — weil zum einen die Rezeptionsforschung am dringlichsten theoretischer Innovationen bedarf, die Stagnation der konventionellen Wirkungsforschung wird ja allenthalben beklagt und ist auch hier exemplarisch begründet worden. Zum anderen ergeben sich zwischen der Rezeptionsforschung und anderen Zweigen adressatenbezogener Forschung wie etwa der über Kindheit, Jugend und Familie die evidentesten und plausibelsten Korrespondenzen, die nun auch endlich für deren kommunikative Dimensionen genutzt werden sollten. Bei ihnen sind Theoreme und Methoden qualitativer Forschung längst anerkannt und werden — wenn zumeist auch infolge objektiver Restriktionen noch nicht genügend — praktiziert; ohnedies sind die von ihnen ausgehenden

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Forschungen zu Kommunikations— und Medienfragen entsprechend orientiert (siehe etwa: Deutsches Jugendinstitut, 1988; Krüger, 1988; Radde u.a., 1988; Saxer, 1988). Allerdings sind mit dieser definitorischen Eingrenzung und Benennung natürlich die sachlichen und methodischen Probleme keineswegs ausgeräumt. Was in diesem Kapitel eingangs für die Strukturveränderungen auf gleichsam höchster, nämlich weltweiter Ebene skizziert wurde, reproduziert sich in dem nun enger gesteckten Rahmen der Rezeption von Medienkommunikation mit nicht minder deutlicher Brisanz. Infragestellen werden sich auch hierbei sämtliche überkommene Prämissen und Modelle: etwa die des strukturellen Gegenübers von Medium und Rezipient, die des isolierten, da womöglich einmaligen Vollzugs des Kommunikationsaktes, die der nachweislichen Einwirkungen der objektivierten Aussagen auf das Subjekt, zumal auf exakt definierbare Segmente (Meinung, Einstellung und/oder Verhalten) seiner Persönlichkeit. All dies sind heuristische oder auch nur begriffliche Hilfskonstrukte zur Strukturierung und Reduktion der vielschichtigen kommunikativen Komplexität, aber sie sind natürlich nur nützlich und verwendbar, wie sie analytisch hilfreich und ergiebig sind. Verstellen sie den Blick auf die Wirklichkeit oder führen sie ihn in die Irre, müssen sie von angemesseneren, brauchbareren, mindestens unbelasteteren abgelöst werden. Beispielsweise dürfte die Reduktion des Individuums auf die funktionale, analytisch isolierbare Rolle des Rezipienten (unter Absehung oder zumindest bei Konditionierung all seiner anderen Beziehungen und Befindlichkeiten) dazu beigetragen haben, daß sich die Vorstellung von dessen vornehmlich passiven, letztlich willenlosen Involviertseins in die Massenkommunikation durchsetzte. Erst mit der allmählichen Entdeckung der einzelnen Modalitäten, situativen Gegebenheiten und (subjektiven) Deutungsaspekte der Medienrezeption, auch erst mit der theoretischen Prüfung der essentiellen Prämissen von Kommunikation und deren Revision mittels der Kategorien des symbolischen Interaktionismus, der Ethnomethodologie, des psychologischen Konstruktivismus und anderer alltagsorientierter Ansätze, aber auch — und diese reale Dialektik bleibt unaufhebbar — mit der vom Medienmarkt geforderten Auffacherung des pauschalen Publikumsbegriffs und der Anerkennung der aktiven, bewußten — soll auch heißen: beeinflußbaren — Kompetenzen der Kunden —Rezipienten, wie sie zuerst der Nutzenansatz thematisierte, veränderte und bereicherte sich das epistemologische Spektrum der Rezeptionsforschung, wurden verschiedene Nutzungsgewohnheiten, Verarbeitungsweisen und Handlungsmuster im Kontext 'sonstiger' Alltagsbewältigung theoretisch postuliert wie auch — freilich noch weniger — empirisch entdeckt. Mehrheidich jedoch bleibt die Rezeptionsforschung auf halbem Weg stehen; mit anderen Worten: am funktionalistischen Rezipientenbegriff innerhalb eines weit-

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gehend deterministischen Kommunikationsmodells hält sie mehr oder minder flexibel fest. Gemeint ist damit, daß die einzelnen Positionen und Funktionen vornehmlich von den vorab definierten Strukturen und Relationen des Modells her definiert werden, wobei die kommunikatororientierte, also intentionale Blickrichtung überwiegt. Zwar ist die berühmte Umkehrung der Frage: "Was machen die Menschen mit den Medien?" längst eingeführt und wird auch oft genug betont, doch im Kern revidiert auch sie nicht die beschriebene vorherrschende Richtung, da die Menschen prinzipiell nur in ihren Beziehungen zu den Medien definiert werden, somit mindestens eine latente "Medienzentriertheit" auch bei diesen Ansätzen fortbesteht. Mögliche andere, sich erst aus der Empirie ergebende Kontingenzen bleiben bei solchen Blickwinkeln meist unberücksichtigt. Sicherlich sind Funktionalisierungen und Reduktionen bis zu einem gewissen Grad heuristisch erforderlich, gleichsam die Preise für die nötige Spezifik und Konsistenz einer jeweiligen wissenschaftlichen Zugangsweise, doch eben nur so lange und so weit, wie sie für die Untersuchungsfelder angebracht und ergiebig sind. Daß die Prämissen und methodischen Gepflogenheiten der etablierten Kommunikationsforschung derzeit stark angezweifelt werden, braucht nicht noch einmal betont zu werden, nachgerade werden sie es dann, wenn Kommunikationsprozesse oder — noch allgemeiner: alltägliche Rekonstruktions— und Deutungsusancen und die Anteile der Medien daran aus der Sicht des Publikums, der Rezipienten oder Adressaten — es fehlen schon unbelastete, angemessene Termini — untersucht werden sollen. So zeichnet sich immer offenkundiger und dringlicher die Notwendigkeit einer Kommunikationsforschung unter diesen Vorzeichen ab, die die andere, immer noch vorherrschende, nämlich die aus der erklärten oder latenten Sicht, gemeinhin auch unter der Maßgabe der Kommunikatoren und Produzenten, der Verlage und Institutionen mindestens ergänzt, wenn nicht, wenigstens auf unerschlossenen und/oder dafür besonders sensiblen Feldern, überwindet. Und damit dürfte die einschneidendste Revision der Kommunikationsforschung angesprochen sein, die allein das Prädikat des schon vielfach annoncierten Paradigmenwechsels beanspruchen könnte: nämlich eine Kommunikationsforschung aus der konsequenten Sicht und auch im Interesse der 'Rezipienten' zu entwickeln und zu etablieren. Eine solche — vorläufig so bezeichnete — subjektorientierte Rezeptionsforschung nimmt einen völlig anderen Ausgangspunkt als die konventionelle Wirkungsforschung und kehrt die Fragerichtung strikt um: Sie rückt die kommunikativen Tätigkeiten der Individuen in den Fokus des Erkenntnisinteresses, die auf die herkömmlichen Massenmedien (wie auch auf die neuen und künftigen Informationstechniken) bezogenen sind dabei nur eine spezielle Teilmenge, allerdings fraglos — aufgrund der Relevanz und Macht der vermittelten Kommunikation — eine sehr eklatante und einflußreiche. Aber auch sie sind in alle anderen alltäglichen Prozesse wie auch in die dem Subjekt immanenten Kogni-

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tionen und Beweußtseinsbildungen eingebunden bzw. mit ihnen aufs Engste verwoben. Gleichwohl darf sich eine solcherart konzipierte Kommunikationsforschung nicht dazu verleiten lassen, gleichsam ins andere Extrem zu verfallen, mithin ausschließlich in subjektivistische, personalisierende Engfiihrungen zu geraten und das Individuum, seine Autonomie und Spontaneität, zu idealisieren. Vielmehr wird sie immer wieder angemessene Vermittlungen zwischen subjektiver Identität und objektiven, strukturellen Dispositionen anstreben und erarbeiten müssen, und zwar nicht nur auf abstrakter Ebene, sondern auch in der empirischen Recherche, also in vielerlei Ausformungen und Konkretionen, voraussichtlich auch mit differierenden Gewichtungen. Implizit sind damit auch die weiteren Prämissen dieserart Kommunikationsforschung angesprochen, die mit der ersten untrennbar verbunden sind: Kommunikationsforschung wird immer weniger pauschale, vermeintlich allgemeingültige und überzeitliche, schon gar nicht metasoziale Gesetzmäßigkeiten und Erkenntnisse formulieren können, vielmehr muß sie sich auf die verschiedenartigen Kommunikationsfelder und —schichten einer jeweils vorfindlichen Sozietät unvoreingenommen und empathisch einlassen, vor allem wird sie die Reichweite und Gültigkeit ihrer demgemäß bereichsspezifischen Befunde transparent und valide bestimmen müssen. Weder garantiert die statistische (bei gesellschaftlichen Tatbeständen und Prozessen ohnehin zeitlich, räumlich und sozial begrenzte) Repräsentativst unbesehene universale Triftigkeit und Generalität, noch können vorgeblich paradigmatische Einzelfalle umstandslos zu kollektiven Tendenzen verallgemeinert werden. Solch umstandslose Schlußfolgerungen, wozu freilich nicht wenige sich qualitativ bezeichnende, in Wahrheit jedoch eher impressionistisch verfahrende Forscher allzu bereitwillig neigen, sind unhaltbar. Vielmehr bedarf es einer diffizilen und offenen Methodologie just dieser vermittelnden Erkenntnistätigkeiten, die an allen Phasen der empirischen Forschung, schon bei der Konzeption, erst recht bei der Erhebung, selbstverständlich auch bei der Auswertung und Interpretation beteiligt ist (Kübler, 1985a; Lamnek, 1988). Ja, wiederholt wurde die Frage gestellt, ob ein so verstandenes Vorgehen überhaupt in den konventionellen Schritten empirischer Sozialforschung abgewickelt werden kann oder ob es nicht integrierter, ganzheitlich angelegter und reflexiver Operationen bedarf — eine Frage, die sich abermals verstärkt für die Kommunikationsforschung aufdrängt und für die die folgenden Fallstudien singuläre oder auch übergreifende Antworten versuchen. Doch nicht nur wissenschaftsintern steht die subjektorientierte, qualitative Rezeptionsforschung in Opposition zur etablierten Wirkungsforschung; auch gegenüber den externen (oder eigentlich subsistentiellen) Finalisierungszwängen, seien sie

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kommerzieller, seien sie politischer Art, wird sie ihre authentischen Positionen finden und aufrechterhalten müssen. Denn solche Zwänge verstärken sich und verlocken obendrein: Die wachsende Konkurrenz auf allen Medienmärkten verlangt nämlich verläßlichere, detailliertere und subtilere Daten über die potentiellen Adressaten bzw. Kunden, sozusagen intimere Einblicke in ihre Wünsche, Stimmungen, Launen, Gewohnheiten, Vorstellungsbilder und Alltagsaccessoires, als sie die repräsentativ — statistischen Pauschalerhebungen eruieren können. Wenn die Publika und die Nutzungsoptionen vom Markt ständig kleiner und spezieller geschnitten werden und wenn sie sich außerdem infolge der Angebotsüberfülle immer konjunkturanfalliger gebärden, dann bedarf es solcher eingehenden, empirisch gesättigten und mit subjektiven Daten angereicherten Recherchen. Vollends entziehen sich die zunehmenden, sog. interaktiven Medien (wie Bildschirmtext, teleshopping, Video, Heimcomputer) den eindimensionalen, intentional verstandenen Wirkungsparadigmen; ihre kommunikativen Dimensionen erschließen sich nur aus subjektangemessener Parität und alltagsnaher Kontextuierung. Auch die (Medien)Politik fragt mittlerweile zunehmend nach solch empirisch gehaltvolleren, aussagekräftigeren Daten — nicht nur weil sie sich von Amts wegen um die mikrostrukturellen "Auswirkungen" (etwa "auf den einzelnen, auf die Familie und das gesellschaftliche Leben", wie es in den einschlägigen Gesetzestexten heißt) kümmern muß, vielmehr auch weil sie sie für eine zielgenauere und damit legitimierfähigere Investitions — und Infrastrukturpolitik braucht — zumal angesichts ungesicherter Gewinnchancen für die privaten Medienunternehmen, aber unausweichlich steigender Vorleistungen von selten der öffentlichen Hand (Kubicek/Mettler - Meibom, 1988; Teichert, 1988). Aber die hier anempfohlene Kommunikations— und Rezeptionsforschung versteht sich natürlich nicht primär als empirische Vorbereitung und Legitimation von Planungen der sog. vested interests, sondern — sofern sie sich überhaupt in einen restriktiven Anwendungszusammenhang begibt — als wissenschaftliche Artikulation und Förderung gemeinwohlorientierter kommunikativer Interessen. Der Allgemeinheit der nichtorganisierten, weitgehend einflußlosen 'Rezipienten' fühlt sie sich verpflichtet, im unabhängigen demokratischen Auftrag — und dementsprechend sind ihr medienpädagogische Motive und Handlungsoptionen viel näher als zweckrationale, instrumenteile. Im Zweifelsfall wird sie die virtuellen Obligationen jener sehr genau prüfen und abwägen müssen. Daß solche Integrität gemeinhin dazu führt, nicht in den Genuß der begehrten, für empirische Forschung unentbehrliche Alimentation von Dritten zu kommen, versteht sich; ständig verknappte öffentliche Subventionen für unabhängige, eher grundlagentheoretisch orientierte Forschung verurteilen sie daher oft genug zur individualisierten Kleinforschung und begrenzten empirischen Handwerkelei mit vorderhand reduzierten Reichweiten oder verleiten sie — gleichsam komplementär — zur kühnen, aber ungeprüften Spekulation.

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Dementsprechend ist es ihr bislang kaum gelungen, eine kontinuierliche, schrittweise systematisierte Forschungspraxis zu etablieren und auf ihr eine Wissenschaftstradition zu gründen, die nicht mehr jeweils dazu zwingt oder verführt, daB Neuhinzukommende stets von einem unfixierten, unpräzisen Anfang glauben beginnen zu müssen oder zu wollen. Allzu häufig wechseln ihre Protagonisten, viele sind infolge ungesicherter Beschäftigungschancen gezwungen dazu, und entsprechend mutieren die Argumente, Methoden und leider auch die Kompetenzen. Vergleichbare Reputation und Routine wie die etablierte Nutzungs— und Wirkungsforschung konnte daher die subjektorientierte, qualitative Kommunikationsforschung bislang nicht erzielen, aber eben auch nicht vergleichbar massive, künftig gewiß noch zunehmende Indienstnahme als mittlerweile nahezu unentbehrliche Akzeptanzforschung für alle medienorientierten Entscheidungen und Maßnahmen. Doch angemessene, gedeihliche Entwicklungschancen sollten ihr schon eingeräumt werden. Nach derart vielen grundsätzlichen Postulaten, kritischen Würdigungen und Überlegungen mag es angebracht und hilfreich sein, Anliegen, theoretisches Selbstverständnis und objektbezogene Zugangsweisen einer solch alternativ gedachten, hier subjektorientiert—qualitativ genannten Rezeptionsforschung, gleichsam ihre theoretische und methodologische 'Philosophie', kompakt, aber um den Preis unausweichlicher Verkürzung und Zuspitzung aufzuführen: 1. Zuallererst postuliert und bedeutet qualitative Kommunikationsforschung die Anerkennung ihres besonderen, letztlich unvergleichlichen Objektfeldes: Menschliche Kommunikation ist kein Untersuchungsgegenstand wie jeder andere, auch wenn sie infolge der voraufgegangenen gesellschaftlichen Entwicklungen noch so institutionalisiert, instrumentiert und kommerzialisiert, mithin — epistemologisch betrachtet — so objektiviert erscheint. Sie bleibt subjektiv durchwirkt, ja konstituiert, gleichsam in einer endlosen, reflexiven Spirale kollektiver wie individueller Bewußtseinsbildung, Wirklichkeitswahrnehmung, —vergegenwärtigung und Ich — Artikulation im dialektischen Wechselverhältnis von Individualität und Sozialität. Bei ihrer Erforschung und Analyse lassen sich mithin die Subjekte nicht eskamotieren, weder die analysierenden noch die zu analysierenden — und sie selbst bleibt in diesen (Re)Konstruktionsprozessen keineswegs konstant, positiv und abgegrenzt, vielmehr aktualisiert, modifiziert und konkretisiert sie sich ständig neu. Aus dieser Zirkularität und Reflexivität von Objekt und Methode kommt Kommunikationsforschung nie heraus; sie kann und muß sie anerkennen, indem sie sie theoretisch hinreichend reflektiert und methodisch konstruktiv wendet. Fallen mithin schon ausschließlich objektivierende Erfassungen von Kommunikation flach, so ergeben sie sich auch nicht bei den üblichen weiteren Schritten der

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empirischen Forschung: Sämtliche Erhebung ist ebenfalls zugleich Kommunikation; aber sie ist nicht nur in ihrem kommunikativen Sosein relevant, sie beeinflußt auch nachhaltig die in Rede stehenden und zu analysierenden Kommunikationsakte. Im Grunde fördert die von der maßgeblichen Wirkungsforschung mehrheitlich favorisierte Befragung artikulierte, gedeutete Erinnerung über Kommunikationsprozesse zu Tage, wodurch diese erst einmal kommunikativ manifestiert und wohl auch modifiziert werden, aber auch jene erst einmal kommunikative Gestalt gewinnt. Und dies alles auch bei noch so standardisierten Befragungsmethoden! Bei ihnen geben lediglich die Fragenden formale, oft genug zu starre Koordinaten der Erinnerung vor, aber sie sollten sich nicht darüber hinwegtäuschen, daß erst in der Situation der Befragung die hervorgelockten und operationalisierten Konstrukte entstehen. Stimmt man so weit mit diesen Überlegungen überein, erhebt sich die schwierigste Frage: die nach dem Verhältnis und der Qualität von Singularität und Repräsentativität. Wenn man davon überzeugt ist, daß menschliche Identität unvergleichlich ist, mithin immer ein bestimmtes, identifiziertes oder unentdecktes Maß an Unverwechselbarkeit birgt und damit auch ihre kommunikativen Hervorbringungen und Deutungen bis zu diesem Grad originell und authentisch sind, dann kann es für ihre Untersuchung nur eine oberflächliche — man könnte auch sagen: ungenügend erschlossene — Repräsentativität geben. Diese läßt sich zwar im Wege quantifizierender, statistischer Methoden weiter schematisieren und angleichen, aber ihre reale, soziale Substanz büßt sie dabei ein, und mit jeder Abtsraktion — sprich: Mathematisierung — ein Stück mehr. Verifizieren läßt sich diese Tendenz etwa dadurch, daß selbst bei vorderhand positiven, sozusagen faktischen Mediennutzungsangaben, sobald sie konkretere, differenziertere Vorgänge belegen sollen, sich unweigerlich Unklarheiten, Ungenauigkeiten oder gar Unstimmigkeiten einstellen. Beispielsweise: Wird die Fernsehnutzung über die Einschaltquoten ermittelt, lassen — sich ungeachtet derzeit diskutierter methodischer Unzulänglichkeiten — einigermaßen verläßliche, valide statistische Quoten und Relationen konstatieren. Interpretiert man diese indessen auch als Indikatoren, ob, wie und von wem in den Fernsehhaushalten tatsächlich ferngesehen wird, stößt man unausweichlich auf eklatante Diskrepanzen, Abweichungen und Fehler. Die anfangs so bündige Repräsentativität entpuppt sich als ziemlich grobe, lückenhafte, wenn nicht schablonenhafte Größenordnung. Vollends schwindet sie, wenn man sie für noch individualisiertere Rezeptionstätigkeiten einfordert: Gegenwärtig wird sie am Ausmaß, besonders am unterstellten Rückgang des Lesens erprobt. Dabei sind noch nicht einmal einheitliche, von allem halbwegs vergleichbare Definitionen des Lesens anerkannt und verbreitet — und dies wohl weil man glaubte, bei einer so gängigen Rezeptionsform wie dem Lesen auf trennscharfe und genügend umfassende Definitionen verzichten zu können. Der überkommene, hochgeschätzte, auf die sog. hohe

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Literatur beschränkte Lesebegriff liegt fast allen einschlägigen Erhebungen mehr oder weniger unausgesprochen zugrunde bzw. wird von den Probanden unbezweifelt vorausgesetzt, und auf ihn gründen sich meist die recht pessimistischen Prognosen. Daß sich das Lesen hinsichtlich Stoff und Situationen längst verändert hat, wie andere, meist ungefragte Indikatoren erkennen lassen, können sie auf diese Weise natürlich nicht eruieren, geschweige denn berücksichtigen. Außerdem sind die üblichen Erhebungsmethoden derart auf regelmäßige, ritualisierte, gleichsam statistisch zwangsläufige Gewohnheiten geeicht, daß sie etwa zeitliche Abweichungen und Kumulationen, spontane oder eben (auch gehäufte) irreguläre Besonderungen kaum erfassen können (Fritz/Suess, 1986; Kübler, 1986). So darf gefragt werden, ob nicht jeder singuläre Fall, sofern die analytische Lupe nah genug an ihn heranrückt, mindestens so viel repräsentativen — besser dann: typischen — Gehalt birgt wie alle monströsen Zahlenwerke und statistischen Operationen — gewiß eine Frage, die so alt, so umstritten und so unbeantwortet ist wie die empirische Sozialforschung selbst.Und letzten Endes wird auch darüber nachzudenken sein, welches Menschenbild die empirisch — quantifizierende Forschung unbedacht oder auch schon beabsichtigt vertritt, mindestens verbreitet. Bei jedem Vorhaben sind demnach jeweils Modalitäten, Reichweiten, Gültigkeitsansprüche und Verallgemeinerungspotentiale a priori, aber auch immer wieder während seiner verschiedenen Etappen zu erörtern und zu definieren. Allein vom vorgeblichen Methodenstandard und sonst intern sanktionierten Kodex der sog. scientific community sind sie nicht mehr bestimmbar; sie haben sich vielmehr primär durch ihre sachliche Angemessenheit und Ergiebigkeit, aber auch durch ihre methodologische Transparenz und Sensibilität zu bewähren. 2. Kommunikation ist ferner nicht von ihrer sachlichen (semantischen) Substanz und von ihren situativen Gegebenheiten (pragmatischen Kontexten) getrennt zu analysieren. Auch dies bekräftigt wiederum nur einen Gemeinplatz, der jedoch für die Rezeption massenmedialer Produkte vielfach übersehen, explizit geringgeachtet oder gar in Frage gestellt wird. Wenn beispielsweise darüber gerechtet wird, was maßgeblicher und wirksamer sei: der Inhalt oder die Form einer Medienaussage, wie dies etwa in der Nachrichtenforschung wiederholt geschieht (Kübler, 1979; Straßner, 1982; Kübler 1985b), oder wenn die (übrigens empirisch ungeprüfte) These der psychologischen Wirkungsforschung, die sog. "formalen Angebotsmuster" des Fernsehens steuerten exklusiv, ungeachtet der jeweiligen Inhalte, Aufmerksamkeit, Beeindruckbarkeit und Erinnerung der Zuschauer, obendrein gleich welchen Alters und aller anderen Dispositionen (Sturm, 1986), breit und unangefochten rekapituliert wird, dann ist es um jene Selbstverständlichkeit in der Medienforschung immer noch nicht zum besten bestellt. Auch Rezeption

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massenmedialer Produkte ist vermittelte Vergegenwärtigung inhaltlich — formaler, man könnte auch sagen: zeichenhafter Objektivationen, jedenfalls in der Perzeption und im Verständnis der 'Rezipienten'. Erst die Anerkennung dieser unauflösbaren Dialektik ermöglicht konkrete Gradmessungen darüber, was in dem einen oder im anderen Fall die freilich nur äußerliche Oberhand behält: Form oder Inhalt — ohne dafl diese Entscheidung allerdings mit objektiver Allgemeingültigkeit gefallt werden könnte, denn die individuelle Perzeptionskompetenz wie (kontingente) — neigung jedes einzelnen kann durchaus 'abweichende', auch fakultative Gewichtungen vornehmen. Nicht zuletzt in den verschiedenen Generationen — wohl auch als Folge anhaltender (Medien)Sozialisation - zeichnen sich derartige Veränderungen ab. So lassen sich weder dem einzelnen Medium unverrückbare formale Rezeptionsdeterminierungen zuschreiben, noch sind sie unabhängig vom inhaltlichen Gehalt und der Identität des Rezipierenden zu beschreiben — eine Erkenntnis im übrigen, die so alt wie die Reflexion über Verstehen und Hermeneutik ist. Gerade weil der Kommunikationsurheber bei der Massenkommunikation im Medienprodukt objektiviert und anonymisiert ist, verlagert und konzentriert sich die gesamte Perzeptions — und Interpretationsaufgabe auf den 'Rezipienten'; er ist deshalb bei dieser speziellen Kommunikationsform für die Analyse so relevant und ergiebig. Letztlich kann er mit den Medienprodukten immer noch anfangen, was er will. Zwar lassen sich ihre Aufnahme, Akzeptanz und 'Wirkung' in weitem Maß vorplanen und antizipatorisch steuern — Bestrebungen, die immer professioneller, perfekter und wohl auch brachialer unter den Konditionen wachsender Konkurrenz und dominanter Werbung vorangetrieben werden — und zahlreiche gewichtige Indizien verweisen auch auf erfolgte, womöglich verstärkte Beeinflussungen und Gängelungen, doch totale Koinzidenzien lassen sich schwerlich unterstellen, allenfalls aus einseitiger, kommunikatorbestimmter, objektivierender Sicht. Andere Anzeichen deuten hingegen eher darauf hin, daß die Abhängigkeiten der Bevölkerungsmehrheit gegenüber den Medien just unter dem Eindruck dieser steigenden Konkurrenz schwinden und daß demonstrative, unwillkürliche oder auch nur bewußtseinsmäßige Distanzierungen zunehmen (Bonfadelli u.a, 1986; Berg/Kiefer, 1987). Verwunderlich ist es daher nicht, daß die konventionelle Wirkungsforschung seit ihrem Bestehen zwischen den extremen Hypothesen: Allmacht versus Ohnmacht der Medien gegenüber dem Publikum schwankt; allerdings wird sie diese in dieser Absolutheit immer weniger bestätigt finden, je eindringlicher, näher und differenzierter sie sich mit den mannigfaltigen Modalitäten und Situationen der Mediennutzung befaßt. Daß Kommunikation und Medienrezeption nicht außerhalb situativer, sozialer Gegebenheiten stattfinden können, muß nach dem Vorhergesagten nun ebenfalls selbstverständlich sein — wiewohl sich die Rezeptionsforschung mit der Beach-

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tung solcher Kontexte noch reichlich schwertut. In der Tat vervielfachen und verkomplizieren sie das ohnehin schon multiple 'Variablenkontingent' und Untersuchungsdesign. Aber sie könnten auch zu einiger Klärung und Genauigkeit beitragen, würden sie hinreichend präzise und empathisch erschlossen und bei ausreichend pluralistischer Entdeckung allmählich typologischen Kategorisierungen zugeführt. Dafür finden sich bislang nur provisorische und beliebige Beispiele. Denn Rezeptionssituationen umrahmen nicht nur mehr oder weniger statisch und abstrakt die Wahrnehmung und das Verständnis von Medienprodukten. Da sie sich dem analytischen Blick als dynamisches Gefüge von (symbolischen) Interaktionen, sozialen Partizipationen und räum—zeitlichen Koordinaten darstellen (Friedrichs, 1974), konstituieren sie Modalität und Bedeutung der Kommunikations— bzw. Rezeptionsakte mit. Auf welche Weise, in welcher Intensität und Gründlichkeit — diese Dimensionen zu eruieren, wäre wiederum Auftrag für die hier vertretene Forschungsrichtung. Einfacher und klarer formuliert: Wer Subjektivität aus Kommunikation nicht herausoperiert, kann auch nicht von deren räum - zeitlicher und gesellschaftlicher Kontextuierung, ja Bedingtheit absehen. Diesbezügliche Postulate, die zum einen etwa die gesellschaftliche Konstitution von Sozialisation und Individuation zurecht einfordern (Oevermann u.a., 1976), zum anderen auf die unauflösliche Einbettung von Kommunikationsakten in sozialökologische Kontexte verweisen (Baacke, s.u.), erinnern und bestätigen verdienstvollerweise im Grunde eigenüich nur, was zu einer hinreichenden und gründlichen Definition von Kommunikation gehört, aber oft genug durch das empiristische, methodische Raster der damit befaßten Disziplinen fallt. Analytisch—methodisch lassen sich die situativen Kontextuierungen verschiedenartig angehen, inzwischen haben sich diverse Ansätze herausgeschält (die allerdings noch wenig theoretisch untereinander abgeklärt sind). Im groben lassen sich eher diachrone von synchronen, makrostrukturelle von eher mikrostrukturellen Sichtweisen unterschieden, wobei die heuristische Qualität dieser Klassifikationen nicht außer Acht gelassen werden darf. Makrostrurell für die Medienrezeptionsforschung zu sein und zugleich genetische Dimensionen einzubeziehen dürften alle Ansätze beanspruchen, die sich unter dem recht breiten und noch wenig durchstrukturierten Oberbegriff der Sozialisation — hier: der durch Medien getragenen oder zumindest beeinflußten — rubrizieren (Schorb u.a., 1980; Bonfadelli, 1981; Saxer, 1988). Sozialisation impliziert im Grunde Kollektiva: bei den Sozialisanden, also Generationen, Kohorten oder wenigstens Gruppen, und der einzelne wird in seiner sozialen Zugehörigkeit zu diesen betrachtet, wie bei den Sozialisatoren, den Medien. Auf Medien konzentrierte Sozialisationsforschung leidet daher unter dem eklatanten Mangel an Langzeitstudien, an der Beobachtung derartiger Probandenkontingente

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sowie an der ausstehenden theoretischen Konzeptualisierung der vorfindlichen, komplexen Sozialisationswirklichkeit; die vorherrschende psychologisch orientierte Wirkungsforschung vermag sie bekanntlich kaum aufzuheben, zumal wenn sie sich des veränderten Sozialisationsbegriffes befleißigen miißte, wonach Sozialisation — vergleichbar übrigens mit der Aufkündigung des deterministischen Medienwirkungsbegriffs — nicht länger mehr unidirektional und utilitaristisch, eben als mehr oder weniger subordinierende Anpassung der Nachwachsenden, verstanden wird, sondern als dialektischer, überdies lebenslanger Prozeß von sozialer Aneignung und identitätsstiftender Entwicklung (Geulen/Hurrelmann, 1980; Hurrelmann, 1983). Abermals: diese Revision des Sozialisationsbegriffs hat die diesbezügliche Medienrezeptionsforschung mehrheitlich noch vor sich; sie würde sich dadurch erneut der hier favorisierten Denkrichtung annähern. Doch da sie überdies von den angesprochenen Defiziten geschlagen ist, bewegt sie sich noch weitgehend auf dem reichlich "disparaten" Vorfeld der analytischen Sondierung, der Fallstudien und spekulativen Entwürfe (Saxer, 1988). Ebenfalls makrostrukturell, aber eher synchron angelegt sind alle Überlegungen, die räumliche, zeitliche, meist raumzeitliche, nun (sozial)ökologisch genannte Kontextuierungen von Kommunikationsprozessen für unabdingbar achten und einbeziehen. Aber selbst auf diesem Feld sind verschiedene Varianten vorhanden, die offensichtlich theoretisch noch nicht in Berührung miteinander gekommen sind. Mindestens drei kursieren: eine vornehmlich topographisch — strukturelle, komprimiert im der Kategorie des "Kommunikationsraumes" und schon anhand mehrerer sog. Kommunikations— und Medienatlanten in Baden — Württemberg, Nordrhein—Westfalen, Berlin und Hamburg exemplifiziert (Jarren, 1986; 1988), eine eher phänomenologisch—konstruktivistische (Lüscher/Wehrspaun, 1985) und eine eher kasuistisch—handlungstheoretische (Baacke, 1988; Baacke u.a,, 1988; Baacke, s.u.) — ohne daß mit solchen Nomenklaturen a limine beansprucht werden soll, alle Begründungszusamenhänge und Facetten dieser noch sehr im Stadium der theoretischen Konsolidierung befindlichen Ansätze umschrieben zu haben. Auch von den eigentlich situationstheoretischen Zugängen sind sie noch nicht deutlich unterscheidbar, sofern man diese nicht a priori auf mikrostrukturelle Gegebenheiten, also auf soziale, räumlich und zeitlich begrenzte Konstellationen, womöglich vordefiniert durch einen maßgeblichen Faktor — hier, versteht sich das Medium — einschränkt: So setzen teilnehmende Beobachtungen etwa die Fernsehrezeptionssituation voraus. Doch diese existiert nicht nur aktualiter, in der Phase der Beobachtung, sie hat in den Familien gemeinhin eine — sozialisierende — Geschichte, geht mithin über die jeweils beobachtbare Situation weit hinaus, beeinflußt diese aber jeweils unbemerkt oder auch explizit und bedarf für ihre angemessene analytische Erfassung diachroner, also sozialisatorischer

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wie biographischer Erweiterungen. Überdies können solche Präsumptionen nie ganz ausschließen, daß sie ihre Perspektive verdinglichen. Soll heißen: alltägliche Familiensituationen werden zu Fernsehempfangssituationen (um)deklariert, die vielerlei Bedeutungen und Relevanzen gehorchen, nicht nur der Beachtung und des Konsums des Fernsehprogramms. Aber da die forschenden Beobachter vorrangig daran interessiert sind, nehmen sie jene kaum oder geringer wahr bzw. definieren sie nur in ihrer Funktionalität oder Dysfunktionalität für den Fernsehempfang. So dürfte zu erklären sein, warum die im Vergleich zu den höheren Einschaltmessungen jedesmal frappant niedrigeren Quoten der tatsächlichen Aufmerksamkeit für das Fernsehen, die die ohnehin wenigen und zu groben Studien über alltägliche Fernsehempfangssituationen zu Tage fördern, so großes Staunen auslösen. Voraussichtlich fielen die Raten noch geringer aus, wenn die Nutzung anderer Medien, des Radios gewiß, aber vermutlich auch der Zeitung und Zeitschrift, ähnlich penibler Supervision unterzogen würden. Analysen von Rezeptionssituationen unter engeren, also eher mikrostrukturellen und temporären Vorzeichen werden gleichfalls mit verschiedenen theoretischen Vorgaben angegangen: Die Auswertung einer vierwöchigen Beobachtung des Familienfernsehens erfolgte beispielsweise unter den interaktionstheoretischen Prämissen, mithin unter der "systematischen Beobachtung" der Interaktionsstrukturen der Familienmitglieder vor dem Bildschirm, denen des "sozialen Klimas" in der Familie, ebenfalls obendrein als "ökologische Perspektive" gekennzeichnet, die der 'Familien-Umwelt* Bedeutung zumißt", und schließlich denen der Situationsspezifik, definiert durch "Raum, Zeit und Personenkonstellation", mithin noch im originären Sinn (Fritz, 1987). Unversehens sind damit weitere, allerdings nicht mehr als solche erklärte Varianten der situationsspezifischen, wohl aber auch der sozialisatorischen Ansätze erreicht. Werden diese nämlich inhaltlich, nach der beherrschenden sozialen Gruppe definiert, verkörpern familien —. kinder — , jugend(kulturell) — und sonstige peer group—bezogene Rezeptionsstudien ebenfalls analytische Bestrebungen, soziale Kontextuierungen für den Mediengebrauch zu entdecken und zu stiften, in nur synchroner oder auch in diachroner Perspektive. Allerdings machen sie sich oft genug eine eher phänomenologische, von dem gewählten, reichlich abstrakten Sozialkonstrukt regierte Sichtweise zu eigen und entziehen sich so differenzierten, unausweichlich pluralisierenden Einsichten: Die Kindheit, die Jugend oder die Familie sind noch immer vielbeschworene Metaphern, zumal in ihrer bereitwillig reklamierten Opposition zu den Medien, wenn nicht bedroht durch sie. Erst jüngste analytische Bemühungen falten und spezifizieren diese sozialen Konstrukte so intensiv und adäquat aus, daß die pauschalen Beschwörungen immer weniger empirische Substanz beinhalten (vgl. etwa Fritz, 1984; Charlton/Neumann, 1986; Baacke/Lauffer, 1988; Hengst, 1985; Lenzen,

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1985; Krüger, 1988). Nicht zuletzt durch diese Entwicklungen in den Nachbar — oder, je nachdem, Referenzdisziplinen sieht sich die Medienforschung unter besagtem Druck zur Revision oder wenigstens zur Differenzierung ihrer überkommenen Denkmuster und Vorgehensweisen. 3. Konsequenterweise, nachdem die gleichsam sachlichen Konstituenten und Kontextuierungen erörtert sind, muß der Subjektbegriff — nun in konkreter Form des Individuums — nochmals betrachtet werden. Die Ausführungen zuvor könnten nämlich in dem rigorosen, aber auch resignierenden Fazit gipfeln, jenseits oder oberhalb des empirischen Soseins des jeweiligen Subjekts ließen sich für die qualitative Sozialforschung keine verallgemeinerungsfahigen Aussagen machen. Andersherum: ist das Subjekt hinreichend mit real immer schon vorhandenen objektiven, gesellschaftlichen Gehalten epistemologisch 'angereichert', wird es unweigerlich zum analytischen Exemplum, genügt im Grunde, aber verlangt auch seine Betrachtung danach, zu paradigmatischen Erkenntnissen zu kommen. Und in der Tat konzentrieren sich eüiche qualitative Forscher radikal auf solche Studien des gesellschaftlichen Subjekts (das allerdings nicht mit dem 'naiven' Begriff des Individuums in der empirisch—analytischen und psychologischen Forschung verwechselt werden darf). Ohne Frage, in diesen fundamentalen, unumgehbaren Vermittlungsdimensionen zwischen Subjektivität und Objektivität stecken diverse ungelöste, ja gemeinhin nicht einmal angemessen thematisierte Probleme; in der Regel drücken sich die Forschenden um sie, meist durch eingefahrene Analogieschlüsse, vermeintlich unangefochtene mathematische Modelle oder schlichtweg durch kaschierende Darstellungen. Denn wissenschaftliche Forschung bezieht nun einmal ihre Autorität aus dem Anspruch, verallgemeinern, gar Gesetzmäßigkeiten oder zumindest langanhaltende Trends eruieren und objektive Zusammenhänge, Verursachungs — oder Funktionskomplexe erklären zu können; das Individuelle hat da nur Sinn, wenn es als Allgemeines, mindestens Typisches entdeckt oder wenigstens dazu deklariert werden kann. Fast könnte man daher vermuten, daß die gängige empirischen Methoden nicht zuletzt deshalb so grobschlächtig und nivellierend geformt werden, damit sie jenen Anspruch unzweifelbar aufrechterhalten und unentwegt belegen können. Daß seine empirische Einlösung in der Kommunikations— und Medienforschung immer weniger überzeugend gelingt, darin könnte fast die Tragik ihrer etablierten Repräsentanzen liegen — von denen manche daher ihr Heil nur noch in der rigoroseren Ausgrenzung aller Skeptiker und Abtrünnigen sowie in der strikteren 'Vernaturwissenschaftlichung', kann auch heißen: Verdinglichung ihrer Objekte und Methoden sehen. Gleichwohl: die grundsätzlichen Dilemmata sollen hier

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nicht geleugnet werden, denn weder prompte noch perfekte Lösungen sind zu gewärtigen. Auf einem Gebiet zumindest ist das Subjekt in seiner Beziehung zu den Medien inzwischen respektiert und bereits ansatzweise betrachtet worden: in der Frage nämlich, welchen Anteil die Medien an der Biographie, genauer wiederum: an der Konstruktion und Rekonstruktion von Lebensläufen und biographischen Deutungen haben. Als sog. (weil dadurch verkürzte) medienbiographische Sichtweise hat sie bereits Eingang ins gängige Methodenrepertoire gefunden (Hickethier, 1987; Kübler, 1987d; Maletzke, 1983). Um ihre empirische Illustration und Verifikation ist es allerdings noch dürftig bestellt; nicht nur fehlen Studien, die jeweils historische Initialphasen und Schaltstellen der Medienentwicklung biographisch dokumentieren, ein Ziel, das infolge des Ablebens noch befragbarer Gewährsleute immer dringender, aber auch immer schwieriger zu erreichen ist, auch die meisten sozialen Straten und Gruppen sind bislang noch unberücksichtigt. So werden 'Medienbiographien', zumal wenn sie sich alltagstheoretischen Erkundungen verpflichtet fühlen, nicht selten als probate, aber auch umstandslos instrumentierte Themen für Dissertationen aufgegriffen, als anerkannte und aufschluflreiche Verfahren der main stream — Forschung werden sie indes noch kaum erstellt. Von Seiten der qualitativen Sozialforschung wird dem Subjekt, dem analysierenden wie dem zu analysierenden, außerdem essentielle Funktionen bei der intersubjektiven, kommunikativen (sie!) Validierung der Befunde eingeräumt; ja sie erkennt in diesem Axiom die Garantie, daß sich sozial wissenschaftliche Forschung weder verselbständigt noch sich gar gegen ihre Urheber und Träger kehrt. Letztlich bestreitet sie jedes (vermeintlich) außersoziale Konstrukt; wissenschaftliche Entdeckung und Deutung hat in der Kompetenz der Entdeckenden zu bleiben. Und da sie nie allein von den professionellen Analysierenden, den Wissenschaftlern, bewerkstelligt werden kann, vielmehr die authentischste Lesart über ihre Wirklichkeit immer noch von den sie Gestaltenden bzw. in ihr Lebenden geleistet wird und — ethisch betrachtet — ihnen auch obliegt, verlangt das darin begründete ethnographische Credo diese wechselseitige, kommunikative, mindestens kontrollierte Validierung: Was stimmt und was nicht, was richtig oder was falsch ist, läßt sich also wiederum nicht absolut, erst recht nicht mit sanktionierender Autorität wissenschaftlicher Erkenntnis bestimmen, sondern unterliegt ebenso dem symmetrischen, wenn auch schrittweise systematisierten Diskurs der Beteiligten. Erneut findet sich eine Fülle daraufhin zu überprüfender Beispiele in der Medien— und Wirkungsforschung. So wird etwa in der berüchtigten, durch unzählige Studien immer noch umstrittenen Gewaltforschung dazu übergegan-

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gen, den sehr mehrdeutigen und daher inkriminierten Gewaltbegriff nicht mehr im voraus definitiv festzulegen, vielmehr in als "funktionale" Definition mit den Probanden im Erhebungs— und Analyseprozefl zu erarbeiten (Kunczik, 1987, S. 87ff). Über eklatante, meist physisch—handgreifliche Gewaltdarstellungen läßt sich rasch und problemlos Konsens herstellen, allerdings auch nur soweit, wie sie sich in dokumentarischen, berichtenden Genres befinden; über alle anderen, für einige weit gravierenderen Formen der dargestellten Brutalität und Aggression befinden nicht zuletzt soziokulturelle Prägungen und soziale wie individuelle Normen. Demnach sind generelle Violenzgrade und — häufigkeiten, wie sie etwa G. Gerbner für die Hauptprogramme des amerikanischen Fernsehens seit Jahren konstatiert, allenfalls als interne Relationierungen zu werten, sofern sie freilich genügend sensibel und offen sind, vorab nicht berücksichtigte oder neu aufkommende Gewaltformen einzubeziehen. 4. All diese Überlegungen und Postulate rufen nach einer konzisen Methodologie. So nachdrücklich sie schon erörtert und tentativ angegangen worden ist, systematisch und überzeugend genug liegt sie bislang noch nicht vor — zumal ja prinzipiell zu fragen bleibt, in welcher Form, also in welcher Konsistenz, Operationalität und Normativität bzw. Verbindlichkeit, sie überhaupt zu entwickeln ist. Vergleichbare Kriterien, wie sie für die empirisch — analytische Sozialforschung und ihre Methodik üblich sind, lassen sich gewiß nicht pauschal an— und einführen, hält man die Kritik grundsätzlich aufrecht, daß ihre routinehafte, sanktionierende Handhabung erheblich zu der Verdinglichung und sozialen Entsubstantiierung ihrer Zugänge und Befunde beigetragen hat. Wenn — verkürzt ausgedrückt — Objektangemessenheit und Subjektanerkennung die obersten Maximen qualitativer Forschung sein sollen, dann kann sie das vorherrschenden Methodenverständnis nicht einfach imitieren. Aber nur ins Belieben, in die analytische Phantasie und die empirische Intuition des einzelnen Forschers kann qualitative Forschung ebensowenig gestellt werden, wozu gleichwohl manche von ihnen — nicht zuletzt aufgrund der genannten objektiven Restriktionen — neigen; wenige nur dürfte Oevermanns exklusives Postulat von der Kunstlehre, also von der persönlichen Befähigung, Lesarten erschließen und Deutungsmuster in ihrer lebensweltlichen Authentizität und Relevanz erkennen zu können, überzeugt haben (Aufenanger/Lenssen, 1986). Es empfiehlt sich daher, zunächst die Ebenen über den konkreten Methoden zu erörtern und dort allmählich konsensfahige Orientierungen zu fixieren, gleichsam eine Methodologie im ursprünglichen Sinn zu entwerfen und zu vereinbaren. Unabdingbar sind für sie eine möglichst breite Intersubjektivität, und zwar unter der beschriebenen Einbeziehung aller daran beteiligten Individuen, sowie eine ebenso nachdrückliche Transparenz, d.h. die Bereitschaft, sogar die Einfor-

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derung zur weitestgehenden Selbst— und Fremdkontrolle. Ausgeschlossen sind dadurch von vornherein Studien eines einzelnen Forschers, Teamarbeit, mindestens forschungspraktische Vernetzungen sind deshalb unerläßlich. Durchschaubarkeit des Vorgehens, wiederholte, eigentlich ständige reflexive Vergewisserungen und prüfende Ausdeutungen des Erschlossenen, Hervorgelockten und Interpretierten kennzeichnen den Forschungsweg, der zunächst wichtiger ist als das Ziel, das Resultat. Auch darin unterscheidet sich diese Forschungsrichtung von der etablierten. Denn ihre Vertreter wissen um die Relativität und Unabgeschlossenheit jedweden Ergebnisses, mithin liegt seine Validität nicht im vorgeblich positiven Befund, vielmehr in seiner zur Rekonstruktion, Verlängerung und Ausdifferenzierung auffordernden Genese. Materielle Erhebungsgrundlagen jeder Forschung, auch der empirisch—analytischen, sind letztlich Texte, in unterschiedlicher Formation freilich. Auch noch so kodifizierte oder abstraktifizierte Verfahren und Datenschemata rekurrieren letztlich auf Texte, soll heißen: zeichenhaft verdichtete, sequentielle Wahrnehmungs — und Artikulationsweisen. Deren Gehalte sind aber nie erschöpfend erschließbar, sondern immer nur partiell, ihre Auslegung ist daher in Stadien der jeweils aktuellen Ausschöpfung abzubrechen — was keineswegs ausschließt, daß ihnen unter veränderten Konstellationen und von weiteren Interpreten neue, gänzlich unbeachtete oder anders zu gewichtende Aspekte abgerungen werden können. In der Darstellung ihrer Forschungsergebnisse heben sich qualitative Studien schon deutlich, vermutlich auch leserfreundlicher (was einmal zu untersuchen wäre) von den Reports der etablierten Forschung ab. Ihr narrativer Duktus, der die Beteiligten authentisch zu Wort kommen läßt, und ihre von persönlichen Erfahrungen und Deutungen gesättigte Ausfaltung, vielfach auch schon als wissenschaftlich untpyische epische Breite angemahnt,sind inzwischen signifikant — auch wenn etliche Berichterstatter immer noch zu voreiligen, ungesicherten Verallgemeinerungen, objektivierenden Kodifizierungen und apodiktischen Behauptungen neigen. Wer Äußerungen einzelner zitiert, wer persönliche Deutungen dokumentiert, kann diese nicht unter der Hand zu kollektiven Trendaussagen generalisieren und sie dann insgeheim nur noch als eindrucksvolle Illustrationen gelten lassen. So treibt man den Subjekten noch in der letzten Phase ihre Identität aus — sofern man sie in den Untersuchungsphasen zuvor überhaupt respektiert hat! Natürlich stellt sich auch hierbei wiederum das pragmatische Problem, wo und mit welchen plausiblen Begründungen derartige Darstellungen abzukürzen und zu gliedern sind. Patentrezepte finden sich dafür ebensowenig. Abermals scheinen die genannten Prädikate 'Intersubjektivität' und 'Transparenz' die besten Ratgeber zu sein. Theorielos und ohne Erklärungsversuche brauchen solche Darstel-

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lungen im übrigen nicht zu sein, sie können und dürfen es im Grunde gar nicht. Allerdings sollten sie als Produkte und Positionen des jeweiligen Urhebers gekennzeichnet sein, und wiederum sind Quellen, Strukturen und Prozesse seiner Gedankengänge mindestens so aufschlußreich und mitteilungswert wie vermeintlich kompakte und/oder grandiose Resultate. 5. Am Ende, gewiß noch in einiger Zukunft, stünde ein anderes Verständnis — wenn man es pathetisch will: ein anders Ethos — von Wissenschaft. Völlig neu ist dieses Ansinnen gewiß nicht; denn die Krise der Wissenschaft und die Notwendigkeit ihrer radikalen Revision sind schon häufig und intensiv beschworen worden. Etliche interessante Entwürfe und Plädoyers liegen vor. Besonders überzeugend und eindrucksvoll wäre es, wenn die Disziplinen, die sich mit dem Eigentlichsten des Menschen, mit seiner Fähigkeit zur und seiner Identitätsstiftung mittels Kommunikation befassen, konstruktive Schrittmacher wären. Und da Kommunikation, zumal in ihren technisierten, mediatisierten und institutionalisierten Formen immer mehr gesellschaftliche Dimensionen gewinnt und ständig neue Einflußzonen erobert, sind sie auch in ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gefragt. Wie Menschen künftig auf diesem Globus leben werden und können, entscheidet sich nicht zuletzt daran, wie sie ihre Kommunikationsverhältnisse organisieren und gedeihlich weiterentwickeln.

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Hans Heinz Fabris

Von der Medien— zur Kommunikationsforschung: Der Beitrag qualitativer Forschungsmethoden

Auch wenn im Titel dieses Bandes nur von Medienforschung die Rede ist, haben die Herausgeber doch deutlich akzentuiert, daß dabei jeweils die "Ganzheit einer Kommunikationssituation" ins Auge zu fassen ist, um "eine möglichst angemessene Annäherung an die Wirklichkeit" zu erreichen. Ein solcher Anspruch macht es notwendig, die Grenzen bisheriger "Mainstream—Forschung" zu erweitern; nicht nur, um mit Roland Burkhart zu sprechen, "aus blinder Sucht, Althergebrachtes über Bord zu werfen, sondern aus Einsicht in die Komplexität des gesamten Kommunikationsprozesses: zum einen können auch Phänomene der Massenkommunikation angemessener erfaßt werden, wenn man sich auf die Grundlagen von Kommunikation überhaupt besinnt, und zum anderen stellt es eben eine unzureichende Verkürzung der kommunikativen Realität dar, wenn man die analytische Trennung zwischen öffentlicher und nicht—öffentlicher Kommunikation allzusehr vergegenständlicht" (Burkhart, 1983 b, S. 34). Im folgenden Beitrag soll nun vor allem der Frage nachgegangen werden, welche Rolle Methoden der qualitativen Sozialforschung im Rahmen einer derartigen Erweiterung des Forschungsfeldes von einem engen medienwissenschaftlichen zu einem umfassenden kommunikationswissenschaftlichen Ansatz zukommen könnte. Es handelt sich dabei nicht zuletzt um ein Plädoyer für einen (neuerlichen) Paradigmenwechsel jener Universitätsdisziplin, die im deutschsprachigen Raum einst als "Zeitungskunde" oder "Zeitungswissenschaft" begonnen hat und heute zumeist unter der Bezeichnung "Publizistik— und Kommunikationswissenschaft" firmiert — ein Titel, der in der Regel mehr verspricht, als er bisher in der Praxis zu halten vermochte. Zu diskutieren wären in diesem Zusammenhang wissenschaftshistorische, wissenssoziologische und allgemein gesellschaftliche Ursachen wie Begründungen von Be— wie Entgrenzungskonzepten der Forschung — mit ihren Auswirkungen etwa auf Lehre und Ausbildungbinhalte —, der Konnex zwischen der Entwicklung von Forschungsinteressen, Theorien und Methoden sowie das Programm einer "Wissenschaft von der sozialen Kommunikation", in der Prozesse der "Massenkommunikation" auf dem Hintergrund vielfaltiger Erscheinungsformen humanspezifischer Kommunikation zu betrachten wären. Die aktuelle Renaissance und Weiterentwicklung qualitati-

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ver Methoden — von der Beobachtung über narrative Interviews, lebensgeschichtliche wie lebensweltliche Ansätze, Gruppendiskussionen, Handlungsforschung, qualitative Inhaltsanalyse bis hin zu qualitativer Rezipientenforschung — ist in diesem Zusammenhang als Chance zu sehen, neben den in der "Mainstream—Forschung" der letzten Jahrzehnte dominierenden Methoden und theoretischen Konzepten neue Forschungsfragen zu entwickeln und neue Forschungsfelder abzustecken. Da zur Zeit keine der traditionellen Disziplinen beanspruchen kann, ein derartiges Programm bereits abzudecken, wird es zudem notwendig sein, die interdisziplinäre Zusammenarbeit neu zu überlegen, wobei vor allem die Orientierung auf jene Fächer im Vordergrund stehen sollte, die — wie etwa Ethnologie, Kultursoziologie, Zeitgeschichte oder auch die Literaturwissenschaften — bereits seit längerem diesen Weg eingeschlagen haben. Dies erscheint umso dringlicher, als "Kommunikation" zu einem modischen Etikett geworden ist, dessen Bedeutung durch seinen inflationären Gebrauch sich allmählich zu verflüchtigen droht.

Eine Disziplin auf der Suche nach ihrem Gegenstand Der Blick zurück in die Wissenschaftsgeschichte verdeutlicht das Dilemma, in dem sich einerseits die in diesem Feld engagierten Medien—Wissenschaften auf der Suche nach ihrem Gegenstand und andererseits ein zumal in der jüngeren Vergangenheit gewaltig expandierender Problembereich auf der Suche nach angemessener wissenschaftlicher Aufmerksamkeit befunden haben. Es ist dies nicht zuletzt ein Prozeß ständig neuer Grenzziehungen und — revisionen, der durch vielfache inner— wie außerwissenschafdiche Einflüsse gesteuert wurde. War etwa die häufig als Vorläuferin der modernen Medienwissenschaften apostrophierte Rhetorik auf die Phänomene "öffentlicher Rede" fixiert, stellten "Zeitungskunde" und frühe "Zeitungswissenschaft" einen Reflex auf das Auftauchen der neuen gesellschaftlichen "Großmacht" der (Massen—)Presse dar. Mit dem Erscheinen jedes neuen (technischen) Mediums — von der Fotographie über den Film, Hörfunk und Fernsehen bis hin zu den neuesten "neuen Medien" Video, Bildschirmtext, Kabel— und Satellitenfernsehen — stellte sich jeweils von neuem das Problem der Einschränkung oder Erweiterung des Gegenstandsbereiches für die sich nun zunehmend als Medien—Wissenschaft(en) verstehenden Disziplinen. (Es wäre in diesem Zusammenhang eine wissenschaftshistorisch reizvolle Aufgabe einmal zu untersuchen, wie durch die rasche Entwicklung technisch vermittelter Information und Kommunikation Probleme nicht—technischer (Alltags—)Kommunikation in den Hintergrund abgedrängt worden sind.) Solche Grenzziehungen lassen sich etwa am Beispiel des Selbstverständnisses der "Publizistikwissenschaft" als mit allen Erscheinungsformen

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"öffentlicher" und "aktueller" gesellschaftlicher Kommunikation befaßten Disziplinen wie Literatur— oder Sprachwissenschaften beobachten. (Lediglich das Münchner Institut für Zeitungswissenschaft beharrte noch lange Zeit auf einem Wissenschaftsverständnis, wonach unter "Zeitung" ganz allgemein das "Zeitgespräch der Gesellschaft" zu verstehen sei.) Während jedoch der Übergang von der Zeitungs— zur Publizistikwissenschaft — der allerdings auch mit dem Wandel von einer geisteswissenschaftlichen zu einer sozialwissenschaftlichen Orientierung verbunden war — von intensiven Auseinandersetzungen begleitet wurde, ging die Neu—Etikettierung als "Publizistik— und Kommmunikationswissenschaft" in den siebziger Jahren vergleichsweise lautlos vor sich . Dieser Mangel an reflexiver Anstrengung drückt sich u.v.a. etwa darin aus, daß zentrale Begriffe eines solchen Etiketts wie das neue Zauberwort "Kommunikation", für das Klaus Merten immerhin 160 Definitionen gefunden hat (Merten, 1977), kaum definiert, geschweige denn reflektiert werden. Ahnliches gilt für den gesamten Bereich der Theorien— und Methodendiskussion. Neue Fragestellungen, neue theoretische oder methodologische Anregungen sind, wenn überhaupt an den Rändern der Disziplin oder von Vertretern anderer Fächer entwickelt worden, so daß eine Position, wie sie etwa von Roland Burkhart vertreten wird, der die Publizistik— und Kommunikationswissenschaft als eine "reaktive Disziplin", als eine "Reaktion auf bereits herangereifte Wissenschaften" verstanden wissen will (Burkhart, 1983a, S. 291 f), keineswegs als Außenseitermeinung einzuschätzen ist. In der Praxis hatte sich ohnehin — nimmt man dafür Studienordnungen und —plane, Diplom— und Doktorarbeiten sowie die Publikationen der Fachvertreter als Indizien zur Hand — ein faktisches Verständnis als eine auf die Medien und insbesondere auf die Phänomene der Massenkommunikation fixierte Disziplin durchgesetzt. Die Orientierung auf die Ausbildung von journalistischen und ähnlichen Berufsträgern sowie eine gleichfalls in diese Richtung akzentuierte Auftragsforschung haben — bei notorischen Kapazitätsproblemen des Faches — ein übriges getan, um dieses Verständnis zu verfestigen. Wie plausibel derartige Gründe jedoch auch erscheinen mögen, lassen sich dieser Entwicklung nach Meinung des Verfassers dieses Beitrages aber auch gewichtige Argumente entgegenstellen, die für die Notwendigkeit sowohl einer Ent —Grenzung als auch der Entfaltung zu einer "reifen" Wissenschaft sprechen. Im folgenden soll versucht werden, einige dieser Begründungen zu skizzieren und — dem Programm dieses Sammelbandes entsprechend — auf damit verbundene methodische und methodologische Implikationen hin abzuklopfen.

Von der Medien — zur Kammunikatioosforschung

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KommunikationsWissenschaft als Schlüsseldisziplin der " InformaticKisgesellschaft " ? Die "Logik" jener Entwicklung, die von vielen Autoren als Weg zur "Informationsgesellschaff — wobei auf den ideologischen Gehalt dieses Begriffs an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden soll (vgl. dazu u.v.a. Fabris, Hummel, Luger, 1984) — zu beschreiben versucht wird, gewinnt von Tag zu Tag deutlicher an Konturen. "Information" und "Kommunikation" werden zunehmend zu gesellschaftlichen Schlüssel —Ressourcen. Schon jetzt arbeiten nach den von Machlup und anderen Autoren entwickelten Kriterien mehr als die Hälfte der Beschäftigten in den USA und tendentiell auch in anderen industriell entwickelten Ländern im sogenannten "Informationssektor". Die Unternehmen der Informations —, Medien — und Kommunikationsindustrien stellen einen industriellen Komplex dar, dessen Bedeutung jenen der "alten" Industrien zu überflügeln begonnen hat. Dieser Prozeß, der auch mit Bezeichnungen wie "Informatisierung", "Telematisierung" und "Industrialisierung der geistigen Arbeit" zu erfassen versucht wird, verändert die gesellschaftlichen Verhältnisse in vielen Bereichen nachhaltig, ähnlich wie dies etwa im Gefolge der "ersten industriellen Revolution" der Fall gewesen ist. (Vgl. dazu u.v.a. Bell, 1976; Machlup, 1962; Porat, 1977; Schmoranz, 1980). Die gravierendsten Veränderungen sind in der Arbeitswelt, aber auch im Freizeitbereich zu erwarten. Die aktuelle Diskussion etwa um die Folgen der Computerisierung, des Einsatzes von Mikroprozessoren oder um die "neuen Medien" bezieht sich jeweils auf besonders sichtbare Aspekte dieses Prozesses, dessen Entwicklung gegenwärtig allerdings noch kaum abzusehen ist, da er bereits schwerwiegende Widersprüche hervorgerufen hat. Aber auch weite Bereiche der Alltags—Kommunikation werden davon nicht unbeeinflußt bleiben, denkt man etwa an die Auswirkungen vermehrten Medienkonsums, die Ersetzung von Einkauf— oder Behördengängen durch Bildschirmtext, an Lernprogramme oder Veränderungen der Sprache durch Digitalisierung im Gefolge der Computerisierung. Traditionelle Kommunikations—Kulturen in vielen Ländern vor allem der Dritten Welt, aber auch in unseren Regionen erscheinen durch die fortschreitende Technisierung und Mediatisierung von Informationsübermittlungs — und Kommunikationsprozessen bedroht. Der Problemdruck, der durch diesen Prozeß vor allem im sozialen Bereich erzeugt wird, ist heute noch kaum überschaubar. Die Optionen einer Kommunikationsforschung, die sich diesen Problemen konfrontiert sieht, lassen sich auf einem weiten Spektrum abstecken, das von einem primär technokratischen Interesse an der Untersuchung von Barrieren bzw. Durchsetzungsmöglichkeiten des Konzepts der "Informationsgesellschaft" bis zu

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einer kommunikations—ökologischen Perspektive der Sorge um die Bewahrung humanspezifischer Kommunikationsfahigkeit und der Suche nach angepaßten Lösungen reicht. Die systematische Auseinandersetzung mit Technik — Folgen für die soziale Natur des Menschen gewinnt unter solchen Voraussetzungen eine ähnliche Bedeutung, wie sie die naturwissenschaftlich—ökologische Auseinandersetzung für den Fortbestand der natürlichen Ressourcen besitzt. Schließt man sich einer derartigen Betrachtungsweise an, relativiert sich der Stellenwert, den gegenwärtig die Massenkommunikationsforschung einnimmt, und treten andere Problemzonen in den Vordergrund. Es wird nicht zuletzt vom Gelingen einer "Vernetzung" unterschiedlicher Analyse — Ansätze und von der Entwicklung geeigneter Forschungsmethoden abhängen, ob die Wissenschaft mit der Komplexität dieser Entwicklung Schritt halten kann. Zu erwarten ist, daß starke Interessen die Ansätze zu einer "harten" Wissenschaft begünstigen werden; umso notwendiger erscheint es, dieser "harten" Forschung eine "weiche", medien—ökologisch und an der Entfaltung humanspezifischer Kommunikationsfahigkeit orientierte Kommunikationswissenschaft und — forschung entgegen zu setzen, deren Methoden und Ergebnisse von vielen Menschen rezipiert und für die eigenen Interessen nutzbar gemacht werden können.

Kommunikation in der Weltgesellschaft Die systematische Befassung mit den oben angedeuteten Prozessen, die in vieler Hinsicht globale Dimensionen besitzen, erscheint auch als Voraussetzung für die praktische Ausarbeitung und Durchsetzung jener Prinzipien einer "Neuen Welt—Informations — und Kommunikationsordnung", wie sie in zahlreichen internationalen Dokumenten und zuletzt etwa im sogenannten MacBride—Bericht "Viele Stimmen — eine Welt" (1981) formuliert worden sind. Eine solche neue internationale Ordnung beinhaltet nicht nur die Prinzipien der Kommunikationsgerechtigkeit — als gleiches und allgemeines Zugangsrecht zu den Informations— und Kommunikations — Ressourcen —, eines "freien und ausgewogenen" Informationsflusses, sondern — als "Recht auf Kommunikation" — auch den Anspruch auf die Bewahrung und Weiterentwicklung vielfältiger und unterschiedlicher Kommunikationskulturen. Aufgabe einer Kommunikationswissenschaft und —forschung, die sich der darin enthaltenen Herausforderung stellen will, müßte es u.v.a. sein, die Kenntnis dieser verschiedenartigen Kommunikationskulturen zu systematisieren und zu vertiefen sowie das Verständnis dafür zu stimulieren. Derart wären die Bedingungen für die Herausbildung einer multi — kommunikationskulturellen Weltgesellschaft der Zukunft zu schaffen. Dies würde für die Forschungspraxis etwa bedeuten, neben der medial vermittelten Kommunikation — in traditionellen Modernisierungs — Modellen als zentrale Variable

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für "Entwicklung" angeführt — vor allem die Phänomene nicht — oder "klein"—technisch vermittelter Informations— und Kommunikationsstrukturen und —Verhaltensweisen verstärkt ins Auge zu fassen. Im Zusammenwirken mit Ethnologie und Kulturwissenschaft wäre etwa ein "Welt—Atlas der Kommunikations— Kulturen" zu erarbeiten. Auch in diesem Zusammenhang ist klar, daß derartige Aufgaben mittels herkömmlichen Standardmethoden und Forschungs—Organisations — Designs der "harten" Medienforschung kaum angegangen werden können. Was sollten etwa Einschaltziffern oder Umfragen — noch immer der "Königsweg" der traditionellen Medienforschung — in Kulturen in Erfahrung bringen können, die auf einem vor—technischen Stand der kommunikativen Entwicklung stehen; wobei im übrigen aufgrund ethnologischer Forschung heute jeder eurozentrische Überlegenheitsanspruch etwa bezüglich der Effizienz "moderner" Kommunikationsmittel stark in Zweifel zu stellen ist. Ohne den Einsatz qualitativer, "angepaßter" Forschungsmethoden wie etwa Beobachtung, dem Auswerten von Erzählungen, Projekten der Handlungsforschung usw. wird es hier kaum wirkliche Fortschritte der Forschung geben können. Wie eng im übrigen derartige Probleme mit den "großen", globalen Fragen, etwa von Krieg und Frieden, zusammenhängen, wird dann besonders deutlich, wenn interkulturelle und interstaatliche Kommunikationsfahigkeit — und nicht allein das "rote Telefon" zwischen Washington und Moskau — als essentielle Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben der Menschen betrachtet und die Störung dieser Fähigkeit — analog zum zwischenmenschlichen und individuellen Verhalten — als extrem friedensbedrohender Faktor erkannt wird.

Die Entdeckung des Alltags Ähnlich wie in der neueren geschichtswissenschaftlichen Forschung, die eine "Geschichte von unten" — im Gegensatz zu einer auf die Köpfe der Herrschenden zugeschnittenen Geschichtsschreibung — und eine "Geschichte des Alltags" — wiederum in Absetzung von einer Chronologie der "besonderen" Ereignisse — auf ihr Programm geschrieben hat und sich dafür nicht zuletzt der Quellen mündlich überlieferter Geschichte bedient, ähnlich aber auch der Entwicklung in vielen anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, ist auch in der Publizistik — und Kommunikationswissenschaft in den vergangenen Jahren ein verstärktes Interesse an der Erforschung von Phänomenen der sogenannten Alltags — Kommunikation zu beobachten. Während die Alltäglichkeit von Kommunikationsprozessen in der Vergangenheit ihrer wissenschafdichen Erforschung nicht gerade förderlich war (vgl. Merten, 1977, S. 9), hat sich dies doch allmählich zu ändern begonnen. Die "Alltagswelt" — oder, um mit Habermas zu sprechen,

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die "Lebenswelt" (Habermas, 1982) — hat ihre Unschuld, ihre scheinbare Selbstverständlichkeit längst verloren, ist selbst zum Problem geworden. "Es ist daher mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Zufall", meint etwa Burkart, "wenn gerade heute die Alltäglichkeiten häufig als problematisch erlebt werden: hat doch der wissenschafltich—technische Fortschritt in unserem Jahrhundert eine radikale Veränderung der Lebenswelt eingeleitet, die nicht ohne Einfluß auf die traditionellen Strukturen des alltäglichen Lebensvollzuges bleiben konnte und schließlich zu deren Auflösung führte. Der Alltag, der sich früher noch unter Rückgriff auf gesellschaftlich bereitgestellte und allgemein akzeptierte Bewältigungsformen quasi 'naturwüchsig' regeneriert hatte, erfordert heute — infolge umwälzender sozialer Veränderungen — neue Bewältigungstechniken" (Burkhart, 1983a, S. 12). Dies läßt sich an der Konjunktur für "Kommunikations — Trainings" aller Art, für "Sensitivity"— und Wahrnehmungs — Seminare, am Interesse für Kommunikations—Therapien, insbesondere aber an der gewaltigen Zunahme von Berufen und Diensten zur "Kommunikations —Hilfe", von der Unternehmens—Kommunikation bis zur Öffentlichkeitsarbeit und PublicRelations — Unternehmen, ablesen. Auch die Entwicklung der Medienpädagogik als "Reparaturanstalt" für Mediengeschädigte könnte hier angeführt werden. Zwar läßt sich noch keineswegs pauschal formulieren, daß die Alltags—Kommunikation und ihre Probleme zu einem selbstverständlichen Gegenstand der Kommunikationsforschung geworden sind, für die etwa ohne weiteres Forschungsgelder aufzutreiben wären — wie dies in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen bereits sehr wohl der Fall ist —, doch kann durchaus von einer analogen Entwicklung gesprochen werden, auch wenn der Bezug innerhalb der Medien— und Kommunikationsforschung gegenwärtig noch stark in Ansätzen wie etwa dem "Uses and gratifications — approach" in der Rezipientenforschung beeinflußt erscheint. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung entwickelter Forschungsmethoden zur Auseinandersetzung mit dem komplexen Phänomen "Alltag" besonders deutlich. Wichtige Beiträge sind hier von der "neuen Ethnographie", von der Gemeindeforschung als Alltagsweltanalyse, von der Kulturanthropologie, der Ästhetik des Alltags und Populärkulturforschung sowie von einzelnen Soziologien gekommen. Innerhalb der Publizistik— und Kommunikationswissenschaft hat die Übernahme des medien— und kommunikations—biographischen Ansatzes (Kübler, 1982; Rogge, 1982) den qualitativen Methoden zweifellos erhebliche Attraktivität verschafft. In Publikationen wie dem Sammenband "Rituale der Medienkommunikation" (Pross, Rath, 1983) sind Einsichten der Semiotik, Ästhetik, der Volkskunde oder Philosophie auf die Medien— und Kommunikationsforschung anzuwenden versucht worden. Auch sozialgeographische Ansätze etwa der Untersuchung von Kommunikationsräumen stellen eine für die Zukunft vielversprechende Forschungsrichtung dar, die sich mit der Gemeindeforschung

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und Kulturforschung verbinden lassen könnte. Weitere Themenbereiche haben Kommunikation in der Familie, Medien— und Kommunikationskulturen von Jugendlichen, alten Menschen u.a. betroffen. Vereinzelt wurde auch versucht, Projekte der Aktions— oder Handlungsforschung zu entwickeln (Auer, Hueber, Kronberger, 1980). Die Einbeziehung der Lebenswelt der Menschen und ihrer persönlichen Lebensgeschichten zur Erklärung eines etwa durch Umfragen erhobenen Kommunikationsverhaltens dürfte jedenfalls — so ist zumindest zu vermuten — auch für die noch immer auf "harte" Methoden fixierten Medien — und Kommunikationsforscher die Tür zum "interpretativen Paradigma" geöffnet haben; auch wenn der Dialog darüber innerhalb des Faches noch kaum begonnen hat.

Sackgasse der Wirkungsforschung Darüber ist in anderen Beiträgen dieses Bandes ausführlich gesprochen worden, so daß eine detailliertere Auseinandersetzung mit diesem Thema hier unterbleiben kann. Immerhin läßt sich die ironische Bemerkung nur schwer unterdrükken, daß es für die Auswirkungen der Einengung auf ein medienwissenschaftliches Paradigma doch mehr als bezeichnend erscheint, wenn nach Jahrzehnten der "Mainstream"—Wirkungsforschung diese bei der "Entdeckung" angelangt ist, daß Menschen die Medien auch nach ihren individuellen Bedürfnissen nutzen. Das Stichwort "qualitative Publikumsforschung" wird von den "Mainstream" — Vertretern dessen ungeachtet in der Regel nur mit Verachtung quittiert; wobei durchaus zugestanden werden soll, daß den zur Zeit von den Auftraggebern der Publikumsforschung formulierten Interessen durch qualitative Methoden nur schwer Rechnung getragen werden könnte.

Kommunikationsforschung für wen? Die Vermittlung kommunikationswissenschaftlichen Wissens an Adressaten etwa aus der journalistischen Praxis oder an Eltern, die sich über den Medienkonsum ihrer Kinder Gedanken machen, scheitert vielfach daran, daß die verwendeten Methoden und die ihnen zugrunde liegenden wissenschaftstheoretischen Annahmen schwer durchschaubar oder gar nachvollziehbar erscheinen. Hinter den Figuren der Statistik verschwinden die Individuen. So können Journalisten in der Regel wenig mit den Resultaten quantitativer Inhaltsanalysen anfangen und stehen Eltern zumeist ratlos vor dem Berg einschlägiger und höchst widersprüchlicher Untersuchungen etwa über die Auswirkungen von Gewaltdarstellungen in den Medien auf Kinder und Jugendliche. Die traditionellen "Königswege" der Medienforschung, Interview und Inhaltsanalyse, haben zudem — nicht zu-

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letzt aufgrund des wachsenden Wissenschaftsskeptizismus in der Bevölkerung, der sich in Interviewverweigerung und dem "Unterlaufen" von Fragestellungen äußert — viel von ihrem einstigen Glanz verloren. Zu lange schon befindet sich die "harte" Medienforschung in der Stagnation und dienen ihre Ergebnisse als "Herrschaftswissen" vor allem den Markt— und Meinungs —Strategen. Die Herausforderung durch das neue Methoden — Paradigma der qualitativ — interpretativen Sozialforschung hat ein übriges dazu beigetragen, nicht nur die damit verbundenen methodologischen Probleme, sondern auch Fragen der Ethik der Forschung und ihrer demokratischen Legitimation erneut — nach der durch die Studentenrevolte in den sechziger Jahren ausgelösten Wissenschaftskritik und dem sogenannten Positivismus — Streit — ins Bewußtsein zu rücken. Es steht daher zu erwarten, daß auch in der Publizistik— und Kommunikationswissenschaft, nach der durch Neue — Medien — Begleituntersuchungen u.a. bewirkten kurzfristigen Forschungskonjunktur, ein Umdenken beginnt und sich die Fachvertreter wieder der Frage zuwenden, für wen sie ihre Wissenschaft betreiben wollen. Qualitative Forschungsmethoden, die einfacher zu durchschauen sind, am Alltagswissen, am Alltagshandeln und — interesse der Menschen ansetzen und somit auch leichter vermittelt werden können, sollten geeignet sein, diese Diskussion auf einer neuen Ebene wieder aufzunehmen; denn zum Unterschied von den sechziger Jahren, als die Forderung nach bevölkerungsnaher Wissenschaft erhoben wurde, ist die methodische Entwicklung heute so weit fortgeschritten, daß etwa viele Punkte im Programm der Kritischen Theorie praktisch einlösbar erscheinen.

Zum Programm einer interdisziplinären Wissenschaft von der menschlichen Kommunikation Im Rahmen eines derart erweiterten Wissenschafts — und Forschungsverständnisses wäre der Stellenwert etwa der Phänomene der Massenkommunikation auf der Basis umfassenden Wissens über humanspezifische Kommunikation zu bestimmen. Dabei muß keineswegs bei der "Stunde Null" begonnen werden. Holger Rust weist in diesem Zusammenhang auf die bereits vorliegenden Versuche zur Systematisierung einschlägiger Erkenntnisse der Kulturanthropologie und Ethnologie, auf die Ansätze von Watzlawik, Beavin und Jackson, Hugh Duncan oder Klaus Merten hin (Rust, 1984). Neben dem "kulturanthropologischen" und "kultursoziologischen" Paradigma bieten sich dafür als theoretischer Rahmen auch die materialistische Kulturtheorie (Hund, Kramer, 1978), das Werk Pierre Bourdieus, der Symbolische Interaktionismus in der Tradition von

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Mead und Blumer, aus der Linguistik kommende Entwürfe oder auch weit ausholende Einzelleistungen wie die von Jürgen Habermas vorgelegte "Theorie des kommunikativen Handelns" (Habermas, 1982) an. Ziel einer solchen auf breiter Grundlage entwickelten Forschungsperspektive müßte es sein, alle in der Gesellschaft erkennbaren Formen und Medien der Kommunikation, soweit sie soziale Handlungen von Menschen betreffen, zu erfassen (vgl. in diesem Sinne Burkhart, 1983a). Rust schlägt zur notwendigen Differenzierung der Analyse—Ebenen — über die von Habermas vorgenommene Unterscheidung von "System" und "Lebenswelt" hinaus — die Untersuchung der Wertsysteme, als der "normativen Bestimmungen des Handelns", zweitens der konkreten Chancen für individuelles kommunikatives Handeln und drittens der in einer bestimmten Gesellschaft jeweils vorhandenen Mittel kommunikativer Bedürfnisbefriedigung vor. Kommunikationsforschung — und demnach auch die Medienforschung im engeren Sinn — hätte sich somit auf der Grundlage einer menschheitsgeschichtlichen Perspektive kommunikativer Emanzipation der Analyse der in bestimmten Kulturen und Gesellschaften jeweils verfügbaren Kommunikationsmittel, der für ihren Gebrauch geltenden Normen, den konkret entfalteten Kommunikationsformen einerseits der lebensweltlichen Alltagskommunikation, andererseits der in den Systemen der Herrschaft und Verwaltung entstandenen Kommunikationstrukturen zuzuwenden. Eine derart umfassende Sichtweise sozialer Kommunikation würde es dann ermöglichen, systematisch Zusammenhängen und Veränderungen auf einer oder mehreren Handlungsebenen, etwa durch neue technische Medien oder auch neue Werthaltungen und Verhaltensweisen, nachzugehen. Das im vorherrschenden Forschungsinteresse auf die Medien und ihr Publikum zentrierte Untersuchungsprogramm wäre auf den gesamten Bereich humanspezifischer sozialer Kommunikation auszuweiten; wobei sich etwa erweisen könnte, daß die technisch—medial vermittelte Information und Kommunikation nur einen sehr relativen Stellenwert im Rahmen der gesamten menschlichen Kommunikationserfahrungen einnimmt.

Qualitative Kommunikationsforschung — Schlüssel zur Alltagskommunikation Die Einlösung eines derartigen Forschungsprogramms wird durch den "zweiten Weg", der in verschiedenen sozial wissenschaftlichen Disziplinen in den vergangenen Jahren im Methodenbereich beschritten wurde, zu einer realistischen Perspektive — geht man nämlich davon aus, daß ein solches Konzept auch ein entsprechend in die Forschungspraxis umsetzbares Methodeninstrumentarium zur Voraussetzung hat. Zwar ist Christa Hoffmann—Riem zuzustimmen, wenn sie

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meint, daß der vielfach prognostizierte Paradigmenwechsel "keineswegs mit Wucht über die Sozialforschung hereingebrochen ist" und die "an dem Ideal der Standardisierbarkeit orientierte neopositivistische Sozialforschung" nach wie vor das Feld behauptet, doch trifft auch die Beobachtung zu: "Ein zweiter Weg gewinnt Konturen und lockt diejenigen an, die den soziologischen Gegenstandsbereich nicht befriedigend durch die Befolgung naturwissenschaftlicher Forschungspostulate erschließbar sehen ... Die erneute Verbreiterung des soziologischen Forschungsbereichs durch eine stärkere Berücksichtigung der Perspektive der Handelnden wirkt für manchen als Befreiung aus den Zwängen der neopositivistischen Methodologie. Auch wenn zentrale Probleme in der interpretativen Sozialforschung offen bleiben, scheinen manche Ansätze soweit grundlagentheoretisch fundiert, daß eine kontrastierende Darstellung zur herkömmlichen Forschung versucht werden kann" (Hoffmann—Riem, 1980, S. 339). Analoges wäre für den Bereich der Kommunikationswissenschaft und — forschung zu fordern, wobei noch hinzukommt, daß die im "interpretativen Paradigma" postulierten Prinzipien der "Offenheit" und insbesondere der "Kommunikation" in der Beziehung zwischen "Forschern" und "Beforschten", im Sinn des Ernstnehmens kommunikativer Grundregeln, einer Disziplin besonders gut stehen sollten, die den Kommunikations — Anspruch in ihrem Titel führt. Anknüpfungspunkte gibt es hier selbst bei im engeren Sinn publizistikwissenschaftlichen Fachvertretern wie Henk Prakke (Prakke, 1964), dessen programmatische Hinweise allerdings lange Zeit an den Rand gedrängt wurden. Die ethnologische Beschäftigung mit Kommunikation in sogenannten primitiven Gesellschaften (Eilers, 1977) ist hier ebenso zu nennen wie das bereits in den dreißiger Jahren von Lazarsfeld und seinen Mitarbeitern in der klassischen Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal" vorgeführte Forschungsprogramm (Jahoda, Lazarsfeld, Zeisel, 1975). Linguistische, insbesondere soziolinguistische Untersuchungen, die Weiterführung der theoretischen Diskussion über qualitative Inhaltsanalyse und Interaktionsanalyse (Rust, 1983), Projekte der Aktionsforschung, die Entwicklung eines "medienbiographischen" Ansatzes, mit sozialgeographischen Konzepten arbeitende "Kommunikations —Raum" —Studien haben neue, bislang vernachlässigte Fragestellungen mit Hilfe qualitativer Forschungsmethoden beziehungsweise durch die Verbindung von quantitativen und qualitativen Vorgangsweisen aufgenommen und diese Richtung der Forschung nachhaltig zu befruchten vermocht. Interdisziplinäre Querverbindungen ergeben sich dabei zur Geschichtswissenschaft, die die "mündliche Geschichte" und die "Geschichte des Alltags" zu entdecken begonnen hat, zur Ethnologie, Kulturanthropologie, Linguistik, Politikwissenschaft und Soziologie, zu Psychologie und Erziehungswissenschaften.

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Nicht zu übersehen ist freilich auch, daß von einem systematischen Beschreiten dieses "zweiten Weges" noch nicht die Rede sein kann. Ansätze dazu gibt es noch am ehesten in der Medien— und Kommunikationsgeschichtsschreibung, marginal in der Publikumsforschung und Kommunikationsforschung, in Produktanalysen, der kulturanthropologischen Forschung, im Rahmen von Aktionsforschungsprojekten, der Gemeindeforschung sowie in Studien, die in anderen Disziplinen — von der Literaturwissenschaft über die Erziehungswissenschaften bis zur Soziologie und Soziolinguistik — durchgeführt worden sind. Dies hat zum einen zweifellos innerwissenschaftliche Ursachen, zum anderen sind die Gründe dafür im wissenschaftsorganisatorischen und —politischen Bereich zu suchen. Betrachtet man nämlich die Praxis der angewandten Forschung in diesem Feld, ist deutlich erkennbar, daß institutionalisierte Interessen wie solche der Rundfunkanstalten und Zeitungsverlage, der Werbewirtschaft, der politischen Parteien, der Geräteindustrie usw. den Großteil der empirischen Medien— und Kommunikationsforschung — vom Sektor der Studentenforschung einmal abgesehen — bestimmen. Diese Institutionen und Organisationen zeigen (noch) nur ein sehr eingeschränktes Interesse an der Erforschung von kommunikativen Alltagsphänomenen, die nicht in einem direkten Zusammenhang mit ihrem "Wirken" stehen. Auch gegenüber der staatlichen Forschungsförderung erscheint ein Programm der Alltagsforschung gegenwärtig noch schwer durchzusetzen. Die zu Beginn dieses Beitrages skizzierten Entwicklungen, die für ein derartiges Forschungskonzept sprechen, sind noch nicht deutlich genug zu sehen, um sich als (Groß — )Forschungsinteresse organisieren zu lassen. Entsprechende Untersuchungen sind demnach — und darin liegt sicherlich auch ein Reiz für "freie" Forschung — in erster Linie das Resultat autonomer Forscherinteressen und —initiativen oder stehen im Zusammenhang mit Selbsthilfe —Projekten, Betroffenen — initiativen oder Ansätzen zu einer "alternativen" Wissenschaft. Abzuwarten bleibt, ob und wie rasch sich auch hier eine Entwicklung durchsetzen wird, wie sie in anderen Disziplinen bereits zu beobachten ist.

Diskussion In den vorangegangenen Überlegungen wurde versucht, das Programm einer "Wissenschaft von der menschlichen Kommunikation" zu entwickeln, die neben der in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten dominierenden Massenmedien — Forschung alle humanspezifischen sozialen Kommunikations —Phänomene und —prozesse in ihrem menschheitsgeschichtlich zu bestimmenden Zusammenhang berücksichtigen sollte. Begründungen für ein solches Programm wurden mit den Stichworten der Entwicklung der "Informationsgesellschaft", einer interkulturellen Weltgesellschaft, der Entdeckung der Alltagskommunika-

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tion, der sozialen Verantwortung der Wissenschaft und den Sackgassen bisheriger Forschungsbemühungen anzudeuten versucht. Im Hintergrund dieses Konzepts stehen als erkenntnisleitende Interessen die Idee kommunikativer Emanzipation, die Bewahrung und Weiterentwicklung kommunikativer Fähigkeiten der Menschen, die Untersuchung von Barrieren wie Chancen für ein friedliches Zusammenleben in einer interkulturellen und interkommunikativen Weltgesellschaft der Zukunft. Systematische Anstrengungen zur Realisierung einer derartigen Perspektive erfordern die Ent—Grenzung von in den einzelnen Disziplinen abgesteckten Forschungsfeldern sowie eine intensive grundlagentheoretische wie methodologische Diskussion. Die Aneignung des "zweiten Weges" der qualitativ — interpretativen Methoden der Sozialforschung und die Kooperation mit Fächern wie Kulturanthropologie, Kultursoziologie, Soziolinguistik sollten — nicht als "Ablösung", sondern als Ergänzung und Korrektur der gegenwärtig vorherrschenden Praxis zu verstehen — eine derartige Erweiterung des Gegenstandes von Kommunikationsforschung ermöglichen, die zu einer neuen Blüte der Forschung führen könnte. Ein solches Programm müßte auch — um die Aufforderung von Habermas aufzugreifen, das "Projekt der Moderne" noch einmal durchzudenken — jene Bruchstellen zwischen "System" und "Lebenswelt" in den Griff zu bekommen versuchen, an denen Rationalität an ihre Grenzen stößt. Ehe Ergebnisse solcher Untersuchungen wären an die kommunikativ Handelnden rüchzuvermitteln, wie überhaupt die Perspektive der Handelnden eine generell stärkere Berücksichtigung finden müßte. Dieser Vorschlag einer Ent—Grenzung und gleichzeitigen Neu—Orientierung wendet sich in erster Linie an die Adresse der Publizistik— und Kommunikationswissenschaft, wie sie zur Zeit zumindest im deutschsprachigen Raum betrieben wird, aber auch an andere "Medienwissenschaften" mit zumeist noch stärker eingeschränkten Forschungsperspektiven. Es wäre freilich naiv anzunehmen, daß ein solches Programm der Hinwendung von der Medien— zur Kommunikationsforschung als quasi autonome "Willensanstrengung" zu realisieren ist. Seine Chancen sind ähnlich skeptisch einzuschätzen, wie dies für die Zielsetzungen kritisch — emanzipativer Wissenschaft allgemein gilt. Dennoch sprechen für eine derartige Entwicklung eine Reihe durchaus objektivierbarer Interessen und stellt nicht zuletzt der Fortschritt im Bereich der qualitativen Sozialforschung eine ungleich günstigere Voraussetzung für eine näher an der Wirklichkeit und näher an den Interessen der Mehrzahl der

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Menschen orientierte Forschung dar, als dies für frühere Entwicklungsstadien zugetroffen haben mag. Abschließend soll noch einmal der in diesem Beitrag vertretene enge Zusammenhang zwischen der Anwendung qualitativer Methoden der Kommunikationsforschung und der Ausweitung des Gegenstandes einer in ihren Umrissen bereits erkennbaren Wissenschaft von der menschlichen Kommunikation unterstrichen werden; wobei uns die Erfahrung lehren kann, daß ein Wissenschaftsprogramm ohne entsprechende Forschungspraxis ebenso wirkungslos bleibt, wie dies umgekehrt für eine wie auch immer methodologisch ambitionierte positivistische Forschung gilt. Der gegenwärtige Stand wissenschaftlicher Reflexion ist als historische Chance zu begreifen, ein neues Kapitel in jenem "Projekt der Moderne" aufzuschlagen, an dem die Wissenschaft so maßgeblichen Anteil genommen hat.

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Haas Heinz Fabris

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Sozialökologie und Kommunikationsforschung

1.

Medienforschung im Umbruch?

Die Erweiterung der Programm—Angebote durch Kabel, Satelliten und terrestrische Frequenzen sowie die umgreifenden Weiterentwicklungen der Informations— und Kommunikations—Techniken (mit dem umstrittenen Ziel einer möglichst integrierten Schaltung vielfaltiger Dienste mehrseitigen Kommunikationsaustauschs) haben zu einer erheblichen Nachfrage nach Ergebnissen der Medienforschung geführt. Gerade diese erhöhte Nachfrage hat auch deren Krise um so deutlicher offenbart, und selbst die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft als Herausgeber initiierte Revue zur "Medienwirkungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland" (1986) kommt gleich in der Einleitung zu einer Defizit — Meldung hinsichtlich einer Prognose und Planung der Medienlandschaft, "weil wir ganz allgemein über den Zusammenhang zwischen Massenkommunikation und Gesellschaft, über die Wirkungsgesetze der Medien so wenig wissen, auch nicht die der herkömmlichen Medien". Insbesondere wird beklagt, daß eine "Vielzahl von Einzelerhebungen zur Mediennutzung" bsw. von Kindern und Jugendlichen aufgrund sehr unterschiedlicher Fragen und Methoden zu kaum vergleichbaren Ergebnissen geführt hat. Das Plädoyer für eine besser koordinierte, langfristiger angelegte Forschung in diesem Band kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Krise nur halbherzig begegnet wird, denn im Grunde werden die bereits bekannten Verfahren der Forschung nur fortgeschrieben, und der "zunehmende Einsatz von 'weichen' "Verfahren der Datenerhebung" (S. 6) wird ausdrücklich bedauert. Damit wurde die Chance, die mit jeder Krise einhergeht — weil "Krise" immer auch zur Besinnung auf Grundlagen und neue Wege drängt —, hier vertan. Andererseits wird zunehmend Kritik an der Medienforschung laut, die ihre Probleme vor sich her schiebt. Die in diesem Band versammelten Beiträge stellen auf verschiedene Weise jeweils eine Form von Kritik an der bisherigen Medienforschung dar, verbunden jeweils mit einem Lösungsangebot. Hier soll die bisher fast ganz vernachlässigte "Lösung" eines sozialökologisch orientierten Vorgehens angeboten werden, die Umwelt nicht, wie bisher, nur als Variable sieht oder ihre Mehrdimensionalität auf Interaktionsfaktoren einschränkt. Zwar werden in der Wirkungsforschung zunehmend soziale Randbedingungen als intervenierende Variablen einbezogen und nicht—kausale und nicht — lineare Wirkungsaspekte zugestanden; aber es

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bleibt schließlich nur bei einer "Komplizierung kausaler und deterministischer Zusammenhänge zwischen Medien/Medieninhalten und Verhaltens—Einstellung beim Rezipienten. Der Ansatz wird gerettet über eine multivariate Methodik, die einer hochkomplexen, aber immer noch im Modell befindlichen Wirklichkeit Herr werden kann" (Sander/Vollbrecht, 1987, S. 122). Zwar wird zugestanden, daß es sich nur selten um "einfache, direkte Kausalergebnisse" handele, sondern "in der Regel um Resultate komplexer Interdependenzprozesse" (Maletzke, 1982, S. 11). Aber Umwelt wird auch in reflekierterem Vorhaben immer nur partiell und als Lieferant sekundärer und modifizierender Einflußvariablen zugelassen. Historische, soziale, kulturelle und ökonomische Faktoren, wie sie sich in der Konkretheit gesellschaftlicher Umgebungen widerspiegeln, kommen nicht in den Blick. Daher bleiben alle vorgelegten Ergebnisse letztlich im Abstrakten, und ihre Anwendung auf konkrete Medienverhältnisse bedarf zusätzlicher Interpretation, die ihre Daten und Grundlagen keineswegs dem Forschungsprozeß verdankt. Auch der neuerdings favorisierte Nutzen—Ansatz, der sich dem Rezipienten als Ausgangspunkt zuwendet, und nicht die Medien — Botschaft monokausal als Stimulus — Spender ansieht, bleibt letztlich funktionalistischen Theorieansätzen verpflichtet, weil der Rezipient den "Nutzen" von Medien und Medienbotschaft bestimmt nach Erwartungen und auch theoretisch wenig fundierten Bedürfnissen im Rahmen von Selektionen im Wahrnehmungsprozeß, der im Rahmen vorgegebener Strukturen bleibt. Der Mensch als autonom handelndes Subjekt mit der Möglichkeit, vorhandene Medien und Medienangebote zu tranzendieren, zu verändern oder zu vernachlässigen, kommt nicht in den Blickpunkt. So ist Sander/Vollbrecht (ebd., S. 124) zuzustimmen, die konstatieren: "Sofern Nutzen— oder Wirkungsansätze überhaupt in konkreten Untersuchungen noch schwerpunkthaft erkennbar sind, stehen entweder Selektionskriterien je nach Rollenmuster, Bedürfnislage oder schichtspezifischen Vorgaben im Vordergrund, woran dann die Wirkungen der selegierten Medien und Medieninhalte anschließen. Oder aber man ist an Medienwirkungen interessiert und an den intervenierenden Variablen, die sich mit den Medieneinflüssen zu einer Gesamtwirkung vermischen." Der Nutzen — Ansatz bleibt also, kategorial gesehen, dem gleichen Modell verpflichtet. Eine gewisse Weiterführung der Debatte erfolgte im Rahmen kulturtheoretischer Ansätze. Diese weiten den Blick, indem sie Aspekte einer Sozialgeschichte der Medien ebenso einbeziehen wie sie versuchen, kommunikationskulturelle Problemlagen und Lösungen in einem ganzheitlichem Blick auf soziokulturelle Gegebenheiten zu erfassen. Freilich, hier droht wieder eine Globalisierung von Beobachtungen und auch wertenden Einschätzungen: Entweder man erhofft postulativ eine demokratische Medienzukunft aufgrund technischer Liberalisierung von Informationsmonopolen (von Brechts Radiotheorie bis zu den diversen Arbeiten etwa Raymond Williams'), oder es wird kulturkonservativ das

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Medienwesen als pestilenzartige Ausbreitung eines Virus angesehen, vor dem die wahre Kultur zu retten zunehmend schwieriger wird. Die schönen Kerne der Wahrheit werden so mit kulturkritischem Mythendampf umnebelt. Mary Winn (1979) spricht von der "Droge im Wohnzimmer", Postman gar vom totalen Kulturverfall durch Einebnung der Generationendifferenzen und Verdrängung der Literarizität durch die flirrenden Bilder des Fernsehkastens — und übersieht dabei, daß die Möglichkeiten bewegter Bilder gerade in den massenwirksamen Programmen gar nicht hinreichend genutzt werden. An der "Gestaltung unseres Fernsehprogramms läßt sich doch zeigen, daß seine Bilder zum überwiegenden Teil nur die Hintergrundbeleuchtung für fernerhin verbal transportierte Inhalte, und alles andere als selbständige visuelle Informationen sind. Die meisten Zuschauer hätten wohl auch nicht die entsprechenden Kompetenzen, sie als solche zu entschlüsseln. Wenn Postman sagt: 'Die beunruhigenste Konsequenz der elektronischen und optischen Revolution ist diese: daß uns die vom Fernsehen vermittelte Welt natürlich erscheint und nicht bizarr' (1985, S. 101f.), so hat er wahrscheinlich recht, doch hat dies auch seinen Grund darin, daß wir in der Regel Bilder weniger als Abstraktionen von Wirklichkeit zu verarbeiten in der Lage sind als Sprache und Schrift. Insofern sind die Bilder des Fernsehens für uns heute immer die perfektere Suggestion von Realität." (Hopf, 1988, S. 37) So bleibt es in der bürgerlichen und auch pädagogischen Kulturkritik (z.B.: Zimmermann, 1985; von Hentig, 1984) bei einem Vorgehen, das die Medien als alleinige Verursacher kommunikativer Mißstände sieht, ohne zu beachten, daß erst ihre Einlagerung in soziale Kontexte sie zum Problem machen kann — etwa, weil arbeitslose Jugendliche als Ersatz für aktivierende Handlungsalternativen, die ihnen vorenthalten werden, stundenlang Videos betrachten, die sie nicht auf eigene Handlungsmotive rückbeziehen können. Medien durchdringen hingegen unseren Alltag heute derart, daß sie seine kulturelle Verfaßtheit mitbestimmen und nicht als zu betrachtendes Gegenüber von ihm abzulösen sind. Der sozialökologische Ansatz stellt ein Angebot dar, die Gesamtheit direkter und vermittelter lebensweltlicher Konstellationen einzubeziehen. Damit wird Medienforschung, wie programmatisch in der Überschrift dieses Beitrags, zur Kommun/iaöonsforschung: Weil eben nicht nur Medien —"Wirkungen" (welcher Art auch immer) zu beachten sind, sondern die Ganzheitlichkeit kultureller und sozialer Verfaßtheiten, in die die Medien ihre Zeichen eingebrannt haben. Der sozialökologische Ansatz weitet also den Blick, ohne ihn durch verdächtigende Wirkungs — Zuschreibungen von vornherein zu verschleiern, und er zwingt gleichzeitig zur Genauigkeit, weil sein methodisches Szenario ihn hellsichtig macht gegenüber voreiligen Kausalzuschreibungen. Dies soll gezeigt werden, indem in den Abschnitten (2) bis (5) vor allem die sozialökologische Forschung selbst vorgestellt wird, während die Abschnitte (6) bis (9) dann an inhaltlichen Beispielen zeigen, welche Debatten (exemplarisch) im Horizont eines sozialökologisch orientierten Denkenansatzes stattfinden.

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Trends sozialökologischer Forschung

Auch das sozialökologische Forschungsfeld ist nicht gerade wohlgeordnet. Dies hat seinen Grund nicht nur darin, daß unterschiedliche sozialwissenschaftlich orientierte Disziplinen — vor allem Psychologie, Soziologie, Sozialpsychologie, neuerdings die Pädagogik — im Rahmen ihrer jeweiligen Forschungstraditionen und Referenzsysteme doch sehr unterschiedliche Akzente setzen, sondern auch daran, daß sozialökologische Fragestellungen in den meisten Disziplinen bisher eher marginalisiert wurden, so daß entsprechende Projekte nur verstreut und mit wenig interdisziplinärem und öffentlichem Echo rechnen durften. Besonders deutlich wird dies in der Psychologie, deren Selbstverständnis mit der Medienforschung, wie sie vornehmlich an kommunikationswissenschaftlichen Fachbereichen organisiert ist, insofern vergleichbar ist, als auch hier der Streit um traditionelle und neue Zugänge, um die Berechtigung unterschiedlicher methodischer Zugriffe auf den zu erschließenden Objektbereich eine wesentliche Rolle spielt. So eröffnet Gerhard Kaminski den 1976 erschienenen Reader "Umweltpsychologie" mit dem Satz: "'Umweltpsychologie' ist eine Bezeichnung für etwas, das es eigentlich noch gar nicht gibt. Und es erscheint sogar manchem Experten durchaus fraglich, ob es ein Etwas gibt, das diese Bezeichnung verdienen könnte, je geben wird und/oder geben sollte." (S. 10) Dies beginnt bei der Terminologie: Je nach Autor und wissenschaftlicher Schule findet man "ökologische Psychologie", "Ökopsychologie", "psychologische Ökologie", in der anglo—amerikanischen Literatur "Human Ecology" (Chicagoer Schule der Soziologie), "Ecological Psychology" (vor allem Barker), "Environmental Psychology", "Social Ecology", "Behavioral Ecology", "Ecobehavioral Science", etc. Dennoch gibt es einige charakteristische Züge, wie sie vor allem in der psychologischen Fachliteratur herausgearbeitet worden — mit dem Anspruch, übergreifende Eigenschaften des Forschungsparadigmas zu erfassen. Die herausgearbeiteten Strukturzüge sind meines Erachtens sozialwissenschaftlich generalisierbar und in diesem Sinne interdisziplinär. Nach Kaminski (1976; 1979) handelt es sich um folgende Kennzeichen: (1) Naturalistische Herangehensweise: An die Stelle des sonst bevorzugten Laborexperiments tritt wissenschaftliche und praktische Arbeit an "natürlichen" Lebenssituationen. Dazu gehört die Berücksichtigung "alltagsgemäßen Verhaltens" und von Formen des Erlebens, die nicht wissenschaftlich vorher definiert oder manipuliert worden sind. Es handelt sich also um "eine Forschungsstrategie, die sich auszeichnet durch möglichst minimale Manipulation der antezedenten (vorhergehenden) Bedingungen des zu untersuchenden Verhaltens — in diesem Fall also der ökologischen Kontexte — und dem Verzicht auf Bildung vorgegebener Einheiten bei der Erfassung des Verhaltens selbst" (Caesar, 1969, S. 147).

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Man spricht auch von "Objektorientierung", im Gegensatz zu einer "analytischen Orientierung" wissenschaftlichen Vorgehens sonstiger Art: "Der ökologische Ansatz geht nicht von einem theoretischen System von Regeln und Sätzen aus, setzt sie zumindest nicht absolut, sondern bezieht Problemstellungen aus der Realität mit ein, will auch auf die Realität mit Einfluß nehmen." (Baacke, 1983, S. 46) Ein solches Vorgehen ist auch theoretisch und methodologisch von großer Tragweite. Sozialökologische Konzepte erlauben, die Kategorien "Lebenschancen" und "Sinn" zusammenzuführen und damit interaktiv zu deuten: "Es wäre unrichtig, die Kategorie der Lebenschancen nur auf die objektivierten Bedingungen zu beziehen und die Kategorie des Sinns nur auf die Umwelt als Erfahrungs— und Handlungswelt. Sie stehen vielmehr quer dazu. Denn in den 'objektivierten Bedingungsgefügen' sind Chancen vorhanden oder sie fehlen, sind Sinnstrukturen realisiert oder unterlassen. Ebenso werden in der 'subjektiven Situationskognition' nicht nur sozialer Sinn hergestellt (über Werte, Normen, Wissen), sondern auch soziale Chancen, und zwar durch Handlungsstrategien und interessegeleitetes Handeln" (Bargel u.a., 1982, S. 235). In Austauschprozessen mit der sozialen Umwelt realisieren sich die Entwicklung von Aspirationsniveaus, von Handlungsstrategien und Zukunftschancen in gleicher Weise. Dies bedeutet, daß die Umwelt — Mensch — Interaktion als sich gegenseitig bedingend (also nicht als Ableitungszusammenhang in einer Richtung) gesehen wird, wobei "Chancen" und "Sinn" nicht nur durch die objektiven Gegebenheiten produziert oder vorenthalten werden, sondern auch durch das chancen—erwirtschaftende und sinn — zuschreibende Handeln der Menschen, die sich auf ihnen gegebene, aber auch zu verändernde Umwelten beziehen. (2) Der naturalistische Ansatz: Ihm entspricht eine Verbindung von wissenschaftlicher Forschung mit von ihr beratener Praxis. Die in natürlichen Umwelten erarbeiteten Forschungsergebnisse haben keinen langen Transferweg, weil ihr 'Material' konkreter Erfahrungsrealität sich verdankt, auf die es mehr oder weniger unmittelbar rückbezogen werden kann. Vor allem Bronfenbrenner weist in seinen Schriften immer wieder darauf hin, daß gerade der sozialökologische Zugang Lösungsmodelle für Sozial — , Familien— und Jugendpolitik anbiete, und wir können hinzufügen: auch für Medienpolitik und die Gestaltung gesellschaftlicher Kommunikationskultur. (In diesem Beitrag wird die 'Konkretheit' sozialökologischer Forschung im 7. und 8. Abschnitt exemplarisch deutlich gemacht.) (3) Kooperation mit Nachbardisziplinen: Der sozialökologische Ansatz bietet eine Querstruktur, weil er objekthafte

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Datenlagen und psychische Prozesse (beispielsweise) miteinander verbindet. Der Radius der Betrachtung wird erweitert, das Forschungsdesign damit notwendig komplexer. Als "grundlegende Annahmen" listen — in diesem Sinne — etwa Ittelson/Proshansky u.a. (1977, S. 26ff.) unter anderem auf: — Die Umwelt wird als ein einheitliches Feld erfahren. — Die Person hat sowohl Eigenschaften, die der Umwelt entstammen, als auch solche individuell —psychologischer Art. — Es gibt keine materielle Umwelt, die nicht in ein soziales System eingebettet ist und in engster Beziehung zu ihm steht. — Die Umwelt wirkt sich häufig unterhalb der Bewufitseinsebenen aus. — Die Umwelt wird als eine Anordnung von Vorstellungsbildern erkannt. — Die Umwelt hat Symbolwert.

Grundlagen theoretischer Annahmen — des Symbolischen Interaktionismus, der Ethnomethodologie und anderer Zugänge mit ihren handlungstheoretischen Prämissen; der System— und Umwelttheorie, der Zeichentheorie und Theorien ästhetischer Wahrnehmung — werden verbunden mit soziologischen, psychologischen, sozialisationstheoretischen und an der Erforschung des Lebenszyklus orientierten Annahmen und zwingen so zum interdisziplinären Dialog. (4) Einbeziehung von Wert— und Normproblemen.: Da die Welt in ihrer Konkretheit betrachtet wird, kann sozialökologische Forschung die in diese Konkretheit eingebundenen normativen Orientierungen ebensowenig vernachlässigen wie — in ihren praxisgerichteten Empfehlungen — auf die Explikation von Wertannahmen verzichten, von denen aus sie ihre Vorschläge entwickelt. (Der 9. Abschnitt handelt davon.) (5) Erweiterung des Forschungskontextes: Der naturalistische Zugang kann sein Programm nicht nach vorgängigen, im System der Wissenschaft erarbeiteten Definitionen zuschneiden, sondern muß sich auf die in der sozialen Welt vorfindlichen Abgrenzungen einlassen. Das interpretative und praktische Operieren in — je nach Fragestellung und Problem — komplexen Kontexten hat primär nicht zum Ziel die 'Reinheit der Aussagesysteme', sondern die verstehende, beobachtende und analytische Nähe zum Objektbereich. (Die kontextuale Viel — Dimensionierung wird im 3. Abschnitt behandelt.) (6) Berücksichtigung verschiedener Umweltaspekte: Neben materiell — räumliche treten soziale und symbolische Bedeutungshorizonte, wie oben schon ausgeführt. Wesenüich ist dabei, daß die unterschiedlichen Aspekte nicht additiv oder nur ableitungslogisch angewendet

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werden, sondern eine Integration erfolgt in Hinsicht auf ganzheitliche und übergreifende Sichtweisen. (Im 3. und 4. Abschnitt werden dazu Ausführungen gemacht.) Ergänzend zu dieser Kriterien — Liste Kaminskis (die freilich von mir interpretiert und ausgeführt wurde) füge ich noch einen weiteren Punkt hinzu: (7) Die Betonung deskriptiv— phänographischer Akzente: Die sozialwissenschaftlichen Klassifizierungen und Typisierungen sind beispielsweise abstraktifizierende Generalisierungen, die die differenzierte Erfahrungswirklichkeit in Lebenswelten nicht hinreichend erfassen (dazu: Baacke, 1983, S. 43ff.; Baacke 1988). Was beispielsweise ist geleistet, wenn man "Unterschichts" —, "Mittelschichts" — Zugehörigkeit oder "bürgerliche Sozialisation" oder die "Selektions —, Integrations— und Qualifikationsfunktion der Schule" mit Indikatoren erfaßt? Die differenzierte Erfahrungswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen kommt damit nicht hinreichend in den Blick, ja sie wird durch allzu grobe Typisierungen und Zuordnungen eher zugedeckt. Unter dem Begriff der "Szene" werden durch Raumelemente und Handlungen durchstrukturierte, aber auch situationsgebundene ökologische Handlungskontexte zu erfassen versucht. In "Szenen" — etwa der institutionell wenig kontrollierbaren Straßensozialisation — zeigt sich die widersprüchliche, differenzierte und facettenreiche Lebenswelt von Jugendlichen. Bisherige Forschung erfaßt Menschen immer nur im defizienten Modus ihrer Realität, während szenenhaltige Erzählungen und Beobachtungen die Menschen in Situationen zeigen, "die ganzheitlichen Charakter haben und über die wir sonst kaum etwas erfahren. Damit wird das Bild sozialer Realität komplettiert." Die Verweise auf die pädagogische Kasuistik sind deutlich: "Fallstudien" oder "freie Beschreibungen", in der Rechtswissenschaft und Medizin geläufig, sind ohne die Einbeziehung räumlicher Strukturen nicht vorstellbar. Auf diese Weise wird Plastizität, Anschaulichkeit, historisch—gesellschaftliche Konkretheit am ehesten erreicht (dazu auch Hopf, 1979, S. 113). Nehmen wir das Beispiel des "Vielsehers". Sicher ist es von Wert, Indikatoren zu finden, die ihn nach dem System einer Rasterfahndung sichtbar machen: Beispielsweise als 'sozial isoliert', oder 'unter aufgezwungenem Handlungsentzug leidend, etwa wegen Arbeitslosigkeit'. Damit wird er zum 'Problem'. Aber ist er dies in jedem Falle; kann "Vielsehen" nicht unter bestimmten Bedingungen ein funktionales Äquivalent darstellen für vorenthaltene reizdifferenzierte Umwelten; unter welchen Bedingungen ist "Vielsehen" ein Zeichen sozialer Deprivation und Benachteiligung, wann vielleicht sogar funktional —stabilisierend, wenn auch auf gewisse Zeit? Eine

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differenzierte Argumentation ist nur möglich, wenn in die "Szenen" von Vielsehern ein genauerer Einblick gewonnen wird, um die Differenziertheit möglicher Verhaltensmodelle zu erfassen. Längst besteht darüber hinaus Einigkeit, daß die globalisierenden Daten von Panel —Untersuchungen zwar wichtige Hinweise geben (es wird also keineswegs empfohlen, auf sie zu verzichten), ihre ermittelten Prozentwerte aber häufig beliebiger Interpretation offenstehen, wenn die Daten nicht lebensweltlich— differenziert riickgebunden werden und damit erst ihre differenzierende Aussagekraft entfalten.

3.

Dimensionen sozialökologischer Untersuchungen

Die im Folgenden skizzierte Ordnung sozialökologisch orientierten Vorgehens in der Kommunikationsforschung ist weder vollständig noch so differenziert, daß alle Verzweigungen erfaßt werden. Die Dimensionierung hat lediglich heuristischen Charakter, um die Erschließungskraft des sozialökologischen Zugangs sowie die Erweiterung der Optik zu verdeutlichen. Die einzelnen Dimensionen sind auch keineswegs trennscharf. Dies liegt in der Sache begründet. Der sozialökologische Ansatz geht ja, gemäß seiner ganzheitlichen Betrachtungsweise, von der Interdependenz aller beteiligten Faktoren aus. So wird bei der Beschreibung einer Dimension das, was sie auch enthält, aber anderswo erörtert wird, abgeschattet, aber auch im Schatten der Betrachtung Liegendes ist jeweils mit enthalten. Insgesamt kann man drei Dimensionen voneinander unterscheiden: (1) Die Materialarchitektur von Umgebungen sowie ihre physikalisch—räumlich in Erscheinung tretenden Arrangements und Substrate, also die tektonische Struktur. (2) Das soziale Feld sozialer Beziehungen, also die interaktive Struktur. (3) Ubergreifende Netzwerke, die steuernd eingreifen, ohne daß sie selbst notwendig im sozialen Feld präsent sind oder in der tektonischen Struktur unmittelbar in Erscheinung treten; es geht also um die Strukturen der Steuerung.

Im Folgenden sollen diese drei Dimensionen ein Stück weit erläutert und aufgeschlüsselt werden: (1) Tektonische Struktur. Hier handelt es sich um den natürlichen oder entschieden häufiger durch Menschen gestalteten Raum. Es liegt auf der Hand, daß sich ein Haufen— oder Straßendorf, eine Hochhauszusammenballung oder eine locker gefügte Vorort—Agglomeration erheblich voneinander unterscheiden. Dies betrifft nicht nur das äußere Aussehen, sondern auch Klima, Funktionen, Bewertungen durch Bewohner oder Besucher. Letztlich handelt es sich um die Basiskategorie

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'Raum' in ihrer jeweiligen konkret—lebensweltlichen Bauform. Dabei ist es möglich, nach Polarität zu klassifizieren wie — — — — — — — —

natürlich versus künstlich öffentlich versus privat offen versus geschlossen eng versus weit auffallend, festlich versus alltäglich dauerhaft versus vergänglich handlungsoffen versus handlungsfestlegend angenehm versus unangenehm

Kategoriale Bestimmungen, soziale Überformungen, Nutzungsweisen und psychische Reaktionen können sich in gleicher Weise auf 'Raum' beziehen. Porteous (1977) entwickelt ein System konzentrischer Raumzonen: Der Mikroraum (personal space) ist die kleinste Raumeinheit, die Zone, die jemand notwendig braucht und die er gegen Zudringlichkeiten verteidigt ("bubble of privacy"). Der Mesoraum ist Individuums— aber auch gruppenbezogen und wird meist kollektiv benutzt. Es handelt sich um festliegende Orte, den Wohn— und engeren Lebensraum ("home base"). Der Makroraum schließlich ist der öffentliche Raum, der abwechselnd und verschieden intensiv genutzt wird. Er besteht aus einem Netz von Zugängen und Knotenpunkten. Während der Mesoraum eher den Wohn—Bereich und den engeren Lebensraum umfaßt, eröffnet der Makro—Raum Bereiche wie Einkauf, Freizeit, usf. Die Beschreibung kann hier abgebrochen werden. Worauf es ankommt ist, deutlich zu machen, daß die Art und Weise der Raum—Tektonik durchaus menschliche Interaktionen beeinflussen kann. Damit wird auf wichtige Faktoren hingewiesen, die beispielsweise im Rahmen der Sozialisationsforschung noch häufig übersehen werden. Ein Beispiel dafür ist die eingeschränkte Behandlung innerfamilialer Prozesse, die häufig als freischwebendes Interaktionssystem interpretiert werden, ohne daß die Bedingungen des räumlichen Gefüges, in dem sie sich vollziehen, berücksichtigt werden. Auch die Schicht — soziologische Forschung ist zu nennen. Der Schichtfaktor erfaßt nur teilweise die Varianz des Erziehungsverhaltens von Eltern beispielsweise. Alle benutzten Schichtmodelle und Schichtindikatoren beschränken sich meist auf die Diskussion sozialer Ungleichheit. Gerade der sozialstrukturale Ansatz fordert aber die Berücksichtigung von Umweltvariablen, die insbesondere dazu geeignet sind, unmittelbare Erfahrungen von Familienmitgliedern, die sie mit und in ihrer Umwelt machen, einzubeziehen (Bertram, 1976, 1982; Vaskovics 1982). Auch Lüscher u.a. (1985) betont die Notwendigkeit der Erweiterung schichtspezifischer Sozialisationsforschung um die Erfassung subjektiver Klimata in der Verknüpfung individueller und struktureller Daten.

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In die Diskussion um tektonische Strukturen gehört der Begriff des Soziotops sowie der des behavioral settings. Bei Ersterem handelt es sich um regionale Größen (Gemeinden, Stadtteile) mit jeweils spezifischer demographischer Zusammensetzung und Infrastruktur (von den Einkaufsmöglichkeiten, Kultureinrichtungen, Verkehrsverbindungen bis zum Angebot von Schulen, Kindergärten etc.). Das Konzept haben Bargel u.a. (1982, S. 208flf.) ausgearbeitet am Beispiel lokaler Umwelten für Familien, die sehr unterschiedlich sein können. Es kann sich handeln um Randgemeinden (traditionelle ländliche Kleingemeinden/ Arbeiterpendlergemeinden/ industrialisierte Landgemeinden/ verstädternde Wohndörfer); Kleinstädte (gewerbliche Kleinstadt und Dienstleistungszentrum) sowie städtische Viertel (Viertel der Industriearbeiterschaft/Wohnviertel 'moderner' Arbeiterschaft/Viertel der 'kleinbürgerlichen' Angestelltenschaft/ Viertel von Besitz und Bildung). Verwandschafts— und Nachbarschaftsbeziehungen, das Verhältnis von Wohnbereich und Arbeitsplatz, die Inanspruchnahme von Bildungs— und Kulturinstitutionen variieren nach der jeweiligen Ausprägung der unterschiedlichen Soziotope. Es liegt auf der Hand, daß auch die Formen, die Reichweite und die Funktion der Medien je nach Soziotop und seinen extern gesetzten oder vorenthaltenen Reizen unterschiedlich sein kann. Barker/Schoggen (1973) haben das Konzept der behavioral settings entwickelt und auch forschungsmethodisch erprobt. Behavioral settings sind in Soziotope eingelagert, können sie freilich auch übergreifen. Settings sind beispielsweise Kindergartengruppen, Schulklassen, kommunale oder staatliche Ämter, aber auch ein Restaurant oder eine Verkaufszone. Sie werden verstanden als räum — zeitlich lokalisierbare tektonische Konstellationen, die bestehen aus (a) einem kollektivstandardisierten Verhaltensmuster ("standing activity pattern"), das an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit auftritt und von den einzelnen ausführenden Individuen prinzipiell ablösbar ist, sowie (b) einem räumlichen und personellen Milieu, daß das kollektive Verhaltensmuster umgibt und ihm "synomorph", d.h. funktional angepaßt ist (vgl. Caesar, 1979, S. 140). "Subsettings" sind l/nfe/gliederungen der behavioral settings (z.B. das Kinderzimmer in einer Wohnung; der Fernsehraum eines Hotels; der Übungsraum für Rockgruppen in einem Jugendheim). Unabhängig davon, wie man die ökologischen Einheiten gliedert: Als Soziotop, behavioral settings, subsetting oder anders — in jedem Fall handelt es sich um gegliederte Verbundsysteme mit gegenseitiger Beeinflussung. Dieses wird ausgedrückt im Begriff des Ökosystems. Diese haben gemeinsam, "daß die Art der wechselseitigen Beziehungen durch Anpassung der Lebewesen an die natürlichen und vorgegebenen Umweltbedingungen oder durch Veränderung dieser Bedingungen bestimmt ist." (Mogel, 1984, S. 32) Der Begriff des Systems beinhaltet zugleich, daß es sich um Wechselwirkungen handelt. Ob ein Jugendlicher allein in seinem Zimmer sitzt und sich Pop — Musik 'reinzieht', ein Kind allein gelassen in der großen Wohnstube oder auf

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dem Schoß der Mutter — dies alles beeinflußt die Rezeptionssituation (beispielsweise) sowie die kognitive und emotionale Befindlichkeit — ebenso wie diese je nach Lage bestimmte settings bevorzugt oder meidet. Während die Familie ein relativ offen strukturiertes behavioral setting darstellt, bestimmt sich die Schule gemäß ihren Aufgaben und Zielen nach Normen und Vorschriften, die bestimmte Verhaltensweisen zulassen und andere ausschließen. Das Kind wird zur 'Schülerin* — damit sind bestimmte Verhaltensweisen aus seinem Repertoire ausgeschlossen (z.B. Spielen, Lärm machen). Das behavioral setting — Konzept Barker/Schoggens ist ein gutes Beispiel für die zunächst primär deskriptive sozialökologische Vorgehensweise. Die beiden Autoren untersuchten die Bedeutung ökologischer Faktoren im Vergleich einer amerikanischen und einer englischen Kleinstadt (Midwest und Yordale). Sie leisteten eine komplexe Darstellung kleinstädtischer Umwelten, und das Datenmaterial wurde über materialistisch beobachtende Verfahren erfaßt (Aktivitäten der Einwohner, Struktur und Funktion sowie Nutzung der behavioral —settings, Führungsrollen, räumliche und soziale Verteilungen). Die erfaßten Dimensionen bleiben dabei unspezifiziert, nach Art eines at —random—Verfahrens. Fietkau/ Görlitz (1981, S. lOOff) schlagen vor, dieses Verfahren zu ergänzen durch ein fixed — modell, in dem bestimmte Variablen in ihrer Beziehung durch Methoden in bekannter Weise von abhängig/unabhängig festgelegt werden. Dies kann geschehen durch traditionelle Testmethoden (Intelligenztests, Rollenübernahme — Aufgabe, Persönlichkeitsskalen, etc.). Diese erfassen zwar nicht das alltägliche Verhalten in konkreten settings, helfen aber durchaus, diese und die in ihnen stattfindenden Interaktions — und Kognitionsprozesse besser zu verstehen und auch zu erklären. Hier wird schon deutlich, daß der sozialökologische Zugang keineswegs in jedem Fall einen einzigen methodischen Zugang als 'Königsweg' favorisiert. Haggard (1973) und Hollos (1975) sowie Hollos/Cowan (1973) zeigen beispielsweise, wie die deskriptiv anschaulich zu machenden Lebensbedingungen norwegischer Farmkinder, die in starker sozialer Isolation aufwachsen, vor allem zu einer Beeinträchtigung ihrer kognitiven Entwicklung führen. Es ist auf diese Weise der Nachweis gelungen, daß soziale Isolation zu starker Einschränkung von geistiger Mobilität und Entwicklung führt. Es können jedoch entsprechende Entwicklungsprogramme eingesetzt werden — etwa die Anreicherung der Umwelt durch Förderungsprogramme im Fernsehen etwa. Wie die Vorgehensweise im Einzelnen auch aussehen mag — der sozialökologische Ansatz insistiert jeweils darauf, daß die tektonische Struktur, die objektiven Merkmale eines Raumes, ebenso wesentlich sind wie das Erleben der Umwelt durch die beteiligten Personen.

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Η. Dreesmann (1986, S. 254ff.) faßt (als sozialökologischer Beitrag zur Pädagogischen Psychologie) die unterschiedlich gehandhabten ökologischen Dimensionen — dazu gehören die physikalischen und architektonischen Merkmale, Charakteristika der sozialen Umwelt, Organisationsstrukturen sowie das soziale Klima oder Verstärkereigenschaften von Umwelten als ökologische und verhaltensrelevante Bedingungen — in sechs Gruppen zusammen, die er in den beispielhaften Merkmalen Familie/Schule/Organisationen/Betriebe/informelle Lernumwelten differenziert (vgl. Tab. 1).

Tab. 1:

Ökologische Dimensionen in pädagogisch—psychologischen Feldern Beispiele für Einzelmerkmalc

ökologische Dimensionen

Organisat ionc n/Betriebe

Familie

Schule

Physikalische. dingliche u n d architektonische Dimensionen

-

Wohnunes- und Zimmererölte - Wohnungseinrichtung - Spielzeug. B ü c h e r . . .

- B c i r i e b s i n t e r n c s bzw. ex- Schulon - A u s s t a t t u n g d e r Klaslernes Bildungszentrum s e n mit L e r n m a t e n a l - A u s s t a t t u n g mit L e r n m a t e rial - S t a r r e vs. flexible - Larmhelastung der Raumgestaltung Scminarraume

Behavior settings

-

- G r o ß e Schule/Kleine Schule • Klassenzimmer - „ R a u c h e r e c k e " tm Hof

-

Bildungszentnim Lehrwerkstatt

-

Oualitatszirkcl

-

-

Kinderzimmer Bastelraum Leseecke

Dimensionen der Organisationssirukiur

-

Psychosoziales Klima

Erlebte - O f f e n h e i t von Gefühlen - Konfliktfiihiekctt - Zusammengehörigkeit

Funktionale Dimensionen

Quelle:

FanulienuroUe Familientyp (GrofWKIeinfamilic» - Dominanzvcrhiiltnis

Schulart Disziplinarische Vorschriften - Klassenverband/ Kurse Erlebte Kooperation zwischen Lehrern und Schülern - Kameradschaft - Eriolnsaussichi

-

- S t r a f - bzw. S a n k - SanktionsmaUnahm e n L o h . Tadel c i c . uonstcchnikin - Prämien tur - Belohnung und Leistungen Unicrsiutzunc - Modell- und Identifi- - Notcnyi'stcm k a t i o n Mnoc 1 ich kc 11 c η

informelle Lcrnumwelten - Natürliches und gebautes Frei Zeit an g e b o t - Spiclplaizgröße und Ausstattung - Einrichtung eines Jugendzentrums -

Jugendzemrum Sportplatz Disco

R e g e l u n g lur F r e i s t e l l u n g - S e l b s t v e r w a l t u n g / L e i t u n g e i n e s Jugendzentrums hei F o r t b i l d u n g - Schriftliche E m p f e h l u n - Bürgerinitiativen gen u n d Regeln f ü r B e - Kosten für Freizeueinrichtungen such v o n F o r t b i l d u n g e n Erlebte Forderung der eigenen Entwicklung - Anerkennung - Aufcabenoricntiertheit

-

-

Konsequenzen fur bestimmte Verhaltensweisen - Beförderungen nach Fort- u n d W e i t e r b i l d u n g - Versetzungen

Erlebte - soziale Aufgeschlossenheit - Gemeinschaft - M ö g l i c h k e i t z u r Selbstv e r w i r k lieh υ n e

-

B e w e r t u n g v o n A r b e i t 'Freizeit durch Eltern/Bekannte.'Freunde - U n t e r s t ü t z u n g von Freizeitaktiviüilcn -

Ideniifikationsmoglichkciten

Dreesmann 1986, S. 458f.

Es fallt auf, daß in der Übersichtsmatrix von Dreesmann Medien keine Rolle spielen. Dies hat zum einen seinen Grund darin, daß die Kommunikationsforschung wenig Material beizutragen hat; zum anderen aber bieten die Medien für sozialökologisches Denken auch insofern besondere Schwierigkeiten, weil sie zwar als Geräte, Apparaturen, Einrichtungsgegenstände und technische Ausstattungen lokal verortbar sind, als Träger symbolischer Botschaften hingegen die Raumbindung gerade transzendieren aufgrund der (fast) alle settings umgreifen-

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den Dispersion ihrer Programme und deren Allgegenwärtigkeit. Es läßt sich schnell zeigen, daß sie in allen von Dreesmann aufgeführten Einzelmerkmalen vorhanden sind/ sein können und eine Rolle spielen. Das gleiche gilt für die ökologischen Dimensionen: Auch in ihnen sind sie durchweg enthalten. Freilich werden die lebensweltlichen Wälle durch sie eingeebnet. Das Telefon überwindet die Raumgebundenheit durch die Möglichkeit, zwischen den unterschiedlichsten settings und kulturellen Kontexten Gleichzeitigkeit der Kommunikation unter dem Prinzip des aktuellen Austausche herzustellen. Es trägt in die ökologische Isolation nordnorwegischer Farmerdörfer Botschaften aus anderen Welten, die lebensweltlich integriert, aber auch unverstanden bleiben können. Trotz ihrer Raumbindungen transzendierenden Eigenschaft unterliegen auch ihre Botschaften der sozialökologischen Prämisse, daß die jeweilige Ausstattung eines behavioral settings mit Geräten, das in ihm vorherrschende Klima, die Verhaltensvorschriften und vorgesehenen Funktionen weitgehend bestimmen, welche Botschafen wie angenommen werden (oder nicht!). Von hier aus erfahren die Fragen nach Geräteausstattung verschiedener settings und Nutzung wie Reichweite einen neuen Sinn, freilich: Die Frage wird nun nicht global gestellt, sondern in Hinsicht auf die raumtektonischen Vorgegebenheiten mit dem nun nicht mehr abzuschattenden 'Einbau' sozialer Regeln und gesellschaftlicher Funktionen. (2) Interaktive Struktur. Eingewöhnt hat sich der Begriff 'soziales Feld* als Umraum — Element 'sozialer Beziehungen'. Der Begriff des sozialen Feldes erlaubt, Ansätze zur Erklärung von sozialem Handeln unter strukturellen Gesichtspunkten systematisch zu erfassen. Es ist bestimmt als Konfiguration von Interdependenzen folgender Faktoren: "1. individuelle Faktoren, d.h. Persönlichkeitsfaktoren und Prinzipien der Persönlichkeitsstruktur; 2. Faktoren der primären Beziehungen oder auch der informellen Gruppen; 3. Faktoren der formalen Organisation und Faktoren der Sekundärbeziehungen." (Wössner, 1969, S. 24) Die Mittelpunktstellung der Faktoren primärer Beziehungen und informeller Gruppen zeigt, daß die anderen beiden Faktoren auf sie hin beobachtet werden. Eine auf soziale Felder bezogene Kontextanalyse kann darum verstanden werden "als Instrument zur Analyse der Wechselwirkungen zwischen den so konzipierten Ebenen der sozialen Realität". (Kappelhoff, 1979, S. 146) Hier wie auch sonst in sozialökologischer Forschung stellt sich dann das Abgrenzungsproblem. So war schon zu fragen, nach welchen Kriterien Soziotope oder behavioral settings oder ihre subsettings eingegrenzt werden können bzw. müssen. Es wäre schon vernünftig, wenn es gelänge, die "bislang verstreuten sozialökologischen Analysen in Zukunft immer wieder auf dieselben räumlich—geographisch ausgegrenzten Interaktionsgefüge" konzentrieren zu können, "gleichgültig, ob sie nun quantitativ oder qualitativ, differenziell oder allgemein, oder wie auch immer ansetzen" (Walter, 1979, S. 13). Hummel, wenig qualitativ gesonnen, hat in seinem Interesse an der theo-

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retischen Analyse von Bedingungen, unter denen ein Kontextmerkmal allen Mitgliedern des Kontextes in gleicher Weise zugeschrieben werden kann, eine "Zerlegung von Kontexten als Beeinflussungsstruktur nach dem Prinzip maximaler Vollständigkeit (oder Verbundenheit) und Homogenität" vorgeschlagen (1972, S. 147; dazu: Kappelhoff, 1979, S. 147). Praktisch zeigt sich schnell, wie schwer es ist, solche Forderungen zu erfüllen, zumal das Forschungsinteresse gerade den Differenzen gilt, die durch verschiedene Umwelten erzeugt werden. So haben Barker/Schoggen im Vergleich von Midwest und Yordale ja gerade die Unterschiede zwischen einer englischen und einer amerikanischen Stadt in Hinsicht auf die Ausprägungen des sozialen Zusammenhalts und des community life —styles herausgearbeitet. Oder: Das Interesse gilt der Frage, unter welchen Bedingungen in Familien das Fernsehen als ergänzender Anregungsfaktor, wann als Interaktions — Substitut fungiert. Dieses Interesse an Unterschieden blendet das, was in den sozialökologischen settings gleich ist, ab — obwohl das Quantum gleicher Interaktionsformen in Familien nicht unerheblich sein dürfte. Abgesehen von diesem Interesse nach Differenzen ist es auch schwierig, Kriterien für Kontext—Vollständigkeit und Kontext—Homogenität auszumachen. Ein idealer Fall für dieses Interesse sind 'geschlossene Gesellschaften' mit über lange Zeit unveränderten Traditionen, gleichen Status— und Rollenzuweisungen unter festliegenden Prinzipien. In modernen Gesellschaften ist dies kaum der Fall, so daß es sich empfiehlt, auch Kontexte zuzulassen, die nicht vollständig und homogen sind, oder doch die Forderung nach Homogenität einzuschränken. Ein Beispiel ist die Untersuchung der Frage, "inwieweit Freundschaftsnetzwerke von Schülern homogen sind in bezug auf interessierende Merkmale wie sozialökonomischer Status der Eltern, Freizeitaktivitäten, Status im informellen Schulsystem der Schulen usf." (Kappelhoff ebd., S. 155f.); nicht oder nur teilweise erfaßt sind damit die bei Wössner sogen'annten individuellen Faktoren sowie Faktoren der formalen Organisation und der Sekundärbeziehungen. Die primären Umwelten von Freundschaftsgruppen sind also trotz großen operativen Aufwands (bei Kappelhoff nachzulesen) nur teilweise und sozialökologisch reduziert erfaßt. Dies gilt auch für die sozialen Beziehungen. Dies kann insbesondere an Ansätzen der Medienforschung verdeutlicht werden, die durchaus und zum ersten Mal sozialökologische Aspekte einbeziehen. Hinzuweisen wäre auf Beiträge in der Zeitschrift "Rundfunk und Fernsehen": Hunziker u.a., Fernsehen im Alltag der Kinder (1973); Fernsehen im Alltag der Familie (1975); Kohli, Fernsehen und Alltagswelt (1977). Insbesondere Teichert hat in seinem zweiteiligen Beitrag "Fernsehen als soziales Handeln" (1972, 1973), anknüpfend vor allem Chaney (1972), Kritik an der bisherigen Wirkungsforschung geübt, weil sie den Menschen nie als aktiv handelndes, sinnzuschreibendes und sinnerwerbendes Wesen verstanden habe. Er versucht, indem er das interaktionistische Rollenkonzept mit dem Modell der para—sozialen Beziehung zwischen Publikum und

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Medium verbindet, die spezifische Handlungsrolle des Zuschauers unter vier Aspekten und damit komplexer zu erfassen. Zu beachten sind — die passive Perspektive (der Zuschauer in prästrukturierten Situationen, die er nicht beeinflussen kann) — die aktive Perspektive (der Zuschauer als aktiv wählend, interpretierend und definierend in der para—sozialen Beziehung zum Medium — Aspekte des Nutzenansatzes) — die reflexive Perspektive (Rückbezug der para—sozialen Interaktionserfahrungen auf eigene Entwürfe) — die situationsspezifische Perspektive (Definition der jeweils konkreten Empfangssituation)

Teichert greift das Menschenbild des interpretativen Paradigmas auf — der Mensch als aktiv realitätsverarbeitendes Wesen —, und es gelingt ihm, bisher in der Forschung behandelte Partizipationsmodelle kritisch zu betrachten. Dies wird deutlich an seiner Auseinandersetzung mit der Untersuchung Rudingers/Krauchs (1971), in der diese das telefonische Feedback — System (aktive Einschaltung des Publikums in das Programmgeschehen) der Modellsendung ORAKEL (Organisierte Repräsentative Artikulation Kritischer Entwicklungslücken) analysieren. Als Partizipations — Instrumente waren entwickelt ein "symbolisches Panel", das zur selektiven "Repräsentation der Bürger" dient — diese Teilnehmer konnten direkt in das Sendungskonzept eingreifen und waren im Studio anwesend — und das "Phone —In", das dem breiten Publikum eine direkte telefonische Meinungsäußerung erlaubte. In der Auseinandersetzung mit diesem Modell, das von den Autoren als "Instrument einer transparenten partizipatorischen Planung" beurteilt wird, kommt Teichert zu dem bemerkenswerten Schluß: In diesem Modell sei die 'aktive Rolle des Zuschauers' ein Zugeständnis der Kommunikatoren. Sie kann "als variable Komponente eines Rückkopplungssystems, als ein Beispiel der 'technischorganisatorischen Selbstbefriedigung' der Medienverwalter angesehen werden. Im Zusammenhang unserer Frage nach einer theoretischen Begründung der aktiven Zuschauerrolle ist das entscheidende Problem von den Autoren dieses Partizipationsmodells umgangen worden: Worauf gründet sich grundsätzlich ihre Annahme eines aktiven Publikums, ihre Hypothese vom 'Verlangen des Publikums nach Partizipation'? Ist das Bild vom 'aktiven Zuschauer' eine aus dem Demokratieprinzip abgeleitete Maxime der Rundfunkjournalisten oder spiegelt es eine Gesetzmäßigkeit des sozialen Handelns von Menschen wider? Im ORAKEL — Modell wird das aktive Zuschauerverhalten als ein limitiertes Eingreifen in einen Sendungszusammenhang beschrieben, das seine Grenzen dann erfährt, wenn es die Struktur des Mediums berührt. Das Zuschauerhandeln bleibt auf dem Reflexniveau, ist kanalisierte Reaktion, von den Medienverwaltera kontrolliert und erduldet. Der Zusammenhang zwischen der Situation der handelnden Zuschauer und dem Handeln der Zuschauer in dieser von Kommunikatoren und Systemforschern bereitgestellten Situation wird als ein durch die Faktoren des Rückkopplungssystems fixiertes Verhalten interpretiert." (Teichert, ebd., S. 3580

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An diesem Beispiel wird die erschließende Kraft des sozialökologischen Ansatzes in Hinsicht auf soziale Beziehungen deutlich und zugleich sein kritisches Potential. Indem er darauf besteht, weder die organisierte Umwelt noch den in ihr handelnden Menschen als abhängige oder als unabhängige Variable zu betrachten, entgeht er — im Verbund mit der handlungstheoretischen Prämisse des symbolischen Interaktionismus — einer verkürzten Interpretation von 'Partizipation', die auch im ORAKEL — Modell eben darauf hinausläuft, innerhalb der technischen Rationalität, die als vorgegeben weiterer Diskussion nicht unterzogen wird, nach Lösungen zu suchen. Diese folgen ausschließlich dem technologischen Kalkül — die Umwelt (hier: die organisatorischen und technischen Möglichkeiten des öffentlich — rechtlichen Rundfunks) bestimmt, was möglich ist oder nicht. Erst das sozialökologische Denken macht das scheinbar 'Gegebene', die tektonische und normative Konstruktion der Umwelt, selbst zum Thema der Untersuchung und damit der Befragung. Umgekehrt wird der Mensch nun nicht mehr als jemand gesehen, der gleichsam im Käfig einer gegebenen Umweltkonstruktion seine dadurch eingeschränkten Bewegungsübungen macht, sondern als jemand, der selbst initiativ und umweltverändernd handeln kann und der damit den Anspruch erhebt, seine sozialen Beziehungen — welcher Art auch immer — nicht ausschließlich nach vorgegebenen Mustern ablaufen zu lassen, sondern auch die Handhabung alternativer Konstruktionen dafür zuzulassen. Diese Überlegungen sind auch anzuwenden auf eine Beurteilung des "Uses — and —Gratifications—Approach", in der bundesrepublikanischen Diskussion als 'Nutzenansatz' gehandelt. Auf den ersten Blick werden handlungstheoretische Prämissen, unter denen auch der sozialökologische Ansatz arbeitet, aufgenommen: Das Publikum wird als ein aktives Element im Massenkommunikationsprozeß begriffen und Mediennutzung als selbstbewußtes und zielorientiertes Handeln von Medienbenutzern betrachtet. Mediennutzung erfolgt nicht entlang den Intentionen der Kommunikatoren, sondern ist motiviert durch davon auch nicht betroffene Absichten und Ziele, (vgl. Teichert, 1975, S. 271) Damit wird zunächst erreicht die in der Medienforschung so gern zitierte Umkehrung der Frage "what Tv does to people" in "what people do with Tv". Aber es wäre falsch, damit die Befreiung des Individuums aus dem Reiz—Reaktions — Interpretations — Schema zu feiern, weil es als aktiver Initiator von Nutzenprozessen angesehen werde und die Rede vom 'passiven Rezipienten' damit eo ipso obsolet geworden sei. So richtig die letzte Feststellung ist, so problematisch ist doch ihre Überdehnung — etwa in der Behauptung, der handlungsfähige 'mündige' Zuschauer könne also immer von sich aus den 'Nutzen' entsprechend den Bedürfnissen bestimmen, die er gerade hat, und er fände auch jeweils die geeigneten Medien — Angebote vor, um befriedigt zu werden. Abgesehen von einer anderen Zahl von Fragen — welche Art von Bedürfnissen werden eigentlich wodurch befriedigt, was leisten hier die Medien, was Interaktionen in Primär-

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gruppen, usf. (dazu: die Beiträge in Rundfunk und Fernsehen, 1, 1984) —: Die Behauptung der Souveränität des Publikums stößt da an Grenzen, wenn sie im Rahmen der vorgeordneten technischen Rationalität befangen bleibt (wie das sehr gut gemeinte ORAKEL—Experiment gezeigt hat). Denn zwar ist die soziale Umwelt, die der Mensch als Konstrukteur seiner Wirklichkeit geschaffen hat, flexibel und veränderbar, aber sie ist zugleich institutionalisiert und von großer Beharrungskraft. Indem 'soziale Beziehungen' verabsolutiert werden, wird die bereits angesprochene Interdependenz von Handeln und Umwelt analytisch übersehen — mit durchaus medienpraktischen Folgen. Von solchen Überlegungen abgesehen, bleibt festzuhalten, daß soziale Beziehungen der Ausgangspunkt vieler Untersuchungen — insbesondere im Rahmen der alten Fragen nach Reichweite, Nutzung und Nutzen sowie Wirkung von Medien — darstellen. Es sind die einzelnen Individuen und ihre Interaktionsformen in Primärgruppen, die keineswegs ausschließlich, aber doch zu bedeutendem Teil die Formen des Medienumgangs bestimmen, wie etwa die Untersuchungen zur Familieninteraktion unter Einbeziehung von Mediennutzung gezeigt haben. Aber es genügt eben nicht, das Netzwerk personaler Beziehungen zu betrachten, wenn darüber der Raum übersehen wird, in den hinein das Netzwerk gespannt ist. (3) Strukturen der Steuerung: Schon bis hier war deutlich geworden, daß zur Deskription auch im sozialökologischen Ansatz methodisch organisierte Daten — Analyse (je nach Forschungsaufgabe) hinzukommen kann und muß. Dies gilt insbesondere auch für den Gesichtspunkt der übergreifenden Netzwerke. Ein Mangel sozialökologischer Forschung, die sich ausschließlich deskriptiv der Erfassung, Abgrenzung und Beschreibung von Räumen zuwendet, ist der, daß die räumlichen Beziehungen in ihrer Konkretheit zwar erfaßt werden, aber nicht mit ihren strukturellen Implikationen und in ihrer Einlagerung in das System der Gesamtgesellschaft gedeutet werden. Hier hat Bronfenbrenner (1981, S. 32ff.; S. 199ff.) wesentliche Hinweise gegeben. Er unterscheidet vier Struktur —Ebenen: 1. Mikro—System: Dies sind die unmittelbar erlebten Umwelten mit direkten zwischenmenschlichen Interaktionen. Das häusliche Milieu, die Schule, die hier und anderswo erfolgende Mediennutzung wären Beispiele. 2. Meso—System: Diese Ebene "umfaßt die Wechselbeziehungen zwischen den Lebensbereichen, an denen die sich entwickelnde Person aktiv beteiligt ist". Für einen Jugendlichen sind das beispielsweise die Beziehungen zwischen Familie, Schule und Freunden oder zwischen Familie, Arbeitswelt, Bekanntenkreis

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und Freizeitangeboten. Auf der Ebene der Meso —Systeme wird auch die unterschiedliche Funktionalität von Mediennutzung deutlich: In der Schule erfolgt sie mehrheitlich, wenn nicht ausschließlich unter Aspekten organisierten Lernens, im Freizeitbereich als Ablenkung und Unterhaltung, in der Familie als Organisator emotionaler Beziehungen (Zusammenhalt oder Flucht von Zuhause). 3. Exo—System: Hier sind die Personen, etwa Kinder und Jugendliche, nicht mehr enthalten. Gedacht ist an gesellschaftliche Institutionen wie Massenmedien, Behörden, Verkehrssysteme, Politik, etc. Dennoch hat ein Exo—System Einfluß auf die Umwelt—Verarbeitung, etwa im Mikro —System Familie. Gewährtes Kindergeld kann die Familieninteraktion positiv beeinflussen, ebenso wie die Tatsache, daß das Exo —System Wirtschaft vielen Menschen keinen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen kann, deren Alltag im Mikro —System und die erlebten und interpretierten Beziehungen im Meso —System stark tangieren kann. Die Massenmedien und die neuen Informations— und Kommunikationstechniken weden vom Exo —System produziert und distribuiert, reichen aber in die unterschiedlichen Bezirke des Meso— wie Mikro — Systems hinein. Diesen Tatbestand fassen wir unter "Vergesellschaftung": Auch die privateste Interaktion ist in ihren Strukturen und Formen beeinflußt durch Institutionen und Maßnahmen, die außerhalb von ihr selbst getroffen werden, aber in sie hineinwirken. 4. Makro—System: Damit sind gemeint kulturelle oder subkulturelle Normen, Weltanschauungen und Ideologien, die in einem bestimmten politischen System einer Gesellschaft zur Geltung kommen. Problematisch für ein Handlungskonzept bleibt die relative Allgemeinheit der von Bronfenbrenner eingeführten Systeme. Ihr Konkretheits — und Operationalisierungsgrad läßt zu wünschen übrig. Dennoch: Bronfenbrenner ist es gelungen, den Zusammenhang gesellschaftsstruktureller Größen system — ökologisch zu reformulieren und damit - seinem sozialpolitischem Handlungsinteresse folgend — die Verbindung von eher soziologisch erfaßten Einflußgrößen (Institutionen wie Schule, Massenmedien, etc.), sozial bezogenen Interaktionen und psychischen Repräsentanzen zu verbinden. Es macht darauf aufmerksam, daß die tektonisch strukturierte Umwelt wie alle sozialen Beziehungen in sozialen Feldern von Regulierungen und Normen 'durchtränkt' sind, die keineswegs nur in ihnen entstehen. Dies gilt insbesondere auch für die neuen technologischen Kalküle der Informations— und Kommunikationstechniken, die zwar Partizipation anbieten, aber jedenfalls nicht partizipatorisch erarbeitet sind.

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Abschließend in diesem Abschnitt sei noch einmal darauf hingewiesen, daß sich die hier skizzierten sozialökologischen Dimensionen jeweils ineinander enthalten. Und: Es ist nicht vorauszubestimmen, ob die Unterschiede von Soziotopen Verursacher verschiedenen Handelns sind oder das handelnde Individuum Verursacher seines eigenen Handelns ist. Diese Tatsache wird ausgedrückt im Begriff des Ökosystems. Diese haben gemeinsam, daß die Art "der wechselseitigen Beziehungen durch Anpassung der Lebenwesen an die natürlichen und vorgegebenen Umweltbedingungen oder durch Veränderungen dieser Bedingungen bestimmt ist". (Möge, 1984, S. 32) In Ökosystemen beeinflussen Menschen ihre Umwelt, werden aber auch von ihr beeinflußt. Dies gilt nicht nur im Sinn eines "Entweder —Oder", sondern auch eines "Sowohl —Als auch". So beeinflußt die materiale Umwelt ohne Zweifel Art und Intensität von Nachbarschaftsbeziehungen; es ist ein Unterschied, ob Familien in einer langgestreckten Straße ohne markante Punkte wohnen oder in einem Häuserblock mit different gestalteten baulichen Elementen. Hinzu kommen aber als ebenso wesentlich die Größe der Familie oder die Wohndauer in einem Soziotop (Mayo, 1979). Oder: Während Jugendliche, halten sie sich in Spielhallen oder Kaufhäusern auf, Videospiele eher mit den Peers spielen, sind zu Hause eher Familienangehörige oder Eltern Partner (Youth and Society 83, S. 56). Solche Hinweise sind wichtig, wenn man Daten interpretieren will, die lediglich die Häufigkeit, vielleicht auch noch die Art der Videospiele erfassen, ohne die räumlichen Kontexte zu berücksichtigen. Fehlschlüssig wäre es jedoch, wollte man nur den räumlichen Kontext für bestimmte psychische Verarbeitungsformen verantwortlich machen; hier wiederum sind auch die Sozialisationserfahrungen der Individuen zu beachten sowie die sozialen Gesellungsformen, die für sie erprobt und zugänglich sind. Neuerdings wird statt des System—Begriffs häufiger der des Netzwerks herangezogen. Dieser betont stärker die soziale Vernetzung von Handlungen und Maßnahmen. Der Begriff ist nicht nur deskriptiv, sondern auch proskriptiv in sozialpolitischem Sinn. Für Kinder etwa, deren Eltern beide berufstätig sind, sollten Kindergärten eingerichtet werden, um ihrer Isolation zuvorzukommen und einem übermäßigen Mediengebrauch infolge von Vereinsamung und fehlender Beaufsichtigung. Die in ihnen arbeitenden Erzieher sollten wiederum Kontakt zu den Eltern aufnehmen, um sich über die kindlichen Erfahrungen in den Elternhäusern zu informieren, die Eltern aber auch über die pädagogischen Programme der Kindergärten zu unterrichten und auf diese Weise Zusammenarbeit zu ermöglichen. Je ausgebauter soziale Netzwerke sind (als Insgesamt an Beziehungen zwischen einzelnen, Familienmitgliedern, Freunden, Arbeitskollegen, Nachbarn, etc.), desto widerstandsfähiger sind offensichtlich insbesondere Heranwachsende gegenüber sozialen Belastungen (Sommer/Rellermeyer, 1983). Die Entwicklung sozialer Netzwerke stellt also eine Form sozialer Unterstützung dar (Keupp, 1982). Auf diese Weise können Problembelastungen erleichtert

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werden. Am Beispiel des Netzwerk—Gedankens zeigt sich noch einmal deutlich der Zusammenhang von sozialökologischer Grundlagen—Orientierung und praktischen Resultaten (in der Entwicklung von Interventionsstrategien, präventiven Maßnahmen etc.)· Kein Zweifel, daß medienpädagogische Fragestellungen sich in diesem Zusammenhang ein Stück weit vorantreiben lassen können. Medienpädagogik ist insofern präventiv, als sie Medien — Umgebungen so gestaltet, daß sie als lebensweltlich—authentisch erfahren und autonom benutzt werden können; sie ist dann intervenierend, wenn der Medienkonsum zu Problemen führt (sozialer Rückzug etwa) und nach Maßnahmen gesucht werden muß, gegenzusteuern. An welchen Stellen das eine oder andere zu geschehen hat, das kann nur durch sozialökologische Detail—Analyse präzise erfasst werden.

4.

Alltagshandeln, Wahrnehmung, Entwicklung

Diese aufgeführten Stichworte ergänzen die dargestellten Dimensionen sozialökologischer Forschung um bestimmte Perspektiven, die für kommunikationswissenschaftliche Erkenntnis erschließenden Charakter haben könnten. Es handelt sich um Beispiele für den forschungslogischen Spielraum, den der sozialökologische Spielraum erschließt.

Alltagshandeln Abgesehen von ihren theoretisch anspruchsvollen Verankerungen werden die Begriffe "Lebenswelt" oder häufig noch lieber: "Alltag" dann benutzt, wenn es darum geht, die Anbindung von Erkenntnis an das tatsächlich gelebte Leben in seinem natürlichen Umfeld zu akzentuieren. Je näher das alltägliche Handeln von Menschen erreicht wird, desto wahrscheinlicher ist es, daß die im Forschungskontext erhobenen Beobachtungen auch außerhalb dieses Kontextes gelten und insofern einen größeren Generalisierungsgrad besitzen als Aussagen, die letztlich nur im Rahmen eines wissenschaftlichen Prämissen— und Folgerungensystems fortschreibungsfahig sind. Der sozialökologische Zugang, wie er hier verstanden wird, tendiert stark zur Alltagsorientierung, und es könnte sein, daß er hier seine größten Chancen hat. Beispiele: (1) Bachmair (1984; 1985) hat Medienverhalten von Kindern und mögliche "Wirkungen" von Medien—Aussagen auf Kinder unter der Prämisse untersucht, daß "Kinder Fernseherlebnisse in ihren Alltag hineintragen, daß Kinder aus dem Fernsehen das herausbrechen, was sie zur symbolischen Bearbeitung ihrer

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handlungsleitenden Themen brauchen." (S. 6) Bachmair hat ein medienpädagogisches Unterrichtsprojekt in einer Grundschule durchgeführt, das den Namen "Weltraumreise" trägt. Kinder in ländlichem Raum konnten unter Bezug auf die Fernsehserie "Captain Future" das thematisieren und spielen, was für sie wichtig war. Spielgruppen, Rollenspiele, Fotos, Posterstand — eine Vielfalt unterrichtlicher Tätigkeiten wurden von Bachmair auf Tonband festgehalten. So entdeckt er Medienspuren im kindlichen Alltagshandeln, das sich seinerseits an handlungsleitenden Themen orientiert. Einzelne Kinder, Familien, Schulklassen, Gleichaltrigengruppen — alle haben ihre spezifischen "Themen" (etwa Rivalitäten, Starksein, erotische Annäherung). All dies wird auch mit Hilfe der Fernsehfiguren bearbeitet, die Handlungsmuster anbieten. Dies meint Bachmair mit der Wendung "symbolische Verarbeitung von Fernseherlebnissen in assoziativen Freiräumen (Spiel)". Das Angebot an Figuren und Figurenkonstellationen, das das Fernsehen bietet, wird von den Kindern verarbeitet und hilft ihnen, ihre Realität zu deuten und zu bestehen. Forschungen dieser Art — es gibt sie zu wenig — zeigen deutlicher als die traditionellen Wirkungsuntersuchungen, wie die meist isoliert betrachtete Rezeptions — Situation selbst ein Stück Alltag darstellt und darum nur als Bestandteil umgreifender Hoffnungen, Ängste und Handlungsperspektiven in seiner Bedeutung für den Rezipienten interpretierbar ist. (2) Kohli hat sich in seinem Beitrag "Fernsehen und Alltagswelt" (1977) kritisch mit der Einstellungsforschung auseinandergesetzt. Deren unbefriedigende Ergebnisse (zu unterschiedlichen Zeiten und je nach Fragebogen werden ganz unterschiedliche Einstellungen zu ein und demselben Thema geäußert) haben ihren Grund auch darin, daß Einstellungen als situationsübergreifende Verhaltensdispositionen gelten, die kontextunabhängig zu erheben und zu deuten sind. Zwar hat man, diesen Mangel durchschauend, situationale Bedingungen des Verhaltens einbezogen; aber sie werden als intervenierende Störvariablen aufgefaßt, deren Kontrolle erlauben soll, den Zusammenhang zwischen Verhalten und Einstellungen möglichst trennscharf herauszuarbeiten. Als Ergebnis methodischer Bemühungen bleibt dann doch wieder nur ein Destillat. Kohli schägt statt dessen vor, die Situation nicht als Variable aufzufassen, sondern alltagstheoretisch von Ganzheitlichkeit von Handlungen und Erfahrungen des Rezipienten auszugehen, seinen Alltags—Erwartungen und Alltags—Routinen. Kohli entwickelt dazu ein "Vermittlungsmodell", in dem nicht "nach den gegebenen Wissensstrukturen als solchen entsprechend den 'Prädispositionen' in der Einstellungsforschung gefragt wird, sondern danach, ob und wie vom Fernsehen angebotene Elemente damit in Verbindung gebracht werden. Wie weit diese Elemente auch inhaltlich neu sind, d.h. von den bisherigen Deutungen abweichen, läßt sich damit nicht ebenso exakt ermitteln wie in einem Vorher — Nachher — Design, sondern muß aufgrund von Indizien erschlossen werden. Zu diesen kann etwa der direkte Wortlaut einer Äußerung wie 'Der Film hat mich da auf etwas gebracht, woran ich

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bisher noch nie gedacht habe...' zählen, aber auch die Tatsache, daß bestimmte Deutungsmuster zweifelsfrei routinisiert sind, und andere im Gespräch im Bezug auf den Film erst wieder aufgebaut werden müssen" (ebd, S. 81). Damit wird nicht mehr von einer übersituativen Konsistenz von Verhalten ausgegangen — diese wird vielmehr zur Frage. Kohl findet die Vermutung bestätigt, "daß für verschiedene Handlungskontexte unterschiedliche Selbstverständlichkeiten und Standards gelten, die vom Handelnden routinemäßig auseinandergehalten werden, ohne daß sie in seinem Denken als Widersprüche repräsentiert sind." Indem beim Fernsehen ein Vermittlungsprozeß zum Alltag abläuft, können unterschiedliche Dispositionen und Deutungsmuster in ihrer Kontextabhängigkeit differenzierter erfaßt werden. Kohli macht das deutlich an "Arbeiterfilmen", die den Zuschauern (Betriebsräten, Arbeitern) zeigen sollen, welche Handlungsalternativen sie in ihren eigenen alltäglichen Interaktionssituationen finden könnten. Das Ergebnis der offenen Befragung, der die Arbeiter/Zuschauer im Anschluß an den Film unterzogen wurden, führte zu einem bemerkenswerten Ergebnis: Es ergab sich "bei einem Teil der Befragten ein klarer Bruch zwischen allgemeiner Zustimmung zum Film und Ablehnung, daraus für sich selber Konsequenzen zu ziehen. Der Film wurde überwiegend als gut und wirklichkeitsgetreu eingestuft, und es wurde als nützlich bezeichnet, daß solche Filme gesendet werden. Sich selber nahmen die Befragten aber davon aus, für ihr eigenes Handeln bezeichneten sie den Film als irrelevant. Das wurde von ihnen nicht etwa als Widerspruch aufgefaßt, sondern war Ausdruck einer Kompartimentalisierung: der Film galt für eine andere Wirklichkeit, nicht die des Alltags im eigenen Betrieb — z.B. nur für norddeutsche Verhältnisse, für Männerbetriebe (so eine Frau), für die Zeit der Hochkonjunktur. Das wäre bei der Ermittlung von Einstellungen nicht sichtbar geworden, auch nicht beim Versuch einer Trennung in "allgemeine" und "persönliche" Einstellungen. Denn es war nicht etwa so, daß die Befragten persönlich z.B. gegen Teilnahme an solidarischen Aktionen eingestellt waren. Solidarität wurde von ihnen als richtig anerkannt, auch für sich selber. Nur waren in ihrer Sicht eben die Bedingungen für solidarisches Handeln für sie hier und jetzt nicht gegeben" (ebd., S.82). Kohli spricht von "hoher Vermittlung" immer dann, wenn das im Medium Gezeigte mit eigenen Handlungsvoraussetzungen (mehr oder weniger) zur Deckung zu bringen ist, während "niedrige Vermittlung" dann vorliegt, wenn dies nicht der Fall ist. So ist es schon ein Unterschied, ob ein zu solidarischem Handeln aufrufender Film im Betrieb gezeigt und anschließend eben dort diskutiert wird, oder ob er in der Familie gesehen wird, über das allgemeine Fernsehprogramm. Im ersten Fall liegen eher räumliche Bedingungen "höherer Vermittlung" vor als in der Familien — Situation, die gegenüber der gezeigten Arbeitsplatzproblematik als nicht —betroffen, neutral oder sogar als Zufluchtsort erfahren wird.

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Wahrnehmung Einen ähnlichen, aber anders akzentuzierten Zugang zur Vermittlungsproblematik liefert die Analyse von Wahrnehmungsprozessen. Dies soll hier nur durch einen beispielhaften Hinweis geschehen: In der Fachliteratur wird unterschieden zwischen potentieller sowie rezipierter Umwelt (Kaminski, 1976, S. 126ff). Unter potentieller Umwelt versteht man die Umwelt, in der sich Personen befinden, ganz unabhängig davon, ob und wie sie sie wahrnehmen und erleben. Die rezipierte Umwelt hingegen ist die, die Personen tatsächlich wahrnehmen und auch interpretieren. Die potentielle Umwelt kann also nicht von den Personen, die in ihr leben, erfragt werden, da sie sie möglicherweise gar nicht wahrnehmen. Hier zeigt sich, wie wichtig die umfassende Deskription von Umwelten ist. Interessant ist natürlich, welche dieser Umwelt—Anteile in das Wahrnehmungsrepertoire der in ihr lebenden Personen eingehen. Die rezipierte Umwelt kann also auf subjektorientiertem Weg erfaßt werden, über die Personen selbst. Zur potentiellen Umwelt gehören Teile ihrer tektonischen Struktur ebenso wie ohnehin nur vermittelt wahrnehmbare übergreifende Netzwerke auf der Strukturebene der Steuerung. Am ehesten wird das soziale Feld selbst in seinen sozialen Beziehungen erfaßt, freilich auch dort nicht vollständig. Was für die Umwelt gilt, gilt auch für Medien —Botschaften, da sie Bestandteil der Umwelt sind. Sie sind es wieder in doppelter Form: Als Apparaturen und Geräte sowie als Programmangebot und symbolische Aussage. Es ist inzwischen Trivial wissen, daß der Rezipient die Aussagen beispielsweise eines Films keineswegs gemäß den Intentionen des Kommunikators oder auch nur gemäß ihrer formalästhetischen Struktur erfaßt. Auch hier gibt es potentielle und tatsächlich rezipierte Aussagen/Gehalte. Was in statu potentiali bleibt und in den tatsächlichen Wahrnehmungshorizont des Rezipienten eindringt, das wird ohne Zweifel durch die ästhetische Form einer Aussage bestimmt, aber ebenso sicher auch durch den lebensweltlichen Kontext, in dem die Aussage tatsächlich zum "stimulus" wird oder aber wirkungslos "verdampft". Wahrnehmungsprozesse sind kontextgebunden, wie auch die Erörterung des Alltags eben gezeigt hat. Dies gilt natürlich auch für die Deutung und Interpretation von Wahrgenommenem. B. Hurrelmann (1982) zeigt in einer akriben Analyse von Textdeutungsmustern, daß diese in der Freizeit anders aussehen als in der Schule. Die Schule als spezifisches behavioral setting führt, wie ihre empirische Untersuchung zeigt, zu einer Textwahrnehmung kindlicher Lesestoffe, die (unter anderem) bestimmt wird durch folgende, für den Kontext entwickelte Deutungsmuster: "1. Die Texte sind in erster Linie Lerngegenstände. Der fiktionale Status der Texte wird im Sinne der Isoliertheit von realen Kommunikationsbezügen interpretiert. Die Sinnerwartung an den literarischen Text ist gegenüber der Alltagskomunikation reduziert.

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2. Die Texte werden als sprachliche Modelle für das Erlernen der Speicherung und Reproduktion von Textinformationen und als sprachvermittelte Handlungsmodelle für die Applikation moralischer Urteile aufgefaßt. 3. Das Verständnis der Texte ist prinzipiell bei allen Lesern gleich und objektiven Leistungskriterien zugänglich. Die emotionale Beteiligung der Leser, kreative oder erfahrungsorientierte Aneignungsversuche führen vom "richtigen" Textverständnis eher ab. 4. Der Lehrer ist Garant der 'richtigen* Deutung des Textes. Dieses ist Ziel des Unterrichtsprozesses und letztlich seine Sache. Sie bleibt von den Phantasien, Bedürfnissen und Erfahrungen der Schüler isoliert" (ebd., S. 347). Eine solche Rezeptions—Einstellung gegenüber Texten resultiert aus der Interpretation der von den Kindern rezipierten Umwelt Schule.

Entwicklung Dieses Stichwort weist auf die Zeitlichkeit von Kontexten hin, oder sozialwissenschaftlich: Im Sozialisationsprozeß werden unterschiedliche Kontexte zugänglich und relevant. Diese Ergänzung ist wichtig, weil die prinzipielle Raum—Bezogenheit des sozialökologischen Ansatzes nahelegen könnte, er unterliege einer latent statischen Konstruktion von Wirklichkeit. Dies ist jedoch nicht der Fall. So kann man die zunächst statisch erscheinende Auflistung ökologischer Dimensionen in pädagogisch — psychologischen Feldern, wie sie Dreesmann entwickelt hat (s.o.), dadurch konkretisieren, daß man die Frage stellt, in welcher Reihenfolge und mit welchen Erfahrungen heranwachsende Menschen allmählich immer stärker in die Umwelt ausgreifen und wie sich beispielsweise Familie und Schule unter dieser Perspektive unterscheiden. Um dies zu verdeutlichen, kann die Beschreibung nach vier expandierenden "sozialökologischen Zonen" herangezogen werden, die Baacke versucht hat (1983, S. 48ff; 1987; einen ähnlichen Versuch unter stark entwicklungspsychologischem Interesse findet man bei Ittelson u.a. 1977, S. 221ff): (1) Ökologisches Zentrum: Der erste unmittelbare Umraum, in den man hineingeboren wird. Meist handelt es sich um die Familie. Kennzeichen für diese Zone sind enge emotionale Bindungen, face—to —face —Kommunikation, starke Abhängigkeit der jüngeren von der älteren Generation, betonte Privatheit. Neben dem Erlernen von Sozialbeziehungen und der Sprache und allen Aufgaben primärer Sozialisation wird hier auch der Medienumgang erfahren und in seinen Grundzügen erlernt. — (2) Ökologischer Nahraum: Dies ist die unspezifizierte Umgebung von Zone (1), oft

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auch "Nachbarschaft" oder "Wohnviertel" genannt. Es handelt sich um die "eigene Wohngegend" als komplexeres Soziotop. Hier werden die ersten Außenbeziehungen aufgenommen; der Heranwachsende findet hier Spielkameraden und neue Außen—Orientierungen. Die Beziehungen sind auch hier diffus, vorab nicht geregelt und stark erlebnisorientiert. Medien—Nutzung ändert sich hier (Vorrang auditiver Medien), und es entwickeln sich im Rahmen der Peer — Gesellung neue thematische Relevanzen. — (3) Ökologische Ausschnitte: Es handelt sich um funktionsdifferenzierte Teilsysteme, die die Ganzheitlichkeit des Erlebens und Handelns reduzieren und zu bestimmten Zwecken der Aufgabenbewältigung menschlicher Beziehungen zunehmend verregeln und in Rollensets organisieren. In Barkers Terminologie sind es die behavioral settings. Die Schule, der Betrieb, die Konsumsphäre der Kaufhäuser, Sportplätze, aber auch ein Geldinstitut oder die Polizeistation gehören dazu. Der Übergang von Familie und Nachbarschaft in diesen Bereich ist am schwierigsten und führt entsprechend zu Krisen (Einschulung; Ablösung von der Familie; Gleichaltrige als neue Partner; Abschluß der Schule und Übergang in die berufliche Ausbildung). Widersprüche zu familiären und nachbarschaftlichen Umwelten werden hier am intensivsten erfahren, wirken sich auch am stärksten auf Zukunftschancen und Sinnorientierungen aus — etwa wenn ein Jugendlicher aus einer stark milieugebundenen Familie in die relative Neutralität einer Ausbildungsstätte eintritt. Außerhalb des Freizeitbereichs ist der Einsatz von Medien stark funktionalisiert und bestimmten Zwecken unterworfen, wie sie durch das Regel— und Aufgabenset des jeweiligen behavioral setting vorgeschrieben sind. — (4) Ökologische Peripherie: Dies ist die Zone eher gelegentlicher Kontakte, die häufig als Alternativen zum routinisierten Alltag erfahren werden (Besuch eines Popkonzerts, eines Theaters, Aufsuchen entfernter wohnender Freunde und Verwandte, Urlaub). Jugendliche Ausreißer suchen die ökologische Peripherie, um bedrükkenden oder widersprüchlichen Lebensverhältnissen zu entgehen oder die eigenen Handlungskompetenzen eigenverantwortlich auszuprobieren. Gibt es keine Chance, die Peripherie räumlich zu erreichen, tritt — so die Vermutung — erhöhter Medienkonsum als Substitut an ihre Stelle — dies insbesondere, wenn auch die anderen ökologischen Zonen keine befriedigenden Handlungsspielräume bereitstellen und die sozialen Beziehungen eher als problematisch erfahren werden. Dem Wachstum der ökologischen Zonen vom Zentrum in räumlich immer entferntere und offenere Soziotope mit wechselnd eingeschränkten oder offenen Zugängen, Anforderungen und Bedeutungszuschreibungen entspricht die Sozialisation des Jugendlichen in immer weitere Räume subjektiver Selbständigkeit und gleichzeitig sozialer Vergesellschaftung (vgl. Abb. 1). Die "Einzelmerkmale" bei Dreesmann mit ihren ökologischen Dimensionen sind in der Zonen — Anordnung in deskriptiv—erschließender Absicht aufgehoben, das meint: Das Zonen — Konzept erlaubt die Entwicklung sowohl systematischer

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Abb. 1: Schematische Darstellung der vier ökologischen Zonen

Quelle:

Baacke 1983, S. 50

Fragestellungen wie die sozialökologische Zuordnung von Ergebnissen. In das Konzept läßt sich eine Fülle von Material hineindenken, und es liegt auch vor. Ein Mangel des Zonen—Konzepts besteht in seiner ausschließlichen Deskriptivität. Diese kann aber ergänzt werden durch entwicklungspsychologische Faktoren ebenso wie durch die Berücksichtigung der Netzwerke der Steuerung.

5.

Zur Methode: Probleme, Lösungen

Methodengeschichte wäre als Dogmengeschichte zu schreiben. Theorien werden, so scheint es, manchmal leichter aufgegeben als Methoden, aus denen sie sich doch herleiten. Immerhin, es gibt Anzeichen, als ob sich der Streit "quantitativer" und " qualitativer" Sozialforschung, sofern er als wissenschaftliche Debatte abläuft, allmählich beruhigt. (Anders ist es mit der Geltung verschiedener Methoden. Qualitative Ansätze werden bis heute in der Bundesrepublik kaum gefördert; dabei sind die Zeiten doch längst vorbei, als sie durch oft allzu moralisch—postulatorisch auftretende "Aktionsforschung" tatsächlich teilweise diskriminiert wurden.) Der sozialökologische Ansatz macht besonders deutlich,

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daß es einen Methodenmonismus nicht geben kann und sollte. Der sozialökologische Ansatz stellt selbst keine Methode dar; aber er zwingt, methodische Einbahnstraßen zu überdenken, und er hat in der hier vorgelegten Darstellung durchaus einen Bias auf sogenannten qualitativen Elementen. Zunächst muß freilich zugestanden werden: Sozialökologische Forschung erschließt nicht nur neue Perspektiven, sondern — wie sollte es anders sein? — gibt auch Probleme auf. Dazu gehören nicht nur Fragen der Abgrenzung räumlicher Aggregate (wie oben bereits dargestellt). Hinzu kommt, daß viele Ökosysteme dynamisch — instabil sind. Dies wird bei messender oder an quantitativen Daten sich orientierender Forschung (z.B. Einstellungsforschung) nicht so deutlich, weil diese gerade von konkreten Kontexten abstrahiert und damit zudeckt, was das eigentliche Problem ist: ihre real bezogene Gültigkeit. Abgesehen davon haben die eben genannten Abgrenzungsschwierigkeiten im Rahmen des sozialökologischen Zugangs zur Folge, daß die jeweils als "sozialisationsrelevant" ausgewählten Umweltmerkmale relativ beliebig bleiben; "überzeugende theoretische Begründungen werden durch die Tendenz zur Aufsummierung von immer mehr Variablen ersetzt" (Cyprian, 1982, S. 305). Weiterhin ist es schwierig, beobachtete Sozialisationseffekte spezifischen Umweltvariablen zuzuordnen, weil es schwierig ist, den jeweiligen Stellenwert zu überprüfen. So gibt es für Wohngemeinschaften positiv bewertete Faktoren wie "zahlreiche Bezugspersonen, weiter Erlebnishorizont, anregende häusliche Ausstattung, usw.". (Dem entspricht, daß Medien in Wohngemeinschaften nur eine zweckfunktionale Rolle zu spielen scheinen.) Diese positiven Faktoren können sich jedoch in ihrer kontextuellen Realisierung sogar negativ gegenseitig beeinflussen: "So kann das Vorhandensein der Kindergruppe die Erwachsenen verführen, die eigene Zuwendung dem Kind gegenüber auf ein Mindestmaß herabzuschrauben, oder kann das Alibi, für das Kind werde in der Gruppe ständig etwas geboten, konkrete, konzentrierte Beschäftigung mit dem Kind einschränken lassen." Die schwierigen Balanceprobleme in Wohngemeinschaften zwischen Nähe und gegenseitigem Bezug sowie sozialer Distanz und Rückzugsmöglichkeit, zwischen sozialer und emotionaler Abgrenzung nach außen im Interesse der Gruppenstabilität und notwendiger Umweltoffenheit durch Einbezug anderer Personen stellen sensible Faktoren der Umwelt für die Dynamik in Wohngemeinschaften dar; ihr Zusammen—, aber auch Gegeneinanderwirken ist nur langwierig und prozedural genauer beschreib— wie bewertbar, wobei damit gerechnet werden muß, daß weitere Faktoren die Gewichtung der schon einbezogenen neu zu justieren zwingen (ebd. S. 305f). — Zu bedenken ist weiter, daß die sozialökologische Dimension häufig zu bisher schon beachteten hinzukommt. Auch damit werden die Methodenprobleme nicht einfacher. So zeigen Vaskovics/Watzinger (1982) in ihrer Untersuchung von "Wohnumweltbedingungen der Sozialisation bei Unterschichtfamilien", daß bestimmte Merkmale, "die innerhalb der Familie der

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Unterschicht den Sonderschulanteil erklären können, mit Schichtzugehörigkeit der Familie signifikant korrelieren". Neben Schichtzugehörigkeit spielt der Anteil familienstruktureller Anteile (Kinderzahl) sowie sozialökologischer Merkmale (Wohnverhältnisse) eine Rolle. Eine pfadanalytische Überprüfung der Zusammenhänge zeigt, daß zwar auch die Schichtzugehörigkeit ein Faktor ist, von dem abhängt, ob ein Kind die Sonderschule besucht, aber die Berücksichtigung von Familien —Umwelt—Variablen (Wohnbelegung und Qualität der Wohnung) helfen, den Anteil der erklärten Varianz erheblich zu erhöhen (von 5% auf 13%). Die Autoren ordnen die erklärenden Variablen fogendermaßen an: Status > Kinderzahl > Wohnverhältnisse > Sonderschüler. Der Vergleich von Familien in Obdachlosensiedlungen mit Unterschichtfamilien in normalen Wohnverhältnissen (Kontrollgruppen) zeigt dann, daß sich insbesondere die "Wohn— und Wohn — Umweltbedingungen dieser Familien extrem voneinander unterscheiden. Der Anteil der Sonderschüler ist bei Familien, die in Obdachlosensiedlungen unter äußerst schlechten Wohnbedingungen leben, am höchsten (77%)" (ebd. S. 287). Während sich die Unterschichtfamilien in ökonomischer und familiär — struktureller Hinsicht kaum unterscheiden, helfen die unterschiedlichen Wohn— und Wohnumweltbedingungen die festgestellten Sozialisationsdefizite erklären — und damit sind wichtige Hinweise für interventorische Maßnahmen gegeben. Eine verbesserte Wohnumwelt gleicht am ehesten festgestellte Lerndefizite aus, läßt sich folgern. Noch bleibt allerdings offen, ob dies die letzte Antwort ist, also ob Merkmale der Umwelt statt schichtbestimmend auch schichtabhängig sein könnten. Auf jeden Fall ist festzuhalten, daß der sozialökologische Ansatz den Problemhorizont der Forschung erweitert — allerdings auch den der Methodenanwendung! Auch damit hängt vermutlich zusammen, daß sozialökologisch orientierte Forschung sich eher mit überschaubaren sozialen Aggregaten beschäftigt, vor allem Familien. Der Ressourcen — Ansatz betont die Bedeutung des sozialökologischen Umfelds einer Familie (Betriebe, Geschäfte, Ämter, soziale Netzwerke). Das Stichwort Umweltpartizipation öffnet den Blick für die Frage, unter welchen Umständen Familien mit ihrer sozialen Umwelt in Kontakt treten (sich unterwerfend oder mitwirkend). Das Konzept der familialen Lebenslage gibt schließlich "auch die strukturellen Bedingungen an, unter denen Familien in Austauschprozessen mit der sozialen Umwelt aktiv werden können, um Ressourcen verfügbar zu machen" (Vaskovics 1982, S. 12). Schneewind u.a. (1979, 1980) ergänzen die meist kontextunspezifische Analyse elterlicher Erziehungsstile um materielle und soziale Merkmale des Familienlebensraums, erfassen Personen — und Erziehungsmerkmale der für Heranwachsende besonders wichtigen Interaktionspartner Vater/Mutter und versuchen im Rahmen einer Mehrebenenanalyse, Kontextbedingungen, Erziehungsverhalten und Persönlichkeitsmerkmale zu verbinden. Trudewind (zuerst 1975) hält für die Entwicklung des Leistungsmotivs

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nicht mehr elterliches Erziehungsverhalten, sondern ebenfalls die tätige Auseinandersetzung des Kindes mit seiner konkreten Umwelt für wichtig. Die Ergebnisse, in fünf Variablenclustem geordnet, betonen als Bedingungen für das jeweilige Ausmaß des intellektuellen und leistungsthematischen Anregungsgehaltes — Weite des Erlebnishorizontes (z.B. Bewegungsfreiheit im Haus und im Nahraum, Selbetändigkeitserziehung. Reisen, Ausflüge und Besichtigungen) — Stimulation durch Ausstattung der häuslichen Umwelt (z.B. Spielzeug, Malgeräte, Tierhaltung, Basteln, Hobbies, Bücher, Massenmedien) — Hilfe und Förderung bei den Schularbeiten (z.B. Verfügbarkeit von Hilfsmitteln, Intensität der Hilfe) — Anregung durch soziale Kontakte (Vielfalt, Häufigkeit. Qualität) — Intensität der Spracherziehung (Trudewind, 1982, S.178).

Inzwischen gibt es auch Untersuchungen des Kinderalltags (Engelbert, 1986), die familienexterne Alltagsbedingungen einbeziehen. Engelbert ermittelte in der Untersuchung von 12 000 Vorschulkindern, deren Tagesverläufe sie über Mütter/Tagebücher während dreier aufeinanderfolgender Werktage auswertet, daß die Art der kindlichen Aktivität von den Aufenthaltsorten und Kontaktpersonen, den gleichzeitigen Tätigkeiten der Mütter und der Qualität der Wohnquartiere abhing. Überalterte Wohnquartiere boten nur halbsoviel Spielkontakte wie junge Wohnquartiere, die damit "in besonderem Maße Integrationsmöglichkeiten" anbieten und damit Lebenschancen eröffnen. Der sozialökologische Ansatz erlaubt also, dies als erstes Fazit, aufgrund multivariater Fragerichtungen auch unterschiedliche Analyseverfahren und —ebenen anzuwenden: Er ist vielleich der Prototyp für eine Mehrebenen —Analyse. Das zweite Fazit sei gleich angeschlossen: Der sozialökologische Ansatz erlaubt, ja erzwingt die Einbeziehung qualitativer Verfahrensweisen, will er seine Identität erhalten, ja sie schärfen (vgl. Abschnitt 2). Lüders/Reichertz (1986) haben versucht, die methodischen Dimensionen innerhalb der qualitativen Sozialforschung in drei Typen zu unterscheiden: 1. Nachvollzug subjektiv gemeinten Sinns 2. Deskription sozialen Handelns und sozialer Milieus 3. Rekonstruktion deutungs— und handlungsgenerierender Tiefenstrukturen.

Man könnte — bis auf den kurz zu diskutierenden dritten Punkt — diese drei Typen grundsätzlich den hier entwickelten Dimensionen sozialökologischer Untersuchungen zuordnen:

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1. Der Nachvollzug subjektiv gemeinten Sinns, vorwiegend über Tiefeninterviews, narrative Interviews, Gruppengespräche, vielleicht auch teilnehmende Beobachtung betrifft vor allem die Ebene des sozialen Feldes und der sozialen Beziehungen. 2. Die Deskription sozialen Handelns und sozialer Milieus (vorwiegend über Beobachtung, Dokumentation) kann sich vor allem auf die tektonische Struktur von Umwelten beziehen. 3. Die Rekonstruktion deutungs— und handlungsgenerierender Tiefenstrukturen betrifft übergreifende Netzwerke mit ihren Steuerungs — Funktionen, die nicht unmittelbar einsehbar und erfahrbar sind, also auch vom Subjekt nicht artikuliert, aber auch vom Forscher nicht durch Deskription allein erfasst werden können.

Diese Zuordnung bedarf allerdings nun der Kommentierung, weil sie sonst mißverständlich ist. Zum einen deutet das Rekonstruktions — Prinzip nach dem Sinn der Autoren eher auf tiefenhermeneutische (Oevermann) oder psychoanalytische Verfahren. Dies kann bei der Deutung von Steuerungssystemen oder Netzwerken nicht gemeint sein; hier ist vielmehr organisationssoziologisches und politologisches (beispielsweise) Erklärungswissen notwendig. Insofern ist der dritte Punkt umzuformulieren: Es ginge im sozialökologischen Kontext eher um die "Rekonstruktion deutungs— und handlungskontrollierender gesellschaftlicher Strukturen" wie Gesetze, Verordnungen, Wertorientierungen, Institutionen — Hierarchien etc. Damit sind wir beim zweiten Punkt einer fast erfolgten Misinterpretation des Lüders/Reichertzschen Vorschlags. Für sie können sich alle drei Vorgehensweisen auf das gleiche soziale Aggregat beziehen. Praktisch: Ich kann Mediennutzungsforschung in der Familie betreiben, indem ich die Subjekte sich äußern lasse; ich kann das Familien — Milieu beobachten und beschreiben, und ich kann schließlich gesellschaftstheoretisches und anderes Wissen heranziehen, um die Einlagerung der konkret erfahrenen Lebenswelt und der in ihr gestalteten sozialen Bezeihungen in einer übergreifenden Matrix gesellschaftlicher Ordnungsvorstellung relativieren. Tatsächlich ist dies möglich — damit es der schon wiederholt angesprochene Punkt der Interdependenz bzw. Durchdringung der Dimensionen gemeint. Im übrigen haben Lüders/Reichertz ihre Typen gebildet, um Kritik an qualitativen Forschungsstrategien zu üben. Der Nachvollzug subjektiv gemeinten Sinns bleibe, so kritisieren die Autoren, häufig subjekttheoretisch unreflektiert. Hinter der Subjektorientierung stehe ein Anwalts— und Aufklärungsanspruch, der forschungslogisch wenig selbstreflexiv sei. An der Milieusdeskription wird kritisiert, daß die Forscher mehr Wert auf Ausdifferenzierung, Formalisierung und Standardisierung von Datenerhebung und — auswertung der Narrations— und Biographieanalysen legen und damit die Frage allmählich vergessen, für wen die deskribierte Wirklichkeit tatsächlich relevant ist und damit zur rezipierten Umwelt wird. Die Rekonstruktion generativer Strukturen schließlich wird schnell zu einer Metaphysik tiefenanalytischer Weisheiten, die nur dem eingeschworenen Forscherteam zugänglich ist. Dieser letzte Kritikpunkt wäre vom sozialökologi-

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sehen Ansatz abzuwenden, weil dieser auch hermeneutische Tiefenstrukturen einbeziehen kann, aber darüber hinaus sich nicht auf personale Aggregate beschränkt, sondern tektonische und gesamtgesellschaftliche Systeme einbegreift. Die Kritik an den anderen Typen weist meines Erachtens allenfalls auf Gefahrenmomente hin, die ihnen innewohnen — dann nämlich, wenn Methoden sich automatisieren und sie sich damit selbst zu den eigentlichen Problemen werden.

6.

Zur Interferenz von sozialen Räumen und Medien

Auf den überräumlichen Charakter der Emissionen von Rundfunkstationen wurde schon hingewiesen, auch darauf, daß die neuen Techniken trotz räumlicher Trennung kommunikative Aktualität und Gleichschaltung ermöglichen (Telefon). Im letzten Fall sind die Subjekte der Kommunikation Autoren der Emissionen, während im ersten Fall Kommunikator und Rezipient auseinandertreten, wobei erstere für letztere häufig gar nicht sichtbar werden, sondern nur über ihre Aussagen/Emissionen Präsenz gewinnen. Zunächst ist von der These auszugehen: Der Mensch ist in Netzwerke eingebunden; die von ihm benutzten Medien sind Symbolträger überörtlicher Präsenz. Dies steht in Spannung zueinander. Was in den Medien geschieht, geschieht nicht dort, wo es gesehen oder gehört wird (jedenfalls in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle). Die Herstellung von Gleichzeitigkeit und direktem Kontakt durch life—Sendungen mit Hörerbeteiligung bestätigt nur das Muster der Dissoziierung von Real —Raum und Medien — Aussagen mit ihren je eigenen Räumen. Diese bleiben in Hinsicht auf den lebensweltlichen Erfahrungsraum des Nutzers auch dann fiktiv, wenn es sich um tatsächlich betretbare Soziotope handelt (Urwald in Brasilien, aber auch der Empfangsraum einer Regierung oder das Fußballfeld des Pokalspiels). Dennoch spricht man mit Recht von Medienpräsenz, denn was diese sagen, ist gegenwärtig und oft eindrücklicher als das im Real—Raum Vorhandene. Die vermittelte Wirklichkeit etwa des Fernsehens trifft insofern nicht nur auf die Wirklichkeit des Nutzers, sondern sie geht in sie ein. Das Konzept der parasozialen Interaktion versucht dies anzudeuten (Horton/ Wohl, 1956). Die Illusion einer unmittelbaren Nähe zu den dargestellten Personen führt zu einer besonderen Art von Beziehung, deren Eigenart darin liegt, daß manche Zuschauer meinen, sie stünden mit den Medienakteuren direkt in Kontakt. Die Medienakteure dringen sozusagen in den Erfahrungs —, ja Identitätshorizont der Zuschauer ein — ebenso wie diese sich mit den Medienakteuren identifizieren können. Insbesondere Fernsehsendungen, bei denen Personen im Zentrum stehen (z.B. Fernseh —Shows, Magazinsendungen mit beliebten Moderatoren) schaffen eine Aura der Intimität, die die Unterschiedlichkeit der Realität und die Raum — Differenz zwischen Akteur und Zuschauer im Bewußt-

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sein verschwinden lassen. In der parasozialen Interaktion ist der Zuschauer wiederum keineswegs als 'passiv' zu bezeichnen, im Gegenteil: Er arbeitet an seiner eigenen Identität sowie an Beziehungsdefinitionen und ist zumindest psychisch äußerst lebendig. Indem der Zuschauer seine Kompetenz ausnutzt, Perspektiven verschiedener Personen und der von ihnen dargestellten Rollen (seien sie fiktiv oder real) sich anzueignen, ereignet sich — ganz im Sinne der Überlegungen des symbolischen Interaktionismus — ein role—taking—Prozeß, der in ein role—making weitergeführt werden kann. Dabei handelt es sich um intern ablaufende Prozesse, jedenfalls in der Mehrzahl der Fälle. Es handelt sich um Akte einer antizipatorischen Sozialisation, insofern der Zuschauer zwar sich Personen nahe fühlen kann, die er im Fernsehen sieht, ohne daß er jedoch die Gelegenheit hat, ihre Handlungen ebenfalls in sein Alltagsrepertoire zu übernehmen. Dieser weitere Schritt ist äußerst anspruchsvoll und wird, wie wir wissen, nur unter bestimmten Bedingungen getan (Dies sind Überlegungen, die zur Diskussion der Frage, inwieweit Gewaltdarstellungen in audiovisuellen Medien wirksam sind, eine erhebliche Rolle spielen). Auf Köhlis Arbeit "Fernsehen und Alltagswelt" (1977) wurde schon hingewiesen. Selbst bei Filmen, die der Lebenswelt des Rezipienten weitgehend nachgebildet sind, also bei seinen Problemen und Handlungsmöglichkeiten ansetzen, ist eine Überführung ins Handlungsrepertoire keineswegs selbstverständlich erwartbar. So konstatiert Kohli bei einem Teil der Befragten einen klaren "Bruch zwischen allgemeiner Zustimmung zum Film und Ablehnung, daraus für sich selber Konsequenzen zu ziehen". Selbst wenn die Darstellung eines Films als der eigenen Wirklichkeit angemessen und nahe interpretiert wird, folgt daraus nicht, daß auch die Handlungen der Personen, die man sieht, als Modell übernommen und in die eigene räum—zeitliche Wirklichkeit umgesetzt werden. Darum handelt es sich eben nicht um lebensweltlich gebundene soziale Interaktionen; diese bleiben vielmehr para—sozial: Der Mediennutzer tritt während des Rezeptionsaktes ja gerade aus seinen Handlungskontexten und — Verpflichtungen heraus, er ist gleichsam freigestellt von der Verpflichtung, das Gesehene in seinen Alltag zu transfigurieren. Immerhin, so Teichert in der Zusammenfassung seines Beitrags "'Fernsehen' als soziales Handeln (II)" (1973, S. 381): "Wenn die Annahme akzeptiert wird, daß die Menschen beim Entwurf ihrer Handlungen sich selbst zum Thema machen und dies dadurch geschieht, daß sie sich in die Handlungen des 'Anderen' versetzen und sich von dessen — mutmaßlicher — Position aus beurteilen, dann kann das Wirklichkeitsangebot des Fernsehens, entsprechend der 'Neigung, die Welt der Erscheinungen in Rollen umzuformen', definiert werden als ein Rollenhandeln für den Zuschauer. Die Möglichkeit und Fähigkeit, die dargestellten Rollen zu identifizieren, zu verstehen, sich in sie einzufühlen, versetzen den Zuschauer in die Lage, das eigene Verhalten zu reflektieren, eigene Handlungsentwürfe zu diskutieren, zu modifizieren, zu bestätigen oder zu verändern."

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Das Beschriebene ist freilich nur die intensivste Lösung, die räumliche Absenz von Personen oder Ereignissen in psychische Präsenz zu verwandeln. Auch das alltägliche soziale Handeln wird ja keineswegs durchweg dadurch bestimmt, daß Rollenübernahmen qua selbstreflexiver Auseinandersetzung mit dem Handeln anderer Personen (oder auch mit Ereignissen) stattfinden, meist über Imitations— oder Identifikationsprozesse, über die Deutungsfolien anderer über die eigene Person realisiert werden. Andere Reaktionsformen sind denkbar — um nur einige zu nennen: — Schaffen einer Fiktionsrealität. Hier handeln Rezipienten auf die Sendungsinhalte hin (ohne ihre eigene Welt zu verändern), indem sie beispielsweise für den Serienhelden, der in der letzten Folge fror, einen Pullover stricken oder für das zu erwartende Baby einer Serien—Familie Kistenweise Babywäsche ins Funkhaus senden. Hier wird die fiktive Realität zwar als andere genommen, aber als real gesetzt. — RealitStsleugnung: Was gehört oder gesehen wird, wird nicht geglaubt bzw. generell einem Manipulations verdacht unterstellt. — Realitätsgeneralisierung: Diese läuft meist über Imitationen, z.B. in der Aufnahme von Modetrends, einem Übernehmen von Main —Stream—Popmusik (der Werbebereich ist hier besonders fruchtbar) — das außerordentlich, spezifisch, neu, attraktiv Genannte oder so Gezeigte wird über den Kaufakt überall verfügbar gemacht. Die Punk—Kultur verlor so ihre aggressiven Strukturen und wanderte ins Kaufhaus. — Realitätsdiyidierung: Dies ist eine, entwicklungspsychologisch betrachtet, recht kompetente Art und Weise, mit Medienwirklichkeiten umzugehen: Diese werden in ihrer formalen und inhaltlichen Eigenart erkannt und von der lebensweltlichen Eingebundenheit abgegrenzt. — Intensivierung: Ein Beispiel ist der walk —man, den sich viele Jugendlliche in den Metropolen überstülpen, so daß sie die räumliche Gegenwärtigkeit durch virtuelle Kommunikation und Sich— Verschaffen von 'good vibrations' überhöhen (Sander/Vollbrecht, 1987, S. 16). — Wirklichkeits —Absorbtion: Hier werden Medien — Phantome zum eigentlichen Partner. Der neuerdings wiederentdeckte philosophierende Kulturkritiker Günter Anders gibt in seinem Buch: "Die Antiquiertheit des Menschen" (1961) dafür viele Beispiele, etwa: "Als ich einmal im Pullmanabteil einer Gegenübersitzenden, die sich gerade einer, ihr offenbar sehr teuren, Männerstimme, die markig aus ihrem winzigen Apparat heraustönte, hingab, einen guten Morgen bot, zuckte die zussammen, so als sei nicht der Herr im Kasten das Phantom, sondern ich; und als hätte ich mich eines ungeheuerlichen Hausfriedensbruchs in ihre Wirklichkeit, nämlich in die ihres Liebeslebens schuldig gemacht. Ich bin überzeugt davon, daß es heute zahllose Menschen gibt, die sich, konfiszierte man ihre Radios, grausamer bestraft fühlen würden als jene Häftlinge, denen man zwar ihre Freiheit konfisziert, aber ihre Apparate beläßt: diese dürfen sich ja weiterhin in blühender Extravertiertheit ausleben, ihre Welt und ihre Freunde stehen ihnen — was hat sich schon verändert? — zu weiterer Audienz zur Verfügung; während der arme seines Apparats Beraubte sofort von panischer Angst ergriffen sein würde, taub im Nichts zu stehen und vor Einsamkeit und Weltlosigkeit zu ersticken." (S. 127)

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Der sozialökologische Ansatz erschließt so eine ganze Palette von variantenreichen Denkmöglichkeiten von Raum — und Person — Transgressionen und erlaubt, das unkonkrete, von Raum—Konstellationen völlig absehende Wirkungskonzept mannigfach zu differenzieren und durch fallorientiere Genauigkeit zu überholen. Eine solche Korrektur gilt nun auch der zunächst aufgestellten These dieses Abschnittes, 'lebensweltliche Einbindung' und 'medial produzierte Handlungsräume' ständen sich quasi als geschlossene Ensembles gegenüber. Davon ging die inzwischen ebenfalls vielfach differenzierte, auch kritisierte Entdeckung des "two step flow of communication" aus. Die Einsicht, die Primärgruppe steuere die Wirkungen des Fernsehens und des Radios, hat dazu geführt, die Interaktionseinlagerung des Medienkonsums stärker zu beachten. In der kommunikationswissenschaftlichen Debatte hat Schenk (1983) nun darauf hingewiesen, daß sich das Bild interpersonaler Kommmunikation verändert hat: Nicht mehr die alten Gemeinschaftsgruppen wie etwas Familie und lokale Nachbarschaft ermöglichen allein Meinungsführerschaft, sondern besonders in der modernen, großstädtisch—differenzierten Gesellschaft kommen andere Kanäle hinzu. Nachbarn sind oft persönlich gar nicht mehr bekannt, während Arbeitskollegen eine gewisse Rolle spielen. Schenk resümiert nach Durchsicht des Forschungsstandes, "daß die Massenkommunikation in modernen Gesellschaften kaum durchgängig auf lokale und homogene Gruppen trifft, deren Absorbtionskraft die Wirkung der Massenmedien begrenzt. Eine selektive Weiterverarbeitung der Medieninhalte findet zwar auch in den weitverzweigten interpersonellen Kommunikationsnetzwerken statt, die die Fusion von Ideen und Informationen in struktureller Hinsicht einerseits begünstigen, andererseits aber aufgrund ihrer relativ geringen Dichte keinen stabilen Anker für die individuellen Einstellungen und Meinungen offerieren, so daß u.U. auch mit einer größeren Wirkung der Massenmedien zu rechnen ist als von Katz und Lazarsfeld vor dem Hintergrund des Kleingruppenkonzepts veranschlagt wurde." (S. 335) Dies bedeutet nicht nur, daß der Filter der Primärgruppe unter bestimmten häufiger werdenden Bedingungen seine Absorbtionskraft verloren hat; hinzu kommt, daß es zunehmend schwierig wird zu definieren, an welche Identifikations — und Imitationsmodelle ein Mediennutzer seine eigenen Erfahrungen und Handlungsimpulse anbindet, da ihm die Selektion aus und die Bezugnahme auf eine geschlossene Lebenswelt keineswegs durchweg möglich ist. Die Parameter parasozialer Interaktion und anderer Formen der Beziehungsleistung sind auch in der Handlungswirklichkeit des Mediennutzers relativ diffus und räumlich diffundiert; die Anknüpfungspunkte liegen keinesfalls, wie vielleicht noch bei Kindern und jüngeren Jugendlichen im Zentrum oder Nahraum allein.

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Damit läßt sich das Stichwort "Interferenz" nunmehr präziser umschreiben: Gemeint ist damit die Tatsache, daß es weder angemessen ist, nur ein Medium (heute meist das Fernsehen) in seinen Wirkungen oder sonstigen Beziehungen auf Nutzer zu betrachten, noch daß es wirklichkeitsangemessen wäre, die zu befragenden oder zu untersuchenden Personen auf ihre Rolle als Nutzer (eines oder mehrerer Medien) zu reduzieren. Die Interferenz von sozialen Räumen und Medien besteht eben darin, daß es sich bei beiden um hoch aggregierte, mannigfach differenzierte und keineswegs geschlossene Wirklichkeiten handelt. Die Auswirkungen von Medien auf den Alltag und die Sozialisation vom Menschen sind nur im Gesamt der Lebenssituation von Menschen und unter Berücksichtigung aller von ihnen genutzten Medien zu interpretieren. (Forschungspraktische Umsetzung bei: Baacke/Sander/Vollbrecht, 1988)

7.

Entstnikturierung von Lebenswelten durch Medien?

Am Ende des vorangehenden Abschnitts war schon auf Schenks Arbeit "Meinungsführer und Netzwerke" (1983) hingewiesen, die zu dem Ergebnis kommt, daß relativ räumlich und personell dichte Gruppenidentitäten, die Rezipienten vor der Wirkung persuasiver Botschaften der Massenmedien schützen, heute keineswegs durchweg gegeben sind. Im Gegenteil: "die Dispersion der Kontexte, aus denen Individuen ihre persönlichen Beziehungen rekrutieren, hat im Zuge der Entwicklung von der 'Gemeinschaft' zur 'Gesellschaft' offenbar zugenommen. Anstelle der ehemals vorgegebenen traditionalen Kontexte, wie ζ. B. Verwandtschaft, Nachbarschaft, Religionsgemeinschaft usw., rücken zusehends moderne Kontexte, wie ζ. B. Vereinigungen, Arbeitsplatz, Clubs, Freundschaften etc., die gleichwohl den Aufbau persönlicher Beziehungen ermöglichen, es den Individuen — je nach Interessen — dabei jedoch auch gestatten, bei der Auswahl selektiver zu verfahren. Dadurch öffnen sich die persönlichen Netzwerke der Individuen aber in der Regel nach außen und dehnen sich — vor allem auch durch das Anwachsen schwacher Beziehungen — beträchtlich aus. Folgt man den Ergebnissen neuerer stadtsoziologischer Untersuchungen, so lassen sich die primären Beziehungen in den städtischen modernen Gesellschaften nicht mehr unter eine lokal fest und dicht verbundene Solidargemeinschaft von Verwandten, Nachbarn und Kultgenossen subsumieren. Vielmehr ist von weitverzweigten und nur lose verbundenen Gesamtnetzwerken persönlicher Beziehungen auszugehen, in die Individuen moderner Gesellschaften integriert sind." (S. 335) Schenk folgert, daß diese Art von Beziehungen die Diffusion von Ideen und Informationen in struktureller Hinsicht einerseits begünstigt, andererseits wegen ihrer geringen Verbindlichkeit und Mittelbarkeit keinen festen Bezugspunkt für die individuellen Einstellungen und Meinungen anbieten kann, so daß unter Umständen den Massenmedien größere Wirkungen als bislang vermutet zugewiesen werden müssen.

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Damit stellt sich in sozialökologischer Perspektive die diesem Abschnitt als Thema vorgegebene Frage, die ein gutes Beispiel dafür ist, daß Mediennutzung und gesamtkulturelle wie soziale Verfaßtheit einer Gesellschaft nicht zu trennen sind — so daß es auch nicht naheliegt, die Medien als isolierte Faktoren zu behandeln und in ihnen alleinige Verursacher kommunikationskultureller Problemlagen zu sehen. Das auch von Schenk herangezogene Konzept des sozialen Netzwerks geht über mehr oder weniger formal definierte Einheiten wie Familie, Nachbarschaft etc. hinaus und erlaubt, "die gesamtsoziale Einbettung des Individuums (zu) berücksichtigen" (Nestmann 1987, Β 85). Boissevain (1974) entwickelt ein System struktureller Netzwerkkomponenten mit fünf konzentrischen Netzwerkzonen: — Persönliche Netzwerkzone (enge Verwandte und intime Freunde) — Intime Zone a (enge Verwandte und intime Freunde, zu denen man kontinuierlich aktive Kontakte hat) — Intime Zone b (enge Verwandte und intime Freunde, ohne häufige Kontakte) — Effektive Zone (Menschen ohne emotionale Bezüge zur Fokusperson, aber mit ökonomischen oder politischen Bezügen) — Nominale Zone (Menschen mit nur geringen Bezügen und Kontakten zur Fokusperson)

Nestmann (ebd, S. Β 86) resümiert: "In diesem und ähnlichen Systemen wird deutlich, daß das Konzept soziales Netzwerk überbrückende Funktionen zwischen der Mikroebene von zwischenmenschlichen Interaktionen zur Makroebene sozialer Beziehungsmuster einnimmt" und: "Der Netzwerkbegriff schafft auch eine Brücke zwischen den Betrachtungen der primären sozialen Umgebung von Menschen und der Untersuchung ihrer Beziehungen zu den weitergehenden sozialen Gemeindestrukturen." Insofern ist das Netzwerkkonzept nach Keupp (1984, S. 23) "eine analytisch vielversprechende Möglichkeit, jenen mikrosozialen Strukturzusammenhang durchsichtig zu machen, in dem sich der gesellschaftliche Alltag strukturiert und vollzieht." Das Netzwerkkonzept spielt eine zentrale Rolle in der 'social support' — Forschung. Die lebensweltliche Einbindung des Menschen garantiert am ehesten, daß er beispielsweise in Problemlagen Unterstützung findet. Zu solchen sozial unterstützenden Funktionen gehören nach Barrera & Ainlay (1983) sechs Kategorien (Nestmann, ebd, Β 77): 1. 'Material aid': Direkte Hilfen (ζ. B. Ausleihen von Salz), Material, Geld und andere physikalische Objekte. 2. 'Behavioral assistence': Mithilfe und Mitarbeit bei schwierigen Angaben, Unterstützung bei physischen Anforderungen. 3. 'Intimate Interaction': Persönliche Zuwendung, Verständnis und Achtung Zeigen, freundlich Zuhören usw. 4. 'Guidance': Vom Hinweis auf Verhaltensregeln über Instruktionen bis zum Rat, zur Beratung und zur Information über kulturelle Anregungen, soziale Hilfsmöglichkeiten etc.

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5. 'Feed back': Rückmeldung über Gedanken, Gefühle und Verhalten. 6. 'Positive social interaction': Freude bereitende soziale Interaktionen wie gemeinsamer Urlaub, gemeinsames Freitzeitverbringen etc.

Betrachtet man diese Liste, so fallt auf, daß alle diese unterstützenden Funktionen nur in direkter Interaktion zu leisten sind; lediglich 'Guidance' (und unter bestimmten Voraussetzungen 'Feed back') umfaßt auch Leistungen, die durch Massenmedien substitutiv erbracht werden können. Deutlich wird aber auch, daß viele Support—Angebote heute tatsächlich nicht mehr in der direkten Nachbarschaft allein erbracht werden. 'Material aid' etwa kann durch ein Versorgangsamt geleistet werden, das nicht einmal in dem Ort liegen muß, in dem der Unterstützungsempfänger wohnt. Insbesondere das Telefon überbrückt weite räumliche Distanzen und wird beispielsweise heute ja auch als Beratungsmedium genutzt (ζ. B. Telefonseelsorge, Sorgentelefon, Drogenberatung etc.). Telefon oder Briefverkehr haben prinzipiell dafür gesorgt, daß Stadtbewohner nicht schwächer in sozialen Netzwerken verankert sind als Dörfler (Vockel/ Fischer, 1976). Allerdings ändert sich die realisierte Netzwerkstruktur: Nestmann resümiert vorliegende Untersuchungen (ebd, Β 123): "Städtisches Leben scheint (entferntere) Verwandtschaftsbezüge durch größere Selektion ebenso zu reduzieren wie Nachbarschaften, dagegen Freundschafts— und Kollegenbezüge stark zu erhöhen. Das heißt, die Stadt reduziert Bezüge aus 'traditionellen' Kontexten zugunsten von 'modernen' Beziehungsstrukturen. Trotz weniger dichter Netze bleibt für Stadt— wie Landbewohner die Verfügbarkeit von ein oder zwei engen Vertrauten .... eng mit der Zufriedenheit mit dem eigenen Netzwerk verbunden. Das Stadtleben produziert also verschiedene Lebensstile und Netzwerkstrukturen, aber nicht automatisch auch verschiedene Netzwerkqualitäten." Freilich, Hochhaussiedlungen und andere 'vereinzelnde' Environments (Siedlungen mit rasch fluktuierenden Bewohnern) führen zu Isolationsbelastungen und starken Defiziten in sozialen Kontakten (Körte, 1983). Es gibt Indizien dafür, daß die elektronischen Informationsübertragungssysteme innerhalb der Netzwerkstruktur kleinerer oder auch umfassenderer Soziotope eine in der Support - Forschung freilich übersehene Rolle spielen. Ihre Funktion wird darin gesehen, durch Information, Unterhaltung, Belehrung (und neuerdings: Beratung) mögliche soziale 'Leerstellen' auszufüllen (ζ. B. für Menschen, die in ein für sie neues Gebiet oder Land ziehen, für Ältere, Alleinstehende etc.). Freilich tragen sie offenbar nicht dazu bei, wenigstens auf der Ebene der Kommunikation lebensweltliche Gebundenheiten (wieder) zu befestigen. Im Gegenteil: Die verschiedenen Programme bringen tendenziell trotz der Bemühung um ein eigenes Profil insgesamt eine nicht örtlich oder regional gebun-

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dene Weltsicht; ihre fiktive Weltkonstruktion — vor allem im Bereich der Unterhaltung — führt vielmehr zu einer internationalen Angleichung, die durch transnationale Media—Konzerne und Media — Marketing noch verstärkt wird. Die Welt—Medienstruktur ebnet lebensweltlich gewachsene und gebundene Erfahrungsdimensionen ein (Bessler, 1983); besonders betroffen scheinen 'heavy viewer' (Vielseher) zu sein, wie Signorielli (1986) akzentuierend zusammenfaßt: "While we have concluded that feeling bad in unstructured and solitary time leads to the use of television, it must be noticed that heavy viewing, and the rapid montage of much contemporary television, may help reinforce an intolerance in the heavy viewer for daily moments that are similarly chock full of sight and sound. Others have similarly suggested that (at least for children) TV program may result in overstimulation and contribute to a shorter attention span, lack of self—restraint, and less patience with a normal delays of daily living. Heavy viewing, then may attend to lead to more heavy viewing." Die kulturelle Angleichung der Programme durch weltweit verkaufte Serien etc. macht die Welt also keineswegs zu einem "global village", wie McLuhan prophezeit hat, weil diese Metapher intakte Netzwerkstrukturen voraussetzt. Dennoch ist nicht zu übersehen, daß die Programm — Medien unter bestimmten Bedingungen zu wichtigen Bestandteilen des sozialen und kommunikativen Netzwerks werden können — falls nicht die andere These zutrifft, daß sie nur dann in zentrale Funktion treten, wenn das soziale Netzwerk nicht funktioniert. Hier gibt es eine ganze Anzahl bisher unbearbeiteter Forschungsfragen wie — welche Chancen haben Community TV, offener Kanal und andere Beteiligungsprogramme, einen Beitrag zum sozial—kommunikativen Netzwerk zu leisten — führt die Verkabelung ebenfalls zu "more of the same" oder zu einem differenzierten Aus wähl verhalten, das neue Netzwerke von 'Zielgruppen' schafft — welche Möglichkeiten gibt es, lebensweltliche Eingebundenheit und Internationalität so zu verbinden, daß sie einander nicht ausschließen — welche kulturellen Auswirkungen hat es, daß zunehmend überall auf der Welt USA — Programmimporte angeboten werden, von Samoa und den Fidji—Inseln bis zu Europa — wie funktionieren kommunikative Netzwerke in modernen Gesellschaften, welche Reichweiten haben sie, welche Zielgruppen erreichen sie, welche Abgrenzungskriterien gibt es, etc.

Damit verweist der sozialökologische Ansatz auf Fragen, die weit über eine letztlich technisch angewendete Mediennutzungs — und Wirkungsforschung hinausgehen. Die Rolle der Medien in sozialen Netzwerken ist bis heute so gut wie undiskutiert, obwohl Forschung in diesem Zusammenhang entschieden wichtiger ist als beispielsweise in den rituellen Wiederholungen von Fragen wie nach dem Einfluß politischer Werbung etwa. Daß Medienforschung Kommunikationsforschung und Kulturforschung sein muß, zeigt eine abschließende Überlegung: Es gibt Anzeichen dafür, daß Menschen heute nicht durch das zusammengebracht werden, was sie glauben, sondern j

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durch den gleichen Konsum, eine bestimmte Art von life —style (Youth and Society 1983, S. 950). Es gibt inzwischen in der sogenannten sozialen Realität eine symbolische Gemeinschaft unter weiträumig geographisch verstreuten Subkulturen, deren Teilnehmer einander nicht kennen, aber auch aufgrund der Ähnlichkeit von Selbst—Inszenierungen bis zur Ähnlichkeit von Lebensplänen eine gemeinsame Kultur bilden. Über Medien und Moden etwa können Jugendliche, ohne zu einer Gruppe zu gehören, die Accessoires der 'Szene' in ihren Zimmern aufbauen und sich mit Signalen von 'Zugehörigkeit' ausstatten, ohne tatsächliche soziale Beziehungen zu unterhalten (Baacke, 1987a). Solche Beobachtungen lassen sich auch unter der These einer zunehmenden Individualisierung diskutieren: "Der fortgeschrittene, aber noch andauernde Prozeß der Individualisierung läßt sich zwischen den Polen einer 'ständisch — kulturell geprägten Lebenswelt' einerseits, einer immer feinkörnigeren 'privaten Lebenswelt' andererseits verorten, in der Individuum und Gesellschaftsstruktur quasi kurzgeschlossen sind, während intermediäre Instanzen sich gegeneinander verselbständigen und Umwelt füreinander werden. Individualisierung ist ein historisch spezifischer, widersprüchlicher Prozeß der Vergesellschaftlichung. Sie ist Ergebnis der Homogenisierung von Lebenslagen, wobei traditionale Gemeinschaften von 'Gleichen' in einem schleichenden Prozeß der Zerstörung und Verflüssigung überkommener Lebensformen, einheitsstiftender Deutungsmuster und Weltbilder, tradierter Sinn— und Identitätskonzepte und Normalitätsentwürfe aufgelöst werden und stabile intermediäre Instanzen (Familie, Arbeitsgruppe, Nachbarschaft) in ihrer Bedeutung zurücktreten. 'Individualisierung' vollzieht sich unter den Bedingungen des wohlfahrtsstaatlich organisierten Arbeitsmarktes, ist in diesem Sinne also Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse und führt ihrerseits hinein in einen bestimmten konfliktreichen Modus der Vergesellschaftung, nämlich in eine kollektiv individualisierte Existenzweise, die sich allerdings der Kollektivität und Standardisierung ihrer Existenzweise nicht ohne weiteres bewußt werden kann." (Beck, 1983, S. 42). Auch hier stellt sich eine Reihe von Fragen, die weit aus der Immanenz von Medienforschung alter Art hinausführen; Beispiele sind: — Stimmt die These von zunehmender Individualisierung qua Vergesellschaftung, und welche Rolle spielen die Medien dabei? — Dienen die neuen kulturellen Szenen, die in der Entwicklung neuer Informations— und Kommunikations — Techniken entstehen (Computer Kids, Hacker Szene, Video Freaks) den Chancen persönlicher Wahlen, handelt es ich um Abgrenzungsbewegungen oder um kommunikativ wie kulturell integrierbare Ausdifferenzierungen? — Trägt die Tatsache, daß Kinder heute in "verinselten Lebensräumen" leben (Zeiher 1983), also zwischen Zonen des Behaustseins (Wohnung, Schule, Verein) durch ökologische Leerstellen hasten müssen, die Irritation und Gefährdung bringen und damit die Erfahrung einer räumlichen Zugehörigkeit gar nicht erst aufkommen lassen, und haben Medien hier möglicherweise Überbrückungsfunktionen (vgl. den Walkman, dessen Leistung es auch ist, den

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unterschiedlichen Soziotopen und Raum—Arealen ein gleichgestimmtes Klima zu gewährleisten)?

8.

Wertorientierte Grundannahmen in der Diskussion

Während der vorrangehende Abschnitt (beispielhaft) auf konkrete gesellschaftliche Problemfelder aufmerksam machte, wie sie im Horizont einer sozialökologisch orientierten Kommunikationsforschung aufscheinen, soll abschließend wenigstens kurz deutlich gemacht werden, daß in diesem Ansatz auch wertbezogene Fragen nicht ausgeklammert werden können. Dies war schon nahegelegt in den Ausführungen dieses Beitrags, die sich auf die praxisorientierten und sozialpolitischen Erschließungsdimensionen des sozialökologischen Ansatzes bezogen. Damit sind wissenschaftliche Entscheidungen über die Themen, die bearbeitet werden, und die zurückgestellt werden, ebenso zu begründen, wie auch die praktischen Empfehlungen, die aus Forschungsergebnissen resultieren, wollen sie nicht verkürzt technologischer Rationalität unterliegen. Auf solche problematischen Engführungen war auch bereits hingewiesen worden. Gerade die neuerlich forcierte Entwicklung der Informations— und Kommunikations—Techniken hat zu einem vielstimmigen gesellschaftlichen Disput geführt über Nutzen und Nachteil dieser Entwicklungen für Ökonomie und Wirtschaft, für die Qualität und Vielseitigkeit von Programmen, aber auch für den sogenannten Nutzer oder 'Endverbraucher'. Im Rahmen dieser Diskussion läßt sich besonders deutlich zeigen, wie wichtig es für die Kommunikationsforschung ist, daß sie (1) ein Menschenbild, (2) ein Weltbild und damit (3) Werturteile offenlegt und diskutiert. Zu (1). Menschenbild: Dieses Thema ist in diesem Beitrag ausführlich behandelt worden. Die interaktionstheoretische Prämisse vom sich und anderen verantwortlichen, in seinen Entscheidungen autonomen, wennzwar sozial gebundenen Individuum wurde in der methodologischen Debatte entfaltet, weil diese am ehesten erlaubt, die Perspektive von systemarer Vernetzung und menschlichem Handeln zu vermitteln in der Weise, daß voreilige Ursachenzuschreibungen ('die Systeme sind schuld' versus 'die Menschen sind schuld') nicht möglich sind. Damit ist auch eine reduktionistische Deutung des Menschen als 'informationsverarbeitendes System' oder ein durch Reiz—Reaktions —Mechanismen steuerbares Lebewesen ausgeschlossen. Ein handlungstheoretisch orientiertes Menschenbild geht eher vom Konzept der kommunikativen Kompetenz aus. Diese ist zu verstehen als die Fähigkeit des Menschen, variable Verhaltensschemata zu produzieren (Baacke, 19803, S. 286). Eine solche Theorie hat der Autor dieses Beitrags in seinem Buch "Kommunikation und Kompetenz" (19803) ausführlich entfaltet.

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Dabei hat kommunikative Kompetenz insofern eine normative Implikation, als alle kulturellen und sozialen Bestrebungen in Gesellschaften dahin gehen müssen, diese kommunikative Kompetenz des Menschen nicht zu beeinträchtigen, sondern zu entfalten: Dem Menschen ist zu verhelfen, "seine Kommunikationskompetenz für die Entscheidung zu vernünftigen Konfliktlösungen mit dem Ziel einer Aufhebung ungerechtfertigter und unfreimachender Herrschaft einzusetzen" (ebd., S. 287). Praktisch gewendet, bedeutet dies: Kommunikationstechniken, die — immer unter Berücksichtigung ihrer gesellschaftlichen Einlagerung — menschliche Handlungskompetenz beeinträchtigen oder verkürzen, oder Situationen, in denen dies zu geschehen droht, sind nach Möglichkeit präventiv zu vermeiden oder interventiv zu verbessern. Damit wird Kommunikationsforschung zu Medienpädagogik, wenn unter dieser verstanden wird, daß ihre Aufgabe darin besteht, autonomes und selbstverantwortliches Handeln beeinträchtigende Medienwirkungen einzuschränken oder (was nie gelingt) gar nicht zuzulassen. Zu (2) Weltbild: Mettler/Meibom zieht (in ihren "Prolegomena einer Medienökologie" o.J.; Langenheders (1983)) Überlegungen zu einem neuen WeltbildParadigma heran und konfrontiert dieses neue Paradigma "evolutionäres Weltbild" mit dem "mechanistischen Weltbild" (vgl. Tab. 2). Metder — Meibom folgert daraus: Ist ein System nach dem evolutionären Weltbild von heute offen, so hat der Zufall eine für das System konstituierende Bedeutung. Und sind Prozesse gerichtet, d.h. nicht reversibel, so ist die Welt auch nicht als Maschinerie konstruierbar und erklärbar. "Die Welt als Megamaschine... gibt es nicht." Sie entfaltet im folgenden im Rahmen des evolutionären Paradigmas den Gedanken, daß die soziale Vernunft ein unterdrückter Bestandteil einer heute eher technischen Vernunft anzusehen sei "und auch hier in normativer Wendung zu ihren Entfaltungschancen kommen" müsse. Sie exemplifiziert dies am Entsorgungskonzept unter der Frage, inwiefern Entsorgungsbedarf soziale Kosten verursacht. Unter dem Postulat ganzheitlich restituierter Vernunft folgert sie etwa: "Die Ursachen des Entsorgungsbedarfs liegen, wenn man sich die Ergebnisse technikkritischer Studien näher ansieht, vor allem in der Art, in der die Technisierung den Menschen in seine 'zweckrational verwertbaren* Teile und in seine 'irrationalen' Teile spaltet — wobei dieser Spaltungsprozeß vor allem den Funktionserfordernissen der Kapitalverwertung folgt. Er hat sich über Jahrhunderte erstreckt und inzwischen für große Teile der Bevölkerung in den Industrieländern eine identitätsgefahrdende Wirkung entfaltet. Individuelle und kollektive Pathologien erklären sich wesentlich aus

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Tab. 2:

Paradigmenwechsel

mechanistisches Weltbild*

evolutionäres Weltbild*

Die W e l t ist ein geschlossenes System.

Die W e l t ist ein offenes System, in d e m Unbestimmtheit und Zufall zum Bauprinzip g e hören.

Die W e l t ist erkenntnistheoretisch rekonstruierbar,vollständig erklärbar und damit auch im Hinblick auf zukünftige Entwicklungen vorhersagbar .

Die W e l t ist erkenntnistheoretisch nicht rekonstruierbar, immer nur in T e i l a s p e k t e n erklärbar, und die Entwicklung ist prinzipiell nicht v o r h e r sagbar .

G r u n d l a g e der materiellen Welt sind Materieteile.

Grundlage der m a t e r i e l l e n Welt sind Prozesse.

Prozesse sind wiederholbar.

Prozesse sind grundsätzlich g e r i c h t e t u n d damit grundsätzlich nicht reversibel.

reversibel,

Es gibt objektive Erkenntnisse u n d objektive W a h r h e i ten .

Es g i b t keine objektiven Erk e n n t n i s s e und keine intersubjektiv g ü l t i g e n W a h r h e i t e n .

E r k e n n t n i s s e lassen sich form a l i s i e r e n und quantifizieren.

Q u a l i t a t i v e Erkenntnisse entziehen sich einer F o r m a l i s i e rung u n d Q u a n t i f i z i e r u n g .

* in A n l e h n u n g an Langenheder

1983

diesem Spaltungsprozeß. Verhinderung bzw. Reduzierung von Entsorgung müßte daher so ansetzen, a) daß die 'zweckrationalen' Funktionserfordernisse nicht noch weitere Bereiche, insbesondere die Lebenswelt, durchdringen (defensive Veränderungsstrategie) und b) daß 'irrationale' Werte im Produktionsbereich/in der Berufswelt wieder zum Tragen kommen (offensive Veränderungsstrategie)". Auf die Praxis der Kommunkationsgestaltung von Gesellschaften gewendet, heißt dies, daß Gestaltungsprinzipien formuliert werden müssen, nach denen technologischer Wandel betrieben wird. Vielgebrauchte Stichworte wie "Sozialverträglichkeit" oder "humaner Technikeinsatz " deuten die Richtung an, in die solche Gestaltungsprinzipien zu entwickeln wären. In diesem Sinn begründete und abgeleitete Kataloge liegen vor (z.B. Armbruster u.a., 1984; Mettler —Meibom, o.J.). Abschließend sei darauf hingewiesen, daß es eine Stärke des sozialökologischen Ansatzes ist, nicht nur methoden —offen und integrativ sowie ganzheitlich orientiert zu sein, sondern auch die Diskussion über die Begründbarkeit von Normen und ihre Umsetzung in gestaltender Entwicklungsforschung zu forcieren.

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Damit stellt sich die Frage nach den Geltungskriterien (dazu in der Auseinandersetzung mit Lüders/Reichertz: Honig, 1986). Honig weist auf Küchlers (1983) Vorschlag, alternative Kriterien für Wissenschaftlichkeit zu entwickeln: Repräsentativität und intersubjektive Reliabiiität als Prüfkriterien für die Güte/Wissenschaftlichkeit von Forschungsergebnissen sollten ersetzt werden durch Prognostizierbarkeit und Steuerbarkeit sozialer Vorgänge. Damit wird der Gesichtspunkt gesellschaftlicher Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens in die Geltungsbegründung aufgenommen, die freilich stark sozialtechnologisch orientiert bleibt. Darum gibt Honig zu erwägen — und ich kann mich anschließen —, ob nicht die im qualitativen Paradigma angelegte Selbstreflexivität als weiteres Kriterium heranzuziehen sei: Als Nachdenken des Forschers/einer Forschergruppe darüber, aus welchen Gründen er/sie welche Forschungen unternimmt und welche Ergebnisse produziert — in welchem Verwendungszusammenhang. Neben diesem externen Reflexionskriterium gibt es ein internes: Das ständige Überdenken und Infragestellen der eigenen Ergebnisse — sie bleiben (und hier würde Popper augenzwinkernd nicken) wenn nicht falsifizierbar, so doch ständig hinterfragbar, ja veränderbar. Damit käme als Kriterium die Aufrichtigkeit und Gründlichkeit des Forschers/der Forscherin zur Geltung, die ihrerseits freilich im Normenhimmel sich bewahren, also intersubjektiver Überprüfbarkeit nur schwer unterliegen. Auch der sozialökologische Ansatz hat es mit diesen — noch nicht verabschiedeten — Problemen und Lösungen zu tun. Seine als Problem erkannte Offenheit ist dabei insofern seine Chance, als die Methoden — Kombination (z.B. in der Mehrebenenanalyse) auch ein inter—methodisches Überprüfungsverhältnis anbietet. Darum ist es an der Zeit, auch dem sozialökologischen Ansatz in der sozialwissenschaftlichen Forschung die Chance einer nicht nur zufalligen und punktuellen, sondern forschungsstrategisch breit angelegten Bewährungsprobe zu geben.

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Schenk, M.: Meinungsführer und Netzwerke persönlicher Kommunikation, in: Rundfunk und Fernsehen, 31, 1983, S. 3 2 6 - 3 3 6 Schneewind, K.A./Engfer, Α.: Ökologische Perspektiven der familiären Sozialisation. Konzepte, Methoden und Befunde eines Forschungsprojekts zur Analyse von Eltern—Kind—Beziehungen unter besonderer Berücksichtigung sozialökologischer Merkmale, in: Walter, H./Oerter, R. (Hg.): Ökologie und Entwicklung, Donauwörth 1979, S. 2 4 7 - 2 6 1 Schneewind, K.A./Lukesch, H. (Hg.): Familiäre Sozialisation: Probleme, Ergebnisse und Perspektiven. Stuttgart 1977 Signorielli, N.: Selective Television Viewing: A limited Possibility, in: Journal of Communikation, Vol. 36, 3, 1986, S. 6 4 - 7 6 Sommer, G./Rellermeyer, M.: Soziale Unterstützung. Einige theoretische Überlegungen und empirische Befunde zu einem vernachlässigten Konzept, in: Kommer, D./Röhrle, B. (Hg.): Gemeindepsychologische Perspektiven ΠΙ. Ökologie und Lebenslagen. München 1983, S. 53—60 Teichert, W.: 'Fernsehen' als soziales Handeln (II), in: Rundfunk und Fernsehen, 21, 1973, S. 3 5 6 - 3 8 2 Teichert, W.: Bedürfnisstruktur und Mediennutzung, in: Rundfunk und Fernsehen, 23, 1975, S. 2 6 9 - 2 8 1 Teichert, W.: Bedürfnisstruktur und Mediennutzung, in: Rundfunk und Fernsehen, 23, 1975, S. 2 6 9 - 2 8 3 Trudewind, C.: Häusliche Umgebung und Motiventwicklung, Göttingen 1975 Trudewind, C.: Probleme einer ökologischen Orientierung in der Entwicklungspsychologie, in: Graumann, C.F. (Hg.): Ökologische Perspektiven in der Psychologie. Bern 1978, S. 3 3 - 4 8 Vaskovics, L.A. (Hg.): Umweltbedingungen familialer Sozialisation. Beiträge zur sozialökologischen Sozialisationsforschung. Stuttgart 1982 Vaskowics, L.A./Watzinger, D.: Wohnumweltbedingungen der Sozialisation bei Unterschichtfamilien, in: Vaskowics, L.A. (Hg.): Umweltbedingungen familialer Sozialisation. Beiträge zur sozialökologischen Sozialisationsforschung. Stuttgart 1982, S. 2 7 2 - 2 9 0 Walter, H.: Sozialökologie — wie weiter. Paper eines Vortrage anläßlich der Tagung "Sozialökologische Forschungsperspektiven in der Sozialisationsforschung" des Arbeitskreises "Familiale Sozialisation" in der Sektion "Familie und Jugend" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in der Akademie für Politische Bildung. Tutzing 1979 Wössner, J.: Das soziale Feld. Versuch zu einer soziologischen Grundkategorie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 21, 1969 Zeiher, W.: Die vielen Räume der Kinder, in: Preuss—Lausitz u.a. (Hg.): Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder. Zur Sozialgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Weinheim 1983

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Dieter Baacke

Zimmermann, Hans —Dieter: Von den vertierenden Wirkungen des Fernsehens auf die Kinder. Ehe neuen Medien und die neuen Analphabeten, in: Frankfurter Rundschau, 15. Aug. 1985 Zyprian, G.: Ökologische Umweltbedingungen der Sozialisation in Wohngemeinschaften, in: Vaskovics, L.A. (Hg.): Umweltbedingungen familialer Sozialisation. Stuttgart 1982, S. 2 9 1 - 3 0 6

Hans—Jürgen Bucher/Gerd Fritz

Sprachtheorie, Kommunikationsanalyse, Inhaltsanalyse

"Thus in the sciences of man insofar as they are hermeneutical there can be a valid response to Ί dont't understand' which takes the form not only 'develop your intuitions' but more radically 'change yourself1." (Charles Taylor)

1.

Linguistik und Inhaltsanalyse

Das Verhältnis zwischen Linguistik und Inhaltsanalyse erscheint dem Betrachter im ganzen freundlich, aber doch distanziert. Schon in den 50er Jahren setzte man beträchtliche Hoffnungen in die wechselseitige Befruchtung von sozialwissenschaftlicher und sprachwissenschaftlicher Methodologie im Bereich der Inhaltsanalyse. Aber der Blick auf neuere Veröffentlichungen zum Thema läflt den Verdacht aufkommen, daß wir uns noch immer in jener hoffnungsvollen Anfangsphase befinden, von der Pool im Jahre 1959 schrieb: "It would seem that the fruitful interchange between content analysis and linguistics is only beginning" (Pool, 1959, S. 233).' Allerdings dürfte dieser Optimismus heute besser begründet sein als damals oder auch zehn Jahre später.2 Der Distributionalismus der amerikanischen Linguistik der 50er Jahre war inhaltsanalytischen Fragen besonders wenig kongenial, und auch Chomskys "Revolution der Linguistik" trug zwar dazu bei, einen mentalistischen Standpunkt in den USA hoffähig zu machen, aber in seiner Konzeption einer autonomen Syntax blieb zunächst gerade der Gegenstandsbereich der Sprachbetrachtung ein weißer Fleck auf der Landkarte, der den Inhaltsanalytiker besonders interessiert hätte, die Inhalte — was auch immer das ist. Nicht daß es nicht schon früher relevante Forschungsansätze gegeben hätte, vor allem in Europa, sei es die deskriptive Semantik, sei es die funktionale Betrachtungsweise in Bühlers Sprachtheorie, sei es die soziologisch orientierte Linguistik der Firth-Schule (vgl. Ullmann, 1957; Bühler 1934; Firth, 1957). Aber diese Traditionen waren auf der amerikanischen Szene, und nur die zählte zunächst einmal für das Verhältnis von Linguistik und Inhaltsanalyse, so gut wie nicht präsent. Grundlegend verbessert haben sich die Chancen für eine gedeihliche Zusammenarbeit durch die Neuorientierung vieler Linguisten, gerade in Deutschland, auf

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Hans —Jürgen Bucher/Gerd Fritz

die Erforschung der Funktion oder, anders gesagt, der Verwendung sprachlicher Formen. Diese Neuorientierung ist über die engere Fachwelt hinaus unter den Stichworten "Pragmatik" und "Sprechakttheorie" bekannt geworden. Ein wichtiger teil dieser Entwicklung bestand in der Fundierung einer adäquaten Bedeutungstheorie, wobei die Rezeption der verschiedenen Stränge der sprachanalytischen Philosophie und vor allem die vertiefte Auseinandersetzung mit Wittgensteins Bedeutungskonzeption zu theoretischer Sensibilisierung und Klärung führte (vgl. Heringer, 1974; Meggle, 1986). Darüberhinaus war von Bedeutung die Erweiterung des Gegenstandsbereichs von isolierten Sätzen auf Texte und Kommunikationen (Halliday/Hasan, 1976; van Dijk, 1977). Und schließlich wurden viele Linguisten beeindruckt durch die Begegnung mit Vertretern und Arbeiten der ethnomethodologischen Richtung (Cicourel, 1964; Sudnow (ed.), 1972), ein Einfluß, der sich in einer reichhaltigen Produktion konversationsanalytischer Untersuchungen zeigt. Diese Öffnung des Horizonts hat dazu geführt, daß von Linguisten zunehmend Themen aufgegriffen werden, in denen sprach— und sozialwissenschaftliche Fragestellungen Hand in Hand gehen, z.B. die Verbreitung semantischer Neuerungen durch Medien und in persönlichen Networks (Gloy, 1977; Fritz, 1986), das Problem der Verständlichkeit von Texten in unterschiedlichen Bereichen der öffentlichen Kommunikation (Heringer, 1979), die sprachliche Kommunikation in Institutionen (z.B. in Kliniken oder vor Gericht; Bliesener, 1982; Hoffmann, 1983) sowie die Kommunikation in den Medien (Bucher, 1986; Muckenhaupt, 1986; Strassner 1982; Sucharowski, 1985). Im folgenden wollen wir einige wichtige Verbindungslinien zwischen heutiger sprachwissenschaftlicher Theorie und Praxis und Verfahrensweisen der Inhaltsanalyse herstellen, und zwar in vier Schritten: (i) Darlegung von für die linguistische Kommunikationsanalyse grundlegenden bedeutungstheoretischen Annahmen, (ii) Untersuchung der Konsequenzen dieser Annahmen für eine inhaltsanalytische Begrifflichkeit, (iii) ein kurzer Hinweis auf kommunikationsanalytische Qualitätskriterien, (iv) ein Vergleich inhaltsanalytischer und kommunikationsanalytischer Verfahrensweisen am Beispiel der Presseberichterstattung.

2.

Bedeutungstheoretische Grundlagen

Ausgangspunkt von Inhaltsanalysen sind Texte im weitesten Sinne, also sprachliche Äußerungen. Insofern scheint es unmittelbar einleuchtend, daß ein Grundbestandteil einer Theorie der Inhaltsanalyse sprachtheoretischer Natur sein müßte. Nun ist es aber unübersehbar, daß viele inhaltsanalytische Untersuchungen und Darstellungen an einem sprachtheoretischen Defizit leiden, einem Defizit, das weitgehende Konsequenzen hat. Dieser Mangel ist deutlich erkennbar im

Sprachtheorie, Kommunikationsanalyse, Inhaltsanalyse

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Bereich der Syntaxtheorie und der damit verbundenen mangelnden Subtilität syntaktischer Analyse, er ist aber besonders gravierend im Bereich der Bedeutungstheorie.3 Das scheinen inzwischen auch manche Inhaltsanalytiker zu sehen, wie man aus Ansätzen zu bedeutungstheoretischer Reflexion ablesen kann (z.B. Krippendorf, 1980, S. 22f; Mayring, 1983, S. 24). Um zu verdeutlichen, welche Konsequenzen eine bestimmte Art sprachtheoretischer Orientierung für Gegenstandskonstitution und Analysemethoden einer Wissenschaft von Text und Kontext hat, soll im folgenden auf einige Aspekte einer Gebrauchstheorie der Bedeutung hingewiesen werden, die für die Entwicklung kommunikationsanalytischer Methoden im Bereich der Linguistik grundlegend waren. In der Gebrauchstheorie wird von sprachlichen Ausdrücken (Texten, Sätzen, Nominalphrasen, Wörtern) nicht angenommen, daß sie für Gegenstände oder Vorstellungen stehen oder daß sie per se Sachverhalte abbilden, sondern daß sie von den Sprechern nach bestimmten Regel dazu verwendet werden, um auf Gegenstände Bezug zu nehmen, Sachverhalte auszudrücken, Zusammenhänge zu beschreiben etc. (vgl. z.B. Toumlin/Baier, 1952; Tugendhat, 1976). Der Gebrauch sprachlicher Ausdrücke wird verstanden als eine Form sozialen Handelns, als eine institutionelle Praxis, die eingebettet ist in weitere institutionelle Zusammenhänge. Die sich in dieser Redeweise ausdrückende Affinität der Gebrauchstheorie zu Grundfragen der Sozialwissenschaften ist schon relativ früh von Autoren wie Winch hervorgehoben worden (Winch, 1958; vgl. auch Habermas, 1967; Taylor, 1971). Dieser allgemeine handlungstheoretische Rahmen wird für eine Klärung kommunikationsanalytischer Grundbegriffe aber erst dann fruchtbar, wenn man ausbuchstabiert, was es heißt, die Regeln sprachlichen Handelns, d.h. die Regeln der Verwendung sprachlicher Ausdrücke, zu beschreiben. Dazu gehört in erster Linie die theoretisch fundierte Angabe von Aspekten sprachlicher Handlungen, die für Kommunikations— und Textanalysen essentiell sind. Natürlich kann hier nur knapp angedeutet werden, was an anderer Stelle detailliert ausgearbeitet ist (Heringer, 1974; Fritz, 1982). Schon diese Kurzdarstellung macht deutlich, welche Aspekte sprachlichen Handelns in Inhaltsanalysen oft inadäquat berücksichtigt werden. (i)

Das gemeinsame Wissen der Kommunikationsteilnehmer

Dies gehört zum elementaren Bedingungsgefüge sprachlicher Handlungen. Besonders detailliert untersucht wurde dieser Aspekt für die Formen der Bezugnahme (Referenz) auf Gegenstände der Kommunikation, für die Zusammenhänge zwischen aufeinanderfolgenden Sätzen in Texten und Dialogen und für Formen metaphorischer Rede (vgl. Strawson, 1971; Fritz, 1982; Keller —Bauer, 1984). Die Wissenskonstellationen der Teilnehmer, darunter das gemeinsame Wissen, sind auch grundlegend für die Bestimmung der Situation, in der sie handeln.

138

(ii)

Hans—Jürgen Bucher/Gerd Fritz

Der Sequenzzusammenhang sprachlicher Handlungen

Die Stellung einer Äußerung in einer Sequenz von sprachlichen — aber auch nicht—sprachlichen — Handlungen ist mitbestimmend für ihr Verständnis. Derselbe Satz kann eröffnend als Behauptung, im Anschluß an eine Bitte um Begründung als Begründung und im Anschluß an einen Vorwurf als Rechtfertigung verwendet und verstanden werden. Genau wie es für dialogische Kommunikationsformen charakteristische Sequenzmuster gibt, lassen sich auch für monologische Formen wie Berichte, Beschreibungen etc. derartige Muster beschreiben. (iii)

Der thematische Zusammenhang

Genau wie der illokutionäre Aspekt eines Sequenzmusters (vgl. (v)) ist auch der thematische Zusammenhang ein Organisationsprinzip für Texte und Dialoge. Zum Verständnis einer Äußerung gehört ihre Einordnung in den thematischen Zusammenhang. So kann z.B. eine Feststellung über die Eigenschaften von Dieselmotoren im entsprechenden Zusammenhang eine Feststellung über Möglichkeiten des Umweltschutzes sein. (iv)

Die innere Struktur von sprachlichen Handlungen

Hierzu gehören vor allem fünf Aspekte, die im folgenden unter (v) —(ix) angeführt werden: (v) Der illokutionäre Aspekt Er wird in der Beschreibung dadurch ausgedrückt, daß man sagt, eine Äußerung sei als Feststellung, als Bewertung oder als Rechtfertigung zu beschreiben bzw. ein Text sei als Kommentar, Heiratsanzeige oder Meldung verwendet. (vi)

Der indem — Zusammenhang

Man kann jemandem vorwerfen, daß er geschrieben hat, indem man behauptet, daß er geschrieben hat — unter der Voraussetzung des gemeinsamen Wissens, daß er nicht hätte schreiben sollen. Dieser scheinbare triviale Aspekt sprachlicher Handlungen erweist jede Analyse als naiv, die eine Eins—zu Eins — Beziehung zwischen Text und Inhalt annimmt. (vii)

Der propositionale Aspekt

Er wird in der Beschreibung durch sog. Ergänzungssätze ausgedrückt. Man sagt, Α habe festgestellt, daß Β geschrieben hat oder Α habe erklärt, wie das

Sprachtheorie, Kommunikationsanalyse,

Inhaltsanalyse

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Gerät funktioniert. Man spricht vom propositionalen Gehalt bzw. vom Inhalt der Feststellung oder Erklärung. Aus linguistischer Sicht wäre es sinnvoll, den Begriff des Inhaltes auf genau diesen Aspekt einzuschränken. (viii)

Der Festlegungszusammenhang

Wer einem anderen vorwirft, daß er geschrieben hat, legt sich auf die Annahme fest, daß jener nicht hätte schreiben sollen. Festlegungen sind für jedes sprachliche Handlungsmuster spezifisch. Die Analyse von Festlegungszusammenhängen gehört zu den zentralen Aufgaben der Beschreibung einzelner Handlungsmuster, da die Festlegungsstruktur entscheidend ist für die Zulässigkeit und damit auch das Verständnis von in der Sequenz nachfolgenden Handlungen. (ix)

Folgen einer Handlung

Wie nicht—sprachliche Handlungen auch können kommunikative Handlungen weitergehende Folgen haben, intendierte Folgen und nicht — intendierte Folgen. Daß der Partner einer Aufforderung Folge leistet oder eine Behauptung glaubt, kann eine intendierte Folge einer Aufforderung oder Behauptung sein. Nicht — intendierte Folgen können z.B. sein das Entstehen eines bestimmten gemeinsamen Wissens in einer Gruppe oder die Verärgerung eines Gesprächspartners, dessen Wertvorstellungen man bei einem Gesprächsbeitrag falsch eingeschätzt hatt. Für eine kommunikative Analyse ist nicht nur die Berücksichtigung der Folgen (und möglichen Folgen) einer Handlung notwendig, grundlegend ist auch der Versuch, Indizien dafür zu finden, wie weit die Intentionen der Handelnden in bezug auf die Folgen reichen. Mit dieser Ausführung einer handlungstheoretischen Betrachtungsweise ist in einem ersten Ansatz geklärt, wie sich der Gegenstand von Kommunikationsanalysen konstituiert: Äußerungen, die nach bestimmten Handlungsregeln in spezifischen Handlungszusammenhängen gemacht werden. Dabei ist die Berücksichtigung dieser Aspekte und Zusammenhänge ebenso wichtig für die Beschreibung der Struktur von Handlungsmusfern und Kommunikations/örmen wie für ihr methodisches Gegenstück, die Analyse bestimmter, vorliegender Äußerungen, Texte, Kommunikationen in ihrem jeweils historisch spezifischen Zusammenhang.

3. Einige theoretische Zentralbegriffe der Inhaltsanalyse Wir haben nun den Punkt erreicht, an dem wir aus kommunikationsanalytischer Sicht einen Blick auf einige Grundbegriffe der Inhaltsanalyse werfen können: Inhalt, Information, Wirkung, latent vs. manifest, Inferenz.4

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Hans —Jürgen Bucher/Gerd Fritz

Eine gewisse Unzufriedenheit mit dem Begriff des Inhalts ist bei Inhaltsanalytikern verbreitet (vgl. Deichsel, 1981, S. 509). Aus der Sicht der Gebrauchstheorie muß man diese Unzufriedenheit teilen. Aus den im vorigen Abschnitt dargelegten theoretischen Annahmen folgt, daß ein Text per se keinen Inhalt hat, auch keine Information enthält. Ein Text ist eine Folge von Sätzen, die unter geeigneten Bedingungen dazu verwendet werden kann, einen Gegenstand zu beschreiben, eine Handlung zu erklären oder einen Kommunikationspartner über einen Sachverhalt zu informieren. Nehmen wir ein einfaches Bespiel, das die in der Praxis meist viel subtiler auftretenden Probleme beleuchtet: Ein Sprecher/ Autor schreibt mit einer Folge von Sätzen einem Gegenstand eine Reihe von Eigenschaften zu. Wir nehmen nun an, Sprecher und Hörer bzw. Autor und Leser wissen gemeinsam, daß diese Eigenschaften für den betreffenden Gegenstand negativ zu bewerten sind. Unter diesen Bedingungen kann der Sprecher/ Autor mit diesem Text den Gegenstand negativ bewerten, indem er ihn auf die genannte Art beschreibt, und der Hörer/Leser wird die Intention seiner Textäußerung genau so verstehen, als Bewertung, die er macht, indem er den Gegenstand so beschreibt. Was ist nun der objektive Inhalt des Textes? Die Beschreibung des Gegenstands als, sagen wir einmal, groß, grün und schwer? Derjenige, der diese Auskunft über den Inhalt des Textes gibt, hat die eigentliche Pointe der Äußerung dieser Folge von Sätzen schon verpaßt. Wenn er von diesen "Daten" ausgehend nun Schlüsse zieht auf Intentionen und Einstellungen des Textproduzenten oder auf Wirkungen beim Adressaten, so hilft alle Genauigkeit der Auszählung von verwendeten Wörtern nichts mehr, das Kind ist schon in den Brunnen gefallen. Natürlich ist dieses Beispiel sehr einfach, daß man in einem solchen Fall auch als Inhaltsanalytiker aufgrund von common —sense Erwägungen geneigt sein wird, die Grundannahme vom objektiven Inhalt des Textes stillschweigend fallen zu lassen. Nicht immer sind die Zusammenhänge aber so einfach. Und dann schleicht sich leicht der genannte Fehler ein, was man von Bales' Interaktionsanalyse über das Hamburger Verständlichkeitskonzept bis hin zu neueren Schriften der Medienforschung zeigen kann (Bales, 1966; Langer, Schulz v. Thun, Tausch, 1974; Schönbach, 1977). Die Annahme, ein Text habe einen Inhalt, ähnlich wie ein Eimer einen Inhalt hat, scheint so natürlich und ist doch so irreführend, daß man fast dafür plädieren möchte, den Begriff des Inhalts einmal eine Weile aus dem Verkehr zu ziehen. Derselbe Grundgedanke trägt auch zur Klärung des Begriffs der Information bei. Ein Text enthält keine Information. Er kann vielmehr unter bestimmten Bedingungen dazu verwendet werden, jemanden zu informieren. Mit dem Satz Kohl ist Bundeskanzler kann man Anfang 1986 einen Ausländer, der nicht viel über deutsche Politik weiß, darüber informieren, wer zu diesem Zeitpunkt der

Sprachtheorie, Kommumkationsaoalyse,

Inhaltsanalyse

141

Bundeskanzler ist. Den durchschnittlichen Zeitungsleser kann man mit diesem Satz darüber nicht informieren, denn er weiß es schon. Man kann ihn vielleicht an dieses Faktum erinnern oder man kann ihm, bei entsprechendem Wissen, erklären, warum Kohl bestimmte Handlungen macht etc. Schließlich erlaubt dieser Gedanke auch eine nützliche Anwendung auf den Begriff der Wirkung eines Textes. Ein Text hat keine eingebaute Wirkung. Er kann von einem Sprecher auf eine bestimmte Art verwendet werden und vom Adressaten auf diese oder eine andere Art verstanden werden, z.B. als Beschreibung oder als Aufforderung. Die Grundlage irgendwelcher Wirkungen, z.B. daß der Adressat bestimmte Dinge glaubt, für gut hält oder tut, ist also nicht der Text als solcher, sondern das Verständnis des Textes. Die herrschende Medienwirkungsforschung nimmt offensichdich unbesehen an, daß der Text per se wirkt. Diesen theoretisch unbefriedigenden Ansatz könnte man so deuten, daß eben ein Standardverständnis unterstellt wird bzw. angenommen wird, daß die verschiedenen Verständnisse sich statistisch schon ausgleichen werden. Aber die Existenz eines Standardverständnisses ist ja schon eine empirische Hypothese und keine in der Theorie selbst fundierbare Annahme, eine Hypothese zudem, die sich mit einem einigermaßen differenzierten Analyseinstrumentarium für sehr viele Textsorten leicht falsifizieren läßt. Mit dem Begriff des Inhalts erweist sich zwangsläufig auch die Unterscheidung von manifest vs. latent als revisionsbedürftig. Manifest sind nur die geschriebenen bzw. geäußerten Sätze. Und selbst die sind oft nicht unabhängig von einem bestimmten Verständnis rekonstruierbar, wie jeder bestätigen wird, der schon Transkriptionen von Gesprächen, Fernsehsendungen etc. gemacht hat. Sobald wir nicht nur in trivialster Weise die Form der Äußerung untersuchen, bringen wir Latentes, oder vielleicht besser gesagt Implizites ins Spiel: Unser Verständnis des mit dem Text Gemeinten, unser Wissen, unsere Annahme darüber, was der Autor an Wissen voraussetzt, unsere Sprachkenntnis im weitesten Sinne. Und wir müssen, wenn wir zu einem weitergehenden Verständnis kommen wollen, vielfaltige weitere implizite Elemente explizieren: Die Intentionen, die Annahmen, die Sichtweisen von Kommunikationszusammenhängen, die kommunikativen Fähigkeiten, den Überblick über kommunikationsstrategische Alternativen, die Befolgung von Kommunikationsprinzipien, die wir bei unserem Verständnis der Äußerungen dem Autor zuschreiben. Genau an dieser Stelle kann man einen gemeinsamen Nenner von linguistischer Kommunikationsanalyse und verschiedene Formen der Inhaltsanalyse erkennen. Es geht um das Interesse an impliziten Zusammenhängen und am Versuch, das Implizite methodisch kontrolliert zu explizieren, ein Interesse, das im Bereich der Inhaltsanalyse vor allem im Zusammenhang mit dem Begriff der Inferenz diskutiert worden ist.

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Hans—Jürgen Bucher/Gerd Fritz

Inferenz ist überall dort notwendig, wo der Untersuchungsgegenstand nicht unmittelbar der Beobachtung zugänglich ist. In der Sprachwissenschaft gilt das für alle wesentlichen Gegenstände. Weder die Regeln einer Sprache noch die Sprachfahigkeit der Sprecher einer Sprache sind der Beobachtung direkt zugänglich. Was der Beobachtung direkt zugänglich ist, sind Mengen von Äußerungen, wobei schon die elementarsten Analyseleistungen theoriegeleitet sind und ein Verständnis der betreffenden Äußerungen voraussetzen. Eine der Haupdeistungen der neueren Sprachwissenschaft besteht darin, eine Methodologie entwickelt zu haben für die analytische Rekonstruktion von Regeln bzw. Fähigkeiten aus vorliegenden Äußerungen. Besondere Schwierigkeiten und damit auch methodologische Anforderungen stellen jene Fälle, in denen eine Überprüfung der Hypothese durch systematische Befragung kompetenter Sprecher nicht möglich ist, etwa in der Spracherwerbsforschung (vgl. Biere, 1978) oder der historischen Syntax (vgl. Ebert, 1980). In letzterem Fall ist man z.B. in der Lage, von der Häufigkeit des Auftretens bestimmter syntaktischer Konstruktionen in unterschiedlichen Textsorten und Sprechergruppen auf die Etablierung neuer syntaktischer Nonnen schließen zu müssen. Das in diesen und verwandten Bereichen entwickelte Know-how, das sich zumindest teilweise als strukturalistisch charakterisieren läßt, verbindet sich in der Kommunikationsanalyse mit einer bedeutungstheoretischen Orientierung, deren Grundprinzip darin zu sehen ist, daß der Zusammenhang zwischen dem explizit Geäußerten und den impliziten Intentionen, Annahmen, Bewertungen und Einstellungen regelhaft ist. Wie nicht anders zu erwarten, sind diese Regeln oft außerordentlich komplex — man denke nur an Formen der metaphorischen, ironischen oder euphemistischen Rede oder an die prinzipiellen Möglichkeiten der Unaufrichtigkeit —, so daß die Beschreibung der Regeln zunächst vor allem für Grundstrukturen von Kommunikationsformen und exemplarische Ausschnitte von Kommunikationen geleistet wurde.5 Entscheidend für den Status der hier anzuwendenden Inferenzmethode ist die Tatsache, daß die Bezugnahme auf relevante Regeln sprachlichen Handelns eine intersubjektiv verfügbare Grundlage für das Erschließen impliziter Elemente ist. Natürlich sind nicht alle implizite Aspekte von Handlungen, ebensowenig wie alle Arten von Folgen von Handlungen unter Bezugnahme auf Regeln explizierbar sind. Weitergehende Intentionen, Wirkungen kommunikativer Strategien, die Befolgung von kommunikativen Prinzipien etc. bedürfen bei ihrer Analyse häufig der Annahme von Plausibilitäts — und Rationalitätsprinzipien, für die aber ihrerseits eine Explizitheitsforderung gilt. In jedem Fall bleibt aber die detaillierte Untersuchung der zugrundeliegenden kommunikativen Regeln und Fähigkeiten der unerläßliche erste Schritt. Kennt jemand z.B. die vielfältigen Möglichkeiten, mit denen Sprecher beim Erzählen (etwa in einem narrativen Interview) zeigen können, was ihnen wichtig erscheint, so wird er sich nur ungern auf eine so bescheidene Methode wie das Auszählen von Worthäufigkeiten zur Bestimmung von Relevanzstrukturen verlassen, auch wenn er weiß, daß

Sprachtheorie, Kommunikationsanalyse, Inhaltsanalyse

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es eine einfache Zuordnung zwischen Äußerungsformen und Wichtigkeitseinschätzung auch bei Berücksichtigung dieser kommunikativen Strategien nicht gibt.

4. Qualitätskriterien für Kommunikationsanalysen Nach diesen begrifflichen und methodologischen Überlegungen liegt es nahe, nach den Qualitätskriterien für Kommunikationsanalysen zu fragen. Derartige Kriterien lassen sich ableiten aus Forschungsprinzipien, von denen drei im folgenden besonders hervorgehoben werden sollen: (i)

Das Prinzip der zusammenhängenden Betrachtung

Dieses Prinzip folgt aus der handlungstheoretischen Auffassung von der Determinierung einer Handlung durch ihre Zusammenhänge. Die Befolgung dieses Prinzips zeigt sich in der Analyse von Handlungssequenzen statt isolierter Handlungen, von thematischen Zusammenhängen statt einzelner Thema —Ausdrücke, von Pressekommunikationen statt isolierter Texte und Textmerkmale. Eine Anwendung dieses Prinzips ist das dialogische Verfahren, mit dem Verstehensprobleme explizit ermittelt werden können.6 (ii)

Das Prinzip der Explizitheit

Die Befolgung dieses Prinzips zeigt sich vor allem in der expliziten Formulierung von Regeln und Hintergrundsannahmen, die eine intersubjektive, argumentative Stützung von Interpretationen ermöglicht. Dieses Prinzip garantiert nicht Objektivität und Eindeutigkeit von Interpretationen. Im Gegenteil, es zwingt dazu, die Offenheit von Deutungen anzuerkennen, was denjenigen besonders schwer fällt, die dem verbreiteten Objektivitätswahn verfallen sind. (iii)

Das Prinzip der Reflexivität

Dieses Prinzip hat mehrere Facetten, von denen zwei besonders erwähnt werden sollen: 1. Der Forscher hat keinen prinzipiell privilegierten Zugang zum Verständnis seines Forschungsgegenstandes. Seine Ausgangsdaten sind immer schon Verständnisse von Äußerungen, ob er das reflektiert oder nicht. Wenn er es nicht reflektiert, ist die Gefahr der Borniertheit groß.

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2. Die Reflexion auf den Sprachgebrauch derer, deren Äußerungen man analysiert, hat ihr notwendiges Gegenstück in der Reflexion des Forschers auf seinen eigenen Sprachgebrauch, wobei die theoretische Redeweise (Kausalbeziehung, Norm, Regel) und die Analysekategorien eine entscheidende Rolle spielen.7 Die Verletzung des Prinzips (iii) ist aus linguistischer Sicht die vielleicht auffallendste Schwäche vieler Inhaltsanalysen. Und was das Prinzip (ii) angeht, so läßt schon die verkürzende, textferne Darstellungsform vieler Inhaltsanalysen eine Befolgung nicht zu. Ein Beispiel für mustergültige Erfüllung dieser Prinzipien bieten die exemplarischen Analysen in Biere (1978). Der Sinn solcher Prinzipien besteht darin, eine Orientierung für die Bewertung von Analysen zu geben und damit u.U. der Gefahr der Methodenwillkür entgegenzuwirken. Genau diesen Status haben ja auch die Prinzipien der Validität und der Reliabilität. Unabhängig davon, wie ängstlich man in Bezug auf Methodenwillkür ist, und unabhängig von der Einschätzung quantitativer Verfahren kann man festhalten, daß die Prinzipien (i) — (iii) den beiden Grundprinzipien quantitativer Inhaltsanalyse vorgängig sind, so daß die Prinzipien der Validität und der Reliabilität leerlaufen, wenn die Prinzipien (i) — (iii) verletzt sind. Mit anderen Worten: auch eine quantitative Inhaltsanalyse muß sich diesen Qualitätskriterien stellen, wenn sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen will, ein statistisches Prachtgebäude auf Sand gebaut zu haben.

5.

Kommunikationsanalyse versus Inhaltsanalyse am Beispiel der Presse berichterstattung

Als ältestes Medium ist die Presse bereits seit der Zeit um die Jahrhundertwende Gegenstand inhaltsanalytischer Forschung. Dabei ist von Anfang an eine zweistufige Forschungskonzeption zu beobachten: die Textanalyse und ihre Interpretation im Hinblick auf soziologische, politische, journalistische usw. Fragestellungen. Diese Zweistufigkeit der Forschung, auf die in neueren Debatten um das Verhältnis von quantitativen und qualitativen Verfahren wieder zurückgegriffen wird, läßt sich auf die folgenden beiden Untersuchungsfragen zurückführen: (i)

Wie wird über ein bestimmtes Ereignis/Thema informiert?

(ii)

Welche Schlußfolgerungen können aus der jeweiligen Form des Informierens gezogen werden?

Wie diese Untersuchungsfragen zu beantworten sind, ob mit qualitativen oder mit quantitativen Verfahren, über latente oder manifeste Inhalte, bis zu welcher

Sprachtheorie, KommunikatioDsanalyse, Inhaltsanalyse

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Reliabilität und Validität und wie sie miteinander zusammenhängen, ist Gegenstand der methodologischen Diskussion der Inhaltsanalyse (Holsti, 1969; Krippendorf, 1980; Früh, 1982). Bei einer systematischen Betrachtung lassen sich aus ihr folgende Problembereiche herauskristallisieren: — das Problem der Entwicklung von Untersuchungseinheiten ("sampling units") und der Untersuchungskategorien ("recording units"), — das Problem der Anwendung der Untersuchungskategorien auf den Untersuchungsgegenstand ("Kodierung"), — das Problem der Auswertung der durch die Kategorienanwendung gewonnenen Daten ("Inferenz"). Wie diese Problembereiche im Hinblick auf die Fragen (i) und (ii) behandelt werden, hängt einerseits ab von den jeweiligen Untersuchungszielen und andererseits vom Verständnis des Gegenstandsbereichs, also von der zugrundeliegenden Text— bzw. Kommunikationstheorie. Eine solche ist nun aber in der inhaltsanalytische Lehre nicht in systematischer Weise ausgearbeitet, so daß die Zusammenhänge zwischen Untersuchungszielen, Untersuchungsverfahren und Untersuchungskategorien unzureichend geklärt erscheinen. Die Darstellung einer kommunikationsanalytischen Forschungsstrategie kann deshalb von folgenden Einwänden gegen herkömmliche inhaltsanalytische Verfahren ausgehen: (iii)

Die inhaltsanalytische Forschung vernachlässigt kommunikativ relevante Untersuchungsaspekte.

(iv)

Auswahl und Anwendung von Untersuchungskategorien sind text— und kommunikationstheoretisch schlecht begründet.

(v)

Die Zusammenhänge zwischen einzelnen Untersuchungsaspekten und — kategorien und zwischen den in (i) und (ii) genannten Untersuchungsfragen sind unklar.

Diese Einwände werden im folgenden begründet, wobei für die genannten Problembereiche am Beispiel der Presseberichterstattung Lösungsvorschläge formuliert werden.

5.1

Untersuchungsaspekte einer kommunikativen Presseanalyse

In seinem Plädoyer für eine qualitative Inhaltsanalyse warnte Kracauer schon 1952 davor, daß die Inhaltsanalyse durch quantitative Kategorienbildung "Gefahr

146

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läuft, die wesentlichen Merkmale vieler Kommunikationen ungebührlich zu vereinfachen" (Kracauer, 1972, S. 54). Ein Blick auf einige neuere Presseanalysen lehrt, daß diese Warnung nach wie vor ihre Berechtigung hat. Zurückzuführen ist die Vernachlässigung relevanter Untersuchungsaspekte auf das eingeschränkte Verständnis ihres Gegenstandes, das diesen Inhaltsanalysen zugrunde liegt. In welcher Weise Presseberichterstattung zum Untersuchungsgegenstand wird, zeigt sich in den jeweils gewählten Erhebungs— und Kodiereinheiten. Da sie diejenigen Einheiten eines Untersuchungsgegenstandes sind, von denen angenommen wird, daß sie die relevanten Daten für die Lösung der gestellten Forschungsaufgabe liefern, besteht auch ein enger Zusammenhang zwischen der Gegenstandsauffassung und den gewählten Untersuchungskategorien. Eine sprachwissenschaftlich fundierte Gegenstandsauffassung könnte deshalb Licht in einen der sensibelsten Aufgaben—Bereiche inhaltsanalytischer Forschung werfen, der für manchen nur mittels einer sozial wissenschaftlichen Kunstlehre bewältigbar zu sein scheint: "How categories are defined and how numerical values or data points are made representative or real phenomena, observations, and message characteristics is an art. Little is written about it" (Krippendorf, 1980, S. 76).

Für inhaltsanalytische Pressanalysen ist es typisch, die Presseberichterstattung als ein "Bündel von Aussagen, Feststellungen" aufzufassen und dementsprechend die einzelne "Aussage" — auch Argument, Proposition oder Gedanke genannt — als kleinste Kodier— oder Erhebungseinheit zu betrachten, (vgl. v. Buiren, 1980, 19 - 23; Schönbach, 1977, S. 35, S. 39/40). Weitere etablierte Erhebungseinheiten sind: die Artikel oder Beiträge, die Abschnitte bzw. druckgraphisch abgesetzte Teile, die Sätze, die Wörter, die Themen, die Gegenstände. Eine Analyse der Presseberichterstattung unter den genannten Gesichtspunkten bringt drei Nachteile mit sich: (i)

Der funktionale Aspekt der Kommunikation, also das, was im Rahmen der Presseberichterstattung mit den sprachlichen Mitteln und den Aufmachungsformen gemacht wird, bleibt unberücksichtigt.

(ii)

Es wird suggeriert, daß Themen, Aussagen, Gegenstände einer Kommunikation in vergleichbarer Weise zu erheben sind, wie Wörter, Sätze, Abschnitte und Artikel, nämlich "nur durch genaues Beobachten und möglichst ohne Interpretation" (v. Buiren, 1980, S. 19).

(iii)

Die inhaltsanalytischen Erhebungseinheiten führen zur Bildung von Untersuchungskategorien, die unspezifisch sind im Hinblick auf die verschiedenen journalistischen Darstellungsformen der Pressebericht-

Sprachtheorie, Kommunikationsanalyse,

Inhaltsanalyse

147

erstattung wie z.B. Berichte, Meldungen, Reportagen, Kommentaren, Dokumentationen, etc. Wem es ausschließlich auf quantifizierbare Vergleichsdaten ankommt, mag die genannten Nachteile für Vorteile halten. Er muß sich allerdings im Klaren darüber sein, daß eine Presseanalyse, die aus Vereinheitlichungsgründen auf die genannten Untersuchungsaspekte beschränkt bleibt, weder die Besonderheiten einzelner Beiträge noch ihre spezifischen Zusammenhänge erfassen kann. Dieser Mangel an Differenzierung kann auch nicht dadurch behoben werden, daß nachträglich angegeben wird, wie die erhobenen Daten auf einzelne journalistische Darstellungsformen verteilt sind (vgl. v. Buiren, 1980; Schönbach, 1977), da dabei ja bereits die Angemessenheit einer beitragsunspezifischen Datenerhebung vorausgesetzt wird. Die begrenzte Leistungsfähigkeit der genannten inhaltsanalytischen Untersuchungseinheiten ist darauf zurückzuführen, daß keine von ihnen der Tatsache gerecht wird, daß es letztendlich die Verwendungsweisen sprachlicher Einheiten und formaler, medienspezifischer Gestaltungsmittel sind, die kommunikativ relevant und damit für jedes Beitragsverständnis grundlegend sind. Eine handlungsorientierte Sprach— und Textauffassung legt es nahe, die Untersuchungseinheiten für die Presseberichterstattung nicht auf syntaktischer, lexikalischer oder propositionaler Ebene anzusetzen, sondern auf der funktionalen Ebene. Die kleinsten Untersuchungseinheiten einer Presseanalyse sind demzufolge die kommunikativen Handlungen, die mit den sprachlichen und medienspezifischen Mitteln gemacht werden. Damit ist nun nicht gesagt, daß die übrigen Untersuchungsaspekte in einer funktionalen Analyse unter den Tisch fallen. Vielmehr erhalten sie durch die neue Betrachtungsweise einen Rahmen für eine integrierte Behandlung: Wortwahl, Formulierung, Präsentation, Thema und Gegenstand können als Teilaspekte einzelner journalistischer Handlungen beschrieben werden, nämlich als die — sprachlichen und pressespezifischen Mittel, mit denen die Handlungen realisiert werden, — die Inhalte und Informationen, die mit den Beiträgen verbreitet werden, — die Themen, von denen die Beiträge handeln. Als welche Handlung eine journalistische Äußerung zählt, ist nur entscheidbar in Bezug auf den kommunikativen Zusammenhang, in dem sie vorgebracht wird. Eine Presseanalyse, die von sprachlichen Handlungen als kleinsten Analyseeinheiten ausgeht, ist deshalb von vorneherein dem bereits genannten Prinzip einer

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Hans —Jürgen Bucher/Gerd Fritz

zusammenhängenden Betrachtung verpflichtet. Dies läßt sich an folgendem Beispiel demonstrieren: Für den Satz "Der Bundestagsabgeordnete X hat die Debatte über den Streikparagraphen als überflüssig bezeichnet" sind folgende Verwendungsmöglichkeiten denkbar: (iv)

Der Satz wird verwendet, um eine Meldung über die Bundestagsdebatte durch die Wiedergabe einer Einschätzung abzuschließen.

(v)

Der Satz wird verwendet, um in einer Kommentareröffnung eine Einschätzung der Bundestagsdebatte einzuführen, gegen die im folgenden argumentiert wird.

(vi)

Der Satz wird verwendet, um in einem Parlamentsbericht einen Redner einzuführen, über dessen Redebeitrag berichtet werden soll.

Das Prinzip der zusammenhängenden Betrachtung ist in allen drei Beschreibungen unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten berücksichtigt: Erstens wird die Äußerung jeweils in einen Beitragszusammenhang eingeordnet, z.B. als Eröffnungs— oder Abschlußhandlung; und zweitens wird die Verwendungsweise der einzelnen Beiträge im Zusammenhang der Pressekommunikation angegeben, d.h. sie werden in ihrer Funktion als Meldung, Kommentar und Bericht beschrieben. Es sind in der Hauptsache folgende Arten von Zusammenhängen, die für das Verständnis einer journalistischen Äußerung relevant sind: (vii)

der Beitragszusammenhang, d.h. die Stellung einer journalistischen Handlung im Handlungsaufbau eines Beitrags;

(viii)

der explizite Zusammenhang eines Beitrages, d.h. seine Verwendungsweise im Rahmen der Presseberichterstattung, z.B. innerhalb einer Beitragskonstellation in einer Zeitungsausgabe oder innerhalb einer Beitragsserie über verschiedene Zeitungsausgaben;

(ix)

der historische Zusammenhang eines Beitrags, z.B. die entsprechenden politischen Umstände oder die intermedialen Zusammenhänge mit Beiträgen anderer Medien.

Auf dem Hintergrund dieser vielfältigen Kontextabhängigkeit des Sinns sprachlicher Äußerungen erscheint die Inhaltsanalyse insgesamt als eine zu restriktive Forschungsstrategie. Angesichts der genannten Zusammenhänge ist offensichtlich, daß eine Presseanalyse, die die relevanten und brisanten Gesichtspunkte erfassen will, nicht auf isolierte Einzeltexte, Textinhalte und Textmerkmale beschränkt sein kann, sondern als Kommunikationsanalyse der Presseberichter-

Sprachtheorie, Kommunikationsanalyse,

Inhaltsanalyse

149

stattung konzipiert werden sollte. Ihr Gegenstand ist die Pressekommunikation, d.h. Grundstrukturen und Verläufe einer öffentlichen Form der Kommunikation.8 Während Inhaltsanalytiker den Text als Untersuchungsgegenstand gerne zu einem "kommunikativen Fossil" (Merten, 1983, S. 82) hinrichten, erhält er in einer Kommunikationsanalyse sein Eigenleben zurück: Texte werden als kommunikative Handlungen und damit als Teile sozialer Wirklichkeit aufgefaßt, die ihrerseits mit anderen sozialen Ereignissen in Zusammenhang stehen, z.B. mit einer öffenüichen Debatte oder Pressekritik, die in den Leserbriefkommunikationen geführt werden, oder mit Beiträgen in anderen Medien (intermediale Zusammenhänge). In einer kommunikativen Betrachtungsweise der Presseberichterstattung sind zwei Schwächen behoben, die in der methodologischen Diskussion der Inhaltsanalyse immer wieder eine Rolle gespielt haben: die Vernachlässigung von Untersuchungsaspekten, die für ein Textverständnis relevant sind, und die Atomisierung von Textzusammenhängen. Um dies zu verdeutlichen, seien zusammenfassend die Untersuchungsaspekte zusammengestellt, die in einer Kommunikationsanalyse der Presseberichterstattung berücksichtigt werden. Der folgende Katalog von Untersuchungsaspekten ist zu verstehen als Spezifizierung der bereits in Abschnitt 2 genannten Aspekte sprachlichen Handelns und zwar im Hinblick auf die Pressekommunikation. (1)

Die Funktion eines Beitrages: Unter diesem Aspekt werden alle Fragen der Textverwendung behandelt, die die textexternen Zusammenhänge eines Beitrags, d.h. seine Einbettung in die Pressekommunikation betreffen: — die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Beiträgen in einer Beitragskonstellation, einer Beitragsserie oder in verschiedenen Zeitungen, — die Zusammenhänge von Pressebeiträgen mit Leserentgegnungen, z.B. in Leserbriefen, — die informationspolitischen Zusammenhänge eines Beitrags, z.B. innerhalb einer Pressekampagne.

(2)

Die Form eines Beitrags: Hier lassen sich grundsätzlich folgende Teilaspekte voneinander unterscheiden: — die Kommunikationsform, nach der ein Beitrag gemacht ists, also die textinternen Sequenzzusammenhänge oder sein Handlungsaufbau, — die Aufmachungsform, also die Art, in der ein Beitrag entsprechend den pressespezifischen Möglichkeiten präsentiert wird, — die sprachlichen Ausdrucksformen unter syntaktischen, lexikalischen und stilistischen Gesichtspunkten.

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Haas—Jürgen Bucher/Gerd Fritz

(3)

Der Inhalt eines Beitrags: Dieser Aspekt umfaßt einerseits die Propositionsstruktur eines Beitrags, z.B. das, was über ein Ereignis berichtet wird (die Struktur des Berichteten), und andererseits seine thematische(n) Einordnung(en), also das, wovon ein Beitrag handelt.

(4)

Die Festlegungszusammenhänge eines Beitrags: Wer einen Pressebeitrag macht, legt sich damit in verschiedener Hinsicht fest: — auf eine bestimmte Sichtweise des behandelten Ereignisses oder Sachverhalts, — auf Wissens Voraussetzungen, die beim Leser gemacht werden, — auf die Einhaltung von Qualitätskriterien, nach denen Pressebeiträge beurteilt werden können.

5.2

Zur Verfahrensweise einer Kommunikationsanalyse der Presseberichterstattung

Der kleinste inhaltsanalytische Verfahrensschritt, die Anwendung von Untersuchungskategorien auf einen Text, verdient deshalb unsere Aufmerksamkeit, weil ein Untersuchungsergebnis nicht besser sein kann als sein kleinstes Teilergebnis. Bereits die Kritik an der Verwendungsweise der Ausdrücke "Inhalt" und "Information" hat gezeigt, daß ein Analyseverfahren einseitig ist, das ausschließlich von der Frage ausgeht, was in einem Text gesagt wird, aber nicht fragt, wie der Text und seine Sätze verwendet werden. Da diese propositionale Textbetrachtung, wie man sie nennen könnte, auch dem textlinguistischen Versuch van Dijks zugrunde liegt, "structures of news in the press" zu beschreiben (van Dijk 1983 und 1985), wirft auch diese Forschungsrichtung Probleme bei der Textanalyse auf, wie sie im folgenden behandelt werden.9 Eine Folge der propositionalen Textbetrachtung ist die Vernachlässigung folgender Unterscheidungen, die für ein Verständnis der Presseberichterstattung und damit für jede Kategorienbildung grundlegend sind: (i)

die Ereignisse und Sachverhalte, über die in einem Pressebeitrag informiert wird,

(ii)

die sprachlichen Ausdrücke, mit denen in einem Pressebeitrag über Sachverhalte und Ereignisse informiert wird,

(iii)

die Verwendungsweise der sprachlichen Ausdrücke, Sätze und Texte in der Pressekommunikation, also die Handlungen, die mit ihnen vollzogen werden.

Sprachtheorie, Konununikationsanalyse, Inhaltsanalyse

151

Betrachtet man Pressebeiträge als Handlungszusammenhänge, sind diese Unterscheidungen einen Selbstverständlichkeit. Bei inhaltsanalytischen Verfahren kommt es immer wieder zu Verwechslungen zwischen den Beschreibungsebenen (i) und (ii) einerseits und zwischen (ii) und (iii) andererseits. Ein krasser Fall der ersten Art von Verwechslung liegt vor, wenn die Äußerungen, mit denen über ein kommunikatives Ereignis berichtet wird, mit denjenigen Äußerungen verwechselt werden, die dieses Ereignis sind. So hält beispielsweise van Buiren thematische Merkmale der Berichterstattung über die Auseinandersetzung um die Atomenergie für Merkmale der berichteten Auseinandersetzung selbst: "Eindeutige thematische Schwerpunkte (in der Presse, d.V.) sind technische Risiken und die Umweltgefahren, aber auch die ökonomischen und außenpolitischen Unwägbarkeiten dieser Energiequelle finden Erwähnung. Dabei bevorzugen die Befürworter der Kernenergie allgemein gehaltene, beruhigende Aussagen, während die Gegner der Kernenergie häufiger konkreter argumentieren ..." (van Buiren, 1980, S. 142).

In analoger Weise setzt Schönbach Inhalte der berichteten Politikeräußerungen mit den Inhalten der berichteten Äußerungen in Presse und Fernsehen gleich.10 Die in (i) bis (iii) gemachten Unterscheidungen sind für eine Analyse der Presseberichterstattung deshalb wichtig, weil zwischen dem Dargestellten und seiner Darstellung keine Abbildbeziehung besteht. Welche Zusammenhänge ein Leser zwischen dargestellten Ereignissen und Sachverhalten sieht, hängt von den Zusammenhängen ab, die er zwischen den Sätzen und den Darstellungshandlungen sieht, die mit den jeweiligen Sätzen gemacht werden. Im Falle der Berichterstattung über sprachliche Handlungen zeigt sich die Verwechslung von berichteten und berichtenden Äußerungen darin, daß der Berichtende auf Voraussetzungen festgelegt wird, auf die begründeterweise nur derjenige festgelegt werden kann, dessen Äußerungen Gegenstand der Berichterstattung sind, ein Fehler, der auch in Leserbriefkommunikation häufiger vorkommt. Eine Verwechslung der Beschreibungsebenen (ii) und (iii) liegt dann vor, wenn die Kategorisierung einer Textstelle, also ihr Verständnis, von den sprachlichen Ausdrücken und ihren Formen abgeleitet wird. Interpretationsversuche dieser Art beruhen auf der falschen Annahme, daß zwischen sprachlichen Ausdrücken und ihrer Verwendung eine Eins —zu—eins—Relation besteht. Man kann diese Auffassung als Signaltheorie bezeichnen, da sie davon ausgeht, daß ein Text Indikatoren für ein entsprechendes Verständnis besitzt. Eine kommunikative Analyse beruht dagegen auf der Einsicht, daß die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Beschreibungsaspekten von Pressebeiträgen zwar offen, aber regelhaft sind. Als methodisches Prinzip gilt deshalb die integrative Analyse von Ausdruck, Form, Inhalt, Thema und Funktion einzelner Beiträge. Die Relevanz dieses Prinzips, das eine Spezifizierung des bereits genannten Prinzips der zusammenhängenden Betrachtung darstellt, soll an zwei Beispielen illustriert werden, in denen dagegen verstoßen wird.

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Hans—Jürgen Bucher/Gerd Fritz

In einer Untersuchung zur Wahlkampfberichterstattung und — kommentierung von Fernsehen und Tagespresse wird als "Indikator für die Vermittlung von Parteipolitik" die "Erwähnung von Parteien in den beiden Medien" benutzt (Weiss, 1982). Diese Kategorienbildung läßt sich darauf zurückführen, daß die Bezugnahme auf Gegenstände, im vorliegenden Fall auf die Parteien, eine grundlegende Handlung in allen Kommunikationen darstellt. Nicht bedacht wird allerdings in der Untersuchung, daß das Bezugnehmen oder Referieren eine Handlung ist, die nicht isoliert vorkommen kann, sondern nur im Zusammenhang mit anderen Handlungen. Da meistens gerade diese Trägerhandlungen für ein Textverständnis relevant sind, bleiben bei einer Auszählung von Referenzausdrücken entscheidende Aspekte journalistischer Äußerungen unberücksichtigt. So ist es z.B. für die Analyse einer Berichterstattung entscheidend, ob auf eine Partei Bezug genommen wird, um — über ihr Programm zu berichten, — einen ihr angehörenden Politiker zu kritisieren, — zu melden, was ihr Parteivorsitzender getan hat, — zu berichten, was ein Politiker einer anderen Partei über sie gesagt hat, — in einem Schaubild darzustellen, wie ihre Gewinnchancen eingeschätzt werden. Aber auch die Art und Weise, in der auf eine Partei Bezug genommen wird, kann für das Verständnis eines Beitrags von Bedeutung sein. So macht es einen erheblichen Unterschied, ob man die CDU als "Flick —Partei", "Arbeitgeberpartei", "christliche Partei" oder "Black—Out—Partei" bezeichnet. Bereits das Verständnis, daß in allen Fällen dieselbe Partei gemeint ist, setzt ein bestimmtes politisches Hintergrundwissen voraus, was natürlich auch für jede Kodierung einer Parteierwähnung gilt. Die inhaltsanalytische Praxis, in Fällen der angeführten Art einen Bewertungsindex mit zu erheben, vernachlässigt die kommunikative Tatsache, daß es nicht die Ausdrücke sind, die bewerten, sondern daß ihre Verwendungsweise als Bewertung gemeint sein kann oder als solche verstanden wird, je nachdem, welches Wissen ein Autor/Leser besitzt und von welchen Annahmen er ausgeht. Ebensowenig kann das Thema eines Textes oder Textausschnittes gleichsam mechanisch aus dem Wortlaut abgeleitet werden. Wie die Leserbriefkommunikation zeigt, kann derselbe Beitrag von verschiedenen Lesern sehr verschiedenen Themen zugeordnet werden. Weder ist die thematische Einordnung eines Beitrags von Themenausdrücken abhängig, noch können diese sein Thema fixieren. In welchen thematischen Zusammenhang ein Beitrag eingeordnet wird, ist einerseits abhängig vom jeweiligen Beitragsverständnis und andererseits vom thematischen Wissen des Lesers."

Sprachtheorie, Kommunikatioosanalyse,

Inhaltsaaalyse

153

Aufgrund der Offenheit der Zusammenhänge zwischen Text, Thema — Ausdruck und Thema, zwischen einem Ausdruck und seiner Funktion, ist bei der Kategorienanwendung, sei diese syntaktisch, lexikalisch, thematisch oder funktional, die Deutung der jeweiligen Textstelle nicht als unvermeidbare 'DatenVerschmutzung' aufzufassen, sondern als notwendige Voraussetzung einer sinnvollen Anwendung.

5.3

Aufgaben und Ziele einer Kommunikationsanalyse der Presseberichterstattung

Als allgemeines Ziel inhaltsanalytischer Untersuchungen gilt die Rekonstruktion von Zusammenhängen zwischen Kommunikationsbeiträgen und ihren Kontexten auf der Basis inhaltsanalytisch ermittelter Daten,12 oder, wie es in einer anderen Darstellung heißt: "Das Erkenntnisinteresse der Inhaltsanalyse zielt in der Regel auf strukturelle Informationen über Textmengen" (Früh, 1982, S. 100). Die strukturellen Einsichten sollen gewonnen werden durch ein zweistufiges Forschungskonzept, dessen erster — "qualitativer" — Schritt die Textanalyse nach festgelegten Kategorien darstellt, der zweite Schritt deren quantitative Auswertung. Diese Forschungsstrategie beruht auf zwei Annahmen, die beide problematisch sind. (i)

die Annahme, daß Text—Kontext —Zusammenhänge, also strukturelle Einsichten, quantitativ — statistisch über die gewonnenen Analysedaten zu gewinnen sind;

(ii)

die Annahme, daß Textanalysen hinsichtlich der Kommunikationszusammenhänge von Texten nahezu neutral oder nur von sehr begrenzter Reichweite sind.13

Annahme (ii) ist zurückzuführen auf die isolierende, extrakommunikative Betrachtungsweise von Texten, wie sie in Abschnitt 5.1 bereits problematisiert wurde. Geht man davon aus, daß eine Textanalyse Beitragszusammenhänge einzelner sprachlicher Ausdrücke, explizite Zusammenhänge eines Beitrags innerhalb eines Kommunikationsverlaufs und seine historischen Zusammenhänge berücksichtigt, so stellt sich das inhaltsanalytische Zweistufenmodell als ausgesprochen künstlich dar, da ja Kontextrekonstruktionen bereits integrative Bestandteile jeder Textanalyse sind. Die Angemessenheit eines integrativen Verfahrens wird bestätigt, wenn man die Annahme (i) näher betrachtet. Bereits die Entscheidung, welche statistischen und quantifizierenden Daten sinnvollerweise durchgeführt werden können, setzt Kenntnisse über die Funktion von Textmerkmalen im jeweiligen Kommunikationszusammenhang voraus. Diese Art von

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Hans—Jürgen Bucher/Gerd Fritz

Festlegung wird manifestiert in den Deutungsregeln, mit denen die quantifizierenden Operationen einer Inhaltsanalyse begründet werden: (iii)

"In order to get the category of 'sophistication' one might consider as an indicator the amount of qualification in the text ('on the other hand', 'however', 'although') (Berelson, 1952, S. 163).

(iv)

"Ein indirekter Verstoß gegen die Norm, Berichterstattung und Kommentierung zu trennen, liegt dann vor, wenn Nachricht und Meinung parallel verlaufen, d.h., wenn alle Argumente relativ gleich häufig in Berichterstattung und Kommentierung auftreten und wenn die Berichterstattung dadurch verzerrt oder verkürzt wird" (Schönbach, 1977, S. 54).

Solche Deutungsmaßnahmen sind deshalb vielen Einwänden ausgesetzt, weil der Zusammenhang zwischen Textmerkmalen und möglichen Funktionen m e h r deutig ist. So können zwar die in (ii) genannten Ausdrücke Indizien für "sophistication" sein oder aber, je nach Verwendungszusammenhang, auch für etwas ganz anderes, wie z.B. die Ironisierung einer sophistizierenden Redeweise. Andererseits kann "sophistication" in ganz anderen Textmerkmalen zum Ausdruck kommen, z.B. im übermäßigen Fremdwortgebrauch oder gerade in der absichtlichen Vermeidung der oben genannten Ausdrücke. Die Kommunikationsanalyse unterscheidet sich insofern von Standardformen der Inhaltsanalyse, als die Funktion von Text— bzw. Beitragsmerkmalen weder als fixiert und bereits bekannt vorausgesetzt noch statistisch ermittelt wird. Ihr kommunikativer Charakter zeigt sich gerade darin, daß strukturelle Zusammenhänge zwischen Text und Kontext zum genuinen Untersuchungsgegenstand gemacht werden.14 Im folgenden werden einige wesentliche Forschungsaufgaben und —ziele einer Kommunikationsanalyse der Presseberichterstattung formuliert, die insofern struktureller Art sind, als sie jeweils auf die Analyse einer besonderen Art regelhafter Zusammenhänge der Pressekommunikation abzielen. Im Unterschied zu herkömmlichen inhaltsanalytischen Forschungsaufgaben spielen dabei quantifizierende Verfahren keine Rolle im Zusammenhang der Rechtfertigung und Begründung von Erkenntnissen ("context of justification"), sondern im Zusammenhang der Exploration und der Hypothesenbildung ("context of discovery"). Da bei den im folgenden genannten Forschungsaufgaben auch größere Materialmengen zu bewältigen sind, können quantifizierende Verfahren dabei eingesetzt werden, um über auffallende Häufigkeitsverteilungen — z.B. von bestimmten Ausdrücken, syntaktische Strukturen, Darstellungsformen und —mittein, Themen und Inhalten — untersuchungsrelevante Materialausschnitte zu ermitteln oder um Hypothesen über Text — Kontext — Zusammenhänge zu formulieren.

Sprachtheorie, Komimmikatioosanalyse, Iahaltsanalyse (1)

155

Die Beschreibung von Grundstrukturen der Pressekommunikation

Diese Aufgabenstellung zielt auf die Darstellung sozialer Regelmäßigkeiten, d.h. der Handlungsmöglichkeiten von Journalisten und Zeitungslesern unter den Bedingungen der Pressekommunikation (Universalität, Periodizität, Disponibilität, Publizität, Zeitungskonkurrenz). Grundlage solcher Strukturbeschreibungen sind empirische Analysen ausgewählter Beispiele der Pressekommunikation. In diese Aufgabe eingeschlossen ist die Beschreibung von Sequenzmustern, die der Abfolge von Äußerungen in der Pressekommunikation zugrundeliegen, z.B. die Beschreibung typischer Aufbaumöglichkeiten verschiedener journalistischer Darstellungsformen, Formen von Beitragskonstellationen und Beitragsserien, die Anschlußmuster und Verlaufsformen der Leserbriefkommunikation. Die praktische Relevanz von Grundstrukturbeschreibungen liegt darin, daß sie die Übersicht der Kommunikationsteilnehmer, also der Leser und der Journalisten verbessern und so zu einer versierteren Lektüre bzw. einer umsichtigeren Berichterstattung beitragen können. In derselben Weise können diese Strukturbeschreibungen im Sinne einer kontrollierten Hermeneutik bei empirischen Presseanalysen für die Formulierung von Untersuchungsfragen und die Entwicklung des Forschungsdesigns genutzt werden.15 (2)

Die empirische Analyse stattgefundener Pressekommunikation

Diese Aufgabenstellung hängt insofern eng mit der vorausgegangenen zusammen, als empirische Presseanalysen sowohl Grundlage als auch Verifikationsbasis der Strukturbeschreibungen sind. Neben dieser heuristischen Funktion für die Formulierung einer Theorie der Pressekommunikation können empirische Presseanalysen auch problemorientiert angelegt sein. Von besonderer Bedeutung sind im Falle der Presseberichterstattung folgende Problemstellungen: — die Analyse der Informationspolitik, die verschiedene Zeitungen in einem Berichterstattungsfall über einen längeren Zeitraum verfolgen, z.B. in Wahlkämpfen oder bei der Berichterstattung über den § 116 des Arbeitsplatzförderungsgesetzes. — die Erforschung der tatsachenschaffenden Funktion der Presseberichterstattung durch vergleichende Analyse verschiedener Darstellungsweisen eines Ereignisses. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht steht dabei die Beschreibung der sprachlichen Mittel und Verfahren im Vordergrund, mit denen die publizistische Konstruktion der Wirklichkeit realisiert wird.16 — Die Untersuchung der Informationsqualität der Berichterstattung in bezug auf die informationsspezifischen Grundsätze der Informativität, der Relevanz, der Wahrheit und der Verständlichkeit.17

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(3)

Die Erforschung historischer Veränderungen der Pressekommunikation

Grundstrukturbeschreibungen der Pressekommunikation stellen auch eine Bestandsaufnahme der Handlungsmöglichkeiten dar, die sich im Laufe der Pressegeschichte herausgebildet haben. Insofern können sie als Vergleichsobjekte dienen für die Beschreibung und Erklärung historischer Entwicklungen einer öffentlichen Form der Kommunikation. Relevante Vergleichsaspekte für historische Analysen ergeben sich aus den in 5.1 genannten Untersuchungsaspekten. (4)

Die Erforschung von Leserverständnissen und ihren Folgen durch dialogisch konzipierte Leserinterviews

Grundlage dieser Form der Verständlichkeitsforschung ist die Annahme, daß sich Leserverständnisse in den Anschlußkommunikationen einer Presseberichterstattung zeigen. Eine natürliche Form solcher Anschlußkommunikationen sind die Leserbriefe. Ihre Untersuchung ist für die empirische Verständlichkeitsforschung von heuristischer Bedeutung, da sie zeigen kann, welche Aspekte und Probleme des Verstehens im Falle von Pressebeiträgen relevant sind. Charakteristisch für eine dialogische Form der Verständlichkeitsforschung ist, daß der Zusammenhang zwischen Beitrag und Leserverständnis weder aus einer Korrelation verschiedener Datenmengen — z.B. inhaltsanalytischen und rezipientenbezogenen — noch aus der Behaltensleistung abgeleitet, sondern selbst zum Forschungsgegenstand gemacht wird. Durch eine enge Abstimmung von Interviewfragen, vorausgegangener Beitragsanalyse und der Erhebung des Leserwissens können Verstehensprobleme diagnostiziert und erklärt werden (z.B. über eine Diskrepanz zwischen vorausgesetztem Wissen und dem historischen oder thematischen Wissen des Lesers). Die Interviewführung gestattet es dem Leser auch, eigene Verständnisse eines Beitrags und seine Verstehensprobleme ins Spiel zu bringen (vgl. Muckenhaupt, 1986). Was hier am Beispiel der Untersuchung von Pressekommunikationen dargelegt wurde, gilt mutatis mutandis auch für andere Kommuniaktionsformen, die Gegenstand sozialwissenschaftlicher Analyse sind. Wenn man einmal von der besonderen linguistischen Betrachtungs — und Redeweise absieht, so wird man feststellen, daß die hier vorgetragenen Einwände, Vorschläge und Prinzipien in vielem mit dem konvergieren, was unterschiedliche hermeneutisch reflektierte Forschungsrichtungen in den letzten Jahren gefordert und praktiziert haben (vgl. z.B. Wahl u.a., 1982; Wilson, 1982). Außerdem lassen sich leicht Zusammenhänge herstellen zu einigen Bedenken, die in letzter Zeit verstärkt auch von Seiten der empirischen Sozialforschung gegen bestimmte Formen der Inhaltsanalyse vorgebracht werden (Connell/Mills, 1985; McQuail, 1983). In dieser Konvergenz liegt auch eine gewisse Hoffnung, daß die wissenschaftspolitische Vor-

Sprachtheorie, Kommunikationsanalyse, Inhaltsanalyse

157

machtstellung der Vertreter quantitativer Methoden in manchen Bereichen, z.B. der Medienforschung, kein Dauerzustand bleiben muß. Den spezifisch linguistischen Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion der Inhaltsanalyse sehen wir, um es nochmals zusammenzufassen, in folgenden Punkten: in der kommunikations — und damit bedeutungstheoretischen Fundierung der Bestimmung des Analysegegenstandes (Texte/Dialoge und ihre kommunikativen Zusammenhänge), in der damit verbundenen Reflexion der Beschreibungskategorien und in der Entwicklung von Analysemethoden, von der Rekonstruktion von Grundstrukturen von Kommunikationsformen über die exemplarische Analyse von Einzeltexten in ihren Zusammenhängen bis hin zur dialogischen Analyse der Folgen kommunikativer Ereignisse.

Anmerkungen 1 2 3

4 5 6 7 8

9 10

11 12 13 14 15 16

17

Ähnlich formuliert Merten, 1983, S. 45. Vgl. Gerbner et al. 1969. In einer Darstellung wie Merten (1983) sind es gerade die bedeutungstheoretischen Passagen, die den Linguisten am wenigsten befriedigen und die die Kluft zwischen den Disziplinen am deutlichsten spürbar werden lassen. In die Gruppe der Zentralbegriffe gehört natürlich auch der der Bedeutung, zu dem im vorigen Abschnitt schon einige Hinweise gegeben wurden. Eine Liste von Grundstrukturbeschreibungen findet sich in Fritz/Muckenhaupt, 1984, S. 64. Zum dialogischen Verfahren vgl. Fritz, 1982. Vgl. Berelson, 1952, S. 147: "Content Analysis stands or falls by its categories." In Bucher (1986) wird diese Betrachtungsweise der Presseberichterstattung näher ausgeführt und für die Analyse monologischer und dialogischer Grundstrukturen dieser Kommunikationsform genutzt. Kritisch diskutiert werden propositionale und ausdrucksorientierte Ansätze der Textlinguistik in Fritz, 1982, Kp. 2.4, S. 7 und in Bucher, 1986, Kp. 3. Diese Verwechslung unterläuft Schönbach bereits bei der Konstruktion eines Beispiels, anhand dessen er sein Verständnis der "Synchronisation von Nachricht und Meinung" demonstrieren will. Vgl. dazu: Schönbach, 1977, S. 48—54. Ausführlich untersucht wird der Zusammenhang von Text und Thema in Fritz, 1982. Kp. 7. Vgl. Holsti, 1969; Krippendorf, 1980; Merten, 1983. "Nach der Textanalyse liegen die inhaltsanalytisch relevanten Befunde noch nicht vor, sondern erst nach der Auswertung der Summe aller Textanalysen" (Früh, 1982, S. 100). Zum Zusammenhang von qualitativer Sozialforschung und struktureller Analyse vgl. Hopf, 1979. Grundstrukturen der pressespezifischen Formen des Berichtens und der verschiedenen Formen der Leserbriefkommunikation sind beschrieben in Bucher, 1986. Aus ethnomethodologischer Sicht vgl. dazu: Fishman, 1980 und Tuchman, 1978. Sprachkritisch wird die tatsachenschaffende Funktion der Presseberichterstattung analysiert in: Fowler u.a. 1979 und Kress 1983. Für die Fernsehberichterstattung liegen solche Untersuchungen vor in Strassner, 1982 und Muckenhaupt, 1986.

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Uwe Sander/Ralf Vollbrecht

Mediennutzung und Lebensgeschichte Die biographische Methode in der Medienforschung

Die biographische Methode erfreut sich in den Sozialwissenschaften in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit. Zahlreiche Übersichten und Sammelwerke zur (überwiegend qualitativen) Biographieforschung belegen dieses Interesse (z.B. Baacke/Schulze, 1979; Bertaux, 1981; Kohli, 1981; Matthes/ Pfeifenberger/Stosberg, 1981; Fuchs, 1983, 1984; Kohli/Robert, 1984; Baacke, 1985; Baacke/Schulze, 1985; Vollbrecht, 1986; Voges, 1987). In der Medienforschung wurden diese — vorwiegend soziologisch, aber auch historisch geführten — Diskussionen zwar aufgenommen (Kübler, 1982; Rogge, 1982; Hickethier, 1982; Rust, 1984; Rogge, 1985; Luger, 1985), ohne daß sich jedoch ein anderen Forschungsgebieten vergleichbarer Theorie— und Empiriestand medienbiographischer Forschung herausgebildet hätte. Es stellt sich daher die Frage, ob diese Rezeption biographischer Ansätze lediglich Ausdruck einer wissenschaftlichen Modewelle ist oder ob biographische Methoden auch die Medienforschung vorantreiben können.

Biographische Medienforschung — ein eigenständiger Ansatz? Im Kontext der sogenannten 'Wende zum Alltag* hat sich auch in den Medienwissenschaften eine höhere Sensibilität für kontext— und handlungsbezogene, konkrete alltagsweltliche und auch biographische Dimensionen der Mediennutzung entwickelt. Voraussetzung für diese Wendung zur Mediennutzung (statt Wirkung), zum Kontextualen und zum Handlungsbezogenen war jedoch eine Abkehr von der traditionell in den Medienwissenschaften gefestigten wirkungsbezogenen, im weiten Sinne behavioristischen oder funktionalistischen Theoriesträngen und damit verbunden eine Abkehr von den quantifizierenden Methoden empirischer Sozialforschung. Allerdings meint Abkehr hier nicht einen generellen Schwenk zu neuen Ansätzen, vielmehr eine Erweiterung der immer noch (z.B. in der Fernsehforschung) dominierenden traditionellen Medienforschung um neuere Theorieansätze und Methoden (vgl. hierzu Sander/Vollbrecht, 1987, S. 13ff).

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Medienwirkungen, wenn der Begriff der 'Wirkung' überhaupt noch verwendet wird, und die Nutzung von Medien werden nicht mehr isoliert von der konkreten Alltagseinbettung und von biographischen Prozessen betrachtet. Ein medienbiographischer Ansatz im engeren Sinne müßte in diesem theoretischen Rahmen untersuchen, welche Rolle Medien bei der Konstruktion und Rekonstruktion von Biographien spielen. In einem weiteren Sinn müßte er untersuchen, welche Auswirkungen Medien auf die Gestaltung des Alltags und des Tagesablaufs besitzen. Die Frage ist allerdings, ob Medien tatsächlich und im Vergleich zu anderen Lebensbereichen eine biographische Relevanz besitzen, die einen medienbiographischen Ansatz als eigenständigen theoretischen Ansatz rechtfertigen. Rhythmen und Strukturen des Lebenslaufs als Ganzem werden wohl nicht so stark durch Medien bestimmt wie z.B. durch die Lebensphasen Ausbildung, Berufsarbeit und Pensionierung, durch persönliche Ereignisse wie schwere Krankheiten, Heirat, Kinder etc. oder durch überindividuelle Ereignisse wie Kriege oder Wirtschaftskrisen. Medien nehmen jedoch einen bedeutsamen Anteil an der Strukturierung mikrobiographischer Abläufe, so daß eine auf Medien fokussierte biographische Methode für die Rekonstruktion der medienbiographischen Alltagsabläufe angemessen erscheint. Aus den vorliegenden Zahlen der Mediennutzung und des Medienbesitzes bestimmter Altersgruppen kann dies bislang nur bruchstückhaft abgelesen werden. Solche Zahlen sagen wenig aus über die Strukturierung von Biographien und Alltagsverläufen durch Medien. Eine methodisch qualitativ vorgehende biographisch orientierte Medienforschung kann möglicherweise in dieser Frage zu mehr Erkenntnissen führen und zeigen, in welchem Zusammenhang Medien mit der Struktur des Alltag sund der Lebensgeschichte stehen und wie dieser Zusammenhang von den Individuen subjektiv gesehen und bewertet wird. Kritisch ließe sich gegen den Etablierungsversuch einer theoretisch eigenständigen medienbiographischen Methode — die über die bloße Auswertung biographischer Dokumente in der Medienforschung hinausweist — einwenden, daß weder vom Inhalt noch von der Methode her bei der qualitativen Medienbiographie— und Alltagsforschung irgend etwas neu und originär medienbiographisch ist, es sich also lediglich um die Spezifikation bestimmter Methoden und wissenschaftstheoretischer Positionen für ein bestimmtes Gegenstandsgebiet handelt. Nur unter der möglicherweise fragwürdigen Annahme einer von der Gesamtbiographie abzuhebenden eigenständigen Medienbiographie erscheint eine solche Übertragung jedoch gerechtfertigt. Medien, die unseren Alltag gliedern und aus ihm nicht mehr wegzudenken sind, die ihn übersichtlich, vielleicht sogar erträglich machen, sind ja längst zu seinem unablösbaren Bestandteil geworden und kommen keinesfalls additiv hinzu. Kann es also eine Biographieforschung geben,

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die nicht auch Medienforschung ist, und eine biographische Medienforschung, die nicht immer schon Alltags— und Biographieforschung ist? Der biographische Ansatz versteht sich als ganzheitlicher Ansatz, d.h. er erhebt den Anspruch, die seit Descartes vorherrschende wissenschaftstypische Zerstükkelung von Wirklichkeit wenigstens ein Stück weit zu vermeiden. Er soll einen methodischen Zugang zum sozialen Leben ermöglichen, der nicht reduktionistisch ist, die Eigenperspektive der handelnden Subjekte thematisiert und die historische Dimension berücksichtigt. Die biographische Medienforschung wendet dies in unterschiedlichen disziplinaren Abschattungen auf die Frage nach der medienbedingten Konstitution des Alltags und der Lebensgeschichte.

Mediale Aspekte biographischer Entwürfe Daß Biographien heute derart viel Aufmerksamkeit zuteil wird, der Biographiebegriff sogar an die Stelle des in den 70er Jahren inflationär verwendeten Identitätsbegriffs getreten zu sein scheint, hängt mit gesellschaftlichen Veränderungen zusammen. Die Zunahme an entscheidungsfahigen und entscheidungsnotwendigen Orientierungs — und Handlungsalternativen bedingt eine verstärkte Notwendigkeit zur Selbstthematisierung im Hinblick auf die eigene Lebensplanung, die etwa von Fuchs als "Biographisierung" (Fuchs, 1983, S. 366) der Lebensführung bezeichnet wird. In historischer Perspektive spricht Kohli von einer — erst in den letzten Jahrzehnten aufbrechenden — "Institutionalisierung des Lebenslaufs" (Kohli, 1985). Dabei verweist er auf Prozesse der Verzeitlichung, der Chronologisierung, der Individualisierung, der Organisation des Normallebenslaufs um das Erwerbsleben sowie der biographischen Perspektivität (Kohli, 1985, S. 2ff; Fischer/Kohli, 1987, S. 41). Zumindest für die Arbeiterklasse und insgesamt für Frauen trifft diese Beschreibung weniger zu. Der wesentliche Punkt ist jedoch, daß sich heute tiefgreifende Veränderungen vom oben beschriebenen Normalentwurf eines Lebenslaufs im Sinne von Destandardisierungen und Dechronologisierungen abzeichnen. Dies läßt sich an Veränderungen familialen Verhaltens ebenso ablesen wie an Verschiebungen im Berufsbereich oder der Aufweichung strikter Altersnormen (vgl. Kohli, 1985, S. 22ff.; Fischer/Kohli, 1987, S. 42). Diese übergreifenden sozialen Prozesse finden ihren Niederschlag auch auf der Ebene des medienbezogenen Handelns. Medien sind immer schon Lieferanten biographischer Entwürfe gewesen. Kinder und Jugendliche bedienen sich u.a. auch der Symbole und Handlungsmuster der Medienangebote, um aus ihnen das Material für ihre Weltentwürfe und Identitätskonstruktionen zu übernehmen (vgl. Baacke, 1979; 1983). Wenn nun klassen- oder subkulturell tradierte Deutungsschemata, mit deren Hilfe identitätssichernde biographische Entscheidungen in

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relativem Einklang mit kollektiv geteilten Vorstellungen vom 'richtigen' und 'guten' Leben in der Hitze des gesellschaftlichen Rationalisierungsprozesses 'verdampfen', wird der Aufbau konventioneller Rollenidentitäten immer prekärer, da Rollen beliebig austauschbar erscheinen. Dem neuen, ichzentrierten Weltbild entspricht die selbst — reflexiv gewordene Biographie, für die die Suche nach Selbstvergewisserung und Selbsterfüllung insgesamt einen größeren, prekären Stellenwert gewinnt. Die unter diesen Bedingungen von 'Individualisierung' (vgl. Beck, 1984, 1986; Sander, 1987; Vollbrecht, 1988) erschwerten Ich — Findungsprozesse werden von den Medien, die einerseits den Prozeß der Ichstabilisierung vorantreiben, andererseits auch gestützt. Sie füllen die Leerräume, die die zerfallenden Weltbilder und Deutungsmuster hinterlassen, mit ihren Sinnangeboten auf. Bis in die letzten Nischen der Gesellschaft transportieren sie ihre sich gegenseitig nivellierenden Botschaften und bieten die unterschiedlichsten Orientierungsmuster und eine Fülle von Handlungsfolien auf dem Jahrmarkt der Möglichkeiten feil. In diesem Sinn wirken sie vereinzelnd und zugleich standardisierend. Sie lösen den Menschen aus traditional geprägten Kommunikations — , Erfahrungs— und Lebenszusammenhängen heraus und bringen neue (individualisierte) Formen hervor. Ein Beispiel dafür ist die 'Fernsehfamilie', die durch den zunehmenden Mehrfachbesitz von Fernsehgeräten tendenziell in Auflösung begriffen ist. Die Medien liefern dem — in einer Zeit (scheinbar) 'beliebig' gewordener Normal—Lebensläufe — bedrohten Ich reichhaltige Materialien für eine eigene Weltkonstruktion und helfen ihm so, "sich zu behaupten: Indem es vorhandene Weltbestände und eigene Vorstellungen und Entwürfe sich aneinander reiben läßt" (Baacke, 1983, S. 469). Das setzt allerdings aktive Aneignungsprozesse voraus. Für einzelne Problemgruppen — etwa Vielseher — bleibt dagegen fraglich, ob der Bildschirm nicht in erster Linie als "Bild—Schirm wider die Regenschauer einer wetterwendischen Wirklichkeit", als "Realitätspräservativ zur Verhinderung von Lebenszwischenfallen" (Guggenberger, 1986, S. 7) fungiert. Niemand kann wohl ernsthaft behaupten, daß wir all den kurzlebigen Informationsmüll, den wir täglich aufnehmen, tatsächlich brauchen, und die ständig wechselnden Vorgaben für ein 'richtiges' und 'gutes' Leben in ein stabiles Identitätskonzept überführen können. Letztendlich läßt sich vermuten, daß die meisten Medien die Heranwachsenden bei ihren Ich —Findungsprozessen weitgehend allein lassen (vgl. dagegen zur Funktion von Rock— und Popmusik für die biographische Selbstvergewisserung: Vollbrecht, 1988). Das im Jugendalter besonders ausgeprägte Bedürfnis nach nicht—medialen Kontakten und Aktivitäten (vgl. Bonfadelli et al., 1986, S. 131) deutet darauf hin.

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Während Medien also einerseits Materialien zur 'Ich—Findung' (Baacke, 1979) und 'Weltkonstruktion' (Baacke, 1983) liefern, verstärken sie andererseits bestehende Orientierungs — und Entscheidungsdilemmata. In Orientierungsdilemmata führen sie, da keine der medial allzeit präsenten moralischen und weltanschaulichen Konkurrenzen und der Vielzahl von Sinndeutungsangeboten absolute Gültigkeit beanspruchen kann, ohne auf gleichfalls präsenten Widerstand zu stoßen; in Entscheidungsdilemmata, da angesichts beschränkter (Lebens—) Zeit, im Vergleich zum Angebot immer knapper (Geld—) Mittel, der begrenzten Möglichkeit, eine Vielzahl von Beziehungen aufzunehmen etc., sich die Freiheit, entscheiden zu können, auch als Zwang zur Entscheidung auswirkt, zu der man dann auch stehen muß. Sich festzulegen wird zum tendenziell unkalkulierbaren Risiko, die "Angst vor dem Fixen wird zur fixen Idee" (Guggenberger, 1986, S. 16). Da die biographisch nicht wahrgenommenen Möglichkeiten als (vergebene) Möglichkeiten bewußt bleiben, entstehen im Taumel des auch medial erzeugten Beliebigen Dauergefühle des Zukurzgekommenseins, die aus der Vermutung resultieren, daß es anderswo — um bei den Medien oder gezielt der neuen Spezies der zwischen den Fernsehprogrammen hin — und her wechselnden 'Teleflaneure' zu bleiben: auf dem anderen Fernsehkanal — doch besser sein könnte. Damit ändert sich, wie schon oben angedeutet, in historischen Zeiträumen auch die Art der Biographiekonstruktion. Baacke (1986) unterscheidet in einer Analyse autobiographischer Texte verschiedene Formen von Ich—Konstruktionen, die sich historisch abgelöst haben. Da ist zunächst das 'Repräsentanz—Ich', bei dem die Ich—Konstruktion nach dem ästhetischen Prinzip von Geschlossenheit, Überschaubarkeit und Ganzheit erfolgt. Das Text —Ich repräsentiert das wirkliche Ich in seiner öffentlichen wie privaten Konsistenz. Ein Beispiel dafür ist Sokrates in der Rekonstruktion seines Schülers Piaton, der unabhängig von Situation und Umständen nur auf die innere Stimme seines Daimonion hört, und sein Ich flüssig, bruchlos und ohne Widersprüche von ihm aus konstituiert. Mit der psychologischen Modernisierung des Ich kann sich jedoch niemand mehr als geschlossene Figur, in Gedanken und Taten rechtschaffen und übereinstimmend darstellen. Seit den 'Confessiones' Augustins und dem Einbruch der Zeitlichkeit in die biographische Rekonstruktion kommt es weniger auf die Repräsentanz an, als auf die Darstellung eines 'Persönlichen Ich' mit all seinen Konflikten, Widersprüchen und Wandlungen. "Das verweltlichte Ich folgt keinem Schematismus der Vollkommenheit mehr: Es ist das 'Persönliche Ich', das sich anderen Personen darstellt und von ihnen in seiner Besonderheit anerkannt werden soll." (Baacke, 1986, S. 354). Spannungen, Widersprüche und Veränderungen sind jetzt konstitutiv, gerade sie machen den bildenden Gehalt des Text—Ich aus.

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Eine Zuspitzung stellt das 'Recherche—Ich' dar, bei dem es nicht mehr um die Person und ihre Auffindbarkeit geht — diese wird vielmehr zum Problem. Das fragmentarische Ich muß wie in einem Puzzle rekonstruiert werden. Diese moderne Form textlicher Ich—Konstruktion, bei der das Ich nicht mehr vorab gegeben ist, in welcher verletzlichen Gestalt auch immer, besteht aus einer Suchbewegung, in der das Ich sich entziffern und ausformulieren muß, die aber keineswegs bei Erreichen eines bestimmten Alters abgeschlossen ist. Die Vergesellschaftung unserer Lebensformen führt nun auch dazu, daß es — zumindest als Konstrukt der Sozialwissenschaften — ein 'Durchschnitts—Ich' (die Normalbiographie) gibt, in dem die Seiten unserer Existenz betont werden, die wir mit anderen gemeinsam haben. In diesen 'Normalbiographien' werden freilich die Momente des Ich zugedeckt oder methodisch übersehen, die das Ich subjektiv als einmalig und unverwechselbar erlebt und die es auch sind. Die heute wichtigste Form ist dagegen das 'Zufalls—Ich', in dem wir uns vor unserer Lebensgeschichte als 'Referenzsubjekt', aber nicht 'Handlungssubjekt' (Lübbe) verstehen können. Während das 'Recherche —Ich' sich bereits Festlegungen entzieht und aufgespürt werden muß, beharrt das 'Zufalls —Ich' darauf, daß durch die Recherche nur eine Anhäufung von Zufallen gewonnen wird, aus denen das Ich sich konstituiert. Wie ich geworden bin, was ich möchte — ist zwar erklärbar, dies macht aber nicht die gesamte Lebensgeschichte aus. Die biographische Konstruktion erscheint als Kunstgriff oberflächlicher Sinnkonstituierung, wohingegen das Ich selbst dies nur noch als Spiel, als Versuch, als "Identitäts —Umspielungen " (Baacke, 1986, S. 364) inszeniert. Das ist es, was Baacke mit 'Zufall' umschreibt: Nicht die Unverantwortlichkeit für sich selbst, sondern die Nötigung, für sich einzustehen und andere Instanzen nur als Hilfskonstruktionen benutzen zu können, während immer neue Definitionsentwürfe des Ich ausprobiert werden. Die ästhetische Dimension der Ich—Konstruktion bleibt aber unverbindlich, wenn sie sich auf kein Milieu mehr berufen kann, auf dem ihre Konstruktion aufruht. Gerade in einer mediatisierten Welt bleibt die Ich—Konstruktion gebunden an das, was man altmodisch 'Heimat' nennt, das heißt einen verläßlichen lebensweltlichen Hintergrund, der die Erfahrung von Nähe, von Freundschaft und Vertrautheit sichert.

Die biographische Relevanz medienvermittelter Erfahrungen Während wir also einerseits festhalten konnten, daß Medien an den gesellschaftlichen Prozessen der 'Individualisierung' und 'Biographisierung' von Lebensläufen zumindest in Verstärkerfunktion beteiligt sind, sehen wir keine großen Chancen dafür, die für medienbiographische Forschung (im weiteren Sinn) zentrale Frage, ob es überhaupt spezifisch medienbezogene Konstituenten der

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Lebensgeschichte gibt, zu bejahen. Dies hängt auch mit der unterschiedlichen Bedeutung eigener versus medienvermittelter Erfahrungen zusammen. Die Sozial— oder Alltagswelt, verstanden als die dem einzelnen theoretisch vorgegebene, bereits geordnete und sich ihm entgegenstellende Wirklichkeit besitzt eine zeitliche Dimension, die 'soziale Zeit' mit dem Korrelat 'Geschichte'. Davon zu unterscheiden ist aus der Sicht des Individuums die Temporalebene der 'Lebenszeit' mit ihrem Korrelat 'Lebensgeschichte'. Diese beiden Zeitebenen werden in der individuellen Biographie aufeinander bezogen, indem sozial vorgegebene Schemata variiert oder realisiert werden. Die sich in geschichtlicher Dimension verändernde Alltagswelt stellt dabei einerseits einen vorgeordneten Erfahrungsraum dar, enthält andererseits aber auslegungsbedürftige 'Leerstellen', die vor dem Hintergrund eines durchgeformten Sinnzusammenhangs ausgefüllt werden müssen. "Der für einzelne konkrete Erfahrungsraum der Alltagswelt ist also gleichzeitig bestimmt und unbestimmt, 'voll' und 'leer', strukturiert und diffus, konsistent und kontingent" (Fischer/Kohli, 1987, S. 29). Der einzelne muß sich entscheidend orientieren, indem er sein Leben innerhalb des prinzipiell offenen biographischen Horizontes auslegt. Dabei ist er verwiesen auf 'Erfahrung', mit ihrem 'doppelten Zeithorizont' der Vergangenheit und Zukunft. Auf der Grundlage vergangener Handlungs— und Wahrnehmungssituationen vermittelt die Erfahrung den Erwartungshorizont künftiger Orientierungen. Von besonderer Bedeutung ist die eigene Erfahrung, die man nicht einfach durch Hörensagen, als abstraktes Wissen oder durch Medien vermittelt bekommt, sondern selber biographisch realisiert hat. Dies sollte aber nicht als Unmittelbarkeit der Erfahrung mißverstanden werden. Erfahrung ist immer interpretierte Erfahrung auf der Grundlage bereits vorhandener Erfahrungstypen. Die Privilegierung eigener Erfahrung gegenüber bloß vermittelten Erfahrungen ist Fischer/Kohli zufolge darin begründet, "daß sie aktor— und situationsspezifische Transformationen von bereits etablierten Erfahrungsstrukturen erlaubt, und wenn es zu einer bloßen Reproduktion der vorgängigen Struktur kommt, diese eine stärkere Evidenz gewinnt." (Fischer/Kohli, 1987, S. 32). 'Erfahrung' führt entweder dazu, daß die immer 'bis auf weiteres gültigen' vorgegebenen biographischen Muster als implizites Wissen weiterhin genutzt werden oder aber sich auflösen und durch neue Orientierungsmuster ersetzt werden. Diesen Prozeß umstandslos auf Medienerfahrungen zu übertragen, käme einer Neuauflage der bekannten 'Allmachtsthese' der Medienwirkungsforschung gleich. Zwar werden auch im Umgang mit Medien bestehende Konzepte überprüft, lebenszeitlich frühe Präferenzen oder Genrevorlieben nicht einfach mit späteren kumuliert, sondern frühe Eindrücke prägen lebenszeitlich spätere Aneignungs— und Nutzungsstile. Bereits in relativ frühem Alter werden anscheinend Konzepte darüber erworben, wie mediale Angebote auszusehen haben. Dies schlägt sich in Medienwissen und Medienkompetenz der Nutzer nieder.

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Medien als relevante Bestandteile des Alltags müssen daher (auch) aus der Perspektive des Nutzers verstanden und analysiert werden. In den Umgang mit Medien geht dabei immer schon das bisherige Wissen mit ein. Medienhandeln ist das Ergebnis eines langwierigen Sozialisationsprozesses, der auch seinen biographischen Niederschlag findet. Mediennutzer gehen nie mit dem gesamten Spektrum des Medienangebots um, sondern wählen vor dem Hintergrund ihrer lebensgeschichtlichen Situation das subjektiv bedeutsame Angebot aus. Diese Relevanz subjektiver Medienwirklichkeiten zeigt sich in dem teils eigenwilligen Mediengebrauch, der in der Umdeutung von Medieninhalten nach Maßgabe der eigenen lebensweltlichen Konzepte besteht. Mediennutzung ist also immer gebunden an die konkrete Situation, die nicht nur durch Inhalt und Form eines Mediums bestirnt ist, sondern auch durch die Realisierung momentaner Bedürfnisse und Befindlichkeiten und die Rahmenbedingungen der Nutzung, das sozialökologische Setting. Die Interpretationsleistungen des einzelnen bleiben jedoch wesentlicher Bezugspunkt, denn erst die subjektive Deutung läßt für den Rezipienten Medien im Alltag relevant werden. Erst sein Handeln weist den Medienangeboten einen subjektiven Sinn zu und verleiht ihnen individuelle Bedeutung. Ob Medienhandeln sich aber nur vor der "Folie der Lebensgeschichte " (Rogge, 1982, S. 276) verstehen läßt, darf bezweifelt werden. Der Grad der biographischen Sedimentierung des Medienwissens ist gegenüber der der eigenen Erfahrung viel geringer — hier wäre Medienbiographieforschung bringepflichtig. In 'Medienbiographien' werden jedoch häufig lediglich Medienrituale, Genrevorlieben und Medienpräferenzen wiedergegeben. Noch schwieriger dürfte es sein, das ja häufig nur kurzfristige Interesse an bestimmten Medien lebensgeschichtlich rückzubeziehen. Damit soll nicht geleugnet werden, dafl auch im Bereich der Mediennutzung biographisch prägende Erfahrungen gemacht werden können. Forschungspraktisch kommt ihnen innerhalb der Biographieforschung jedoch keine Sonderstellung zu, die eine eigenständige Medienbiographieforschung rechtfertigen würde, da z.B. die in einer Familie etablierten und möglicherweise biographisch prägenden medienbezogenen Handlungskonzepte nicht ohne Rückbezug auf die Bedeutungen, die dem (konkurrierenden?) Gespräch und der Kommunikation innerhalb der Familie zugewiesen wird, deutbar sind. Biographische Medienforschung krankt an dem Problem, daß Medien, die im realen Lebens Vollzug allgegenwärtig sind, in biographischer Rekonstruktion nur eine marginale, wenig bewußte und wenig erinnerliche Rolle spielen. Zwar existiert ein implizites Wissen über bestimmte Medien und Programme sowie Genres, das im allgemeinen jedoch ebensowenig wie medienbedingte Veränderungen der Freizeitgewohnheiten und der Zeitstrukturen wahrgenommen wird. Gerade die Selbst-

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Verständlichkeit der Mediennutzung verhindert, daß die langfristigen Veränderungen des Alltags durch elektronische Massenmedien wahrgenommen und reflektiert werden. Im Kontext von Medienerfahrungen gibt es selten biographische Brüche, die der Erinnerung direkt zugänglich sind. Während solche Umstrukturierungen auf Medien bezogener Wissens — und Handlungskonzepte meist explizit gewußt werden und damit dem Forscher zugänglich sind, muß das reproduktiv bestätigte implizite Wissen erschlossen werden. Dies scheint kaum möglich, ohne die Medienbiographie auf die gesamte Lebensgeschichte auszudehnen. Für die Nutzung von Medien im Alltag wesentlich ist ihre Einbindung in spezifische, biographische Zeitstrukturen. Die von Fischer getroffene Unterscheidung der linearen Zeitstrukturen 'soziale Zeit' und 'Lebenszeit' bedarf der Ergänzung um die mit einer zyklischen Struktur versehene 'Alltagszeit' (vgl. für die Jugendforschung auch Sander/Vollbrecht 1985), in der Medienhandeln vor allem stattfindet. Alltagszeit ist die Zeit kontinuierlicher alltäglicher Gegenwart, in ihr "scheint in täglich wiederkehrenden Routinen die Zeit stillzustehen, da gibt es Erinnerungen und Erwartungen, die beide der Zeit nicht standhalten" (Fischer, 1982, S. 5). Gegenstände alltagszeitlichen Denkens besitzen den Zeitcharakter andauernder Gleichförmigkeit und ständiger Wiederkehr, es sind routinisierte Vorgänge, deren lebenspraktische Relevanz eher in ihrer Existenz als in ihrer zeitlichen Verortbarkeit liegt. Der tägliche Fernseh— oder Musikkonsum sind paradigmatische Beispiele, während z.B. ein Kinobesuch als besonderes Ereignis aus der Alltagszeit herausgehoben sein kann. "Versucht man die temporale Situierung einer solchen Routine in einem Vergangenheits — Zukunftskontext, fragt man also nach der Zeitperspektive in der Alltagszeit, bezieht sich ein bestimmter Erfahrungsinhalt auf eine bestimmte Handlung auf die gleichen Größen tags zuvor oder tags darauf (die exakten Maße mögen variieren in Dimensionen von Stunden bis zu Monaten), die iterativ in eine weitere Vergangenheit und fernere Zukunft fortgesetzt werden können. Die Frage nach der Zeitperspektive bringt also kein neues Element in die alltagszeitliche Dauer und zyklische Sukzession." (Fischer, 1982, S. 9). Es ist der 'zyklische' (Rammstedt, 1975) und 'iterative' (Fischer, 1983, S. 441ff) Charakter des Alltagsbewußtseins von Zeit, der die Alltagszeit als grundsätzliche Gegenwart qualitativ von der Lebenszeit — mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft — unterscheidet. Alles, was kommen wird, ist prinzipiell bekannt und erwartbar, da es schon einmal dagewesen ist. Die Unterscheidung aktueller Zustände von einer abgeschlossenen Vergangenheit und einer qualitativ neuen Zukunft ist unnötig, da Veränderungen "beim zyklischen Zeitbewußtsein auf Bewegungsgesetzmäßigkeiten zurückgeführt (werden), die mit der Unterscheidung von Jetzt und Nicht — Jetzt nicht mehr zu fassen sind; zwischen beiden besteht nun eine bedingende Beziehung, das Vorher/Nachher" (Rammstedt, 1975, S. 52). Diese Orientierung

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an der alltäglichen Gesetzmäßigkeit der Zyklik, an den routinisierten Handlungen, die ständig wiederkehren, macht Vergangenheits — und Zukunftsperspektiven als lineare Situierung überflüssig. Alltagszeitliches Denken läßt sich insbesondere für die 'alltägliche' Mediennutzung feststellen, die eine 'ausgedehnte Gegenwart' als temporale Ordnung hat, nicht eine lineare Zeitstrecke. Die Alltagszeit wechselt in Lebenszeit über, wenn sich das Zeitbewußtsein außergewöhnlichen Ereignissen zuwendet, die den Alltag entroutinisieren. Wenn nämlich die 'Kontinuitätsidealisierung' — die Annahme der zeitlichen Gleichförmigkeit des Alltags — aufgehoben wird durch bestimmte unerwartete und außergewöhnliche Ereignisse, so geraten diese Ereignisse — etwa der erste Kino— oder Discobesuch, die Anschaffung einer neuen Medientechnologie — in den Fokus besonderer Aufmerksamkeit und erlangen in der Regel biographische Bedeutung. Die Mediennutzung ist jedoch überwiegend der zyklischen Struktur der 'Alltagszeit' zuzuordnen, die sich der biographischen Aufschichtung entzieht. Zyklische Zeitkonzepte sind bislang in der Medienforschung jedoch zu wenig berücksichtigt worden, obwohl gerade diese mikrobiographischen Bereiche den besten Ertrag versprechen.

Medien als Träger biographischer Zeugnisse Wenn wir an biographische Dokumente denken, assoziieren wir zunächst Texte, vornehmlich schriftliche Ausfertigungen von Lebensgeschichten. Aber auch andere Medien als Bücher und Texte sind Träger biographischer Zeugnisse. Auf Fotos werden von Kindheit an viele Stationen unseres Lebens, nicht zuletzt dank der Fotographierwut von Eltern, festgehalten. Dies beginnt mit Bildern des Neugeborenen im Krankenhaus, setzt sich über die Baby— und Kleinkinderfotos fort, schließlich die Bilder mit Familie, mit Freunden und Freundinnen, Spielkameraden, bis hin zu den ersten selbstgeschossenen Fotos. Philippe Ariös verweist schon in seiner "Geschichte der Kindheit" (Aries, 1977, S.92ff) auf die biographie— und familiengeschichtskonstituierende Funktion von Bildern und stellt die im 17. Jahrhundert einsetzende Mode der Portraitmalerei und der Familienbilder in eine Tradition bis hin zu den heutigen Familienfotoalben. In Portraits, Bildern und Fotos wird das Flüchtige des Moments festgehalten und zu "Geschichten" zusammengestellt; die Zufalle der Lebensgeschichte werden objektiviert und bilden eine Gestalt. Freilich sind es meist besondere, aus dem Alltag herausgehobene Situationen, die dargestellt werden, weniger der Alltag selbst. Es sind Geburtstagsfeste oder Familienfeiern, Weihnachten oder Urlaubssituationen, der erste Schultag und die Abschlußklasse, Bilder von Klassenfahrten, für Jungen vielleicht vom Militärdienst, die Heirat, Feten oder auch sportliche Ereignisse, an denen man teilgenommen hat. Eventuell besitzt man sogar

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noch Passbilder, deren Aussagewert freilich zweifelhaft ist, da wir uns ja meist Sorgen zu machen beginnen, wenn wir ihnen ähnlich werden. Auch über unsere Umgebung sagen diese Bilder einiges aus: die Personen, mit denen wir jeweils zusammen sind, die Veränderungen in der Wohnung und in der näheren oder weiteren Umgebung sind festgehalten, ebenso die Veränderungen des eigenen Zimmers mit ihren jeweiligen Arrangements, bestimmte Neuanschaffungen, auch die allmählich zunehmende Ausrüstung mit Medien. Diese Fotodokumentationen, die versteckt in unseren Fotoalben auf ihre Entdeckung und Entschlüsselung warten, werden neuerdings ergänzt durch selbstgedrehte Videofilme, früher in geringerem Ausmaß durch Schmalfilme und Super—8. Hier überwiegt jedoch insgesamt der Charakter der Inszenierung gegenüber dem immer noch vorhandenen dokumentarischen Wert. Ein anderes Beispiel ist das Tagebuch, eine vertexüichte Form von Biographie, die im Unterschied zur Autobiographie nicht aus einem Guß, sondern von der jeweils aktuellen Gegenwartsschwelle aus (und mit anderen Intentionen und Stilmitteln) geschrieben ist. Es sind besonders die Mädchen, die heute Tagebücher schreiben, während Jungen dies weit seltener tun und dann häufig in der Form von Notizkalendereintragungen verfahren. Tagebücher zeichnen die Biographie gewissermaßen im 'status nascendi' unter weitgehendem Ausschluß von Reinterpretationen, wie sie durch den größeren zeitlichen Abstand bei Autobiographien ebenso wie beim biographischen Interview anzutreffen sind. Zudem wenden sich Tagebücher in der Regel nicht an ein Publikum oder einen Zuhörer, sondern dienen der eigenen Selbstvergewisserung. Beide Gründe — die Zeitperspektive und die Selbstadressierung — sprechen für die Authentizität von Tagebüchern als biographische Zeugnisse. Tagebücher ergänzen (die ihrerseits ebenfalls sehr authentischen) Fotos in idealer Weise, denn in ihnen wird die Gefühlsgeschichte nachvollzogen, während wir auf den Fotos die äußerlichen Facts vorfinden können. Das Bild vom Freund oder der Freundin wird gleichsam lebendig durch die im Tagebuch festgehaltene Geschichte der Beziehung. Neben der Authentizität ist allerdings auf den hohen Grad an Selektivität hinzuweisen. Was wir aus Tagebüchern erfahren, ist nicht die umfassende Biographie, sondern es sind diejenigen biographischen Stränge, die zum jeweiligen Zeitpunkt subjektiv hochbedeutsam erschienen. Weitere Selektionen könnten darin bestehen, daß — in Einschränkung des oben Gesagten — z.B. befürchtet wurde, daß das Tagebuch doch unbefugte Leser (z.B. die Eltern) findet, so daß längst nicht alles Wesentliche niedergeschrieben, sondern zwischen den Zeilen verborgen wurde. Neben diesen selbstproduzierten Medien besitzen wir andere, die auf unsere Mediensozialisation verweisen. Wenn wir zu den 'Bibliophilen' gehören, besit-

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zen wir vielleicht noch alte Bilderbücher, unsere Kinderbücher in Schreibschrift, die Märchenbücher, aus denen uns vorgelesen wurde, Jugendbücher, Comics, Abenteuer— und Kriminalromane, erotische Literatur, Liebesromane etc., die zu ganz bestimmten Zeiten der Biographie gelesen oder immer wieder hervorgeholt wurden. In unseren Schränken stehen noch einige Schulbücher, Sachbücher für aktuelle und längst wieder abgelegte Interessengebiete und natürlich die geschenkt bekommenen Bücher, die jenseits unserer Interessen lagen und noch knistern, wenn man sie aufschlägt. Die für den schnellebigeren Konsum bestimmten Zeitschriften und Zeitungen besitzen wir wohl nur noch in Ausnahmefallen. Ebenso ist es mit den Manifestationen unserer Fernseh— oder Kinoerfahrungen. Zeugnisse hiervon besitzen wir nur in seltenen Fällen, die sich der Integration von Vermarktungsstrategien verdanken — vielleicht kauften wir das Buch zum Film oder das Buch zum Film zum Buch, vielleicht besitzen wir noch Filmfiguren als Poster, als Puppen oder abgebildet auf T — Shirts, Stickern oder Radiergummis, eventuell auch die Filmmusik auf einer Platte. Ahnlich wie bei den Büchern ist es auch bei Platten, Musikcassetten, früher dem Tonband, heute eher den Compact —Discs. Unsere jeweiligen Interessen und Vorlieben spiegeln die Märchen— und Erzählplatten/—Cassetten, die im Laufe unseres Lebens jeweils aktuellen Schlager — , Rock— und Pop— oder auch Klassikplatten, die bei Verfestigungen des Musikgeschmacks nicht mehr den ausgetretenen Wegen des jeweils 'angesagten' main —streams folgen und die Flexibilität während der Jugend zu verlieren scheinen. Eventuell besitzen wir auch eigene Aufnahmen auf Cassette oder Tonband, haben selber Hörspiele aufgenommen oder Live —Musik, zumindest aber Radiomusiksendungen mitgeschnitten. Auch hier ist wieder die Einschränkung zu machen, daß wir von unseren Radioerfahrungen insgesamt nur wenig dokumentarisch nachvollziehen können. Hier liegen Materialien allenfalls in Form von Musikmitschnitten vor, die nur einen Bruchteil unseres Radiokonsums repräsentieren. Wenngleich also weite Bereich der Mediennutzung — über die bislang genannten hinaus gilt dies beispielsweise für die für viele Jugendliche äußerst wichtigen Discothekenerfahrungen — in solchen Manifestationen gar nicht aufscheinen, läßt sich doch für Teilbereiche unserer Medienerfahrungen annehmen, daß unsere Medienbiographien in weiten Bereichen aufgezeichnet in unseren Schränken liegen, und wir die jeweiligen Dokumente nur ans Licht und zum Sprechen bringen müssen. Diese medialen Dokumente sind Hilfsmittel zur Rekonstruktion von Biographien/Medienbiographien, wobei schon ein einziges Foto zum Kristallisationskern einer ganzen Geschichte werden kann. Würden wir sämtliche der oben genannten Dokumente (noch) besitzen, wir würden erkennen, daß unsere

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Medienbiographie wie das Atelier eines Künstlers ist — voller angefangener Entwürfe. Freilich: zur wissenschaftlichen Rekonstruktion dieser Entwürfe ebenso wie der durchgehaltenen Linien benötigen wir mehr als diese Dokumente. Wir bleiben angewiesen auf biographische Interviews, die die verbliebenen Leerstellen füllen, vor allem aber das Kontextwissen bereitstellen, durch das ein Text — , Ton— oder Bilddokument erst verstehbar wird. Erst im Kontext des Gesamtentwurfs einer Biographie lassen sich einzelne Stränge, läßt sich die Medienbiographie als Ganze sinnvoll interpretieren. Biographische Interviews können also eine Zuträgerrolle für die Medienforschung darstellen. Dabei kann deutlich werden, wie bestimmte biographische Erfahrungen in das jeweilige Medienhandeln einfließen. Die Ursachen und Gründe bestimmter Mediennutzungen können im biographischen Zusammenhang — bezogen auf die Sicht des Rezipienten, aber nicht unbedingt auf sie beschränkt, entschlüsselt werden. Eine Schwierigkeit ist dabei der geringe Grad an Reflexivität in puncto Medienhandeln. Die Alltäglichkeit der Mediennutzung, die sie als nicht weiter erwähnenswerte Gewohnheit erscheinen läßt, wird auch methodisch zum Problem. Im biographischen Interview ist ein gezieltes Insistieren notwendig, ohne das "die Medien in den Selbstdarstellungen und in den Beschreibungen des Freizeitverhaltens vermutlich kaum aufscheinen" (Luger, 1985, S. 275) würden. Wenn seine alltägliche Mediennutzung dem Befragten jedoch weitgehend nicht bewußt ist, nützt auch noch so heftiges Insistieren auf das Thema nichts. Dann muß es vielmehr darum gehen, möglichst viel biographisches Kontextwissen bereitzustellen, auf das der Interpret zur Stützung und Absicherung seiner Deutung zurückgreifen kann. Ein Jugendlicher kann vielleicht nicht angeben, warum er 'Vielseher' geworden ist, aber er kann Geschichten darüber erzählen, wie es dazu gekommen ist, welche Ereignis— und Gefühlsgeschichten er durchlaufen hat. Ein medienbiographisches Interview muß daher immer mehr sein, als nur ein med/enbiographisches Interview. Analog zum Konstrukt des Normallebenslaufs läßt sich die Frage stellen, ob es auch einen sogenannten 'NormalmedienlebenslauP gibt. Lassen sich mediale Fixpunkte benennen, die von mehr oder weniger allen Kindern und Jugendlichen gleichermaßen durchlaufen werden? Anders ausgedrückt: Gibt es lebenslaufspezifische Mediennutzungen? Nutzungsanalysen zeigen, daß etwa Fernsehen, Radio und Tageszeitungen von verschiedenen Alterskohorten unterschiedlich genutzt und favorisiert werden. So steht bei den 12— bis 13jährigen das Fernsehen an erster Stelle, während die 14 —bis 19jährigen die auditiven Medien Radio, Schallplatten oder Cassetten, die 25— bis 29jährigen die Tageszeitung favorisieren (vgl. Bonfadelli, 1986, S. 81ff; Berg/Kiefer 1987). Dabei ist freilich noch gar nichts über die Medieninhalte gesagt, die natürlich ebenfalls alterstypisch

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variieren. Über die Feststellung hinaus, daß bestimmte Altersgruppen bestimmte Medien oder Medieninhalte favorisieren, könnte medienbiographische Forschung aufzeigen, wie bestimmte altersspezifische Bedürfnisse und soziale Erwartungen sich in alterstypischen medialen Nutzungsmustern verdichten. Welche biographischen Nutzungsmuster liegen z.B. vor, wenn bestimmte Selektionen aus dem Medienangebot in alterstypischer Weise erfolgen? Bleibt abschließend die Frage, welche Stellung die biographische Methode innerhalb der Medienforschung einnimmt bzw. einnehmen könnte. Unserer Meinung nach ist der Medienforschung nicht gedient, eine eigenständige Medienbiographieforschung künstlich zu definieren und sie von der Biographieforschung als allgemeine und inzwischen etablierte Methode empirischer Sozialforschung abzusetzen. Wir haben ausgeführt, daß unter der Perspektive der Medien als integrale Bestandteile des Alltags und der Biographie jede Biographieforschung mediale Aspekte mitzuberücksichtigen hat. Werden Medien nicht als Fremdkörper oder Eindringlinge des sozialen Lebens interpretiert, dann sollten sowohl Alltags— als auch Biographieforschung nicht über eine Bindestrich — Methode die Medien ex post in eine Sonderstellung emporstemmen. Andererseits bieten die Methoden und Methodologien der Biographieforschung einer eingefahrenen Medienforschung vielfältige Anregungen und neue Perspektiven, über das Verhältnis Mensch — Medium neu nachzudenken und zu forschen. Wird das vorhandene innovative Potential der biographischen Methode als sozialwissenschaftliche Methode innerhalb der Medienforschung genutzt, anstatt methodologische Aktivitäten in der Konstitution einer Sub —Sub —Disziplin verebben zu lassen, könnte der Medienforschung der Ausweg aus einer jahrzehntelangen disziplinaren Erstarrung gelingen.

Literatur: Aries, Ph.: Geschichte der Kindheit. München/Wien 1977 Baacke, D.: Realitätserfahrung und Ich —Findung durch Erzählen im Fernsehen, in: Fernsehen und Bildung, 13, 1979, S. 222-240 Baacke, D.: Ich—Neugier und Weltkonstruktion, in: Merkur, H.4, 1983, S.468—473 Baacke, D.: Biographie: soziale Handlung, Textstruktur und Geschichten über Identität. Zur Diskussion in der sozialwissenschaftlichen und pädagogischen Biographieforschung sowie ein Beitrag zu ihrer Weiterführung, in: Baacke/ Schulze (Hg) 1985: Pädagogische Biographieforschung. Orientierungen, Probleme, Beispiele, S. 3 — 28

Medienautzung und Lebeosgeschichte

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Baacke, D.: Autobiographische Texte als Beitrag zur Ich—Konstitution, in: Neue Sammlung, 26. Jg., 1986, H.3, S. 3 5 0 - 3 6 7 Baacke, D./Schulze, Th. (Hg.): Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens. München 1979 Baacke, D./Schulze, Th. (Hg.): Pädagogische Biographieforschung. Weinheim/ Basel 1985 Berg, L./Kiefer, M.L. (Hg.): Massenkommunikation III. Eine Langzeitstudie zur Mediennutzung und Medienbewertung 1964 — 1985. Frankfurt M. 1987 Beck, U.: Jenseits von Stand und Klasse. Auf dem Weg in die individualisierte Arbeitnehmerschaft, in: Merkur, H.5, 1984, S. 485 - 497 Beck, U.: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt 1986 Bertaux, D. (Hg.): Biography and Society, Beverly Hills: Sage 1981 Bonfadelli, H. et ah: Jugend und Medien. Eine Studie im Auftrag der ARD/ ZDF — Medienkommission und der Bertelmsmann — Stiftung 1986 Fischer, W.: Die biographische Methode, in: Haft, H./Kordes, H. (Hg.): Methoden der Erziehungsforschung. Europäische Enzyklopädie der Erziehungswissenschaft, Bd.2, Stuttgart 1982, S. 3 6 - 7 8 Fischer, W.: Zeit und chronische Krankheit. Eine Untersuchung zur sozialen Konstitution von Zeitlichkeit, Darmstadt/Neuwied 1983 Fischer, W./Kohli, M. (Hg.): Biographieforschung, in: Voges, W. (Hg.): Methoden der Biographie— und Lebenslaufforschung, Opladen 1987, S. 25-49 Fuchs, W.: Jugendliche Statuspassage oder individualisierte Jugendbiographie?, in: Soziale Welt, 1983, 3, S. 341-371. Fuchs, W.: Biographische Forschung: Eine Einführung in Praxis und Methoden. Opladen 1984 Guggenberger, B.: "Liebt, was euch kaputtmacht!" Intimität und Identität — "postmoderne" Tendenzen in den Jugendkulturen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Okt. 1986, S. 3 - 2 0 Hickethier, K.: Medienbiographien — Bausteine für eine Rezeptionsgeschichte, in: medien und erziehung 26, 1982, H.4, S. 206—215 Kohli, M. (Hg): Soziologie des Lebenslaufs. Darmstadt 1978 Kohli, M.: Wie es zur 'biographischen Mehtode' kam und was daraus geworden ist, in: Zeitschrift für Soziologie 10, 1981, S. 2 7 3 - 2 9 3 Kohli, M.: Die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Historische Befunde und theoretische Argumente, in: KZfSS, 37. Jg., 1985, S. 1 - 2 9 Kohli, M./Robert, G. (Hg.): Biographie und soziale Wirklichkeit. Stuttgart 1984 Kübler, H.—D.: Medien und Lebensgeschichte. Medienbiographien — ein neuer Ansatz der Rezeptionsforschung? in: medien und erziehung, 26. Jg., 1982, S. 194-205

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Uwe Sander/Ralf Vollbrecht

Luger, K.: Medien im Jugendalltag: Wie gehen die Jugendlichen mit Medien um? Was machen die Medien mit den Jugendlichen? Wien/Köln/Graz 1985 Matthes, J./Pfeiffenberger, A./Stosberg, M. (Hg.): Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive. Nürnberg 1981 Rammstedt, O.: Alltagsbewußtsein von Zeit, in: KZfSS 27, 1975, S. 4 7 - 6 4 Rogge, J.—U.: Die biographische Methode in der Medienforschung, in: medien und erziehung, 26. Jg., 1982, S. 2 7 3 - 2 8 7 Rogge, J. — U.: "Die sehen bald nur noch fern!" Medienbiographische Betrachtungen, in: medien praktisch 4/85, S. 13 —18 Rust, Η.: Biographische Medienforschung: Ein Schritt auf dem Weg zur 'kontextuellen' Medienwissenschaft, in: Medien—Journal 3, 1984, S. 80 — 86 Sander, U.: Jugend und agrarständische Gemeinschaften. Wie entläßt die 'stille Revolution' ihre Kinder auf dem Lande? in: Zeitschrift für internationale erziehungswissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Forschung, Η. 1, 1987, S.103 —142 Sander, U./Vollbrecht, R.: Kinder und Jugendliche im Medienzeitalter. Opladen 1987 Sander, U./Vollbrecht, R.: Zur wissenschaftlichen Rekonstruktion jugendlichen Zeitbewußtseins. Eine Interpretation biographischer Selbstthematisierungen, in: Baacke, D./ Schulze, Th. (Hg.): Pädagogische Biographieforschung. Orientierungen, Probleme, Beispiele. Weinheim/Basel 1985, S. 141 — 171 Voges, W. (Hg.): Methoden der Biographie— und Lebenslaufforschung, Opladen 1987 Vollbrecht, R.: Die biographische Methode in der erziehungswissenschaftlichen Forschung, in: Zeitschrift für internationale erziehungs— und sozialwissenschaftliche Forschung, 3. Jg., 1986, H.l, S. 8 7 - 1 0 6 Vollbrecht, R.: Rock und Pop — Versuche der Wiederverzauberung von Welt. Individualisierungstendenzen im Medienkonsum und ihre Konsequenzen für Sinnstiftung und Identitätsbildung im Jugendalter, in: Radde, M./Sander, U./Vollbrecht, R. (Hg.): Medienalltag von Kindern und Jugendlichen, Weinheim/ München 1989, S. 7 2 - 9 3

Π.

Projekterträge und Fallstudien

Klaus Neumann/Michael Charlton

Strukturanalytische Rezeptionsforschung Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele

I.

Theorie

Das heutige Leben in einer industrialisierten Gesellschaft ist zunehmend auch vom wachsenden Vorhandensein alter und neuer Massenmedien in Freizeit und Beruf geprägt. Erwachsene wie Kinder sehen sich gleichermaßen vor die Aufgabe gestellt, mit diesen sich wandelnden Lebensbedingungen umgehen zu lernen. An einer Auseinandersetzung mit dem Angebot an Massenmedien kommt niemand vorbei. Heutige Kinder nutzen schon sehr früh, also bereits in ihren ersten Lebensjahren, zunehmend elektronische Medien, die ihnen auch selbst verfügbar sind. Viele haben eine eigene Sammlung von Tonbandcassetten und einen eigenen Cassettenrecorder. So können sie selbst bestimmen, wann sie welche Geschichte hören wollen und sind nicht mehr auf Eltern oder größere Geschwister angewiesen, die ihnen vorlesen müssen. Wie verarbeiten Kinder ihren Medienkonsum, wie setzen sie sich mit diesem auseinander? Inwiefern steht der kindliche Medienkonsum in einem Zusammenhang mit den alltäglichen Interaktionserfahrungen des Kindes in seiner Familie? Und welche Bedeutung gewinnen die Medien für die Entwicklung und Sozialisation heutiger Kinder? Um diese Fragen beantworten zu können, haben wir den Ansatz der strukturanalytischen Rezeptionsforschung entwickelt. Im Rahmen dieses Ansatzes werden Umfang, Art und situative Bedingungen und Folgen des Medienkonsums von 2— bis 7jährigen Kindern untersucht. Die Auseinandersetzung und Verarbeitung des Medienangebots durch Kinder wird auf dem Hintergrund der Prozesse der Lebensbewältigung in der Familie erforscht. Zwei Aspekte sind hierbei von besonderem Interesse: zum einen soll der Prozeß der sozialen Konstitution der Rezeptionshandlung aufgezeigt werden, zum anderen die Bedeutung des Mediengebrauchs für die Identitätsentwicklung des Kindes.

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Klaus Neumann/Michael Charlton

Den theoretischen Hintergrund dieses Ansatzes bildet der vorhandene Bestand an Konstitutions — und Kompetenztheorien, die in verschiedenen Wissenschaftsbereichen entwickelt wurden und die eine Begründung für eine strukturtheoretisch konzipierte Kommunikationstheorie, Sozialpsychologie und Sozialisationstheorie geben können (Genetische Erkenntnistheorie, Linguistische Pragmatik, Kognitive Entwicklungspsychologie, Psychoanalytische Tiefenpsychologie, Symbolischer Interaktionismus). Der Ansatz orientiert sich deutlich an der ausführlichen Diskussion der Theorie und Methode des Strukturalismus, der heute vor allem in den beiden Ansätzen des semiologischen Strukturalismus und genetischen Strukturalismus erörtert wird. Für den Bereich der Sozialisationstheorie liegen mit den Arbeiten von Oevermann (1976, 1979) und Geulen (1977) weiterführende programmatische Entwürfe für eine strukturtheoretische, konstruktivistische Sozialisationstheorie vor. Mit der Methode der Strukturanalyse ist ein brauchbares methodisches Instrumentarium vorhanden, um soziale Handlungen und Beziehungen in ihren Struktur— und Prozeßelementen transparent machen zu können. Auch die Entwicklung dieser Methode kann auf eine längere Tradition zurückblicken, in jüngster Zeit werden durch Oevermann wichtige Neuerungsimpulse in die Diskussion getragen (Oevermann et al., 1979; Oevermann, 1983, 1986). Das vorhandene Instrumentarium interpretativer Sozial Wissenschaften kann im strukturtheoretischen Rahmen eine gegenstandsangemessene Integration erfahren und stellt dann eine wichtige Bereicherung der sozialwissenschaftlichen Methodik dar (vgl. Charlton/Neumann, 1986, Teil II). Im Rahmen der strukturanalytischen Rezeptionsforschung wird der Prozeß der Medienrezeption in einer Erweiterung der Medientheorie der "para — sozialen Interaktion" (Teichert, 1973; Rapp, 1973) handlungstheoretisch konzipiert: Der Gebrauch von Medien wird als ein aktives Handeln verstanden, der Rezipient setzt sich sinn verstehend mit dem Medienangebot auseinander. Medien bieten Deutungsmuster von Welt an, die der Rezipient seinerseits in seinem Alltag verwenden kann. Die handlungstheoretische Bestimmung der Medienverarbeitung ermöglicht es, den Prozeß der Rezeption in seiner Komplexität zu sehen: Soziales Handeln (hier: Zuschauerhandeln) beruht auf gesellschaftlichen Interpretationen und Routinen, die Medienrezeption als Handlung muß im gesellschaftlichen (hier: familialen) Kontext gesehen werden, und: das Zuschauerhandeln ist ein Prozeß des Symbolverstehens, in dem das Subjekt bestimmte Absichten (hier: kindliche Bedürfnisse und Interessen) verfolgt. Die kindlichen Bedürfnisse und Interessen verweisen auf den Stand der Ich— und Identitätsentwicklung des Kindes. Nach Habermas (1976) konstituiert sich die Identität des Kindes in einem System der Ich—Abgrenzungen und entwickelt sich stufenweise. Zentrale Bedeutung gewinnt hierbei die aktive Unterstützungs— und Spiegelfunktion der Bezugspersonen. Was zunächst passiv erfahren

Strukturanalytische Rezeptionsforschung

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wird, wird mit fortschreitendem Aufbau der kindlichen Erkenntnisfahigkeit vom Kind selbst aktiv reflektierbar und initiierbar. Zu den Erfahrungen in der Familie kommen die mit den peers und in den sozialen Institutionen Kindergarten und Schule gemachten hinzu. In der Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungsangeboten und im Fortgang seines wachsenden Selbstverständnisses steht das Kind im Vorschulalter an der Schwelle zu einer neuen Stufe seiner Identitätsentwicklung: Die natürliche Identität wird von der Rollenidentität abgelöst. Mit dem Übergang von der natürlichen zur Rollenidentität beginnt sich das Schulkind in besonderer Weise für das Handeln ihm unbekannter, nicht vertrauter Personen zu interessieren: Nun ist auch die Auseinandersetzung mit formalen Rollenträgern interessant. In Medien begegnet das Kind dem "Generalisierten Anderen", mit dem es sich auseinandersetzt, um sich selbst zu erkennen. Das Kind arbeitet im Mediengebrauch an einer Vermittlung zwischen seiner individuell erlebten Einzigartigkeit und allgemeinen sozialen Deutungsmustern. Dabei erhält es die Möglichkeit, einen identitätsstiftenden Gewinn aus dieser Beschäftigung mit sich am gesellschaftlichen Anderen zu ziehen. Der Prozeß der Medienrezeption beinhaltet zwei Aspekte, den des sozialen Kontextes und den der eigentlichen Rezeptionshandlung. Der Medienkonsum findet im Kontext des Familienalltags statt (Fritz, 1984). Er ist integriert in den Tagesablauf und in die Tagesereignisse. Medien sind eingebunden in den Prozeß der Lebensbewältigung des Einzelnen sowie der Familiengruppe als Ganzheit. Die strukturellen Rahmenbedingungen der Medienrezeptionshandlung werden über die Aspekte des Entwicklungsstandes des Kindes (Entwicklungslogik und — dynamik; vgl. Döbert/Habermas/Nunner — Winkler, 1977) und der Struktur der Interaktionsfelder, in denen sich das Kind befindet (vgl. Charlton/Neumann, 1986, S. 42ff), zugänglich. Der Prozeß der Medienrezeptionshandlung besteht in den beiden Momenten "thematisch voreingenommenes" Sinnverstehen und Spiegelung. Dabei ist die Spannung von Identifikation und reflexiver Distanzierung zentral. Kinder setzen sich mit sich und der Welt individuell durch "die Brille" ihres jeweiligen "Entwicklungsthemas" auseinander. Dies beeinflußt nicht nur das Deuten und Verstehen der Medienbotschaften, sondern auch das erlebnismäßige Teilnehmen am Gesehenen oder Gehörtem und Gelesenem. Diese Anteilnehmen bewegt sich mit Rapp (1973) in der Spannung von Illusion und In —Lusion. Damit ist gemeint, daß der Zuschauer zum einen von der zum Beispiel im Fernsehspiel gezeigten Handlung ergriffen und mitgerissen werden kann: Er ist von der Geschichte fasziniert, identifiziert sich mit den ihm vorgespielten Rollen, lebt sich ein und erlebt mit. Im Idealfall steht der Zuschauer dann in der Illusion, er erlebe den

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Klaus Neumann/Michael Charlton

Sachverhalt so wie ein Individuum in der Alltagswelt. Der andere Modus der Teilhabe ist der, daß der Rezipient bei allem Mitleben ein entscheidendes Maß an Distanz wahrt: der Zuschauer ist sich selbst jederzeit der ülusionshaftigkeit des Geschehens bewußt, steht in Distanz nicht nur zum Geschehen, sondern auch zu sich als Miterlebendem. Er weiß um die Scheinhaftigkeit des Gezeigten und genießt gerade deshalb das (bei Rapp: Theater - )Spiel als Spiel. Diese Meta—Ebene des distanzierten Miterlebens sowohl seiner selbst als Miterlebendem als auch der miterfahrenden Handlung und ihrer Rolle als mediengebundener Scheinhandlung, nennt Rapp In —Lusion. Sie überlagert und qualifiziert die Illusion (vgl. Rapp, 1973, S. 75f). Das Miterleben sorgt bei Rezipienten für einen Gewinn an Lebenserfahrung: Indem der Zuschauer sich in eine Handlung einlebt und sich illusionär mit der Rolle identifiziert, erweitert er seinen Erfahrungsbereich. Er lernt soziale Charaktere und Handlungen kennen und differenziert so seine Teilnahmefahigkeit am sozialen Dialog. Im in —lusiven, distanzierten Miterleben vollzieht sich für den Zuschauer dann jedoch mehr als eine bloße Erweiterung seiner sozialen Erfahrungen im obigen Sinne: Er gewinnt Distanz zu seinem Leben, d.h. zu seiner eigenen Perspektiveneingebundenheit, spiegelt und sieht sich selbst in der Konfrontation mit dem anderen und dessen Perspektive. Dieses Abstandnehmen von sich ist — so Rapp — wahres Engagement, das sich selbst riskiert, indem es die eigene Lebenswelt in Frage stellt. Das Engagement der Selbstdistanzierung ist die (erwartungsvolle) Sich—Auslieferung an das Unerwartete — dies in der Intention, die eigene Lebenssituation, den eigenen Lebensentwurf prüfend zu reflektieren (vgl. Rapp, 1973, S. 54f und 75). Diese Kompetenzerweiterung erweist sich als eine Auseinandersetzung mit der eigenen Person, als eine Arbeit an der eigenen Identität. Das Kennenlernen anderer, bislang unbekannter Handlungsmöglichkeiten und Spielräume und das gezielte Reflektieren seiner selbst in der Konfrontation mit anderen Perspektiven bedeutet ein Arbeiten an sich am gesellschaftlichen Anderen. Die von Rapp in seiner Theatersoziologie vollzogene Trennung von Illusion und In —Lusion differenziert sicherlich nicht nur das Zusammenwirken der beiden Komponenten der Faszination und Distanzierung im realen Zuschauer — Handeln des Rezipienten: Sie verweist wohl auch auf den Tatbestand, daß die potentiell kompetenzerweiternde Leistung des Medienkonsumenten, einen Bezug zwischen dem Gesehenen und sich herzustellen, je nach Reflexivitätskompetenz des Rezipienten ein Mehr oder Weniger an bewußter Auseinandersetzung mit den Anregungen des Medienangebots beinhaltet. Zu diesem Aspekt des unterschiedlichen Ausmaßes von Reflexivität läßt sich sinnvoll eine Verbindung zu dem Stufenmodell der Identitätsgenese von Habermas (Döbert/Habermas/Nunner — Winkler, 1977) ziehen, der die rollengebundene konventionelle Identitätsstufe von der post— konventionellen abgrenzt. Die letztgenannte Stufe der universalistisch orientierten

Strukturanalytische Rezeptioosforschung

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Ich—Identität gewinnt ihre Qualität mit der Einführung des hypothetischen Denkens in den Bereich sozialer Interaktion: Mit der Distanzierung von dem bislang naiv vollzogenen Alltagshandeln erschließt sich das Individuum die Möglichkeit der Reflexion der eigenen Lebensgeschichte vom Standpunkt des dezentrierten Dritten aus. Dieses Gewinnen von Abstand zu sich selbst ist auch der Kern der in — lusiven Auseinandersetzung mit dem Medienangebot: In der In — Lusion gewinnt der Rezipient Distanz zu seinem Leben und erhält damit die Möglichkeit, seine Lebenssituation im Rahmen von Über — Perspektivität zu reflektieren. Für das Vor— und Schulkind übernimmt bei dem Vermittlungsprozeß zwischen rezipiertem Medieninhalt und eigener Lebensgestaltung das Rollenspiel eine wichtige Funktion. Wie die Theorien zur kindlichen Spieltätigkeit ausführen (vgl. Nitsch—Berg, 1978), gehen Erkennen und Verinnerlichen von Handlungsstrukturen und Deutungsschemata Hand in Hand mit dem Element des aktiven Wiederholens: Das Kind wiederholt im Spiel Erlebtes und hat dabei die Möglichkeit, sich mit diesem dann in der ihm angemessenen Gangart und auf angemessene Weise auseinanderzusetzen, um es dann für sich entsprechend übernehmen zu können. Die Entwicklungsimpulse, die das Kind aus dem Rezipieren von Medien gewinnen kann, werden von diesem meist im Rollenspiel verarbeitet. Dabei handelt es sich nicht um ein bloßes einübendes Nachspielen, sondern um die reflexive Verarbeitung des Erlebten (wichtig dabei: das variierende Rollenspiel). Die neueren sozial — kognitiven Forschungen zur Entwicklung des Selbst— und Sozialverständnisses (vgl. Edelstein/Habermas, 1984; Edelstein/ Keller, 1982; Geulen, 1982) zeigen, daß bereits dem Vorschulkind das eigene und das fremde Handeln in einem zunehmend klarer strukturierten, übergeordneten Sinnzusammenhang der Reflexion zugänglich wird. Das Spiel stellt neben dem Interaktionsbereich des Kontakts zu den Autoritätspersonen (autoritätsgebundene bzw. unilaterale Beziehungen) das Lernfeld dar, in dem das Kind — zusammen mit den Gleichaltrigen (mutuelle und gleiche Beziehungen) oder alleine — selbstbestimmt mit Erlebtem, und d.h. mit Welt, "naiv experimentieren" (Ball, 1972) kann, um so Verständnis über sich und den anderen zu erlangen. Anregungen, die das Kind aus Mediengeschichten erhält, haben in dem Maße eine entwicklungsfördernde Funktion, in dem sie das Kind zu einer inneren Auseinandersetzung mit den Strukturen und den kulturellen Deutungen der Realität motivieren. Eine besondere Bedeutung für den Rezeptionsprozeß gewinnt das "handlungsleitende Thema". Familien haben ihre "Themen" (Bösel, 1980; Hess/Handel, 1975), die sie verhandeln, und auch Kinder haben "Themen", von denen sie — wie erwähnt — in intensiver Weise "in Beschlag" genommen werden. Der Prozeß der Auseinandersetzung mit Medien beginnt damit schon vor der eigent-

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lichen Rezeptionshandlung, wenn das Kind Interesse für ein bestimmtes Thema entwickelt, das es in der Mediengeschichte wiederfinden kann. Der Rezeptionsprozeß findet häufig dann in einer identitätsstiftenden Beschäftigung mit den Medienfiguren und —Symbolen im begleitenden oder anschließenden Rollenspiel seinen vorläufigen Abschluß. Der Ansatz der strukturanalytischen Rezeptionsforschung betrachtet den Rezipienten als aktive und selbstbestimmte Person. Wie steht es in diesem Ansatz um das Problem der Medienwirkungen? Medienwirkung kann nach den bisherigen Ausführungen nicht als ein vom Rezipienten unkontrollierbares Kausalgeschehen betrachtet werden. Der Medienkonsument kontrolliert die Mediennutzung vor, während und nach der Rezeption durch selektive Zuwendung, aktive Assimilation, Verschlüsselung und Bearbeitung des rezipierten Inhalts. Die handlungstheoretische Medienwirkungsforschung untersucht, wie sich der Rezipient mit den angebotenen und nachgefragten Medieninhalten auseinandersetzt. Dazu gehört auch die Frage, an welcher Stelle dem aktiven Rezipienten die Kontrolle über die aufgenommene Information "entgleitet" bzw. unter welchen Umständen er es sich leisten kann, auf eine Situationskontrolle zu verzichten. Insofern folgt der Medienkonsum der Struktur eines Dialogs von Kommunikationspartnern, die sich ebenfalls wechselseitig auf die Argumente der Gegenseite einlassen müssen, ohne dabei ihren eigenen Standpunkt zu verlieren. Von besonderer Bedeutung ist die Frage nach der Beeinflussung durch Medien bzw. nach der Kontrolle über die Wahrnehmung bei Kindern als Rezipienten. Während Erwachsene mit relativ stabilen kognitiven Orientierungen den Medien gegenübertreten, ist anzunehmen, daß Kinder durch einzelne (auch medienvermittelte) Erfahrungen in bedeutend größerem Ausmaß zu einer Revision ihrer Deutungsmuster veranlaßt werden können. Diese psychischen Verarbeitungsweisen stehen — wie oben ausgeführt wurde — in engem Zusammenhang mit dem sozialen Kontext familialen Alltagsgeschehens. In ihm sind allgemeine Regeln des Medienhandelns aufzeigbar. An den in einer Familie entwickelten Nutzungsroutinen läßt sich häufig ablesen, welche Bedeutung die Medien für das Leben des Einzelnen und der Familie als Ganzheit haben. Familiale Mediengebrauchsroutinen aber auch medienunabhängiges familiales Alltagsleben lassen Szenarien entstehen, in denen "Themen" in spezifischer Weise (auch) im Mediengebrauch ausgetragen werden. In einem weiteren Schritt ist die Gewichtung der Wirkungsdynamik der Rezeption von Medien in lebenslauftheoretischer und biographischer Perspektive vorzunehmen: Im Zentrum des Interesses steht nicht mehr die einzelne Rezeptionssituation bzw. der einzelne Rezeptionsprozeß, sondern die Biographie des

Strukturanalytische Rezeptionsforschung

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Kindes als Ganze — soweit diese im Rahmen von mehrjährigen Längsschnittuntersuchungen verfolgt werden können.

Π.

Methode

Das methodische Gegenstück zur konstruktivistischen Sozialisations — und Medienrezeptionstheorie stellt die Strukturanalyse dar (zur theoretischen Begründung der Methode vgl. Giddens, 1984; Habermas, 1983; Oevermann, 1986; Sewart, 1985). Die Rezeptionshandlung soll nicht aus naturwissenschaftlichen Kausalgesetzen heraus erklärt, sondern unter Bezug auf die Kompetenz des Akteurs, sein Handeln an gattungs— und gesellschaftsspezifischen Regeln orientieren zu können, rational rekonstruiert werden. Die rekonstruktive Methode wird von Habermas (1983) sowohl von der naturwissenschaftlichen Erklärung als auch von einer relativistischen oder intuitionistischen Hermeneutik abgesetzt, die den Anspruch auf Erzeugung von objektivem und theoretischem Wissen aufgegeben hat. Während im Rahmen der naturwissenschaftlichen Erklärung die Neutralität des Beobachters, die Wiederholbarkeit der Beobachtung unabhängig von Raum und Zeit (Kontextunabhängigkeit) und die Wertfreiheit der Interpretation die Objektivität des Wissens sichern sollen, müssen beim Verstehen sozialer Handlungen die Beobachter zumindest tendenziell in der Lage sein, ihre Neutralität gegenüber dem beobachteten Subjekt aufzugeben, sie müssen die Kontextgebundenheit ihrer Interpretation zugestehen und zu Wertfragen des Handelns Stellung beziehen. Dennoch, so Habermas, kann intersubjektiv gültiges, theoretisches Wissen erzeugt werden, indem der Beobachter bereit ist, die Frage der Wahrheit, der Wahrhaftigkeit und der sozialen Angemessenheit des Handelns zu rationalisieren. Die Rekonstruktion der Handlungsgründe sowohl aus der Sicht des Akteurs wie auch aus der Sicht des gesellschaftlichen Anderen erfordert vom Beobachter die Explikation der dem beobachteten Geschehen zugrunde liegenden Regelhaftigkeit. Die Angemessenheit der rekonstruierten Handlungsstruktur läßt sich in zweifacher Weise intersubjektiv verteidigen, einmal im Rahmen eines rationalen Diskurses, zum anderen aber auch, indem versucht wird, Regelhypothesen anhand von empirischem Fallmaterial zu falsifizieren. Der rekonstruktiven Methode liegt ein sozialwissenschaftlicher HandlungsbegrifT zugrunde (vgl. Charlton, 1987). Handlungen werden nicht als Dinge und Ereignisse, sondern als "Interpretationskonstrukte" (Lenk, 1987, 1978a) angesehen. Handlungen sind daher nicht unmittelbar beobachtbar als etwas, was der Fall ist oder nicht. Sie können immer nur unter Bezug auf die Interpretationspraxis der Kommunikationsgemeinschaft erklärt werden (vgl. Apel, 1972). Auch Handlungsgründe sind nach dieser Auffassung keine Ereignisse, die eine Handlung kausal verursachen könnten, sondern gesellschaftliche Interpretationen. Eine

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Klaus Neumann/Michael Charlton

Handlungserklärung ist dann "objektiv", wenn sie aus der Sicht des "verallgemeinerten Anderen" zutreffend ist. Nach der hier referierten Position ist die rekonstruktive Methode nicht auf die Beobachtung von Handlungen und deren Interpretation durch Dritte beschränkt. Auch die Selbstbeobachtung und Selbstschilderung stellt bereits einen Akt der rationalen Rekonstruktion des eigenen Erlebens dar (Bude, 1984). Bei der biographischen Analyse wird diese Selbstauslegung der Betroffenen gewöhnlich ergänzt um weitere Strukturerklärungen (z.B. über Narrationsfiguren oder über allgemeine Handlungsspielräume im gegebenen Sozialfeld) durch den Interviewer/Auswerter und im Verfahren der Triangulierung noch einmal gemeinsam überprüft. Die biographische Rekonstruktion muß dabei grundsätzlich denselben Rationalitätsstandards genügen wie die Rekonstruktion der Bedeutung einer fremdbeobachteten Handlungssequenz. Insofern ist die rekonstruktive Methode für die qualitative Forschung von grundlegender Bedeutung. Von Kritikern der interpretativen Sozialforschung wird häufig bemängelt, daß über den Einzelfall hinausweisendes, verallgemeinerbares Wissen so nicht herstellbar sei. Interpretative Methoden seien daher bestenfalls in einer Frühphase der Forschung, zur Hypothesenbildung, heranzuziehen. Nach der oben dargestellten Position ist dieser Einwand unbegründet. Zwar muß die Rekonstruktion immer am Einzelfall ansetzen, der in seinen nur ihm eigenen, nicht replizierbaren Kontext eingebettet ist, jedoch lassen sich in zweifacher Weise verallgemeinerbare Erkenntnisse ableiten. Zum einen findet der Leser von Einzelfallberichten in diesen sprachlich formulierte Handlungsmuster vor (vgl. Schwemmer, 1983), die ihm aus seiner eigenen Alltagspraxis bereits vertraut sind und die ihm trotz der Kontextunterschiede dazu verhelfen, sein eigenes Tun reflexiv zu erschließen. Die Verallgemeinerung nimmt in diesem Fall also der Leser vor. Zum anderen kann der Forscher, nachdem er in einem ersten Analyseschritt im Rahmen der Logik des spezifischen Beobachtungskontextes eine Handlungsfigur identifiziert hat, nun im zweiten Schritt die Regelhaftigkeit der in allgemeiner Sprache, also kontextfrei, formulierten Handlungsweise über viele Beobachtungssituationen hinweg prüfen. Typische Forschungsbeispiele für die empirische Überprüfung von allgemeinen Regeln des sozialen Handelns finden sich in der Diskurs-Analyse (van Dijk, 1980; 1985). Im folgenden soll dieses allgemeine Forschungsprogramm anhand der konkreten Vorgehensweise bei unserer eigenen Arbeit erläutert werden. Wir haben 1983 mit einer Längsschnittstudie der Medienrezeption von Vorschulkindern im Kontext ihrer Familie begonnen. Im Rahmen dieser Untersuchung sind 6 Kinder in ihren Familien über fast 2 Jahre hinweg regelmäßig von uns besucht worden, um Aufschluß über ihre Auseinandersetzung mit Medienangeboten zu erhalten.

Stnikturanalytische Rezeptionsforschung

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In dieser Feldstudie wurde der kindliche Umgang mit Medien und der familiale Kontext mit Hilfe von offenen Elterninterviews (zu Beginn, in der Mitte und am Ende der Feldphase), durch eine zeitweilige Teilnahme am Familienleben (z.B. beim gemeinsamen Kaffeetrinken), vor allem aber durch Spielnachmittage mit dem betreffenden Kind in seiner häuslichen Umgebung erfaßt. An den Spielsitzungen mit dem Kind nahmen jeweils zwei Beobachter teil. Die gemeinsame Aktivität wurde weitgehend vom Kind bestimmt, allerdings verleugneten die Beobachter nicht ihr Interesse an Möglichkeiten zum gemeinsamen Nutzen von Medien (Bilderbücher, Kassetten, Fernsehen). Da sich Kinder eher im Spiel als im direkten Dialog ausdrücken können (Neumann/Charlton, 1985a), nahm das gemeinsame (Rollen — ) Spiel einen wesendichen Teil der Beobachtungszeit ein. Gespielt wurde mit dem eigenen Spielzeug des Kindes sowie mit einer von Beobachtern mitgebrachten Sammlung von Puppen, Puppenstubenutensilien, Bauklötzen, Holztieren usw. (dem in der Erziehungsberatung viel verwendeten "Scenotest" von Staabs, 1978). Das Geschehen an den Spielnachmittagen wurde auf Tonband aufgezeichnet. Wichtige Spielsituationen wurden photographiert. Die Erfahrungen der Beobachter (allgemeiner Ablauf, besondere Vorkommnisse, Informationen aus Elterngesprächen, Atmosphäre in der Familie, Gefühle der Beobachter usw.) wurden in einem teilstandardisierten Protokoll festgehalten (erster Auswertungsschritt). Anschließend wurden vom Team drei Textstellen intuitiv ausgewählt und transkribiert. Ein zweiter Auswertungsschritt fand in der wöchentlichen, kollegialen Supervisionssitzung des Teams statt. Hier wurden erste Deutungen für die ausgewählten Spielsituationen erarbeitet, Bezüge zu früheren Beobachtungen hergestellt und neue Kontakte vorbereitet. Zentrale Interpretationskonstrukte wurden in einem dritten Schritt empirisch überprüft. Hierzu entwickelte das Team in der Supervisionssitzung eine Handlungsprognose für das betreffende Kind in einer speziellen Situation, die es erlaubte, die Richtigkeit einer Deutung abzuschätzen (Spielimpuls —Verfahren, vgl. Charlton/Neumann, 1986). In größeren Zeitabschnitten fand viertens eine fallbezogene Supervisionssitzung mit einem erfahrenen, externen Familientherapeuten statt. In dieser Besprechung

*

Diese Untersuchung fand im Rahmen des von der DFG geforderten Projektes "Längsschnittuntersuchung der Medienrezeption von Vorschulkindern im familialen Kontext" (Ch 7 3 / 2 - 4 ) statt (s. Charlton/Neumann, 1984; Neumann/Charlton, 1985).

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sollten die Gegenübertragungsreaktionen der Beobachter als weitere Interpretationshilfen herausgearbeitet werden (vgl. hierzu das Vorgehen von Horn, Beier und Wolf, 1983). Am Ende dieses Auswertungsteils, der parallel zur Feldarbeit durchgeführt wurde, entstand fünftens eine ausführliche Falldokumentation. Neben den einzelnen Spielsitzungen sind hier als übergreifender Handlungskontext die Familiendynamik (aktuell und biographisch), die "Entwicklungsaufgaben" des Kindes (vgl. Oerter, 1986) und seine sich daraus ergebenden sozialen Bedürfnisse und Handlungsphantasien ("Themen") dargestellt. Die Beschreibung der Medienrezeptions — Situationen steht im Mittelpunkt des Fallberichts. Die Interpretation ist in dieser Auswertung noch weitgehend alltagssprachlich formuliert und kontextbezogen. Schritt 6 erfaßt allgemeine Interaktionsmuster in der Familie, die das Medienhandeln als Teil der familialen Dynamik erklären. Die beobachteten Interaktionsfiguren sind in dieser Phase bereits im Rahmen einer allgemeinen Handlungstheorie und unter Verwendung von Forschungsergebnissen anderer Arbeitsgruppen formuliert. Neben zahlreichen anderen Aspekten konnten hierbei für jedes Familienmitglied und die Beobachter in der Rezeptionssituation Medienhandlungsmuster, die für das Familien— und Kleingruppengeschehen bedeutsam sind, identifiziert werden (vgl. Tab. 1). Die Analyse der Auseinandersetzungsformen der beobachteten Kinder mit dem Medium (Rezeptionsprozeß im engeren Sinn) erfolgt in Schritt 7. Unter anderen kann hierbei unterschieden werden, mit welchem Handlungswunsch das Kind eine Rezeptionsphase initiiert (Selbstauseinandersetzung, Sachauseinandersetzung, Sozialauseinandersetzung) und ob die Rezeption eher der Fortführung (Vertiefung) eines Themas/Beziehungswunsches oder der Verhinderung der Beschäftigung mit einem noch nicht abgeschlossenen Thema/Beziehungswunsch dient. Im Verlauf der Auseinandersetzung mit dem Medium können Formen des Sich—Einlassens und —Distanzierens (Rezeptionssteuerungsstrategien) ebenso wie Abwehr— und Bewältigungsprozesse (coping and defending) beschrieben werden. Alle hier angeführten Handlungskategorien sind Beispiele, die in Schritt 6 und 7 in einem größeren, systematischen Zusammenhang analysiert werden. Die hypothetisch formulierten Handlungsregeln lassen sich in notwendige (konstitutive) und akzidentelle Bestandteile von Medienrezeptionsprozessen unterscheiden. Für die basalen Rezeptionsstrukturen gilt, daß sie in jeder einzelnen analysierten

Strukturanalytische Rezeptionsforschung

Tab. 1: I.

187

Die Bedeutung des Gebrauchs von Massenmedien im sozialen Kontext

Handlungen koordinieren

A : Familiale Regeln und Handlungsroutinen (1) (2) (3)

B:

Handlungskoordinierung in der Rezeptionssituation (1) (2) (3)

•.

(4)

Durch Mediennutzung wird Gemeinsamkeit zwischen Κ >B/F* hergestellt Durch Mediennutzung wird Gemeinsamkeit zwischen Κ > B / F unterbrochen Medien übernehmen eine Hilfsfunktion für die Organisation des Gesprächs Κ > B / F (z.B. Interaktionslücken füllen; Impuls für Dialogveränderung) Mediennutzung ist eigenes Ziel der Handlung

(5)

Wissenschaftliches Interesse: Beobachter fokussieren auf Medienthemen

Kontrolle ausüben und Autonomie erlangen (1) (2) (3) (4) (5) (6)

ΙΠ.

Sich und seine Kompetenz vorführen; auch: Positionsbehauptung (z.B. Lexikon klärt Streitfall) Steuerung der eigenen bzw. der Gruppenstimmung (mood control) Sich der Inanspruchnahme anderer entziehen (TV als Babysitter); Wunsch nach Autonomie Beziehungskontrolle (Medien werden zur Durchsetzung von Interessen benutzt) Soziale Fügsamkeit (z.B. Kind "bedient" Beobachter mit Medien) Gegenseitige Kontrolle ist balanciert

Affektive Nähe bzw. Distanz herstellen (1) (2) (3) (4) (5) (6)

*

Mediengebrauch strukturiert habituell den familialen Tagesablauf Erhalt/Aufbau familialer (situationsübergreifender) Rollenverteilungen Bedeutung von Medien im Rahmen von Erziehung und Familienalltag (ausgewählte Aspekte): (3.1) Medien werden als Erziehungsmittel verwendet (3.2) gate—keeper—Funktion (3.3) Eltern sichern Untersuchungsrahmen (3.4) Beobachter vermeiden Verstoß gegen Familienregeln

Körperliche Nähe herstellen Körperliche Nähe vermeiden Sich selbst mit Hilfe von Medien mitteilen Von sich bzw. seinem Thema ablenken (z.B. Medien als Geräuschkulisse, Parallelhandlung) Geistiges Band herstellen (z.B. Vorlesen) i.S. von Gemeinsamkeit herstellen über einen vermittelnden Medienbezug Sich mit Mediengeschichten versorgen und verwöhnen lassen.

Κ = Kind; Β = Beobachter F = Familienmitglied

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Szene nachweisbar sein müssen. Insofern handelt es sich bei dem hier geschilderten Verfahren um replizierte Hypothesenprüfungen an Einzelfallen (N ist gleich der Zahl der Rezeptionssituationen, nicht der Kinder), wie sie auch für die quantitative Forschung vorgeschlagen worden sind (Westmeyer, 1979). In einem letzten und 8.' Auswertungsschritt kann das neugewonnene, handlungstheoretisch formulierte Regelwissen zur Reformulierung der Einzelfall — Geschichten herangezogen werden. Ziel ist, wie oben dargestellt, die Rekonstruktion der Medienbiographie des Kindes aufgrund von Fremdbeobachtungen. (Forschungskonzept und Auswertungsinstrumentarium werden ausführlich vorgestellt in: Projektgruppe: Strukturanalytische Rezeptionsforschung, 1987).

ΠΙ.

Anwendungsbeispiele:

Unsere interdisziplinäre Freiburger Arbeitsgruppe — Soziologen und Psychologen arbeiten hier zusammen — besteht seit 1979. Inzwischen haben wir 33 2 — bis 8jährige Kinder in ihrem alltäglichen Umgang mit den Massenmedien beobachtet. Einige der Kinder haben wir im Rahmen unserer Längsschnittuntersuchung fast 2 Jahre lang in ihrem Leben begleitet. Im Laufe der letzten Jahre haben wir eine ganze Reihe von Einzelfallstudien abschließen und der interessierten Öffendichkeit zugänglich machen können. In allen Falldarstellungen wird versucht, die oben genannten Basistheorien mit konkreten Informationen aus dem heutigen Lebensalltag von Kindern und Familien unter medienspezifisch ausgewählten Einzelaspekten zu verbinden. Die Falldarstellung "Moritz" (Charlton/Neumann, 1982) dokumentiert die Auseinandersetzung eines 6jährigen mit einem Film der Kinderfernsehserie "Hallo Spencer", der das entwicklungspsychologisch bedeutsame Thema "Ringen um Selbständigkeit und Stärke" anspricht. "Moritz" trägt in dieser Auseinandersetzung sein ihm wichtiges Bemühen um Kontrolle seines eigenen Abhängigkeitsbedürfnisses hinein. Der Prozeß dieses Rezeptionsgeschehens illustriert deutlich die "thematische Voreingenommenheit" der Beschäftigung eines Rezipienten mit einem Mediengeschehen. Am Beispiel der 2 1/2jährigen "Esther" (Charlton/Neumann, 1986a) läßt sich der Prozeß des kindlichen Hineinwachsens in den Gebrauch von Medien verfolgen. Im sich entwickelnden eigenen Mediengebrauch macht sich "Esther" unabhängig von der Spiegelung durch die Mutter. Das Kind bekommt die konstitutiven Prozesse der Spiegelung und Verarbeitung der gemachten Erlebnisse unter die eigene Handlungskontrolle.

Strukturanalytische Rezeptionsforschung

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Die Beobachtungen der beiden 5jährigen Kinder "Malte" (Charlton/Neumann, 1982) und "Carmen" (Braun/Neumann/Pohrt, in: Charlton/Neumann, 1986) vermögen einen Einblick in das Handeln und Erleben von Kindern zu geben, die sich gerade sehr vital mit dem Erwerb ihrer Geschlechtsrolle auseinandersetzen. "Malte" lebt in der Stellungnahme zu Mediengeschichten seine Größen— und Potenzphantasien aus und veranstaltet im Rollenspiel regelrechte "Spritztouren". Auch "Carmen" akzentuiert und erweitert den Sinn des Films auf eine Weise, die aus ihren sozialen Bedürfnissen und ihrer individuellen Lebenssituation heraus zu erklären ist: auch sie findet im Filmgeschehen ihr Thema, nämlich das der Behauptung ihrer Selbständigkeit gegenüber bedrängenden (weiblichen) Erwachsenen. Die Falldarstellung der 5jährigen "Katja" (Charlton/Neumann, 1982) und der 4jährigen "Franca" (Barth/Benzinger/Charlton/Münzinger, in: Charlton/Neumann, 1986) untersuchen das interessante Thema der Medienabstinenz: Warum beschäftigt sich jemand nicht mit bestimmten Medien? In beiden Studien ist zu sehen, daß besondere, das Kind belastende familiale Situationen (hier: Eheschwierigkeiten der Eltern) zu Lebenskonstellationen führen können, in denen das Kind mit Medien nichts Rechtes anzufangen weiß bzw. sich Medienkonsum gar nicht "leisten" kann. Am Beispiel des 4jährigen "Paul" (Charlton/Neumann, 1986) sind wir dem Phänomen der "Medienspuren" nachgegangen: Kinder konsumieren Medieninhalte, diese hinterlassen "Spuren", die später und an ganz anderer Stelle wieder auftauchen (können). Im Fall "Paul" war besonders interessant zu prüfen, ob seine von ihm geäußerten Angstphantasien vom "Fernsehen herkommen". Die Analyse zeigt, daß die Ängste nicht vom Fernsehen "produziert" wurden, sondern daß "Paul" Mediensymboliken (hier: die Pumuckl — Figur) zur Illustration einer vorgängig erfahrenen Schreckensvision verwenden kann. Medien bieten dem Rezipienten "Paul" eine Interpretationsfolie für seine im Alltag erlebten Ängste an. Mit dem 6jährigen Mädchen "Nicole" (Charlton/Dörler/Neumann/Stich, in: Charlton/Neumann, 1986) haben wir uns dem deutlich vernachlässigten Thema "Mediengebrauch auf dem Land" zugewendet. "Nicole" gebraucht Medien als ein "Fenster zur Welt": Ihr Autonomiestreben steht im Widerspruch zu der (über — ) behütenden Erziehungsleistung ihrer Mutter. Im Medienkonsum findet sie die Möglichkeit, ihre Situation zu überdenken und zu verarbeiten. Medien bieten "Nicole" eine "para —soziale" Ausbruchsmöglichkeit aus dem auf ihr lastenden Klima dörflich enger Erziehungspraxis.

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Der 8jährige "Wolfram" hat einen "Trennungsschock" zu verkraften. Nach dem Zerbrechen der Familie ist er in ein Erziehungsheim eingewiesen worden. Bei unserer Beobachtung dieses Heimkindes (Neumann/Charlton, 1986) sind wir der Frage nachgegangen, inwieweit Medien Kinder dabei unterstützen können, belastende familiale Ereignisse zu bewältigen. Im Fallmaterial ist zu sehen, daß Medien Symbole und Handlungsmuster anbieten, die dem Rezipienten bei der Anpassung an neue Lebensverhältnisse helfen können. Im spielerischen Umgang mit den Medieninhalten und — deutungsmustern verfaßt sich "Wolfram" neu, er gewinnt in einem solchen Stellungnehmen eine gewisse Autonomie gegenüber der "verlorenen" Institution Familie und gegenüber der "neuen" Institution Heim. Die "Vielseher"—Thematik wird in der Fallbeobachtung der Familie "Walter" (Charlton/Rapp/Siegrist, in: Charlton/Neumann, 1986) angesprochen. In einer ausführlichen Analyse des Familiensystems wird die "Doppelgesichtigkeit" des Vielsehens bei Familie "Walter" deutlich: "Vielsehen" als Form der Lebensbewältigung ermöglicht einerseits den sprachlosen Zusammenhalt einer zerrütteten Familie, andererseits ist es jedoch gerade auch diese Sprach— und Berührungslosigkeit, die verhindert, daß Probleme gemeinsam gelöst werden können: so "passieren" sie einfach zum Nachteil aller Familienmitglieder. Diese Einzelfallstudien wurden zum größten Teil auf der Grundlage von circa halbjährigen Beobachtungen gewonnen. So viel in diesen Studien zu einzelnen medienspezifischen Fragestellungen auch gesagt werden kann, so offen bleibt jedoch noch die Frage nach Langzeitwirkungen von Medien.

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Strukturanalytische Rezeptionsforschuog

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StrukturanaJytiscbe Rezeptionsforschung

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Westmeyer, Η.: Wissenschaftstheoretische Grundlagen der Einzelfallanalyse. In: Petermann,F./F.J. Hehl (Hg.): Einzelfallanalyse. München 1979, S. 1 7 - 3 4

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Analyse symbolischer Vermittlungsprozesse am Beispiel von Kindergruppen Überlegungen zum Zusammenhang von Forschungsgegenstand und Forschungsmethoden

Dem folgenden Beitrag liegen Erfahrungen mit einem Forschungsprojekt zugrunde, das Formen medienvermittelter Kommunikation von Kindern untersucht. Diesen Forschungserfahrungen gehen zwei Annahmen voraus: Einmal soll Kommunikationsforschung nicht die gängige Medienfixierung 'wiederholen', also nicht Medien — Forschung betreiben. Mit dieser Entscheidung wird die Abtrennung technischer Medien vom Alltag nicht einfach hingenommen, obwohl sie insbesondere durch das Fernsehen und die zugehörige Wirkungsforschung selbstverständlich wurde. Deswegen geht es im folgenden um die Begründung und Entwicklung 'ganzheitlicher' Forschungsmethoden, die eine Alternative zur Medien — , Wirkungs- oder Rezeptionsforschung bieten (vgl. Rowland, 1986; Hall, 1986; Bachmair, 1984; Charlton/Neumann, 1986). Die zweite Annahme geht davon aus, daß Alltag und Forschung eine gemeinsame Basis haben, und zwar kommunikativ zu sein. Von dieser kommunikativen Basis aus gesehen, ist Forschung eine spezialisierte Form der Realitätsdeutung, Die notwendigerweise auf Alltagserfahrungen aufbaut. Hinzu kommt, daß Forschung kommunikative Elemente verwenden muß, die auch in den alltäglichen Deutungen notwendig sind (z.B. Reflexivität, symbolische Objektivation usw.) beinhaltet. Diese beiden Annahmen haben einen Berührungspunkt, nämlich auf Abtrennung bezogen zu sein, einmal auf die Abtrennung der Medien von der Kommunikation, zum anderen auf die Abtrennung der Forschung vom Alltag, und, das ist die positive Wendung, diese Abtrennung nicht als naturwüchsig zu akzeptieren. Daraus folgt, Forschung ist 'nur' eine spezialisierte Form einer im Kern kommunikativen Realitätsdeutung. (Das ist eine der wesentlichen Thesen sog. kommunikativer Sozialforschung, vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, 1976, S. 16.) Kommunikation, die auf technologischen Organisationsformen aufbaut, ist ebenfalls nur eine spezialisierte Form von Kommunikation. An diesem 'kommunikativen' Punkt entsprechen sich Forschungsgegenstand und Forschungsmethoden, und zwar nicht im Sinne traditioneller Kriterien wie Reliabili-

Analyse symbolischer Vermittlungsprozesse

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tat, Objektivität oder Validität. Sie entsprechen sich vielmehr, weil sie dem gleichen historischen Veränderungsprozeß unterliegen. Diese Veränderung betrifft Kommunikation als symbolische Vermittlung von Subjekt und Realität. Dieser Prozeß der Veränderung der Beziehung von Subjekt und Realität und seine aktuellen Erscheinungsformen, und zwar insoweit sie Kommunikation und Alltagsleben von Kindern betreffen, müssen als erstes geklärt werden (1. Punkt), um daraus forschungsmethodische Konsequenzen zu ziehen (2. Punkt), die abschließend exemplarisch belegt werden (3. Punkt).

1.

Medienvermittelte Lebensformen und das Verständnis von Kommunikation als symbolische Vermittlung

Kommunikation, Alltagsleben und Forschung unterliegen einer Entwicklung, deren Logik am prägnantesten mit Technologisierung zu bezeichnen ist. Technologisierung hat sowohl die Zerlegung von Kommunikation in Produktion, Medien, Rezeption als auch die Professionalisierung von Forschung in Gang gesetzt. Nimmt man diesen Gedanken der Technologisierung ernst, dann ist mit der Hinwendung zu ganzheitlichen Forschungsmethoden noch nicht viel gewonnen. So ist die Entscheidung für qualitative Methoden, begründet durch die Absicht, komplex und ganzheitlich vorzugehen, statt quantitative Methoden einzusetzen, die zu einer Isolierung des Forschungsgeschehens von Lebenszusammenhang beitragen, nur sehr vordergründig. Ebenso reicht es auch nicht aus, nur einen Paradigmenwechsel zu vollziehen und das 'interpretative Paradigma' gegen das 'normative Paradigma' zu setzen (Wilson, 1973), um neue ganzheitliche Forschungsmethoden zu entwickeln. Genauso begrenzt bleibt eine umfangreiche Kritik der Wirkungsforschung wegen ihres reduzierten, unhistorischen und formalen Kommunikationskonzeptes (z.B. Dröge u.a., 1973, S. XIVff), wenn dann doch wieder innerhalb des Organisationsmodells der Massenkommunikation (Informationstransport vom Sender zum Empfänger per Medium) argumentiert wird, man z.B. nach rezeptiven Bedingungen, Stimulusfeldern u.ä. die Forschung gliedert (s. S. VII). Eine Spontan—Phänomenologie des Alltags reicht ebenfalls nicht aus, um forschend an der Lebendigkeit des Alltags 'teilzunehmen'. 'Teilnahme' ist eine nicht realisierbare Fiktion! Notwendig ist dagegen, die Abtrennung von Forschung und Alltag zur Kenntnis zu nehmen und methodologisch zu lösen.

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Fazit: Eine ausreichende Begründung von Forschungsmethoden braucht den Gedanken der Technologisierung von Kommunikation, weil mit Technologisierung der grundlegende Mechanismus erfaßt ist, der Forschungsmethoden wie Forschungsgegenstand gleichartig determiniert. Demzufolge geht es beim ersten methodologischen Schritt um eine Analyse der Entwicklung der Technologisierung von Kommunikation. Ziel dabei ist, den Forschungsgegenstand als spezielle Form symbolischer Vermitdung zu verstehen und Methoden zu entwickeln, sich diesen speziellen Formen interpretierend zu nähern. (Dieser Zusammenhang wird hier exemplarisch in bezug auf Kinder skizziert.) Allgemein heißt das, von den Strukturen medienvermittelter Lebensformen im Kontext der Technologisierung ausgehend, werden forschungsmethodische Regeln entwickelt, die diesen Strukturen angemessen sind.

Technologisierung Das Konzept der Technologisierung richtet sich auf den zentralen Mechanismus kultureller und sozialer Veränderungen in der Industriegesellschaft. Damit ist ein Prozeß gemeint, der von der Industrialisierung der Güterproduktion ausgeht und nach und nach immer mehr Lebensbereiche und Lebensvollzüge erfaßt und domestiziert. Der systematische bzw. historische Hintergrund der Technologisierung ist die Arbeitsteilung. Lefebvre (1975, S. 114f) skizziert die grundlegenden Argumente und verweist dabei auch auf Gedanken von Marx in den Pariser Manuskripten. Arbeitsteilung ist der Beginn einer globalen Entwicklung, die zuerst die Art und Weise, wie gearbeitet wird, prägt. (Für die Technologisierung von Arbeit ist das Fließband die deutlichste Form.) Von der Arbeit bzw. der Produktion von Gütern aus erfaßt die Technologisierung — selbstverständlich und scheinbar naturwüchsig — die Art und Weise, wie die Rohstoffe, die fertigen Güter transportiert werden und wie sich entsprechend dann auch die Menschen im Raum fortbewegen. — Von der Fortbewegung bzw. dem Transport griff dann das Prinzip der Technologisierung auf die Produktion und den Konsum von Nahrungsmitteln über. Mit Radio und Fernsehen gelangte es in den Bereich menschlicher Kommunikation, und zwar indem sich Fernsehen und Familienleben zu einer quasi symbiotischen Einheit verbanden. Diese Einheit brachte einschneidende Veränderungen in die Art, wie Kinder leben, wie sie Erfahrungen machen, wie sie ihre Emotionen artikulieren, welche Rolle für sie Phantasie spielt, wie sie Realität verstehen, wie sie ihre Sinne gebrauchen, wie sie sich ihre Lebenswelt aneignen usw. Der Terminus Lebensform faßt diese Aspekte zusammen. Wobei nun die These gilt, daß, ausgelöst durch das Fernsehen, erste Momente einer medienvermittelten Lebensform entstanden sind. D.h. Alltagsleben, Lebensentwürfe und Le-

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bensvollzüge werden durch technische Medien und durch das sie leitende Prinzip der Technologisierung vermittelt. Diese These läßt sich an zwei Punkten festmachen: — Kinder leben in einem Medien — und Konsumnetz Es gibt eine allgegenwärtige Verknüpfung von Konsum und Medien, z.B. über bestimmte Figuren wie Captain Future, Barbie usw., die Kindern in jedem Geschäft begegnen, die über das Fernsehen bedeutsam wurden und die für ihre alltäglichen Beziehungen selbstverständlich sind. Das Fernsehen ist Leitmedium, das die symbolische Aneignung der Umwelt und von Beziehungen konsumbezogen strukturiert; konsumbezogen, weil Fernsehen Kinder— und Familienalltag mit dem Wirtschaftssystem verbindet. Das Medien— und Konsumnetz der heutigen Kindergeneration entwickelte sich in den letzten 35 Jahren. Vorher gab es für die meisten Kinder nur gerade so viel an Versorgung mit Gütern und Nahrungsmitteln, daß sie überleben konnten. Mit der Währungsreform und dem Start des öffentlich-rechtlichen Fernsehens Anfang der 50er Jahre war Fernsehen nur eine Bereicherung des Familienlebens, sozusagen Kino zu Hause. Da die Nachkriegsfamilie sich in ihrem Beziehungsgefüge und ihren Außenbeziehungen erheblich ändern mußte, diese Änderungen mittels Fernsehen auszugleichen waren oder aufgefangen werden konnten, wurde Fernsehen zum Familienmedium. In der Funktion des Familienmediums war Fernsehen dann als Werbeträger interessant und begann den Konsum von Filmen und den Konsum von Waren und Dienstleistungen, die durchs Fernsehen bzw. durch die Fernsehwerbung annonciert wurden, zu verknüpfen. Durch die Verbindung mit dem alltäglichen Familienleben wurde Fernsehen zum Leitmedium, das den Alltag strukturiert. Damit wurde Fernsehen aber auch zum Türöffner für die 'Entwicklungslogik' der Technologisierung. Die Technologisierung setzt also bei der Verbindung von 'privatem' Leben und Wirtschaftssystem an. — Die Bildschirm — Welt der Kinder Die Metapher von den Kindern, die im Medien— und Konsumnetz leben, geht noch davon aus, daß Kinder in einer Welt leben, in der sie handelnd Erfahrungen machen. Mit dem Fernsehen fing jedoch ein Prozeß an, bei dem sich Bildschirm und Realität ineinander zu schieben begannen. Günther Anders (1956) hat das mit der Metapher von der Welt als Phantom und Matrize skizziert. Die Welt als Phantom und Matrize bedeutet, daß Welt/Realität auf Fernsehstrukturen, auf Femsehmuster reduziert ist; und, das ist zu ergänzen, daß Kinder in diesen Mustern leben.

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Dieser Gedanke der bildschirmvermittelten Realität steckt auch als Grundidee in Aussagen wie denen, daß Kinder nur noch aus zweiter Hand leben (vgl. u.a. Bauer/Hengst, 1980). Dieses Bild vom Leben aus zweiter Hand meint, daß Erfahrungen und Sinnlichkeit durch technische Medien, insbesondere Filme, vermittelt sind, und zwar durch Filme im speziellen Kontext der Massenkommunikation. Dabei ist Massenkommunikation definiert als die arbeitsteilige Produktion von Information bzw. von Medien, der Transport von Informationen in Rezeptionssituationen und der Konsum von Informationen.

Symbolische Vermittlung Technologische Kommunikation hat im ersten Entwicklungsschritt (um es vorsichtig auszudrücken) zu Anzeichen für medienvermittelte Lebensformen geführt. Nicht verändert hat sich die symbolische Natur der Beziehung von Subjekten zu ihrer Innenwelt und zu ihrer Um— bzw. Außenwelt. Die Beziehung von Subjekten zu ihrer Welt ist immer symbolisch vermittelt; das ist eine anthropologische Konstante. Diese Aussage von der symbolischen Vermittlung von Subjekt und Welt bedarf nun einer komplexen Theorie, um sie aus ihrer formalen Allgemeinheit herauszuholen. Wie das aussehen kann, findet sich u.a. bei Berger/Luckmann (1969), Leontjew (1973), Bettelheim (1977), Jung (1963), Anders (1956), Erikson (1978). Für die Argumentation hier ist nur die Skizze von Grundannahmen wichtig, die dann im später folgenden dritten Punkt in ihrer praktischen Bedeutung exemplarisch belegt werden. (Eine breite Darstellung findet sich im Forschungsbericht Bachmair, 1984). Wichtig ist, daß jede Art symbolischer Vermittlung auf einer kulturell geprägten Symbolik aufbaut, die prinzipiell unabhängig ist von einer Interaktionssituation. Diese Symbolik ist in ihrer komplexesten und umfassendsten Form die Sprache; einfacher sind es Bilder. Die kulturelle Symbolik ist notwendigerweise mit Medien verbunden. Medien und Symbolik haben über Mitteilungsfunktion hinaus die Funktion eines Interpretationsmusters für Erfahrungen, für Ausdrucksweisen, für Handeln und für Verstehen. Technologisch vermittelte Kommunikation greift nun in diese Interpretationsmuster ein und verändert sie. Die beiden folgenden Beispiele (s. Punkt 3: das Gespräch 'über' Horrorfilme; das verdeckte gruppendynamische Spiel mit Captain Future) zeigen solche Interpretationsmechanismen, z.B. wie sich Kinder auf Fernsehfilme als gemeinsame Erfahrungsbasis und als gemeinsame Symbolik beziehen, um sich mittels dieser Symbolik über Emotionen zu unterhalten (1. Beispiel).

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Die interpretativen Strukturen bekommen ihre Funktion von handlungsleitenden Themen, also von den Inhalten der Kommunikation, von Zielen, von den Handlungsanlässen. Da die Struktur der Massenkommunikation die Medien und ihre Symbolik aus dem alltäglichen Handlungszusammenhang herausgerissen hat, läßt sich die thematische Funktion von Mediensymbolik nur dann feststellen, wenn man im Forschungsdesign nicht der Logik der Massenkommunikation folgt, also nicht Medien oder isolierte Rezeptionssituationen, analysiert. Vielmehr muß dann der alltägliche Lebenszusammenhang untersucht werden, z.B. das beiläufige Gespräch über Familien, bei dem die Kinder die Fernsehsymbolik als gemeinsames kommunikatives 'Band' und als thematisches Darstellungmittel verwenden. Von Kindern, die isoliert vor dem Fernsehgerät beobachtet werden, läßt sich dagegen wenig Konkretes oder Inhaltliches aussagen: worum es ihnen gerade geht; welchen Ärger sie haben; wovon sie träumen; was sie vorher gespielt haben; welche Ängste sie quälen; welche Phantasien sie beflügeln; warum sie nachher streiten; was sie in der Nacht träumen werden. Orientiert man sich jedoch z.B. an Bettelheims psychoanalytischer Praxis mit Kindern, von der ausgehend er auch etwas über die Funktion und die Inhalte archaischer Medien sagt (Bettelheim, 1977), dann läßt sich dieses kommunikationstheoretische und forschungsmethodische Problem lösen: Man muß sich mit den konkreten Kindern und ihren konkreten Handlungssituationen auseinandersetzen. Auf ein Kind und seine Situation bezogen läßt sich klären, worum es ihm geht; das heißt theoretisch formuliert, welches handlungsleitende Thema es hat. Es läßt sich der Sinn einer Aussage, eines Spiels, einer gebastelten Figur entdecken, indem man nach den handlungsleitenden Themen des jeweiligen Kindes bzw. der jeweiligen Kindergruppe fragt.

2.

Der interpretative und qualitative Zugang zur Kommunikationsforschung

Diese ganzheitliche und historisch angelegte Frage forschungsmethodisch einzulösen, macht zwei Zugangsweisen, zwei Ansatzpunkte notwendig: Zum einen muß man sich in die hermeneutische Tradition des Verstehens einordnen. Es gilt dann Methoden zu entwickeln, die die Lebensvollzüge beobachten helfen, um sie nach deren strukturellen Bedingungen (medienvermittelte Lebensformen) zu analysieren. Das führt zu interpretativen und qualitativen Verfahren, die der Komplexität und den Themen alltäglichen Lebens und deren Strukturen entsprechen. Vorausgehen muß zum anderen jedoch die Analyse des Forschungsrahmens. Dieser Rahmen wird deutlich, wenn man nach versteckten sozialen und kulturellen Erfahrungen als Vorbedingung von Kommunikationsforschung fragt. Das geht über Zusammenhänge wie z.B. politische Bedingungen von Kommunikationsforschung hinaus (z.B. Untersuchungen über den Zusammenhang von Politik und Forschung am Beispiel von Gewaltdarstellungen des Fernsehens in den USA, Rowland, 1983).

200 2.1

Ben

Bachmair

Forschungsmethodische Implikationen versteckter sozialer und kultureller Erfahrungen

Kommunikationsforschung hat den langsam anlaufenden Prozeß der Technologisierung von Kommunikation per technischer Medien bis hin zu medienvermittelten Lebensformen bis auf wenige Ausnahmen (z.B. G. Anders) erst spät wahrgenommen. Die unreflektierte Übernahme medienvermittelter Kommunikation insbesondere im Zusammenhang mit dem Telegraphen und dem Rundfunk führte zur Definition von Kommunikation als Informationstransport. Nach diesem Paradigma richtet sich auch die traditionelle Forschung aus, die auf der Basis zuerst einfacher, später komplexer Sender - Empfanger — Modelle Forschungsdesigns konstruiert. Damit wurde Kommunikation auf Medienwirkung reduziert, d.h. auf die Art und Weise, wie Informationstransport menschliches Verhalten verursacht. Lasswell (z.B. 1952, S. 12) faßt diese Kommunikations— und Forschungslogik in seiner bekannten und berühmten Frage zusammen: "Wer sagt was zu wem über welchen Kanal und mit welchem Effekt". Die Kybernetiker Shannon und Weaver (1949, S. 7) haben daraus das ebenso bekannte wie vertraute Modell der Massenkommunikation von der Beziehung eines Senders zu einem Empfanger gemacht. (Die Kritik dieser amerikanischen Forschungstradition findet sich bei Rowland, 1986, insbesondere S. 165ff; eine Skizze der davon abhängigen australischen Situation bei Putnis, 1986.) Am Anfang bundesdeutscher Forschungstradition zur Massenkommunikation steht u.a. Maletzkes Untersuchung über "Fernsehen im Leben der Jugend" von 1959, die mit einer zentralen und prägenden Denkfigur beginnt: "Je mehr das Fernsehpublikum in Deutschland wächst, umso mehr und heftiger wird über die Wirkungen des Fernsehens auf die Familie und insbesondere auf Kinder und Jugendliche, auf ihr Leben, ihr Weltbild, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen und ihre Freizeit diskutiert" (S. 5). Diese Denkfigur beinhaltet das Erstaunen über das neue Medium Fernsehen und sein Veränderungspotential. Die Forschung reagiert also auf technologische Innovation und untersucht diese Innovation als Ursache komplexer Auswirkungen auf das ganze Leben der Menschen. Alltagsbezug, Sender —Empfanger —Modell, Ursache — Wirkungs— Denken und Medienorientierung sind damit eine schwer auflösbare und schwer durchschaubare Einheit eingegangen. Eine Folge ist, daß Kommunikationsforschung in einem selbstbestätigenden Zirkel steht, der sich von technischen Innovationen und allgemeinen kulturellen Erfahrungen als der wissenschaftlichen Basis von Forschung dann zu Innovationen fortbewegt, die die vorhandenen Erfahrungen bestätigt, um sie nun wiederum als faktische Erkenntnisvoraussetzung festzuschreiben.

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Um aus dieser 'spiralförmigen' Bestätigungsbeziehung herauszukommen, ist der Schritt in Richtung einer anderen Forschungstradition nötig, die lange quasi vergessen war, die jedoch mit der Veralltäglichung des Fernsehens neu aufzuleben begann. Eine Generation vorher hat George Herbert Mead (1968) zu Beginn dieses Jahrhunderts dieses Paradigma des Informationstransportes und seine Verwendung in den Sozial Wissenschaften, speziell in der Tradition der behavioristischen Psychologie (Thorndike, Pawlow), kritisiert. Im Gegensatz zum Paradigma des Informationstransportes beschreibt Mead Kommunikation als symbolische Vermittlung, die auf gemeinsam geteilten Erfahrungen von Menschen, also auf der Interaktion basiert. Nun hat Mead nicht nach den Quellen des Paradigmas vom Informationstransport geschaut. Wäre er an diesem Punkt an Kulturgeschichte interessiert gewesen, hätte er die Eisenbahn mit ihrem Kommunikations— und Kontrollsystem, dem Telegraphen, gefunden. (Schivelbusch 1979 hat diese Analyse durchgeführt). Es waren die Erfahrungen mit dem Telegraphen, die alle folgenden Innovationen und Konzepte in dieselbe Richtung brachte, nämlich Kommunikation als Informationsprozeß mit seinen bekannten Elementen zu organisieren. Wie kommt man — bildlich gesprochen - weg von den Gleisen der Eisenbahn und den Drähten des Telegraphen, wie kommt man zu einem anderen Paradigma der Kommunikation und zu einem anderen Paradigma für Forschung? Das erste Paradigma einer neu orientierten Massenkommunikationsforschung baute auf dem Alltagsleben auf. Es begann mit einer Fernsehforschung, die Fernsehen 'kommunikativ* als soziales Handeln verstand. Dieser Gedanke ist eine Reaktion auf die Veralltäglichung des Fernsehens Ende der 60er Jahre. Zu dieser Zeit war die Implementationsphase des Fernsehens vorbei, Fernsehen selbstverständlich, alltäglich und ins Leben integriert. Von da ab gab es zwei Wege: Der bekannte Weg im Sinne des Sender — Empfänger — Modells perfektionierte die Sammlung von Daten über die Rezipienten und die Rezeptionssituation. Herausragend ist hier die Teleskopie - Zuschauerforschung (vgl. Bessler, 1977) oder, kybernetisch gedacht, "Wissenschaft als Feedback — Element" in der Sender—Empfänger—Beziehung (Feil, 1977). Wie komplex solche Ansätze theoretisch konzipiert und methodologisch umgesetzt werden können, haben Langenbucher u.a. (1978) im theoretischen Vorspann zur Langzeitstudie der Mediennutzung (Berg/Kiefer, 1978) gezeigt (z.B. der sogenannte Nutzenansatz, S. 18f, vgl. Blumler/Katz, 1974).

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Der alternative Weg ging vom menschlichen Handeln aus und versuchte, "Fernsehen als soziales Handeln" zu begreifen (Teichert, 1972; 1973). Es kamen Argumente wie die von der subjektiven Wirklichkeit der Massenkommunikation in die Diskussion. Im Mittelpunkt stand der Gedanke vom sinnhaften menschlichen Handeln. Um zu beschreiben, was denn menschliches Handeln und menschliche Kommunikation ausmacht, wurden verschiedenste Theorien herangezogen (z.B. der Symbolische Interaktionismus) und auf Massenkommunikation angewandt. Für das Verständnis kindlicher 'Mediennutzung* war Bettelheims psychoanalytisches Konzept von der Funktion symbolischer Objektivation beim "Ringen um den Sinn des Lebens" (1977) wichtig. Die Hinwendung zum Märchen befreit von der distanzlosen Nahsicht der Fernsehforschung. Das Leben der Kinder mit seinen Themen und Problemen wie Großwerden, die eigenen 'schwarzen* Seiten kennenlernen, Eifersucht, Gewaltphantasien usw. kommt jetzt in den Blick der Massenkommunikationsforschung. Dieses Paradigma vom ganzheitlichen und alltäglichen Leben bekam seine kritische Wendung durch die Theorie der Praxis, wie sie z.B. von Lefebvre (1975) angeregt wurde. Im Kern geht es darum, daß praktisches Alltagshandeln, daß die alltäglichen Lebensvollzüge in einer Dialektik von Anpassung und Entfremdung auf der einen Seite und Widerständigkeit und Kritik auf der anderen Seite stehen.

2.2

Forschungsmethodische Schwerpunkte

Der Gedanke von der lebendigen und alltäglichen Praxis als Forschungsgegenstand schließt insbesondere die dialektische Aufgabe ein, sowohl die Anpassung von Kindern an Strukturen, Themen und Symbolik von Massenkommunikation zu untersuchen als auch die Widerständigkeit zu erforschen, die die Kinder der Massenkommunikation entgegensetzen. Kinder sind z.B. widerständig, indem sie sich aus dem Fernsehen die für sie thematisch wichtigen Szenen, Figuren usw. herausbrechen und zur Darstellung und Bearbeitung ihrer eigenen Themen in ihrem eigenen Handlungskontext verwenden. Forschungsmethodisch läßt sich diese Aufgabe, die Komplexität von Lebensvollzügen in ihrer praktischen Dialektik zu verstehen, nur rekonstruktiv lösen. Das heißt konkret, die symbolische Vermittlung als Beziehung von Erfahrungen und Symbolik, Handlungsmustern und handlungsleitenden Themen, Interpretationsmustern und Kommunikationsstruktur des Fernsehen nachzuvollziehen, ordnend und ergänzend zu beschreiben. Die Rekonstruktion alltäglicher Praxis versucht, um ihre theoretische Zielsetzung einzulösen, Spuren zu finden, die auf Anpassung an bzw. auf Widerständigkeit gegen Massenkommunikation hinweisen. Diese assoziativ impressionistische Spurensuche muß in eine methodische Form der Rekonstruktion eingebettet sein,

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um sicher zu stellen, daß die Kommunikationspraxis und nicht Artefakte wie Projektionen der Wissenschaftler rekonstruiert werden.

Rekonstruktionen Die Rekonstruktion praktischer Prozesse symbolischer Vermittlung setzt als erstes voraus, daß der Forscher in die Lebensbereiche von Kindern hineingeht, um sich der Praxis forschend anzunähern. Für die folgenden Beispiele war das der Schritt in eine Grundschule. Im zweiten Schritt wurde versucht, eine der Schule (also der praktischen Situation) angemessene Kommunikationsbeziehung zu entwickeln. Da in der Schule die Erwachsenen üblicherweise als Lehrer auftraten, wurde ein Unterrichtsprojekt durchgeführt, das den Beobachtungsrahmen für die Forschung abgab. Damit ist der Prozeß symbolischer Vermittlung eng begrenzt, da ja die Rekonstruktion von Familienbeziehungen jetzt nur sehr indirekt möglich ist. Die Rekonstruktion der Familie als der 'Ort* der Fernsehrezeption, und damit als wichtige Rezeptionsbedingung, ist nur implizit über Aussagen der Kinder im schulischen Kontext möglich. (Soll die Rekonstruktion familienorientiert verlaufen, ist es z.B. sinnvoll, die kommunikative Beziehung zwischen Forscher und Familie über Erziehungsberatung, die von Familien gesucht wird, aufzubauen.) Der dritte Schritt der Rekonstruktion besteht darin, die praktische Situation, also für unser Beispiel ein Unterrichtsprojekt und die Aktivitäten von Schülergruppen, realitätsnah zu dokumentieren. Leitendes Argument bei der Entscheidung für ein Dokumentationsverfahren ist der Gedanke, daß die Rekonstruktion sprachlicher Natur ist. Das ergibt sich aus der zentralen Rolle von Sprache für den Forschungsprozeß. Wenn der Forschungsprozeß nicht seine kommunikative Funktion verlieren will, müssen der Prozeß wie die Ergebnisse der Analyse symbolischer Vermittlung kommunizierbar sein. (Dieser Gedanke verbindet kommunikative Sozialforschung mit dem Kriterium der intersubjektiven Nachprüfbarkeit positivistischer Forschung, obwohl diese das kommunikative Moment von Forschung auf Nachprüfbarkeit und Wiederholbarkeit reduziert.) Will man die kommunikative Funktion von Forschung ernst nehmen, so heißt das, Sprache und ihre verschiedenen Darstellungsformen zu benutzen. Damit bekommt — besser gesagt: behält — Forschung ihre sprachliche Basis, von der aus es naheliegt, die realitätsnahe Dokumentation praktischer Situation sprachbezogen durchzuführen und Tonbanddokumente von Unterrichts— bzw. Gesprächssituationen der Kinder anzufertigen. Mit diesen Dokumenten ist dann weiterhin "methodisch" zu verfahren, und zwar nach den Interpretationsmethoden, die alltägliche und wissenschaftliche Interpretation gemeinsam haben. (Eine Skizze zum Gedanken des methodischen Vorgehens sschließt sich weiter unten an.)

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Die Betonung des Methodischen ist ein Teil des gesamten Konzeptes, das darauf hinausläuft, die Komplexität, die Widersprüchlichkeit und die Lebendigkeit der Praxis geordnet zu rekonstruieren. Hinzu kommt ein Ausgrenzungsverfahren, nämlich bei der Rekonstruktion perspektivisch vorzugehen; d.h., die Praxisdokumente werden perspektivisch ausgewertet. Dem liegt die grundsätzliche Überlegung zugrunde, daß Kommunikation immer perspektivisch ist (vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, 1976, S. 34f, S. 47). Forschungspragmatisch heißt das aber auch, Forschungsperspektiven so anzulegen, daß eine Verknüpfung mit traditioneller Massenkommunikationsforschung und ihren Ergebnissen an bestimmten Stellen möglich wird. Eine vordringlich zu bearbeitende Perspektive ist die Perspektive der handlungs-

leitenden Themen, die die vorherrschende strukturanalytische Perspektive um die Frage nach den Inhalten von Kommunikation und von Handeln erweitert. Die dritte und in der Kommunikationsforschung übliche ist die Medienperspektive, die immer die Gefahr der Verfälschung insoweit einschließt, als damit die Abtrennung der technischen Medien von der Alltagskommunikation und ihre organisatorische Einfügung in den Alltag in Form von Rezeption zum Forschungsgegenstand gemacht wird. Damit hätte der Gedanke der Praxis bzw. der symbolischen Vermittlung seinen Sinn verloren.

Medien—Spuren suchen Die Metapher der Spurensuche setzt gegen den Schwerpunkt der Ordnung in der Rekonstruktion symbolischer Vermittlung ein entgegengesetztes Element, bei dem assoziativ impressionistische Formen alltäglichen Interpretierens in die Forschung hereinkommen. 'Spurensuche* bedeutet darüber hinaus, konsquent vom Alltag auszugehen und innerhalb des Alltagsgeschehens nach Erscheinungen zu suchen, die in Beziehung zu Medien stehen. Dabei handelt es sich zumeist um Symbolik des Fernsehens, die Kinder explizit (das folgende 1. Beispiel) oder implizit (2. Beispiel) verwenden. Hinzu kommt, nach Hinweisen auf Fernseherlebnise u.ä.m. zu suchen. Gesucht wird aufgrund theoretischer Annahmen zu Funktion von Massenkommunikation, bzw. konkreter, zum Zusammenhang Kind —Fernsehen. Voraussetzung für die Suche ist die genaue Rekonstruktion der Handlungssituation in ihrer Entwicklung und in ihrer Einbettung in eine Institution bzw. in eine Gruppe. Für die beiden Beispiele wurden zuerst die Aussagen der Kinder in ihrer Beziehung zur Familie, Kindergruppen und handlungsleitenden Themen untersucht. Vor diesem Hintergrund wurden dann die Aussagen der Kinder als Hinweise auf

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Fernsehsendungen interpretiert. Das ist besonders im zweiten Beispiel wichtig, weil dort ein Mädchen das Handlungsmuster von "Captain Future" für ihre gruppendynamischen Ziele 'auswertet', gleichzeitig jedoch die Quelle, die Fernsehserie Captain Future, sehr gut verschleiert. Theoretisch und methodologisch wichtig ist die Suche nach Medienspuren, weil damit eine Annäherung an den Gedanken der medienvermittelten Lebensformen möglich, also ganzheitlich zu fragen ist. Dann muß man nicht den theoretisch simplen Konstruktionen wie z.B. Ursache—Wirkungs—Annahmen für die Beziehung Kinder — Medien verwenden, weil komplexere theoretische Erfahrungen fehlen bzw. komplexere Modelle nicht per Deduktion zu operationalisieren sind. Forschungsstrategisch wurde so verfahren: Als erstes wurde der Handlungsverlauf aus der Sicht der Praxis rekonstruiert. Es schloß sich dann die Spurensuche an, also die Suche nach Indikatoren der Vermittlungsmechanismen, die kommunikationstheoretisch gedeutet wurden. — Diese Verfahrensweise hat weitreichende Folgen für die kommunikationstheoretische Deutung der Beobachtungen. So wird die Integration technischer Medien in den Alltag vorausgesetzt, weshalb diese Integration wiederum empirisch bestätigt wird. Nur wenige Medien — Spuren lassen sich bei dieser Strategie als Destruktion symbolischer Verarbeitungsweisen von Kindern deuten. In diesem methodologischen Zusammenhang steht auch das Problem, zwischen fernsehvermittelten Lebensäußerungen und solchen medienbezogenen Ereignissen zu unterscheiden, die typisch sind für symbolische Vermittlungsprozesse.

Methodische Interpretation Assoziativ impressionistisches Vorgehen ist die eine Seite; daneben greift kommunikativ orientierte Forschung die methodischen Elemente alltäglichen Interpretierens auf und entwickelt dazu explizit Forschungsmethoden. Hier ist Ethnomethodologie anregend. Sie hebt das Moment des Methodischen hervor, weil sie sich Alltagsroutinen der Menschen zuwendet (vgl. Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, 1976, S. 51ff; Weingarten u.a., 1976, Bezug zur Massenkommunikation gibt Lull, 1980). Wichtig sind die methodologischen Überlegungen von Cicourel (1975), der Reflexivität (u.a. S. 64 ), Situationsbezug und Indexikalität (u.a. S. 116, S. 127), symbolische Objektiviation (u.a. S. 175, 160, 227) und Kommentierungen (u.a. S. 150, 156) forschungsmethodisch zu einem Umschreibungsverfahren (Cicourel nennt es Triangulationsverfahren, S. 158) ausbaut. Zentral ist die Annahme, daß das Interpretieren seine Dynamik aus der

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Spannung zwischen Situation und symbolischer Objektivation bezieht. Praktische Situationen sind prinzipiell unausschöpflich; sie sind nur begrenzt auszudeuten, weil es immer noch ein situatives Element mehr gibt, das zu interpretieren wäre. Diese Spannung führt zu sprachlichen Kommentierungen innerhalb der alltäglichen Kommunikationspraxis; ebenso zu Kommentierungen der Forscher, die den situationsabhängigen Sinn handelnder Darstellungen bzw. symbolischer Objektivationen deuten. Diese Situationen deutenden Kommentare führen zu neuen Kommentaren, weil sie angesichts der Situation unvollständig und ergänzungsbedürftig erscheinen (was insbesondere eine Folge der Verwendung indexikalischer, also situationsbezogener Termini ist). Für Forschung bedeutet das, Kommentare so zu fassen, daß sie als Dokumente zu Deutungsobjekten werden, und zwar so, daß ihr praktischer wie ihr theoretischer Sinn erkennbar wird. Aus der Spannung Dokumente—Kommentare ergibt sich ein Prozeß der Umschreibung der von der Reflexivität prinzipiell unvollständigen Deutungen, angesichts eines situativen Kontexts durch symbolische Objektivationen in Gang gehalten wird. Dieses Umschreibungsverfahren läßt sich anhand der folgenden beiden Beispiele nur ausschnittweise belegen. Im Vordergrund stehen die 'Kommentare' zu schriftlichen Protokollauszügen, die aufgrund von Tonbandmitschnitten erstellt wurden. (Das Umschreibungsverfahren beschreibt der Forschungsbericht, Bachmair, 1984. Begründung und Differenzierung des Verfahrens s. Bachmair, 1985; ein anderes Beispiel s. Jules —Rosette, 1976.) Das Element der Darstellbarkeit (Accountability) ist für den Interpretationsprozeß wichtig. Dem Begriff der Darstellbarkeit liegt die Annahme zugrunde, daß die Handelnden ihr Handeln für den eigenen wie für den fremden Interpretationsprozeß symbolisch verfügbar machen bzw. offen halten. Diese Interpretationen werden wiederum dargestellt, also symbolisch objektiviert, geben damit Anstöße für neue Handlungen und neue Interpretationen.

3.

Zwei Ausschnitte aus dem Forschungsprozeß zur Beziehung von Fernsehsymbolik, Fernseherlebnissen und Handeln

Die beiden folgenden Beispiele geben den theoretischen Einstieg, um den Zusammenhang von Fernsehsymbolik, Fernseherlebnissen, Handlungen und Themen der Kinder zu untersuchen. Die Interpretation der beiden Beispiele gehört — methodisch gesehen — in eine Projektphase, in der Spuren gesucht werden, in der also assoziativ impressionistische Rekonstruktionsversuche überwiegen. Das Gelingen dieser Interpretationsphase setzt die Bekanntheit des Handlungs-

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kontextes voraus. Dieser Handlungskontext läßt sich hier nur stichwortartig andeuten: Jungen und Mädchen einer dritten Grundschulklasse arbeiten in Gruppenarbeit an einem Unterrichtsprojekt; Requisiten für ein Spiel 'Weltraumreise' werden gebastelt. Die Kinder dürfen assoziativ, kreativ, selbständig sein. In der Kindergruppe ist jeweils ein Erwachsener als Beobachter, der die Funktion eines 'Hilfslehrers' hat. Aus der Fülle der Ereignisse werden Episoden herausgegriffen und schriftlich in Form von Protokollen dargestellt, also für den weiteren Forschungsprozß objektiviert. Die Entscheidung, was ausgewählt wird, basiert auf dem ersten Interpretationsversuch, den Handlungsverlauf aus der Perspektive der Kindergruppen zu verstehen. Diese vorläufige Basisinterpretation ist also der Bezugsrahmen für die Auswahl wichtiger Episoden. Die Basisinterpretation wurde von fünf Beobachtern (jeweils einer für jede der Kindergruppen, ein Beobachter für die Interaktion zwischen den Gruppen) in intensiver Zusammenarbeit mit dem Lehrer geleistet. Die beiden folgenden Beispiele sind nur ein knapper Ausschnitt des Forschungsprozesses, wobei die theoretische Frage für die Auswahl leitend war, Material zur Analyse des Zusammenhangs von Fernsehsymbolik, Fernseherlebnissen, handlungsleitenden Themen und gruppendynamischen Entwicklungen vorzustellen. Die beiden Beispiele stehen sowohl für unterschiedliche Typen der Verwendung von Fernsehsymbolik als auch für unterschiedliche Typen von Beobachtungsdokumenten. Das erste Beispiel bringt eine kurze und weitgehend abgeschlossene, selbständige Gesprächsepisode. Beim Basteln von Requisiten unterhalten sich Kinder. Das zweite Beispiel isoliert Ausschnitte aus einem komplexen gruppendynamischen Prozeß, der über fünf Unterrichtsvormittage verläuft. Im ersten Beispiel springt die Fernsehsymbolik unmittelbar ins Auge, im zweiten Beispiel mußte sehr aufwendig nach Fernsehsymbolik gesucht werden.

1.

Beispiel: Das beiläufige, kurze Gespräch

Das Verhältnis von Fernsehsymbolik, Fernseherlebnissen, Gruppendynamik und handlungsleitenden Themen läßt sich anhand des kurzen Gesprächs sehr anschaulich ablesen, insbesondere weil die Fernsehsymbolik für die Beteiligten im Gesprächszusammenhang unterschiedliche Funktion hat. Für die Interpretation der Episode ist entscheidende Voraussetzung, daß die Fernsehsymbolik (Aussagen wie "Film", "Frösche", "Spinne", "Viecher", "Babyfilm", "Hexer", "Neues vom Hexer") nicht mit Fernseherlebnissen gleichgesetzt wird.

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Für das methodische Vorgehen ist wichtig, Aussage für Aussage zu interpretieren, dabei die jeweilige Aussage in ihren kommunikativen Zusammenhang zu stellen. Dieser Zusammenhang erschließt sich jedoch nur rekonstruktiv, wobei mehrere Rekonstruktionsmöglichkeiten sinnvoll, jedoch unterschiedlich wahrscheinlich sind. Die Rekonstruktionsversuche lassen sich auch in Form von Thesen in die Argumentation einbringen, wenn die impressionistische Interpretation methodisch abgesichert werden soll. Die Wahrscheinlichkeit der Gültigkeit einer These ist direkt mit der kommunikativen Erfahrung des Interpreten verbunden. 1. Beispiel: Das beiläufige Gespräch über Fernsehfilme Birgit:

Matthias, hast du'nen Film geguckt am Samstag?

Matthias:

Ah, die Frösche, das war ein guter Film!

Birgit:

Wie die dano reinkamen, ne?

Matthias:

Ja, da bei der Spinne war das.

Birgit:

Da hat meine Mutter geweint.

Matthias:

Ohh, die hat Angst gehabt vor den Viechern.

Birgit:

Natürlich, ich hab das jedenfalls nicht geguckt.

Nicole:

Was denn?

Theo:

(verächtlich) Ah, der Idiotenfilm!

Kind:

Meine Mutter ist ins Bett gegangen.

Matthias:

Meine Mutter hat sich die Fingernägel angeknabbert.

Birgit:

Meine Mutter ist unter die Bettdecke gekrochen.

Theo:

Ich habe mich totgelacht, Birgit. Babyfilm, ich hab noch viel Schlimmeres gesehen, Hexer.

Birgit:

Das durfte ich noch nicht sehen.

Theo:

(wendet sich an Erwachsenen) Hexer, oh, haben Sie das auch gesehen? Neues vom Hexer. Oh, Hexaaa. Hast Du Neues vom Hexer gesehen? Ah, fies.

Matthias:

Das war aber nicht so gut.

Erwachsener:

Fandest du Frösche besser? Den hab ich auch gesehen. Ohhh.

Matthias:

Meine Mutter hat sich die Fingernägel abgeknabbert.

Erwachsener:

War sie so ängstlich?

Theo:

Meine Uroma ... ouuh, meine Uroma.

Matthias:

Bei mir, mein kleiner Cousin, der Sven ..., der ist in der Vorschule, der hat

Birgit:

Der gehört in die Irrenanstalt. Der gehört in die Irrenanstalt,

auch noch mit mir geguckt, ne. Der hat keine Angst gehabt. (nach 5 Minuten) Matthias:

Zum Schluß sind der, ähm, der bei den Fröschen da wollte ja der, der Gelähmte, der wollte ja zum Schluß nicht heim, der wollte, ja nicht mit von der Insel weg, aber die Frau, ähm, und der Mann im Kanu, der ist am Leben geblieben, und die zwei Kinder.

Die erste Aussage (Birgit) ist eine Gesprächseröffnung, die sich an Matthias richtet. Diese Gesprächseröffnung verweist auf Filme, und mit "geguckt" auf Fernsehen und damit auf Zuhause, auf die Familie, auf das Wochenende.

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Matthias greift Fernsehen als Gesprächsgegenstand auf, wird dabei konkreter, indem er den Titel eines Fernsehfilms ("Die Frösche") bringt, der am vorausgegangenen Samstag im Spätprogramm des Fernsehens gelaufen war. Birgit geht auf diese Konkretion ein, indem sie eine Aussage über eine Einzelheit macht, die sich auf eine Filmszene beziehen kann. Die Aussage vermittelt den Eindruck, Birgit beginnt sich nun auf konkrete Fernseherlebnisse zu beziehen. Matthias bleibt in dieser Gesprächsentwicklung; er ordnet Birgits Aussage "Wie die dann reinkamen" einer Stelle im Film zu: "Da bei der Spinne". Diese beiden Hinweise "Film", "geguckt", "Frösche", "guter Film", "wie die reinkamen", "ja, bei der Spinne war das" sind noch kein Nachweis, daß die beiden Kinder sich auch über Fernseherlebnisse vom Samstag unterhalten. Beide bringen jedoch Aussagen, die Filmdetails beinhalten. Der konkrete Bezug zum Fernsehen wird in den beiden nächsten Aussagen vom Film auf die Rezeptionssituation umgelenkt. Der 'Blick' geht zur Rezeptionssituation und den Emotionen, die die Mutter gehabt hat. Die 'weinende Mutter' betont zwar die Konkretheit der Aussage; es spricht jedoch viel dagegen, daß die Mutter tatsächlich geweint hat. Auf 'heftige emotionale Reaktionen' der Mutter in Birgits Aussagen geht Matthias ein; er formuliert eine denkbare, mögliche Reaktion einer Mutter oder Birgits Mutter oder seiner Mutter, nämlich, daß die Mutter Angst hatte. Matthias formuliert seine Aussage also 'realistischer', beschreibt mütterliche Emotionen nur als Angst vor einem Filminhalt ("Viecher"). Nach den sprachlich dargestellten Emotionen beim Fernsehen macht Birgit eine Aussage über sich: "Natürlich, ich hab das jedenfalls nicht geguckt". Ob sie damit etwas über ihre Fernsehrezeption am Samstag, ihre emotionale Einstellung zu 'gruseligen' Filmen oder über ihr Verhältnis zu 'gruseliger' Symbolik aussagt, bleibt offen. Auf der Basis des bisherigen Gesprächsverlaufs zwischen Birgit und Matthias läßt sich die folgende These über die Beziehung zwischen Birgit und Matthias formulieren: Die beiden können miteinander über Emotionen beim Fernsehen reden. Sie haben sich anhand des Fernsehens (Symbolik und/oder Erlebnisse) auf das Thema 'Angst' geeinigt. Der Bezug auf die Mutter und deren Emotionen war dazu wahrscheinlich hilfreich. An dieser Stelle nimmt Theo am Gespräch teil. Er gibt den bisherigen Gesprächssträngen 'gruseliger Fernsehfilm', 'Mutter', 'Angst' eine neue Richtung. Er bewertet den Film, auf den sich Birgit und Matthias mit "Fröschen", "Spinnen" bezogen haben, als "Idiotenfilm". Nachdem Matthias, Birgit und ein anderes Kind die möglichen mütterlichen Reaktionen auf diesen Film drastisch als sehr ängstlich geschildert haben, gibt Theo seiner Abwertung einen Inhalt: Er steht über diesem Film ("habe mich totgelacht", "Babyfilm") und bringt einen noch viel schlimmeren Film, den "Hexer" ins Gespräch. (Dieser Film war auch zu dieser Zeit in einer Wallace — Serie im Fernsehen gelaufen.) Mit dieser

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filmbezogenen Bewertung stellt sich Theo als sehr stark heraus. Er wendet sich damit direkt an Birgit, die aber nicht in diese Gesprächsrichtung 'einsteigt'. Sie formuliert ihre Ablehnung filmbezogen und realitätsnah, indem sie sich als abhängig von der Erlaubnis der Eltern beschreibt: "Das durfte ich noch nicht sehen". Theo wendet sich nun an den Erwachsenen. Der Erwachsene läflt sich in den Gesprächsstrang 'gruselige Filme' hereinziehen. Der Erwachsene setzt dabei die artikulierte Fernsehsymbolik mit Fernseherlebnissen gleich ("Fandest Du Frösche besser? Den hab ich auch gesehen".). Gleichzeitig werden die Aussagen über die Mütter immer 'größer'. ("Fingernägel abgeknabbert", "Uroma") was der Erwachsene als Aussage über den Sachverhalt, die Angst der Mutter beim Fernsehen, versteht ("War sie so ängstlich?"). Matthias greift die realitätsbezogene Aussage über die Angst beim Fernsehen auf und redet über eine Fernsehsituation, bei der sein kleiner Cousin anwesend war. Damit wendet sich das Gespräch von der Angst mütterlicher Erwachsener zu einem konkreten kleinen Jungen, der keine Angst beim Fernsehgucken hatte. Birgit bewertet das Fehlen der Angst als Grenzüberschreitung: "Der gehört in die Irrenanstalt". Damit beendet Birgit das Gespräch, bleibt mit der abschließenden Aussage jedoch beim Thema 'Angst und Fernsehen'. Diese Aussage läßt sich auch als 'Mitteilung' an Matthias verstehen, daß Angst beim Fernsehen keine Grenzüberschreitung ist. Von diesem Gesprächspunkt aus gelangt Matthias fünf Minuten später zu einer Szenenschilderung aus dem Film vom Samstag. Es ist zu vermuten, daß er seine Fernseherlebnisse mittels Fernsehsymbolik ausdrückt. Diese Interpretation der Episode läßt sich methodisch kontrollieren, indem Thesen formuliert und gegeneinander abgewogen werden, z.B. für die Aussage: "Da hat meine Mutter geweint!" — Die Aussage bezieht sich auf ein konkretes Erlebnis am Samstag. Die Mutter hat tatsächlich beim Film geweint. — Die Mutter hat über etwas anderes geweint. — 'Mutter' ist symbolisch gemeint und steht für mütterliche Erwachsene, die heftig Angst haben. — Die 'weinende Mutter' steht für die Möglichkeit, Angst haben zu dürfen usw. Für die theoretische Auswertung ist eine methodische Überprüfung der Interpretation notwendig. Es sind Thesen zu formulieren, die mit Hilfe anderer Auszüge aus dem Beobachtungsmaterial zu belegen oder zu widerlegen sind. Dazu einige Beispiele:

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1. These: Fernsehsymbolik dient als Gesprächsanlaß und als sprachliche Mitteilungsmöglichkeit. Fernsehsymbolik hat damit traditionelle kommunikative Funktion wie andere berichtenswerte und bekannte alltägliche Ereignisse. 2. These: Fernsehsymbolik wird von den Kindern zur Darstellung ihrer gruppendynamischen Situation und ihrer handlungsleitenden Themen (groß sein wollen, nicht klein sein, größer als die anderen, ist Angst zulässig usw.) verwendet. Gegenthese: Die Symbolik des Gruselfilms strukturiert die symbolische Bearbeitung gruppendynamischer Probleme, indem sie Größenphantasien einen gewalttätigen Inhalt überstülpt. 3. These: Die Beziehung, die zwischen Birgit und Matthias 'über' das fernsehbezogene Gespräch gelingt, macht Grenzen deutlich, wann ein Junge Angst beim Fernsehen haben darf. Dieses Gespräch ermutigt Matthias, ängstigende Fernseherlebnisse auszusprechen und damit auch zu bearbeiten.

2. Beispiel: Katastrophen— und Fluchtsymbolik eines Mädchens Während des Unterrichtsprojektes basteln zwei Mädchen und drei Jungen, jeweils neun Jahre alt, Requisiten für ihr gemeinsames Spiel. Basteln und die Planung lassen ihnen viel Raum für ihre eigenen Themen, z.B. die erotische Attraktivität in der Gruppe spielerisch auszuprobieren. Zunehmend mehr prägen die Jungen die Stimmung in der Gruppe, indem sie zwar kooperativ sind, jedoch jeder für sich sehr eigenwillig seinen Ideen nachgeht und seinen Handlungsfaden weiterspinnt. Damit sind sie schwer auf eine Linie, nämlich auf das künftige Gruppenspiel, festzulegen. Andrea ist von Anfang an dominant. Sie übernimmt ganz selbstverständlich die Cheffunktion. Sie bemüht sich, die Gruppe zu einem erfolgreichen Spiel zu führen. Das gelingt ihr jedoch nur mit viel Anstrengung. Sie ist dabei immer vom Scheitern bedroht, weil sich die Jungen auf ihre Selbstdarstellung kaprizieren und sich wenig an einer geradlinigen Spielvorbereitung und einem klaren Spielaufbau beteiligen. Andrea steht trotzdem strukturierend und bestimmend im Mittelpunkt. Bei ihr laufen die wirren Handlungsfaden zusammen, die die anderen Kinder für das Gruppenspiel beitragen. Diese Aufgabe verlangt von ihr ein enormes Maß an Koordinationsfahigkeit, Einfühlungs— und Durchsetzungsvermögen. Sie überfordert sich, um einerseits Gruppenchefin zu sein und zu bleiben, andererseits um ein Weltraumspiel zu inszenieren, das bei der Klasse und dem Lehrer 'ankommt'.

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Im Rahmen dieser Interpretation werden folgende Thesen formuliert und Belege in den Beobachtungsdokumenten gesucht. (Die folgende Darstellung bringt aus Gründen des Umfangs nur exemplarische Belege, die zudem nur als stark gekürzte Protokollausschnitte wiedergeben werden. Der Forschungsbericht bringt die ausführliche Argumentation.) Andreas Überforderung tritt in dem von ihr entwickelten Spiel in Form von Katastrophen— und Flucht—Motiven, in Form von Panik und Hektik in Erscheinung (s. Punkt a). Die Katastrophen— und Fluchtmotive sowie die Panik und Hektik der Inszenierung sind Ausdruck ihres handlungsleitenden Themas (s. Punkt b), die sie auch mit der Symbolik der Fernsehserie "Captain Future" darstellt (s. Punkt c). Es schließt sich ein Beispiel an (s. Punkt d), das zeigt, wie situationsabhängig es ist, ob und wie Mediensymbolik verwendet wird.

a.

Motive und Struktur des Spiels 'WeltraumFeise': die dramatische Inszenierung von Bedrohung und Flucht

Nachdem die Gruppe zwei Tage Requisiten gebastelt hat, beginnt Andrea ein Spiel zu inszenieren, das von drohenden Katastrophen und von hektischer Flucht handelt. Als es um die Entwicklung einer Spielhandlung geht, bringt Andrea folgendes Motiv: ...Das ist son Zeug, da kann man einen mit ... töten und in ein Sonnensystem schicken. Mit diesem Ding da, da kann man einen töten und einen in ein Sonnensystem reinkriegen. Da wird der ganz gelb. Da kann der verbrennen oder so was Ähnliches.

Schaut — — —

man sich diese Aussagen genauer an, zeigen sich drei Komponenten: Tödliche Bedrohung: Töten, verbrennen. Anonyme Bedrohung: So'n Zeug, kann man einen töten. An gefahrliche Orte geraten: In ein Sonnensystem schicken, reinkriegen.

Diese Motive bilden das Basismaterial, aus dem Andrea verschiedene Katastrophen an diversen Orten entwickelt: Planetenzusammenstoß/ es passiert was/ Verunglücken/ Raketenuntergang/ Eisplanet/ in Steinhöhle fallen/ in Höhle eingesperrt/ Einkrachen/ im Wasser in der Höhle/ im Stromgas. Die Katastrophen verdichten sich zunehmend zur 'Höhle mit Wasser im Steinbruch auf zusammenprallenden Planeten': die Superkatastrophe steht an. — Warum diese Bedrohung sein muß, wer oder was dahinter steht, artikuliert Andrea nicht. Die sich eskalierende Katastrophe hat scheinbar kein Ziel, keine Ursache, keinen Zweck. Dazu einige Beispiele, die zum Teil zeitlich weit auseinander liegen:

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— die Planeten sollen zusammenstoßen und wir müßten was sprengen. Dann wär was passiert. Irgendwie, das wär danach verunglückt — — und davon wär die Rakete untergegangen, und da mußten me unten wa, in echt, was Neues bauen, ja? — Ja, und die Rakete wär in sone Steinhöhle gefallen, und da müßten wir als sprengen und müßten als die Werkzeugen und als bohren und so. — Na, und dann warn wer eingekracht, und dann wärn wer wieder an η Start, weils keins gefunden hätten, dan wärn wer in das Wasser gegangen, dann kam das, dann wärn wer in ner Höhle, Mann! — Wir müßten unten durch das Stromgas! Und jetzt wär das passiert, jetzt wärn wer wieder gestaltet, weil nich ging, und dann wärn wer, äh, in das Wasser mit der Höhle gefallen, ja?

Bedrohung und Katastrophen bekommen noch zusätzliche Dynamik durch Zeitdruck: Andrea: Kind: Kind: Andrea:

Könne Se uns behilflich sein? In zwei Monaten und 65 Sekunden explodier— Wochen Tage. Mmm, Tag — , Tage — , in zwei Tagen und 65 Sekunden explodiert der Planet auf dem Kelvis, und wir müssen —

Dieses Motiv von der unmittelbar bevorstehenden Superkatastrophe erreicht seinen drastischen Höhepunkt im Weltuntergang: Andrea:

... Nämlich Sprengstoff hilft nicht, sonst geht unsere ganze, unser ganzer Weltraum unter.

Welche Funktion hat die Katastrophen— und Fluchtsymbolik? Was artikuliert Andrea damit? Gibt es ein Thema, das mit diesen Motiven korrespondiert? Ein Zusammenhang ist deutlich. Andrea kann mit dieser Symbolik ihre Führungsposition in einer Gruppe kreativer Kinder ausbauen.

b.

Katastrophen— und Fluchtmotive als Ausdruck eines handlungsleitenden Themas

Die treibende und koordinierernde Kraft in der Gruppe ist Andrea. Sie hat die Rolle der verantwortlichen Gruppenchefin, quasi als Stellvertreterin der Lehrerin. Sie verfolgt dabei den Anspruch, daß die Gruppe der Unterrrichtsaufgabe gerecht werden soll. In dieser Rolle treibt Andrea die "faulen" Jungen an oder motiviert sie.

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Andrea kritisiert z.B. Sven und Alexander: Andrea:

Sven: Andrea:

Der Alexander hat kein einziges Ding gebaut! Und ich hab schon so viel gebaut. Und du machst überhaupt nichts. Erst haste da an der Rakete gemacht, jetzt weißte wieder nich, was de machen sollst! Na und, ich hab auch schon zwei Roboter gemacht! Ich mach jetzt den dritten und hab schon Werkzeuge und alles gemacht!

Sie wendet sich um Hilfe an die Lehrerin: Andrea:

Frau L. —, ich habe festgestellt, der Alexander hat noch nie was fertiggebracht!

Sie schimpft: Andrea:

Bau doch mal welche! Sitzt ja hier nur rum und kommandierst! Nun mach doch mal was! Faulenzer!

Andrea versucht Katrin zu motivieren: Andrea: Katrin: Andrea: Katrin: Andrea: Katrin:

Geht gut, ne Kati? Macht Spaß, ne? Dir auch? Machts Dir auch Spaß? Nein! Wieso? Weils mir keinen Spaß macht! Nein? Ach, das kommt ja alles durcheinander!

Schon der Beginn der Spielphase mit der Entwicklung einer Spielhandlung war für Andrea nicht leicht. Schaut man sich das Ende des Spiels an, so hat die Gruppe zwar ein Spiel vorgeführt, die Schlußszene ist jedoch nur noch ein Chaos. Die Jungen 'kaspern' herum und sabotieren die Ernsthaftigkeit des Spiels. Andrea versucht, ein Minimum an Disziplin herzustellen, spielt dann im wesentlichen allein die Schlußszene, eine Szene, die von den Zuschauern kaum zu verstehen ist. Das Spiel endet in der erfolgreichen Flucht aus der Superkatastrophe. Nur, wie sieht die Situation für Andrea als Gruppenchefin aus? Sie ist in dieser Schlußszene deudich von den Jungen demontiert worden, hat keinen verständlichen Spielabschluß gefunden, ist nicht an ihrem Ziel der erfolgreichen Spielaufführung angelangt. Um in Andreas Spielsymbolik zu bleiben, sie ist im Wasser, im Sumpf oer an ähnlich unsicherem Ort gelandet; sie droht im gruppendynamischen Morast zu versinken. In dieser Gefahr befindet sich Andrea ständig. Sie muß sich schon während der Proben des Spiels gegen Aktionen der Jugen ordnend durchsetzen. Für Andrea bedeutet das, ständig um das Ergebnis der Gruppenarbeit zu bangen. Sie muß dauernd für ihr Ziel, ein Spiel vorzuführen, arbeiten. Sie muß um ihre Anerkennung als Gruppenchefin kämpfen.

Analyse symbolischer Vermittlungsprozesse

215

Sie benutzt nun eine Krisen— und Katastrophengeschichte, deren Sach— und Zugzwang ihre Führungsposition unterstützt. Das läßt sich an der folgenden Situation gut ablesen: Andrea: Bitte leg dich mal hin, Alexander! (Trommeln, Geschrei) 10—9—8—7—6—5—4—3—2-1—Staaart! Pchch Pch! Getroffen! Die Jungen stören Andreas Konzept: Alexander: Die sprengen ja die Schuhe. (Die Schuhe von der Beobachterin sind gemeint.) (Trommeln, Lachen) Alexander: Ich geh jetzt mit der Rakete raus. Eckhard: Was sonst? Wir solin doch die Schuhe sprengen. Hab ich ihnen doch ge — (Geschrei) Andrea: Nein! Katrin: Das geht doch nich, du mußt doch die Zündung durchbrennen. Wie solln wer das denn machen? Alexander: Jetzt geht die auf einmal langsam. Andreas Ärger verbunden mit einem Sachzwang: Andrea: Der Planet? Müssen doch in einem Monat—, (murmelt:) hrrr, is schon η Affe, dieser Future! (Pfeifen) Alexander:

Aaaah!

Katrin bringt einen neuen Handlungsfaden: Katrin: Ich hab ne ganz tolle Frage. Können wir mal Ihr, Ihren Wickie haben? Eckhard: Ja. Katrin: Danke. Eckhard: (verstellte Stimme, zornig) Aber bringt ihn nicht um! Katrin: Nein, nein! Eckhard: (zornige Stimme) Sonst bring ich euch um! Katrin: (spielt mit der Figur) Wickie, Wickie! Wickie, flieg mal zu der—, zu der Rakete. (verstellte, piepsige Stimme:) Alles klar. (Normalstimme) Wickieeeee! Start! Pchch. Komm sofort wieder runter! Alexander: Ja, steig ein! (laute Geräusche) Andrea ist frustriert. Bringt neuen Sachzwang: Andrea: (stöhnt leise vor sich hin:) Aaaah, krieg η Herzschlag. Katrin: Ah, er ist wieder da! Andrea: Geh durch die Zündung! Gib mal das kleine Tier! Ich geh durch die Zündung. Eckhard: Hier unten liegt so ne dumme Schachtel.

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Ben Bachmair

Andreas Katastrophen—Motive greifen nicht mehr. Die anderen Kinder spielen ihre eigenen Geschichten bzw. ihre eigenen Figuren. Das Durcheinander ist perfekt. Hier sagt sie: "Jetzt wär er auf dem Planeten, und dann könnt er nie wieder davon. (Und zu sich selber) Also ganz ruhig bleiben!" Mit "er" ist möglicherweise die Hauptfigur des Spiels "Captain Future" gemeint. Zwar spielt Alexander diese männliche Hauptfigur; er demontiert jedoch den "Captain Future" als männlichen Helden und macht daraus nur eine witzige Nebenfigur des Spiels. Andrea spielt dagegen die männliche Hauptfigur weiter. Hier kann man mit der These argumentieren, daß Andrea sich mit ihrer Hauptfigur ("er") identifiziert. So gesehen, träfe ihr Bild vom gefangenen Helden ("und dann könnte er nie wieder davon") auch auf sie zu. Sie wäre in ihrer Situation als 'Chef eingesperrt, weil sie ein Spiel mit Kindern inszenieren will, die sich nicht integrieren lassen. Wie der Held ihres Spiels versucht sie, aus den Katastrophen herauszukommen. Im Spiel schlägt sie zwei Wege dazu ein ( + ) aggressiv. durch Sprengen, Freikämpfen usw. ( + ) konstruktiv, was Neues bauen, Werkzeuge einsetzen, bohren usw. Ihre Handlungsweise als Gruppenchefin und Regisseurin paßt zu diesem Spielmuster. Sie legt sich autoritär und aggressiv mit Sven, dem sperrigen Außenseiter, an: Sven, du machst ja schon wieder nicht mit! (zu Alexander) Knall ihm eine!

Nach dieser aggressiven Lösung der gruppendynamischen Krise setzt sie ihre Katastrophengeschichte, sozusagen als Werkzeug, wieder ein. Sie integriert die Jungen, indem sie den Planetenzusammenstoß und damit den Weltuntergang verhindern sollen. Den Ernst der Lage verdeutlicht sie nicht nur durch die Weltuntergangskatastrophe, sondern auch durch den Zeitdruck, der entsteht, weil die Katastrophe unmittelbar bevorsteht: Mmm, Tag— Tage — , in zwei Tagen und 65 Sekunden explodiert der Planet auf dem Kelvis, und wir müssen — Du mußt doch erstmal richtig spielen, Alexander! Nämlich Sprengstoff hilft nicht, sonst geht unsere ganze —, unsere ganze —, unser ganzer Weltraum unter.

Je wichtiger die Katastrophen— und Fluchtgeschichte für Andrea wird, um so mehr muß sie die anderen Kinder auf ihre Linie festlegen und andere Ideen ausgrenzen. Je härter sie dabei um den Gruppenzusammenhalt kämpft, um so häufiger bringt sie ihre Katastrophen— und Fluchtsymbolik ein, die sie als gemeinsame Gefahr darstellt. Damit erzwingt sie mehr Gemeinsamkeit in der Gruppe.

Analyse symbolischer

c.

Vermittlungsprozesse

217

Die Entsprechung von Andreas Katastrophen— und Fluchtthematik mit der Serie "Captain Future"

Es gibt vier Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten zwischen Andreas Gruppen— und Spielaktivitäten und der Serie "Captain Future". Das ist einmal die Hektik der Filmserie, der Aktionszwang, der für "Captain Future" wie für ähnliche Abenteuerserien typisch ist. Das sind als zweites die Katastrophen — und Fluchtmotive, die zum Teil in Form von Zitaten aus der Fernsehserie stammen. (Die dritte Gemeinsamkeit von Spiel und Fernsehserie liegt möglicherweise bei "Captain Future" als der ordnungsstiftenden, starken, männlichen Führungsfigur. Aus Platzgründen entfallen dazu die Belege.)

Hektik Die Fernsehserie "Captain Future" ist hektisch aufgebaut. Jede Folge besteht aus einer aberwitzig schnellen Abfolge und Vermengung kürzester Einstellungen, dramatischer Musik und knapper sprachlicher Aussagen, die zu einem maschinengewehrartigen Bild — Sprache — Musik — Stakkato gemischt sind. Andrea hat ein vergleichbares Muster, da sie über die unmittelbar anstehende, sich immer noch gewaltiger auftürmende Katastrophe, die unmittelbar bevorsteht, in ihr Spiel bringt. Der Druck verstärkt sich durch die Überfülle an Spielmotiven, die durch den sprachlich dargestellten Zwang ("jetzt müssen", "wir müssen doch ganz schnell") sich verschärft. Die dadurch entstehende Hektik zeigt sich an folgendem Beispiel: Andrea: Alexander: Andrea: Alexander: Andrea:

Alexander: Andrea: Eckhard: Alexander: Eckhard: Alexander: Eckhard: Alexander: Eckhard: Andrea: Alexander:

Wir müssen Glück haben, daB sie nicht untergeht, sonst sind wir in 'ner Höhle. Sie ist untergegangen! Ja. Äh, wir harn noch gar nich gestartet. Wir sind aber untergegangen, weil eins mehr hingegangen sin — Wir müssen doch erst starten, wir müssen doch durch da durchfliegen. Und wenn —, dann gibts doch erst den Erdbeben. Wir müssen doch ganz schnell fliegen. Ah, ja, schnell fliegen, pchch. Das kann doch in wenigen Stunden schon passieren. Beeilung schnell. In wenigen Sekunden auch. Biep, Biep. Ey, du Oskar! Ich heiße Otto, du Depp! Ey, Otto! Ja. Spürst du was? Ja, Stromausfall spür ich. Und Mond explodiert doch gar — — in wenigen Sekunden kann es passieren! Mondexplosiongefahr, in wieviel Minuten, oder Stunden?

218 Katrin: Eckhard: Andrea: Alexander: Andrea: Alexander: Andrea:

Ben Bachmat In zehntausend Minuten. In zehn Sekunden! Diet—diet—dit. 10-9-8Nein! -5-4-3-21-Starti Ah, die Rakete fliegt hoch. So, jetzt wem wer in der Höhle, ja? Also, jetzt müssen alle aussteigen, die könnten wohl noch rechtzeitig raus. Schnell aussteigen! Es kann in wenigen Minuten untergehen! Schnell, aussteigen!

Die hektische Machart gibt es wohl in allen Action— und Abenteuer — Medien, erst recht in Katastrophenfilmen. Die Hektik taucht in ihrer einfachsten Form als Spannung, als Angebot an jeder Art von Neuem, als Überfülle an Details auf, die nicht mehr als solche wahrzunehmen ist. Dieses grundlegende und allgegenwärtige Film —Muster dürften alle Kinder weitgehend verinnerlicht haben, so daß es nicht verwundert, wenn es Andrea ganz selbstverständlich verwendet, zumal sie es gruppendynamisch sehr geschickt einsetzt, um die anderen Kinder mit Sachzwängen unter Druck zu setzen. Für das vorliegende Beispiel gibt es darüber hinaus konkrete Motivanleihen, u.a. die Figur des "Captain Future" als ordnungsstiftenden Helden, der von einer Katastrophe in die andere gezwungen wird.

Die Motive aus "Captain Future" in Andreas Geschichte Andrea verwendet eine Fülle von Motiven, die auch in der Fernsehserie auftauchen. Die Motive sind unterschiedlich konkret, zum Teil so allgemein, daß sie in vielen vergleichbaren Medien auftauchen, also typisch für Abenteuer — , Katastrophen— und Fluchtgeschichten bzw. — medien sind. Im folgenden werden zwei Katastrophenmotive herausgegriffen, die einen Bezug zu "Captain Future" haben. Andreas Motiv 'Zusammenstoß und Explosion': Monde bzw. Planeten stoßen zusammen, der Planet "Kelvis" explodiert.

entspechende "Captain Future"—Motive und Fundstellen bei "Captain Future": — Die Erde wird von einem Planetenzusammenstoß bedroht. Bilder: berstende Erdoberfläche, Vulkanausbruch, Explosion, zerstörte Städte, Menschen in Panik, Feuer. Fundstelle: "Der schwarze Planet", Folgen 1—3. — Die Future—Mannschaft ist auf einem exlosionsgefahrdeten Planeten notgelandet. Bilder: Feuer, glühende Lava, Erdbeben, explodierender Planet. Fundstelle: "Mitgefangen im Weltall", Folge 2. — Planetenbezeichnung "Celbes" ( = "Kelvis") in explosivem Handlungszusammenhang. Fundstelle: "Der schwarze Planet", "Mitgefangen im Weltall".

Analyse symbolischer Vermittlungsprozesse

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— Auf einem Planeten explodiert infolge einer Sprengung ein Teil der Oberfläche. Bilder: Vulkanausbruch, Explosion, Erdbeben, glühende Lava verschlingt einen Menschen und zerstört Gebäude, Feuer. Fundstelle: "Der Kampf um die Gravium—Minen", Folge 1.

Andreas Motiv 'Untergehen und eingesperrt sein': Die Rakete geht unter, man sitzt unter Wasser in einer Höhle fest.

entsprechende "Captain Future"—Motive: — Captain Future ist unter Wasser in einem zusammenbrechenden Bergwerkschacht eingeschlossen: die Handlung spielt sich weitgehend auf einem Wasserplaneten ab. Bilder: berstende Wände, hereinbrechende Wassermassen, Strudel, steigender Wasserstand, Planetenoberfläche von Wasser bedeckt, Raumschiffe unter Wasser. Fundstelle: "Der Kampf um die Gravium —Minen", Folge 2. — Captain Future wird in ein Fischwesen verwandelt und in einer Höhle unter Wasser in einem Käfig gefangengesetzt. Bilder: Höhle, Wasser, der Weg zum Wasser führt durch eine Höhle. Fundstelle: "Der Kampf um die Gravium—Minen", Folge 3. — Das Raumschiff der Future — Mannschaft ist auf einem explosionsgefährdeten Planeten notgelandet und versinkt in einem Lava —Sumpf. Bilder: explodierender Planet, Erdbeben, Vulkanausbruch, glühende Lava, Feuer. Fundstelle: "Mitgefangen im Weltall", Ende von Folge 1, Folge 2.

Andreas Motive stehen in folgender Geschichte: Die Rakete fällt auf einen Wasserplaneten und geht unter. Unter Wasser ist eine Höhle, die zum "Sonnensystem an den Kelvis" führt. Der "Kelvis" droht, in der Höhle zu explodieren und den Planeten zu vernichten. Die Motive des Eingesperrt — Seins/ Untergehens und des Zerstörtwerdens/ Explodierens erscheinen hier in einem inneren Zusammenhang (Explosion in einer Höhle unter Wasser) und verdichten sich zur Super — Katastrophe.

d.

"Captain Future" als 'brüchiges' Ausdrucksmittel

Die Fernsehsymbolik hat zwei miteinander verzahnte Funktionen, einmal als Mittel, etwas thematisch Wichtiges darzustellen, zum anderen als Mittel, Medienerlebnisse auszuleben (Darstellungs — und Ausdrucksfunktion). Andrea verwendet nun die "Captain Future" — Symbolik in beiden Funktionen, jedoch deutlich situationsabhängig. Im Spiel benutzt sie "Captain Future" zum Teil offen und eindeutig, zum Teil nur indirekt im Rahmen eines allgemeinen Musters (Katastrophe, Flucht, Sachzwänge, Hektik usw.). Im Gespräch mit der Lehrerin jedoch, sozusagen in der Schulöffentlichkeit, distanziert sie sich dann von zwei "Captain—Future" —Sendungen. Es geht dabei um zwei bedrohliche Kampfszenen mit "Krokodilen" und "wilden Tieren". Das ist eine Symbolik, die in Richtung von Andreas Katastrophen — Geschichte zeigt. Nur, als die Lehrerin

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Bachmair

nachfragt, den Zusammenhang zu ihrer Geschichte klären will, blockt Andrea ab und will nichts mehr von "Captain Future" wissen. Eine Beziehung von ihr und ihrer Geschichte zu "Captain Future" kann sie sich "nicht vorstellen": Andrea: Kinder: Andrea: Lehrerin: Andrea:

Zwei Sendungen fand ich am besten. Die eine war im Wasser mit den Krokodilen, da — Ach ja, ο das. — und im Zirkus da, wo er da mit den wilden Tieren gekämpft hat. Andrea, kam denn euer Wasser vielleicht daher? Ist dir das dabei eingefallen, als ihr euer Stück gespielt habt, mit der Höhle oder war das Zufall? Das haben wir uns so ausgedacht. Da hab ich gar nicht mehr dran gedacht. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß es da auf dem Planeten so schöne Häuser geben würde, Bäume wie hier gibt. Das kann ich mir nicht vorstellen.

Andrea will oder kann ihre Nähe zu "Captain Future" nicht zeigen. Das paßt vielleicht nicht zu ihrer Selbstdarstellung als ordentliches Mädchen. Möglicherweise ahnt sie, daß sowohl ihre thematische Affinität zur dominanten männlichen Figur des "Captain Future" als auch die Katastrophen — Thematik und die aggressiven symbolischen Lösungsversuche nicht deutlich werden dürfen, um sie nicht in Widerspruch mit ihrem Selbstbild, mit ihrer Selbstdarstellung zu verwickeln. Der Streß, der sich daraus ergibt, weist dann jedoch wieder zu Captain Future und seinen Katastrophen— und Fluchtmotiven. Aus medienpädagogischer Sicht sind nun folgende Schlußfolgerungen wichtig: Andrea sollte diese Widersprüche, die in der Katastrophen— und Fluchtsymbolik erscheinen, nicht nur beim Fernsehen erleben; sie sollte mit ihrem Thema nicht in Fernseh—Phantasien 'stecken' bleiben. In der Gefahr steht sie jedoch, weil sie offensichtlich nur mit Kindern auf Fernseh — Themen kommt. Schon eine Frage der Lehrerin drängt ihre Symbolik und die damit zusammenhängende Thematik ins Abseits. Damit besteht die Gefahr, daß sie das Katastrophen— und Flucht—Thema zum Fernseh—Thema macht. In der Folge bekäme das Fernsehen zunehmend größere Bedeutung, weil wesentliche Themen nur vor dem Fernseher und mit der Fernseh—Symbolik 'wirklich', d.h. erlebbar und darstellbar, wären.

Literatur: Anders, G.: Die Welt als Phantom und Matrize; in: Anders, G.: Die Antiquiertheit des Menschen. München 1956, S. 97 — 211 Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen: Kommunikative Sozialforschung. München 1976 Bachmair, B. u.a.: Symbolische Verarbeitung von Fernseherlebnissen in assoziativen Freiräumen, 2 Bde. Kassel 1984

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Ben Bachmair

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Kurt Luger

Die Macht der Gewohnheit

Wie Jugendliebe mit dem Fernsehen umgehen* Ich schaue zwar, sehe aber, daß es ein Scheiß ist. Ich weiß selber nicht, wie ich dazu stehen soll, ich weiß es echt nicht, ich tus einfach. (...) Also ich weiß nicht, es ist irgendwie Gewohnheitssache. Ich bin zu Hause um 20.15 Uhr, jeden Abend wird eingeschaltet, und da muß er heute auch eingeschaltet werden. So ungefähr ist das. Net so aus Lust — Lustempfinden würd ich mit dem Fernsehen net verbinden, ich weiß nicht, was es für ein Empfinden ist — weil ich fernsehen will, sondern einfach sich hinsetzen im Wohnzimmer, und da steht der Fernseher genau davor. Da muß ich mich hinsetzen und aufdrehen. Babsi, 14, Gymnasiastin

Sich mit dem jugendlichen Alltag beschäftigen, heißt sich auf eine quasi "fremde" Kultur einlassen. Daß Jugendliche eine "eigene" Lebenssform haben, scheint durch die zahlreichen Publikationen, insbesondere die Shell —Studien, hinreichend bewiesen.1 Will man also diesen Alltag erforschen, d.h. in komplexe soziale Strukturen eindringen, erfordert dies eine lebensweltbezogene Vorgehensweise, die ethnographische, kommunikationssoziologische und sozialpsychologische Aspekte in den Mittelpunkt stellt.2

Der Alltag der Multi —Media—Generation In diesem Alltag spielen die Medien eine wichtige Rolle. Die meisten Jugendlichen sind Multi —Media —Nutzer, gehen routiniert mit einem Medienensemble um und nehmen im übrigen zahlreiche andere Freizeitangebote wahr.3 Welche Bedeutung den Medien, insbesondere dem Fernsehen im Jugendalltag beizumessen ist, soll hier anhand von Fallbeispielen exemplarisch gezeigt werden. Dies erfordert die ausführliche Berücksichtigung der soziokulturellen Rah-

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Die Abfassung dieses Aufsatzes liegt schon einige Zeit zurück. Da sich die Produktion dieses Bandes verzogene, wurde er geringfügig überarbeitet und aktualisiert. Grundlage bildet das Forschungsprojekt "Medien im Lebenszusammenhang von Jugendlichen", das der Autor mit fünf studentischen Mitarbeitern (Christa Blümlinger, Wolfgang Lehner, Martin Malissa, Martin Roth und Joey Wimplinger) im Auftrag des österreichischen Wissenschaftsministeriums durchführte. Der Endbericht liegt als Buch unter dem Titel "Medien im Jugendalltag" (Böhlau-Verlag, W i e n - K ö l n - G r a z 1985) vor.

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Kurt Luger

menbedingungen und der persönlichen Biographie der Jugendlichen, d.h. einen " verstehend—interpretadven" Ansatz. Dieser versucht der "Ganzheit der Kommunikationssituation " gerecht zu werden, indem er die Jugendlichen in ihren jeweils alltäglichen Bezugsrahmen stellt, ihre individuellen und sozialen Handlungsbedingungen und —Voraussetzungen erklärt und ihr Freizeit— und Medienhandeln in diesem Umfeld interpretiert. Verstehend bedeutet die Rekonstruktion des Umfelds, in das die Medien integriert sind, auch aus der Sicht der Jugendlichen selbst zu sehen.4 Es handelt sich somit um die subjektive Interpretation gesellschaftlicher Realität mit dem Ziel, eine "Innensicht des Jugendalltags", der vielfach zum Medienalltag wird, zu geben, die Din^e aus der Privatheit der Betroffenen heraus zu sehen und nicht von außen. Die Subjektivität dieser Vorgehensweise schlägt sich in den Selbstzeugnissen nieder, die als Fallbeispiele dienen. Um ein möglichst glaubwürdiges Bild des Jugendalltags und Medienverhaltens zeigen zu können, scheint es erforderlich, die Jugendlichen selbst angemessen zu Wort kommen zu lassen. Derartige biographische Forschung erfolgt nach dem Verständnis der qualitativen Methodologie in Form von Einzelfallstudien.6 Ihre Bedeutung liegt nicht nur darin, "die Subjektivität von Menschen möglichst unverfälscht zur Geltung zu bringen oder eine Annahme zu belegen; sondern sie werden auch gebraucht um ihrer Anschaulichkeit willen, weil sie etwas situativ verständlich machen können, weil sie in der Lage sind, ein Problem einem Leser derart zu vergegenwärtigen, dafl sie bei diesem Evidenzen und Reflexionen auslösen können. In diesem Gebrauchswert scheint der eigentliche Grund für die große Bedeutung von exemplarischen Darstellungen in qualitativer Forschung zu liegen."

Als Erhebungsmethode diente das narrative bzw. biographische Interview. Die aus den Gesprächen hervorgegangen Protokolle — "autobiographische Stegreiferzählungen" (Fuchs) — werden von den Interviewern redigiert, thematisch geordnet und sparsam kommentiert, denn je weniger man von einer Kultur weiß, umso angemessener ist die Deskription. Aus den Gesprächen und den Ergebnissen anderer Studien, die in unsere Arbeit einflossen, wurden Vermutungen, Deutungs— und Erklärungsversuche über den Stellenwert der Medien im Alltag von Jugendlichen abgeleitet. Einer dieser Erklärungsversuche — die Ritualisierung des Medien — und speziell des Fernsehkonsums — soll näher beschrieben werden. Die Jugendlichen in Osterreich — wie auch in anderen Ländern — schauen, quantitativ gesehen, weniger fern als andere Bevölkerungsgruppen, auch kürzer im Durchschnitt und fast nur Unterhaltungsprogramme, v.a. Spielfilme. Diese durchschnittliche Nutzungszeit beträgt unter den 14 —19jährigen 86 Minuten

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täglich. Mit dieser Zeitangabe wird aber mehr verfälscht als erklärt. Detailliertere Auswertungen zeigen, daß ein Teil der Jugendlichen kürzer, ein anderer Teil wesentlich länger in die Röhre guckt. Ein unter Salzburger Schülern laufende Erhebung zeigte, daß Fernsehen und Musikhören für die Jugendlichen die zentralen Freizeitbeschäftigungen darstellen. An einem durchschnittlichen Samstag etwa sehen 23% der untersuchten 14 —16jährigen (n = 375) bis zu 2 Stunden fern, 30% bis zu 3 Stunden und 28% noch länger. 67% hören länger als 2 Stunden Musik. Während der Woche liegen die Nutzungszeiten beim Fernsehen geringfügig unter diesen Werten. Schon die ORF —Studie "Jugend und Fernsehen" aus dem Jahr 1980 stellte fest, daß rund 20% der österreichischen Jugndlichen länger als 3 Stunden täglich vor dem Gerät sitzen und daß v.a. jene einen überdurchschnittlich hohen Fernsehkonsum aufweisen, denen es an Freizeit — Alternativen mangelt. Genannt wurden jugendliche Landwirte, Arbeiterjugendliche, die in ländlichen Kleinstädten aufwachsen, und Arbeitslose.9 Labile oder arbeitslose Jugendliche sind besonders gefährdet, zu sogenannten Vielfernsehern zu werden. Studien über die Mediennutzung arbeitsloser Jugendlicher zeigten, daß zumindest während der ersten Zeit der Arbeitslosigkeit ein Verlust an Sozialkontakten erlebt wird, der teilweise durch verstärkte Medienzuwendung wettgemacht wurde. Fernsehen wird z.B. in die "Bewältigungsstrategie" eingebunden, dient als Zeitvertreib, als Ersatz für Tätigkeiten, die mit finanziellem Aufwand verbunden sind (wie z.B. Lokalbesuche, Hobbies usw.), als Ersatz für Sozialkontakte, als Ablenkung von der Realität, zur Verdrängung, als (unbewußtes) Mittel zur Einteilung des Tages (Zeitstrukturierung nach dem Fernsehprogramm). Das Medium Fernsehen bietet den Jugendlichen in dieser Situation verstärkt eine preisgünstige Fluchtmöglichkeit ins elektronische Abenteuer und einen Quasi —Ersatz für soziale Treffpunkte und Kontakte. Bei längerzeitig Arbeitslosen verringerte sich der Medienkonsum nach einiger Zeit wieder, blieb vom Umfang her allerdings über dem Niveau während der Berufsausübung. Dies läßt darauf schließen, daß die mediale Ablenkung mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit weniger wirksam wird, sie also doch keinen ernsthaften Ersatz für soziale Kommunikation und Beschäftigung darstellt. Unterhaltung und Diskussion mit den Eltern, Freunden bzw. Partnern nahmen wieder zu, aber der Aktionsraum beschränkte sich nach wie vor weitgehend auf die eigenen vier Wände. Die lokale Mobilität, ein für Jugendliche übliches Lebenselement, wurde stark eingeschränkt.10 Schon die frühen Arbeitslosenstudien wie "Die Arbeitslosen von Marienthal" haben gezeigt, daß der Unternehmungsgeist bei längerer Arbeitslosigkeit allmählich erlischt. Die Freizeit— Passivität 'Fernsehen' ist hingegen eine Beschäftigung, bei der man nicht wirk-

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lieh etwas tun muß, aber trotzdem den Eindruck hat, daß sich etwas rührt und man "Dabei —sein" kann. Diese Argumentation legt nahe, über die herkömmlichen soziodemographischen Unterscheidungsmerkmale hinaus stärker die biographische und soziokulturelle Verortung der befragten Personen zur Erklärung für das unterschiedliche Ausmaß der Fernsehnutzung heranzuziehen. Dementsprechend soll hier der Versuch gemacht werden, aus Selbstzeugnissen von einigen Jugendlichen exemplarisch jenen Kontext zu illustrieren, in dem das Medienverhalten seine Bedeutung findet. Erst dann lassen sich Mutmaßungen anstellen, welchen Stellenwert das Fernsehen im individuellen Lebensweltpuzzle einnimmt. "Erzählungen können uns sensibilisieren. In der Sozialwissenschaft neigen wir ja, um uns zu orientieren, schnell zu Klassifizierungen und Typisierungen. Da gibt es 'Unterschicht' und 'Mittelschicht' und ihnen zugeordnete 'Erziehungsstile'; da gibt es eine 'bürgerliche Sozialisation' (...). Indem wir mit solchen Generalisierungen hantieren, verlieren wir aber leicht die Wirklichkeit aus dem Blick, die meist widersprüchlicher, differenzierter, facettenreiche ist."

Für die hier beschriebenen Jugendlichen gilt, daß sie sich ihres Fernsehkonsums zwar einigermaßen bewußt sind, sie ihn aber in keiner Weise reflektieren oder hinterfragen, sich vielmehr einem verhaltensmäßigen Ritualismus überlassen und so gewissermaßen zu Gefangenen ihrer Routine werden. Als Begründungen bieten sich höchst unterschiedliche Erklärungsmöglichkeiten an. Am hilfreichsten scheinen Konzepte aus dem Feld der Sozialpsychologie. Täglich mehrstündiges Fernsehen, d.h. vorprogrammierte Handlungssequenzen, können den Charakter einer "Droge" annehmen, wobei nicht mehr wichtig ist, was geschehen wird, sondern daß man überhaupt sieht, vor dem Fernsehaltar sitzt und einer Zeremonie beiwohnt.12 Fernsehen wird so zum verbindenden Ritual, das die gemeinsame kulturelle Lebensform der Domestizierung verkörpert. Solche Verhaltensweise können aus einem Denken und Handeln resultieren, die keiner rationalen Prüfung und Planung unterliegen, sondern "einfach so" vonstatten gehen. "Deshalb sind weniger die sogenannten primitiven Gesellschaften als vielmehr die fortgeschrittenen Industriegesellschaften mit Ritualen angefüllt. Erst unsere Gesellschaft läßt sie voll zur Entfaltung kommen. Nicht "Rationalität", Rituale sind gefragt."

Auch der "Uses and Gratifications Approach", der ja von einem aktiven Publikum ausgeht — und Jugendliche sind bei aller Kritik ihrer Konsumhaltung agile Mediennutzer —, kommt in diesem Fall in Argumentationsnotstände, will er als Interpretationsfolie ernstgenommen werden. Selbst wenn die Jugendlichen über bestimmte Erwaltungshaltungen gegenüber den Medien verfügen und jene nut-

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zen, die ihnen maximale Befriedigung ihrer Bedürfnisse versprechen, funktioniert dieses Modell nur dann, wenn sie über die medialen und non — medialen Alternativen Bescheid wissen und eine bewußte Auswahl zu treffen imstande sind, d.h. wenn nicht unbewußte Motive eine rationale Konsumentscheidung verhindern.14 In den hier dargestellten Beispielen wird dieser rationale Akt weitgehend durch die gewohnheitsmäßige Automatik ersetzt. Für Konsumentscheidungen — und Medieninhalte sind heutzutage mehr denn je konfektionierte und standardisierte Massengüter — hat schon die Wirtschaftstheorie nachgewiesen, daß das Konzept des "homo oeconomicus" in dieser idealen Form nicht funktioniert und Konsumentscheidungen von einer Vielzahl anderer, etwa psychologischer oder sozialpsychologischer Faktoren, abhängen.15 Um in die Lebenswelten der Beforschten einzudringen und dort nach Medienspuren oder —Interventionen zu suchen, bedarf es eines engen Kontaktes zwischen Jugendlichen und Forschern. Auch wenn nicht von jener Egalität in der Kommunuikationssituation, wie sie aktivierende Forschung vielfach postuliert, die Rede sein konnte, entstanden doch sehr vertraute, z.T. fast freundschaftliche Beziehungen, die auch nach der Erhebungsphase nicht abrupt endeten. Ohne diese Gesprächsbasis dürfte es nicht möglich sein, so intime Themen wie etwa mediale Ausgleichsversuche für soziale Defizite, in mehreren Gesprächen gemeinsam zu erörtern. Diese Art von Beziehungen brachte für die Forscher eine größere Verantwortung mit sich, als sie bei Fragebogenerhebungen entsteht und aus der sie sich nach den Gesprächen nicht einfach zurückziehen konnten. Trotz diverser Hilfestellungen und Beratung seitens der Forscher, die sich auf verschiedene Probleme der Jugendlichen mit Schule, Arbeitsplatz und Eltern bezogen, dominierte das wissenschaftliche Interesse am fremden Alltag die Forschungssituation .16 Die Arbeit hatte das Ziel, durch anschauliche Selbstzeugnisse der Jugendlichen und durch erläuternde Kommentierung bei den Lesern dieser Texte Reflexionen auszulösen, aber auch die Jugendlichen selbst anzuregen, sich darüber Gedanken zu machen, für welche ihrer Probleme das Fernsehen bzw. andere Medien Hilfestellungen leisten und auf welche Weise sie in ihrem Alltag davon profitieren. Bei einigen Jugendlichen gelang es wohl, eine Sensibilität für derlei Fragen zu wecken und eine andere Sicht des Medienumgangs anzuregen. Einige hatten vielleicht nur ein gutes Gefühl dabei, da ihren Erzählungen einmal jemand aufmerksam zuhörte. An einigen sind die Gespräche aber vermutlich spurlos vorbeigegangen. Dies läßt sich aufgrund der nachträglichen Gespräche vermuten, bei denen sie ihre Meinungen zu den redigierten Gesprächsprotokollen mitteilten und darüber diskutiert wurde, wieweit ihre Sichtweise der Dinge mit jener der Forschung übereinstimmten.17

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In allen Biographien lassen sich charakteristische Anhaltspunkte finden, die das individuelle Medien verhalten der Person plausibel und verstehbar machen. Von den 22 Jugendlichen, mit denen wir gearbeitet haben, wurden hier drei ausgewählt. Ihre Geschichten sind im Hinblick auf ihren Fernsehkonsum etwas spektakulärer als andere, wohl auch deshalb, weil bei ihnen die narrative Kompetenz höher lag als bei anderen. Bei mitteilsamen Personen fallt es zwar leichter, die Zusammenhänge zwischen Biographie und Mediennutzung herzustellen, gerade dies weist aber auf die Fußangeln dieser Forschungsmethode hin.

Die drei

Personen wurden aber auch deshalb ausgewählt, weil für sie das Medium Fernsehen offensichtlich einen höheren Stellenwert einnimmt, als bei vielen anderen Jugendlichen.

Beispiel 1: Hilliard — der "Vielseher" Hilliard ist 19 Jahre alt und lebt in der Stadt Salzburg. Seine Eltern haben sich vor Jahren getrennt und sind im Ausland, der Vater ist Diplomat. Hilliard ist ist bei den Großeltern aufgewachsen, bei denen er auch heute wohnt. Er kommt aus einem großbürgerlichen Haus, verbrachte einige Jahre in Internaten und im Ausland. Seit ca. 8 Jahren ist er von seinen Eltern getrennt. Er sieht sie höchstens ein— bis zweimal im Jahr, z.T. auch seltener. Sein hauptsächliches Lebensproblem stellt derzeit die Schule dar. Er lernt zu wenig, weil ihn die Schule, v.a. einige Fächer (Mathe, Physik, Musik) nicht interessieren. In der 6. Klasse Gymnasium ist er dreimal durchgefallen. Jetzt hat er in eine sog. "Maturaschule" gewechselt, wo er sich extern auf die einzelnen Teilprüfungen des Abiturs vorbereitet. Diese Schulen werden meist nur von Jugendlichen besucht, deren Eltern sich das Schulgeld leisten können. Da er in der Klasse immer der Älteste und stets mit Jüngeren zusammen war, haben sich freundschaftliche Beziehungen zu Schulkollegen nur zaghaft entwickelt. Er hat zwar Bekannte, aber wenig Freunde, er ist in gewisser Weise ein Außenseiter.

Als ich ihn kennenlernte, war er ein sogenannter "Vielseher", der täglich 6 Stunden vor dem Fernsehschirm verbrachte. Ich habe daher versucht, ihn durch aktivierende Forschung zum Überdenken seines Medienverhaltens zu bewegen. Dabei bin ich auf die Ursachen seines Verhaltens gestoßen und habe schnell festgestellt, daß ohne die Veränderung seiner Lebenssituation auch sein Medienverhalten nicht verändert werden kann. Bewußtseia über das Verhalten heißt noch nicht Veränderung des Verhaltens Im ersten Gespräch meinte er: "Fernsehen bestimmt in gewisser Weise meinen Tagesablaufweil

ich mich nach dem richte. Was mir schwer fallt ist, wenn ich

weiß, in einer halben Stunde ist ein Film, der mich interessiert aus irgendeinem Grund, mich aufs Lernen zu konzentrieren. Ich schau dann alle 10 Minuten auf die Uhr — ist es schon so weit?"

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Wenngleich sich an der Dauer des Fernsehkonsums im vergangenen Jahr wenig geändert hat, so glaubt er doch, jetzt etwas besser — zeitweise zumindest — mit dem Medium umgehen zu können. Jedenfalls ist er sich seines Verhaltens bewußt geworden, was allerdings noch keine Veränderung bedeuten muß. Fernsehen als Entschuldigung und zur Belohnung " Um zehn vor sechs fängt irgendein Film an und ich weiß, daß ich von 2, 3 bis 6 lerne und nicht mehr schlafe. Früher habe ich, statt zu lernen, geschlafen und ferngesehen. Das ist jetzt nicht mehr so arg. Aber ich teil mir die Zeit nach dem Fernsehen ein. Denn ich sag mir so — etwas kindisch — wenn ein Film läuft, kann ich ja nicht lernen! Es fällt mir schwer, mich beim Lernen zu konzentrieren, wenn ein Film läuft. Und: Fernsehen dient mir quasi als Entschuldigung. Nichts zu tun geht nicht — statt lernen — so sag ich, ich tu eh fernsehen! Beziehungsweise es ist für mich auch ein Mittel zur Belohnung. Wenn ich zwei Stunden gelernt habe — was vielleicht zu wenig ist — bekomme ich eine Belohnung. Dann sag ich, es ist 18 Uhr und es ist gelaufen. Dann freu ich mich auf Fernsehen. Von sechs bis zehn sitze ich fast jeden Abend vor dem Fernseher."

Hilliard hat Beginnzeiten von Sendungen im Kopf, schaut sich Programmhinweise am Nachmittag an und teilt sich den Tag, z.B. die Essenszeiten, danach ein. Er kennt zahlreiche Tricks und Rechtfertigungen, wie er zum Fernsehen kommt und ist sich ihrer bewußt. "Es ist z.B. wurscht, ob ich esse und fernsehe oder nur esse!" Beziehung zu den Großeltern — Fürsorge und Bevormundung Jugendliche in seinem Alter sind vielfach stark außenorientiert, ein Kennzeichen des Ablöseprozesses von der Familie. Auch Hilliard hat das Bedürfnis, sich zu "entgrenzen", und will eine eigenständige Entwicklung durchmachen. Er glaubt, sich zuhause nicht weiterentwickeln zu können, kann seinen geplanten Weg aber nicht gehen. Die Behinderung geht von den Großeltern aus, die befürchten, daß Hilliard das Abitur nicht schaffen wird und "verwahrlosen" könnte. Da er als lernfaul zu bezeichnen ist, scheinen die Befürchtungen der Großeltern nicht ganz unbegründet. Vor allem die Großmutter, die als Ersatz — Mutter sich aufopfernd ihrem Enkel widmet, hat solche Ängste. Sie verlangt daher — als Anerkennung ihrer Fürsorge — ein entsprechendes Verhalten von Hilliard. Dies äußert sie nicht als Forderung, sondern durch unausgesprochene Vorwürfe, subtile Lenkung, als Psychodruck für Hilliard. Hilliard erlebt diese Erwartungen der Großeltern als Bevormundung. Da die Großmutter zudem nervlich nur noch wenig belastbar ist, gibt es im Hause eine permanente Konfliktsituation, in die der Generationskonflikt und unterschiedliche Auffassungen von Erziehungsstilen mithineinspielen. Dieses Klima, das durch schulische Probleme, großen Erwartungs— bzw. Leistungsdruck ("wir machen alles für dich, und du ...") noch weiter belastet

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wird, ließ Hilliard den Gedanken fassen, von den Großeltern wegzuziehen, obwohl er sie sehr gern hat und auch seine Mansardenwohnung im Haus der Großeltern eigentlich nicht aufgeben möchte. "Die Situation verursacht eine gewisse Lebensunfreude. Ich bin depressiv, weil ich so inaktiv bin, es gibt nicht Spannung und Entspannung. Dies verursacht Aggressionen gegen mich selber, weil ich weiß, daß mein Verhalten falsch ist, aber ich den Mut nicht aufbringe, mein Verhalten zu ändern. Dem versuche ich zu entgehen, wenn ich nach Wien und weg von meinen Großeltern ziehe".

Fernsehen als Kompromiß zwischen Lernen und abends ausgehen Das Verhalten, das zu verändern wäre, betrifft vor allem den Fernsehkonsum, der sich als "Kompromiß" im Hause eingespielt hat. " Wenn ich abends weggehe, empfinden das die Großeltern als Vernachlässigung meiner Pflicht. Fernsehen ist aber im Prinzip nichts anders, denn welche Rolle spielt das, wenn ich von acht bis zehn fernseh oder ob ich in dieser Zeit weg bin? Das sag ich immer wieder, trotzdem finden sie weggehen als stärkere Vernachlässigung meiner Pflicht. Meistens wird es dann sowieso bis elf, aber Fernsehen dauert noch länger".

Um nicht zur Rede gestellt zu werden, wenn er weggeht und um das Wohlwollen der Großeltern nicht aufs Spiel zu setzen, kommt Hilliard durch das Zuhause—Bleiben scheinbar seiner Pflicht nach. Dadurch hat er jedoch den Eindruck, daß er mit seinem Leben relativ wenig anfangt. Die Frage nach dem Sinn des Ganzen stellt sich immer häufiger. "Mittlerweile stört es mich fast, zugeben zu müssen, daß ich soviel fernsehe.1" Vielsehen nicht Ursache sondern Folge seiner Lebensprobleme Das Verhältnis Hilliards zum Fernsehen ist widersprüchlich. Sein Medienverhalten ist nicht Ursache seiner Lebensprobleme, sondern eine Folge. Allerdings scheint es sich zu einem eigenen Problem entwickelt zu haben. Er glaubt, keine Befriedigung durch das Fernsehen zu erleben, sondern fühlt sich "eher schlechter" und hat Schuldgefühle, wenn er lange gesessen ist. Andererseits meint er, Aggressivität abbauen zu können. "Andere machens im Sport, ich projiziere gewisse Aggressionen, die ich hab, ins Fernsehen hinein." Er identifiziert sich oft mit einer Rolle im Film und wird durch Filme auch im nachhinein zu weiterreichenden Überlegungen angeregt. Er glaubt aber nicht, daß er anhand eines Filmes seine eigene Situation ändern könnte, daß er ein im Film angebotenes Lösungsmodell auf seine Probleme anwenden würde. Film und Fernsehen regen ihn eher zu Träumereien an. Fixpunkte im Fernsehprogramm sind daher Filme. "Ein Film muß mich extrem wenig ansprechen, daß ich ihn nicht anschau, das kommt schon selten vor." Lediglich bei alten Hollywood — Filmen macht er eine Ausnahme: "Die hab ich alle schon gesehen".

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Hilliard sitzt entweder im Wohnzimmer vor dem Fernsehgerät der Großeltern (z.B. während des Essens), oder er liegt vor dem eigenen Färb —Fernseh— Gerät, das unmittelbar vor seinem Bett piaziert ist. Serien wie "Dallas", "Denver" oder Krimis sieht er regelmäßig. Ab 18.00 Uhr läuft das Vorabendprogramm, danach — während der Nachrichten — macht er Pause. Das Hauptabendprogramm verfolgt er meist bis Programmschluß. In den Ferien, und wenn er nicht in die Schule geht, sieht er auch das Vormittagsprogramm. Sein Konsum reduziert sich z.B. am Wochenende, denn da ist er abends außer Haus. Fernsehen aus Mangel an Alternativen " Wenns darum geht, daß ich eine Alternative hab, z.B. fortgehen oder Platten aufnehmen, könnt ich mir sehr wohl vorstellen, auf Fernsehen zu verzichten. Wenns aber darum geht, lernen oder fernsehen oder kein Fernsehen und nicht fortgehen, dann wärs für mich schwer. Es ist ja Fernsehen in vielen Fällen auch eine verlorene Zeit, aber es wird vielleicht nicht so unmittelbar bewußt. Es gibt sicher auch Filme, wo es kein Zeitverlust ist, z.B. Filme über Architektur usw. Das war in letzter Zeit und für mich wars ein Anstoß, selbst ein Haus zu konstruieren. Es gibt also mehr positive Aspekte als früher."

Eine Begeisterung für das Fernsehen, wie andere für Sport, Venedig oder das Bergsteigen, empfindet er jedoch nicht. Hilliard weiß, daß er mit seinem Fernsehkonsum an der Spitze liegt, nur ein Kollege in der Klasse ist auch ein "Glotzer". Die anderen haben mehr Alternativen, meint er, man schreibt ihnen vermutlich nicht vor, wann sie zu Hause sein sollen. Für ihn stellt sich als Alternative also eigentlich nur das Fortgehen. Sobald er zu Hause bleibt, glotzt er in die Röhre. "Das ist bei mir eine generelle Tätigkeit". Er glaubt auch, daß dies zu seiner allgemeinen Interessenlosigkeit beiträgt. "Ich reise z.B. gerne, interessiere mich aber nicht für Geographie. Das ist in vielen anderen Beziehungen auch so." Das Fernsehen hindert ihn zeitweilig, das zu tun, was er eigentlich tun will. "Ich fühle mich in gewisser Weise abhängig vom Fernseher, süchtigi" Es genügt ihm daher auch nicht mehr, ein Programm zu verfolgen. Durch ständiges Umschalten von Programm zu Programm mittels Fernbedienung verschafft er sich selbst eine Steigerung des Augenreizes durch künstliche Bewegung. Zwei Filme zur selben Zeit "Ich hab ein 'alternatives' Fernsehen. Das geht allen auf die Nerven. Ich schau mir zwei Filme zugleich an. Mit der Fernbedienung — es macht mich nervös, immer nur an einem Film zu hängen, weil es da Pausen gibt, die langweilig sind — schalt ich einfach auf den nächsten. Es nervt alle, aber ich betreib es regelrecht als Sport, fast jeden Abend, denn ab 22 Uhr läuft in jedem Kanal ein Film. Ich schau nur einen durchgehend an, wenn es keine Alternative gibt oder ein extrem guter Film läuft, aber zwei Filme laufen fast immer. Sobald eine Alternative da ist, versuche ich beide anzuschauen."

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TV—Konsum am Vortag: Femsehen statt zu lernen Den Medienkonsum des Vortags bezeichnet er als "typisch": "Ich hatte heute Schularbeit und anstatt zu lernen hab ich ferngesehen bis Mitternacht. Dann hab ich abgedreht, weil ich gesehen habe, mein Film, den ich eigentlich sehen wollte, kommt nicht."

Am Nachmittag hatte er vorerst geschlafen, dann Musik (Radio und Platten) gehört, eine Stunde Aufgaben gemacht und diverse Tätigkeiten verrichtet, um 18 Uhr war er Essen gegangen. Während des Essens begann das Fernsehen. Von 19 bis 20 Uhr hörte er wieder Musik und machte etwas für die Schule. Bis Mitternacht sah er anschließend fern. Im Bett hörte er noch etwas Musik, die immer läuft, sofern er nicht fernsieht oder lernt. Medien als Partnerersatz Die Medien, allen voran das Fernsehen, haben für Hilliard eine Art von "Partnerfunktion". Durch die Trennung von seinen Eltern verursacht, sucht er sich vermudich neue Bezugspunkte und Bezugspersonen. Ob das Fernsehen auch so ein Bezugspunkt sein könnte? " Wie das mit dem Fernsehen ist, weiß ich nicht, weil der Fernseher schon immer eine große Rolle, nicht wichtige, sondern große Rolle, gespielt hat und da war, seit ich laufen konnte. Ich glaube, ich hab immer schon viel ferngesehen und hab die letzten fünf Jahre gesagt, daß ich fernsehsächtig bin — und hab das langsam ein bißchen abgebaut."

Hilliard lebt seit ca. 8 Jahren von den Eltern getrennt. Durch den Diplomaten—Beruf seines Vaters lernte er einige Kontinente kennen, lebte als Kleinkind mit den Eltern zusammen. Später kam er in ein Internat, das er im nachhinein als nachteilig bewertet ("gemeinsames Leben mit den Eltern ist schöner"). Den Vater sah er oft ein halbes Jahr nicht, die Mutter nur an Wochenenden. Mit dem Vater war er nur während der Ferien zusammen sowie ein— bis zweimal an Wochenenden. Seit er bei den Großeltern lebt, hat sich daran nichts geändert. Die Mutter lebt jetzt in den USA, ein Jahr lang hat er sie nicht gesehen, jetzt war sie in Österreich, in einem Jahr wird er sie Wiedersehen. "Es ist ein unmittelbarer Punkt in meinem Leben, und das ist auch, was mich stört, daß sie nicht mitkriegen, wie ich aufwachse." Hilliards Sozialverhalten ist daher auch gekennzeichnet von der Suche nach Freunden und Anerkennung in der Gruppe, quasi einer "Ersatzfamilie".

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" Wean ich in eine scheinbar intakte Familie komm, berührt mich das, weil ich denke, hoppla, da geht mir was ab. Was mich am meisten stört, ist, daß es mit meinem Vater relativ wenig gemeinsame Erlebnisse gibt, z.B. Vater gebt mit Sohn auf den Berg. Was die Mutter betrifft, tut mit leid, daß sie nicht mitkriegt, wie ich aufwachse. Andererseits hat vielleicht gerade das bewirkt, daß ich mit meinen Eltern ein gutes Verhältnis habe. Früher konnte ich mit meinem Vater wenig anfangen, wenn ich hörte, er kommt, habe ich etliche Zeit gebraucht, bis ich mich einstellen konnte. Ich hab mich nie übermäßig gefreut, bis vor zwei Jahren. Da war ich erstmals wirklich froh, daß er kommt. Jetzt war meine Mutter da, ein Monat lang, und da hab ich mich ebenfalls irrsinnig gefreut und es auch jedem gesagt, den ich getroffen hab. Ich habe zu Vater und Mutter ein eher freundschaftliches Verhältnis, aber es tut mir weh, daß mir gewisse Gemeinsamkeiten fehlen, die wir nie nachholen können. Die sind vorbei."

Deutungsversuch Am Beispiel des Gymnasiasten Hilliard kann man sehen, wie ein Jugendlicher das Medium Fernsehen verwendet, der mit seinen Alltagsschwierigkeiten nur schwer zurechtkommt. Wenngleich der übermäßige Fernsehkonsum nicht als Ursache für seine Lebensprobleme gelten dürfte, so hat sich dieser doch so weit zu einem neuen Problem verselbständigt und hält ihn vom Lernen ab. Seine schulischen Probleme liegen teilweise darin begründet. Wahrscheinlich würde er wesentlich weniger fernsehen, wenn er nicht unter dem Erwartungsdruck der Großeltern stünde, die von ihm Pflichterfüllung — d.h. Lernen und am Abend Zuhause bleiben — fordern. Dies geschieht weniger offen als in versteckten Vorwürfen, also auf psychischer Ebene. Anstatt abends wegzugehen, beugt er sich dem Druck und bleibt zuhause — um fernzusehen. Weder das Ziel der Großeltern wird erreicht, die hoffen, daß er so mehr lernt, noch profitiert Hilliard davon, der sich eingeengt fühlt und mit nahezu 19 Jahren seinen eigenen Weg verwirklichen möchte. Man könnte sagen, daß er durch den Erziehungsstil der Großeltern zu übermäßigem Fernsehkonsum geradezu verleitet wird. Das Fernsehen hatte für Hilliard von klein auf eine große Bedeutung und entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einem Ersatzpartner, der jederzeit verfügbar war. Möglicherweise ist das eine Reaktion auf die seltene Verfügbarkeit der Eltern. Hilliard lebt bei seinen Großeltern, die versuchen, ihm familiäre Wärme zu geben. Er anerkennt auch ihre fürsorglichen Bemühungen, fühlt sich dennoch mit zunehmenden Alter immer stärker bevormundet. Da sich Hilliards Freizeit zumeist in seiner Mansarde im großelterlichen Haus abspielt, z.B. betreibt er Hobbies wie Malen und Musik hören, haben seine Sozialkontakte zu Freunden etwas gelitten. Auch in der Klasse, wo er zwei Jahre älter war als seine Kollegen, fand er nicht die gewünschte Ansprache, die seinem Alter adäquat gewesen wäre. So fühlt er sich zeitweise als Außenseiter, was ebenfalls auf seine Stim-

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mung drückt. Nach dem Wechsel in die Maturaschule und nach Bestehen der laufenden Prüfungen dürfte sich die Frustration etwas gelegt haben. Inkludiert in die Forschungsarbeit war auch ein Versuch "Acht Wochen ohne Fernsehen". In diesen acht Wochen hat sich Hilliard — nach eigenen Aussagen und nach Aussagen der Großeltern — sehr diszipliniert an die Abmachungen gehalten. Sein Unterhaltungsbedürfnis stillte er in dieser Zeit mit Illustrierten, er ging öfter weg und lernte auch etwas mehr. Nach dieser Phase kehrte langsam das gewohnte Fernsehverhalten zurück. Er ist sich seines Verhaltens bewußter geworden, hat es aber kaum geändert. Solange sich die seine Lebenssituation verursachenden Rahmenbedingungen nicht ändern, scheint auch eine merkliche Verringerung des Fernsehkonsums nicht möglich. Hilliards Verhalten entspricht dem, was der amerikanische Sozialpsychologe 19

Martin Seligmann mit "erlernter Hilflosigkeit" bezeichnet. Dies ist der psychologische Zustand, der häufig hervorgerufen wird, wenn jemand die Kontrolle über seine Umwelt verliert, d.h. wenn er an einer Situation nichts ändern kann und wenn nichts von dem, was er tut, etwas bewirkt. Das eigene Verhalten hat keinen Einfluß auf die Konsequenzen, so scheint es. Man kann tun, was man will — die Konsequenzen sind nicht steuerbar. Diese Hilfslosigkeit führt in der Folge zu psychosozialen Störungen, zu Angst und zu Inaktivität. Gerbner hat nachgewiesen, daß Vielseher signifikant häufiger "hilflos" sind als andere Fernseher, daß erlernte Hilflosigkeit und Vielsehen zusammenhängen.20 Vielleicht liegt es an dem Fernseh—Ritus, der Aktivität suggeriert, Sicherheit gibt und die Teilnahme am Programm zur rituellen Ausdruckdform macht. "Fernsehen ist nicht Teilnahme (Partizipation) des Bürgers, ist auch nicht Teilhabe oder Pseudo—Teilhabe (wie die des photographierenden Touristen), sondern es ist Dabei—Sein. Die Hauptsache ist, im Spiel zu bleiben."

Gerade für sozial isolierte Menschen ist diese vorgegaukelte Aktivität und das "Dabei —Sein" ein wesentliches Motiv für den Fernsehkonsum. Auch die Beherrschung der Technik könnte ein Indiz für diesen Zusammenhang sein. "Es gibt ein Potenzgefühl gegenüber der Technik, das den jungen Leuten durch die Werbung vermittelt wird und das von ihnen praktiziert wird im gekonnten Umgang mit HiFi—Türmen und Video, das aber auch etwa sichtbar wird im sindromo del telecomande (..., im schnell hintereinander Umschalten beim Fernsehen)."

Beispiel 2: Babsi — die "Gleichgültige" Babsi ist 14 1/2 Jahre alt, Gymnasiastin mit unterdurchschnittlichen Leistungen. Ihre Mutter ist Journalistin, der Vater Kaufmann im Stahlgewerbe. Ihre Eltern sind wohlhabend und leben mit

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ihr in einem Salzburger Eigenheim. Dort hat Babsi ein eigenes Zimmer mit Stereoanlage und Fernsehgerät. Aufgrund der beruflichen Beschäftigung der Eltern bleibt wenig Zeit für Gemeinsames, aber Babsi kommt gut mit den Eltern aus, sofern nicht gerade über die Schule geredet wird. Sie geht in die 5. Klasse und schwindelt sich von einer Klasse in die andere. Die Schule macht ihr zur Zeit überhaupt keine Freude, entsprechend schlecht sind die Leistungen und Noten. Aufgrund ihres jungen Alters verbringt sie den Großteil der Freizeit zu Hause. Ihre Mediennutzung ist relativ intensiv, da sie auch abends selten ausgeht. Ihr Sozialverhalten kann als sehr kommunikativ eingestuft werden. Sie ist viel mit Freunden zusammen, telefoniert häufig und schreibt auch gerne und oft Briefe. Insgesamt macht sie einen selbstzufriedenen Eindruck. Fernsehen aus Mangel an Alternativen "Ich sitze, wenn ich nichts anders zu tun tun habe, jeden Tag vorm Fernseher von viertel nach Acht bis elf, zwölf (lacht), das ist vielleicht schrecklich, aber wenn ich Möglichkeiten hab am Abend, wenn ich etwas zu tun hab, schaue ich nicht. Wenn ich weg bin, z.B. in den Ferien, da geht er mir überhaupt nicht ab, überhaupt nicht, aber wenn ich nichts anderes zu tun hab, ich setz mich immer vorm Fernseher. Wenn ich keinen Fernseher hätt, würd ich nicht davor sitzen, da würd ich mir was anderes einfallen lassen. So arg wärs nicht, daß ich zum Nachbarn gehen würd!" "Ich schau zwar, sehe aber, daß es ein Scheiß ist. Ich weiß selber nicht, wie ich dazu stehen soll, ich weiß es echt nicht, ich tus einfach. Wenn auf allen Programmen nichts ist, was irgendwo noch infrage kommt, dreh ich den Fernseher ab und Radio auf. Eventuell nehm ich auch ein Buch." Fernsehen aus Gewohnheit Daß der Fernseher abends nicht läuft, kommt kaum vor. Auch Vater und Mutter sitzen davor, der Vater allerdings meist nur während der Nachrichten. Sie dreht das Gerät selber an — "ich achte nicht darauf, wer auf— und abdreht, wer wann wie lange schaut usw." — und schaut ohne Pause und konzentriert (ohne zu essen oder andere Tätigkeiten nebenher zu betreiben) von 20 bis 23 Uhr. So gut wie täglich. "Es passiert mir auch, daß ich sitz und schau und mein Vater fragt, wie der heißt (ein Schauspieler z.B.), und ich weiß es nicht. Also ich weiß nicht, es ist irgendwie Gewohnheitssache. Ich bin zuhause um 20.15 Uhr, jeden Abend wird eingeschaltet und da muß er heute auch eingeschaltet werden. So ungefähr ist das. Net so aus Lust — Lustempfinden würd ich mit dem Fernsehen net verbinden, ich weiß nicht, was es für ein Empfinden ist — weil ich fernsehen will, sondern einfach sich hinsetzen im Wohnzimmer und da steht der Fernseher genau davor. Da muß ich mich hinsetzen und aufdrehn." Babsi fühlt sich im Vergleich zu ihren Schulkolleginnen nicht als extreme Fernseherin. "Es ist bei mir sicher auch extrem, aber nicht so, daß man sagt, die ist fernsehgeschädigt." Babsi meint, daß drei Viertel ihrer Kolleginnen die Serie "Denver —Clan", diesen "Scheiß", anschauen. Babsi auch, "das ist widersprüchlich", weil sie wissen will, "wie es weitergeht". "Denver" ist die einzige Sendung im Fernsehen, die sie bewußt regelmäßig steht. Ein Viertel der Österreich!-

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sehen Jugendlichen macht das ebenso. "Ich muß zugeben ich gifte mich, wenn ich es mir nicht anschauen kann. "Dallas" hingegen sieht sie nur ab und zu. Über "Denver" wird auch in der Klasse gesprochen, obwohl man "darüber nicht reden braucht". Über manche Filme will sie reden, über andere nicht. Fernsehen als Gesprächsstoff " Wenn ich den Film versteh und wenn ich den Film behalten will, wie ich ihn sehe, und er mir gefallen hat, brauch ich nicht drüber reden. Weil ich sage das und ärgere mich, wenn die was anderes sagen."

Femsehen für Babsi ohne negative Auswirkungen Babsi gelingt es aber auch, ihr Fernsehverhalten zu rechtfertigen. "Fernsehen kann ein irrsinniger Scheiß sein und arge Sachen vermitteln, kann aber auch Bildung vermitteln, durch Dokumentationen usw. Kann gut sein für den Menschen und kann ihn schädigen. Das hängt vom Charakter des einzelnen ab, wie er sich beeinflussen läßt."

Sie ist der Meinung, daß sich der Fernsehkonsum bei ihr nicht negativ auswirkt. Sie vergißt die meisten Filme nach wenigen Minuten. Die Frage, an welche Sendungen sie sich aus der Vorwoche noch erinnern könne, verursachte eine Leermeldung. Mutter ist Journalistin — Gespräche über den ORF zu Hause Medien spielen im Leben von Babsi vermutlich auch deshalb eine größere Rolle, weil ihre Mutter als Rundfunkjournalistin tätig ist. Zu Hause wird daher öfter über den ORF (Österreichischen Rundfunk) geredet. Sie erfahrt so einiges über Personalangelegenheiten und Programmgestaltung. "Ich weiß aber nicht, was ich damit anfangen soll." Sie versteht zwar, daß ihre Mutter über ihren Beruf zu Hause spricht, aber "das nervt mich ehrlich gesagt, ich versteh das nicht, daß einer drei Jahre nichts um die Ohren hat als die ORF und dann zu Hause auch noch davon redet. Ich bin froh, wenn ich von der Schule nach Hause komme, daß ich meine Ruhe hab und was anderes tun kann." Einfluß der Eltern auf Freizeitgestaltung Die Eltern nehmen kaum Einfluß auf die Freizeitgestaltung. Sie wissen, wo sie sich abends aufhält, zu Hause bzw. bei einer Freundin, "nicht in der Disco oder so", eventuell im Kino. Ab 22 Uhr ist sie stets zu Hause. Vorschriften gibt es nur abends, den Tag über entscheidet Babsi allein darüber, was sie machen möchte, ob sie z.B. in die Stadt geht oder im Haus bleibt.

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Musik Gemeinsame Freizeitgestaltung mit der Familie unter der Woche passiert selten, da meist jedes Familienmitglied sich in seinem Zimmer aufhält. Babsi verfügt in ihrem Zimmer neben dem Schwarzweiß —Fernseh—Gerät über eine Stereoanlage mit 30 Platten, "bunt gemischt", einen Cassettenrecorder und ein Radio. Dieses oder der Recorder laufen "praktisch immer", auch während des Aufgabenmachens, höchstens dann nicht, wenn sie konzentriert lernt. "Ich find es irgendwie arg, wenn ich im Haus sitz, und es is nichts im Radio oder Fernsehen, es ist total ruhig. Ohne Musik kann ich's mir nicht vorstellen. Wenn niemand da ist und es ganz ruhig ist, brauch i Musik. Nur weil i Angst hab oder so, einfach weils so still ist, das stört mich irgendwie."

Zeitschriften und Zeitungen Babsi liest oder blättert in jenen Zeitschriften, die im Haus herumliegen. Gelegentlich kauft die Mutter für sie "Mädchen", eventuell auch "Brigitte". "Wiener", "Profil" und "Spiegel" sieht sie ab und zu durch, auch den "Stern". Spezielle Jugendzeitschriften liest sie nicht. Früher las sie Comics, vor allem Micky Maus. Arzt— und andere Heftchenromane hat sie auch nicht. "Ich hab

einmal einen gelesen, da hat Mutti das Heft gefunden und einen Aufstand gemacht. " Für die Tageszeitung, die sie aber nicht täglich liest, braucht sie im Schnitt 15 Minuten. Es sind die "Salzburger Nachrichten", ein seriöses Abonnementblatt, im Haus. Ausland und Lokales sprechen sie am meisten an. Sport und Innenpolitik liest sie nicht. "Von Innenpolitik hab ich überhaupt keine Ahnung, es interessiert mich auch überhaupt nicht. Er sollte mich interessieren, das weiß ich selber auch, aber es ist mir ehrlich gesagt wurscht, ich kann da nicht mitreden. Unlängst in der Schule — es ist eine Schande, ich weiß eh — hab ich z.B.. nicht gewußt, daß wir einen Bundespräsidenten* haben'.".

Flipper und Telespiele gefallen Babsi nicht — "das ist das Letzte". hat sie keinen, "ist ein Scheiß".

Walkmann

Bücher Das Medium, von dem Babsi sagt, daß es sie am meisten beeindruckt und auf das sie am wenigsten verzichten möchte, ist das Buch, erst dann nennt sie

Fernsehen und Radio. "Ich hab von einem Buch echt viel mehr. Ich lies lieber ein Buch, als daß ich mir "Kottan" anschau. Ich hab verschiedene Bücher, z.B. *

Die Interviews wurden 1984 durchgeführt, also lange bevor Kurt Waldheim zum österreichischen Bundespräsidenten gewählt wurde.

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auch Märchen, die les ich auch jetzt noch, obwohl ich sie auswendig kenn. Ich les sie immer wieder. Ich kann mich in ein Buch viel besser hineinversetzen wie ins Fernsehen. Eine Art Flucht ist da möglich. Radio ist für mich dagegen wie Kassette — nur Musik." Babsi gibt an, rund 100 Bücher zu besitzen, auch aus der elterlichen Bibliothek holt sie sich Lesestoff. "Von einem Buch laß ich mich irrsinnig beeinflussen, da schieb ich das Lernen auf. Ich kann nicht lernen, wenn ich grad ein Buch lies, egal ob ich einen Test oder eine Prüfung hab. Wenn mir ein Buch gefallt, dann les ich."

Babsi könnte man als "Erlebnisleserin" bezeichnen, die sich mit der Buchlektüre kleine Fluchten verschafft.

Deutungsversuch Babsis Fernsehverhalten könnte als Gewohnheit, als täglicher Automatismus bezeichnet werden. Sie dreht täglich das Gerät an, weil es eben im Wohnzimmer steht, in dem sie sich abends zumeist aufhält. Gleichzeitig meint sie jedoch, darauf verzichten zu können, macht von dieser Option aber kaum Gebrauch. Ein Grund dafür liegt vermutlich im geringen Alter, das ihr noch nicht genügend Mobilität und Out—door —Freizeitaktivitäten erlaubt. Auch hier vermittelt das Fernsehen ein Gefühl von Dabei —Sein und stellt ein Fenster zur Welt mit 5 Kanälen (2 österreichischen, 3 bundesdeutschen) dar. Daß sich ihr Fernsehkonsum negativ auf das Sozialverhalten auswirken könnte, glaubt sie schon deshalb nicht, weil sie die Inhalte der meisten Filme sofort wieder vergißt. Als Zeitvergeudung sieht sie ihre Abendunterhaltung aber nicht. Die Mutter von Babsi ist als Journalistin tätig. Schon daraus ergibt sich für sie eine nähere Beziehung zu den Medien, denn in der Familie wird die Tätigkeit der Mutter häufig, nach Babsis Empfinden zu häufig, besprochen. Für ihren Medienkonsum vermag sie davon nichts Hilfreiches abzuleiten. Babsi hört den ganzen Nachmittag über Musik, Radio oder Kassetten, weil sie die Ruhe im Haus nicht ertragen kann, wie sie sagt. Nur während des — seltenen — konzentrierten Lernens, und wenn sie ein Buch liest, dreht sie die Musik ab. Der ständige Klang - ein Ritus ähnlich dem Rasseln tibetanischer Gebetsmühlen —, der "das Bewußtseinsfeld überschwemmt unter dem Vorwand, ein Vergnügen zu bieten", kann nach Meinung von Moles zu einer Lähmung, zur Immobilisierung des Bewußtseins führen.

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"Die so oft betonte Gefahr liegt im Ausfüllen der Stille durch die ständige Zwischenschaltung audiovisueller Medien, besonders des Radios in die provisorische Leere des BewuBtseinsfeldes, dieses Feldes (...), das noch Grund—Reflexion, auf jeden Fall für eine innige Ausdruckskraft, sein könnte."

Fernsehen gehört für Babsi zur Alltäglichkeit und zu den Unauffalligkeiten des täglichen Lebens, die eben nur oberflächlich wahrgenommen wird. Anders ist das bei Büchern, in die sie sich hineinversenken und dabei die Umwelt vergessen kann. Was sie in den Medien sucht, ist Unterhaltung und Ablenkung, kaum Information, schon gar nicht politische. Babsi macht für eine noch nicht 15jährige einen sehr reifen Eindruck, vielleicht sogar einen selbstgefälligen, zumal sie ihre rhetorische Begabung hoch zu schätzen weiß. Den kleinen Dingen des Lebens scheint sie gleichgültig gegenüberzustehen. Das trifft auch auf die Schule zu, die ihr "wurscht" ist, obwohl sie in einigen Fächern ziemlich gefährdet ist. Allerdings könnte die zur Schau getragene Selbstsicherheit auch als Schutz dienen, um Problembewußtsein für andere Fragen erst gar nicht aufkommen zu lassen.

Beispiel 3: Stefan — der "Aus— und Wiedereinsteiger" Stefan ist 18 Jahre alt, war Gymnasiast, verließ die Schule und wurde Werkstoffprüferlehrling, war dann 2 Jahre arbeitslos und ist jetzt in einer katholischen Internatsschule in Niederöstereich, einem riesigen Kasernenbau. Sein äußeres Erkennungszeichen ist ein Nasenring, der an die Zeit erinnert, in der er sich als Punk verstand. Seine Eltern, Arbeiter, sind geschieden, der Vater ist Alkoholiker. Eine Beziehung zu ihm hat Stefan nicht. Die Mutter lebt mit einem Freund zusammen. Der Druck in der Familie und die Probleme in seiner früheren Schule, aus der er ausgeschlossen wurde, brachten ihn dazu, mit den bürgerlichen Normen zu brechen und an den Rand auszuweichen. Er lebte eine Zeitlang als Punk in einem Wiener Jugendzentrum "Gassergasse", nahm Drogen und lebte vom Schnorren. Kontakte mit der Polizei waren in dieser Zeit häufig. An der Lehre hatte er so wenig Freude, daß er die Arbeitslosigkeit vorzog. In dieser Zeit war seine Hauptbeschäftigung das Drücken der Fernbedienungstasten des Fernsehapparates — wenn er zu Hause war, denn mit den Eltern reden ging nicht, er stritt nur mit ihnen. In einer Gruppe von Punks suchte er einen neuen Bezugspunkt, eine Ersatzfamilie. Aber auch diese bot ihm nicht die Geborgenheit, die er suchte. Erstmals hat er jetzt eine Person gefunden, der er vertraut. Seine Freundin geht in dieselbe Klasse wie er.

Erste Medienkontakte Stefan kann sich an seine ersten Kontakte mit Medien kaum erinnern, "i waß nur mehr, wie i mei erstes Radi kriegt hab', da war i so 4, 5 Jahr, des hab' i heut no". Er weiß zwar, daß zu Hause immer ein Radio stand, "der is dauernd grennt", und er glaubt schon lange "irgendsoan Schwarz — Weiss—Kübel" zu

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Haus gehabt zu haben, aber an die Inhalte aus Fernsehsendungen, Bücher oder Märchenkassetten kann er sich kaum erinnern. In der ersten Wohnung war da noch ein Plattenspieler, auf dem die Eltern "Louis Armstrong, Hans Albers, Hans Moser und was da halt so gibt" gehört haben. In der zweiten Wohnung hatten sie dann schon eine Stereo—Kompaktanlage und die letzten zwei Jahre einen Fernfernseher mit Fernbedienung (vorher ein Schwarzweiß—Gerät). "Und wie der dann kommen is, bin i dauernd dagsessen ... tipp, üpp, tipp ... is eh klar." Mit ca. 10, 11 Jahren bekommt Stefan auch seinen ersten Kassettenrekorder und übernimmt die Stereoanlage von den Eltern. Fernsehen Stefan durfte schon im Vorschulalter bis 18.00 Uhr fernsehen — "Betthupferl und dann ab in die Heia". In der Volks— und Hauptschule sah er bis 21.00 Uhr, und mit 13, 14 Jahren "hat si des eben aufghört, da hab i dann gschaut, wann i wollf. Was sich Stefan anschauen durfte, war egal, "es is net drum gegangen, was i ma anschau, sondern wielang i ma des anschau". Aber eigentiich, meint Stefan, hat er da sowieso nie viel ferngesehen, "weil meistens, wenn 's schön war, waßt eh, ganze Rotte und so, das warn lauter Neubauten, da ham sich alle kennengelernt und warscht weg — da warn wir nie daheim". Erinnerte Inhalte von Fernsehsendungen Auf die Frage, ob er sich noch an irgendwelche Sendungen in seiner Kindheit erinnern kann, bringt Stefan — nach einem Hinweis — die Beispiele "Minimax" und "Immer wenn er Pillen nahm", "des war a ganz irre Sendung, aber wie des war, waß i nimmer". Außerdem sah er viele Tiersendungen und Serien wie "Bonanza", "Shilo Ranch" u.a. Präferenz für brutale Inhalte in den Medien An zwei Filme mit sehr brutalen Szenen kann sich Stefan noch sehr genau erinnern, "de tät i jetzt gern sehn, weil da warn ziemlich brutal, de warn schon ganz arg". Arbeitslosigkeit führt zu Vielfemsehkonsum Sein intensivster Fernsehkonsum fand in der Arbeitslosenzeit statt, "am Anfang net, aber dann schon". Wenn er zu Hause war, ist er den ganzen Tag vor dem Fernseher gesessen, ganz egal, was gesendet wurde. "Weil was soll i sonst machen, mit meine Eltern red' i nix mehr, streit i nur, und dann kann i eh nix mehr machen, ja und Radio hören (meint Kassetten)."

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Er kannte zu dieser Zeit das Fernsehprogramm auswendig, konnte beinahe exakte Sendezeiten angeben. Zu dieser Zeit des exzessiven Fernsehkonsums sah Stefan oft bis zum Sendeschluß aller sechs Programme fern. "Und a, wenn i mi bei dem Film net auskenn', weil i nur die letzte viertel Stund siag, den schau i ma a an".

Tagesablauf und Mediennutzug Stefan hat den Tag vor dem ersten Interview geschildert, der aber charakteristisch für diesen Abschnitt seiner Lebensgeschichte ist. Er steht um 10.00 Uhr auf, Frühstück und "um halb elf geht's dann los". Vormittagsfilm. F.: Was war des für a Film? "Ja, des is es ja eben, verstehst, weil i soviel fernseh', daß es mir ganz wurscht is, was da is."

Stefan weiß nur, daß es irgendein Heimatfilm war; es folgte eine Dokumentation über 'Gran Canaria', "Krebse und vü Landschaft". Die Mittagsredaktion, eine Nachrichtensammlung, geht genauso vorbei, wie der Heimatfilm, "es is eh immer desselbe". Dann essen, nachher ins Bett. Er hört Kassetten und liest Comics. Um 16.00 Uhr geht fernsehen weiter, "über Jugendgruppen, de so Häuser renovieren". Stefan sucht sich im Fernsehprogramm die Sendungen aus, "wo's am meisten zugeht, Hauptsach' es tut si was". Anschließend gibts "Auch Spaß muß sein", "Dick und Doof" und "Panoptikum". Danach fahrt Stefan in die Stadt, "gleich ins Obelix" (Spielhalle, K.L.) und spielt Videospiele. Um 22.00 Uhr will er sich dann zu Hause "French Connection" (einen ziemlich brutalen Film) ansehen, doch seine Eltern sehen sich gerade einen Piratenfilm mit Errol Flynn an, gezwungenermaßen also Stefan auch. Schließlich sieht er doch noch die letzten 40 Minuten von "French Connection", "des war da ziemliche Wahnsinn". Am längsten läuft an diesem Abend der Film "Die Antwort weiß nur der Wind", von dem Stefan noch die letzte halbe Stunde sieht. Er schaut, bis alle Programme aus sind. Fernsehen statt aktiver Freizeitgestaltung Schon während seiner Lehrzeit verschwand das Interesse an neuen Freizeitgestaltungsmöglichkeiten. Stefan verbrachte dann seine Freizeit zumeist in Lokalen, v.a. im "Elektro —Schmid", einem New — Wave — Beisl in Linz. Als Arbeitsloser löste dann der Fernseher gänzlich jede andere Freizeittätigkeit ab. Als einziges blieben seine Tiere, die ihn nach wie vor begeistern.

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Bevorzugte Medieninhalte: Brutalität Es fallt auf, daß Stefans Eltern seinen Fernsehkonsum nicht inhaltlich, sondern ausschließlich zeitlich reglementierten. Auf die Frage, wieso ihn gerade brutale Inhalte so ansprechen, meint er: "Ja, i waß net, amol fäuln jeden de Kindersendungen an, da schaut si jeder irgendwas an, wo's einfach wild zugeht und so ... das war einfach mehr Gaudi, weil si einfach was tuat, weil bei an Tierftlm, da ttiagn de Vogerl 'njeeg' und da landens'tafT."

Stefan hat von Wild—West—Filmen die brutalen Szenen besser in Erinnerung als z.B. ein Happy—End. Er informiert sich aber auch gezielt über Brutales: RAF —Schleyer Attentat, Guinea—Präsident richtet seine engsten Vertrauten hin, Marquis de Sade im Playboy, Hochwasserkatastrophe in Deutschland hat ihm gefallen, "weil's dem Staat Geld kostetund 'der' will ihn sowieso nur ausnutzen. Für Sport interessiert Stefan sich wenig, "außa sie haun sich ziemlich her." Fernsehen im Alltag Durch die Schule hat Stefan jetzt viel weniger Zeit zum Fernsehen, "aber mir geht er a net ab, da Fernseher". Er könnte im Heim fernsehen. "Aber i hab einfach ka Lust, i sitz viel lieber oben bei de Leit, da gibts de voile Gaudi, wir tuan Tennis spielen im Zimmer und schiaßn de Lampn zsamm' und d'Fenster und alles wird hin, des is scho klaß."

Am Wochenende zu Hause schaut er dann doch wieder mehr. "Da erzähl i meiner Mutter was los war ... und da sitz ma halt da und ... — ja, aber irgendwo drah' i doch den Fernseher aur.

Fernsehen ist für Stefan hauptsächlich Unterhaltung. "Und a wenns no so fad is, es is nur, daß sich einfach wenigstens irgendwas rührt."

Er sieht oft aus Langeweile fern. "Ja, des is wahrscheinlich, daß ma einfach so fad wird, daß i den Fernseher aufdrah', des is, na i weiß net, ob's jetzt überhaupt noch Unterhaltung is, vielleicht mach i des echt nur ... "Aber i bio no net so weit, daß mi de Leit im Fernsehen unterhalt ... sowas gibts ja a."

Kino und Filmauswahl An seine ersten Kinoerlebnisse kann sich Stefan überhaupt nicht mehr erinnern, "des muaß irgendwann einmal ganz früher gewesen sein, vielleicht war i mit

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meine Alten". Er kann sich vorstellen, daß er anfangs mit seiner Mutter oder seiner Tante im Kino war und später mit Freunden, um nicht alleine zurückzubleiben. Gesehene Filme fallen ihm keine mehr ein, "was i no waß is 'Superman' und 'Grease', 'Donald Duck', und ein paar 'Utopische'. Dazu kommen natürlich Punk —Filme ("Great Rock and Roll Swindle", "Jubilee"), "andere Filme san eh immer desselbe, de braucht ma si net anschaun". Diese Anschauung kann von ihm wohl kaum überprüft werden, weil er sich eben kaum andere Filme angesehen hat, aus Geldmangel und jetzt durch die Schule verursacht "ka Zeit". Trotz der Präferenz für Punk—Filme meint Stefan, daß diese Filme für sein Verhalten nicht von Bedeutung waren, auch für seine Träume nicht "Na, meine Träume de mach i ma selber, da laß' i mi von kan beeinflussen, von nix." Punk—sein ohne Musik gibt es nicht Musik war für Stefan immer schon wichtiger als Fernsehen oder Bücher. Es besteht zwischen Stefans Biographie und der Musik mehr Beziehung als beispielsweise zu Filminhalten. Zuerst aber bekam er von seinen Eltern Märchenplatten, "Rübezahl oder irgendwas und die 7 Raben". Die wurden nach einiger Zeit langweilig. "Ab an gewissen Zeitpunkt hängt's da dann sofort aussa, is eh klar, da kennst des dann, genauso wie jedes 'Batman'—Heftl oder 'Lasso'."

Musik statt Fernsehen Ansonsten kaufte sich Stefan keine Platten, er überspielte lieber ausgeborgte Platten auf Kassetten. In der Volks— und Hauptschulzeit war der Radiorekorder wichtiger als das Fernsehen. Zum Aufstehen "03 — Wecker", und abends Kassetten. "I hab viel Kassetten ghorcht, mehr als ferngschaut. I bin um 21.00 Uhr ins Bett gangen und bin bis um 24.00 Uhr aufgeblieben und hab' Kassetten ghorcht. Des hat ma dann eigentlich vü mehr taugt, da im Bett liegen und so, Heftl, Radio."

Teilweise hört Stefan Jugendsendungen, aber die Radiosendungen wurden im Gegensatz zu den Kassetten bald uninteressant. Die Musik, die Stefan in dieser Zeit bevorzugte, war Softrock z.B. von "Pink —Floyd" "und was halt da alles gebn hat."

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Mit seiner Entwicklung zum Punk wurde auch die Musik anders, schneller und "irgendwie härter". Stefan hörte dann speziell Punk—Rockgruppen wie die 'Sex Pistols'. Es ging ihm aber dabei nicht um die Texte, sondern einfach um den Sound. "Die hämmern de ganze Zeit nur so dahin]" Im Internat hörte er gezwungenermaßen auch andere Musik. "Amol is aner einikotnmen, ja, rebellische Musik wollen wir net ... aber i spiel's immer wieder und wir san da 12 Leut".

Die Zimmerkollegen haben durchweg einen anderen Musikgeschmack. Vom Ton zum Text War zur Zeit der Arbeitslosigkeit und der stärksten Identifikation mit Punk der Sound der Musik entscheidend, so ist mittlerweile der Text wichtig geworden. Es geht bei den — meist deutschsprachigen — Gruppen, die er sich jetzt anhört, viel um Politik. "Und des ganze System und so ...ja des is es eben, dadurch daß i älter werd', interessiert mi des mehf.

Musik als positiver und negativer Stimulus Die Musik kann für Stefan außerdem Stimmungen verstärken und teilweise hervorrufen. Zu Hause, wenn er sich nach Streitereien ins Zimmer zurückgezogen hatte, wirkte Musik auf ihn entspannend. Stefan meint, harte Musik könne bei ihm Aggressionen abbauen, aber auch verstärken. Er nennt ein Beispiel, als es in der Schule überhaupt "net hinghaut hat" und ihn obendrein "de Leut no ankotzt ham, mi einfach net in Ruah lassen ham". Da legte er sich Musik auf, die ihn "irr aggressiv" machte. "I werd dann ziemlich brutal und da hab i dann amol an im Zimmer zsammgschlagn." Musik kann ihn aber auch 'antörnen', zum Überlegen oder sogar zum Träumen bringen. "Wenn i ma Musik anhorch', ja da muaß i schon vü überlegn, da denk i oft dran, daß i, sag' ma, aulhör mit der Schule, was total Neues mach ... und wie i mein Leben weiterfuhren will, weil i will net in an Zeichenbüro den Rest meines Lebens verbringen, also des auf kan Fall."

Bücher sind "z'vü Buchstaben auf amol" Zu Büchern hat Stefan wenig Beziehung.

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"Bücher ha' i, glaub i, nie gelesn, des war ma ζ 'farblos." An Struwelpeter und Winnetou kann er sich dunkel erinnern. Ansonsten, wenn er einmal ein Buch angefangen hatte, las er meist nur die ersten 4, 5 Seiten, "uuuh und da hab i dann gschaut, und wie gehts jetzt aus, aha, o.k. — fertig." Immer wieder erwähnt Stefan, daß Bücher "so fad" sind, auch "1984" konnte ihn nicht begeistern. "I hab's ma halt kauft, weil i a Referat drüber halten soll." Wenn er überhaupt Bücher liest, dann vor allem solche, wo es "blutig" zugeht (Nazibücher, ein Buch in dem Foltermethoden beschrieben werden, Gespenster— und Gruselromane). Dennoch dürfte sein eigener Ausspruch das Leseverhalten am besten beschreiben: "Bücher san ma z'vü Buchstaben auf amoP." In der Zeitung interessieren ihn Unfälle, Todesfalle, Katastrophen Stefans Lesegewohnheiten bezüglich Zeitungen haben sich in den letzten Jahren kaum geändert. "I hab vü Kreuzworträtsel gelöst, a wenn nix dabei aussakommen is und des 'Wissen sie schon', und dann vorn de Kurzberichte, was so los war und da hams wieder was hingwacht, und da war da Mörder ... Politik, da hab i ma de Karikatur angschaut".

Seine Eltern haben zu Hause die "Kronen —Zeitung", Österreichs größte Boulevardzeitung, abonniert, in der Stefan hauptsächlich über Unfälle, blutige Geschichten, Todesfalle und Katastrophen liest. "Da, wo Gsetzln stehn, da war immer irgendwas, Erdbeben in Neapel, oder so was, na — Erdbeben —, da muaß ma glei schaun, wieviele Tote warn, is jemand verletzt wordn, des muast natürlich glei lesen."

Ansonsten liest er noch "Wie's Wetter wird", etwas Sport und natürlich, wenn etwas über Punks berichtet wird. Comics ersetzen Bücher — Comics Sprache Anstelle der Bücher las Stefan Comics. In seiner Sprache spiegeln sich diese Lesegewohnheiten wider. Mit Ausdrücken wie 'zack', 'taff, 'uähh* unterstreicht er seine Sätze. Wie Stefan zu den ersten Comics—Heften kam, weiß er nicht mehr, aber er hatte da "irgendwann so an Stoß". Zum Sammeln kam es nie, weil er die Comics immer wieder verlor. Seine Lieblingshefte, "i glaub' 'Bessy' und 'Buffalo Bill' hab' i vü glesn", wurden bald von "Donald Duck" — Büchern, "glei so 100, 200 Seiten, daß si's auszahlt" abgelöst. Stefan las Comics abends nach der Schule (in der Hauptschulzeit), zwischen Vormittags - und Nacnmittagsprogramm als Arbeitsloser und liest sie jetzt im Internat, "daß endlich des Studium vorbei is. Da les i 'Batman', und 'Superman', der impotente Kerl."

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Spielhalle als Aufenthaltsraum tagsüber In Lokalen und Spielhallen bekam Stefan Kontakt zu 'videogames' und Flipper, wobei der Flipper nicht soviel Interesse weckte wie das Videospiel. Als er mit den Punks unterwegs war, wurde die Spielhalle zum Tagesaufenthaltsraum, weil, die Punks nirgendwo anders hin konnten. Und auch, "weil untertags nix offen hat". Wegen des Spielens direkt ist er nicht hingegangen, die Spielhalle war mehr Aufenthaltsraum. Außerdem hatten die Punks ein sehr gutes Verhältnis zur jungen Besitzerin, die sie teilweise auch veranlaßte, wieder arbeiten zugehen.

Videospiele sind die anspruchlosesten Medien Stefan spielte viel auf Automaten. Als z.B. im "Schmid" ein Videogerät 'gratis' bespielbar war, ist er mit Freunden den ganzen Abend bis zur Sperrstunde vor dem Automaten gesessen, "obwohl es schon ziemlich fad war".

Werbung als Unterhaltungsmittel Für Stefan ist die Werbung, die er vor allem im Fernsehen sieht, nur eine Gaudi. "Werbung is a Spaß für mi. Ich schau' mas an, recht lustig und so, wie des alles gspielt is. Verstehst, 'Strahler 80', ja wenn man verliebt ist, nraucht ma 'Strahler 80', kußecht und so, is doch alles a Scheiß', i putz ma zeitweise überhaupt net de Zähnd und kann totzdem herumschmuso."

Stefan glaubt nicht, daß ihn die Werbung beeinflussen könnte. Sie bietet ihm auch keine Vorbilder oder Idole:

"Mei anziges Idol bin i."

Deutungsversuch Stefans Auftreten ist gekennzeichnet von Selbstvertrauen. Er erweckt nicht den Eindruck, als müsse er Schwächen verdecken. Es dürfte eher daran liegen, daß er längere Zeit am Rande der Gesellschaft stand und er für sich das Problem aufgearbeitet hat. Sein Medienkonsum ist von zwei Auffälligkeiten gekennzeichnet: erstens von der stereotypen Konsumweise während der Arbeitslosenzeit und zweitens von seiner Vorliebe für gewalttätige und brutale Inhalte. Was geschieht, wenn der ganze Tag plötzlich zur 'Freizeit' wird, wie es bei Arbeitslosen der Fall ist? Aus der schon zitierten Studie "Lebensweise von Arbeitslosen", in deren Stichprobe 43%

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der Befragten jünger als 25 Jahre alt waren, geht z . B . hervor, daß aus Langeweile und aufgrund der wenig vielversprechenden Zukunftsaussichten ein häufigerer und auch weniger reflektierter Fernsehkonsum auftritt. Für die Hälfte der Befragten wurde das Fensehen zur überwiegenden Beschäftigung im Tagesablauf. Die Programmpräferenzen lagen eindeutig bei aktionsreichen und lustigen Filmen. Fernsehen hilft auch Stefan diese Krisenzeit zu überwinden. Auch seine Präferenz für brutale Inhalte läßt sich aus dieser Konstellation heraus erklären. Zumindest auf dem Fernsehschirm muß sich etwas rühren, wenn schon der Alltag eintönig und frustierend ist. Bei Stefan war diese Neigung jedoch schon vor seiner Arbeitslosenzeit vorhanden. Er ist mit viel Gewalt in seiner Umwelt aufgewachsen, er ist in sie hineinsozialisiert worden. Sein Aggressionspotential könnte daraus ebenso erklärt werden wie seine Suche nach Vertrauen und sozialer Geborgenheit. "Die Frage, warum sich gerade Jugendliche die Gewaltfilme ansehen, ist nicht einfach zu beantworten. Geht man davon aus, daß viele von ihnen bei Eltern aufgewachsen sind, die selbst schon desillusioniert und gereizt aufgrund mangelnder Lebensperspektiven waren — (...) — oder die sich, dem verlockenden Konsum folgend, verstärkt aufs Geldverdienen verlegten, so ist anzunehmen, daß diese Jugendlichen schon während ihrer Erziehung und verstärkt mit Lieblosigkeit und elterlicher Gewalt in Berührung kamen. Die Folge könnte ein hohes Aggressionspotential sein, das insbesondere aus frühen Entwicklungsphasen stammt, in denen befriedigender Körperkontakt eine zentrale Bedeutung hat. Ihre eigene Perspektivlosigkeit angesichts des heutigen Mangels an Möglichkeiten dürfte dieses Grundgefühl weiter verstärken. Man könnte von einer Nation ungeliebter Kinder sprechen oder von einem gesamtgesellschaftlichen Rückfall auf frühere Entwicklungsstufen im Zuge übermächtiger Technologie und struktureller Gewalt." Schließlich haben wir es bei den heutigen Jugendlichen, der ersten Generation, die mit dem Fernsehen aufgewachsen und vielfach damit allein gelassen wurde, mit "erzogenen Konsumenten" zu tun, wie von Zielinski sehr treffend herausgearbeitet worden ist: "Die heute 14— bis 18jährigen (und die Jüngeren selbstverständlich auch) gehören nahezu vollständig zur ersten Generation, die seit dem Windelalter mit audiovisuellen Produkten bedient wurden, besonders auch durch das Fernsehen. Wer mit vier die ersten Jagd— und Schlägerszenen von Tom und Jerry vorgesetzt bekam, mit sechs seine Bonanza—Schießereien hinter sich gebracht hat, sich mit zehn die ersten Pakete Kojak reingezogen hat, mit zwölf die ersten tausend I-eichen der TV—Nachrichten während des Abendessens zu verdauen gelernt hat —, verlangt mit vierzehn härtere Kost, falls dazwischen seine Wahrnehmungsweise, sein ethisches Empfinden und sein Verstand gegenüber audiovisuellen Konstrukten nicht kritisch sensibilisiert worden ist. Steigerungen müssen her in dem, was man für das Wesentliche an filmischer Bewegung hält: die Action. Und das heißt aktuell, daß mindestens Köpfe rollen oder Gedärme spritzen müssen. Viele Pädagogen und andere von Berufs wegen Besorgte stehen dem Phänomen so hilflos gegenüber, weil sie es als plötzliches Unwetter auffassen und nicht als Gewitter, das sich in einem langen Prozeß der Fernseh—Sozialisation zusammengebraut hat und sich nun in spektakulären Erscheinungen entlädt. "2S

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Verstehen statt Messen — Nachdenken über Methoden und Wahrheit Forschung dieser Art verlangt einen hohen Arbeitseinsatz und fordert von allen Beteiligten Ausdauer und Engagement, bringt aber auch ein größeres Maß an Befriedigung. Was bringt sie aber dem Fach Kommunikationswissenschaft, wie weit sind Deutungsversuche und Selbstzeugnisse für die Rezeptionsforschung von Nutzen? Beim Schreiben des Endberichts hatten wir den Eindruck, jetzt erst eigentlich wüßten wir genug, um die "richtigen" Fragen zu stellen und die Ergebnisse entsprechend empirisch abzusichern. Wir haben außerdem bei weitem nicht alle theoretisch begründbaren Interpretationsmöglichkeiten ausgeschöpft, sondern uns mit einer mehr am Einzelfall als an der Theorie orientierten kommentierten Deskription begnügt, auch aus Angst, zu spekulativ von einem Fall — oder von einem Satz, wie das eine interpretativ arbeitende Lehrmeinung praktiziert — auf das Ganze zu schließen. Sinnvoll erschiene es jetzt, die Protokolle nochmals mit Kollegen anderer Wissenschaften, etwa mit Sozial— und Entwicklungspsychologen, durchzuarbeiten, d.h. verstärkt interdisziplinär vorzugehen. Diese würde möglicherweise Aufschlüsse über das Gewaltpotential, über gesellschaftliche Lethargie und jugendliche Antriebslosigkeit, über Hilfslosigkeit und Fluchtverhalten geben, welche über die hier angestellten Deutungen hinausreichen müßten. Dies bedingt in jedem Fall, daß sogenannte "qualitative" Forschung, die ja alltägliche Zusammenhänge aufdecken will, die nicht durch eine wasserdichte Theorie schon vorher programmiert worden sind, im Forschungsdesign möglichst offen angelegt sein muß. Ob es sich tatsächlich um ein "aktives" Publikum handelt, soll die Empirie zeigen, nicht schon im Forschungsansatz indoktriniert werden. Da interpretative Verfahren wie Beobachtung oder narrative Interviews den Alltag besser zu deuten imstande sind als standardisierte Fragebögen, sollen qualitativ operierende Untersuchungen auch der quantifizierenden Forschung vorgelagert werden. Diese würden ohne derartige Explorationen Gefahr laufen, Sinnlosigkeiten zu produzieren und empirisch zu belegen.26 Qualitative und quantitative Forschung könnten so einander ergänzen und eine systematische Einheit innerhalb der Methodologie bilden. Für die Rezeptionsforschung könnte dies zu neuen Fragestellungen und Antworten führen. So würde es auch eine biographisch orientierte Kommunikationsforschung leichter haben, Phänomene der Rezeption von Medieninhalten — wie die hier diskutierte Ritualisierung des Fernsehkonsums — von Einzelfallen ausgehend auf ein verallgemeinerbares Niveau zu bringen. "Vom zuerst kaum überschaubaren Muster, das vielen Einzelfällen zugrunde liegt, wird versucht, den Einzelfall zu erschließen; von zuerst kaum generalisierbaren Einzelfällen wird

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versucht, auf ein zugrundeliegendes Muster zu schließen. Weder einmalige Ableitung noch einmalige Induktion bilden hier die Interpretationsschritte, sondern prozessual ineinander verflochtene Bewegungen zwischen Einzelfall und Grundmuster (für viele Einzelfälle). Die Voraussetzung für diese Möglichkeiten der Beziehung zwischen Einzelfall und Grundmuster ist eine grundlagentheoretische: Daß nämlich das Allgemeine nicht durch Aufsummierung, Durchschnittsbildung oder durch sukzessive Abstraktion von den Einzelfällen gewonnen werden kann, sondern daß das Allgemeine bereits in den Einzelfällen steckt."

Biographien und ihre soziokulturellen Rahmenbedingungen sind so subjektiv wie sie objektiv sind, denn in der Alltagswelt jedes einzelnen schlägt sich die gesellschaftliche Struktur nieder. Exemplarische Forschung kann im Einzelfall die gesellschaftliche Gesamtstruktur experimentell entdecken und anstelle von Durchschnittstypen "lesbare Gesichter" herausbilden. Dies deckt sich weitgehend mit den Vorstellungen, die etwa Adorno von einer kritischen Sozialforschung hatte.28 Die individuelle Lebenswelt ist auch jener Ort, an dem die Kulturindustrie ihren Niederschlag findet, wo Medienprodukte ab— bzw. zwischengelagert werden. Medieninhalte und Medienapparatur als solche gehen in die Lebensgeschichten der Menschen ein und werden selbst ein Teil davon, bestimmen als Möbelstück das Ambiente der häuslichen Privatsphäre und tragen zur Alltagsstrukturierung bei - in vielen Fällen wohl auch zur "Kolonialisierung" der Lebenswelt, wie Habermas in seiner "Theorie des kommunikativen Handelns" ausführt. Um diese Zusammenhänge zu erfassen und zum besseren Verständnis des menschlichen Erlebens beizutragen, bedarf es jedoch einer Vorgehensweise, die sich nicht durch hegemoniale Paradigmen und Methodenkonventionen — oder der Diskussion darüber — selbst beschneidet.

Anmerkungen 1

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Vgl. etwa die Studie "Jugend '81" aber besonders die fünfbändige Studie "Jugendliche und Erwachsene '85", durchgeführt im Auftrag des Jugendwerks der Deutschen Shell. Opladen 1985. Für Österreich vgl. "Bericht zur Lage der Jugend in Österreich". Wien 1987; ferner: ÖIBF: Jugendkultur. Wien 1986. Zur Theorie alltags— bzw. lebensweltbezogener Sozialforschung vgl. die Schriften von A. Schütz, H. Garfinkel sowie — v.a. den ethnomethodologischen Ansatz betreffend — die Arbeiten der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen. Vgl. Luger, K.: Medien im Jugendalltag. Wien-Köln—Graz 1985. Ferner Bonfadelli, H. u.a.: Jugend und Medien. Frankfurt 1986. Sander, U. und Vollbrecht, R.: Kinder und Jugendliche im Medienzeitalter. Opladen 1987. Vgl. Luger, K.: Medienbiographien — Forschung "von unten", in: Filmkunst 3/4 (1986), S. 66 — 71. Themenheft zur Tagung "Das Publikum der achtziger Jahre als Gegenstand der Forschung für Film, Rundfunk und Fernsehen. Ferner: Rogge, J. — U.: Video und familialer Medienalltag. In: Medien und Erziehung, Heft 5 (1983), S. 2 7 3 - 2 8 1 . Eine ausgezeichnete Einführung in die Methodologie subjektivitätsorientierter Sozialforschung liegt mit dem Band von K. Wahl, M.—S. Honig und L. Gravenhorst, Wissen-

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Kurt Luger schaftlichkeit und Interessen. Zur Herstellung subjektivitätsorientierter Sozialforschung, Frankfun 1982, vor. Zur biographischen Methode vgl. insbesondere W. Fuchs: Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. Opladen 1984. Die Anwendung in der Kommunikationsforschung betreffend vgl. auch die Beiträge von Kübler, Hickethier und Rogge in der Zeitschrift "Medien und Erziehung", Hefte 4 und 5 (1982). Wahl u.a., a.a.O., S. 207 f. Vgl. Fessel + GfK/DFES: Kontinuierlicher Infratest 1986. Studie im Auftrag des ORF. Wien 1986. VG1. Fessel + GfK-Institut: Jugend und Fernsehen. Studie im Auftrag des ORF. Wien 1980. Vgl. etwa Österr. Institut für Berufsbildungsforschung (ÖIBF): Lebensweise von Arbeitslosen mit besonderer Berücksichtigung der Mediennutzung. Studie im Auftrag des ORF. Wien 1983. Ferner: Windischbauer, Α.: Arbeitslos — Kommunikationslos? Veränderungen im Kommunuikationsverhalten bei langzeitarbeitslosen Jugendlichen in Salzburg. Diss, phil., Salzburg 1986. Baacke, D.: Ausschnitt und Ganzes — Theoretische und methodologische Probleme bei der Erschließung von Geschichten, In: Baacke, D. und Th. Schulze (Hg.): Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens. München 1979, S. 11—50, hier S. 20. Vgl. Moles, Α.: Rituale der Massenkommunikation im Alltag, in: Pross, H./Rath, C.— D. (Hg.): Rituale der Medienkommunikation. Gänge durch den Medienalltag. Berlin und Marburg 1983, S. 1 3 - 2 3 . Bukow, W —D.: Ritual und Fetisch in fortgeschrittenen Industriegesellschaften. Frankfurt 1984, S. 64. Vgl. die diesbezügliche Argumentation von K. Merten in der Diskussion, die in Heft 1 (1984) der Zeitschrift "Rundfunk und Fernsehen" abgedruckt war. Vgl. etwa Veblen, Th.: Theorie der feinen Leute. Frankfurt 1986. Zu dieser Thematik vgl. vorbildlich Wahl u.a., a.a.O. S. 98 ff. Zur "kommunikativen Validierung" vgl. genauer Köckeis —Stangl, E.: Methoden der Sozialisationsforschung. Weinheim und Basel 1980, S. 321—370. Besonders S. 362 f. Zur Methode vgl. etwa: Wiedemann, P.M.: Erzählte Wirklichkeit. Zur Theorie und Auswertung narrativer Interviews. Weinheim und München 1986. Ferner: Heinze, Th.: Qualitative Sozialforschung. Opladen 1987. Vgl. Seligman, M.: Erlernte Hilflosigkeit. München, Wien, Baltimore 1983. Vgl. die Diskussion in Heft 1 — 3 (1981) der Zeitschrift "Fernsehen und Bildung", Schwerpunktthema "Der Vielseher — Herausforderung für Fernsehforschung und Gesellschaft". Vgl. ferner; Vitouch, P.: Physiologische und psychologische Aspekte des Fernsehens, in: 25 Jahre Fernsehen. Berichte zur Medienforschung des ORF. Band 26. Wien 1980. Rath, C. —D.: Fernseh—Realität im Alltag. Metamorphosen der Heimat. In: Pross/Rath, a.a.O., S. 133-143. Hier S. 136. Vgl. Bausinger, H.: Alltag, Technik, Medien, in: Pross, Rath, a.a.O., S. 2 4 - 3 6 . Hier S. 30. Moles, a.a.O., S. 17. Ratzke, B.: Bedürfnis nach Gewalt. Psychologische Erklärungsversuche zum Konsum von Horrorfilmen, in: Medien praktisch, Heft 2 (1984), S. 1 4 - 1 8 , hier S. 17. Zielinski, S.: Der Videorecorder als Durchlauferhitzer. Anregungen zum öffentlichen Nachdenken über Videoexzesse, in In: Medium, Heft 6 (1984), S. 9—13, hier S. 12. Vgl. dazu D. Kübler: Rezipient oder Individuum — Beweisen oder Verstehen? Fragen der Medienpädagogik an die Wirkungsforschung, in: Imme de Haen (Hg.): Medienpädagogik & Kommunikationskultur. Medien Dokumentation 13. Frankfurt 1984, S. 55 — 73. Besonders die Seiten 60 ff.

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27 Fuchs, a.a.O., S. 165. 28 Vgl. Bonß, W.: Empirie und Dechiffrierung von Wirklichkeit. Zur Methodologie bei Adorno, in: Friedeburg, L.v. und J. Habermas (Hg.): Adorno—Konferenz 1983. Frankfurt 1983, S. 201-225.

Christoph

Β.

Melchers

Von dienstbaren Dingen und Zauberlehrlingen — zur Psychologie des Umgangs mit Videorecordern

I.

Ein Apparat macht von sich reden

Ab Mitte der 70er Jahre etwa hörten die Videorecorder auf, allein ein Arbeitsgerät bestimmter Berufe zu sein, und drangen in nennenswertem Umfang in die privaten Wohnzimmer vor. Der Schritt ist markiert durch die Entwicklung von Video—Cassetten, die die vorher verwendeten Video—Bänder ablösten und die Bedienung der Geräte sehr vereinfachten. Man muß von einem regelrechten Siegeszug der Recorder sprechen. Die Zahl der verkauften Geräte stieg von 80.000 im Jahre 1978 auf 1.400.000 im Jahre 1983. Mittlerweile stehen Recorder in über 30% der bundesdeutschen Haushalte1. Der Boom war beigleitet von der Entstehung ganz neuer Wirtschaftszweige, so der Videotheken und Videozeitschriften. Das Fernsehen, zuerst reserviert, hat mittlerweile sein Programmangebot deutlich auf die Recorder — Besitzer zugeschnitten, wie zum Beispiel die Ausstrahlung zweier Spielfilme hintereinander bis spät in die Samstagnacht hinein zeigt. Da Video — Aufnahmen aus dem Fernsehen immer wieder an dem eigenwilligen Verfügen der Anstalten über die angekündigten Sendezeiten scheiterten, wurde der Video—Programm —Service (VPS) eingeführt: Ein Signal des Senders setzt zur rechten Zeit alle entsprechend ausgerüsteten, aufnahmebereiten Recorder in Betrieb. Ein Ende der technischen Enwicklung der Bildspeicher—Geräte ist nicht abzusehen; ebensowenig ein Ende der Umgestaltungen von Alltagsgewohnheiten, die durch die Videorecorder in Gang gesetzt wurde. Die Verbreitung der Videorecorder war begleitet von öffentlichen Begeisterungsäußerungen wegen der neuen Freiheiten und Unabhängigkeiten, aber mehr noch von publizistischen Warnrufen. Anlaß der Besorgtheit war zuerst eine befürchtete und auch offenbar zu beobachtende enorme Ausdehnung der vor dem Bildschirm verbrachten Zeit in Familien mit Recordern. Wenn die Zahlen der Konsumforscher diesen Effekt bei Erwachsenen statistisch auch so recht nicht bestätigen konnten2, so wußte die

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Von dienstbaren Dingen und Zauberlingen

Presse doch von Unfällen bei nach Video—Nächten übermüdeten Menschen zu berichten, von Klubs, die die Kegelbahn mit dem Fernsehsessel vertauschten, und von mangels Teilnehmerschaft ausgefallenen Veranstaltungen, obwohl im Fernsehen kein Krimi oder Länderspiel lief. Um solche Ereignisse wurde es mit der Zeit ruhiger; nun wurden jedoch die bösen Folgen des Video bei Kindern und Jugendlichen beschworen. Alle möglichen Störungen und Verhaltensweisen wurden mit übermäßigem Video—Konsum in Verbindung gebracht. Die ganze "Kindheit", die "Kommunikation in der Familie", die "Kreativität" und kulturelle Errungenschaften wie der "Alphabetismus" wurden als durch den ständigen "Bilder — Konsum" auf dem Spiel stehend dargestellt.3 Diese Rufe sind nach wie vor zu hören. Vielleicht lag es an dem zu schwachen Echo auf solche Warnungen, daß die "Schädlichkeit" der Videorecorder schließlich vor allem auf die Möglichkeit bezogen wurde, "verbotene Filme" anzusehen. Hier waren es mehr noch als die Pornos die häßlichen Horror—Videos, über deren üble Folgen — vor allem wieder bei Kindern — kein Zweifel bestehen konnte.4 Das Üble der Horror—Videos war so offensichtlich, daß nun auch der Gesetzgeber tätig wurde und den Zugang zu derlei Filmen für Kinder und Jugendliche zu erschweren suchte.

Π.

Video—Recorder als Kristallisationskern für Wirkungseinheiten

Die Entwicklung der öffentlichen Gegenbewegungen gegen die hier nicht skizziert worden, um sogleich ein Urteil über die Aversionen zu fällen. Vielmehr soll verdeutlicht werden, wie liche Strömung, die in mehrerlei Hinsicht als Beispiel geeignet Umgestaltungen durchzusetzen sucht.

Videorecorder ist Berechtigung der sich eine öffentist, in vielfachen

Es gibt unzählige solcher kollektiven Bewegungen, die Menschen der unterschiedlichsten privaten und beruflichen Motive und Interessen in einer spezifischen Einheit zusammenbringen. Diese Einheiten folgen eigenen Entwicklungsgesetzen; sie sind "Subjekte" und bestimmen Denken und Handeln der Beteiligten. Alle Menschen stecken immer in mehreren solcher Strömungen, die man psychologisch jedoch jeweils eigens thematisieren und in ihrem inneren Zusammenhang betrachten kann. Weitere Beispiele für solche Einheiten sind die Erziehungsstile, der Sport, Ernährungsweisen, Körperpflege usw. Wir nennen solche kollektiven Bewegungen "Wirkungseinheiten", weil in ihnen verschiedene Wirkungen — hier die der Videorecorder und Gegenimpulse —

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zusammenkommen. Es handelt sich zudem nicht nur um Einheiten vieler Leute, sondern auch vieler seelisch wirksamer Tendenzen. Bestimmte psychische Tendenzen sehen sich durch die Videorecorder gefördert, andere behindert oder gar gefährdet. Die sehr unterschiedlich beteiligten Tendenzen müssen in der Wirkungseinheit eine Form finden, miteinander auszukommen. In der Entwicklung der Wirkungseinheiten findet das Gegeneinander der Tendenzen seinen Ausdruck.5 Die Wirkungseinheit der "Gegnerschaft gegen die Recorder" kann man dadurch kennzeichnen, daß viele "Säcke geschlagen" werden, um am Ende aber doch einen bestimmten "Esel" zu treffen: Da geht es um gefährdete Kinder durch Horror —Filme, gemeint sind aber die Eltern und deren mangelnde Aufsicht. Hinter der mangelnden Aufsicht wiederum werden Seh— und Unterhaltungs — Gewohnheiten der Erwachsenen kritisiert. Das Gefahrliche an diesen Gewohnheiten aber sind die irgendwie verführerischen Filme und Bilder, die dadurch angesehen werden. Das alles verdichtet sich in dem Gerät, das die Bilder so leicht und reichlich zugängig macht: in den Videorecordern.

III.

Das Thema: Umgang mit Videorecordern

Die Existenz einer Wirkungseinheit "gegen" die Videorecorder ist nicht sehr günstig für Forschungen. Allzu leicht wird eine Arbeit einem Pro oder Contra zugeordnet oder soll eine Seite stützen. Videorecorder sind aber nicht nur zum Ausgangspunkt einer Gegenbewegung geworden; sie haben vor allem eine andere Wirkungseinheit in Gang gesetzt, die eigentlich zuerst einmal im Zentrum stehen sollte, die sich u. a. wegen der öffentlichen Kritik aber zu verbergen scheint: Recorder werden von immer mehr Menschen tagtäglich benutzt und dieser Umgang mit den Recordern zeigt eine Entwicklung. Wir gehen auch hier davon aus, daß die Recorder — Verwendung eine psychologisch isolierbare Einheit ist, die sich autonom durch ein Gegeneinander seelischer Tendenzen fortbewegt. Diese Tendenzen werden beim Umgang mit Videorecordern auf den Plan gerufen. Jeder, der solch einen Apparat zur Verfügung hat, gerät in bestimmte Probleme, für die er Lösungen finden kann und muß. Probleme und Lösungen sind ebenfalls keine individuellen Angelegenheiten, sondern sind bestimmt durch die immanenten Möglichkeiten der Wirkungseinheit "Umgang mit Videorecordern". Das Denken in Wirkungseinheiten hebt sich ab von der Auffassung, es gebe eine individuelle Motiv —Ausstattung, die einmal darauf drängt, Recorder zu benutzen, ein anderes Mal für Abstinenz sorgt. "Motive" hängen vom Objekt

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ab, nicht von der Persönlichkeit. Es sind die Dinge, die von bestimmten psychologischen Umgangs—Beweggründen begleitet sind. Einen Hinweis auf beteiligte Tendenzen haben wir bereits: Wenn nämlich die Möglichkeiten des Videorecorders solche Gegenströmungen heraufbeschwören, so kann man damit rechnen, das auch die Benutzer mit dem Gegeneinander von Verlockung und Abwehr zu tun haben. Vor lauter Begeisterung und Warnrufen ist zu wenig beachtet worden, was Benutzer nun tatsächlich mit ihren Geräten anstellen, wie die Benutzung konkret aussieht und vor allem: warum sie so und nicht anders stattfindet. Man darf sich dabei nicht nur auf den honeymoon des Recorderbesitzers beschränken, die anfangliche ungetrübte Begeisterung. Immerhin haben viele Menschen mittlerweile schon jahrelang solch ein Gerät. Darüber, wie es über die Jahre hinweg zugeht, ist erstaunlich wenig bekannt, wenn man einmal von firmeneigenen Studien der Produzenten absieht, die es geben soll. Gemeint sind auch die Erhebungen, die Nutzungshäufigkeiten angeben. Unter dem Umgang mit Videorecordern ist, wie wir sehen werden, etwas anderes zu verstehen. Im Zusammenhang mit Videorecordern läßt sich eine Menge Fragen stellen und man möchte zu vielen interessierenden Punkten etwas in Erfahrung bringen. Methodische Forschung kann jedoch nicht alles auf einmal. Durch die Zentrierung der Wirkungseinheit "Entwicklung des Umgangs mit Videorecordern" wird eine besondere Frage in den Blick genommen, die andere Fragen abweist. Es wäre aber auch möglich, die Videorecorder in anderen Frage — Zusammenhängen zu betrachten. Ein Videorecorder gerät nämlich in verschiedene, bereits laufende Wirkungsprozesse hinein. Er kann mitbestimmend für Ehe und Heranwachsen werden, er kann Geldausgabe—Gewohnheiten durcheinanderbringen und in der Freizeit ganz neue Akzente setzen. Doch soll es nicht unser Thema sein, den Einfluß von Video auf das Lebensschicksal der Benutzer oder bestimmte Lebensbereiche aufzudecken. Unsere Blickrichtung ist eine andere: Konsequenzen aus oder auf die Ehe, Familie, Finanzen werden aus unserer Perspektive zu Gegenbewegungen oder auch zu förderlichen Momenten für die untersuchte Einheit Video —Umgang. Zu vielen dieser Punkte läßt sich auch aus unserer Perspektive etwas sagen; Video und Ehe, Video und Freizeit sind jedoch spezifische andere Fragestellungen, die eigene Untersuchungen notwendig machten. Es wird auch deutlich, daß die Untersuchung von Wirkungen einzelner

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Videofilme unseren Rahmen sprengen würde. Dazu wäre wiederum eine eigene Fragestellung notwendig.6

IV.

Qualitative contra quantitative Methoden

Wollen wir herausbekommen, wie sich der Umgang mit Videorecordern entwickelt, und wollen wir auf die Prinzipien hinaus, nach denen die Entwicklung der Wirkungseinheit stattfindet, so ist eine Methode notwendig, die Entwicklung begleiten, nachvollziehen und herausstellen kann. Die Methode muß den Untersuchenden in die Lage versetzen, sich an dieser Entwicklung entlang "mitzubewegen".7 Er muß nachsehen, wie es anfing, was dann anders wurde, wie es weiterging und wie es zur Zeit aussieht. Nun scheint es auf der Hand zu liegen, Querschnitte aus dem Prozeß des bisherigen Umgangs mit Recordern zu entnehmen und zu vergleichen: Anfang, Mitte und Ende beispielsweise würden so konserviert und überschaubar nebeneinander gestellt. Doch auf diese Weise geht etwas verloren. Wir erhalten eben nur "Schnitte" und heben jeweils einen bestimmten "Stand" der Dinge heraus. Quantitative Untersuchungen sind darauf angewiesen, "feststellbare" Parameter auszumachen. Darin liegt ein grundlegender Widerspruch zu Entwicklungen. Zu Entwicklungen gehört jedoch, daß manches im Übergang und unbestimmt ist, aber gerade als solches wirksam. Die Kunst der Fragebögen aber besteht eben darin, Festlegungen zu verlangen. Fragt man jemanden, wie oft er einen Film auf seinem Recorder ansieht, und tut er das manchmal drei Tage hintereinander, aber dann wieder vier Wochen lang nicht, so wird er etwa gezwungen, "lx/Monat" anzukreuzen. Damit gerät er aber in einen Topf mit Leuten, die einen monatlichen Videoabend eingerichtet haben, was psychologisch etwas völlig anderes ist. Gleiche Quantitäten sind psychologisch selten gleich; "Phänomene sind keine identischen Elemente". Will man Entwicklungen aus dem Vergleich von Entwicklungs — "Ständen" rekonstruieren, so bleibt im Dunklen, wie eines aus dem anderen hervorgeht. Es entgeht, was "dazwischen" ist, und wie sich Übergänge vollziehen. Entwicklungen zeigen sich zum Beispiel im Wandel der Qualitäten. Ein Videorecorder kann sich im Laufe der Zeit zum Beispiel vom "Ziel aller Sehnsüchte" zum "sperrigen Gegenstand" umqualifizieren. Wir erleben ihn als "großartig", schließlich etwa als "fade". Um zu verstehen, wie es zu so einer Wandlung kommt, bedarf es einer qualitativen Methode.

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Quantifizierende Untersuchungen sind in der Psychologie auch darum zu kritisieren, weil bei ihnen zugunsten mathematischen Aufwandes nicht selten das Psychologische auf der Strecke bleibt. Was am Beispiel des Vergleichs der Merkmalsausprägungen verschiedener Entwicklungs — "Stände" besonders deutlich wird, gilt im Prinzip für jede Tabelle: Wie es zur Änderung oder zu einer bestimmten Ausprägung der Werte kommt, muß interpretiert werden. Wir mögen zum Beispiel gemessen haben, daß im ersten Vierteljahr des Recorderbesitzers täglich 4 Stunden gesehen wird, später nur noch 2 Stunden. Warum denn bloß? Wenn man nicht damit zufrieden ist, es einfach bei der sensationellen Feststellung zu belassen, fängt nach der Messung, bei der Interpretation die psychologische Arbeit erst an. Woher aber kommt die Interpretation? Ganz abgesehen, daß der Horizont dessen, wonach zu fragen man überhaupt auf die Idee kommt, schon durch vorhandene psychologische Vorannahmen begrenzt ist, so wird zu interpretatorischen Zwecken erst recht herangezogen, was alles an psychologischen Erklärungen verfügbar ist. Das Praktische und Beliebte an den Tabellen ist, daß ein jeder seine Interpretationskünste an den Zahlenwerten spielen lassen kann. Die Psychologen haben oft gar keinen so großen Vorsprung vor anderen Leuten. Da wird zum Beispiel zu der oben zitierten Häufigkeitsverminderung des Video —Sehens gesagt, es trete eine "Sättigung" ein oder ein "Lerneffekt" oder eine "Identifikation" mit gemäßigteren Guckern. Bei der interpretatorischen Verknüpfung stehen allzu häufig Vorstellungen Pate, die auch Klein —Moritz als Lesefrüchte der modernen psychologischen Literatur angesammelt hat. Selbst die sonst als "nicht empirisch" geschmähte Tiefenpsychologie wird zum Steinbruch für psychologische Säulchen. Die Lage ist leider vielfach die: Rechenkünste veredeln psychologische Trivial —Theorien. Bei der Interpretation wird herangezogen, was an psychologisch klingenden Begründungen durch die öffentliche Bewußtseinslandschaft geistert. Es sollte uns jedoch nicht genügen, die Daten nachträglich mit einfachen Erklärungen zu versehen. So ist es zum Beispiel keine Erklärung, daß besonders in der Unterschicht viel Video gesehen werde, wenn also der soziale Status für Benutzungsgewohnheiten verantwortlich gemacht wird. Ohne auf Wirkungsstrukturen hinzuweisen, die ein Recorder — Benutzer — Verhältnis ausmachen, bleibt eine solche Aussage zunächst eine Beobachtung, die ihrerseits der Erklärung bedarf.

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Was qualitatives Vorgehen herausbringt, sieht im Ergebnis meist ganz anders aus als die Früchte quantitativen Vorgehens. Während quantitative Untersuchungen zuerst einmal Merkmalsverteilungen, Daten — Übersichten hervorbringen, zielen qualitative Methoden gleich auf ein Verstehen des Wie und Warum. Wir sind aber wegen des erdrückenden Übergewichts quantitativer Untersuchungen nicht mehr daran gewöhnt, Funktionszusammenhänge oder in Bildern faßbare Regulationen als Ergebnisse psychologischer Wissenschaft präsentiert zu bekommen. Hinzu kommt, daß den Wirkungskonstruktionen, die qualitatives Vorgehen herausstellt, auf den ersten Blick oftmals "das ernste Gepräge der Wissenschaftlichkeit" abzugeben scheint. Man fühlt sich an Literatur erinnert, was bei Kennern jedoch als Qualitätsbeweis gilt.10> Und wer hat zu bestimmen, wie wissenschaftliche Ergebnisse zu sein haben? Qualitative Untersuchungen haben sich zum Ziele gesetzt, ihren Gegenstand zu erklären. In unserem Fall wollen wir wissen, wie die Entwicklung der Benutzung von Videorecordern funktioniert. Da wir Benutzungsdaten nicht als notwendige Durchgangsstation zum Funktionsverhältnis ansehen, sind wir an diesem Zahlenmaterial auch gar nicht so interessiert. Wir wollen ein anschauliches Bild davon haben, wie die Phänomene — nicht die Zahlen — produziert werden, die uns als Benutzerschicksale von Recordern vor Augen treten. Die Gleichsetzung von empirischer psychologischer Forschung mit Quantifizierung ist eine Konvention, deren Sinn durchaus in Zweifel gezogen werden kann und muß.

V. Qualitative Psychologie Qualitative Untersuchungen gehen demgegenüber von einer Wirkungstheorie aus, die Eklektizismus vermeiden möchte. Ein Kerngedanke der Wirkungstheorie ist der der schon erwähnten Wirkungseinheiten. Um den Umgang mit Objekten zu erklären, wird von einer dialektischen Beziehung zwischen Seelischem und Objekt ausgegangen. Videorecorder und seelische Vorgänge drücken sich gegenseitig ihren Stempel auf, und dabei kommt ein eigentümliches Gebilde — die Wirkungseinheit — mit einer eigenen Dynamik heraus, die spezifisch bestimmbar ist. Über die "Natur" seelischer Vorgänge besteht eine dezidierte Vorstellung: Wir nehmen an, daß sich Seelenleben zwischen drei in polarem Verhältnis zueinander stehenden Dimensionen vollzieht, deren Sinnrichtung allgemein charakterisierbar ist, deren spezifische Ausprägung jedoch immer im Zusammenhang mit dem untersuchten Gegenstand bestimmt werden muß. Die seelischen Phänomene

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sind Vermittlungen zwischen den Polaritäten, durch die die gegenläufigen Sinnrichtungen "ausgesöhnt" werden." Videorecorder machen Umgangsformen möglich, in denen die Dimensionen mehr oder weniger gut "unterzubringen" sind. Die Dimensionen verleihen dem Gerät Bedeutungen, sie setzen Umgangsweisen in Gang, in denen ihr Sinn zum Zuge kommen und sich zum Ausdruck bringen kann. Dabei kommt es zu den besonderen Ausprägungen der Sinngehalte, die den Recordern die Dimensionen aufnötigen. Die insgesamt sechs Sinndimensionen kann man sich in ihrem Verhältnis zueinander — unter Verwendung der allgemeinen systematischen Logifizierungen — wie in Schaubild 1 dargestellt vorstellen.

Schaubild 1:

Aneignung

Einwirkung

Ausbreitung

Vf

>f

< 1

V

Organisation

f >

Umbildung

Ausrüstung

Die Polarität "Aneignung —Umbildung" betrifft das Gegeneinander von Tendenzen nach Festhalten, Bewahren und nach Verändern. "Einwirkung—Organisation" meint den Gegenlauf einer Tendenz nach entschiedenem Tun und Machen gegenüber einer, die sich Vielfalt der Möglichkeiten, etwas zu organisieren und zu ordnen, offenhalten will. In der dritten Polarität "Ausbreitung — Ausrüstung" wird die Sinndimension der Steigerung, des Immer —Mehr der Beachtung des tatsächlich Machbaren und Bewerkstelligbaren gegenüberstellt. Von diesen Dimensionen wird unten in der Spezifizierung auf Videorecorder ständig die Rede sein. Es gelingt in den Vermittlungsformen der seelischen Phänomene nie, den Ansprüchen aller Sinndimensionen zugleich Genüge zu tun. Immer werden Ansprüche verfehlt: Seelische Vorgänge sind beispielsweise entweder zu variationslos oder zu unvertraut, zu unbestimmt oder zu unwiderruflich entschieden, zu realitätsfern — ideal oder zu nüchtern, trivial. Indem sich verfehlte Ansprüche wieder ins Spiel zu bringen suchen, kommt es zu Umbrüchen der entwickelten Vermittlungsformen und zur Entwicklung neuer Formen.

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Der erste Schritt der methodischen Bearbeitung ist die qualitative Erhebung der phänomenalen Zusammenhänge. Es geht darum, das Erleben und Verhalten im Zusammenhang mit Videorecordern so komplett und so wenig zubereitet wie möglich sichtbar zu machen. Wir haben in Tiefeninterviews mit Video—Benutzer den gesamten Prozeß des Umfangs mit dem Recorder bis zum Zeitpunkt der Untersuchung verfolgt. Wie kommt jemand auf die Idee, sich so ein Gerät anzuschaffen, was passiert zunächst und wie wird das erlebt? Welche Konsequenzen oder Schwierigkeiten ergeben sich später, wie wird jemand damit fertig, wie ist es weitergegangen und wie sieht das Verhältnis zum Gerät jetzt aus? In Tiefeninterviews ist es möglich, den Äußerungen der Befragten nachzugehen und sie zu "belasten". Widersprüche können verfolgt, Unstimmigkeiten aufgeklärt, "Anklängen" und Verbalisierungen mit mehreren Bedeutungen kann nachgegangen werden. Die besonders geschulten Interviewer bilden bereits während des Interviews Hypothesen über relevante Dimensionen und deren Vermittlung, die noch in der Interview—Situation durch geeignete weitere Fragen überprüft werden können. Im zweiten Untersuchungsschritt wird das erhobene Material auf die Wirksamkeit durchgängiger Sinndimensionen hin betrachtet. Durch Beschreibungen werden die durchgängigen Züge in den Phänomenen herausgestellt. Dabei lassen sich die Interviews nach der Dominanz von Sinndimensionen ordnen: Bei jeweils einer Gruppe von Interviews steht zum Beispiel die "Aneignung", bei einer anderen die "Ausbreitung" im Vorgergrund — mit entsprechenden Konsequenzen für die jeweiligen Gegenläufe. Nach diesen Dominanzen kann das Material typisiert und können Typen der Recorderbenutzung beschrieben werden. Im dritten Schritt wiederum werden die Typen auf eine Gemeinsamtkeit hin betrachtet: Herausgestellt wird die besondere "Konstruktion", nach der die Sinndimensionen vermittelt sind. "Konstruktion" ist das Bauprinzip der Vermittlung zwischen den Dimensionen. Man erhält "Typen—Konstruktionen" und eine "Grundkonstruktion" der thematischen Wirkungseinheit. Die Grundkonstruktion erklärt, was den Umgang mit Videorecordern auf welche Weise bewegt. Indem aus dem Konstruktionsprinzip der Wirkungseinheit sowohl die Typen ableitbar sind, wie auch individuelle Benutzer — Schicksale, schließt sich der Kreis von Analyse und Synthese zu einer qualitativen Beweisführung. Die Struktur dieses Vorgehens kann als eine reduktiv—beschreibende Methode charakterisiert werden. Schematisiert wird das methodische Procedere in Schaubild 2 dargestellt.

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Schaubild 2: (Int.l)

(Int.2)

(Int.3)

(Int.4)

(Int.5)

(Int.6)

Typ III

Grundstruktur Wirkungseinheit

Erfassen der Phänomene Dimensionieren und Typisieren Konstruktion

Die im folgenden beschriebenen fünf Typen der Video—Benutzer gibt es natürlich nicht in Reinkultur. Zitate stehen hier für Charakteristika der aufgezeigten Benutzungsformen. Das einzelne Individuum verwirklicht meist Mischungen dieser Benutzungsformen.12

VI.

Wie mit Recordern umgegangen wird

Typ I: Grabenkampf Im Rahmen dieses ersten Umgangstyps geraten Benutzer — wie sie berichten — meist durch eine Art 'überfallartige Überrumpelung' an ihr Video —Gerät. Sie selbst halten die Anschaffung für "überflüssig bis gefährlich": Befürchtungen gehen in die Richtung, der Recorder könnte in unberechenbarer Weise den gewohnten Alltag auf den Kopf stellen, alles an sich reißen und sich selbst zum Mittelpunkt des häuslichen Geschehens entwickeln. Da hat man Bekannte, die sich seit der Anschaffung ihres 'Videos' kaum mehr losreißen können und zu einem 'Sklaven' geworden sind. Daher: Nur kein Risiko eingehen und lieber erst gar nicht damit in Berührung kommen! Man widersetzt sich also zunächst dem Begehren der anderen und dem Kauf — kann sich aber letztendlich nicht durchsetzen. So manchem wird auch eine "absolut einmalige günstige Gelegenheit" zu einer "Verführung", der er schließlich "gegen jeden Widerstand" doch erliegt, denn die an den Tag gelegte rigorose Gegnerschaft zum Video ist nicht so ganz ungebrochen. Ganz im Geheimen scheint auch der "Grabenkämpfer" damit zu liebäugeln, sich einmal "anständig berieseln" zu lassen, mal "so richtig in Filmgenüssen zu versumpfen" und die "unheimliche Verfügbarkeit" des Gerätes auszunutzen.

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So steht er denn schließlich im Wohnzimmer, der "verführerische Feind". Nun kann man aber für den Eindringling keine offene Sympathie aufbringen. Wurde befürchtet, daß "das Ding" die ganze Familie terrorisiert und einem keine Ruhe mehr läßt, so wird der Apparat durch die ständige Diskussion um seine Benutzung tatsächlich zu einem zentralen Mitbewohner, der verdächtig ist, Unmoral, Ausschweifung und Barbarei ins Haus zu bringen. Häufig wird das enge häusliche Beisammensein ein kurzes 'Vergnügen': Hier wird das Gerät kurz nach dem Kauf bei auswärts wohnenden Eltern oder der Feundin deponiert, wo auch vereinzelte Besuche einen kurzen intensiven Videogenuß ermöglichen, ohne daß einem das Gerät wirklich "gefahrlich" wird. Auf diese Weise hält man sich die "gierige Note" der Video —Fans aus dem Haus, deren nicht enden wollende Besuche befürchtet werden. Ist die Abschiebung des Geräts wegen ernster familiärer Proteste aber nicht möglich, so muß der "Grabenkämpfer" händeringend mitansehen, wie alles um ihn herum dieser "Sucht" anheimfallt. Aufrufe zur 'Vernunft' stoßen allseits auf völlig taube Ohren. So werden Filme von einem Niveau 'eingeschleppt', die man normalerweise nie über die häusliche Schwelle gelassen hätte; Besucher ohne eigenen Recorder füllen schließlich Abend für Abend das Wohnzimmer, um zu 'schmarotzen'. Und immer sind es nur die anderen, die über ständigen Video —Konsum alles um sich vergessen scheinen. Zunächst wird gegen diese "austobenden Narren" nun ein ständiger Kleinkrieg geführt, doch bald sieht man sich vor die Alternative gestellt, entweder zu vereinsamen und sich mit allen zu verfeinden oder beim verwerflichen Treiben mitzumachen; und da ist ja auch noch die verführerische Seite, die einen schließlich zu Kompromissen verleitet; man findet sich vor dem Video —Geräte wieder, dem man "praktisch nicht mehr entgehen" konnte. Je mehr das "Mitgucken" jedoch überhand zu nehmen droht, desto stärker müssen plötzlich wieder Maßnahmen gegen das Videorecorder—Breitmachen ergriffen werden. Auf die Dauer spitzt sich der Abwehrkampf nun zu. Man "macht nicht mehr mit", hat "die Schnauze voll", es werden Ideen und Strategien entwickelt, wie man den 'Lebensraum' des Videorecorders einschränken, Familie und Freunde wieder mehr für andere Unternehmungen gewinnen und dem "Apparat abspenstig" machen könnte. Nach der Anfangs—Euphorie werden videofreie Zonen und Zeiten festgelegt — "montags und dienstags nie, da bleibt der Kasten kalt", "den Videorecorder raus aus dem Schlafzimmer!" —, die unter Mithilfe des sich einstellenden Überdrus-

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ses anderer Familienmitglieder auch durchgesetzt werden. Ganz rigorose Vertreter des Typs drohen mit Auszug ("der Apparat oder ich"), was tatsächlich bis zur Familienauflösung führen kann. Der verknappte und eingeschränkte Genuß wird nun zu einer ständigen Einrichtung. Das Gerät läuft nur noch zu den dafür vorgesehenen Zeiten, möglichst dann, wenn man selbst außer Haus zu tun hat. Oder aber die videobegeisterten Anderen verschwinden in dem dafür vorgesehenen Raum, in dem der Recorder ein Kerker — Dasein fristet. Nur ganz selten schließt man sich selbst dem Video—Vergnügen der Verwandten oder Bekannten an. Der Recorder ist aber meist nur mit beträchtlichen Kraftanstrengungen in seinem 'Käfig' zu halten. Die Video —Fans neigen dazu, ihm 'AuslauP zu verschaffen, sie lassen trotzig nicht nach, ihm wieder Zugang zu den besseren Zeiten des Tages und frequentierteren Zimmern der Wohnung zu geben. 'Das Gerät* muß immer wieder in seine Isolation zurückgescheucht werden. Es entwickelt sich ein "Grabenkampf um kleinsten Geländegewinn, der diese Form der Video—Benutzung auszeichnet. Mal kann die 'Guckerei' sich wieder ausdehnen, mal gewinnen 'Vernunft' und 'Enthaltsamkeit' die Oberhand. Zwischendurch kommt es auch zu Kontaktnahmen mit dem verführerischen Feind. Die Benutzung nach der Weise des Grabenkampfes ist keine stabile Lösung für den Umgang mit Video —Recordern. Die Auseinandersetzungen werden mit der Dauer strapaziös. Der beständige Widerstand gegen das 'Filmegucken' ist für die "Video—Narren" ein "guter Grund", auf ihrer Vorliebe zu bestehen. Zudem drängt der Streit auf eine Entscheidung: Betriebsstörungen am Gerät, ein Loch in der Familienkasse, schlechte Zensuren der Kinder, an denen natürlich "das Mistding" Schuld haben soll, und ähnliche Gründe mehr sind willkommene Anlässe, auf der Abschaffung des Recorders zu bestehen und sie auch durchzusetzen. Der Kampf gegen den Apparat hat bei dieser Umfangsform die paradoxe Folge, daß der Kämpfer, obwohl er mit dem Gerät nichts zu tun haben will, mehr mit ihm beschäftigt ist als mancher andere Benutzer. Auf ganz spezielle Weise kommt also hier eine seelische "Ausuferungstendenz" zum Zuge, der andererseits Einhalt geboten werden soll. Deutlich wird, wie sich derartige Tendenzen an 'anderem' festmachen: der Apparat wird als 'verführerisch' erlebt, als etwas, dem man 'nicht widerstehen' kann, das 'Ausschweifende' wird an Familienmitgliedern bekämpft.

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Typ Π: Hunger-Kur Im Unterschied zum Grabenkämpfer zeigt der Vertreter dieses Typs schon längere Zeit vor der Anschaffung starkes Interesse für das Videogerät. Es erscheint ihm als etwas Verlockendes, Wertvolles und Besonderes, als ein Schlüssel zu den abenteuerlichen Welten, die auf diese Art ins Wohnzimmer geholt werden könnten. Auf die Zufälle des Fernsehprogramms ist man nicht länger angewiesen; der Recorder verspricht eine ungeheure Steigerung des Guck — Vergnügens. Die "Vergnügungsorgie", der man mit einem Recorder frönen könnte, bedarf jedoch eingehender Rechtfertigung: Die Anschaffung soll so preiswert wie möglich gehalten werden ("einmaliges Angebot!"), man betont, wie zweckreich so ein Gerät ist und wie dringend man es braucht. Nicht zuletzt will man sich durch "ein Stück Spitzentechnologie" eine "dauerhafte Wertanlage" beschaffen. Steht das Gerät nun an ehrenvollem Platz, genießt man es, sein "Herr und Gebieter" zu sein. Zuerst wird das laufende Fernsehprogramm aufgenommen, auch während man selbst zuschaut. Nach Programmschluß kann man dann manches nochmals sehen. Man kann auch das Programm aufnehmen, das man gerade selbst nicht sieht, oder die Sendungen, die laufen, wenn man keine Zeit hat. Es ist "ein tolles Gefühl", daß der Recorder gleichsam mit einem oder für einen 'sieht'. Die Sehkapazität ist mit einem Male nun verdoppelt! Und dann sind da noch die entleihbaren Filme oder die Video—Aufnahmen von Freunden, die schon länger ein Gerät haben. Besucher stellen sich ein, die an dem Video —Genuß teilhaben wollen. Wenn viele das Viele ansehen, scheint noch eine weitere Steigerung des Guckens möglich zu sein. Kassettenvorräte liegen bereit. Man nutzt den Recorder in uneingeschränktem Dauerbetrieb, läßt Video—Orgien stattfinden und ist wie berauscht. So langsam kommen Schwierigkeiten auf, sich die Bilderfluten noch selbst zu Gemüte zu führen, die der "Guck —Sklave" in sich aufgenommen hat. Um zumindest noch einigermaßen 'durchzukommen', muß der Apparat bereits beim Frühstück angestellt werden, die Hausfrau muß während ihrer Arbeit, die Familie beim Essen gucken. Abends steht Video auf dem Programm, die halbe Nacht, Wochenenden gehen dafür drauf. Der Recorder nimmt so viel auf, daß die Flut nicht mehr zu bewältigen ist und die Wiedergabe teilweise nur noch "für sich allein"!

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Der Videobesitzer merkt bald, daß "der Recorder mehr und mehr an Einfluß gewinnt" und ihn immer stärker in seinen Bann zieht, noch aber fühlt er sich mit dem 'Nie —genug' in Einklang; er verbringt alle Zeit noch am Gerät, vernachlässigt Freunde und Familie, schwelgt in Massen von ausgeliehenen Filmen und läßt sich von Α bis Ζ berieseln. Der Alltag mit seinen Nöten und Sorgen wird weitgehend vergessen. Man gerät in Tauschzirkel hinein, lernt Bekannte schätzen, die immer einen neuen Filmtip auf Lager haben, und hat jetzt häufiger Besucher im Haus, mit denen die Beziehungen vorher oft gar nicht so eng waren. Im Verlaufe der Entwicklung beginnen Vertreter dieses Typus häufig, Filme zu holen. Dies erscheint als ein erster Versuch, die ungebärdige und unüberschaubare Masse von Filmmaterial zu bändigen. Andererseits repräsentiert das Wiederholen auch einen "Zwang", der von dem Videorecorder auszugehen scheint. Das Vergnügen, das er anfangs an der Dauerberieselung hatte, wird immer häufiger durch eine Art 'Kater' getrübt. Die Augen fangen an wehzutun, der Kopf wird 'viereckig', man fühlt sich übernächtigt, der ständige Besuch geht einem auf den Wecker. Video—Aufnahmen mißglücken, werden vergessen. Es fällt auf, daß der Inhalt verschlampt, Freunde zu kurz kommen, Pflichten vernachlässigt werden. Man lebt über seine Verhältnisse, weil immer neue Kassetten angeschafft werden. Aus dem 'Vergnügen' sind 'Last und Mühe' geworden. An dieser Stelle der Entwicklung wird dem jetzt ernüchterten Videofreund "die Sache langsam unheimlich". Er muß der "Filmflut" etwas entgegensetzen. Beschränkungen werden eingeführt: der Apparat darf nur noch zu bestimmten Zeiten laufen, die Menge der Filme wird begrenzt ("Nur noch zwei am Abend!"), nur eine festgelegte Menge Geld darf für den Video — Betrieb ausgegeben werden. Mancher führt ein 'Löschprinzip' ein. Weiterhin wird 'alles' aufgenommen, doch nach einmaligem Sehen und oft auch ganz ohne wird der 'Inhalt' des Recorders vernichtet. Der Erfolg dieser Einschränkungsversuche bleibt zweifelhaft. Zum einen dauert die 'Versuchung' an, wieder in das Dauer —Gucken zu verfallen, gespeicherte Bilder sind da, sie "wollen gesehen werden". Aus den beschlossenen zwei Filmen werden drei, den Sonntag mit Ausflugswetter verbringt man hinter halb geschlossenen Vorhängen. Zum anderen ist die Beschränkung 'Arbeit': Jemand muß "stopp" sagen, wenn nicht mehr alles angesehen werden soll, entsteht die Frage: "Was?"; wenn gezielt Aufnahmen gemacht werden müssen, ist es nötig, das Programm zu studieren und zu planen. Die Gegenzwänge reichen nicht aus, um den Videokonsum zufriedenstellend einzudämmen. Die Beschränkungen sind nicht durchzuhalten, nicht auf ein Maß

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zu bringen. Als Steigerung der Maßnahme gegen das ständige Verlangen, von dem das Verhältnis zum Video—Recorder bestimmt ist, muß man das Übel an der Wurzel fassen: Der Recorder darf nicht mehr aufnehmen, der Nachschub an Fertigkassetten wird gekappt. Man läßt das Gerät 'verhungern'. Während es den Benutzern nicht gelingt, sich selbst einer "Diät" zu unterwerfen, ist das Gerät handgreiflich genug, ihm eine Drosselung angedeihen zu lassen. Am Ende der Hungerkur wird das "teure Ding" abgeschoben und zu einem Möbelstück, das man unbenutzt in einer Ecke verstauben und kaputtgehen läßt. Was zuerst als wertvoll galt, erscheint nun als eine Fehlinvestition. So breitet sich bei seinem Besitzer Reue aus: Er hat einen "Unersättlichen genährt", dessen 'Appetit* man schließlich nur noch abwürgen konnte. Beunruhigend bleibt die Diskrepanz zwischen dem finanziellen Aufwand für das Gerät, den Versprechungen, die es erfüllen sollte, und seiner schließlichen Existenz als "Sperrmöbel ". Die schlafende Potenz des Geräts wiederzuerwecken, kann man sich als 'gebranntes Kind* nicht leisten. Schließlich spielt man mit dem Gedanken, den Videorecorder zu verkaufen, um die "Verpflichtung, Mahnung und Verführung", die immer noch von ihm ausgehen, völlig loszuwerden. Auch hier zeigt sich deutlich, wie seelische Ausbreitungstendenzen, die ermöglichen, daß so ein Gerät so 'verführerisch' erscheint, mit anderen seelischen Notwendigkeiten — anderes verlangt 'sein Recht' — vermittelt werden müssen13.

Typ ΙΠ: Auswahlmuster Bei dieser Umgangsform gelingt es, den anfanglichen "Rausch" im Umgang mit dem Gerät in stabilere Formen zu überführen, die auch die übrigen Aktivitäten des Lebens wieder zu ihrem Recht kommen lassen, ohne jedoch Video gänzlich ausschließen zu müssen. Hier wird der unendlich scheinenden Vielfalt an Video — Material ein strenges Auswahlmuster entgegengesetzt und dem Videokonsum so ein fester Rahmen verliehen. Anfanglich erliegen auch Vertreter dieses Typs den "rauschhaften Verführungen" ihres Gerätes. Für kurze Zeit ufert die Beschäftigung mit dem Aufnehmen, Ausleihen und Ansehen der Filme aus und droht alles andere zu überfluten. Aus dieser 'Not' heraus, die hier aber meist schnell schmerzlich deutlich wird, werden spezielle Interessen und Kontrollen entwickelt. Es fängt damit an, daß die bislang "herumfliegenden" Kassetten feste Plätze in einem Regal bekommen und ein Verzeichnis der bisherigen Aufnahmen erstellt wird. Unter Umständen entdeckt man, daß die vorhandenen Filme sich bereits um ein Thema gruppie-

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ren, dem man treu bleiben möchte. Nun muß man das Fernsehprogramm auf entsprechende Angebote abklopfen und die Aufnahmezeiten eingeben. Demgemäß werden Videozeiten im Wochenplan vorgesehen: das Ansehen ist zu einer Hobbypflege geworden. Auch gewinnen technische Versuche am Recorder an Faszination und lösen teilweise Aufnehmen und Ansehen ab. So wird der Recorder zum Beispiel in den bestehenden HiFi—Turm integriert. Durch das Auswahlmuster tritt eine Spezialisierung der Benutzung ein: Man entdeckt seine Vorliebe für bestimmte Filmstars, Genres oder für Filme, die man von früher kennt. Man beginnt zu sammeln und ist sehr davon in Anspruch genommen, ein noch fehlendes Teil aufzutreiben. Nur noch bestimmte Werke werden für würdig befunden, Eingang in die private Sammlung zu finden. Eine ansehnliche Kollektion von Filmen versetzt in die Lage, zum Beispiel "Tom — und—Jerry —Abende" zu veranstalten und Gäste mit filmischen Menues zu bewirten. Andere Auswahlmuster sind nüchterner. Das Gerät wird nur benutzt, um politische, sportliche oder wissenschaftliche Sendungen zu speichern, an denen Interesse besteht. Auch die Form, den Recorder mehr oder weniger einzig dazu zu verwenden, sich im Fernsehprogramm ungünstig piazierte Sendungen zu genehmeren Zeiten anschauen zu können, gehört zu diesem Benutzungstyp. Doch so glatt und zufriedenstellend, wie diese Lösung zunächst scheint, erweist sie sich schließlich doch nicht: Die eigenen Einschränkungsbemühungen richten sich bald wieder gegen den Benutzer; schließlich hat er sich das teure Gerät nicht angeschafft, um nur noch James — Dean — Filme zu sehen, eine Verlockung der Vielfalt macht sich energisch wieder breit. Auswahl und Disziplin in der Benutzung sind zudem anstrengend; es gilt, auf dem laufenden zu sein und vorzuplanen. Bei der Anschaffung des Apparats hatte man meist nicht damit gerechnet, in solch einen kontrollierten Betrieb zu geraten. Also werden das enge Auswahlmuster sowie andere Beschränkungsmaßnahmen wieder etwas gelockert, ohne jedoch der Überflutung wieder Tür und Tor zu öffnen. Man fangt an, einmal etwas anderes, das auch interessiert, aufzunehmen, folgt Gelegenheiten oder 'Versuchungen'. Oft wird aus solchen Ausnahmen der Keim einer neuen Sammlungsrichtung. Ein Wechsel im Auswahlmuster ist ohnehin unvermeidlich. Ist eine Sammlung bevorzugter Filme komplettiert, hat man die Filme in Mußestunden mehrmals gesehen, so stellt sich Überdruß ein. Nur wenige haben ein Mittel, die bespielten Kassetten zuerst einmal ruhen zu lassen und auf ein Wiedererwachen des Interesses in ein paar Jahren zu warten. Eine Umgestaltung der Sammlung wird vorgenommen, die Bänder füllen sich Schritt um Schritt mit den neuen Vorlie-

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ben. Spaß machen dabei Beobachtungen, wie zum Beispiel welcher Film der alten Welle am längsten dem Uberspieltwerden entgeht, bis auch er schließlich der Komplettheit der neuen Sammlung geopfert wird. In einem anfänglichen Hin und Her regulieren sich so auf die Dauer Sammlungs— und Benutzungsgewohnheiten ein, die weder zu eng noch zu durchlässig sind und mit denen es sich ganz gut leben läßt. Wieder zeigt sich: Seelisches bewegt sich zwischen 'Ausufern' und 'im Griff haben'; diese Spannung muß beim Recorderumgang vermittelt werden.

Typ IV: Kleinhacken und Lückenfullen Auch bei dieser Form der Benutzung von Videorecordern gelingt es, der "Versuchung zum dauernden Versacken in Film —Welten" beizukommen und weiterhin Video—Gucker zu bleiben. Allerdings sieht diese Form ganz anders aus als bei Typ III. Die erste Zeit im Besitz eines Recorders gleicht der bei den anderen Typen. Man wird zum "Dauer —Konsumenten". Aus der Euphorie und dem Rausch des anfanglichen Umgangs wird bald ein Zustand, in dem das zunächst abenteuerlich anmutende 'Alles—haben—Können' zu einem allgemeinen "Brei" versackt. Man sieht nicht mehr Filme, die es einem besonders angetan haben oder die man schon immer mal hatte sehen wollen; stattdessen "zieht man sich einfach alles rein", was sich da an Leihfilmen und Spätfilmen aus dem Fernsehen so anbietet. Auch hier müssen Akzente gesetzt werden, denn der Benutzer merkt sehr wohl, daß er drauf und dran ist, zum "Sklaven seines Gerätes" zu werden. Zunächst versucht auch er, mit Hilfe von Dosierung und Einschränkung 'dem Video' eine Grenze zu setzen, das hält er jedoch nicht lange durch. Aus den vielen Ausnahmen, die er sich da selbst gestattet, wird schnell wieder eine ständige Video — Berieselung. Das Gefühl, gegen die Versuchung machtlos zu sein, Katergefühle nach Video—Exzessen, der Eindruck, daß "der Kasten einen immer wieder schafft", hinterlassen einen beträchtlichen Ärger, der gegen den Apparat gewendet wird. Man lernt sich dabei zu ertappen, wenn man wieder "auf dem Trip ist, vor der Glotze anzukleben", und reißt sich dann mit einem entschiedenen Ruck aus dem Versacken heraus. Filme werden, "egal, was läuft, egal wie spannend es ist", einfach unterbrochen, das Gerät wird abgeschaltet. Natürlich möchte man wissen, wie es weitergeht, aber dieses Bedürfnis wird zurückgestellt, bis man ohnehin etwas Zeit hat und keine anderen Vorhaben anliegen.

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Der Alltag kommt diesen Video—Besitzern zu Hilfe, eine Organisationsform zu finden. Dem Alles — Überflutenden des Dauerbetriebs wird der tägliche Trott und die bereits vor dem Kauf bestehende Regelung des Tagesablaufs als eine Begrenzungsform entgegengestellt. Man lebt fast so weiter, als habe man gar keinen Recorder. Es wird nur noch Video geguckt, wenn man nicht etwas anderes zu tun hat, nämlich in den Lücken, die während eines Tagesablaufs entstehen. Wenn man also wartet, daß der Kaffee fertig wird, wenn die Tagesschau noch zehn Minuten auf sich warten läßt, oder es noch etwas zu früh ist, um die Kinder aus dem Kindergarten abzuholen, immer wird das Gerät für einige Minuten eingeschaltet. Die Einschaltzeiten sind kaum einmal länger als eine Viertelstunde. Natürlich gibt es auch schon mal einen unverplanten Abend, an dem ein Film im Zusammenhang angesehen wird, aber das kommt selten vor. So wird der Videorecorder zu einer Art 'Illustrierten', in der man immer mal wieder 'blättern' kann, um sie dann zur Seite zu legen. Damit ist das Gerät dem Alltag einverleibt worden. Es wäre naheliegend, wenn die Benutzer bei dieser Form des Gebrauchs nur noch Kurzfilme, Slapstiks, Spots oder dergleichen aufnehmen würden, die komplett in einer Tagespause anzusehen sind. Aber es werden fast nur lange Spielfilme in dieser portionierten Form betrachtet. Indem Filme zerstückelt und zerhackt werden, findet der Affekt gegen die "Verführungskraft des Recorders" einen kontinuierlichen Ausdruck. Latent lauert immer noch die Gefahr, in Filmerlebnisse hineingezogen zu werden, in denen man Pflichten und Alltag mit den Problemen vertauscht, in die die Filme hereinbringen und die sich mittels des Recorders endlos und beliebig herbeischaffen lassen. Dieser diffusen Endlosigkeit wird in fast aggressiver Weise das Raster des Alltags aufgepreßt. Bei dieser Benutzungsform haben die Videofreunde das Gefühl, daß der Recorder eigentlich kaum in Gebrauch ist, während er tatsächlich eine geraume Zeit 'für sich' beansprucht, wenn man alles zusammenrechnet. Im Laufe eines Tages sind die 1 1 / 2 Stunden eines Spielfilms durchaus zusammenzustellen; und es ist auch nicht zu verkennen, daß, je spannender ein Film ist, auch mehr Möglichkeiten für Pausen sichtbar werden. Indem Video jedoch nur "häppchenweise eingenommen" wird, können die Eindrücke von Abhängigkeit und allgemeinem Brei nicht mehr aufkommen, und man hat das Gefühl, "seinen Recorder" im Griff zu haben.

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Typ V: Flimmertapete Bei dieser Form der Video—Benutzung scheint die Zeit der Guck—Orgien und des 'Rausches' nie zu Ende zu gehen. Das Gerät läuft, wie in den ersten Wochen über Jahre hinweg ganztägig und oft bis in die späte Nacht hinein. Zugleich aber geht der Alltag — wie es aussieht — völlig ungestört weiter. Die Familie hockt nicht mehr wie in den Anfangswochen unablässig um den Fernseher herum. Jetzt wird bei laufendem Gerät gekocht, geputzt, gebügelt, es werden Schwätzchen mit Nachbarn und im Familienkreis gehalten, die Mahlzeiten eingenommen, Schularbeiten gemacht, Zeitung gelesen, Reparaturen im Haus durchgeführt und was dergleichen Alltagsaktivitäten mehr anfallen mögen.14 Wie bei den anderen Typen auch, treten bei dieser Form nach ein paar Wochen Überdruß am Sehen und das Gefühl auf, beherrscht zu werden. Diese Benutzer gehen an diesem Punkt gewissermaßen zur ihrer Tagesordnung über, ohne aber den Recorder auszuschalten. Sie sehen einfach nicht mehr richtig hin! Zuvor lassen sich auch hier ein schlechtes Gewissen, energische Versuche, früh ins Bett zu gehen und andere gute Vorsätze beobachten, aus denen nichts wird. Es gelingt aber, aus dem "Zentrum des Lebens" ein Nebenbei zu machen, aus dem 'Rausch' ein Rauschen im Hintergrund. Der gewohnte Alltag wird fortgesetzt, das Video findet am Rande statt, ist auf diese Weise aber immer dabei. Die Art des Zuschauens gleicht dem Blick aus dem Fenster, den wir bei der Arbeit auf etwas werfen, das dann unsere Aufmerksamkeit für kurze Zeit fesselt. Sie gleicht dem Blick auf die Möbel, die Wand, irgendeinen Gegenstand, zu dem wir sehen, während wir mit etwas anderem beschäftigt sind. Obwohl der Recorder seine Bilderilut unablässig von sich gibt, ist er an die Wand gedrückt und fungiert, wie diese Benutzer treffend sagen, als "Flimmertapete". Da es völlig egal ist, was da auf der Mattscheibe läuft, hat man sich die Beschaffung neuer Filme soweit wie möglich erleichtert. Der Recorder schneidet einfach das Fernsehprogramm mit, oder man läßt sich Kassetten von Bekannten mitbringen. Es scheint allein bedeutsam, daß irgend etwas 'auf der Tapete flimmert'. Trotz der weiten Distanzierung vom Recorder, trotz der Beiläufigkeit seiner Verwendung und trotz der Betonung, alles gehe unverändert weiter, ist nicht zu verkennen, daß sich der Alltag doch beträchtliche Umstellungen zugunsten einer ständigen Berieselung gefallen lassen muß. Arbeiten und Aktivitäten werden in das "Wohnzimmer des Recorders" verlegt. Ungern verläßt man allzulange den Raum. Tätigkeiten, die nicht in Gesellschaft des Fernsehens auszuführen sind, werden eingeschränkt oder hören völlig auf. Außer — Haus — Unternehmungen

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werden rar. Sonntägliche Aktivitäten beschränken sich oft auf ein gemeinsames Ansehen wahllos prasselnder Video —Filme. Bei der Benutzung als Flimmertapete ist der Recorder völlig unwichtig und zugleich alles—bestimmend. Es ist tatsächlich schwer zu sagen, wie bedeutsam die Berieselung nun wirklich ist; dieser Benutzungsform ist es gelungen, einen stabilen Zwischenzustand zu etablieren: Die Benutzer gehen ihren Verrichtungen nach und sind zugleich doch nicht ganz dabei. Sie sehen Filmszenen, doch es fesselt sie höchstens minutenlang. Der Lebensrhythmus wird so umgestaltet, daß die etwas selbstvergessene Schwebe aufrechtzuerhalten ist, bei der die Arbeit dennoch getan wird. Video —Benutzer, die sich diesem Typ annähern, sind für alle anderen Beispiel dafür, wie sie selbst nie enden wollen. In Ländern mit ganztägigem Fernsehprogramm ist diese Benutzungsweise seit Jahren bekannt und verbreitet. In Deutschland handelt es sich also gewissermaßen um die Herstellung eines durchlaufenden Programms mittels Video. Die Frage ist nun, was geschieht, wenn der Recorder oder das Fernsehen einmal ausfallen? Die Berieselung, so zeigt sich, ist ersetzbar: Anstöße, sich von der gerade laufenden Arbeit hinwegzuräumen, kann auch das Radio bieten, und steht auch der Rundfunk nicht zur Verfügung, so muß man eben bei der Arbeit singen. Die Flimmertapete wird solchen 'Begleitmusiken* vorgezogen, es wird jedoch deudich, daß Video lediglich Tendenzen aufgreift, die auch vor seiner Existenz Formen gebraucht und gefunden hatten.

VII: Grundprobleme Bei der Lektüre der gefundenen Umgangsformen mit Videorecordern dürfte deutlich geworden sein, daß die diversen Umgangs—Typen mit gleichen Problemen zu kämpfen haben: sie kommen aber zu unterschiedlichen Lösungen. Die Gemeinsamkeit der Problemlagen, in die Videobesitzer hineingeraten, sind Hinweis auf seelische Wirksamkeiten, die die Entwicklung des Umgangs mit Video steuern und die mit der Benutzung eines Recorders unvermeidbar auftreten. Allen gemeinsam ist das "rauschhafte Versinken" in Filmerlebnissen in der ersten Zeit, in der ein Recorder verfügbar ist. Selbst der Grabenkämpfer, der sich dagegen wehrt, der "Guck —Sucht" zu verfallen, reagiert auf diese Versuchung. Auch wenn die Benutzungsart des Gerätes längst zu ruhigeren Fahrwassern gefunden hat, ist diese Tendenz noch latent wirksam, und die Maßnahmen und Regulationen des Umgangs sind u. a. als Reaktionen auf ihre Wirksamkeit verständlich.

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Die Tendenzen des Seelischen zum Rauschhaften ist in den Typisierungen mehrfach beschrieben worden: Es geht darum, Filmerleben, wie man es aus dem Kino und vom Fernsehen her kennt, in gehörigem Maße zu steigern. Für den Besitzer eines Videorecorders fallen die Grenzen weg, die sonst durch die Dauer eines Films, die Vorgabe eines Programms, Gerade —nicht—Gegebensein eines Angebots, durch die Freiwillige Selbstkontrolle, durch Scham— und Niveau — Schranken und vieles mehr gegeben sind. Der Apparat "liefert" in beliebiger Menge zu beliebiger Zeit Film—Erlebnisse, von denen wir uns "fesseln lassen", und in die wir aus dem Gerade—Anliegenden des Alltags in ganz andere Welten hinwegtauchen können. Anfangs gerät jeder Recorderbenutzer in den 'Sog' dieser Steigerungsbewegung hinein. Selbst der Grabenkämpfer entfernt sich von seinem gewohnten Alltag: Es steigern sich Zank und Streit, der Haussegen kommt immer schiefer zu hängen. Jeder, der sich auf diese Steigerung einläßt, mufl erfahren, daß die Film — Genüsse nicht endlos zu vervollkommnen, nicht endlos zu vermehren sind. Die gehabten Filmvergnügen verschwimmen zu einem Einheitsbrei, man beginnt, sich überflutet und überanstrengt zu fühlen. Formlosigkeit macht sich allerorten bemerkbar: im vernachlässigten Haushalt, im Körpergefühl der Dauerkonsumenten, im Blick darauf, was man früher alles geschafft und getan hatte. Der Formverlust in der Steigerung des Filmvergnügens macht darauf aufmerksam, daß der Video—Genuß unvermeidlich Formen, Regeln und Grenzen braucht. Da die Gerätebesitzer sich nun aber gerade anfangs in die Steigerung fallen lassen und auf ein Immer —Mehr aus sind, stellen sich Grenzen und Schlußpunkte von selbst ein. Die Wohltat unendlicher Filmfreuden verkehrt sich in eine Plage. Katergefühl, Augenschmerzen, verpaßtes Anderes, verlorene Feunde und mehr lassen Folgen spüren, die man nicht mehr in der Hand hat. Der Rausch ist der Ernüchterung gewichen, und statt als "Herr über den Recorder" fühlt man sich jetzt als dessen 'Sklave'. In den weiteren Entwicklungen der Video—Benutzung sehen wir Versuche, das Gegeneinander von Steigerung und Form wieder in ein Verhältnis zu bringen. Aber nicht nur diese seelische Polarität muß vermittelt werden, der Recorder hat noch andere Probleme auf den Plan gerufen. Durch die Guck —Exzesse, die in der Vor — Video — Zeit gar nicht möglich waren, geraten der gewohnte Alltag und der bislang geübte Lebensrhythmus aus den Fugen. Auch diese Änderungen sind zuerst gar nicht unwillkommen; es weht ein frischer Wind. Schließlich sieht man sich aber vor die Tatsache gestellt, daß der Video — Betrieb sogar weniger abwechslungsreich ist als der Alltag. Statt der Teilhabe an immer neuen Sensationen, Abenteuern, Dramen und Nervenkitzeln tritt das

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Immer — Gleiche des "Hocken vor der Glotze" in den Vordergrund. Aus der Belebung des Alltags durch Video sind eine Stillegung und ein Festpappen geworden. Die Anfangsphase der Recorderbenutzung ist dadurch zu kennzeichnen, daß schließlich alles verkehrt wird: Vergnügen wird 'Zwang', Verfügbarkeit wird 'Abhängigkeit', Variation Monotonie. Mit diesen Umkehrungen müssen die Video—Benutzer fertigwerden, und wir haben gesehen, daß nicht alle Video — Freunde auch solche bleiben. Grabenkampf und Hungerkur stellen mit ziemlicher Gewaltanstrengung einen video — freien Alltag wieder her. In den drei anderen Umgangsformen wird eine mehr oder weniger befriedigende Organisation gefunden, die hilft, Video in das gewohnte Leben zu integrieren. Von einem analogen Problemkomplex, von der Hoffnung, zu gesteigertem Spaß, Einfluß und Abwechslung zu kommen, und von der Verkehrung all dieser Hoffnungen ins Gegenteil handelt Goethes bekanntes Gedicht "Der Zauberlehrling". Das Schicksal des Zauberlehrlings kann ein Bild sein, um Probleme und Entwicklungen des Umgangs mit Video wie auf einen Blick überschaubar zu machen. Dabei müssen wir allerdings in einigen Hinsichten über das Gedicht hinausgehen, denn "die Geister, die er rief', wird der Video—Benutzer in gewissem Sinne durchaus ja wieder los, beziehungweise es gibt, wie wir gesehen haben, auch Formen, die 'Potenzen des Video—Recorders' dauerhaft dienstbar zu halten. Es könnte dem Leser Vergnügen machen, die bisher gezeigten Wirksamkeiten der Video — Benutzung in die Sprache des Zauberlehrlings zu übersetzen: Wegfall der Grenzen — der Meister ist aus dem Haus; Eintauchen in Filmwelten — Wasser usw. Video — Freunde wie Zauberlehrling stehen schließlich vor der Notwendigkeit, die Fluten zu stoppen. Erst an dieser Stelle der Entwicklung treten die wesentlichen Differenzen der Umgangsformen auf, wenn man von den 'Grabenkämpfern' absieht: In dieser Form soll das Ding, das solch einen Zauber auf seine Benutzer ausübt, gar nicht erst in Gang gesetzt werden. Nur die anderen erliegen der 'Versuchung', alles Bemühen geht dahin, das Treiben zu stoppen und endlich wieder zu vertreiben. Die Austreibung gelingt gewöhnlich unter Mitwirkung der Tatsache, daß auch den Videobegeisterten die Fluten allmählich zu viel werden. Der Verwendungsform "Hungerkur" kann am Ende nichts anderes übrigbleiben, als dem geschäftigen Gerät den Zufluß abzugraben und es zu einem gewöhnlichen Gegenstand zu machen, dem jeder Zauber abgeht.

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Die Benutzungart "Auswahlmuster" kann die 'Geschäftigkeit des Apparates' dadurch begrenzen, daß ihm bestimmte Aufgaben gestellt werden, wobei darauf geachtet werden muß, daß er sein 'Aufgabenfeld' nicht überschreitet. Den Benutzern bleibt ein gewisses Bedauern, daß sie die vollen Fluten, die der Recorder liefern könnte, nicht ausnutzen mögen. Der Weg, der beim "Kleinhacken und Lückenfüllen" begangen wird, ähnelt am meisten dem im Gedicht beschrittenen: Hier soll die 'Potenz des Gerätes' zerhackt werden, aber die Gefahr bleibt, daß die sich ergießende Bilderflut noch größer wird. Beim Umgang mit dem Recorder als "Flimmertapete" läßt man sich von den weiterhin sich ergießenden Fluten gewissermaßen nicht mehr naß machen, fangt mal ein Tröpfchen auf, wenn auch eine allgemeine Durchfeuchtung nicht zu übersehen ist. Die Benutzer der Video—Recorder erscheinen uns also als Zauberlehrlinge, die den Umgang mit dem 'allzu beflissenen Gerät', dessen Dienste sich zu verselbständigen drohen, unter manchmal recht schmerzlichen Erfahrungen erst lernen müssen. Dies ist möglich, da das Seelische einen Zug zum 'Alles —aufeinmal — Haben' aufzuweisen scheint, der durch den Recorder ganz neue Möglichkeiten hat, sich durchzusetzen. Es gilt eine Bann —Form zu finden, wobei zu betonen ist, daß viele einen gemäßigten Umgang sehr wohl lernen; und es ist in Betracht zu ziehen, daß wir alle den neuen Möglichkeiten des Videos noch unerfahren gegenüberstehen. Was falsch ist und was richtig, darüber sollte nicht gleich geurteilt werden. Einen alten 'Meister', von dem wir den Umgang lernen könnten, gibt es nicht. Aber es gelingt unseren alten Bewältigungsweisen, dem Abschaffen, dem Durchorganisieren, dem Einbinden und dem In —die — Schwebe — Bringen durchaus, den 'Zauber des Gerätes', sprich: die Ausbreitungstendenzen des Seelischen im Zaum zu halten. Wenn man die derzeit zu beobachtenden Umgangsformen mit Videorecordern sich vor Augen führt, gewinnt man den Eindruck, daß hier spezifische Eigenheiten des Recorders und allgemeine Erscheinungen, die bei neuen technischen Errungenschaften auftreten, ineinanderwirken.

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Folgerungen

Aus all dem ergibt sich, daß es wohl etwas zu einfach ist, den Videorecorder als "Teufelswerk" zu verdammen. Ein heftiges Contra ist bereits bei den Benutzern zu beobachten; immerhin enden zwei typische Benutzer — Schicksale mit dem fast vollständigen Kaltstellen des Geräts. Die anfangs erwähnte öffentliche Bewegung gegen die Recorder betont und vereinseitigt diesen Gegen —Zug. Zwischen dem Versacken vor dem Recorder und seiner Verdammnis gibt es

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jedoch eine ganze Reihe von Möglichkeiten, in denen sich ein gedeihliches Verhältnis zwischen Gerät und Benutzer herausbilden kann. Einerseits bietet der Recorder an, unseren seelischen Spielraum um ein gutes Maß an Dramatik zu erweitern. Wir haben aber nur etwas von den vielen zugängigen Filmerlebnissen, wenn sie durch ihre Vielzahl nicht zu einem undifferenzierten Gefühlsmatsch zerfließen. Auswahl und Steuerung werden zu einem zentralen Problem für den Umgang mit den Recordern. Wie wir gesehen haben, können an diesem Problem Benutzer und Gerät scheitern, es können sich aber auch Formen einer erquicklichen Gemeinsamkeit entwickeln. Was ist nun vom medienpädagogischen Gesichtspunkt zu den gefundenen Umgangsformen zu sagen? Uns scheint, daß wir von dem gewonnenen Verständnis auf die Auswahl und Steuerungsnotwendigkeiten als einen pädagogischen Knotenpunkt verwiesen sind. Andere pädagogische Folgerungen ergäben sich, wenn man das Ansehen von Filmen überhaupt nicht für wünschenswert hält. Von den Typisierungen her können wir angeben, woran die Bezähmung der Bilder — Fluten jeweils scheitert: Die "Grabenkämpfer" befassen sich nicht damit, die Bilder — Mengen in eine Form zu bringen, sie erziehen an den Zuschauern herum, die diesem Einfluß Widerstand entgegensetzen. Die Beschränkungen des Video — Konsums sind äußerlich; Zeiten und Orte werden tabuisiert. Inhaltliche Auswahlkriterien werden nicht entwickelt. Wir werden darauf aufmerksam, daß das Fehlen inhaltlicher Auswahlkriterien immer zu Störungen bei der Video — Benutzung führt. "Verhungern —Lassen", "Zerstückelungen" wie auch das "Vorbeirauschen —Lassen" des Flimmerns auf der Tapete sind Beschränkungsbemühungen, die nicht am gesehenen Stoff ansetzen. Einzig der Typ "Auswahlmuster" findet von filmischen Gegebenheiten her Regulierungen. Es ist wohl nicht zu leugnen, daß die cineastischen Kentnisse der meisten Menschen, die ihnen beispielsweise erlauben würden, gezielt nach einem Film zu suchen, sehr im Argen liegen. Auch die Leute mit besserer Schulbildung sind dabei nicht sehr im Vorteil, denn: Was lernt man schon auf dem Gymnasium über Filme? Es geht hier gar nicht um die Fähigkeit, sogenannte wertvolle Filme auszuwählen, sondern um die Fertigkeiten, die nötig sind, sich die Unterhaltung zu beschaffen, die man haben möchte. Vom Fernsehen her sind wir alle gewohnt, daß uns Filme vorgesetzt werden. Sich mit Filmen besser auszukennen, erfordert autodidaktische Bemühungen.

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Wie soll beispielsweise jemand, der einen Film gesehen hat, den er sehr genießen konnte, ein solches Erlebnis mithilfe des Videorecorders gezielt wiederholen können? Daß man auf Regisseure achten kann, muß erst einmal gesagt werden. Einen Film einem Genre zuzuordnen, erfordert schon einige Fähigkeiten. Selbst wenn man weiß, daß der spannende Streifen, den es neulich gab, ein amerikanischer Gangsterfilm der 40er Jahre ist, ist es nicht einfach zu erkennen, ob ein zur Auswahl stehender Film auch in diese Kategorie gehört und ähnliche Spannung verspricht. Andere Genrebezeichnungen wie "Western" sagen nicht viel über das zu erwartende Vergnügen, weil unter dieser Bezeichnung alles mögliche angeboten wird. Da hilft es schon mehr, sich an Stars zu orientieren. Charles Bronson verspricht in fast allen seinen Filmen ähnlich geartete Erlebnisse. Bestimmte Genres sind in sich sehr homogen; Karate —Filme zum Beispiel sind nach einem Muster gestrickt. Bei dieser Art Filmen zu bleiben, garantiert bestimmte Erlebnisse. Man handelt sich allerdings auch Wiederholungen ein. Die Covers der Video—Cassetten lassen ahnen, was der Inhalt bringen wird. Oft wird man bei diesem Auswahlkriterium aber auch auf die Nase fallen. Am zuverlässigsten für die Auswahl sind immer noch die Schilderungen von Freunden, die einen Film empfehlen können. Nur die Menschen, die sich in der Welt der Filme einigermaßen auskennen, sind in der Lage, zu einer Umgangsform wie "Auswahlmuster" zu gelangen. Fehlen ihnen solche Kenntnisse, so können sie, wie wir gesehen haben, sich auch von ihren politischen, sportlichen oder anderen Interessen leiten lassen. Doch auch die Filmkundigen haben ihre Probleme: Programm —Ankündigungen, Filmkritiken oder die Eintragungen in Filmführern sagen meist nichts darüber, was es in den Filmen zu erleben gibt. Wo wird schon berichtet, daß man bei diesem Film sehr in Rührung geraten, bei jenen vor Wut über "die Bösen" kochen bei einem anderen von Spannung atemlos gehetzt sein wird? Aber gerade solche Erlebnisse wollen wir doch haben, wenn wir Filme ansehen. Es muß uns hier auffallen, daß eine Sprache, mit der wir uns über Filmerlebnisse verständigen könnten, nur rudimentär entwickelt ist. Wenn man sich die Schwierigkeiten nur dieser cineastischen Form einer Drosselung der Video —Fluten vor Augen führt, dann kommt die Möglichkeit in den Blick, daß eine Ursache der Vielseherei und der schließlichen Abwendung vom Videorecorder die Enttäuschung durch die Filme und das Gerät sein wird. Es schüttet nur "Wasser", wo man auf Besseres gehofft haben mag.

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Mancher mag sich drei Filme hintereinander "reinziehen", weil er immer noch hofft, die Unterhaltung zu erleben, die er sich wünschte. Daß zu immer härterer und eindeutigerer Kost gegriffen wird, mag in diesem Zusammenhang auch nicht verwundern. Die beobachteten Formen des Umgangs mit Videorecordern erscheinen sub specie des Mangels an Auswahlkriterien bereits wieder einfallsreich. Es ist auch ein Problem der Produzenten von Videorecordern, daß ihre Maschinen leicht in Ungnade fallen und die Anschaffung einen üblen Nachgeschmack hinterläßt. Sie täten gut daran, zusammen mit den Apparaten eine Anleitung zum richtigen Umgang zu verkaufen. Diese Anleitung kann nur in Hilfestellungen bei der Filmauswahl bestehen. Programm— und Video—Zeitschriften haben hier ebenfalls eine Aufgabe; ob sie ihr ausreichend nachkommen, daran kann man zweifeln. Es wäre sicherlich auch lohnend, das Feld nicht nur den Video — Anbietern und —Redakteuren zu überlassen. Eines kann abschließend aber gesagt werden: Wenn die Recorder—Benutzer keine rasch frustrierten und überforderten "Zauberlehrlinge" bleiben wollen, die sich mit mehr oder weniger der Not entsprungenen Einschränkungsmaßnahmen behelfen müssen, dann werden sie sich um eine gewisse "Meisterschaft" bemühen müssen. Nicht eine Meisterschaft in der Bedienung der Geräte ist hier gefordert, sondern eine auf cineastischem Gebiet. Solange es Filme nur im Kino gab, waren die Zuschauer nicht mit dem Problem der Auswahl belastet. Kinobesitzer oder Programmredakteure haben die Vorauswahl getroffen. Mit den Recordern erst ist die Möglichkeit der Selbstversorgung aufgekommen. Die Zahl der erreichbaren Filme aber steht der der gut erreichbaren Literatur nicht mehr wesentlich nach. Hier wie dort wird man sich nur mit einschlägigen Kenntnissen zurechtfinden.

Anmerkungen 1 Siehe die jährlichen Erhebungen des Deutschen Video—Instituts in Berlin. 2 S. z.B. "Gfk belegt Trend zum Vielsehen — Sehdauer der Erwachsenen stabil" in: Kirche und Rundfunk 92/85, wobei die Erhebung allerdings bezogen ist auf Kabelfernsehen; zu Haushalten mit Recordern lagen anfangs keine verläßlichen Daten vor. 3 Um als Beispiel nur zu zitieren: N. Postman, Das Verschwinden der Kindheit, Frankfurt/M. 1983. 4 S. z.B.: H. —D. Kübler, S. Kuntz, C. Melchers: Angst — wegspielen. Medientheater in der Medienerziehung. Leverkusen 1987. 5 W. Salber: Wirkungseinheiten — Psychologie von Werbung und Erziehung. Wuppertal 1969.

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Christoph Β. Melchers Für qualitative Untersuchungen von Einzelfilmen s.: W. Salber, Wirkungsanalyse des Films, Köln 1977; C. Melchers: Zur Wirkungspsychologie nationalsozialistischer Propagandafilme, Diss., Köln 1978; Y. Ähren, C. Melchers, W. Seifert, W. Wagner, "Holocaust" - Zur Wirkungspsychologie eines Medienereignisses, Opladen 1982; Y. Ähren, C. Melchers: "Dallas" — unsere peinliche Leidenschaft, in: Die Glocke, Febr. 1983; C. Melchers, W. Seifert: Video—Horror — psychologische Untersuchungen und Überlegungen, in: Medium, Juni 1984. Zur Unterscheidung von "Mitbewegungs — " und "Stillegungsmethoden" in der Psychologie s.: W. Salber: Kritik als Selbsttor, in: Zwischenschritte, Η. 1, 1983. S. W. Salber: Film und Sexualität. Bonn 1970, S. 123. Zur Bedeutung von Bildern für psychologische Funktionszusammenhänge s. W. Salber: Märchen und Fallkonstruktionen, in: Analytische Intensivberatung, Köln, 1984. Über Entsprechungen zwischen literarischen und psychologisch—wissenschaftlichen Darstellungen s. a.: S. Freud, J. Breuer, Studien über Hysterie, in: S. Freud, Gesammelte Werke, Bd. I. Zur hier vertretenen Theorie und Methode s. a.: W. Salber: Morphologie des seelischen Geschehens. Ratingen 1969. Da wir nicht glauben, daß der Umgang mit Video—Recordern von Merkmalen der individuellen Persönlichkeit bestimmt ist, und da wir annehmen, daß jeder Mensch, sofern er einen Recorder zur Verfügung hat, in die aufgewiesenen Probleme gerät, besteht die Gefahr, daß soziodemographische Angaben zu den Versuchspersonen in die Irre führen, da sie einen unzutreffenden Erklärungsansatz nahelegen. Weil solche Angaben aber ein Ritual geworden sind: Für diese Untersuchung lagen vor 65 Tiefeninterviews zum Thema, 28 Versuchspersonen waren männlich, 35 weiblich. Das Alter lag zwischen 12 und 58 Jahren; der soziale Hintergrund reichte vom ungelernten Arbeiter bis zum Universitäts—Dozenten. Es ist erstaunlich, wie oft der neu angeschaffte Video —Recorder nicht in den eigenen vier Wänden aufgestellt wird. Wir fanden in unserer Population immerhin 6 solcher Fälle. Die Umgangsprobleme werden durch das Abschieben des Geräts anderen Menschen zugespielt, denen man die Auswahl der Aufnahmen überläßt. Oft auch wird den Bekannten schamhaft verschwiegen, daß man Besitzer eines Geräts ist. In der Vor—Video—Zeit machte man bezüglich des Fernsehens ähnliche Beobachtungen: R. Mannheim: Psychologische Untersuchungen zu Fernsehgewohnheiten, unveröffentlichte Vordiplomarbeit. Köln 1976.

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Videoproduktion mit Jugendlichen als qualitative Forschungsmethode

Der zu enge Blick "Wenn es richtig ist anzunehmen, daß Personen im Alltagsleben ihre Umwelt ordnen, Objekten Bedeutungen und Relevanzen zuordnen, ihre sozialen Handlungen auf die Rationalitäten des Common sense basieren, dann kann man sich nicht in Feldforschung einlassen oder irgendeine Forschungsmethode benutzen, ohne das Prinzip subjektiver Interpretation in Betracht zu ziehen" (Cicourel, 1970, S. 93). Für sozialwissenschaftliche Forschung allgemein und für qualitative Sozialforschung im besonderen, die sich mit Gegenständen befaßt, die von in der Realität handelnden Subjekten immer schon interpretiert sind, muß diese subjektive Interpretation zentraler Bestandteil des Forschungsprozesses sein. Die zu Erforschenden werden als Subjekte ernstgenommen, und das heißt, ihnen wird grundsätzlich die Kompetenz zuerkannt, zu handeln, ihr Handeln zu explizieren und zu erklären. Zumindest für qualitative Sozialforschung sind sie eben nicht Objekte, sondern Subjekte des Forschungsprozesses. Ihre alltagspraktischen Handlungsvollzüge und Interpretationen stehen folglich im Zentrum, denn es können "die bedeutsamen Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit nur durch die Perspektive der alltagspraktisch handelnden Gesellschaftsmitglieder erfaßt werden" (Leithäuser/Volmerg, 1977, S. 137). Dieser Perspektivenwechsel gegenüber der 'harte Daten' erfassenden quantitativen Sozialforschung, der die Sicht auf die Objekte ersetzt durch die Sicht von den Subjekten her, zeitigt Folgen, die als prozessuale Prämissen zu setzen sind. Eine der u.E. wichtigsten Prämisse ist, daß im Forschungsprozeß Interaktionssituationen so zu gestalten sind, daß das System alltagsüblicher Kommunikationsregeln der Forschungssubjekte gewahrt bleibt. Wenn man "das Denken und Handeln der Menschen beschreiben und interpretieren will, so wie es sich im natürlichen alltagspraktischen Interaktionskontext der Gesellschaftsmitglieder abspielt, müssen die Forschungsmethoden sich an die vorgängigen Regeln der alltagspraktischen Kommunikation anpassen; das gebietet ... eine weitgehende Annäherung der Erhebungssituation an die Alltagssituation sowie die Anwendung alltagspraktischer Verfahren der Kommunikation in den Erhebungsmethoden" (a.a.O. S. 137f; vgl. auch Hoffmann-Riem, 1980). Mit anderen Worten:

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Helga Theuoert/Bernd Schorb

qualitative Forschung darf die Möglichkeiten der Forschungssubjekte, sich zu Gegenständen sozialer Realität zu äußern, nicht beschneiden, indem sie ihnen den Zwang auferlegt, sich ungewohnter Formen der Kommunikation zu bedienen. Vielmehr müssen sich die Methoden an den alltäglichen Interaktionsstrukturen und Kommunikationsformen der Subjekte ausrichten. In der Akzeptanz dieser Prämisse gibt es anscheinend nur wenig Differenzen unter qualitativen Forschern (vgl. Bachmair u.a., 1985; Fuchs, 1984; KEIN, 1978; Witzel, 1982). Ihre Einlösung jedoch scheint noch in weiter Ferne zu liegen. Die nach wie vor dominierenden Verfahren in der qualitativen Sozialforschung sind nämlich solche, die nur einen Ausschnitt alltäglicher Interaktion und Kommunikation erfassen. Es sind Diskussions— und Interviewverfahren, also Methoden, die an Sprache und Schrift gebunden sind. Das Spektrum alltagsüblicher Kommunikation jedoch ist bedeutend umfangreicher. Betrachtet man beispielsweise Jugendliche in ihrem Alltag, so kommunizieren sie zu einem nicht unbeträchtlichen Teil nonverbal. Ihre Umgangsformen sind gekennzeichnet durch Symbolik und Stilisierungen im Äußeren, sog. Accessoires (vgl. Jugendwerk, 1983), durch Mimik und Gestik und auch durch sprachliche Äußerungen, die insoweit dem nonverbalen Bereich zuzuordnen sind, als es sich dabei um Begrifflichkeiten und Kürzel handelt, die, gleich geheimen Zeichen, nur die Eingeweihten, die Clique, der Freundeskreis verstehen. Verhaltensweisen, die 'Signalwirkung' haben, und vor allem unmittelbares Handeln, das nicht verbalisiert wird und oft auch gar nicht mit Worten zu beschreiben ist, sind Formen alltagsüblicher Interaktion und Kommunikation. Die durch sie ausgedrückten Interpretationen sozialer Realität sind über sprachgebundene Methoden nicht zu erfassen. Versuche, die Bedeutung solcher nonverbalen Äußerungen festzuhalten, indem man Gestik und Mimik der Forschungssubjekte gesondert protokolliert, transkribiert und in der Interpretation als Texte behandelt (vgl. paradigmatisch Oevermann, 1979, 1983), können die Forderung, alltagspraktische Kommunikationsformen im Forschungsprozeß in Geltung zu lassen, methodisch nicht einlösen. Ebensowenig wie die Beschreibung eines Gemäldes das Gemälde selbst wiedergeben kann, kann die Beschreibung einer Geste diese selbst wiedergeben. In die Beschreibung einer Handlung, eines Bildes, einer Geste gehen Wissen, Schreibfertigkeit, Emotionen, Wertsetzungen u.v.a.m. des Beschreibenden notwendig mit ein. Die in nonverbaler Entäußerung ausgedrückten Sinngebungen und Interpretationen sozialer Realität werden mit einer nur dem verbalen verhafteten Forschungspraxis nicht adäquat erfaßt, ja sie drohen sogar unter dem apriorischen Verständnis der Forscher verschüttet zu werden.

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Die Notwendigkeit einer methodisch adäquaten Erfassung nonverbaler, sinnlicher Äußerungen, ist den mit qualitativen Methoden arbeitenden Sozialforschern bewußt — insbesondere den Medienforschern; ist ihr Gegenstand, Entäußerungen in Bild und/oder Ton, doch ein sinnlicher. In den seit 1983 im Rahmen der GMK (Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur) regelmäßig stattfindenden Treffen qualitativ arbeitender Medienforscher ist dieses Problem kontinuierlich auf der Tagesordnung zu finden, allerdings ohne daß bislang Lösungsnäherungen in Sicht wären (vgl. MERZ 4, 1987). Konstatieren läßt sich vielmehr ebenso regelmäßig ein Festhalten an sprachgebundenen Methoden, die präzisiert, kompliziert und ausgefeilt, aber nie in Frage gestellt werden. Obwohl überwiegend mit audiovisuellen Medien wie dem Fernsehen und ihrer Bedeutung für Gesellschaft und Rezipient befaßt, steht nicht das Bild als sinnliche Vermittlungsform, die vom Rezipienten ebenso sinnlich wahrgenommen wird, im Mittelpunkt methodischer Bemühungen, sondern das Wort. Die 'heiligen Kühe* der Wissenschaftler, die Sprache und die Schrift, mag, oder wahrscheinlicher, kann man nicht schlachten. Im Gegenteil, Verständigungsprobleme und Irritationen entstehen, werden die 'Meister' der Textinterpretation in Frage gestellt und ihre methodischen Fundamente in Bezug auf Adäquatheit für Gegenstand und Forschungssubjekte in Zweifel gezogen. Die Ebene sprachgebundener Methoden zu verlassen, um Denken und Handeln der Forschungssubjekte und deren Interpretation durch sie selbst in all ihren Qualitäten zu erfassen, wird bei qualitativen Sozialforschern nach wie vor mit Skepsis betrachtet. Im starren Festhalten an sprachgebundenen Forschungsmethoden äußert sich u.E. die Verabsolutierung einer der Wissenschaft vertrauten Kommunikationsform, ohne Rücksicht auf die Fähigkeiten, Fertigkeiten und Gewohnheiten der Forschungssubjekte, auf ihre alltagsüblichen Formen, zu kommunizieren und die Realität mit Sinn zu belegen. Es liegt die Vermutung nahe, daß Forschungsmethoden, die nicht Schrift/ Sprache als Fundament nutzen, den Forschern Ängste bereiten, da sie bei ihrer Anwendung gezwungen sind, traditionelle Verhaltensstandards aufzugeben und sich auf ungewohntem Terrain zu bewegen. Nun haben solche Ängste, sollten sie existieren, durchaus ein reales Fundament, sind doch Sprache und Schrift Medien, aus denen sich Realität konstruieren läßt. Jeder Sprech— oder Schreibakt ist Ergebnis eines Konstruktionsvorganges: Realität muß in ein abstraktes System, in Bedeutungen transformiert und in Sätzen konstruiert werden. Dieser Konstruktionsvorgang ist generell auch rekonstruierbar. Anders ist dies bei Bildern und Tönen. Sie bedürfen keiner abstrahierenden Konstruktion, sondern können analog wiedergegeben werden. Sie können in je eigene Zeichen und Symbole, in verwandte Bilder und in Imaginationen transformiert werden. Sie können zu neuen Bedeutungsketten — wie z.B. einem Film

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— zusammengefügt werden. In keiner der genannten Formen sieht man es ihnen an, ob sie auch den Bildern und Tönen im Kopf des Erzeugers gleichen, ähneln oder verfremdet sind. Der Bedeutungsgehalt der Kombination von Bild und Ton ist nicht endlich wie der der Worte, er ist — deshalb — auch kaum vollständig rekonstruierbar, aber er ist — eben deshalb — umfassender. Da der Mensch Dinge in der Weise wahrnimmt, wie sie sich seinen Sinne offenbaren, wird er sie auch 'authentisch' am ehesten in der Form wiedergeben, in der er sie wahrgenommen hat, sinnlich, bildlich. Dies wird vor allem dann geschehen, wenn ihm die Worte fehlen, also wenn die Fülle des Wahrgenommenen und Erlebten nicht in Worte zu fassen ist, oder wenn er es nicht gewohnt ist, Sinnliches in das abstrakte Zeichensystem von Sprache und Schrift zu transformieren. Der Anspruch qualitativen Forschens, den gesamten lebenspraktischen Kontext der Forschungssubjekte und insbesondere ihre eigene Interpretation dieses Kontextes des Forschungsprozeß selbst konstruieren zu lassen, schließt ein, daß potentiell alle Formen der Entäußerung der Forschungssubjekte gleichwertig in den Methoden der Erfassung und Interpretation repräsentiert sind.

Tasten im Unkonventionellen Wer als Forschungsgegenstand vor allem die Bildmedien Film und Fernsehen hat, die sinnliche Eindrücke vermitteln, und als Forschungssubjekte Jugendliche aus unterschiedlichen Bevölkerungsschichten, kommt um die Beantwortung der Frage, wie das Verhältnis zwischen diesen beiden Seiten adäquat zu erfassen ist, nicht herum. Unausweichlich wurde für uns diese Frage in einem Forschungsprojekt, in dem zu eruieren war, welches Gewaltverständnis (hier gefaßt als Wahrnehmung, Beurteilung und Umgang mit Gewalt) Jugendliche unterschiedlicher sozialer Herkunft haben, und wie sich dieses Verständnis differenziert hinsichtlich medialer und alltäglicher Gewalt (Schorb/Theunert, 1984; Theunert, 1987). Zum einen hatten wir es hierbei mit einem Gegenstand zu tun, der nicht nur in seiner medialen Präsentation affektiv—emotionale und sinnliche Qualität besitzt. Zum zweiten galt unser Interesse nicht allein den kognitiv präsenten Bestandteilen des Gewaltverständnisses, sondern gerade auch den nicht unmittelbar abrufbaren, tiefer liegenden Dimensionen. Zum dritten hatten wir es mit Forschungssubjekten — Jugendliche ab 12 Jahren — zu tun, deren Bereitschaft und Fähigkeit, emotionale und sinnliche Erfahrungsbezüge sprachlich zu vermitteln, eher gering einzuschätzen war. Angewiesen auf ausschließlich sprachgebundene Methoden wäre es beispielsweise unmöglich gewesen, mit sozial unterprivilegierten Jugendlichen und solchen aus schwierigen Milieus zusammenzuarbeiten. Gerade sie auszuschließen wäre aber angesichts der Thematik 'Gewalt' unvertretbar gewesen. Unsere Suche nach vorhandenen, nicht ausschließlich

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sprachgebundenen Methoden blieb, wollten wir qualitativ forschen, erfolglos. Die quantitativen Laborexperimente zu diesem Themenbereich allerdings nutzen ζ. T. solche Methoden, die jedoch Menschen wie Ratten und Hunde behandeln und schon deshalb für uns unbrauchbar waren (vgl. Bandura, 1979). So entschieden wir uns für den Weg des Unkonventionellen. Unsere Grundüberlegung dabei war, daß Methoden, die den Jugendlichen sprachliche und nicht — sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten eröffnen, nicht nur die kognitiven Dimensionen ihres Gewaltverständisses zutage fördern, sondern auch die Chance bieten, sinnliche Gegenstands —, Erfahrungs — und Handlungsbezüge zu erforschen. Methoden, die in der pädagogischen Praxis der Jugendbildung zur Er— und Bearbeitung von Themen längst gang und gäbe sind, boten sich dazu an: 1. Das Spiel: In der Kinderpsychologie ist die Bedeutung des Spiels als kindliche Ausdrucksform längst bekannt. Die Anwendung dieser Methode hat erbracht, daß Kinder im Spiel "mit Zielsicherheit auf solche Themen zusteuern, in denen sich Spannungen, Probleme, Wünsche, Inhalte ihres bewegten Seelenlebens ausdrücken lassen (Flitner, 1974, S. 557). Im Spiel kann also zum Ausdruck kommen, was nicht in Sprache umgesetzt werden kann. Dies trifft keineswegs nur auf Kinder zu, deren Verbalisierungsfahigkeit noch nicht ausgeprägt ist. Die längst gängige Nutzung von Rollenspielen in der Jugend — und Erwachsenenbildung als Methode zur inhaltlichen Auseinandersetzung verweist in die gleiche Richtung. 2. Kreatives Gestalten: Das eigene Gestalten von Material (Zeichnen, Collagen, u. ä.) findet in der Praxis der Kinder— und Jugendarbeit und darüber hinaus in therapeutischen Ansätzen seit langem Anwendung als Mittel des Ausdrucks für Wahrnehmungs —, Erfahrungs— und Einstellungsbezüge. Auch die hier gewonnenen Erfahrungen lassen sich auf die Anwendung kreativen Gestaltens als Methode der inhaltlichen Auseinandersetzung übertragen. 3. Aktive Medienarbeit: Daß die selbsttätige Nutzung von audiovisuellen Medien als Mittel der Er— und Bearbeitung von Gegenstandsbereichen taugt, ist eine Erfahrung, die in der Praxis der Jugendbildung mehr und mehr Gewicht erhält (vgl. Hafenegger/Wittmeier, 1983; JFF, 1986; Projektgruppe, 1986). Vor allem für Fragen, die mit Bildmedien wie Film und Fernsehen zusammenhängen, in unserem Fall Gewalt in den Medien, bietet sich der Einsatz des Mediums Video an. Zum einen lassen sich damit Fernsehbilder produzieren und reproduzieren und zum anderen lassen sich bei der Herstellung eines Videofilms alle Ausdrucksmöglichkeiten nutzen, sprachliche ebenso wie nicht—sprachliche. Unsere diesbezügliche Erfahrung, daß in

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Videofilmen, die von Jugendlichen produziert wurden, immer auch Inhalte dargestellt wurden, die sie nicht verbalisieren wollten oder auch konnten, ließ diese Methode für die Erfassung des Gewaltverständnisses Jugendlicher als besonders geeignet erscheinen. Die beschriebenen pädagogischen Methoden, die ein breites Spektrum verbaler und nonverbaler Äußerungsmöglichkeiten bieten, und damit auch Elemente alltäglicher Kommunikation Jugendlicher zum Tragen kommen lassen, erwiesen sich als brauchbare Instrumentarien, um Jugendliche unterschiedlicher sozialer Herkunft im Forschungsprozeß zur Artikulation der vielfaltigen Dimensionen ihres Gewaltverständnisses anzuregen. Um sie als qualitative Erhebungsmethoden nutzbar zu machen, bedurften sie jedoch der Ergänzung. Die Produkte nämlich, die mittels solcher Methoden entstehen, sind nicht unmittelbar interpretierbar. Von zentraler Bedeutung ist der Prozeß ihrer Entstehung in der Gruppe, da hier die Inhalte des medialen Produkts 'ausgehandelt' werden. Um diesen Prozeß mitzuerfassen wurde das Methodenensemble ergänzt durch Gruppendiskussionsverfahren und begleitet durch teilnehmende Beobachtung. Beide lieferten wichtige Anhaltspunkte für die Interpretation des Gewaltverständnisses, das mit den beschriebenen pädagogischen Methoden zur Expression gebracht worden war. Die Ergebnisse des Forschungsprozesses, der auf der Basis dieses Methodenensembles (szenische Darstellung, kreatives Gestalten und aktive Medienarbeit) mit mehr als 200 Jugendlichen durchgeführt worden war, belegen, daß mit diesem Vorgehen differenzierte Aussagen über das Gewaltverständnis soziokulturell unterschiedlicher Gruppen Jugendlicher zu gewinnen sind. Insbesondere bei Gruppen, die sich gegenüber sprach — schriftlichen Forschungsmethoden verschließen, erbrachte die Produktion von Videofilmen Dimensionen ihres Gewaltverständnisses, die auf anderen Wegen kaum zu gewinnen sein dürften (vgl. zu dem Projekt und seinen Ergebnissen ausführlich Theunert, 1987). Die Erfahrungen aus diesem Projekt weckten unser Interesse, Videoproduktionen mit Jugendlichen als Forschungsmethode empirisch zu fundieren. Insbesondere sollte die im geschilderten Projekt nur gestreifte Frage geklärt werden, wie die von Jugendlichen in ihren Filmen produzierten Bilder und Aussagen adäquat und sinnverstehend interpretiert werden können.

Die Erfassung von 'Selbstbildern' Jugendlicher Ausgangspunkt dieses Projektes zur Entwicklung einer Methode, verbale und nonverbale Entäußerungen der Forschungssubjekte zu erfassen und zu intepretie-

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ren, waren die Anfang der achtziger Jahre von Massenmedien und Politikern in gleicher Weise hochstilisierten 'Jugendprobleme'. In der von der DFG für zwölf Monate wie üblich unterfinanzierten Pilotstudie wollten wir herausfinden, welche 'Selbstbilder' Jugendliche im Unterschied zu den medial vermittelten 'Fremdbildern' haben, welches wirklich ihre Probleme sind und wie diese von ihnen eingeschätzt und bewältigt werden. Da die 'Jugendprobleme' im Grunde Probleme der Gesellschaft sind, richtete sich das Forschungsinteresse auf die subjektive Wahrnehmung und Bewältigung gesellschaftlicher Realität, und zwar nicht 'der Jugend', sondern unterschiedlicher Gruppen von Jugendlichen. Vor diesem Hintergrund faßten wir 'Selbstbilder' als die Einschätzungen, die Jugendliche von sich und ihrer Generation haben, als ihre Sichtweisen und Interpretationen von Themen und Problemen gesellschaftlicher Realität. Diese Realitätsdeutungen entwickeln und formen sich in je spezifischen Lebens — und Erfahrungszusammenhängen, in der schulischen, beruflichen und familialen Sozialisation und insbesondere in den peer groups, in denen "individuelle Erfahrungen, Erlebnisse, Einschätzungen und Handlungsorientierungen verarbeitet, ausgehandelt und in gewissem Sinn verallgemeinert" (Theunert u.a., 1985, S. 123) werden. Selbstbilder Jugendlicher konstituieren sich gleichermaßen in der rationalen wie in der emotionalen Auseinandersetzung mit der Umwelt. Sie beinhalten entsprechend auch Bereiche der sinnlichen Wahrnehmung sowie der ErfahrungsVerarbeitung und werden deshalb auch in sinnlichen Formen, u. a. in Bildern geäußert. Da u. E. den peer groups besondere Bedeutung für die Ausformung der Selbstbilder zukommt und es wohl auch gruppenspezifische Formen der Explikation gibt, galt unser Interesse nicht den Selbstbildern einzelner Jugendlicher, sondern den gruppenspezifischen Selbstbildern, den gemeinsamen Interpretationen von Realität soziokulturell unterscheidbarer Gruppen Jugendlicher. Die Zielsetzung, Selbstbilder unterschiedlicher Gruppen Jugendlicher möglichst authentisch zu erfassen, erfordert einen Forschungsprozeß, der es Jugendlichen ermöglicht, ihre Interpretationen von Wirklichkeit unabhängig von determinierenden Fragestellungen und in umfassender Weise zu äußern. Was zeichnet nun die Produktion von Videofilmen als Erfassungsmethode in einem solchen Forschungsprozeß, verglichen mit bekannten und bewährten qualitativen Methoden, aus? 1. Die Produktion eines Videofilms bietet ein breites Spektrum an Äußerungsformen: sprachliche, visuelle und audiovisuelle. Sich neben der Sprache auch in Mimik, Gestik, Handeln, Bildern und Tönen ausdrücken zu können, beinhaltet die Chance, sinnlich gemachte Erfahrungen auch sinnlich wieder-

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zugeben. Damit erlaubt diese Methode, zum einen alltagsübliche Kommunikationsformen einzubeziehen, zum zweiten bietet sie gerade Jugendlichen, deren verbale Ausdrucksfahigkeiten nicht so differenziert ausgeprägt sind, vielfaltige Formen, sich zu vermitteln, und zum dritten ermöglicht sie es, das komplexe Gefüge von Realitätsdeutungen, das sich in Selbstbildern repräsentiert, adäquat abzubilden. Gerade bei Jugendlichen ist davon auszugehen, daß sie die vielfältigen Dimensionen ihrer Selbstbilder nicht ohne weiteres verbalisieren können, daß vieles erst über nonverbale Audrucksformen zutage tritt, auch Dimensionen, die ihnen nicht bewußt sind. Da die Produktion von Videofilmen darauf gerichtet ist, Gegenstände "in einer komplexen, die Sinne, Affekte, das Wissen, die Erkenntnis ansprechenden Form" (Hartwig, 1981, S. 98) zu bearbeiten, bietet sie den Jugendlichen die Chance, ihre Selbstbilder in ebenso komplexer Form zu äußern. Damit ermöglicht diese Methode zugleich eine umfassende Erhebung der vielfaltigen Dimensionen der Selbstbilder Jugendlicher, insbesondere der emotionalen und sinnlichen Bestandteile. 2. Eine Generation, die in einer medialen Bilderwelt aufgewachsen ist, tagtäglich selbstverständlich damit umgeht, wird — so ist zumindest zu vermuten — Interpretationen über gesellschaftliche Realität und über ihre eigene Situation in dieser Realität im wahrsten Sinn auch als Selbst - "Bilder" konstruieren, wenigstens dürfte ihr eine audiovisuelle Vermittlung von Interpretationen und Sinnbezügen vertraut sein. Mit der eigenen Produktion von Videofilmen können diese Bilder als Bilder geäußert werden und müssen nicht erst verbalisiert werden. Zudem ermöglicht diese Methode, das bei Jugendlichen verbreitete Bedürfnis, sich durch optische Signale auszudrükken, im Bild einzufangen. 3. Die Produktion eines Videofilms, dessen Inhalt von den Jugendlichen selbst bestimmt ist, erlaubt es den Gruppen, ihre Selbstbilder in der jeweils für sie besonderen inhaltlichen Differenzierung und auf ihre Weise darzustellen. Die Einigung auf ein Filmthema erfordert in der Gruppe eine intensive Auseinandersetzng über Themen, die sie betreffen. Die Umsetzung in einen Film macht neben inhaltlicher Auseinandersetzung zugleich das Bemühen um Klarheit der Aussagen und der Präsentation notwendig. Der fertige Videofilm stellt das Ergebnis eines intensiven Reflexionsprozesses der Gruppe dar und ist zugleich Ergebnis von Auseinandersetzungs — und Aushandlungsprozessen. Er präsentiert somit 'Gruppenmeinung' und dokumentiert sie in gruppenspezifischer Explikation. In seinem Herstellungsprozeß wird eine Annäherung an alltagsübliche Selbstverständigungsprozesse in Gruppen Jugendlicher geschaffen.

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Die Produktion eines Videofilms bietet Jugendlichen eine aktive Form der Auseinandersetzung mit Gegenstandbereichen der Realität, die sie betreffen. Sie ermöglicht ihnen dabei, Reflexion und Handeln zu verbinden und ihre Wahrnehmung und Einschätzung zu diesen Gegenstandbereichen in vielfaltigen Formen zu äußern. "Die Produktion eines Videofilms zu einem Thema ... ermöglicht seine ganzheitliche Bearbeitung und Darstellung. Es werden nicht nur kognitive Wissensbestände der Jugendlichen aktiviert und eingebunden, sondern auch ihre emotionalen Bezüge und ihre sinnliche Wahrnehmung kommen zum Ausdruck." (Theunert, 1987, S. 171). Damit können für den Forschungsprozeß gerade diejenigen Bestandteile von Selbstbildern zugänglich gemacht werden, die Jugendliche nicht verbalisieren können oder wollen.

Der Forschungsprozeß Wie läßt sich ein Forschungsprozeß organisieren, dessen Kernstück die Produktion von Videofilmen mit Jugendlichen und die sinnverstehende Interpretation dieser Filme ist? Reicht es aus, Jugendliche aufzufordern, eigene Videoproduktionen einzusenden, in denen sie ihrer Meinung nach dargestellt haben, wie sie sich und ihre Lebenswelt sehen (vgl. Jugendwerk, 1985)? Kaum, denn das würde voraussetzen, — daß ein Videofilm als fertiges Produkt für sich spricht, also keiner Interpretation mehr bedarf, oder — daß ein Interpretationsverfahren für audiovisuelles Material verfügbar ist, das unabhängig von Interaktions — und Produktionsprozeß Kriterien für die angemessene Erfassung des subjektiv gemeinten Sinns des Produktes beinhaltet. Beides ist nicht der Fall. Eine Interpretationsmethode für audiovisuelles Material existiert nicht. Und würde sie sich ausschließlich auf das fertige Produkt beziehen, wäre das den Prämissen qualitativer Sozialforschung nicht unbedingt angemessen, wird doch hier Sinnverstehen als Interaktionsprozeß von Forscher und Beforschtem organisiert. Eine bloße Interpretation von Produkten, deren Entstehungskontext unbekannt bleibt, birgt die Gefahr, eigene Theoriekonstrukte und Klassifikationsschemata anzulegen und so den subjektiv gemeinten Sinn zu ersticken. Ein Videofilm, den Jugendliche produziert haben, spricht in aller Regel nicht für sich selbst, enthält ihre subjektive Sinngebung nicht in unmittelbar zugänglicher Form. Er repräsentiert immer nur einen Ausschnitt des seiner Produktion vorausgegangenen Reflexionsprozesses in der Gruppe. Bei der Umsetzung eines

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Themas in einen Film bleiben notgedrungen verschiedene Aspekte unberücksichtigt, die bei der Konzipierung nicht diskutiert wurden. Es findet eine Auswahl statt, die pragmatische, inhaltliche oder gruppenspezifische Gründe haben kann. Für das Verständnis einer Videoproduktion von Jugendlichen ist es mindestens ebenso wichtig zu erfassen, was sie im Verlauf des Produktionsprozesses ausgewählt haben, wie zu sehen, was sie wie im Film umgesetzt haben. Zudem ist bei der Interpretation eines Videofllms, die den intendierten Sinn verstehen will, zu berücksichtigen, daß Jugendliche die Gestaltungsmittel des Mediums nicht "profihaft" beherrschen. Vermittlungsinteresse und Präsentationsform können zumindest teilweise differieren. Der Videofilm als fertiges Produkt reicht also nicht aus, um die Realitätsdeutungen Jugendlicher, ihre Selbstbilder zu erfassen. Ein Forschungsprozeß, dessen methodisches Kernstück die Produktion von Videofilmen mit Jugendlichen und die sinnverstehende Interpretation dieser Filme ist, mufl in seiner Gesamtheit transparent sein. Diese Transparenz ermöglicht es, den Entstehungs— und Verstehenskontext, also den gesamten Produktionsprozeß des Filmes zu erfassen, ihn neben dem Produkt selbst der Interpretation zugänglich zu machen und aus diesem Kontext den gemeinten Sinn zu rekonstruieren. Zu dieser präzisen Erfassung des Kontextes sind ebenfalls qualitative Verfahren notwendig. In unserem Ansatz war dieser Forschungsprozeß als Gruppenprozeß in einwöchigen Seminaren organisiert, die mit unterschiedlichen Gruppen Jugendlicher 'vor Ort', also an ihren Wohnorten stattfanden. Diese Seminare waren zugleich pädagogische Angebote für die Jugendlichen: Sie lernten dabei, das Medium Video selbsttätig als Mittel der Kommunikation und Vermittlung eigener Anliegen zu nutzen. Der Forschungsprozeß war also gleichzeitig ein pädagogischer Prozeß. Die Produktion von Videofilmen wurde in den Seminaren als reflexiver Prozeß strukturiert: Der eigentlichen Produktion gingen eine Reihe von Schritten voraus, die einerseits die Funktion hatten, den Jugendlichen eine breite Palette möglicher Themenbereiche in Erinnerung zu rufen und die andererseits von den Jugendlichen erforderten, das von ihnen gewählte Thema in gemeinsamer Diskussion inhaltlich aufzuarbeiten, sich Gedanken über die Vermittlung und Darstellung ihres Themas und ihrer Intentionen zu machen und damit das Thema in seinen verschiedenen Aspekten ausführlich zu reflektieren. Als Anregung des Gruppenprozesses diente ein Zusammenschnitt aus Fernsehsendungen über 'Jugend und ihre Probleme', der mit Jugendlichen gemeinsam erstellt worden war. Mit diesem 'Grundreiz' wurde ein thematischer und affektiver Bezugsrahmen für die Jugendlichen hergestellt: Die im Zusammenschnitt enthaltenen 'Fremdbilder' von Jugend repräsentieren zwar nicht die Lebenswirk-

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lichkeit Jugendlicher, sie haben jedoch für Jugendliche insofern Realitätsgehalt, als sie alltagsübliche Argumente, Klischees und Vorurteile transportieren. Dieses 'Jugendbild' des Fernsehens, das Erscheinungsformen jugendlicher Lebenswelten komprimiert, wird von Jugendlichen als eigentümliche (Medien)—Wirklichkeit rezipiert: Einzelne Phänomene mögen sie kennen, einzelne dargestellte Probleme auch selbst haben, sie sehen sie aber nicht so, wie das Fernsehen sie darstellt. Die Interpretationsmuster des Fernsehens sind nicht die der Jugendlichen. Insofern lieferte dieses Anregungsmaterial in den Seminaren Stoff für die Diskussion, forderte Zustimmung oder Ablehnung heraus und regte die Thematisierung 'eigener' Realitätsdeutungen der Jugendlichen an. Die Erfahrungen aus dem Projekt zeigen, daß ein solcher Anreiz zu Initiierung des Auseinandersetzungsprozesses notwendig ist. Er regt die Erinnerung Jugendlicher für relevante Themenbereiche und Problemfelder an und sorgt auf motivierende Weise für eine Auseinandersetzung mit ihnen. Allerdings besteht auch die Gefahr, daß das Anregungsmaterial den folgenden Gruppenprozeß vorstrukturiert und inhaltlich bestimmt. Dem kann jedoch, wie im vorliegenden Fall, dadurch begegnet werden, daß der Anreiz die Interessens— und Motivationslage Jugendlicher berücksichtigt (was dadurch gewährleistet war, daß der Zusammenschnitt von Jugendlichen erstellt worden war) und daß er thematisch so breit gefachert und offen ist, daß weder die Einschätzungen der Jugendlichen zu einzelnen Themenbereichen noch ihre eigenen Akzentsetzungen in der Themenwahl behindert werden. Der weitere Gruppenprozeß in den Seminaren war in mehreren aufeinanderfolgenden Schritten strukturiert: Die Diskussion des Filmthemas, die Entwicklung der Filmgeschichte und die Erstellung des Drehbuchs. In diesen drei Schritten erfolgte eine zunehmende Verdichtung, Differenzierung und Konkretisierung des Themas. Seine Fortsetzung fand dieser Reflexionsprozeß im vierten Schritt, der konkreten Ausgestaltung des Produktes bei den Dreharbeiten, und im letzten Schritt, der Vorführung und abschließenden Diskussion des fertigen Produkts. Zur Vorführung des Films wurden, wenn möglich, Zuschauer eingeladen. Dies konfrontierte die Jugendlichen mit der Wirkung ihres Films auf Außenstehende; in der Auseinandersetzung mit 'fremden* Interpretationen konnten sie ihre dargestellten Realitätsdeutungen erneut reflektieren, präzisieren und differenzieren. Für die Interpretation erbrachte dieser letzte Schritt in der Regel wertvolle Hinweise auf den subjektiv gemeinten Sinn des Films bzw. einzelner Szenen. Die Seminarphasen wurden — mit Ausnahme der Produktion selbst — methodisch als Gruppendiskussion organisiert. Die Forscher waren in allen Phasen aktiv am Gruppenprozeß beteiligt, hielten sich jedoch inhaltlich weitgehend zurück. Der Hauptstrang der Interaktion verlief zwischen den Jugendlichen selbst

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und nicht zwischen Forschern und Jugendlichen. Interventionen nahmen die Forscher nur dann vor, wenn der Auseinandersetzungsprozeß der Jugendlichen stockte, wenn Dominanzen einzelner Jugendlicher aufgebrochen werden mußten, Mißverständnisse und Unklarheiten zu beseitigen oder spezifische Fragen der Filmtechnik und — gestaltung zu klären waren. Außerdem führten sie die Jugendlichen vor Beginn dir Dreharbeiten in die Handhabung der Videogeräte und in grundlegende filmische Gestaltungsmittel ein. Der gesamte Gruppenprozeß wurde durch 'teilnehmende Beobachtung' begleitet. Damit wurden sowohl die Inhalte der Gruppendiskussionen erfaßt als auch die situativen und atmosphärischen Bedingungen in der Gruppe. Die teilnehmende Beobachtung ist entscheidend, um den Prozeßverlauf festzuhalten und die Hintergründe und Begründungen für Äußerungen und Darstellungen im Film zu erfassen, also den Entstehungs— und Verstehenskontext des Produktes zu dokumentieren und so für die Interpretation zugänglich zu machen. Bei der teilnehmenden Beobachtung verhielten sich die Forscher nicht 'distanziert beobachtend', sondern sie waren ins Gruppengeschehen integriert. Möglich wurde dies, indem sich die beiden Forscher, die den Gruppenprozeß jeweils begleiteten, in der Beobachtung und Strukturierung der Gruppenprozesse abwechselten. Für die Jugendlichen — die über die teilnehmende Beobachtung und ihre Funktion unterrichtet waren — waren so beide immer als aktive Beteiligte am Gruppenprozeß wahrnehmbar. Für die Forscher bedeutet dieses Vorgehen, im Forschungsprozeß eine prekäre Balance halten zu müssen: Um den Forschungsprozeß als pädagogischen Prozeß in Gang zu halten, durften sie nicht ausschließlich distanziert beobachten, sondern mußten sich in den Prozeß einbringen, ohne ihn jedoch zu determinieren oder zu dominieren. Zugleich mußten sie den Gruppenprozeß möglichst vollständig erfassen, ohne dabei von den Jugendlichen ausschließlich als 'Protokollanten' wahrgenommen zu werden. Um diese Balance zu halten, war gegenseitige Kontrolle und Korrektur der beiden beteiligten Forscher notwendig. Zusätzlich wurden Interventionen und die dadurch ausgelösten inhaltlichen und situativen Reaktionen der Jugendlichen in den Protokollen der teilnehmenden Beobachtung eigens festgehalten, so daß bei der Interpretation mögliche Einflußnahmen der Forscher auf inhaltliche oder formale Aspekte im späteren Film nachverfolgt werden konnten. Das Material, das nach einem solchermaßen strukturierten Gruppenprozeß vorlag, war der Videofilm der Gruppe und der protokollierte Kontext seines Entstehungsprozesses. Dieses Material war die Grundlage für die Interpretation der Selbstbildbestandteile der Gruppe.

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Das Interpretationsverfahren Die Interpretation der Selbstbilder von Gruppen Jugendlicher aufgrund der von ihnen produzierten Videofilme stellte uns vor ein — erwartetes — methodisches Problem. Mit diesem Vorhaben betraten wir Neuland. Interpretationsverfahren in den Sozialwissenschaften (vgl. exemplarisch Soeffner, 1979 & 1982; Oevermann, 1983) beziehen sich ausschließlich auf Texte. Auch ein Interaktionsprozeß gilt in seiner Transkription als Text. Nonverbale Bestandteile von Interaktionsprozessen (Gestik, Mimik, Haptik ...) sind für die Sinnauslegung des Textes eher randständig. Die angewendeten Verfahren orientierten sich weitgehend an den von Oevermann (u. a. 1979) aufgestellten Regeln zur extensiven, objektiven Sinnauslegung, in der alle möglichen 'Lesearten' unabhängig vom subjektiv gemeinten Sinn der Interakteure ermittelt werden sollen. Die Forschungssubjekte, ihre Intentionen und ihre Interpretationen verschwinden in dem Moment, in dem der Forscher ans Interpretieren geht. Nur wenige Autoren beziehen in ihre Auslegung von Texten die von den Forschungssubjekten im Kontext der Interaktion explizit geäußerten Sinn— und Bedeutungszuschreibungen mit ein (vgl. Schachtner, 1981). Die Verfahren der Textinterpretation sind für eine Interpretation der Selbstbildbestandteile von Gruppen Jugendlicher, die sich in ihren selbst hergestellten Videofilmen ausdrücken, nur begrenzt anwendbar. Sie können Hinweise geben, welche Aspekte und Faktoren bei der Entwicklung und Anwendung von angemessenen Interpretationsverfahren zu berücksichtigen sind; sie sind jedoch aus mehreren Gründen nicht einfach übertragbar: 1. Videofilme sind nicht als Texte zu behandeln: Zwar enthalten sie sprachliche Äußerungen, diese sind jedoch nicht losgelöst von den Sprechern, ihrem Verhalten, ihrer Gestik, ihrem Handeln. Die sprachlichen Äußerungen sind als 'natürliche' Interaktionen dokumentiert und als solche im Kontext der bildlich vermittelten Bedeutungsgehalte zu interpretieren. Ihr Sinn erschließt sich in der Regel im Zusammenhang mit allen anderen Äußerungen, der Gestik und Mimik, dem Sprachduktus und —habitus, der Haptik der Sprecher, den zugeordneten Bildern und Tönen usw. 2. Sprachliche und bildliche Aussagen eines Videofilms sind eingebettet in Kontexte: Zum ersten in den Handlungsablauf des Films, in die Erzählung der Filmgeschichte. In diesem unmittelbaren Kontext sind sie bedeutungsrelevant, gewinnen ihren — intendierten und/oder realisierten — Sinn. Zum zweiten sind sie Teil des Entstehungskontextes des Produktes. Im Auseinandersetzungsprozeß um das Thema und seine Darstellung und im Produktionsprozeß selbst werden Stellenwert und Bedeutung der einzelnen sprachli-

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chen und bildlichen Aussagen interaktiv 'ausgehandelt'. Die Resultate dieser 'Aushandlungsprozesse' schlagen sich in den verbalen und bildlichen Inhalten und deren dramaturgischen Vermittlung im Produkt nieder. Sie sind in ihrem Sinn entweder aus sich selbst heraus verstehbar und/oder aus dem Produktkontext des Produktes erschließbar. Für die Interpretation heißt dies, daß die sprachlichen und bildlichen Äußerungen in ihren Sinndimensionen vollständig nur über die Berücksichtigung der Aussage selbst und der verschiedenen Kontexte erschließbar sind. 3. Bildliche Äußerungen sind in Videofilmen von zentraler Bedeutung: Vieles, was in alltäglicher Interaktion über sprachliche Mittel oder über Gestik und Mimik ausgedrückt wird, wird hier in Bilder und Töne und deren besondere Kombination gefaßt. Transformiert man diese tragenden Elemente eines Filmes im nachhinein in Sprache, verlieren sie ihre eigentliche Qualität und Aussagekraft: die sinnliche Dimension ihrer Gestaltung und Wirkung. Die Kombination verschiedener Bildelemente und die Kombination verschiedener Bild— und Tonelemente ist die sinnliche Gestaltung eines Gegenstandes, die vom Betrachter ebenso sinnlich wahrgenommen wird. Sie muß auch in dieser Sinnlichkeit interpretiert werden, will man die darin vermittelten Bedeutungen vollständig erfassen. Deshalb sind Bilder in ihrer Wirkung als Bilder, Töne in ihrer Wirkung als Töne zu interpretieren, nicht als Beschreibungen von Bildern und Tönen. 4. Bei der Erfassung von Selbstbildern Jugendlicher, die sich in Videofilmen niederschlagen, geht es in erster Linie um den verstehenden Nachvollzug ihrer Sichtweisen und Einschätzungen zu individuellen und/oder gesellschaftlichen Gegenstandsbereichen sowie deren Hintergründe und Begründungen. Bei der Interpretation des Produkts sind zwar mögliche Lesearten von verbalen und bildlichen Aussagen herauszuarbeiten und zu sammeln, als gültig sind jedoch vor allem jene zu begreifen, die aus dem Entstehungs— und Verstehenskontext des Produktes zu belegen sind, die Jugendlichen explizit angegeben haben oder die aus dem gesamten Gruppenprozeß erschließbar und begründbar sind. Dies sind die zentralen 'Lesearten' des Produktes. Sie können durch weitere aus anderen Wissensbeständen stammende Lesearten, die Plausibilität beanspruchen können, ergänzt, nicht jedoch dominiert werden. Das Ernstnehmen von Äußerungen und Begründungen der Jugendlichen nicht nur auf der Erhebungsebene, sondern auch bei der Interpretation ist u. E. die wesentliche Voraussetzung für eine angemessene Erfassung von Selbstbildern Jugendlicher. Bei der Suche nach Methoden, von denen Hilfen für die Interpretation des komplexen Gebildes Film zu erwarten sind, geraten auch die verschiedenen Verfahren der Filmanalyse ins Blickfeld.

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Aber diese Methoden lassen sich ebenfalls nur begrenzt nutzen, denn sie beziehen sich auf den professionell hergestellten Film. Der Film als ein gestaltetes Ganzes wird in seine Bestandteile zerlegt, wobei von einer gezielten Verwendung der verschiedenen Stilmittel ausgegangen wird. Analog zur Analyse eines Kunstwerkes leitet nicht die Entstehungsgeschichte oder das Verständnis des Künstlers die Interpretation, sondern ein Instrumentarium zur Klassifikation inhaltlicher und dramaturgischer Elemente. Jedem dieser Elemente wird ein bestimmter Effekt zugesprochen, der im Kontext des Films auch verfremdet oder variiert werden kann (vgl. Becker/ Schöll, 1983; Silbermann u.a., 1980). Die Voraussetzung der Professionalität und der damit verbundenen bewußten Verwendung inhaldicher und dramaturgischer Stilelemente ist bei Filmen, die von Jugendlichen produziert werden, nicht gegeben. Die meisten Jugendlichen haben noch nie mit der Kamera gearbeitet und sind mit den Prinzipien und Möglichkeiten der Gestaltung von Filmen nicht vertraut. Sie setzen die Gestaltungsmöglichkeiten eher zufallig und unsystematisch ein. Die Effekte dramaturgischer Mittel kennen sie vor allem aus der Sicht der Rezipienten. Versuchen sie, sich an Formen der Dramaturgie anzulehnen, die ihnen aus Film und Fernsehen bekannt sind, so entsteht häufig eine Kluft zwischen Intention und Realisation. Das ihnen zur Verfügung stehende Repertoire an Stilmitteln und natürlich auch an technischen Mitteln ist bedeutend geringer als das professioneller Filmemacher. Die Brauchbarkeit der Methoden der Filmanalyse wird zusätzlich dadurch beschränkt, daß die in Videofilmen zum Ausdruck kommenden Selbstbilder Jugendlicher nicht als abgeschlossene 'Werke' interpretiert werden können, sondern vor dem Hintergrund ihres Entstehungs— und Verstehenskontextes. Die Bedeutung einer Szene oder eines Bildes wird häufig erst aus diesem Kontext heraus verständlich, erschließt sich erst, wenn die dahinterstehende Intention und die Interpretation der jugendlichen Produzenten einbezogen werden. Das Klassfikationsinstrumentarium der Filmanalyse läßt sich zur Beschreibung der in den Filmen Jugendlicher verwendeten Gestaltungsmittel und in begrenztem Maße zu ihrer Interpretation heranziehen. Es kann Hinweise geben, wie einzelne Elemente eines Produktes zu verstehen sind und welche Effekte damit beabsichtigt sein könnten. Diese Hinweise sind jedoch nur über den Entstehungs— und Verstehenskontext zu erhärten und zu belegen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist das von uns vorgeschlagene Interpretationsverfahren für Videofilme Jugendlicher ein erster Versuch, eine adäquate Zugangsweise zu ihren Bedeutungsgehalten zu entwickeln.

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Das Interpretationsverfahren nimmt die wesentlichen Elemente, die die Produktion von Videofilmen als Erfassungmethode bestimmten, wieder auf. Es umfaßt drei aufeinander aufbauende Schritte: Die Produktinterpretation: Sie bezieht sich ausschließlich auf den Videofilm selbst und wird direkt am Film vorgenommen. Als zusätzliches Material wurde im Projekt die 'Produkttranskription' herangezogen, in der Inhalt und Inszenierung jeder Sequenz beschrieben und alle Dialoge im Wortlaut festgehalten sind. Diese Produkttranskription wurde von einem Mitarbeiter vorgenommen, der am Herstellungsprozeß des Films nicht beteiligt war, damit Beschreibung und Kontextwissen nicht vermischt wurden. Bei der Produktinterpretation werden alle möglichen Lesearten des Films herausgefiltert und gesammelt. Dies geschieht in zwei Schritten: Zuerst wird der Film als Ganzes in seinem inhaltlichen und dramaturgischen Aufbau analysiert; dann wird Sequenz für Sequenz auf Inhaltsaspekte, Inszenierungs — und Gestaltungsmittel und Symbolik untersucht. Alle möglich erscheinenden Bedeutungsgehalte werden festgehalten, einschließlich der dafür von den Interpreten abgegebenen Begründungen. Bei diesem Schritt sind verschiedene Formen der Kontrolle des Fremdverstehens durch die Interpreten eingebaut: Die Interpretation des Filmes wird von mindestens zwei Forschern gemeinsam vorgenommen, von denen der eine am Produktionsprozeß beteiligt war, der andere nicht. Sie kontrollieren sich gegenseitig in Begründungen für bestimmte Aussagen und klären diskursiv Differenzierungen und Modifikationen. Die Produkttransskription dient als Kontrollfolie für die Sichtweise der Interpreten. Im Projekt wurden zusätzlich Produktinterpretationen von externen Experten (Medienwissenschaftler und —pädagogen, Psychologen, Jugendforscher und Sozialpädagogen) eingeholt, um herauszufinden, inwieweit die Interpretation durch uns verzerrt wurden, was ja durchaus möglich war, da wir das Verfahren entwickelt und möglicherweise zwar für uns, aber nicht intersubjektiv zugänglich gemacht hatten. Die externe Überprüfung sollte ein möglichst breites Spektrum von Gesamt— und Detailinterpretationen zu den Videofilmen erbringen. Im Ergebnis waren zwischen der internen Interpretation und der externen Überprüfung so große Übereinstimmungen festzustellen, daß wir davon ausgehen können, daß sich das Verfahren in diesem Punkte als praktikabel erwiesen hat. Der zweite Schritt des Interpretationsverfahrens ist die Produkt — Kontext — Interpretation: Die verschiedenen am Produkt gewonnenen Aussagen werden systematisch in Beziehung gesetzt zum Entstehungs— und Verstehenskontext des Filmes, zu den protokollierten verbalen Äußerungen der Jugendlichen und den situativen Bedingungen in der Gruppe. Die umfangreichen Protokolle der teil-

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nehmenden Beobachtung wurden im Projekt in einem vorgelagerten Schritt — der Materialordnung — unter inhaltlichen Aspekten zusammengefaßt. Durch diese systematische Verdichtung der Materialfülle wurde der Zugriff auf die Kontextinformation für die Interpretation erleichtert. Auch die ProduktKontext — Interpretation geschieht durch zwei Interpreten. Sie gehen den verschiedenen aus der Produktinterpretation gewonnenen Bedeutungsgehalten am Kontext systematisch nach und prüfen sie auf ihre Belegbarkeit. Dabei werden: — übereinstimmend vorgenommene Interpretationen bestärkt, ergänzt, relativiert oder auch verworfen, — differierende Interpretationen geklärt und die nicht haltbaren verworfen, — neue Interpretationsaspekte, die sich aus den Kontexten ergeben, gesammelt und nochmals am Produkt selbst geklärt. Als gültig werden solche am Produkt vorgenommenen Interpretationen betrachtet, für die sich im Kontext eindeutige Belege finden. Diese Interpretationen können nach unserem Ansatz vor allem beanspruchen, die Sichtweisen und Einschätzungen der Jugendlichen zu dokumentieren. In die Ergebnisse aufgenommen werden zusätzlich solche Interpretationen, bei denen sich Plausibilität aus dem Produkt selbst begründen läßt, auch wenn sich im Kontext keine eindeutigen Belege für sie finden lassen. In solchen Fällen ist zu klären, ob in dieser Differenz zwischen verbaler und medialer Explikation nicht gerade die Qualität der medialen Darstellungsform zum Ausdruck kommt: Dimensionen von Selbstbildern, die sich nicht verbalisieren lassen, im Wortsinn versinnbildlicht zu äußern. Läßt sich dies begründen, werden solche Interpretationen in die Ergebnisse einbezogen, allerdings eigens ausgewiesen. Die Produkt—Kontext —Interpretation, die Abklärung der am Videofilm vorgenommenen Interpretationen am Kontext seiner Entstehung ist u. E. der entscheidende Schritt, in einem Prozeß kontrollierten Fremdverstehens zu 'gültigen', den subjektiv gemeinten Sinn der Jugendlichen angemessen dokumentierenden Interpretationen zu gelangen. Beiden Schritten des Interpretationsverfahrens liegen leitende Fragestellungen zugrunde. Sie beziehen sich zum einen auf das Produkt, auf die Bedeutungsgehalte, die in Wort, Bild und Ton expliziert sind und die über Dramaturgie und verwendete Symbole erschlossen werden können. Zum anderen beziehen sie sich auf den dokumentierten Kontext, auf die während des Gruppenprozesses von den Jugendlichen verbal geäußerten oder aus Beobachtungen erschließbaren Bedeutungsgehalte. Sie setzen schließlich beide Materialien, Produkt und Kontext, miteinander in Beziehung. Die interpretationsleitenden Fragestellungen sind in einem Indikatorensystem aufgeschlüsselt, das drei Ebenen umfaßt:

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1. Die Inhaltsebene bezieht sich auf die thematischen Bereiche und Aspekte, die im Film und seinem Kontext angesprochen sind. Hier sind sowohl die 'Story' des Filmes als auch bei der Drehbucherstellung diskutierte, aber nicht realisierte Inhaltsaspekte gemeint. 2. Die Dramaturgieebene bezieht sich auf die filmspezifischen Mittel der Inszenierung und Gestaltung sowie auf die Verwendung von Symbolen, die den filmischen Aussagen zugeordnet sind. Hierunter fallen Kameraperspektiven ebenso wie Schnittechniken, die ausgewählte Filmmusik gleich wie die verwendeten Requisiten und Kostüme. 3. Die Kontextebene bezieht sich auf die Auswahl— und Entscheidungsprozesse, auf Begründungen und Intentionen, die die Jugendlichen im Verlauf des Gruppenprozesses zu inhaltlichen, dramaturgischen und symbolischen Aspekten geäußert haben bzw. die aus dem Gruppenprozeß zu erschließen sind; sie berücksichtigt auch pragmatische und situationsspezifische Faktoren des Gruppenprozesses (ζ. B. Fluktuation der Teilnehmer, Raumsituation oder Wetter); und sie erfaßt all das, was die Jugendlichen bereits 'mitgebracht' haben, explizit geäußerte und erschließbare Erfahrungsbezüge, Relevanzzuschreibungen, Bewertungen usw. Mit diesen drei Ebenen von Indikatoren wird die systematische — und für alle Interpretengruppen einheitliche — Verfolgung und Beantwortung der interpretationsleitenden Fragestellungen gewährleistet. Mit der zusammenfassenden Beantwortung der interpretationsleitenden Fragen wird der dritte Schritt des Interpretationsverfahrens, die Einschätzung der Selbstbildbestandteile einer Gruppe möglich. In diesem Schritt werden die Deutungen zu einem Themenbereich so rekonstruiert, wie die Jugendlichen ihn wahrnehmen und einschätzen. Solche Deutungen sind nach unserer Definition Bestandteile eines Selbstbildes. Erst das Gefüge von Deutungen zu verschiedenen Themenbereichen ergibt das Selbstbild einer Gruppe von Jugendlichen. Diese Selbstbildbestandteile werden im letzten Interpretationsschritt in bezug auf zwei Ebenen eingeschätzt: 1. Die Reflexionsebene bezieht sich auf die Komplexität, die Konkretheit oder Abstraktheit von Gegenstandsbezügen, die individuellen oder kollektiven Orientierungen, die Rückführung von Problembereichen und Ursachen, die Verknüpfung mit anderen Gegenstandsbezügen usw. 2. Die Handlungsebene bezieht sich auf Strategien und Perspektiven der Bewältigung bzw. des Umgangs mit Gegenstandsbereichen, auf deren realistischen

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oder utopischen Gehalt, auf individualistische oder kollektive Lösungsorientierungen, auf praktizierte oder vorgestellte Handlungen, auf lang— oder kurzfristige Handlungsentwürfe usw. Um aus diesen Einschätzungen der Selbstbilder Kriterien für den Vergleich von Gruppen Jugendlicher aus unterschiedlichen sozio—kulturellen Milieus zu entwickeln, ist der Zusammenhang von sozio—kulturellen Erfahrungshintergründen (die in den Gruppenprozessen ebenfalls erhoben wurden) und spezifischen Themenzentrierungen und Explikationsformen von Selbstbildern, wie sie in den Videofilmen zum Ausdruck kommen, zu analysieren. Ein Schritt, der in dem nur als einjährige Pilotstudie finanzierten Projekt nicht zu leisten war, da er die Durchführung einer größeren Zahl von Gruppenprozessen mit unterschiedlichen Gruppen Jugendlicher erfordert. In dem geschilderten Interpretationsverfahren ist die Herstellung der Gültigkeit von Ergebnissen als Prozeß konstruiert: Das Aushandeln von Gültigkeit findet in jedem einzelnen Interpretationsschritt statt und führt, jeweils aufeinander aufbauend, zu einer Verdichtung, Präzisierung bzw. Differenzierung der Interpretation. Für dieses Vorgehen ist die 'interne Gültigkeit' des zu interpretierenden Materials, d. h. die Art und Weise der Erhebung der Selbstbilder von entscheidender Bedeutung, da der Kontext den Maßstab für die Gültigkeit der Interpretationen am Produkt abgibt. Die argumentative Geltungsbegründung der an der Produktinterpretation und an der Produkt—Kontext —Interpretation beteiligten Wissenschaftler geschieht in bezug auf die im Gruppenprozeß explizierten oder daraus zu erschließenden Deutungen und Sichtweisen der Jugendlichen. Die Erhebungsphase und die dort stattfindenden Interaktionsprozesse sind also für diesen Forschungsprozeß von ausschlaggebender Bedeutung; mit ihrer Qualität steht und fallt das vorgeschlagene Interpretationsverfahren. Wenn eine entsprechende Anzahl von Videoproduktionen Jugendlicher im Entstehungs— und Verstehenskontext vorliegen, ermöglicht es der beschriebene Ansatz, Aussagen über die Selbstbilder Jugendlicher zu machen. Im Vergleich der Selbstbilder unterscheidbarer Gruppen Jugendlicher lassen sich Erkenntnisse zur Frage gewinnen, wie Jugendliche Themen und Problemfelder gesellschaftlicher Realität interpretieren. Darüber hinaus läßt sich der Zusammenhang von Lebenswelt und Selbstbildthematisierung auf der Folie der unterschiedlichen Realitätsdeutungen präzisieren und modifizieren.

Empirische Erfahrungen In den Forschungsprozessen, die wir bisher in der geschilderten Art durchgeführt haben, hat das methodische Instrumentarium seine Brauchbarkeit und

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Relevanz erwiesen, sowohl bezogen auf die Produktion von Videofilmen, einschließlich der Erfassung des Entstehungskontextes auf der Erhebungsebene, als auch bezogen auf das vorgeschlagene Interpretationsverfahren zur Extraktion der Realitätsdeutungen als Selbstbildbestandteile unterschiedlicher Gruppen Jugendlicher, die sich in ihren Videofilmen dokumentieren. Die Bereitschaft, mit der Jugendliche aus ganz unterschiedlichen sozialen Milieus das Angebot aufnahmen, sich mit Hilfe des Mediums Video über Themen, die sie betreffen, auseinanderzusetzen und ihre Sichtweisen dazu in den vielfaltigen medialen Ausdrucksformen zu vermitteln, hat sicher einen Grund auch darin, daß sie jenseits unseres wissenschaftlichen Interesses — das ihnen zwar größtenteils verständlich, aber doch fremd war — etwas für sich selbst herstellen konnten: 'ihren Film'. Eine ganze Reihe der Gruppen wurde im Anschluß an den Gruppenprozeß von sich aus initiativ und führte ihren Film anderen Jugendlichen vor, um mit ihnen über die dargestellten Themen und Probleme zu diskutieren. Ein häufiger Einwand gegen aktive Videoarbeit lautet, daß das Medium von den Jugendlichen als technisches Spielzeug genutzt werde, bestenfalls um den miserablen Abklatsch eines miserablen Kinofilms herzustellen. Daß dieser Einwand eher ein Vorurteil ist, machen die Filme (nicht nur dieses) Projektes und ihre Inhalte deuüich: Es handelt sich durchweg um reflektierte, durchdachte Auseinandersetzungen der Jugendlichen mit ihrer unmittelbaren Lebenswelt (z.B. Freizeit— oder Beziehungsprobleme) oder mit gesellschaftlichen Problemen (z.B. Umweltschutz oder atomare Rüstung). Auch das Engagement der Gruppen während des Produktionsprozesses mag als Indiz dafür gelten, daß sie selbst die Herstellung des Filmes als eine ernsthafte und intensive Auseinandersetzung mit Inhalten verstanden. Oft hatten wir Mühe, die Gruppe zur Unterbrechung ihrer Diskussion und einer Pause zu bewegen. Die technische Faszination des Jugendlichen inzwischen vertrauten Mediums Video allein kann dieses Engagement nicht erlären. Die Erfahrungen aus den Gruppenprozessen zeigen auch, daß die Methode der Produktion von Videofilmen mit ihren vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten Jugendlichen unter ganz unterschiedlichen Aspekten entgegenkommt: Der Auseinandersetzungsprozeß ist kein rein 'verkopfter', sondern bietet Raum für Kreativität, Phantasie und spielerische Phasen. Es muß nicht alles 'zerredet' werden; vieles kann durch direktes Handeln vermittelt werden: Kann man ζ. B. das, was man mit einer Szene ausdrücken will, den anderen nicht so recht erklären, kann man sie kurz vorspielen, an der Kamera 'trocken' üben, wie man sie aufnehmen will, die entsprechenden Requisiten zeigen usw. Man braucht nicht viele Worte, damit klar wird, was man sich vorstellt. Gerade Jugendliche

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mit verbalen Ausdrucks — und Vermittlungsschwierigkeiten hatten hier ihre Chancen, und oft konnten wir beobachten, daß 'Außenseiter* im Produktionsprozeß plötzlich 'zu Hochform aufliefen', während die 'Wortführer' weniger im Mittelpunkt standen. Die Möglichkeit, sich nicht nur im Reden, sondern auch im Handeln mit Inhaltsbereichen auseinanderzusetzen, nutzten alle Gruppen Jugendlicher nicht nur ausgiebig, sondern auch mit Spaß — völlig unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund. Die Ergebnisse der Gruppenprozesse, die Videofilme, machen deutlich, daß die Vielfalt der Audrucksmöglichkeiten, die das Medium Video bietet, auch dazu führt, daß in den Filmen mehr als das im Gruppenprozeß ohnehin verbalisierte zum Ausdruck kommt. Die in den Filmen enthaltenen Bedeutungsgehalte zu Themen und Problembereichen gehen in aller Regel über die in der Gruppendiskussion geäußerten hinaus, sind z.T. bedeutend tiefergehend und geben so auch umfassende Aufschlüsse über das Denken und vor allem die Wünsche Jugendlicher. Unsere Erfahrungen in der Anwendung dieser Methode — auch in anderen Forschungszusammenhängen — verweisen insgesamt darauf, daß die Produktion von Videofilmen eine für Jugendliche unterschiedlicher sozialer Herkunft angemessene qualitative Methode ist, um Sichtweisen und Deutungen zu Inhalts — und Problembereichen der Realität zu äußern. Daß das vorgeschlagene Interpretationsverfahren für die Videofilme und ihren Produktionskontext zu Ergebnissen führt, die u. E. mit den rein an 'Texten' und 'Vertextung' ausgerichteten Interpretationsverfahren nicht zu erhalten sind, mag das folgende Beispiel verdeutlichen: Eine Gruppe Jugendlicher aus einem ländlichen Gebiet Bayerns (Mitglieder der katholischen Landjugend, Realschüler/innen und Gymnasten/innen im Alter von 15— bis 19 Jahren) produzierte den Film "Freizeit — tote Zeit?". Wie der Titel bereits ausdrückt, thematisiert der Film Freizeitprobleme Jugendlicher auf dem Land. Die Jugendlichen setzen sich kritisch mit ihrem alltäglichen Freizeitverhalten und den Freizeitmöglichkeiten ihrer Umgebung auseinander und kontrastieren diese Wirklichkeit mit ihren Träumen von einer anderen, erfüllten Freizeit. Während die Freizeitrealität im Film sachlich und geradezu distanziert dargestellt ist, wird in den Wunschträumen von einer anderen Freizeit im wahresten Sinn des Wortes ein Bild (denn Worte spielen kaum eine Rolle) entworfen, in dem emotional — kommunikative Beziehungen im Vordergrund stehen. Der Wunsch nach solchen Beziehungen durchzieht — mit einer Ausnahme — alle Traum-

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szenen und richtet sich auf Eltern, Freunde und andergeschlechtliche Partner. In diese emotional — kommunikativen Beziehungen sind Freizeitaktivitäten, die die Jugendlichen sich wünschen (ζ. B. verreisen, gemeinsam Natur erleben), eingebettet. Zum Ausdruck kommt dieser Wunsch nach emotionalen Beziehungen, nach Zuwendung und Kommunikation nahezu ausschließlich in nonverbalen Formen, durch Mimik, Gestik, Haptik, durch die unterlegte Musik und durch Gegenstands— und Handlungssymbolik. Sprache als Kommunikationsmittel spielt eine völlig untergeordnete Rolle, dient allenfalls der Verstärkung der nonverbal vermittelten Inhalte. Die Darstellung der Wunschebene steht damit in scharfem Kontrast zu dem Bild von Beziehungen, das in der Darstellung der Freizeitrealität gezeigt wird. Hier sind die Beziehungen der Jugendlichen untereinander distanziert, vermitteln sich ausschließlich über Reden, oft über 'Aneinander —vorbei —reden', und lassen jeden emotionalen oder körperlichen Kontakt vermissen. Die Absicht, diesen Kontrast von Freizeitwirklichkeit und Freizeitwünschen in dieser Form zu vermitteln, wurde im Gruppenprozeß weder explizit noch implizit geäußert. Auch der Wunsch nach emotional — kommunikativen Beziehungen als Rahmen für eine andere Freizeitgestaltung war im Gruppenprozeß nur vage angedeutet. Er bezog sich eher auf die kommunikative Komponente solcher Beziehungen, und äußerte sich ζ. B. in Wünschen wie 'in Gesprächen aufeinander eingehen* oder 'sich gegenseitig ernst nehmen'. Auch in diesen Wünschen äußern sich emotionale Bedürfnisse: Verständnis, Vertrauen, Unterstützung. Sie beziehen sich jedoch auf sprachliches Miteinander —Kommunizieren. Auch äußerten die Jugendlichen in den Gruppendiskussionen, die der Produktion vorausgingen, eher rational orientierte Wünsche an Beziehungen, ζ. B. 'mit Freunden ernsthafte Gespräche führen', sich mit anderen Jugendlichen solidarisch für politische und soziale Belange engagieren'. Lediglich in bezug auf die Eltern wurde der Wunsch nach emotionaler Zuwendung, die auch Körperlichkeit einschließt, explizit geäußert. Eine Reihe von Hinweisen aus dem Gruppenprozeß zu den situativen und atmosphärischen Bedingungen lassen vermuten, daß das Thema -Beziehungen, insbesondere Beziehungen zum anderen Geschlecht, und die damit verbundenen Wünsche in der Gruppe, einen Tabubereich repräsentierten. Das Bedürfnis nach emotionaler, auch köperlich vermittelter Kommunikation, das — wie der Film belegt — stark ausgeprägt ist, wurde in der Gruppe wohl aus Angst, Scheu oder auch aus der Unfähigkeit, es in Worte zu fassen, nicht thematisiert. Diese Schranke ist offensichtlich zu durchbrechen, wenn man diese Bedürfnisse mit filmischen Mitteln darstellen kann, sie mittels Mimik, Gestik, Haptik und direktem Handeln vermitteln kann, und zwar ohne zwischengeschaltete Verbalisierungen. Daran, daß diese Bedürfnisse zum Aus-

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druck kamen, dürften die Mittel der filmischen Umsetzung einen wesentlichen Anteil gehabt haben, die Handlungen als Handlungen, Bilder als Bilder, darzustellen erlauben, ohne sie verbalisieren zu müssen. Um diesen Wunsch nach emotionaler Interaktion, der erst im Film selbst zum Ausdruck kam, in seinem Bedeutungsgehalt erfassen zu können, ist es unabdingbar, die Filmbilder als Bilder und die Filmmusik als bebilderte Musik wirken zu lassen und auch als solche zu interpretieren. Dieser Wunsch wird nämlich auch in den Bildern nicht spektakulär vermittelt. Er zeigt sich in kleinen Gesten und Handlungen, ζ. B. sich gegenseitig die Hände reiben, um sich aufzuwärmen. Er ist in Symbolen versteckt, ζ. B. Kieselsteine im Wasser über die Hand gleiten lassen und dabei wie zufallig eine andere Hand berühren. Und er offenbart sich in einer Stimmung, die aus solchen Bildern und einer ('vivace', lebendigen Barock — )Musik komponiert sind. Man mag eine Szene mit Worten beschreiben können, ζ. B. wie ein Mädchen und ein Junge, er mit großem Rucksack, sie mit Schlafsack, eine regennasse Straße heraufkommen, dabei hüpfen, sich an den Händen halten, die Hände schwenken, usw., man mag auch die unterlegte Musik — fröhlich, italienisch — charakterisieren können, der Bedeutungsgewalt dieser Szene, das, was die Jugendlichen darin ζ. T. bewußt, ζ. T. unbewußt zum Ausdruck bringen, ist mit der Beschreibung nicht zu fassen. Er erschließt sich nur aus der Lebendigkeit der filmischen Szene selbst.

Das Verfahren weiterentwickeln Im Bereich von Medienpädagogik, —psychologie und —Soziologie ist qualitative Forschung unumgänglich, denn "die Hinwendung auf die betroffenen Subjekte mit Hilfe qualitativer Methoden läßt mehr Aufschluß über Erlebnis— und Erfahrungsweisen medialer Inhalte erhoffen, als die bisher überwiegend experimentelle Forschung beibringen konnte" (Schiefele 1984, S. 342). Qualitative Verfahren müssen dabei in der Lage sein, Erhebungs— und Alltagssituation einander möglichst nahezubringen. Bedeutungszuschreibungen und Interpretationen der Forschungssubjekte sind in allen Explikationsformen, mündlich, schriftlich, bildlich, tönend gleichberechtigt in qualitative Interpretationsverfahren einzubeziehen. Schließlich sind nicht nur die Ergebnisse, sondern der gesamte Kontext und Verlauf des Forschungsprozesses in Erhebung und Interpretation zu berücksichtigen, da sich nur so die Prämissen qualitativer Forschung tatsächlich erfüllen lassen.

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Das vorliegende Verfahren, dessen Anwendung sich zumindest in ersten Versuchen bewährt hat, hat gezeigt, daß aktive Medienarbeit als Erhebungsmethode und Interpretationsgrundlage qualitativer Forschung geeignet ist. Mit Hilfe audiovisueller Medien können Gegenstände, Eigenschaften, Interaktionen usw. analog abgebildet werden, die Übersetzung in ein abstraktes Zeichensystem wie etwa in Schrift kann entfallen. Insbesondere für sinnliche und emotionale Erfahrungen eröffnen sich damit andere und erweiterte Vermittlungsmöglichkeiten: Die Großaufnahme der Auspuffgase eines Autos sind für den Betrachter wie für den Produzenten Signale für Umweltverschmutzung, die in ihrer Wirkung bis zur Auslösung körperlicher Übelkeit gehen können. Audiovisuelle Medien schließen jedoch Sprache und Schrift nicht aus. Gerade die Wort—BildKombination ermöglicht es, das gesamte Spektrum der dem Menschen zur Verfügung stehenden Ausdrucksmittel zu verwenden und auch je nach den damit verbundenen Absichten unterschiedlich zu gewichten. So eröffnen audiovisuelle Medien vieldimensionale und realitätsnahe Ausdrucksmöglichkeiten (vgl. auch Schell/Schorb, 1987). Wenn man von Menschen Aussagen darüber erwartet, wie sie sich sehen, dann evoziert man bei ihnen Bilder. Geben sie diese verbal wieder, so sind es keine Bilder mehr, sondern Abstraktionen, über die man erfahrt, was Menschen von sich denken, aber nur höchst unzureichend wie sie sich sehen. Wenn man von Menschen wissen will, wie sie Phänomene betrachten und einschätzen, dann muß man ihre Sichtweisen, ihre Bilder, ihre Imaginationen erfassen. Sonst erfahrt man zwar, was sie wissen und wie sie es benennen, aber alles Sinnliche bleibt verborgen. Die daraus folgenden Implikate für qualitative Sozialforschung lassen sich u. E. mit der vorgestellten Methode zumindest in Ansätzen realisieren: 1. Wenn Einsichten, Eindrücke, Weltsichten, Selbstbilder erfaßt werden sollen, muß den Subjekten auch die Möglichkeit gegeben werden, sich mit der Fülle ihrer Sinne und ihrer Sinnlichkeit auszudrücken. 2. Wenn das, was von Menschen reflektiert und abstrahiert, gedanklich vor — und bearbeitet wurde, erfaßt werden soll, dann kann man es von denen, denen Sprechen und Schreiben geläufig sind, in Wort und Schrift erfahren, von den anderen vielleicht im Wort, sicher aber im Bild, das vom Wort ergänzt wird bzw. umgekehrt. 3. Wenn Wissen kognitiv erfragt werden soll, wenn das erfaßt werden soll, was über Wort und Schrift aufgenommen worden ist, dann wird dies wohl auch eher in Wort und Schrift als in Bildern wiedergegeben.

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4. Dem Erfaßten muß die Interpretation entsprechen. Der Erfassung von Sprache/Schrift sind Methoden der Textinterpretation angemessen, der Erfassung von Tönen und Bildern Methoden der Interpretation audiovisuellen Materials; wobei in beiden Fällen erst die Einbeziehung des Kontextes, des gesamten Forschungsprozesses also, adäquate Interpretationen ermöglicht. In der Konsequenz heißen diese Forderungen, daß sich die Auswahl der Erhebungs— und Interpretationsmethoden richten muß nach der zu untersuchenden Thematik, den Forschungssubjekten, ihren Artikulationsmöglichkeiten und —fähigkeiten und auch nach den Interessen und Fähigkeiten der Forscher selbst. Es ist dafür jedoch unerläßlich, das Methodenrepertoire zur Erfassung und Interpretation sinnlicher Expressionen weiterzuentwickeln.

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Thomas

Voß—Fertmann

"Wechselspiel" und "Synthesisfunktion" medialer Erfahrungen Jugendlicher Ein Fallbeispiel

Qualitative medienpädagogische Forschung, wie sie in diesem Beitrag exemplarisch dargestellt werden soll, muß nicht bei Null anfangen, worauf das folgende Zitat hinweist: "Die jungen Zuschauer sind in vieler Hinsicht dem Film gegenüber keineswegs so passiv, wie es oft behauptet wird. Ihr Filmerlebnis entsteht aus einem lebhaften Wechselspiel zwischen dem vom Film dargebotenen Geschehen und den eigenen Erfahrungen und Interessen, die sie selbst besteuern".1 Diese Behauptung von Margarete und Martin Keilhacker aus dem Jahr 1953 bezog sich hauptsächlich auf 10— bis 14jährige. Darauf heute zurückzugreifen erscheint mir riskant, weil Keilhacker und Mitarbeiter in der zitierten, wie in zahlreichen anderen Studien bewahrpädagogische und jugendschützerische Ziele und Maßnahmen angestrebt haben.2 Ihr "jugendschützerischer Blick"3 schränkte das unvoreingenommene Kennenlernen des behaupteten Wechselspiels zwischen Medien— und Alltagserfahrungen ein. Ihre Untersuchungen beschränkten sich außerdem überwiegend auf unmittelbare Erlebnisse bzw. Wirkungsprozesse. Sie wurden simultan, also während der Filmvorführung unternommen, wozu ein beträchtlicher gerätetechnischer Aufwand notwendig war.4 Insofern widerspricht die von Keilhacker geprägte Phase der Filmerlebnisanalyse einer zentralen Prämisse qualitativer medienpädagigscher Forschung. Diese verlangt vom Forschenden Offenheit, "eine Verstehensbereitschaft und — fahigkeit, die nicht durch bestimmte Vorannahmen und methodische Restriktionen blockiert oder gar eliminiert werden".5 Trotzdem halte ich die These des "Wechselspiels" für aufschlußreich. Hier wird Filmrezeption eben nicht als Reiz—Reaktionsprozeß verstanden, jugendliche Medienrezipienten werden auch nicht als "Wahrnehmungsbehälter" verurteilt.6 Das Filmerlebnis entsteht vielmehr erst aus der aktiven Beteiligung des Betrachters: "Die Kinder erleben (...) gar nicht den 'objektiven* Film im Sinne der Erwachsenen, sondern ihre eigene Geschichte. (...) Für die bevorzugte Auswahl und Einordnung in die "eigene Geschichte" sind folgende zwei Gesichtspunkte

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bestimmend: Entweder sind die dargestellten Ereignisse dem jungen Zuschauer aus seinem Alltagsleben bekannt (...) oder sie schildern die Welt so, wie sie in seinen Wünschen aussieht." (Herv. i.O.)(...) "Wo der Filmstoff nicht mehr genügend Ansatzpunkte zur 'eigenen Geschichte' bietet, fangt die Langeweile an". Denken wir Keilhackers These weiter, so hat ein solches Interesse am medialen Rezeptionsvorgang seinen Bezugspunkt im konkreten, alltäglichen Lebenszusammenhang und in der Lebensgeschichte des Rezipienten. Mediennutzung wird nicht vom Medienprodukt aus betrachtet, sondern wird aus der Perspektive des Rezipienten untersucht. Der Ausgang eines solchen Ansatzes ist die Frage nach Motiven und Funktionen der Mediennutzung Jugendlicher, der jeweils bestimmte, auch gesellschaftlich — historisch geprägte Erfahrungen, Interessen, Bedürfnisse und Stimmungen zugrundelie^en Dies gilt übrigens, entgegen Keilhackers These, nicht nur für Jugendliche.

Die "Syntbetisierungsthese" Eingehender und theoretisch reflektierter haben über das Verhältnis von Medienerfahrungen und Alltagserfahrungen Franz Dröge und seine Mitarbeiter nachgedacht. Ihr Ansatz ist, Medienkonsum in der kapitalistischen Gesellschaft unter der Fragestellung zu analysieren, welche Funktion der Konsum hinsichtlich entfremdeter Arbeits— und Freizeiterfahrungen hat. Demzufolge liegt die Funktion der Medien "in ihrer Fähigkeit, als geistige Verkehrsform individuelle und soziale Synthesis zu vermitteln, indem sie partikulare Erfahrungen der Menschen aufnehmen, in typischer Weise narrativ interpretieren und sie verallgemeinern. Nicht Information oder Unterhaltung (...) sind mithin wirkliche Medienfunktionen, sondern die Vermittlung vorstellungsmäßiger Synthesis. (...) Indem sie diese Funktion erfüllen, erbringen sie aber auch unbestreitbar eine grundlegende Erkenntnisleistung für alle Gesellschaftsmitglieder: sie überbrücken die wachsende Kluft zwischen objektiven Verhältnissen, auch des eigenen Lebens, und deren subjektiver Interpretation; sie bringen beides zusammen und machen damit Sinn".10 · Diese These wird im Rahmen marxistischer Gesellschafts— und Medienkritik diskutiert. Sie erhält auch Relevanz hinsichtlich der Medienfunktion für Jugendliche: "Angesichts der Segmentierung der getrennten Bereiche, in denen sie gesellschaftliche Erfahrungen machen, und angesichts der Partikularität ihrer Erfahrungen im Schul— und Freizeitbereich verlangen die Jugendlichen nach gesamtgesellschaftlicher Sinninterpretation, um so etwas wie soziopsychische Identität aufzubauen".11 Demnach sind die Medien nicht nur Mittel zur Regene-

"Wechselspiel" und "Syathesisfunktioa" medialer Erfahrungen Jugendlicher

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ration, sondern sie dienen auch der Kompensation für schulische Anpassungszwänge. Sie 'beleben* den grauen Alltag und strukturieren ihn zugleich zeitlich. Kurz: "Die disparaten und widersprüchlichen, aber eben deshalb authentischen Erfahrungen im Lebensprozeß werden eingetauscht gegen die vor strukturierten, geordneten Erfahrungsmuster der Medienprodukte ". 12 Ohne auf die (medien— und gesellschaftstheoretischen) Begründungen dieser Thesen hier weiter einzugehen, ist an diesem Ansatz die fehlende Überprüfung an der konkreten Alltagswirklichkeit einzelner Jugendlicher zu kritisieren. Die Fragen nach der synthesis— bzw. vordergründig sinnstiftenden Funktion der Medien wird von 'oben' aus angegangen, Jugendliche selbst werden dazu nicht befragt. Über die "Filmerlebnisdokumentation" Keilhackers und die theoretischen Entwürfe Dröges hinaus soll im folgenden ein erzählender Interviewtext helfen, Medien als Elemente des Alltags zu entdecken, die den Alltag mit konstituieren, oft ohne auffällig in Erscheinung zu treten.13

Alltagserfahrungen — Videoerfahrungen: Ein Interviewausschnitt Mit einer Passage aus einem offenen, biographisch orientierten Interview mit einer 16jährigen Gesamtschülerin (Klasse 10) möchte ich erste Hinweise für die Binnenperspektive einer Jugendlichen zum Verhältnis Alltags— und Medienerfahrungen geben. In diesem Abschnitt erzählt die Gesamtschülerin Susie ihre Erfahrungen und Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Medium Video.14

493 IP:(6 Sek) ja ne, aber wenn meine Mutter nicht einschlafen konnte 494 damals (2 Sek) und da war mein Vater noch Fernfahrer (3 Sek) und 495 hatte dann immer die Touren gehabt so nach Schweden, Kopen, eh Däne496 mark und so. 497 I:mhm 498 IP:und (2 Sek) wir, da meine Mutter genau weiß daß ich gern Video ge499 guckt hab, kam meine Mutter zu mir rüber geschlichen,Susie schläfst 500 du schon? eh, ne na dann komm mit rüber (lacht) das hat sie auch nachts 501 um zwei mit mir gemacht, (lacht) 502 I: mhm 503 IP:ich fand das echt doli ne? dann hatten wir uns auch über alles unter— 504 halten, dabei Video geguckt das meiste waren Gruselfilme und so ne? 505 (lacht)

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I:mhm IP:meine Mutter und ich sind da ganz berühmte Fans von.(lacht) (3 Sek) aber ich weiß nicht so daß mit den Videofilmen, ich mein das gibt wirklich so sinnvolle Filme ne? aber so zum Beispiel wie die, wie der Film Tanz der Teufel, daß der angeblich der schlimmste Film sein soll

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Thomas Voß—Fertmann also ich hab gedacht ich guck nicht richtig ne? weil also da ist wirk— lieh nur Blödsinn drauf ne? ich mein es gibt auch Horrrofüme, da ist wirklich Sinn drinne, die auch Sinn zeigen (3 Sek) und, also das mit dem Tanz der Teufel daß der verboten wurde, ich mein, da sind die Dokumentarfilme so wie der Film Gesichter des Todes schlimmer als die normalen Horrrofilme.(3Sek)(hustet) ich hab einen Dokumentarfilm gesehen das hat mir gelangt (lacht) . ne (9 Sek) I:war der so ähnlich wie Gesichter des Todes der Dokumentarfilm oder was war das für einer? IP:ne ne das, war der Film I:das war der ah so. IP:ne also der hatte mir gelangt, du weißt doch auch wo wir hier Projekt — woche hatten ne? I:ne, nicht so genau, erzähl mal IP:in der Projektwoche da hatten wir als Thema, eh Bauernhof, wir sind auf einen Bauernhof gefahren und (2 Sek) also ich fand das auch echt toll ne? was ich auf dem Bauernhof erlebt hab ne? denn das Thema das hieß leben und selbständiges arbeiten auf dem Bauernhof, ich fand das so toll, morgens um fünf melken, also ich mein ich bin erst um sieben aufgestanden ne? (lacht) I:mhm IP:und ich war eben auch nicht allein sondern die hatten auch einen Lehrling und (3 Sek)(räuspert sich)also ich muß sagen mir hat das sehr viel Spaß gemacht, und eben weil das Spaß gemacht hat und ich ein oder zwei Wochen später den Film Gesichter des Todes gesehen hab, also ich mußte immer an die Kühe da denken ne? und auch an die Kälber, also was, was da mit denen passiert ist ne? kennst du den Film? I:ne IP:sei froh (lacht) I:der hat dich sehr berührt der Film ne? IP:ja ja, ich mein man kann ein Tier auch töten, daß es nicht, so stirbt so richtig langsam ne, entweder verbluten lassen oder meinet— wegen jetzt so Augen ausstechen oder sonst was ne? (2 Sek), aber so ne. ich mein Elektroschock das reicht doch (2 Sek) dann kurz und, bündig, und das geht doch so schnell, das haben die ja damals auch mit den Schafen gemacht, aber nein Schafe erst aufhängen und totschlagen. (2 Sek) so, also für mich ist das, also hab ich das Gefühl daß die Leute (2 Sek) das richtig, daß die das so richtig toll finden und aufbauend finden wenn sie da so jemand rumzappeln sehen ne? (2 Sek) oder so, so mit Gaskammer, wenn ein Mensch jetzt in in eine Gaskammer kommt oder auf den Stuhl, Elektroschocks (3 Sek), ich mein die haben ihnen extra Binden vor die Augen gemacht ne? (3 Sek) also ne ich weiß nicht, ich könnte da nicht zu gucken, ich würde ausflippen, ich hab da noch Mittag bei gegessen. (1 Sek)(lacht)

Zunächst beschreibt Susie die Videorezeptionssituation mit der Mutter, während der Vater als Fernfahrer unterwegs war. Sie erwähnt, daß sie meist Gruselfilme angeschaut haben und sich "dabei über alles unterhalten" haben.

"Wechselspiel" und "Syathesisfunktion" medialer Erfahrungen Jugendlicher

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Susie beendet die Beschreibung der Rezeptionssituation, indem sie Stellungnahmen abgibt zu einem verbotenen Film ("Tanz der Teufel"), der nach ihrer Meinung aber nur "Blödsinn" beinhaltet. Sie betont, daß es dagegen Videos gibt, die schlimmer sind als "normale Horrorfilme". Einen solchen, mit dem Titel "Gesichter des Todes", hat sie gesehen. Sie erzählt zunächst nicht von diesem Film selbst, sondern von ihrer aktiven Teilnahme an einer schulischen Projektwoche mit dem Thema "Leben und selbständig Arbeiten auf dem Bauernhof". Sie bewertet diese Erfahrungen, als "so toll" und betont, daß ihr das Projekt "sehr viel Spaß gemacht hat". Den Film "Gesichter des Todes" hat sie ein oder zwei Wochen später gesehen. Bei der Rezeption bzw. danach mußte sie "immer an die Kühe da denken ne? und auch an die Kälber". Die im Film dargestellten Tier— und Menschentötungen bewertet sie dann als negativ, und sie hat das Gefühl, "daß die Leute das so richtig toll finden und aufbauend". An Hand dieser Interviewpassage möchte ich nun verdeutlichen, was "Wechselspiel" und "Synthetisierungsfunktion" im Verhältnis von realen und medialen Erfahrungen konkret bedeuten können. In einem zweiten Schritt werde ich diese Passage in den Gesamtzusammenhang des Interviews stellen.

"Wechselspiele" Keilhacker verstand unter "Wechselspiel" die Integration der Filmerlebnisse in die "eigene Geschichte". Sie erfolgt unter zwei Gesichtspunkten: Die Filmerlebnisse können die Alltagserfahrungen bestätigen und erweitern, oder aber die filmischen Ereignisse stellen die Wünsche, das Nicht — Alltägliche des Rezipienten, dar. Zu Filminhalten äußert sich Susie erst im Zusammenhang mit dem Film "Gesichter des Todes". Vorher verwendet sie ("schlimm" steigernd) nur die Genrebezeichungen Gruselfilm (Z.504), Horrorfilm (Z.516) und Dokumentarfilm (Z.516). Zusammenhänge zwischen der Abwesenheit des Vaters, der aus Susies Sicht kameradschaftlichen Nähe zur Mutter (Z.498,503) und der Tatsache des nächtlichen Horrorvideoschauens deutet Susie nur an. Der ausgewählte Interviewausschnitt gibt auch keine festen Anhaltspunkte dafür, daß in den Gruselfilmen Ereignisse dargestellt werden, die Susie aus ihrem Alltag kennt oder die in enger Beziehung zu ihren Wünschen stehen. Welche Bedürfnisse Videofilme bei Susie ansprechen und ob bzw. wie sie diese Filme in ihre "eigene Geschichte"

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einordnet, wird im Zusammenhang weiterer Stellen des Interviews zu fragen sein. Einen Bezug zu ihren eigenen 'realen' Bauernhoferfahrungen, ihrer Arbeit mit Tieren und dem Film "Gesichter des Todes" stellt sie dagegen her. Ihre lange Pause (Z.517) sowie der 'Sprung' in der Erzählfolge vom Inhalt des Films zu ihrer Bauernhoferfahrung könnte zunächst als Hinweis für eine Themenmeidung verstanden werden (Z.517,522). Im weiteren Verlauf ihrer Erzählung erweist sich dies aber als Verfahren ihre Erlebnisse, chronologisch zu erinnern und zu vermitteln. Die in diesem Videofilm dargestellten Tiere (Kühe, Kälber, Schafe) hatte sie als Großstadtbewohnerin ein oder zwei Wochen vorher in einer Projektwoche hautnah erlebt. In diesem Sinne knüpft der Film an ihre (schulischen Ausnahme — ) Erfahrungen an. Gibt es in diesem Interviewausschnitt Hinweise darauf, daß dieser Film "die Welt" so schildert, wie sie in Susies Wünschen aussieht? Im Gegenteil: Susie formuliert eher Schrecken und Angst ("ich könnte da nicht zugucken, ich würde ausflippen"). An dieser Stelle ist eine Erweiterung der Keilhackerschen Kriterien für ein "Wechselspiel" notwendig: Wünsche und Sehnsüchte Jugendlicher, die aufgrund von Defiziterfahrungen entstehen, sind im Lebensalltag oft verbunden mit Ängsten und Befürchtungen. Insofern können mediale Erfahrungen an Alltagserfahrungen und damit verbundenen Wünschen und Ängsten anknüpfen. Susies Ängste werden durch diesen Videofilm angesprochen (Z.553), obwohl sie dies unmittelbar darauf einschränkt:"ich hab da noch Mittag bei gegessen". Relativiert sie damit ihre bisherige Bewertung des "schlimmen" Films? In diesem Kontext stellt sich die Frage, was Grusel —, Horror— und Dokumentarfilme für Susie bedeuten, was sie mit ihrem Alltag und ihren Erfahrungen zu tun haben, erneut. Einerseits fühlt sich Susie von diesem Film bedroht, auf der anderen Seite behauptet sie, daß sie ihn eher beiläufig, nämlich beim Mittagessen, gesehen habe. Im Kontext des Gesamtinterviews werde ich diese Fragen wieder aufgreifen. Keilhackers "Wechselspiel —These" kann als Rahmen für Fragen nach der Intensität eines Medienerlebnisses und der inidividuellen Beteiligung daran, auch im Kontext eines medienbiographischen Interview verwendet werden. Die These sagt aber nichts über das Ergebnis bzw. die Folgen der Einordnung der Filmerfahrung in die eigene Geschichte.

"Horrorfilme, da ist wirklich Sinn drinne" F. Dröge und seinen Mitarbeitern geht es zwar auch um den Prozeß des Aufeinandertreffens bzw. Ineinandergreifens medialer und realer Erfahrungen. Ihre These zielt aber mehr auf das dabei entstehende vermeintliche Ganze, die Syn-

"Wechselspiel" und "Synthesisfunktion" medialer Erfahrungen Jugendlicher

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thesis. Dies bedeutet ja keine bloße Konfrontation widersprüchlicher Erfahrungen, sondern meint das Zusammenfügen beider Erfahrungsmodi zu etwas Neuem, das 'mehr' enthält als die Summe der einzelnen Erfahrungen (15). Die "vorstellungsmäßige" Synthetisierungsleistung der Medien im Lebenszusammenhang und in der Lebensgeschichte Jugendlicher ist nicht ohne weiteres aus der zitierten Interviewpassage herauszulesen. Fraglich ist, ob Orientierungs — und Sinnhilfen, die Jugendliche möglicherweise aus ihren Medienerfahrungen gewinnen, ihnen selbst überhaupt bewußt sind (16). Im vorliegenden Interview spricht Susie "Sinn" dagegen explizit an. Dabei verwendet sie den Begriff unterschiedlich: Z.508: Z.512: Z.512: Z.S12:

"das gibt wirklich so sinnvolle Filme" auf Filmen wie "Tanz der Teufel" "ist wirklich nur Blödsinn drauf" "es gibt auch Horrorfilme, da ist wirklich Sinn drinne" "... die auch Sinn zeigen".

Verwoben mit dieser Äußerung sind Stellungnahmen: — daß der Film "Tanz der Teufel" zwar verboten ist, Susie ihn aber nicht für schlimm hält und — daß Dokumentarfilme schlimmer sind als Filme wie "Tanz der Teufel". Susie führt diese Gedanken hier nicht zu einem eindeutigen Ergebnis zu Ende. Es ergibt sich eine Ambivalenz: Auf der einen Seite gibt es nach ihrer Meinung bestimmte Videofilme, auch Horrorfilme, die sinnvoll sind, damit meint sie, daß diese Sinn beinhalten und zeigen. Auf der anderen Seite gibt es Filme, die Blödsinn beinhalten, die zwar verboten werden, aber nicht so schlimm sind wie Dokumentarfilme. Sie sagt weder, daß Dokumentarfilme wie "Gesichter des Todes" sinnvoll sind noch daß sie verboten werden sollten, obwohl es ihre Äußerungen nahelegen. Insofern können wir fragen, ob für Susie zwischen "sinnvoll" und "schlimm" Zusammenhänge bestehen. Damit die Kenntnis der beiden von ihr erwähnten Filme nicht nur auf ihre kurzen Hinweisen beschränkt bleiben muß, gebe ich im folgenden zu jedem Film eine kurze Zusammenfassung17: Der Videofilm "Tanz der Teufel" erzählt eine typische Zombiegeschichte. Fünf Studenten beiderlei Geschlechts wollen in einer Waldhütte ein gemeinsames Wochenende verbringen. Als sie ein Buch und ein Tonband eines vermißten Archäologen finden, werden "böse Kräfte des Waldes" geweckt. Eine Studentin wird von den plötzlich aggressiven Bäumen und Sträuchern getötet, verändert sich daraufhin in ein Zombie und gibt nun "das Böse" ihre Freunde mordend weiter. Im Detail werden Verstümmelungen, Verbrennungen, Zerstückelungen, Enthäutungen u.a. gezeigt, bis schließlich alle Menschen auf scheußlichste An und Weise gestorben sind. Der Film kann als 18 ein typischer "neuer Horrorfilm" bezeichnet werden. . Die dargestellte fiktio-

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nale Welt ist, wie das unversöhnliche Ende des Films belegt, ohne Hoffnung. Susies Erstaunen über das Verbot dieses Films bezieht sich vermutlich auf seine Indizierung durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften. Der ebenfalls indizierte Film "Gesichter des Todes"20 besteht aus einer Aneinanderreihung von ca. 30 verschiedenen Tötungshandlungen: Sich gegenseitig zerfleischenden Hunden folgen Schlachtungen von Hühnern, Kühen, Schafen und Robben. Menschen werden auf verschiedenste Art hingerichtet, Selbstmorde und Unfälle mit Todesfolge werden ausführlich gezeigt. Am Anfang und am Ende des Films spricht ein weiß bekittelter Mann, der sich selbst als Pathologe vorstellt, in die Kamera und versucht, den Film (pseudowissenschaftlich zu begründen. Er behauptet, daß die Tötungshandlungen nicht gestellt sind. Die filmische Darstellung dient demnach der "Erforschung von Situationen, deren Folge unweigerlich der Tod ist. (...) Mich haben sie eines gelehrt; das Leben bewußter und mit mehr Verständnis für seine Gesetzmäßigkeiten zu betrachten". Dieser 'wissenschaftliche' Kommentator begleitet den gesamten Film (im off) und enthält moralische Ermahnungen, suggestive Fragen und plumpe Anspielungen auf die Ängste der Zuschauer. Zu den Schlachtszenen lautet er beispielsweise: "Wissen die Tiere, daß sie sterben müssen" (...) auf diesem "Fließband des Todes?" Wie ist die ambivalente Beziehung Susies zu diesem Film zu verstehen? "Normale Horrorfilme" mit fiktionaler, von Blut und Gewalt strotzender Handlung bedeuten Susie 'weniger' als ein solcher "Dokumentarfilm". In Anlehnung an Dröges Synthetisierungsthese ist nun die Frage zu stellen, ob in diesem Film Erfahrungen Susies aufgenommen und interpretiert werden und ob dadurch dieser Film beteiligt ist an der Verarbeitung und Aneignung ihrer Realität. Um dies zu beantworten, müssen wir uns dem gesamten Interview zuwenden. Zunächst stelle ich einige Eckdaten von Susies Lebensgeschichte und ihrer momentanen Lebenssituation dar.

Biographie — Medienbiographie: Der Interviewzusammenhang Susie war zum Zeitpunkt des Interviews (Dez. 1986) 16 Jahre alt und besuchte die Klasse 9 einer Gesamtschule. Schule und Wohnort liegen in einer Trabantenstadt Hamburgs, die durch hohe Bevölkerungsdichte, hohe Arbeitslosenzahl und Randgruppenkonzentration bei gleichzeitigem Mangel an sozialen und kommunikativen Einrichtungen gekennzeichnet werden kann. Susie hat drei Geschwister, zwei Halbbrüder (12 und 14 Jahre) und eine Schwester (18 Jahre). Susie wohnt mit ihren Brüdern im gemeinsamen Haushalt der Eltern, während ihre Schwester im zweiten Lebensjahr "der Mutter weggenommen" wurde (Z.251) und heute auch räumlich getrennt von der Familie wohnt.

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Susie Kindheit war geprägt durch Konflikte und Trennungen ihrer Eltern: Die Rolle des Vaters übernahmen nach ihrem eigentlichen Vater und Phasen ohne Vater zwei Stiefväter. Seit sieben Jahren lebt der zweite Stiefvater mit Susies Familie zusammen. Seit diesem Zeitpunkt hat sich Susies familiäre Situation stabilisiert, auch wenn Susies dies nicht als problemlos erlebt. Als eine Folge der Konflikte ihrer Eltern hat Susie die Zeit zwischen der zweiten und vierten Klasse in einem Kinderheim verbracht. Susies "jetziger Vater" war Fernfahrer und ist jetzt Betonpumpenmaschinist, ihre Mutter arbeitet als Serviererin. Kennengelernt habe ich Susie im Informatikunterricht ihrer Schule, in dem ich (von November 1985 bis Juni 1986) hospitiert habe. Nachdem ich im Unterricht kurz mein Forschungsvorhaben erläutert hatte, war sie neben vier männlichen Jugendlichen dieser Klasse bereit, sich von mir zum Themenbereich individuelle 21

Bedeutung der Medienrezeption in Kindheit und heute befragen zu lassen. Susie besucht den Informatik — Wahlpflichtkurs seit zwei Jahren und erwirbt dort hauptsächlich Grundkenntnisse in der Programmiersprache Basic. Ihre Eltern besitzen ein Fernseh— und Videogerät, sie selbst verfügt über einen Kassettenrekorder, ein Radio und einen walkman. Das Interview22 fand in Anlehnung an die von F. Schütze konzipierte Technik des narrativen Interviews statt.23 Nach einer längeren Haupterzählungs|>hase (Z.5 —195), die von mir durch eine "Eröffnungsfrage" eingeleitet wurde2 und die bezüglich der Interviewerrolle durch weitestgehende Zurückhaltung bestimmt war, fand eine "Nachfragephase" (Z. 196—939) statt. Hier konnten unklar gebliebene Sachverhalte nachträglich geklärt und neue Fragen eingeführt werden, wobei ein von mir entwickelter Leitfaden flexibel angewendet wurde. Widersprüche sollten behutsam geklärt, mußten aber nicht in jedem Fall angesprochen werden, da "der Mensch eben oft auch einer anderen als der formalen Logik entsprechend handelt"25. Ziel des Interviews war, Erzählungen eigener medialer Erlebnisse aus Kindheit und Gegenwart sowie damit zusammenhängende reale Erfahrungen hervorzurufen.

Kindheitserinnerungen und erste Medienerfahrungen Welche Situationen oder Ereignisse aus ihrer Kindheit erinnert Susie in diesem Kontext und wie interpretiert sie diese? Sie erzählt zunächst Kindheitserlebnisse, in denen sie Fernseh— und Videogeräte ihrer Eltern kaputt gemacht hat bzw. ständig Angst hatte, die Geräte durch fehlerhafte Handhabung kaputt zu machen. Sie erzählt von einer "Implodierung" des Fernsehgeräts, das sie in dieser Si-

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tuation entgegen des ausdrücklichen Verbots der Mutter allein bedient hatte.26 In ihrer vorschulischen Kindertagesheimzeit und in den zwei Jahren im Vollheim spielten audiovisuelle Medien für sie eine untergeordnete, manchmal auch widersprüchliche Rolle. Susies Mutter begrenzte in ihrer frühen Kindheit den familiären Fernsehkonsum zumindest zeitlich und setzte Fernsehgucken als Belohnung, zur Erziehung der Kinder ein. Im Kindertagesheim war Fernsehen eine gruppeninterne Pflichtveranstaltung: "Also wir durften nicht gucken, wir mußten das dann sozusagen ne?" (Z.274). Während dieser Fernsehstunden hat sie "mehr geschlafen als geguckt" (Z.274). "Ich hab mich für diese Figuren gar nicht interessiert, weil ich eben halt auch zum größten Teil bei meiner Mutter zu Hause mithelfen mußte, da meine Mutter, mein Bruder und ich alleinstehend waren (4 Sek) und ich dann eben halt auch mehr an zu Hause gedacht anstatt Biene Maja zu gucken ne?"(Z.307—311). Ihre gesamte Heimerfahrung und besonders eine Erzieherin erinnert Susie an Hand eines "ganz tollen" Bildes (Z.744), das sie dort malen sollte zu der Frage, "wie uns unsere Erzieher behandeln "(Z. 743). "Da hatte ich dann drauf gemalt wie sie mir gerade an den Haaren zieht und mit der anderen Hand an den Ohren ne? also das sollte als Beispiel sein, entweder oder ne?" (Z.753 —755). "Also ich kam mir vor als wenn ich da überhaupt nicht hingehöre", faßt sie diese Zeit zusammen (Z.770). Im Heim und auch vorher und nachher zu Hause hatte sie das Gefühl, daß sowohl größere als auch kleinere Kinder ihr gegenüber ständig bevorzugt worden sind. Im Gegensatz zu ihren Brüdern mußte sie beispielsweise auch viel im Haushalt mithelfen. Susie nutzt seit fünf Jahren den familieneigenen Videorekorder. Sie schaut meistens zu Hause mit ihrer Mutter, manchmal aber auch bei Bekannten (Z.608). Im Zusammenhang mit der Videonutzung ihres "jetzigen Vaters", der eher "country Filme" oder "lustige Filme" sieht, äußert Susie den Verdacht, daß "Mädchen oder Frauen (...) schon so mißhandelt worden sind wie im Film nur eben halt dadurch weil die Leute es nicht nachlassen konnten und sich Horrorfilme reinziehen müssen"(Z.621 — 623). Sie erzählt dann von ihrem ersten Stiefvater ("mein Bruders Vater"), der "immer betrunken" war (Z.704) und ihre Mutter geschlagen und vergewaltigt hat. Die Vergewaltigung der schwangeren Mutter hatte zur Folge, daß das Kind, Susie Halbbruder, nach der Geburt ein halbes Jahr im Krankenhaus liegen mußte und ihre Mutter keine Kinder mehr kriegen kann (Z.654). "Ich weiß nicht wie sich ein Mensch (1 Sek) an einer wehrlosen Frau so vergreifen kann, der genau weiß, daß er sowieso stärker ist als sie ne? und nachher trotzdem immer noch drauf einschlägt ne?" (Z.710 ff). In dieser Zeit, als die Mutter im Krankenhaus war, sind Susie und ihre Brüder in ein Heim gekommen: "zuerst saß ich in meinen Ecken und habe nur geweint, aber es war auch gut weil wir, eben halt aus dem Gröbsten raus waren ne?"

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(Z.736 0 "Und wenn ich jetzt einen Film gesehen hab ne? und wenn da jetzt so ne Familie ist und der Vater dreht dann völlig durch ne? ich mein ich hab dann natürlich gleich einen Rückblick gehabt ne? meine Mutter hat immer gesagt ich soll daran nicht mehr denken, aber, dann eben halt kommt es doch schon ne?" (Z.627 ff). Zu ihrem Radiokonsum sagt sie: "Nachts Radio hör ich gern, ehm, ne, beim mir muß das Radio laufen ne?(lacht)" (...) "sonst kann ich nicht einschlafen" (Z.101 f)· Im Anschluß an die Rezeption von Videofilmen benutzt sie Radiomusik, um Alpträume zu vermeiden (Z.110). Radiohören ist für sie auch verbunden mit (Tag—) Träumen und Phantasien. Sie erzählt ihren "letzten" Traum, Radiosprecherin zu werden. Vor und nach der Schule hört sie regelmäßig Musik vom Kassettenrekorder: "dann komm ich eben halt in Stimmung" (Z.121). In ihrer Kindheit hat sie oft mit den Eltern gemeinsam Fernsehen geguckt, inzwischen hat sie dafür wenig Interesse (Z.150 ff)· Fernseh—Verbot als Erziehungsmittel ihres heutigen Vaters empfindet sie aber trotzdem als Isolierung und Ausschluß aus der Familie (Z.668).

Computerunterricht als Chance positiver Technikerfahrung? Susie hat einen Cousin, der einen Computer besitzt und auch selber Computerspiele herstellt. Über diesen Kontakt "wurde dann das Thema Computer auf den Tisch gebracht"(Z.803). Die Teilnahme am Informatik—Kurs macht Susie "wirklich Spaß" (Z.833) und sie erreicht auch befriedigende Noten (Z.833). "I.: IP.:

wie fühltest du dich am Anfang als du am Computer saßest? stolz (lacht) naja mein Computer (lacht)"(Z.844 f).

Susie betont, daß eine lange Zeit notwendig ist, um die Arbeit am Computer zu beherrschen, "weil man braucht echt soviel Einfühlungsvermögen mit dem Computer. Also ich mein jetzt so mit dem Computer umzugehen" (Z.879). Susie hält Computerunterricht schon ab der fünften Klasse für notwendig: "Man weiß ja nie ob später irgendwo nur Computer sind, ob man nur noch irgendwo eingestellt werden kann wo du mit Computern zu tun hast" (Z.835 ff). Zuhause hat Susie keinen Computer und sie holt sich auch keine eigene Diskette von ihrem Informatiklehrer wie viele ihrer Mitschüler: "Ich geh doch sowieso nächstes Jahr ab. und was soll ich dann mit der Diskette wenn ich keinen Computer mehr hab? (lacht)" (Z.857 ff). Der Computer ist in ihren Erzählungen das einzige Gerät, das sie nicht kaputtgemacht hat bzw. vor dessen Beschädigung sie sich nicht fürchtet. Susie betont bezüglich der anderen Medien, daß Jungen von der

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richtigen Handhabung und Reparatur mehr verstehen als Mädchen, "was soll denn schon ein Mädchen erleben mit Fernsehen, und, und Video, und Kassettenrekorder. (5 Sek) das ist, also normal ist das mehr für Jungs weil es gibt sehr viel Jungs die basteln viel ne?" (Z.154).

Interpretation sansat?: Ich—Suche Susie hatte, wie diese kurze Darstellung der Hauptinterviewlinien zeigt, eine schwierige Kindheit. Hatte sie überhaupt eine? Statt mit anderen Kindern zu spielen, ist sie schon mit drei Jahren die 'kleine Freundin' der Mutter geworden. Gemeinsam mit der Mutter hat sie den Haushalt geführt und sich gegen den Vater solidarisiert. Susies heutige Schwierigkeiten, ihre Beziehung zur Mutter zu bestimmen sowie eine eigene psycho — soziale und sexuelle Identität aufzubauen, werden durch diese Rolle verschärft.27 Susie ist mit Ereignissen konfrontiert, die von ihr nicht "im Bezugsrahmen eigener intentionaler Hervorbringung wahrgenommen und interpretiert werden" können.28 Sie hat große Schwierigkeiten einen eigenen "Bezugsrahmen" bzw. 29 eine Ich — Identität überhaupt zu entwickeln. Dies drückt sich im Fehlen eigener, bewußter Entscheidungen aus. Das Drehbuch in einer schulischen Videogruppe beispielsweise war "soweit gelungen aber dann wurde leider umgewählt" (Z.693), und sie nahm an einem anderen Kurs teil. Ebenso lakonisch stellt sie ihren ersten Computerkontakt dar: "Dann wurde das Thema Computer auf den Tisch gebracht" (Z.803 0 · Ihre berufliche Zukunft nach Abschluß der Schule ist für sie völlig unklar. Ihre vagen Vorstellungen von einer Schule, in der "mal eine Woche Schule, mal eine Woche praktisch" (Z.935 f) gelernt wird, sind weitere Hinweise für ihre Schwierigkeiten, von sich selbst als "ich" zu sprechen und eigene bewußte Entscheiungen zu treffen. Schließlich sei auf ihre Reaktionen bzw. Umgehensweisen mit Konfliktsituationen hingewiesen: Nach der erwähnten Implodierung des elterlichen Fernsehgeräts hat sie sich zeitweise nicht mehr an das Gerät gewagt, sondern "seit dem hab ich mich dann immer so in mein stilles Eckchen versteckt noch ne Decke drüber und so ne?" (Z.229f). Aus einer von den Erzieherinnen im Kinderheim entdeckten, unerlaubten Teilnahme an einer Fernsehsendung zog sie die Konsequenz "ziehst dich zurück gehst in deine Ecke, machst deine Hausaufgaben fertig" (Z.296 ff). Solche Konfliktvermeidungsstrategien durch Rückzug praktiziert sie heute auch noch. Allerdings benutzt sie heute eher Musik vom Radio oder walkman, um kurzzeitig aus ihrem Alltag "auszuflippen".30

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Sinn aus Horrorvideos? Ohne hier nun weitere "Wechselspiele" bzw. mediale "Synthesisleistungen" zwischen realen und medialen Erfahrungen Susies näher zu untersuchen, möchte ich vor ihrem biographischen Hintergrund auf die noch offene Frage nach der Bedeutung von Horror—bzw. Dokumentarfilmen für sie zurückkommen. Zunächst ist eine weitere Verwendung ihres Sinnbegriffs anzuführen. Im Zusammenhang mit der Videorezeption ihres heutigen Stiefvaters erwähnt sie, daß dieser aus bestimmten Filmen Sinn schließen könne, während ihre Mutter daraus keinen Sinn schließen könne. (Z.616 f) Dieses aktive "Sinn schließen" soll nun hinsichtlich Susies eigener Videonutzung hinterfragt werden. Susie stellt die Rezeption von Horrorfilmen in einen Zusammenhang mit Mißhandlungen von Frauen. Sie unterstellt zunächst, daß Horrorfilme solche Handlungen verursachen (Z.612 —623). Die Vergewaltigung ihrer Mutter hat stattgefunden, als Susie ca. sieben Jahre alt war. Susies unmittelbares Erlebnis der Vergewaltigung ihrer Mutter wurde und wird von ihrer Mutter und von ihrem jetzigen Stiefvater tabuisiert. Das Verschweigen macht Susie eine reflexive Bearbeitung dieser Erlebnisse sowie deren Folgen (Heimaufenthalt, Verlust der Freundin) unmöglich. Während und nach dem Konsum von Horrorvideos hat sie "oftmals einen Rückblick ne? so einen, ich mein ich zeig es meinen Eltern nicht (lacht) das heißt ne, ich versuch das so lange wie möglich versteckt zu behalten ne?"(Z 659 ff). Ich verstehe Susies Horrovideokonsum als Versuch, diese ca. neun Jahre zurückliegenden Erlebnisse aus dem Bereich des Verschwiegenen und Verdrängten wieder herauszuholen. In ihrer jetzigen pubertären Umbruchsituation, einer Phase der Entwicklung eigener sozialer und psychosexueller Identität, erscheint mir Susies "Rückblick" per Video als ein Versuch, mit der Vergewaltigung ihrer Mutter verbundene, eigene Ängste und Aggressionen zu verarbeiten und darüberhinaus auch die widersprüchliche Beziehung zu ihrer Mutter zu klären31. Vor diesem Hintergrund verstehe ich Susies Angst hinsichtlich des Films "Gesichter des Todes" als Angst vor der Wiederholung ihrer realen Erlebnisse gewalttätiger und lebensbedrohender Handlungen, "ich könnte da nicht zu gukken, ich würde ausflippen" (Z. 552 f). Die filmische Darstellung solcher Ereignisse, mit Hilfe des von ihr kontrollierbaren Videorekorders im Sinne eines 'dosierten' Ausflippens, hält sie dagegen aus: "Ich hab da noch Mittag bei gegessen". Hier können wir nun Susies Feststellung, daß für sie ein fiktionaler Horrorfilme wie "Tanz der Teufel" "Blöd-

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sinn" ist, aufgereifen. Dieser Film hat infolge seiner fiktionalen Erzählung nichts mit Susies Alltag und ihrer Lebensgeschichte zu tun. Trotz der 'realistischen* Darstellung dieses Films löst er bei Susie kein "Wechselspiel" aus. Zu berücksichtigen ist ferner, daß das Medium Film, etwa im Vergleich zum Rundfunk, ohnehin in einem engen Verhältnis zur Wirklichkeit steht. Die Faszination des Films überhaupt und des dokumentarischen Films im besonderen entsteht durch seine Möglichkeit " 'Natur', die 'Wirklichkeit' schlechthin in der Kombination von photographisch genauer Abbildung und Bewegung zu erfassen: die Illusion verdoppelter Wirklichkeit durch Abbildtreue, durch Bewegung, durch 'Natürlichkeit'".32 Genau auf dieser "Aura des Authentischen"(ebd.) baut auch die Darstellung vermeintlich realer Ereignisse in Film "Gesichter des Todes" auf. Dabei ist es aus Susies Sicht völlig irrelevant, daß bei einer analytischen Betrachtung des Films nachgestellte bzw. inszenierte Passagen oder suggestive Kommentare Zweifel an der behaupteten Abbildtreue aufkommen lassen. Die Nicht — Fiktionalitat dieses Films bietet Susie, zumindest visuell, keinen Schutz vor emotionaler Verunsicherung. Distanzierung durch die Perspektivübernahme des als Ich—Erzähler auftretenden Arztes ermöglicht ihr dagegen der Kommentar. Die Ambivalenz von "schlimm" und "sinnvoll" wird nun interpretierbar: Ohne Handlungsrisiko kann Susie leidvolle Erlebnisse rezipieren und durch die filmische Darstellungsweise sinnlich nacherleben. Der Film stellt ihr insofern mediales Material zur Verfügung, mit dem sie, im "Rückblick", ihre verdrängten Erlebnisse aktualisieren kann. "Synthesis" schafft der Film, indem er kurzzeitig den Widerspruch aufhebt zwischen Susies lebensgeschichtlichen Erlebnissen, die sich ihr immer wieder zur Bearbeitung aufdrängen, und der alltäglichen Tabuisierung und Verdrängung dieser Erlebnisse. Susies Bedürfnis nach Kommunikation, Dialog und Ausdruck ihrer Erlebnisse ebenso wie der Wunsch nach Auseinandersetzung mit ihren Eltern findet durch die Videorezeption eine Entlastung, sie bleibt aber Ersatz: "Der Rezipient ist (...) in einer zweideutigen Lage. Sein 'Partner', das Medium, interagiert nicht mit ihm: Es übt keine direkte Kontrolle aus, fordert nicht 'zum Gespräch' auf und ist davon abhängig, was sein Partner mit ihm anfängt".33 Im vorliegenden Interview finden sich keine Hinweise darauf, daß Susie 'mehr' mit solchen Videofilmen anfangt, als sie zur kurzfristigen Wiederbelebung verdrängter Ängste zu benutzen. Ursache —Wirkungszusammenhänge, etwa daß Susies Identitätsentwicklung durch die Videorezeption gefördert oder behindert wird, lassen sich aufgrund des vorliegenden Interviews nicht herstellen. Daß Susie häufig Videos nutzt, zeigt, daß sie diese braucht. Besser wäre es jedoch zweifellos, wenn sie sich ihre Erfahrungen durch reale Kommunikation aneignen könnte.

"Wechselspiel" und "Syathesisfunktioa" medialer Erfahrungen Jugendlicher

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Die Computernutzung ist für Susie verbunden mit der positiven Erfahrung, einem audiovisuellen Gerät gegenüber handlungsfähig zu sein. Sicherlich kann dies für Susie eine Hilfestellung sein, um ihre Unsicherheit im Umgang mit audiovisuellen Geräten abzubauen. Ob dies aber weitergehende Bedeutung auch für ihre Identitätsentwicklung hat, wie es beispielsweise Sherry Turkle hinsichtlich der Programmiertätigkeit amerikanischer Jugendlicher behauptet34, bezweifle ich. Auch wenn solche Prozesse möglich sind, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß die anstehende gesellschaftliche Durchsetzung neuer Informations— und Kommunikationstechniken, die ohnehin schon eingeschränkten Möglichkeiten realer Erfahrungen und Kommunikation vieler Jugendlicher weiter reduzieren wird.35 Handlungsanleitungen oder gar Rezepte für Susies Lebensbewältigung sollen hier nicht gegeben werden. Die Ergebnisse der exemplarisch durchgeführten Analyse und Interpretation des Interviews mit Susie weisen allerdings auf Anknüpfungspunkte solcher Maßnahmen hin. Hilfestellungen können sich sicherlich nicht auf medienpädagogische Aspekte beschränken, sondern müssen im Sinne einer Kommunikationspädagogik Susies familiäre Situation ebenso berücksichtigen wie Susies Fragen nach ihrer beruflichen Zukunft. Die hier dargestellte interpretative, Videonutzung fokussierende Annäherung an die lebensgeschichtlichen und alltäglichen Erfahrungen einer Jugendlichen ist eher als Voraussetzung für pädagogisches Handeln zu verstehen. Durch die Rekonstruktion dieser Erfahrungen, mit Hilfe eines offenen Interviews, wird das "Wechselspiel" zwischen ihren realen und medialen Erfahrungen verstehbar. Für eine Medienpädagogik, die jugendliche Mediennutzer ernst nimmt und die ihre Ziele nicht unter kulturpessimistischen oder technikeuphorischen Schlagworten subsumieren kann, ist damit eine mögliche Grundlage für weitere Schritte geschaffen.

Anmerkungen 1

Keilhacker, M. u. M.: Jugend und Spielfilm. Erlebnisweisen Einflüsse. Stuttgart 1953, S.13 f. 2 Aus der Vielzahl der Veröffentlichungen Keilhackers, seiner Mitarbeiter und Schüler sei besonders erwähnt: Keilhacker, M. u.a.: Kinder sehen Filme. Ausdruckspsychologische Studien zum Filmerleben des Kindes unter Verwendung von Foto— und Filmaufnahmen. München 1957. 3 Unter den Stichworten "klinischer Blick" — Fixierung auf kranke Jugendliche, "polizeilicher Blick" — Fixierung auf Kriminelle und Abweichler und "jugendschützerischer Blick" — Fixierung auf Verführte und Manipulierte, stellt Zinnecker die Hauptströmungen jugendkultureller Untersuchungen als "Zerrspiegel" dar. Vgl. Zinnecker, J.: Jugendliche Sub — kulturen. Ansichten einer künftigen Jugendforschung, in: ZfPäd. 3/1981, S.424 ff. 4 Vgl. Keilhacker, M. u.a., 1957, S. 17 f.

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Kübler, H. —D.: Rezipient oder Individuum — Beweisen oder Verstehen? Fragen der Medienpädagogik an die Wirkungsforschung, in: de Haen, I. (Hg.): Medienpädagogik SL Kommunikationskultur. Frankfurt, a.M. 1984, S.63. Vgl. Mander, J.: Schafft das Fernsehen ab! Eine Streitschrift gegen das Leben aus zweiter Hand. Reinbek 1979, S.196. Keilhacker, M. u. M„ 1953, S.15. Theoretischer Ausgangspunkt für dieses Vorgehen ist der "uses and gratification approach" bzw. ins Deutsche übertragen, der "NutzenansatzVgl. Blumer J.G. u. E. Katz: The Uses of Mass Communications, Current Perspectives on Gratifications Research, Berverly Hills/London 1974; und: Renckstorf, K.: Alternative Ansätze der Massenkommunikationsforschung: Wirkungs— vs. Nutzenansatz, in: Ders.: Neue Perspektiven in der Massenkommunikationsforschung. Berlin 1977, S. 119—136. "Um es auf den Punkt zu bringen: wenn in einem Kinosaal 100 Leute sitzen, die sich einen Film ansehen, dann gehe ich davon aus, daß sie nicht einen Film sehen, (...) sondern daß sie 100 verschiedene Filme sehen". Wawrzyn, L.: Der Film im Kopf. Rezeptionsprotokolle in einer Lehrveranstaltung, in: Hickethier, K., J. Paech (Hg.): Modelle der Film— und Fernsehanalyse. Stuttgart 1979, S.181. Dröge, F., u.a.: Der alltägliche Medienkonsum, Grundlagen einer erfahrungsbezogenen Medienerziehung. Frankfurt, a.M./New York 1979, S.83 f. Müller—Doohm, St.: Medienerziehung als subjektbezogener Unterricht, in: Dröge, F., u.a., a.a.O., S.180. Ebd., S.183. vgl. Baacke, D.: Ausschnitt und Ganzes. Theoretische und methodologische Probleme bei der Erschließung von Geschichten, in: Baacke, D., Th. Schulze, (Hg): Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens. München 1979, S. 24 Erläuterungen zur Transkriptions weise: . = kurzes Absetzen, Senken der Stimme ? = kurzes Absetzen, Heben der Stimme , = neuer Ansatz, Einschub, Korrigieren unterstrichen - auffällige Betonung strichliert = gedehnte Sprechweise (—) = unverständlich (1 Sek) = Pause in der jeweils angegebenen Länge (lacht) = nichtsprachliche Mitteilungen I = Interviewer IP = Interviewpartner vgl. das Kapitel "Die Dinge zusammenfügen", in: Cohen, St., L. Taylor: Ausbruchsversuche. Identität und Widerstand in der modernen Lebenswelt. Frankfurt a.M. 1980, S.136 ff. vgl. zu ähnlichen Problemen: Zinnecker, J.: Accessoires — Ästhetische Praxis und Jugendkultur, in: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hg.): Näherungsversuche. Eine Studie, eine Tagung, Reaktionen. Leverkusen 1983, S. 52. Ich beziehe mich hier auf meine eigene Kenntnis der beiden Filme sowie auf folgende Rezensionen: Videotip 1/84, filmdienst 20/81 u. 4/84, cinema 2/84. Vgl. Seeßlen, G.: Welt ohne Hoffnung. Wie sich ein Genre verändert: der neue Horrorfilm, in: Herausforderung Video — eine Arbeitsmappe, hrsg. v. Jugendfilmclub Köln e.V. 1985, Heft 2, S.55. Bundesanzeiger Nr.81, v. 27.4.1984. Bundesanzeiger Nr.214, v. 16.11.1982, seit 2.7.1985 wird dieser Film, aufgrund §131 StGB, bundesweit beschlagnahmt.

"Wechselspiel" und "Synthesisfuaktion" medialer Erfahrungen Jugendlicher

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21 Grundlage für die Auswertung der Interviewsituation ist ein von mir im Anschluß an das Interview geschriebener Interviewbericht. Dieser gibt Aufschluß über Art des Kennenlernens, Kontaktaufnahme für die Befragung, Störungen während des Interviews, Vermutungen über Erwartungen der Interviewten, Beschaffenheit des Raums, erste Interpretationsansätze sowie Erwähnung der Gesprächstthemen und des Verhaltens der Befragten nach Abschalten des Tonbandgeräts. Vgl. Fuchs, W.: Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. Opladen 1984, S.258. 22 Das Interview dauerte mit Vor— und Nachgespräch ca. zwei Stunden. 23 Vgl. Schütze, F.: Die Technik des narrativen Interviews in Interaktionsfeldstudien — dargestellt an einem Projekt zur Erforschung von kommunalen Machtstrukturen, in: Arbeitsberichte und Forschungsmaterialien der Fakultät für Soziologie, Nr.l, Universität Bielefeld 1977 24 Die Eröffnungsfrage lautete: "Als Einstieg jetzt zum Interview, dachte ich, erzählst du einfach mal so, an welche Situationen oder Erlebnisse du dich erinnern kannst aus deiner Kindheit, in denen du Medien genutzt hast. Als Beispiel Fernsehen. An was kannst du dich erinnern?" (Z.lff) Dem Interview mit Susie waren vier Probeinterviews mit Studen/tinn/en unter gleicher Fragestellung vorausgegangen. Die Auswertung dieser Interviews ergab 1. daß das Thema Fernseherlebnisse aus der Kindheit genügend Generierungskraft als Eröffnungsthema besitzt und 2. daß ein flexibel benutzbarer Leitfaden entwickelt werden mußte, um stockende Erzählungen stimulieren zu können. Interviewerverhalten, Fragetechniken und Sensibilität für nonverbale Mitteilungen wurden in einer Arbeitsgruppe mit Examenskandidaten an der Universität Hamburg mit Hilfe einer Videoanlage eingeübt. 25 Lueger, M., Ch. Schmitz: Das offene Interview. Theorie — Erhebung — Rekonstruktion latenter Strukturen. Wien 1984, S.160. 26 Möglicherweise hat sich hier die Tatsache ausgewirkt, daß Susie einem männlichen Interviewer gegenüber die Erwartung eines eher gerätetechnisch gewichteten Themas aufgebaut hat. 27 Vgl. Haffner, S. (Hg.): Frauenhäuser. Gewalt in der Ehe und was Frauen dagegen tun. Berlin 1977, S.136. 28 Schütze, F.: Prozeßstrukturen des Lebenslaufs, in: Matthes, J., A. Pfeifenberger, M. Stosberg (Hg.): Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive. Nürnberg 1981, S.89. 29 Vgl. Baacke, D.: Die 13-18jährigen. München 1976, S.107 ff. Zu Identitätsproblemen von Mädchen vgl.: Savier, M., C. Wildt: Mädchen zwischen Anpassung und Widerstand. München 1983. 30 Vgl. Cohen, St., L. Taylor: Ausbruchsversuche, Frankfurt a.M. 1980, S.152 ff. 31 Vgl. Hartwig, H.: Jugendkultur. Ästhetische Praxis in der Pubertät. Reinbek 1980, S.18S. 32 Bueb, K.: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Zur Theorie und Geschichte des Dokumentarfilms, in: Brauneck, M. (Hg): Film und Fernsehen. Bamberg 1980, S.286. 33 Baacke, D.: Kommunikation und Kompetenz. Grundlagen einer Didaktik der Kommunikation und ihrer Medien. München 1973, S.220. 34 Vgl. Turkle, Sh.: Die Wunschmaschine. Der Computer als zweites Ich. Reinbek 1984, S.169 ff 35 Vgl. Mettler—Meibom, B.: Breitbandtechnologie. Über die Chancen sozialer Vernunft in technologiepolitischen Entscheidungsprozessen. Habil.schrift, Universität Hamburg, 1984, S.126-173

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Literatur: Baacke, D.: Kommunikation und Kompetenz. Grundlagen einer Didaktik der Kommunikation und ihrer Medien. München 1973 Baacke, D.: Die 13— bis 18jährigen. München 1976 Baacke, D.: Ausschnitt und Ganzes. Theoretische und methodologische Probleme bei der Erschließung von Geschichten, in: Baacke, D., Th. Schulze, (Hg.): Aus Geschichten lernen. Zur Einübung pädagogischen Verstehens. München 1979, S . l l - 5 0 Blumer, J.G., E. Katz: The Uses of Mass Communications, Current Perspektives on Gratifications Research. Berverly Hills/London 1974 Bueb, K.: Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Zur Theorie und Geschichte des Dokumentarfilms, in: Brauneck, M. (Hg.): Film und Fernsehen. Bamberg 1980, S.286—312 Cohen, St., L. Taylor: Ausbruchsversuche. Identität und Widerstand in der modernen Lebenswelt. Frankfurt a.M. 1980 Dröge, F., u.a.: Der alltägliche Medienkonsum. Frankfurt, a.M./New York 1979 Fuchs, W.: Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden. Opladen 1984 Haffner, S. (Hg.): Frauenhäuser. Gewalt in der Ehe und was Frauen dagegen tun. Berlin 1977 Hartwig, H.: Jugendkultur. Ästhetische Praxis in der Pubertät. Reinbek 1980 Keilhacker, M. u. M.: Jugend und Spielfilm. Erlebnisweisen, Einflüsse. Stuttgart 1953 Keilhacker, M., u.a.: Kinder sehen Filme. Ausdruckspsychologische Studien zum Filmerleben des Kindes unter Verwendung von Foto— und Filmaufnahmen. München 1957 Kübler, H. —D.: Rezipient oder Individuum — Beweisen oder Verstehen? Fragen der Medienpädagogik an die Wirkungsforschung, in: de Haen, I. (Hg.): Medienpädagogik & Kommunikationskultur. Frankfurt a.M. 1984, S. 55 — 73 Lueger, M., Ch. Schmitz: Das offene Interview. Theorie — Erhebung — Rekonstruktion latenter Strukturen. Wien 1984 Mander, J.: Schafft das Fernsehen ab! Eine Streitschrift gegen das Lebeen aus zweiter Hand. Reinbek 1979 Mettler—Meibom, B.: Breitbandtechnologie. Über die Chancen sozialer Vernunft in technologiepolitischen Entscheidungsprozessen. Habil.schrift, Universität Hamburg 1984 Müller—Dohm, St.: Medienerziehung als subjektbezogener Unterricht, in: Dröge, F., u.a., Frankfurt a.M./New York 1979, S.157-197 Renckstorf, K.: Alternative Ansätze der Massenkommunikationsforschung: Wirkungs— vs. Nutzenansatz, in: Ders.: Neue Perspektiven in der Massenkommunikationsforschung. Berlin 1977, S. 119 —136

"Wechselspiel" und "Synthesisfunktion" medialer Erfahrungen Jugendlicher

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Savier, M., C. Wildt: Mädchen zwischen Anpassung und Widerstand. München 1983 Schütze, F.: Die Technik des narrativen Interviews in Interaktionsfeldstudien — dargestellt an einem Projekt zur Erforschung von kommunalen Machtstrukturen, in: Arbeitsberichte und Forschungsmaterialien der Fakultät für Soziologie, Nr.l, Universität Bielefeld 1977 Schütze, F.: Prozeßstrukturen des Lebenslaufs, in: Matthes, J./A. Pfeifenberger, M. Stosberg (Hg.): Biographie in handlungswissenschaftlicher Perspektive. Nürnberg 1981, S.88-101 Seeßlen, G.: Welt ohne Hoffnung. Wie sich ein Genre verändert: der neue Horrorfilm, in: Herausforderung Video — eine Arbeitsmappe, hrsg. v. Jugendfilmclub Köln e.V. 1985, Heft 2, S . 5 5 - 6 3 Turkle, Sh.: Die Wunschmaschine. Der Computer als zweites Ich. Reinbek 1984 Wawrzyn, L.: Der Film im Kopf. Rezeptionsprotokolle in einer Lehrveranstaltung. In: Hickethier, K., J. Paech (Hg.): Modelle der Film— und Fernsehanalyse. Stuttgart 1979, S.175-197 Zinnecker, J.: Accessoires — Ästhetische Praxis und Jugendkultur, in: Jugendwerk der Deutschen Shell (Hg.): Näherungsversuche. Eine Studie, eine Tagung, Reaktionen. Leverkusen 1983, S.15—312 Zinnecker, J.: Jugendliche Subkulturen. Ansichten einer künftigen Jugendforschung, in: ZfPäd. 3/1981, S.412-440

Klaus—Jürgen Bruder/Klaus Strempel

Jugendliche und Computer Fragestellungen und Beobachtungen aus der Perspektive der Jugendforschung

Mitte der 80er Jahre hat es den Anschein, daß der Computer die Herzen vieler Kinder und Jugendlicher erobert hat. In den Kaufhäusern umlagern Jugendliche Video—Spiele und Homecomputer; in vielen größeren Städten haben sich Computer-Clubs gebildet - nicht nur die der publizitätswirksamen Hacker —, in denen Erfahrungen ausgetauscht werden, in denen Software verbreitet und Freizeit verbracht wird. In dieser Situation gerät die Forschung unter erhöhten Druck, Ergebnisse vorzuweisen über Folgeerscheinungen, Auswirkungen jugendlichen Umgangs mit dem Computer, die noch gar nicht eingetreten sind. Empirisch feststellbar sind vorläufig eher unmittelbare "Wirkungen", gewonnen aus Untersuchungen mit relativ eng begrenzten Fragestellungen, weitgehend orientiert an der traditionellen Medienwirkungsforschung bzw. Rezipientenforschung. Die soziologischen bzw. sozialpsychologischen Folgen eines zunehmenden Umgangs mit Computern im jugendlichen Alltag lassen sich auf der Grundlage solcher Studien dann immer nur "erahnen" bzw. aufgrund theoretischer Ableitungen "prognostizieren". In der gegenwärtigen Diskussion über mögliche Folgen des Computereinsatzes spielen Annahmen über die Veränderung von Lebenswelten, Bildungsprozessen von Bewußtsein und Denken, von Handlungsstrukturen und gesellschaftlicher Praxis eine wichtige Rolle. Angesichts solcher Fragerichtungen muß das klassische Modell massenmedialer Wirkung (intentional veranlaßte Medienstiumuli — daraus kausal resultierende, empirisch klar erfaßbare Rezipientenreaktionen, also Vorstellungen im Sinne des Reiz—Reaktions —Schemas) als unangemessen betrachtet werden und ist durch komplexe Analysen abzulösen.

Zur Notwendigkeit neuer Forschungsansätze Die Senatskommission für Medienwirkungsforschung der DFG fordert in ihrer Stellungnahme 1986 unter anderen mehr "makroanalytische Untersuchungen über die langfristigen sozialen Folgen von Massenkommunikation, über die Folgen

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der Ausweitung des Medienangebots und des kontinuierlichen Kontakts mit bestimmten Medien oder Inhaltsgenres" (DFG 1986, 8), mehr Langzeitstudien, komplexere Forschungsdesigns. Berücksichtigt man neuere Diskussionen der Medienforschung, dann gewinnt das Sondervotum von Straßner im gleichen DFG—Bericht an Bedeutung: Er fordert, zum einen die aktive Rolle der Mediennutzer zu berücksichtigen, zum anderen die gesamte Medienwelt, den Umgang mit verschiedenen Medien in die Untersuchung einzubeziehen. Damit würden die "aktiven Verstehens— und Verarbeitungstätigkeiten, die Rezeptionsverläufe und Verarbeitungsmuster, denen die Bedeutungszuweisung in unterschiedlichen sozialen Lebenswelten und unter individuellen Voraussetzungen unterliegt, Gegenstand des Erkenntnisinteresses sein" (DFG 1986, 145). Derartige Fragerichtungen werden von der traditionellen reaktiven Medienwirkungsforschung weitgehend ausgeblendet. Will man ihnen nachgehen, ist die Entwicklung bzw. Verwendung von Methoden notwendig, die "ganzheitlich die Lebensgestaltung der Menschen und ihre Sinnorientierung in den Forschungshorizont bringen. Es sind Verfahren zu verwenden, die die interpretative Rekonstruktion von Lebensvollzügen in ihrem historischen und kulturellen Kontext ermöglichen" (Bachmair, o.J., S. 6). Charakteristisch für den derzeitigen Stand der Diskussion über die Einschätzung der Folgen jugendlicher Computer—Nutzung ist, daß empirisch gesicherte Ergebnisse zu komplexeren Fragestellungen nicht vorliegen und deshalb mit vielfaltigen und kontroversen Annahmen operiert wird. Häufig werden Bewertungen des Computereinsatzes in Industrie und Verwaltung sowie Bewertungen der Entwicklung anderer Medien (vor allem Fernsehen und Video) undifferenziert auf den Bereich kindlicher und jugendlicher Computer—Nutzung übertragen. Dabei dominieren oft Vorurteile, Befürchtungen, emotionale Abwehr, sachliche Unkenntnis sowie die Behauptung, die gesellschaftliche Durchsetzung einer Technologie sei komplementär zu entsprechenden negativen bzw. positiven Auswirkungen auf konkrete Individuen (vgl. Knoll, 1987 zum Thema Bildschirmspiel). In dieser Situation können repräsentative Daten der Medien —, Freizeit — und Marktforschung Aufschluß geben über die Verbreitung von Computer—Technik (z.B. Marktanteile spezieller Hard— und Software), über das Ausmaß der quantitativen Nutzung (Computer—Nutzung und andere Freizeitaktivitäten, Medienpräferenzen), über den Grad der situativen und aktuellen Akzeptanz von Computer—Technik (Funktion und Image des Computers), über die Bewertung jugendlicher Computernutzer durch Jugendliche, die sich nicht mit EDV beschäftigen. Analysen unter laborähnlichen Bedingungen könnten auch zu Aussagen über den aktuell zu beobachtenden konkreten Umgang mit Computern führen. Die Ergebnisse der vorliegenden — meist quantitativer Forschungslogik verpflichteten — Forschungsberichte sind methodisch und sachlich allerdings wenig

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befriedigend. "Standardisierte Fragen nach der Beurteilung des Computers und der möglichen Computerisierung der Gesellschaft oder nach den Nutzungsinteressen bei Jugendlichen gestatten keinen Einblick in die wirkliche Interessenorientierung, in die komplexe Sinnstruktur der Nutzung des Computers bei einzelnen Jugendlichen, in die so oder so gelagerten Amalgame verschiedener Orientierungsdimensionen" (Fuchs, 1986, S. 8). Schlußfolgerungen über Gründe, Entwicklungen und Auswirkungen des Umgangs mit Computern, die aus repräsentativen Daten gewonnen werden, sind — wenn auch häufig plausibel — vorwiegend Fehlschlüsse, weil die wichtigen Aspekte der alltagsweltlichen Handlungszusammenhänge und Eigeninterpretationen bzw. Sinngebungen unterschiedlicher Art unberücksichtigt bleiben. "Es ist ein verbreiteter Typ von Forschung entstanden, in dem der Forscher — indem er zum Beispiel standardisierte Fragebögen mit vorgegebener Antwortmöglichkeit ankreuzen läßt — den Jugendlichen vorformulieren möchte, anhand welcher Sprachmuster und Denkschemata sie sich und ihre Welt darstellen sollen. Die programmatische Lieblosigkeit gegenüber den Subjekten der Forschung schränkt diese auf den Stand von Analphabeten ein, die außer dem Malen einiger Kreuzchen nichts zur Bestimmung ihrer eigenen Identität beizutragen haben" (Projektgruppe Jugendbüro, 1978, S. 123). Daß es im übrigen möglicherweise kaum gelingen kann, Sozialisationswirkungen einzelner Massenmedien eindeutig nachzuweisen, zeigt die Auseinandersetzung um mögliche Wirkungen von Gewaltdarstellungen im Fernsehen: Erklärungsversuche auf der Basis von Stimulations —, Katharsis —, Inhibitions — oder Habitualisierungsthese (vgl. Kosubek, 1987) mögen jeweils plausibel erscheinen, sind jedoch selten empirisch abgesichert. In dieser Situation, in der die eindeutige Beantwortung der Frage nach bestimmten Medienwirkungen erschwert ist, empfiehlt K. Luger "vorläufig ein(en) Verzicht auf die Verallgemeinerung von Ergebnissen ... zumal auch von der Annahme Abschied genommen werden kann, daß die verschiedenen Medien konstant und für alle Jugendlichen dieselbe Funktion haben, zum gleichen Zweck genutzt werden und — in der Folge davon — zu ähnlichen Auswirkungen führen müßten" (Luger, 1985, S. 14). Zunächst müßte der Mediengebrauch in unterschiedlichen jugendlichen Lebenszusammenhängen, Teil— bzw. Subkulturen analysiert werden. Die bisher vorliegenden Einzelergebnisse sind nicht verallgemeinerbar: "Das mag darin begründet sein, daß eine große Zahl von Jugendstudien zum Medienverhalten nur in Laborversuchen mit amerikanischen College — Studenten durchgeführt wurden, die damit ... neben den Hopi — Indianern zu den bestuntersuchten Populationen gehören dürften" (Luger, 1985, S. 17) Über den (Medien—)Alltag Jugendlicher und ihre Lebenswelt(en) müssen individuelle und detaillierte Anhaltspunkte gewonnen werden, um den Stellenwert bestimmter Medien in diesem Alltag bewerten zu

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können, d.h. es ist notwendig, eine "Innensicht des Jugendalltags" zu gewinnen, um zeigen zu können, wie Jugendliche selbst ihre Realität interpretieren. Aussagen zu den Fragen, die im Zentrum der bisherigen Debatte stehen, nämlich nach der Bedeutung des kindliche bzw. jugendlichen Umgangs mit dem Computer im Hinblick auf die Entwicklung von Denken, Emotionalität, sozialen Beziehungen, geschlechtsspezifischem Verhalten, sind mit solchen qualitativen Verfahren zu gewinnen, die in der Lage sind, sich auf das konkrete Milieu, die sozialen und kulturellen Zusammenhänge, den Alltag einzulassen, in denen Kinder und Jugendliche als individuelle Subjekte bzw. als Gruppen den Computer nutzen. Nur solche Forschungsansätze bieten die Chance, die verschiedenen Aneignungsweisen sowie ihre Verflochtenheit mit dem sozialen Kontext zu erfassen, zu begreifen und zu erklären.

Der Beitrag der Jugendkulturforschung Für die Untersuchung jugendlicher Computer—Nutzung bietet die Jugendkulturforschung einen geeigneten theoretische Bezugsrahmen: Durch die Konzentrierung auf jugendliche Subkulturen und deren Selbstinterpretation hat sie ein neues Verständnis für die Entwicklung, Veränderung und die Perspektiven jugendlicher Lebenswelten gewonnen. Der Erfolg der Jugendkulturforschung beruht auf ihrem qualitativen methodischen Ansatz (vgl. Centre for Contemporary Studies: Willis, Clarke u.a.): Die "ethnographische" Beschreibung der kulturellen Praxis jugendlicher Gruppen, ihrer Vorstellungswelten, Verhaltensweisen, Stile, Moden etc. verzichtet bewußt darauf, den Maßstab des Untersuchers (implizit in der verobjektivierenden Methode) ins Untersuchungsfeld hineinzutragen. Vielmehr wird versucht, die jugendliche Praxis und die Eigeninterpretation dieser Praxis im Horizont ihrer Entstehung und Bedeutung zu verstehen. Dadurch ist es gelungen, die qualitative Besonderheit jugendlicher Aneignung der Welt zu erfassen. Für die empirische Analyse jugendlicher Computer—Aneignung bietet die Kombination bewährter Methoden qualitativer Forschung (Sozial — , Medien — , Kommunikationsforschung) mit der theoretischen Orientierung der Jugendkulturforschung die Chance, die Grenzen rein quantitativer Erhebungsverfahren zu überwinden. Dazu wäre ein methodisches Vorgehen notwendig, das mehrere Erhebungsinstrumente kombiniert: Teilnehmende Beobachtung bzw. Beobachtungsstudien als Methoden offener Feldforschung, mit denen ein vorurteilsfreier, direkter und offener Zugang zu jugendlichen Umgangsformen mit dem Computer möglich ist; Interviews mit einzelnen Computer — Usern und —Gruppen bzw. fallspezifische biographische Untersuchungen als Analysemethoden für Computer—Gruppen und einzelne Computer —Fans, ergänzt durch Dokumen-

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tationen schriftlichen Materials bzw. zusätzliche Befragungen im Sinne von Informanten—Interviews; qualitative Inhaltsanalyse der Datenbasis, Ausstellung, Kataloge, Diskussions Veranstaltungen und Workshops mit Interessierten aus Forschung und Praxis als Verfahren der Auswertung und Vermittlung der Forschungsergebnisse. Eine medienpädagogische Fragestellung könnten darin bestehen, die sozialen und kulturellen Rahmenbedingen zu untersuchen, unter denen sich spezifische Arten jugendlicher bzw. jugendkultureller Aneignung des Computers entwickeln können.

Ergebnisse bisheriger Untersuchungen Die Studien, die sich seit Anfang der 80er Jahre mit der Frage beschäftigen, welche nachweisbaren bzw. vermuteten sozialisatorischen Einflüsse der Umgang mit dem Computer für Kinder und Jugendliche in sich birgt, analysieren Einflüsse auf die Entwicklung des Denkens, der Emotionalität, der sozialen Beziehungen, des geschlechtsspezifischen Verhaltens.

Einflüsse auf die Entwicklung des Denkens Unbestritten ist in der Literatur, daß der Umgang mit Computern abstrakt — logisches Denken fördern kann. Strittig ist die Frage, ob dies auf Kosten anderer Entwicklungsmöglichkeiten geht. Seymour Papert hat Untersuchungen durchgeführt (1980), in denen er zeigen konnte, daß Kinder im Umgang mit dem Computer "abstrakt —logisches" Denken in sehr viel jüngerem Alter entwickeln, als bisher — mit Piaget — angenommen worden war. Eurich (1985) bestreitet diese von Papert beobachtete Möglichkeit nicht; er hält jedoch die Kosten dieser früheren Entwicklung abstrakt—logischen Denkens dagegen: Seiner Ansicht nach wird ein notwendiger Entwicklungsschritt übersprungen, in dem die Entwicklung konkret—anschaulichen Denkens stattfindet. Das derart entwickelte abstrakt — logische Denken werde also nicht aus konkret — sinnlicher Erfahrung heraus entwickelt, sondern lediglich vom Computer übernommen. Folgen für die ungenügende Entwicklung der Selbständigkeit des Kindes (im Sinne von Piaget) wären denkbar. Das Kind werde nicht in die Lage versetzt, die Beziehung der Abstraktion zur "Realität" zu überprüfen, die Differenz zwischen Abstraktion und Realität entfalle (Baudrillard, 1976). Das Kind denke sich diese Realität ebenso logisch aufgebaut (widerspruchsfrei) und Probleme in ihr ebenso eindeutig lösbar wie am Computer.

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Antworten auf die Frage nach der Wirkung des Computers auf kindliches bzw. jugendliches Denken hängen unter anderem davon ab, welchen Grad von Ausschließlichkeit die Beschäftigung mit dem Computer hat, ob andere Möglichkeiten der Erfahrungsbildung gegeben sind, wie z.B. die konkrete Medienumwelt und das soziale Milieu gestaltet sind, aber auch davon, welche Dauer die Computer—Begeisterung hat, wieweit auch spielerische Umgangsweisen mit dem Computer praktiziert werden.

Einflüsse auf die Entwicklung der Emotionalität Für viele Autoren scheint festzustehen, daß der Umgang mit Computern die Entwicklung der Emotionalität Jugendlicher beeinflussen kann. Die Kontroverse dreht sich um Entfaltung versus Verarmung von Emotionalität; sie bewegt sich auf sehr schmaler empirischer Basis. Am weitesten verbreitet ist die Ansicht, daß der Umgang mit dem Computer zu emotionaler Verarmung führt (z.B. von Hentig, 1984). Die Gegenposition, daß der Computer die Chance biete, Emotionalität zu entfalten, wird unter anderem von Haefner vertreten (1984). Sein Argument ist, daß der Computer dies aufgrund der Entlastung von kognitiven Funktionen ermögliche. Dadurch werde der Mensch dazu befreit, sich seinen kreativen Fähigkeiten wie seinen emotionalen Sehnsüchten zu widmen. Betont wird häufig auch (ohne Diskussion der entsprechenden Vorgeschichte) die Faszination des Computers für emotional deprivierte oder gestörte Personen, für die der Computer zur Ersatz — Bezugsperson werden könne (s. Weizenbaums "Eliza"). Als eine für die emotionale Entwicklung negative Folge vermutet Volpert (1985, S. 85) hinter der — oft sehr zeitintensiven — Beschäftigung mit dem Computer ein Suchtverhalten. Dieser intensive Umgang rufe Allmachtsphantasien hervor, was nahegelegt werde durch die Vorstellung, mit dem Computer (über eine künstliche) Realität zu verfügen, den Computer zu beherrschen. Die Vorstellung bzw. Erfahrung, der Computer gehorche den Befehlen des Benutzers, führe zum Gefühl, Macht über ihn auszuüben. Im Gegensatz zu Volpert stellen Seeßlen und Rost (1984) dieses Gefühl, etwas zu beherrschen, positiv dar. Sie sehen in der Verfügung über den Computer vorrangig die Seite der Kompetenz und betonen die Souveränität, die Jugendliche im Umgang mit dem Computer entwickeln. Zumindest gegenwärtig schaffe die Beherrschung von 'computer—aptitude' den Jugendlichen ein Gefühl der Überlegenheit — gegenüber den Erwachsenen, die diese Kompetenz nicht besitzen.

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Die Kontroverse zeigt, in welch starkem Maße Werturteile in die Diskussion über "Auswirkungen" des Computers auf Kinder und Jugendliche eingehen. Ebenso wie Lutz (1984) sehen Seeßlen und Rost in der Behauptung bzw. Vermutung vermeintlich negativer Folgen der Beschäftigung mit Computern das Urteil besorgter Erwachsener oder das Unverständnis gegenüber dem, was die Jugendlichen konkret tun. Nicht auszuschließen ist auch, daß das Selbstbewußtsein, das Jugendliche im Umgang mit Computern entwickeln, nicht der Rollendefinition entspricht, die Jugendlichen zugeschrieben wird. Dieses Selbstbewußtsein, das aus Selbständigkeit, Souveränität entspringt, ist auch ein zentrales Moment jugendkulturellen Verhaltens. Es könnte durchaus sein, daß das, was Volpert als Allmachtsgefühl beschreibt, nichts weiter ist als eine andere Zuschreibung für diese Souveränität. Das "Allmachtsgefühl" der Hacker, die, indem sie in fremde Netze eindringen, zeigen, daß es möglich ist, gegenüber dem großen, scheinbar unangreifbaren Apparat ein Stückchen "Macht" zu bekommen und die Unsicherheit der scheinbar so sicheren Datennetze aufzuzeigen, ist jugendkulturellem Selbstverständnis nicht fremd. Wir kennen Vergleichbares bei Jugendkulturen, die sich um andere Medien oder Technologien bilden, wie Motorradfans oder auch Fußballfans.

Einflüsse auf die Entwicklung sozialer Beziehungen Eine gängige These ist, daß der Umgang mit dem Computer soziale Isolation hervorrufe oder zumindest verstärke (Brod 1984). Diese Ansicht scheint durch den Augenschein plausibel zu sein, daß viele Computer — Fans über lange Zeiträume für sich allein am Computer arbeiten. Auf der anderen Seite gibt es bereits viele Gruppen von Computer —Fans, deren Existenz bereits der These von der sozialen Integration zu widersprechen scheint. In diesem Zusammenhang ist die Untersuchung von Muller und Perlmutter (1985) interessant, in der gezeigt werden konnte, daß Kinder in del" Beschäftigung mit dem Computer wesentlich kooperativer sind, in viel höherem Maße interagieren als in der Beschäftigung mit traditionellem Spielzeug. Die Häufigkeit der Interaktion betrug z.B. 63% beim Computer gegenüber 7% bei Puzzle —Spielen. Über ein ausgesprochen soziales Verhalten von Computer — "Freaks" berichtet auch Ronge (1984) auf der Grundlage einer qualitativen Erhebung. Die Vermutung bzw. Befürchtung, daß die Beschäftigung mit Computern soziale Beziehungen zerstöre, scheint problematisch. Zumindest scheint der Umgang mit Computern die Entwicklung von sozialer Interaktion und Kooperation nicht auszuschließen. Inwieweit ein intensiver Umgang mit Computern soziale Bezie-

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hungen einschränkt oder befördert, läßt sich nicht pauschal beantworten, entscheidend ist die konkrete Nutzungssituation. Bei vielen Computer — Fans bestätigt sich jedoch nach unseren Studien, was Greenfield (1984) als "interactive quality" von Video — Spielen und Computern bezeichnet: Die Auseinandersetzung mit dem Gerät geschieht häufig in kleinen Gruppen, nicht isoliert; die Beschaffung von Hard— und Software erfordert of starke soziale Aktivitäten im Sinne einer 'Vernetzung' von Computer — Fans zum Zwecke des Austausches von Informationen, Software etc.

Einflüsse auf die Entwicklung geschlechtsspezifischer Unterschiede Computer —Fans sind in der überwiegenden Zahl männlich. Die Vorherrschaft männlicher Fans ist durch die Shell —Studie (1985) in einem Ausmaß festgestellt worden, das bei keiner anderen jugendkulturellen Gruppe erreicht wird. Interessant ist jedoch gleichzeitig, daß dieses männliche Übergewicht im "Sympathisanten—Kreis" derer, die sich zwar nicht als "Fans" bezeichnen, "solche Leute aber gut finden", wesentlich gemildert ist — ein Beispiel für die weibliche Bewunderung männlicher Aktivitäten? Seit Anfang/Mitte der 80er Jahre gehen verschiedene Forschungsvorhaben (Fauser/Schreiber, 1985; HIBS, 1986 u.a.) der Frage nach, ob der Umgang mit dem Computer geschlechtsspezifische Unterschiede hervorbringt oder bestehende lediglich verstärkt und wie die Zugangsbedingungen auch für weibliche Jugendliche gesichert werden können; klare Ergebnisse liegen bislang nicht vor. Dambrot et al. (1985) haben bei der Untersuchung von 900 männlichen und weiblichen undergraduates geschlechtsspezifische Unterschiede feststellen können, und zwar hinsichtlich "negativer Einstellung zum Computer", die bei den Studentinnen höher war, und geringerer "computer —aptitude" ebenfalls bei Studentinnen. Zugleich korrelierte die geringere "computer —aptitude" mit niedrigerem mathematischen Vorwissen, die negative Einstellung zum Computer mit höherer "Mathematik —Angst". Demgegenüber haben Muller und Perlmutter (1985) bei der Untersuchung von Vorschulkindern (3,8 bis 5,7 Jahre) keine geschlechtsspezifischen Differenzen hinsichtlich der Art der Beschäftigung mit dem Computer sowie des Umgangs miteinander feststellen können. Der Vergleich der Ergebnisse dieser beiden Untersuchungen läßt es naheliegend erscheinen, daß geschlechtsspezifische Unterschiede in Bezug auf den Computer der vorangegangenen geschlechtsspezifischen Sozialisation zuzuschreiben sind und stark von der vorangegangenen (u.a. altersbedingten) Mediensozialisation abhängt.

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Über die Frage hinaus, ob sich Mädchen bzw. weibliche Jugendliche mit dem Computer beschäftigen, hat Sherry Turkle (1984) untersucht, welche Programmierstile sie im Unterschied zu Jungen bzw. männlichen Jugendlichen entwickeln. Turkle unterschied einen "harten" von einem "weichen" Programmierstil, den sie einem "männlichen" bzw. "weiblichen" Umgang mit dem Computer zuwies. Der "harte" Stil ist nach Turkle eher streng planend, der "weiche" eher impressionistisch, bastlerisch, ausprobierend, interaktiv. Diese Unterschiede wurden bei der Verwendung von Logo als Programmiersprache festgestellt; möglicherweise lassen andere Programmiersprachen eine solche geschlechtsspezifische Differenz nicht zu. Wenn geschlechtsspezifische Unterschiede auch durch den Umgang mit dem Computer nicht hervorgebracht werden, bleibt doch die Frage, ob sie im Umgang mit diesem neuen Medium verstärkt werden. In diesem Fall würde die Tendenz zum Rückgang von Geschlechtsdifferenzen aufgehoben, die in den letzten Jahren vor allem in jugendlichen Subkulturen festgestellt wurde (s. Shell-Studien von 1981 und 1985).

Vorläufiges Fazit Der Überblick über den gegenwärtigen Diskussionsstand zeigt, daß die Fragen nach den o.g. Einflüssen des Umgangs mit dem Computer im konkreten Fall beantwortet werden müssen und zur Zeit keine Verallgemeinerungen möglich sind. Folgen der Computer — Nutzung sind abhängig von der Medienumgebung (im Sinne von Zentralität der Beschäftigung mit dem Computer im Alltag), von der vorausgegangenen individuellen Mediensozialisation und entsprechender Medienkompetenz, von der Deutung des Computers und der Nutzungsart durch die Jugendlichen selbst, von Lebensorientierungen, —entwürfen, —perspektiven, von biographischen Verläufen, Vorbedingungen, Situationen. Zusammenfassend ist beim gegenwärtigen Stand der Forschung festzustellen: Die Diskussion über die "Wirkungen" des Computers auf Kinder und Jugendliche wird zwar sehr kontrovers geführt, aber auf sehr schmaler empirischer Basis. Unvermittelt stehen sich zwei diametral entgegengesetzte Positionen gegenüber: Auf der einen Seite die Behauptung, der Umgang mit dem Computer zerstöre das Denken, die Emotionalität, die sozialen Beziehungen und Interessen Jugendlicher; auf der anderen Seite die Behauptung, der Umgang mit dem Computer fördere die Entfaltung der Kreativität, Kompetenz, Souveränität, Unabhängigkeit Jugendlicher von Erwachsenen. Die Vertreter der "Zerstörungs — These" arbeiten mit der unmittelbaren Übertragung sei es von Thesen über die gesellschaftlichen

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Folgen des Computereinsatzes (Zerstörung der sozialen Beziehungen und Verkehrsformen durch Rationalisierung mit der Folge erhöhter Arbeitslosigkeit, Verschärfung und Verallgemeinerung gesellschaftlicher Kontrollmöglichkeiten) auf die Sozialisationsbedingungen von Heranwachsenden, sei es von Thesen über die Funktionsweise des Computers (als "digitalisiertes Denken" bezeichnet) auf das Denken der Jugendlichen, die sich mit dem Computer beschäftigen. Die Vertreter der "Entfaltungs—These" scheinen sich demgegenüber auf das konkrete Verhalten Jugendlicher einzulassen, statt die "Wirkungen" lediglich abzuleiten. Aber sie tun das keineswegs voraussetzungslos. Möglicherweise begehen sie den entgegengesetzten Fehler, das Verhalten Jugendlicher allzu euphorisch als "souverän" und unabhängig zu bewerten, während es in Wirklichkeit nur in neue Abhängigkeiten verfallt, deren Ursachen in der EDV selbst liegen. Berücksichtigt wird unter Umständen nicht der "Preis", den eine solche "Entfaltung" haben könnte. Das Neue wird möglicherweise zu schnell als Mittel zur Befreiung vom Alten gesehen, ohne die Möglichkeit offen zu lassen, daß damit eine unmittelbare Integration in die herrschenden Tendenzen verbunden sein könnte, Unabhängigkeit also nur gegenüber den persönlichen Vertretern der gesellschaftlichen Forderungen, den Eltern, Lehrern erreicht würde, nicht gegenüber diesen Forderungen selbst. Aber während die Vertreter der "Entfaltungs —These" diese gesellschaftlichen Implikationen des Computers außer Acht lassen, indem sie die Offenheit der subjektiven Möglichkeiten im Umgang mit Computern betonen, negieren die Vertreter der "Zerstörungs—These" eine solche Offenheit, so als ob das Verhalten der Benutzer die durch den Computer lediglich ausgelöste Reflexreaktion wäre. Beide Seiten berücksichtigen nicht, daß die jeweilige "Wirkung" des Computers abhängt von dem sozialen, gesellschaftlichen Kontext (und den damit verbundenen Zwecken), in dem dieses Medium eingesetzt wird, und daß der Benutzer nicht Objekt der "Wirkungen" des Computers ist, sondern Subjekt, das sich die im Computer liegenden Möglichkeiten aneignet nach Maßgabe seiner eigenen Interessen, Zwecke, Fähigkeiten als auch der Zwecke, Forderungen, Erwartungen des sozialen Kontextes, in dem diese Aneignung stattfindet (Baacke, 1986).

Jugendkulturelle Aneignung des Computers als Frage qualitativer Forschung Qualitative Zugangsweisen zur Frage der Bedeutung der Computer — Nutzung für Jugendliche wurden bereits von Sherry Turkle (1984) gewählt. Eine Reihe bundesdeutscher Forschungsprojekte in diesem Bereich bedient sich ebenfalls qualitativer Methoden (Baacke/Sander/Vollbrecht, 1986; Friedeburg, 1985; Harms et al., 1985 etc.). Allerdings beschränken sich diese Projekte auf die Untersuchung

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einzelner Jugendlicher, sie beziehen möglicherweise jugendkulturelle Lebenszusammenhänge, die sich um die Beschäftigung Jugendlicher mit dem Computer organisieren, nicht in die Untersuchung mit ein, dementsprechend auch nicht deren unterschiedliche Freiheitsgrade bzw. das Ausmaß, in dem Jugendliche diese selbst aufgesucht oder selbst hergestellt haben. Die Aneignungsweisen, die Jugendliche im Umgang mit Computern entwickeln, können sich aber da erst voll entfalten, wo sie die größte Freiheit dazu haben: in von ihnen selbst geschaffenen sozialen Zusammenhängen — der jugendkulturellen Milieus. Begeben wir uns in diese Milieus so stellen sich folgende Fragen: Bleiben die Merkmale jugendkultureller Praxis, wie sie die Jugendkulturforschung bisher beobachten konnte, in Milieus erhalten, die sich um die Aneignung des Computers herum gebildet haben? Werden sie gegebenenfalls modifiziert, oder "determiniert" der Computer das Milieu derart, daß solche jugendkulturellen Momente eliminiert werden? Es ist eine bekannte Tatsache, daß sich jugendliche Subkulturen aus der Aneignung von Technologien bilden können, wie Motoradfans, Amateurfunker u.ä. Die Möglichkeit jugendlicher Computer — Fan — Subkulturen ist deshalb nicht von vorneherein auszuschließen. Durch die illustrativen Reportagen aus der "Computerszene" von M. Horx (1984) wird sie eher bestärkt. Er führt eine bunte Vielfalt von Umgangs— und Verwendungsweisen des Computers vor. Neben den vielen individuellen Computer — Fans existieren Computer — Fangruppen in zahlreichen Städten, meist User—Clubs, deren Mitglieder ein bestimmtes Fabrikat besitzen oder die von einzelnen Firmen gesponsert bzw. angeregt wurden. Die Existenz solcher Computer — Fan — Gruppen ist bereits eine starke Gegenthese gegen die Thesen von einer sozialen und emotionalen Verarmung durch den Computer. Allerdings sind diese Gruppen nicht von vorneherein als jugendkulturelle zu bezeichnen, sondern erst in Abhängigkeit von der (jugendkulturellen) Praxis, die sich in diesen Gruppen entfaltet, sowie in Abhängigkeit von den aus dieser Praxis entstehenden Vorstellungen und der Ausdehnung dieser Vorstellungen auf den gesamten Lebensbereich der Mitglieder.

Zur Bedeutung der Jugendkulturen als Untersuchungsfeld Die bisher untersuchten Jugendkulturen stellen soziale Milieus in höchst differenzierter Form dar, die dem jugendlichen Verhalten Orientierung geben, in dem Jugendliche Verhaltensweisen und Normen, Vorstellungen und Werte in eigener Regie experimentell entwickeln, in relativer Unabhängigkeit von den Institutionen und Vertretern gesellschaftlicher Sozialisation und Kontrolle. Vermittels der Jugendkultur eignen sich die Jugendlichen ihren Lebensraum an, entwickeln Phantasie, Kreativität, Souveränität — sowohl in kognitiver als auch

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in emotionaler und vor allem in sozialer Hinsicht. Mit der Jugendkultur haben wir sozusagen eine Mikrokosmos eines kulturellen, lebenspraktischen Zusammenhangs, der empirischer Untersuchung zugänglich ist und gleichzeitig nicht künstliches Produkt einer methodischen Isolierung, sondern tatsächlicher, gelebter Zusammenhang. Er ist verbunden mit der Gesamtgesellschaft erstens durch die Tatsache der gesellschaftlichen Herstellung (des Moratoriums) der "Jugend" und zweitens durch die Einwirkung vor allem der "Kulturindustrie", durch deren Angebote an Produkten und Stilen, Verhaltensmodellen, mit denen sie den "Freiraum" Jugend (wieder) ausfüllt mit gesellschaftlich vorgegebenen Inhalten. Aber er ist zugleich durch relative Autonomie gekennzeichnet dadurch, daß Jugendliche diese Angebote — des "Freiraums" selbst wie der kulturindustriell angebotenen Inhalte - sich in einer Weise aneignen, die "jugendspezifisch" ist. Diese Aneignung wird (häufig) zur Provokation der Erwachsenen weit, die zunächst eher unbeabsichtigt, mit zunehmendem Alter jedoch stärker selbstbewußt eingesetzt wird. Sie ist zugleich Teil der notwendigen Emanzipation von — auch verinnerlichten — Schranken und damit der Identitätsbildung.

Bedingungen für jugendkulturelle Aneignung des Computers Die Tatsache, daß der Computer ein industriell vorgefertigtes Objekt ist, schließt nicht die Möglichkeit der Bildung einer Jugendkultur (von Computer — Fans) von vorneherein aus. Entscheidend ist vielmehr die Art der Aneignung dieses Mediums. Die wesentliche Bedingung hierfür ist, daß die Aneignung in der Freizeit stattfindet. Jugendkulturen sind Freizeitkulturen. Sie entwickeln sich in der Freizeit — neben der Schule und außerhalb des Elternhauses bzw. der Aufsicht durch Erwachsene. Darin liegt sowohl die Bedingung ihrer Eigenständigkeit als auch ihre prekäre Bedeutung für das Leben der Jugendlichen: Als "Kulturschutzpark" ist Jugend in gewisser Weise abgeschirmt von den Forderungen und Zwängen des (schulischen und häuslichen) Alltags. Dies ist eine Bedingung der Entfaltung eigener Praktiken und Pläne durch Jugendliche. Zugleich aber erschweren die schützenden Zäune des "Kulturschutzparks", daß das, was die Jugendlichen dort — in ihrer "Freizeit" — entwickeln, in den — schulischen und häuslichen — "Ernst" des Alltags übertragen und integriert werden kann. Dies ist der Motor für jugendliche Ansprüche, ernst genommen zu werden, als erwachsen behandelt zu werden und gleichzeitig die Welt der Erwachsenen und die Erwachsenen selbst an den "jugendlichen" Erfahrungen und Werte zu messen (der "idealistische Rigorismus" der Jugend). Gesellschaftliche Einflüsse gehen hier gleichwohl in vielfaltiger Weise ein: Zunächst ist die Schule organisatorischer Rahmen und erster inhaltlicher Bezugspunkt der jugendlichen Peer —Gruppen. Die Schule ist

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der Ort, an dem sich die Jugendlichen und Kinder regelmäßig zu festgesetzten Zeiten treffen; und sie sind in der Schule "gemeinsam bedrohlichen Erfahrungen ausgesetzt" (Zinnecker 1979, S. 42), die den Inhalt der (Gruppen—)Gespräche bilden. Aber diese Gespräche und Treffen finden unter Ausschluß der Erwachsenen statt, in den Pausen, auf dem Schulweg, am Nachmittag, in der Freizeit. Neben der Schule als vereinheitlichendem Ort des Zusammentreffens und der Erfahrungsbildung gibt es aber auch die gegenläufige Einflußtendenz: die des Elternhauses, vermittelt über die "milieukonforme Peerwahl". Aus dem Aufeinandertreffen beider Erfahrungswelten entsteht für Jugendliche die Möglichkeit, die Erfahrungen des jeweiligen Sozialisationsortes zu relativieren, beide: Familie und Schule gegeneinander auszuspielen, worin wiederum die Möglichkeit begründet liegt, eigene Werte und Normen zu entwickeln. Schließlich stellt die Kulturindustrie einen dritten Einflußfaktor im "Kulturschutzpark" Jugend dar. Mit ihren Inhalten und Produkten wird die Freizeit der Jugendlichen ausgefüllt. Wir haben bereits ausgeführt, daß dieser Einfluß ebenfalls nicht ungebrochen ist, daß die Jugendlichen vielmehr diese Vorgaben durch ihre Form der Aneignung verändern. Es handelt sich dabei um ein unsicheres Gleichgewicht. Die Frage ist, ob dieses Verhältnis durch den Computer stärker zugunsten des Einflusses der Kulturindustrie und der durch sie in die Jugendkultur gebrachten Bedeutungen verschoben wird. Auffällig ist der breite Raum, den die Diskussion über die jeweils neuesten Modelle in den Computer — Fangruppen spielen. In einer von uns besuchten Gruppe werden in der Mitgliederliste Rechner und Peripherie —Geräte jedes einzelnen Mitgliedes aufgeführt, wobei Aktualität und Vollständigkeit ständig von allen überprüft werden. In dieser jugendlichen Computer — Subkultur ändert sich auch die Rolle der Schule als Sozialisationsinstanz. Sie ist nicht mehr der einzige organisatorische Rahmen und inhaltliche Bezugspunkt, um den sich die Subkultur bildet. Der Computer selbst und der Austausch über ihn übernehmen (Teile dieser) Organisationsfunktion. Dies läßt die Bedeutung der — größeren — Rolle kulturindustrieller Produkte innerhalb und für die Organisation der Subkultur jugendlicher Computer — Fans zusätzlich in einem anderen Licht erscheinen. Möglicherweise verschieben sich hier die Gewichte: zwischen dem Einfluß der Schule und dem der Kulturindustrie auf die Jugendkultur und weiter im oben angedeuteten Sinne zwischen Jugendkultur (jugendkultureller Aneignungsweise) und Kulturindustrie (kulturindustriellen Vorgaben). Schließlich könnte auch der Einfluß des

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häuslichen familiären Hintergrundes in der Freizeit der jugendlichen Computer—Fans wieder an Bedeutung zunehmen aufgrund der Tatsache, daß die nötige Hard— und Software relativ teuer sind. Damit könnte die Schicht— oder Klassenspezifität in dieser jugendlichen Subkultur größere Bedeutung gewinnen. Die Verwischung von Klassengrenzen ebenso wie die Aufhebung der Trennung der Geschlechter waren wichtige Charakteristika jugendlicher Subkulturen der letzten Jahre. Die zweite Bedingung und Charakteristikum bisher untersuchter jugendlicher Subkulturen war ihre Kollektivität, ihr Gebundensein an die Existenz der jugendlichen Peer-Gruppe. Jugendliches Verhalten ist bisher ohne die Kollektivität der Peer —Gruppe nicht zu verstehen. Jugendliche verhalten sich anders, wenn sie in der Gruppe auftreten, als wenn sie einzeln agieren: freier, selbstbewußter, aber auch aus der Sicherheit heraus, von den anderen Mitgliedern der Peer — Gruppe unterstützt zu werden, was auch beinhaltet, daß sich die Jugendlichen den Erwartungen der anderen entsprechend verhalten, sich den "Gruppen — Normen" unterordnen. Jugendliche brauchen diese Peer—Beziehungen für ihre psychosoziale Entwicklung. Die Gleichaltrigen regen an durch ihre andersartigen Erfahrungen, Berichte, Werte und Vorstellungen. Sie stiften an zu aufregenden Experimenten und Untersuchungen. Hier, in der Peer —Gruppe und mit ihr, finden Jugendliche den Raum, der frei ist von der Kontrolle durch Erwachsene. Hier eignen sie sich neuen Raum an, probieren gemeinsam neue Angebote der Kulturindustrie aus, experimentieren mit den Gegenständen des Alltags, mit den Normen und Verboten, testen Grenzen aus, erproben neue Beziehungen. Hier finden sie, was außerhalb bestritten wird: Solidarität und — kollektive — Identität. Was die Shell —Studie als "Alltagsflips" bezeichnet, findet vornehmlich in Gruppen statt: Herumalbern, Spaß haben, Genießen. In den Gruppen suchen Jugendliche gemeinsame Erlebnisse, Zärtlichkeit — aber auch Verantwortlichkeit, und sie sehen sie anderswo als dort, wo Erwachsene sie ihnen vorführen. Die Kollektivität der Gruppe ermöglicht Jugendlichen, ihre Probleme als gemeinsame zu betrachten und in die Hand zu nehmen, Spannungen und Unsicherheiten produktiv zu wenden.

Beobachtungen in der Computer—Szene Eine nach unseren Beobachtungen entscheidende Entwicklung in der jugendlichen Computer — Szene besteht darin, daß sich in den letzten Jahren zwischen einzelnen Computer — Fans bzw. Computer — Fangruppen ein Netz von kommunikativen Beziehungen herausgebildet hat, das über die engeren Gruppenstrukturen hinausreicht, z.B. durch den Tausch von Programmen, Raubkopien u.ä. Harald K., Computer —Fan aus Berlin: " ... die Kommmunikation ist wahnsinnig hier.

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Kaum hat einer eine neue Kopie, ruft er 'n anderen an, dann besucht man jemand in Spandau, gibt dem das, der wiederum hat seine Kumpels ... das verteilt sich rasend schnell hier ... es dauerte genau sechs Tage, dann gab es keinen in Berlin, der es nicht hatte". Eine andere Möglichkeit der Kommunikation über die engeren Gruppenstrukturen hinaus bietet die Datenfernübertragung. Organisierende Funktion haben dabei häufig Mailboxen, sozusagen "elektronische Postfacher", die über das Telefon—Computer—Netz den Austausch von Nachrichten, Mitteilungen, Programmen, Informationen aller Art möglich machen. Viele dieser Mailboxen werden von Jugendlichen betrieben, aber auch ZDF und WDR haben sich durch die Einrichtung eigener Mailboxen (in Verbindung mit Computer — Sendungen) in dieses Kommunikationsnetz eingeschaltet. Laut Mailbox — Jahrbuch (Schindler, 1986) und anderen Schätzungen (Chaos —Computer—Club', 1986) gibt es im deutschen Sprachraum ca. 400 lokale und regionale Mailboxen und Mailboxgruppen. Die Zahl der Mailbox—Benutzer wird auf eine halbe Million geschätzt, wobei der überwiegende Teil im Alter zwischen 13 und 21 Jahren sein soll. "Für mich ist die Faszination, daß ich, wenn ich was in eine Mailbox reinschreibe, ohne jede Zensur in ganz kurzer Zeit ein sehr breites Publikum ansprechen kann. Und daß ich Möglichkeiten habe, die ich durch keine Zeitung habe, daß Leute Sekunden, nachdem ich die Nachricht eingegeben habe, sie abrufen können" (Kids & Chips, 1986). Wir gehen von der Annahme aus, daß Kollektivität für die Computer — Subkultur in dieser neuen Form eine wichtige, subkulturkonstituierende Rolle spielt, die der Behauptung von der zwangsläufig isolierenden und damit soziale Beziehungen zerstörenden Tendenz des Computers bzw. seiner Nutzung entgegensteht. Allerdings ist nach unseren bisherigen Studien zu unterscheiden zwischen Jugendlichen, die weiterhin für sich allein an Programmen basteln, die also mit dem Computer keinen oder sehr geringen jugendkulturellen Kontakt verbinden, und anderen, für die Formen jugendkultureller Aneignung im Vordergrund stehen. Dieser Unterschied könnte dem entsprechen, den die Shell — Studie zwischen "jugendzentrierten" und "erwachsenenzentrierten" Jugendlichen gemacht hat: Nicht alle Jugendlichen bewegen sich im jugendkulturellen Milieu oder in Gruppen — ein Phänomen, das unabhängig vom Eintritt des Computers in die jugendliche Lebenswelt vorzufinden ist. Die Frage bleibt, ob sich das relative Gewicht dieser Trennung durch das Auftauchen des Computers in der Jugendwelt verschoben hat, oder ob die Dimension der Kollektivität eine andere Qualität (und Bedeutung) erhält. Begeben wir uns auf die Ebene dessen, wie Jugendliche mit dem Computer umgehen, so erinnert vieles an die Dimensionen jugendkultureller Praxis

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(Bruder—Bezzel/Bruder, 1984): Aneignung der vorgegebenen Produkte für ihre Zwecke, Aneignung von Zeit und Rechten. Computer — Fans entwickeln Kompetenzen, Kreativität — im spielerischen Umgang mit dem Medium ebenso wie in der Findigkeit, Systeme zu "knacken", zu kopieren oder unter Benutzung "sicherer" Code—Wörter in fremde Systeme einzudringen (Heine, 1985; Hengst, 1985). Angeregt werden sie unter anderem durch Verbote, auch durch relativ hohe Preise für Hard— und Software (vgl. das "Schwarzfahren"). Verbote zu übertreten enthält immer ein Moment der Befreiung: von Angst (vor Strafe), von verinnerlichten Autoritäten und von äußeren. Die Freude über geknackte Codes oder das Eindringen in fremde Netze drückt die aus, dem großen Apparat ein Schnippchen geschlagen zu haben. Das Verhältnis von Macht und Ohnmacht (in der Beziehung zwischen Jugendlichen und der Welt der Erwachsenen) in spielerischer Form umgedreht zu haben, kann ein "Mittel getarnter Auflehnung" sein (Willis', 1977). Ob es auch ein Mittel der Provokation ist, des bewußten Protestes gegen die herrschenden Normen von Eigentum, gegen die herrschende Macht, wie Horx annimmt (siehe auch Landreth, 1985; Levy, 1984), ist die Frage. Sicher fühlen sich viele Erwachsene, Eltern und Lehrer herausgefordert durch eine Jugend, die souverän mit neuen Medien umgeht, die diesen verschlossen bleiben. Aber das ist "Provokation" durch Überlegenheit: Erwachsene beneiden Jugendliche um ihre Kompetenz, darum, daß diese Jugend die — gesellschaftlich akzeptierten — Maßstäbe besser erfüllt als sie selbst. Diese Haltung ist jedoch zugleich gemischt mit ambivalenten Gefühlen und Einstellungen, die sich aus der Hoffnung speisen, die Beschäftigung mit Computern könnte den Jugendlichen für ihre spätere Berufstätigkeit nützen. Dieser nicht eindeutigen Haltung auf Seiten der Erwachsenen entspricht auf Seiten der Jugendlichen eine ebensowenig eindeutige Haltung hinsichtlich der Dimension des Provozierens, der Herausforderns Erwachsener. Es könnte sich um Formen der Suche nach Akzeptieren, nach Beachtung ebenso handeln, wie um die Entwicklung eigener Maßstäbe in einem selbstbestimmten Lebensraum (siehe auch Mitcham, 1986).

Literatur: Baacke, D./Sander, U./Vollbrecht, R.: Medienwelten Jugendlicher. Untersuchungsdesign. Bielefeld (unveröffentl. Manuskript) 1986 Bachmair, B.: Folgen kommunikationstechnologischer Innovationen für Familienerziehung, Kinderalltag und Medienpädagogik. Forschungsplan. Kassel (unveröffentl. Manuskript) o.J. Baudrillard, J.: Der symbolische Tausch und der Tod. (dt.: München 1982) Brod, C.: Technostress: The human cost of the computer revolution. Reading 1984, MA.

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Bruder—Bezzel, A./Bruder, K.J.: Jugend. Psychologie einer Kultur. München 1984 Chaos—Computer —Club: Sysop — Treffen Hannover. Diskussionsprotokoll. Hamburg (unveröffentl. Manuskript) 1986 Clarke, J. u.a.: Jugendkultur als Widerstand. Frankfurt 1979 Dambrot, F.H. et al.: Correlates fo sex differences in attitudes toward and involvement with computers. In: Journal of Vocational Behavior 27, 1985, S. 7 1 - 8 6 Deutsche Forschungsgemeinschaft: Medienwirkungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland. Teil I: Berichte und Empfehlungen. Teil II: Dokumentation. Katalog der Studien. Weinheim 1986 Eurich, C.: Computer —Kinder. Wie die Computerwelt das Kindsein zerstört. Reinbek 1985 Friedeburg, L.v.: Heranwachsende und Computer. Antrag im Rahmen des Forschungsverbundes "SozialwissenschafÜiche Technikforschung". Frankfurt (unveröffend. Manuskript) 1985 Fuchs, W.: Jugendliche Computer —Fans. Projektantrag. Hagen (unveröffentl. Manuskript) 1986 Greenfield, P.M.: Mind and Media. The effects of television, computers and video games. Cambridge 1984, MA. Haefner, K.: Mensch und Computer im Jahre 2000. Ökonomie und Politik für eine human computerisierte Gesellschaft. Basel 1984 Harms, G. u.a.: Auszug aus dem unveröffend. Arbeitsbericht "Zur Bedeutung von Telespielen im Alltagsleben von Kindern und Jugendlichen", in: Loccumer Protokolle 18, 1985, S. 193 - 204 Heine, W.: Die Hacker. Reinbek 1985 Hengst, H.: Tuscheln, handeln, tauschen. Das heimliche Programm am Kaufhauscomputer, in: Bildschirm, Faszination oder Information. Jahresheft des Friedrich Verlages 3, 1985, S. 8 - 1 2 Hentig, H.v.: Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit. München 1984 Horx, M.: Chip—Generation. Ein Trip durch die Computer —Szene. Reinbek 1984 Kids & Chips: Ein Computerworkshop und seine Folgen. Hrsg. vom Institut Jugend Film Fernsehen (JFF). München 1986 Knoll, J.H.: PacMan & Co. Das Bildschirmspiel im Widerstreit der Meinungen, in: Jugend & Gesellschaft 1, 1987, S. 1 - 4 Kosubek, S. 1987. Die Auswirkungen der Medien auf die Entwicklung unserer Kinder — Fernsehkonsum, Gewaltvideos und Telespiele, in: Jugendschutz 2, 1987, S. 1 5 - 2 3 Landreth, B.: Out of the Inner Circle: An Hacker's Guide to Computer Security. Bellevue 1985, WA Levy, S.: Hackers. Heroes of the Computer Generation. New York 1984

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Luger, K.: Medien im Jugendalltag. Wie gehen die Jugendlichen mit Medien um — Was machen die Medien mit den Jugendlichen? Wien u.a. 1985 Lutz, R.: Die sanfte Wende. München 1984 Mitcham, C.: Computers: From Ethos and Ethics to Mythos and Religion, in: Technology and Society 8, 1986, S. 171-201 Müller, A.A./Perlmutter, M.: Preschool Children's Problem —Solving. Interactions at Computers and Jigsaw Puzzles, in: Journal of Applied Development Psychology 6 (2 - 3), 1985, S. 173-186 Papert, S.: Mindstorms. Kinder, Computer und Neues Lernen, (dt.: Basel 1982) Projektgruppe Jugendbüro (Hg.): Karin Q.: "Wahnsinn, das ganze Leben ist Wahnsinn". Ein Schülertagebuch. Frankfurt 1978 Ronge, U.: Frustration für Tracks. Wie Micro—Computer am Mann bleiben, in: Planung und Analyse 11, 1984, S. 498 - 500 Schindler, W. (Hg.): Mailbox—Jahrbuch. Nachschlagewerk für Computer — Freaks und alle, die es werden wollen. Frankfurt 1986 Seeßlen, G./Rost, C.: Pac —man & Co. Die Welt der Computerspiele. Reinbek 1984 Shell-Studie: Jugend '81. Hamburg 1981 Shell—Studie: Jugendliche und Erwachsene '85. Leverkusen 1985 Turkle, S.: Die Wunschmaschine. Vom Entstehen der Computer —Kultur. Reinbek 1984 Volpert, W.: Zauberlehrlinge. Die gefahrliche Liebe zum Computer. Weinheim 1985 Weizenbaum, J.: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. (dt.: Frankfurt 1977) Willis, P.E.: Spaß am Widerstand. Gegenkultur in der Arbeiterschule, (dt.: Frankfurt 1979) Zinnecker, J.: Im Schulbunker wimmelt es nur so von "fiesen Hunden", "Drachen" und "alten Knackern". Aus der Welt der Schülersubkultur, in: päd. extra 4, 1979, S. 3 8 - 4 3

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Spielhallen als mediale Räume Theoretische und methodologische Skizzen

"Nach einem langweiligen Bürotag die Abenteuerlust ausleben. Sich von Musik berauschen und ablenken lassen. Seine Geschicklichkeit unter Beweis stellen, wenn der Tag einen zu wenig — oder zu viel — gefordert hat. Auch mal das Glück ein bißchen auf die Probe stellen oder beim Spielen Kontakt suchen, wenn einem zu Hause die Decke auf den Kopf fallt ..." Neue "Partner der Freizeit" machen's möglich. An "Orten der Begegnung", wo "Spielen und Kommunikation Spaß machen", finden "Menschen, die ihre Freizeit aktiv nutzen und es schätzen, sich sinnvoll zu unterhalten", ihren "aktuellen Freizeittreff". In dieser schönen "neuen Welt der Unterhaltungsautomaten" tut sich das "Traumland des Spielens" auf. Hier lockt die "Ablenkung vom Alltag, dem täglichen Trott". So jedenfalls sehen es die Anbieter derartig "zeitgemäßer" S p i e l - und Kommunikationsstätten. 1 Getragen vom Boom der Mikrochip—Technik und ihren neuen Möglichkeiten zur Revolutionierung des Automatenspiels sind in der Bundesrepublik in den letzten Jahren die Spielhallen wie Pilze aus dem Boden geschossen. Gegenwärtig (1986) sind in etwa 5000 Spielstätten, davon 3800 reine Spielhallen, 114700 Unterhaltungsautomaten, gut ein Viertel aller einschlägigen Geräte, aufgestellt. Längst haben sie sich aus ihrer alten Heimat, dem Bahnhofsmilieu und den Vergnügungsvierteln, in die Zentren unserer Städte verlagert. Residierten sie in den 50er Jahren vielfach noch in Baracken, Baubuden und Abbruchhäusern, können sie heute erste Adressen vorweisen. Die neuen "Groschenpaläste" geben sich betont seriös, hygienisch — steril und modern. Man sucht die alte Vorstellung von der Spiel "hölle" als Brutstätte der Kriminalität und des Lasters vergessen zu machen. Die Metamorphose zum "Unterhaltungssalon", zum "Automaten—Center", zum "aktuellen Freizeittreff" oder gar zur "Spielothek" — damit unzweideutig auf sozial akzeptiertere andere mediale Räume (z.B. Discotheken, Bibliotheken) anspielend — ist in vollem Gange. Und dennoch — oder gerade deshalb? — sind die citynahen Spielplätze für Erwachsene mehr und mehr ins Gerede gekommen.

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Diskussionsstränge Mindestens drei Diskussionszusammenhänge in Öffentlichkeit, Sozialarbeit/ — Pädagogik und Wissenschaft zeichnen sich ab: Am auffalligsten ist zunächst, daß die kleinen Fluchten ins Reich der automatisierten "new games" in die Schußlinie des Jugendschutzes geraten sind. Dabei nahdos in der Tradition bewahrpädagogischen Eingreifens in den Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen, und z.T. auch Erwachsenen stehend, sind vor allem jene Spielgeräte, die den neuerlichen Aufschwung des Gewerbes auf einen Gesamtumsatz von 4 Milliarden DM im Jahr 1988 realisierbar machen, — übrigens ein Betrag der dem Etat des Bundeswissenschaftsministerium entspricht — Zielscheibe der Kritik: die insbesondere bei Kindern und Jugendlichen beliebten Videospiele. Aggressionssteigerung, Kommunikationslosigkeit, Vereinsamung, Automatisierung des Denkens und Fühlens, Reizüberflutung, Beschaffungskriminalität und Spielsucht heißen die wichtigsten Streitpunkte einer vielfach emotional und wenig sachkundig geführten Debatte. Polizei, Staatsanwaltschaft, Eltern und professionelle Erzieher sind verunsichert. Bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften sind seit 1982 auf Spiele bezogene Indizierungsanträge von Jugendämtern aufgelaufen. Politiker beschlossen eilig, eine Verschärfung des gesetzlichen Jugendmedienschutzes und nicht selten gewerberechtliche wie verordnungsrechtliche Restriktionen. Zum zweiten — und dieser Aspekt erweitert den doch sehr eingeengten Gesichtskreis des defensiven Jugendschutzes schon erheblich — werden Spielhallen als Indikatoren einer generellen und tiefgreifenden Änderung der Freizeitkultur diskutiert. Sie gelten als existierende Beweise dafür, daß auch im Bereich spielerischer Betätigungen in der Nicht — Arbeitszeit einmal mehr wie erkennbar auch bei den Expansionen der Fast — food — (Un)Kultur, der Videotheken, der Pornoshops, der (Video — )Peep — Shows, der Musik —Videos, der Walkmen, der Telespiele, der Heimcomputer u.a.m. sich eine zunehmende Technisierung und Kommerzialisierung der Freizeit Bahn bricht. Welche aktuellen Wandlungserscheinungen und zu erwartenden —prozesse im Freizeitverhalten durch die "Hydra in den Innenstädten" (so die Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels) sich abzeichnen, ist auf diesem Erörterungsstrang das vordringliche Leit(d)thema. Drittens ist die Ausbreitung wie der Wandel in technischer Ausstattung und Präsentation der Automaten — Spielstätten — wohl in erster Linie durch den Umstand, daß die elektronischen Bildschirmspiele zunächst ihren Boom, dann ihre Etablierung besorgten — Bestandteil der Mediendiskussion. Innerhalb derer sind die Spielhallen nicht lediglich als jugendgefährdende Orte oder in ihrer

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Funktion für die Änderung der Freizeitkultur in den (auch wissenschaftlichen) Blick zu nehmen. Vielmehr beziehen sie in einem weiten medienwissenschaftlichen Verständnis als Glied in der Kette neuartiger kommunikationskultureller Entwicklungen und Problemlagen, die den gesamten Alltag und nicht nur den Freizeitsektor betreffen, ihre thematische Relevanz.

Zur Forschungslage und ihren Schwächen Schon eine grobe Sichtung der bundesdeutschen Forschungslage zur Spielhallen—Thematik kann nicht umhin, eine krassen Gegensatz zwischen der (fach)öffendichen Aufgeregtheit um die Problematik und der empirischen Absicherung der jeweilig eingebrachten Argumente zu konstatieren. Zieht man noch die zugrundeliegenden Interessen der Auftraggeber und die ihnen entsprechenden Untersuchungskomplexe als Ordnungskriterien hinzu, so erweist sich die zuerstgenannte, aber in ihrem Gesichtsfeld eben recht begrenzte Jugendschutz — Thematik als mit großem Abstand an der Spitze liegend. Und: Gerade im Blick auf die zuletzt durchgepeitschte gesetzliche Jugendschutz — Novelle im Frühjahr 1985 drängt sich der Eindruck auf, daß Wissenschaftliches dabei nur noch zu (nachträglichen) politischen, pädagogischen oder auch — auf der anderen Seite — wirtschaftlichen Legitimationszwecken als Beiwerk dienlich sein soll. Doch sehen wir zunächst einmal genauer an, was die tatsächlich noch in den Kinderschuhen steckende einschlägige bundesdeutsche Forschung zu bieten hat und skizzieren erst danach die theoretischen Grundzüge und methodologischen Desiderate einer den aktuellen Problemdimensionen angemessenen Medienforschung. Als inzwischen klassische empirische Studien über Reiz, Nutzung und Wirkung von Automatenspiel können die Arbeiten von R. König u.a. (1969), E. Meistermann —Seeger/K. Bingemer (1971) und A. Mergen (1973) gelten. Sie beziehen sich jedoch aus ihrem jeweiligen einzelwissenschaftlichen Blickwinkel (Soziologie, Psychologie, Kriminologie) auf unterschiedliche Aufstellorte sowie Gerätetypen und dem Zeitpunkt ihrer Erstellung geschuldet allesamt noch nicht auf elektronische Spiele. König u.a. kommen für die in Gaststätten aufgestellten Geldspielgeräte zu dem Ergebnis, daß sie in erster Linie aus Gründen der Unterhaltung und der Geschicklichkeitserprobung vorwiegend von älteren Leuten, ausgesprochen selten von Frauen, ansonsten aber von einer Durchschnittspopulation genutzt werden. Ein kriminogener Einfluß von Automatenspiel ist nach dieser Untersuchung nicht nachweisbar. In die gleiche Richtung verweisen die Ergebnisse der auf erwachsene Nutzer von Kicker und Flipper sowie Geld — und Musikautomaten bezogenen Arbeit von Meistermann — Seeger/Bingemer. Die

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Autoren weisen dem Automatenspiel generell darüberhinaus gar eine "sozial wünschenswerte Wirkung" (ebd., S. 54) zu: Es schule Realitätserkenntnis, Geschicklichkeit, Entschlußfreudigkeit und Verlusttoleranz, trage zum Angst — und Aggressionsabbau bei und lehre das Befolgen und Variieren von Regeln (vgl. ebd., S. 24, 56). Abgesehen von der fehlenden Repräsentativität dieser Studie lassen methodische Mängel und Fehler in der Dateninterpretation — so wird etwa behauptet, die Untersuchung widerlege das "Vorurteil über die Gefährdung von Jugendlichen durch das Spielen an Unterhaltungsautomaten vollständig" (ebd., S. 6), obwohl sie nur über 18jährige Probanden einbezieht — erhebliche Zweifel an diesen Resultaten zu. Die einzige ältere Forschung, die, wenn auch nur rudimentär, so doch etwas eingehenderer, das Spielmilieu der Spielhalle einbezieht, ist die auf Unterhaltungsspiele mit Geldgewinnmöglichkeiten bezogene Arbeit Mergens. Auch sie sieht bezüglich der Spielmotivation die Funktionen der Frustrationen, Kontaktstörungen sowie Anspannungen kompensierenden Erholung und des Zeitvertreibs im Vordergrund und hält Automatenspiele für "generell unbedenklich" und eindeutig "nicht kriminogen" (ebd., S. 102). Bei entwicklungsgestörten, nicht ausgereiften und besonders experimentierfreudigen Spielern bauen sie nach Mergen vor allem in problematischen Situationen (bei Entwicklungskrisen, Spannungsstaus, Depressionen etc.) gar kriminelles Verhalten ab. Immerhin stellt die Untersuchung fest, daß knapp 10 Prozent der Gesamtstichprobe im Alter von 17 bis 26 Jahren und sogar 43,9 Prozent der Teilgruppe der durch delinquentes Verhalten auffälligen Spieler nach eigenem Bekunden den größten Teil der Freizeit in Gaststätten und Spielhallen verbringen. Erfordert das Automatenspiel Mergen zufolge insgesamt bereits "wenig aktives Handeln" (ebd., S. 75) und stellt mehr oder weniger eine "dynamische Abreaktion" (ebd.) dar, so ist die Auslieferung des Gerätebedieners an sein Spielgerät in Spielhallen offenbar besonders stark. Die rauschhafte Komponente, die intensivem Spiel überhaupt beiwohnt, gewinnt hier durch die betäubende Suggestivkraft der umgebenden Geräusch— und optischen Gestaltkulisse leicht Überhand. Sie kann dazu führen, daß die Spieler regelrecht "gespielt werden" (Mergen). Einige neuere, in diesem Jahrzehnt veröffentlichte Studien nehmen zwar bereits auch auf elektronische Spielgeräte, insbesondere die Videospiele, Bezug, sind aber ebenfalls im Hinblick auf die Einflüsse des Spielmilieus wenig aussagekräftig. Völlig ausgeblendet wird der Charakter der Spielumgebung in der lerntheoretisch orientierten und mit dem EWL —Test von Janke/Debus (1978) sowie Fragebogen — Interviews arbeitenden Laboruntersuchung von 120 10— bis 27jährigen bei 30— bis 45minütigem Videoautomatenspiel, die H. — D. Schneekloth und M. Emsbach (1983) durchführten. Obwohl auch hier wiederum resümierend festgehalten wird, daß Videospiel "keine jugendgefährdenden Elemente enthält" (ebd., S. 87), ist bemerkenswert, daß die Meßdaten für Ärger und Aggressions-

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bereitschaft bei signifikant abnehmender Wahrnehmungs — und Denkaktivität nach dem Spielen wie bei Erwachsenen so auch bei Jugendlichen leicht ansteigen. Eine Minderheit von immerhin 13,2 Prozent der untersuchten Kinder und 7,5 Prozent der Jugendlichen gibt darüberhinaus an, das "Verlangen, jemandem etwas anzutun", sei geweckt worden; bei 10,5 Prozent der Kinder, 5 Prozent der Jugendlichen und 7,1 Prozent der Erwachsenen ist dabei sogar Waffengebrauch eingeschlossen. Für unseren Zusammenhang ist zudem der Befund relevant, daß selbst innerhalb der kurzen Laborspielzeit und in einer Gruppe von Beobachtern über ein Viertel der untersuchten Kinder und noch jeder 14. Jugendliche nach eigenem Bekunden derart in der Spielrealität aufging, daß deren fiktiver Charakter in Vergessenheit geriet. Trotz der mit dem geschäftigen Treiben in einer Spielhalle kaum vergleichbaren Sterilität der Laborsituation nahm die Konzentriertheit der Probanden mit zunehmender Spieldauer ab. Explizit auf Videospiel an sog. "Kriegsspielautomaten" in Automaten — Zentren nimmt eine hypothesenbildende Voruntersuchung U. Löhes (1980) Bezug. Bis auf die zweifelhafte Behauptung, die Spielhallenatmosphäre sei laut und hektisch, aber nicht unruhiger als das Straßenbild fehlt allerdings ein genauerer Zugriff auf den Charakter des Spielmilieus. Die wegen eklatanter methodischer Schwächen wissenschaftlichen Ansprüchen kaum genügende Arbeit bestätigt davon abgesehen im wesentlichen die älteren Befunde zu Besucherstrukturen sowie Motivationskomplexen und stellt ergänzend ein Durchschnittsalter von 28 Jahren, 22 Prozent Ausländeranteil und die zahlenmäßige Dominanz von Einzelgängern fest. Ohne daß das Datenmaterial den Schluß zuließe, wird abschließend die Harmlosigkeit des Spielhallen—Vergnügens konstatiert. Eine ebenso unzureichende Veröffentlichung des Löhe —Mentors Mergen (1982) wärmt methodisch äußerst ungenau erhobene und beschriebene Befunde von Löhe (1980) und Mergen (1973) auf. Therapeutischen Nutzen gar gewinnt eine in den Untersuchungsdarstellungen allerdings ungenügende und daher wissenschaftlich nicht prüfbare empirische Untersuchung H. Beneschs (1980) dem automatisierten Spiel ab. Der Autor testete verschiedene Spiele in Kliniken und Heimen und schlägt sie als erfolgversprechende Ergänzungen des therapeutischen Angebots vor. Auch zwei im Auftrag der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften erstellte Gutachten (Selg, 1983; Knoll, 1983) bringen, da sie sich auf das Spielverhalten Minderjähriger beziehen, keinen Aufschluß über die Spezifik des Spiels in Automatenhallen. Eine neuere Untersuchung von Knoll u.a. (1986) bezieht dagegen auch das Klientel der Automatenhallen (in Begrenzung auf die bis 25jährigen Besucher) mit ein. Abgesehen davon, daß sie den "typischen" Videospieler auf der Grundlage ihrer empirischen Ergebnisse als männlichen Arbeiter bzw. Auszubildenden zwischen 14 und 21 Jahren mit einer hohen, vor allem außerhäuslichen Freizeitaktivität (bevorzugt Motorrad, Sport) und überdurchschnittlichem Fernseh— und Videokonsum, aber als ansonsten im ganzen unauffällig zu charakterisieren weiß und Besonderheiten nur bei einer Gruppe von

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extremen Vielspielern am Automaten etwa in Hinsicht darauf ausmachen kann, daß hier ein geringerer Bildungsgrad mit einer erhöhten Nutzungsfrequenz bei Videofilmen und einer Bevorzugung von Spielprogrammen mit Angriffsszenarien sowie einer darüberhinausgehenden Bereitschaft, sich nicht gesellschaftskonform (bisweilen auch aggressiv) zu verhalten, korrespondiert (zu weiteren Spezifika vgl. Knoll u.a., 1986, S. 91—235), weist darüberhinaus eine Reihe von Tabellen Daten u.a. differenziert für Heim— und Spielhallengerätenutzer aus. Damit wird berechtigterweise der wichtigen Rolle des Spielortes Rechnung getragen und die Möglichkeit zu interessanten Vergleichen zwischen unterschiedlichen Spielplätzen eröffnet. Gleichwohl kommt, wohl der quantitativen Anlage der Untersuchung insgesamt geschuldet, eine Beschreibung der konkreten Qualitäten der Spielumgebungen und ihrer Empfindungen durch die Nutzer nicht vor. Jene aber muß um so wichtiger erscheinen, als die Knoll — Untersuchung selbst die Einschätzung des Spielcharakters des Bildschirmspiels durch seine Nutzer in hohem Maße "durch die Spielumgebung induziert" (ebd., S. 182) sieht. So ist etwa bemerkenswert, daß doppelt so viele Spielhallen—Nutzer wie Heimtelespieler, nach der größten Ähnlichkeit des Bildschirmspiels mit anderen Spielen befragt, Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit angeben und mehr als dreimal so viele — insgesamt mehr als jeder fünfte — "Revolver/Pistolen" assoziieren. In Meyers aus zahlreichen Presseveröffentlichungen und öffentlichen Diskussionen bekannten Studie über Spielsucht (1983) finden sich dagegen keine Hinweise auf Faktoren der Spielumgebung, die die von ihm angezielte Problematik möglicherweise induzieren. Der Autor hält die technische Struktur moderner Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit für ausschlaggebend, insbesondere die Sonder— und Risikospielsysteme mit relativ hohen Gewinnen und Einsätzen. Vornehmlich um die Widerlegung Meyers bemüht, bezieht auch Waadts Replikation (1987) der Meyer —Studie und der von ihr durchgeführte Vergleich mit Videoautomatenspielern Überlegungen zum Wirkspektrum des Spielmilieus nur insoweit ein, als sie Einflüsse durch Umgebungsfaktoren dadurch auszuschließen sucht, daß die Versuchspersonen an beiden Gerätetypen in Spielhallen befragt werden. Die Autorin kommt zu dem Schluß, daß allein die Spielintensität für jenes Verhalten in Anschlag zu bringen ist, das Meyer "pathologisches Glücksspiel" nennt. Da Spielintensität bei ihr ein zusammengesetzter Wert aus Spielfrequenz, Spieldauer und Geldeinsatz ist, läßt sich gerade aufgrund des letztgenannten Faktors eine Abhängigkeit von der Münzbetätigung des Spielautomaten und damit indirekt von seiner räumlichen Plazierung annehmen. Die ansonsten profundesten Untersuchungsreihen über Videospiele, die von Fritz (1982, 1985) und Fritz u.a. (1983) erstellt wurden, beziehen sich nicht auf münzbetätigte Apparaturen, sondern auf die etwa spielkartengroßen Minispiele bzw. auf Heimtelegeräte und sind daher allenfalls was die Spielinhalte, nicht aber deren Environment angeht, vergleichbar. Ausländische, etwa amerikanische

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Studien heranzuziehen, verbietet sich deshalb, weil Ausstattungs — und Zutrittsregelungen in Spiel — Arkaden wie vermutlich auch gesellschaftliche Normvorstellungen über Automatenspiel international differieren. Fazit: Der Forschungsstand über das Automatenspiel in bundesdeutschen Spielhallen ist äußerst dürftig. Die wenigen, auf unterschiedliche Aufstellorte und Gerätetypen bezogenen Daten sind zudem vielfach recht bedenklich erhoben und lassen kaum schlüssige Interpretationen zu. Auch wenn kaum erstaunen kann, daß dem hohen Erwartungsdruck der breiten Öffentlichkeit nach wissenschaftlicher Eindeutigkeit nicht entsprochen werden kann, so muß man doch fast ausnahmslos die bemerkenswerte Konzepdonslosigkeit der Studien beklagen. Von spiel — , medien —, motivations— und gesellschaftstheoretischer Einbettung kann kaum die Rede sein. Methodologisch ist das im übrigen nur sehr mangelhaft ausgeschöpfte Instrumentarium quantitativen Designs vorherrschend. Dabei erscheint der Nutzer fast ausschließlich in seiner Eigenschaft als Rezipient, wenn nicht gar nur als Reaktionsbündel. Entsprechend steht die Frage nach den Wirkungen von Spielhallenbesuch und Automatenspiel, offen oder verdeckt auf die Frage nach dem Gefährdungspotential abzielend, im Vordergrund; Mediengewohnheiten, Erwartungshaltungen, Bedürfnisse oder andere Motive, die zum Besuch führen, interessieren allenfalls marginal. Symptomatisch dafür ist, daß man sich im Hinblick auf Motivationskomplexe mit Rationalisierungen wie "Langeweile", "Unterhaltung" etc. begnügt.2 Der für die praktizierte Einstellungsforschung charakteristischen Überbetonung des Kognitiven fallen dabei die nicht artikulierten bzw. nicht ad hoc verbalisierbaren Aspekte subjektiver Handlungsgrundlagen zum Opfer; Mängel, die um so schwerwiegender ins Gewicht fallen dürften, je mehr man die geringe Verbalisierungsaufforderung, die vom Spiel an seinen Nutzer ausgeht, in Rechnung zieht, je stärker man die emotionale Ansprache durch die Spielgeräte gewichtet und je näher man der These von der Beeinflussung der Konsumenten durch eine allumfassende "Bewußtseinsindustrie" steht. Andererseits bleibt in den verwendeten Konzepten auch weitgehend ausgeblendet, daß auch Medienumgang nicht bloß zufälliges bzw. von äußeren (etwa Markt — )Mächten gesteuertes Verhalten gleichsam willenloser oder willenlos gemachter Individuen, sondern auch intentionales, reflexives und bedeutungsorientiertes Handeln ist, Handeln, das in konkreten lebensweltlichen und biographischen Bezügen steht und von daher subjektiven Sinn und Interpretation erhält wie auch umgekehrt interpretativ und sinnstiftend Ereignisse und Lebenserfahrungen in bestimmter Weise zu verarbeiten sucht. Aus diesem Umstand müßte sich ableiten, medial geprägte Situationen als in bestimmter Weise (nämlich eben medial) strukturierte Momentaufnahmen biographischen Erlebens der Subjekte, als Ausschnitte aus dem in stetem zeitlichen Fluß befindlichen Gesamtspektrum solcher Bezüge des Individuums zu ver-

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stehen. Stattdessen wird im Bemühen um eine letztlich nicht erreichte oder häufig zweifelhafte Repräsentativität von Durchschnittsdaten von den Besonderheiten der jeweiligen konkreten Nutzungssituation abstrahiert. Damit werden womöglich höchst aufschlußreiche Abweichungen, Vielfältigkeiten und Dysfunktionalität ausgeblendet bzw. nivelliert. Längsschnittuntersuchungen, die objektive und subjektive Veränderungen oder Routinen der Medienpraxis und — erfahrung noch am ehesten über einen längeren Zeitraum erfassen könnten, fehlen völlig. Insgesamt mangelt es der einschlägigen Forschung ganz offensichüich an Herangehensweisen, die geeignet sind, das spielerische Medienhandeln im Gesamtkontext des historischen gesellschaftlichen Lebensvollzuges, in seinen jeweiligen biographischen Aspekten sowie seinen aktuell—Situationellen, räum—zeitlichen Bedingungsfaktoren sowohl im Hinblick auf das subjektive Empfinden der Akteure als auch auf dessen interaktive und objektive Strukturen zu thematisieren. In dieser Hinsicht paßt sie sich nahezu nahtlos in die Tradition der quantitative Methoden von Umfragetechniken und Einstellungsmessung favorisierenden konventionellen Sozialforschung ein, eine Tradition, die sich im Bereich der Medienforschung zwar auf die Reputation der an naturwissenschaftlichen Methoden orientierten etablierten Demoskopie und deren finanzielle Lobby stützen kann, trotzdem aber zunehmend Zielscheibe der Kritik wird (Renckstorf, 1977; Bonfadelli, 1981; Kübler, Würzberg, 1982; Maletzke, 1982; Kübler, 1984). Demnach erscheint zweifelhaft, ob mit der präzisen Isolation von Variablen, die einem vorgegebenen Kategorienschema mit feststehenden Objektdefinitionen entlehnt sind, und mit einer nur an wenige sozialstatistische Indikatoren gebundenen Stichprobenauswahl, die die vielschichtige Struktur eines sozialen Gebildes auf quantitativ unterscheidbare, vorab typisierte Rollenkonstrukte reduziert, die Ganzheitlichkeit einer Kommunikationssituation eingefangen werden kann. Demgegenüber käme es auch gerade für die Erfassung der Spezifika von Medienräumen und des von ihnen ausgehenden Ambiente darauf an, sich ihnen mit einer forschenden Offenheit zu nähern, die Bezüge der Rezeptionssituation im Rahmen einer komplexen Methodenkombination erst noch zu entdecken und ihre Bedeutung im lebensweltlichen Zusammenhang diskursiv in Erfahrung zu bringen (vgl. als ersten noch sehr tentativen Schritt Möller/Uhrmeister, 1983).

KommunilLationsräume — medien — und gesellschaftstheoretische Ausgangsüberlegungen Daß gerade der Faktor Raum als eine Situationen bedeutsame Konstituente der Umgebungsbedingungen wie noch immer insgesamt in der Medienforschung so auch im wissenschaftlichen Studium von Spielhallenkontexten so oft entweder übersehen oder unterschlagen wird, muß einesteils verwundern: Insbesondere in

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Abgrenzung von schichtspezifischen Ansätzen (dazu Herlyn, 1985) und ihren abstraktifizierenden Generalisierungen sowie anderen eher an sozialstrukturellen Merkmalen interessierten, eher analytisch als objektorientiert arbeitenden Forschungskonzepten, hat sich in den letzten Jahren zunehmend — sicher auch nicht gänzlich unabhängig von der öffentlichen Umwelt—Diskussion — die ökologische Fragestellung sozialwissenschaftliche Aufmerksamkeit verschafft. In diesem Kontext insbesondere in Gemeinde— und Sozialisationsforschung beheimatet, bezeichnen Stichworte wie "Sozialökologie", "Sozialräume", "Territorialität", "Soziotop", "Umwelt", "Netzwerk" und etwa auch "Milieu" neue Zugangsversuche, den Einfluß von eben auch stark räumlich, bis in architektonische Gegebenheiten hin, wirksamen Umgebungsfaktoren auf untersuchtes Verhalten bzw. Handeln detaillierter in den Blick zu bekommen (vgl. Gump, 1975; Bronfenbrenner, 1976, 1981; Bargel/Fauser/Mundt, 1981; Vaskovics, 1982; Baacke, 1983; Altman/Werner, 1985; im Überblick zusammenfassend: Baacke, 1987). Auch aus der Spiele— wie Kommunikations— und Medienforschung, den beiden naheliegenden Zugriffsweisen auf das Phänomen "Spielhalle", ist die Relevanz des Raumfaktors z.T. seit längerem hinlänglich bekannt (vgl. z.B. Gump/Sutton- Smith, 1955; Gump/Schoggen/Redl, 1963; Heil, 1968; Pausch, 1973; Kohli, 1977), wenn auch mit Bezug auf Medien bei uns erst in jüngerer Zeit theoretisch grundsätzlicher durchdacht und empirisch einzuholen versucht worden (vgl. z.B. Lange/Pätzold, 1983; Lüscher, Wehrspaun, 1985; Hengst, 1985; Sander/Vollbrecht, 1987). Wenn der wissenschaftliche Blick dennoch die Spielhalle bislang so gut wie gar nicht als medialen Raum wahrgenommen hat, so liegt dies nicht allein an der Etablierung "gesetzter" Forschungsroutinen und methodischer/methodologischer Inflexibilität (vgl. dazu mit Bezug auf Medienwirkungsforschung allgemein DFG, 1986; Rezension von Kübler, 1987), wie man vielleicht aufgrund der obigen Kritik meinen könnte. In dem kritisierten Manko offenbaren sich vielmehr noch weitaus tiefergehendere Schwachstellen theoretischer Durchdringung des Gegenstandsbereiches. Besonders die folgenden zwei stechen hervor: Zum ersten finden zwar neuerdings Automatenhallen im Rahmen der Diskussion um neue Entwicklungen im Bereich der Informations— und Kommunikationstechniken und der ihnen zugeschriebenen, den Alltag betreffenden Kolonialisierungstendenzen des technisch — ökonomischen Komplexes immer wieder Erwähnung, bleibt aber das, was den Zusammenhang der einschlägigen Unterhaltungsstätten mit den neuen Medienentwicklungen wirklich ausmachen könnte, seltsam nebulös. Gerade, wenn man sich die Parallelität zwischen dem Siegeszug der Bildschirmspiele und der Thematisierung der Spielstätten in der Medien — Debatte vergegenwärtigt, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, Spielhallen werden nur deshalb den medial strukturierten Räumen zugeschlagen, weil

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hier mit Monitoren ausgerüstete Gerätschaften vorfindlich sind. Diese Beobachtung ist freilich zu schlicht, als daß aus ihr weitergehende Überlegungen über die Funktion solcher Räume und der von ihnen bereitgestellten technischen Angebote im Ensemble der alten und neuen Medien und ihrer Weiterentwicklung erwachsen könnten. Was einem derartig oberflächlichen Blick vorenthalten bleibt, ist der Umstand, daß gerade die Spielhalle mit ihren modernen, stark technisch bestimmten Innovationstendenzen und entsprechenden Apparaturen so etwas wie Spielbein— und Eisbrecherfunktionen für die Veränderungen des Raum—Konzeptes durch neue Medienentwicklungen generell erfüllt. Jedenfalls läßt sich an diesem Beispiel das, was an Änderungen in den Realitätskonzepten der Nutzer durch die neue Medienentwicklung insgesamt ausgelöst zu werden scheint, auch in seinen die Raumauffassung betreffenden Aspekten besonders deuüich machen. Schon 1982 hat Klaus Merten den Vorschlag gemacht, Massenkommunikation als "virtuelles Kommunikationssystem" zu begreifen (vgl. Merten, 1982, bes. 35ff.). Damit ist gemeint, daß, da die wechselseitige Wahrnehmbarkeit der Kommunikanden im Massenkommunikationsprozeß nicht mehr gegeben ist, die Kommunikationsteilnehmer gleichsam Vorstellungen von den Vorstellungen des Kommunikationspartners entwickeln müssen. Es werden wechselseitig diffuse Erwartungs —, Meinungs— und Wissensstrukturen ausgebildet und unterstellt, die, da nicht rückkoppelbar an erlebbares unmittelbares Handeln, Verhalten oder Denken, fiktiven Charakters sind. D.h., daß die am Prozeß Beteiligten eine neue, eben "virtuelle" Realität erzeugen, die unbeschadet ihrer womöglich fehlenden "Wahrheit" oder Verbindlichkeit "wirklicher" sein kann als empirisch überprüfbare Strukturen; denn: Wenn Situationen als real definiert werden, sind ihre Folgen real (Thomas, 1932). Medien konstruieren mithin Wirklichkeit, sei es, daß sie im Sinne von agenda setting für ihre Nutzer eine Selektion nach Themen und Präsentationsformen vornehmen, sei es, daß sie zielend auf eine gedachte, virtuelle "Gemeinschaft" von Rezipienten Konsens — Effekte erzeugen bezüglich stilistischer Vorlieben, Gestimmtheiten, Wertvorstellungen, Erwartungshaltungen, Lebensentwürfen usw., sei es, daß sie realen Kommunikationssystemen die mediale Reflexionsdimension aufnötigen. Massenmedien pluralisieren permanent die Vorstell— und Erlebbarkeit neuer "Welten" mit den ihnen entsprechenden Identitätsangeboten und dem verlockenden Angebot, sie zu wechseln wie ein Kleidungsstück. Läßt die Virtualität des Systems der Massenkommunikation die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit generell immer verschwommener werden, so trifft das Moment der Virtualität auch insbesondere den Raum —Bezug des Akteurs im Reich der sich entwickelnden und ausdifferenzierenden Informations— und Kommunikationsnetze (vgl. auch Wersig, 1984). Mit den techni-

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sehen Innovationen, die die integrierenden digitalen Netzwerke mit sich bringen, bekommt die ohnehin schon als Kennzeichen der Moderne bekannte Mobilität und die mit ihr verbundene Pluralität im Hinblick auf lebensrelevante Bezugsgruppen eine neue Dimension. Leibliche Anwesenheit wird bezüglich des Verschaffens und Austausches von Informationen nahezu aller Art und — besonders bedeutsam — bezüglich eigener Wirkfähigkeit zunehmend unwichtiger. Jede(r) kann sozusagen überall sein, und das noch weitgehend gleichzeitig — und dabei seinen/ihren Körper immobil halten. Geistige und körperliche Mobilität fallen zusehends auseinander, wodurch der Raum —Bezug immer prekärer wird: Bin "ich" jetzt dort, wo mein Körper ist, oder dort, wo "ich" telekommuniziere bzw. —wirke? Blenden wir die grundsätzlichen Überlegungen zur Qualität des neuen Medienumgangs auf unseren Gegenstand, die Spielhallen, so ergeben sich von hierher ganz neue, ihre Funktion im Gesamtzusammenhang der neuen Medienentwicklung anpeilende Perspektiven: Wie sind mediale Räume wie Spielhallen am massenkommunikativen Prozeß der Stiftung virtueller Kommunikationssysteme beteiligt und welche Konsentierungsfunktionen übernehmen sie dabei? Welchen Anteil tragen solche mediatisierten "Spielräume" an der Virtualisierung des Raumkonzeptes ihrer Besucher? Bevor wir jedoch erste Schritte auf dem Weg nach Antworten auf diese Fragenkomplexe unternehmen, ist es sinnvoll, diese medientheoretisch akzentuierte Herangehensweise in den Rahmen gesellschaftstheoretischer Überlegungen, zu stellen. Wir versuchen damit, die zweite theoretische Dunkelstelle der bisherigen Spielhallen —Forschung, wenn nicht gar der spärlichen Forschung über mediale Räume generell, ein wenig zu erhellen. Anknüpfend an die Thesen zur neuen Qualität der Vergesellschaftungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland von Beck (1983, 1986) läßt sich ein Beschleunigen der ohnehin in der kapitalistischen Markt— und Konkurrenzlogik schon angelegten "Individualisierungsdynamik" aufgrund der über vor allem durch Massenkonsum, Bildungsexpansion und Mobilitätsprozesse vermittelten sukzessiven Erosion der etwa das Kaiserreich und die Weimarer Republik noch kennzeichnenden "sozial—moralischen Milieus" beobachten. Auch wenn gegenwärtig noch unbestimmbar zu sein scheint, ob die Grundlinien der Strukturiertheit der Klassengesellschaft selbst in Auflösung begriffen sind und womöglich von neuen nicht mehr klassenspezifischen sozialen Ungleichheitsdimensionen und Risikoverteilungen abgelöst werden (Beck, 1986, auch Berger, 1987), so läßt sich zumindest davon ausgehen, daß systemische Position und lebensweltlicher Zusammenhang des Individuums, "Klasse an sich" und "Klasse für sich" oder "Soziallagen" und "Mentalitäten" (Geiger, 1972), aufgrund beobachtbarer Diffe-

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renzierungs — und Pluralisierungstendenzen nicht mehr bedenkenlos in eins gedacht werden können. Eine gleichsam "naturwüchsige" Herausbildung bestimmter "Gesellschaftsbilder", "Klassifikationen", "Topoi", "Klassensemantiken " oder anderer kognitiv — symbolischer Repräsentationen aus festgefügten sozialstrukturellen Lebenslagen heraus oder gar ihre sozialwissenschaftliche "Ableitung" daraus werden immer unwahrscheinlicher. Damit geht der aus seinen kollektiven Bezügen und traditionellen Bindungen und Sozialräumen gelöste "vereinzelte Einzelne" auch der Orientierungsleistungen verlustig, die solche Wertegemeinschaften bislang mehr oder minder übernahmen. Die Suche nach sozialen "Deutungsmustern" wird in erheblichem Maße eine Aufgabe individueller Auswahl und Entscheidung. Die Medien werden bisher im allgemeinen als Mitverantwortliche für solche Entstrukturierungsprozesse von gewachsenen und für ihre Mitglieder verbindlichen Wertemilieus ins Spiel gebracht. "Verdrängung der Direktkommunikation" durch die modernen Medien ist das Stichwort, das diese Sichtweise mit ihrem zumeist klagenden Unterton wohl am prägnantesten zusammenfallt. Manchmal verweist man aber auch — eher die Sonnenseite des Individualisierungsprozesses, die Pluralisierung, als seine Schattenseite, die Atomisierung, im Auge — auf die wachsende "Polymorphie" gesellschaftlicher Kommunikationspotentiale (vgl. Nora/Mine, 1979). Immer mehr scheinen auch gerade die Vernetzungsmedien gleichermaßen Zwänge wie Möglichkeiten zu eröffnen, an unterschiedlichsten Diskursen und ihren Trägergruppen zu partizipieren und weniger zeitkontinuierlich in konkreten Begegnungen als vielmehr tendenziell hochfluktuativ und ohne Bekanntschafts— oder Vertrautheitsvoraussetzungen in Bezug auf die Partner Kommunikation zu betreiben. Die Diagnose einer Ortsdiffusion, die man der Telekommunikation attestieren muß, d.h. die Auflösung der Gebundenheit an leiblich — räumliche Anwesenheit im Prozeß der Kommunikation, darf deshalb auch nicht nur in der nostalgischen Trauer um verlorengegangene sozialräumliche Milieus untergehen oder sich ausschließlich in der Hoffnung auf Lokalisierung und Regionalisierung der Massenmedien (Stichworte: offener Kanal, lokaler Rundfunk) verzetteln. Vielmehr sollte das weiterführende Interesse der Medienforschung vor diesem Hintergrund darauf gerichtet sein, die "Milieuhaftigkeit" neuer, im wachsenden Maße eben medial vermittelter Gruppenbildungsprozesse und "Sozialidentitäten" zu prüfen. Die Frage hieße zugespitzt: Inwieweit sollen (von der Motivation ihrer Nutzer/Besucher her gesehen) und können (von ihren tatsächlichen Orientierungs — Funktionen her gesehen) medial strukturierte Räumlichkeiten mit ihren fiktiv —virtuellen Kommunikationsgemeinschaften Ersatz für Milieu —Leistungen bieten?

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Die Spielhalle als medialer Raum — methodologische Konsequenzen Unter solcher Perspektive die Untersuchung von Spielhallen als medialen Räumen anzugehen, wirft freilich ganz andere gegenstandsbezogene theoretische Problemstellungen und Ansatzpunkte auf und erfordert viel nachdrücklicher noch erheblich andere methodologische und methodische Herangehensweisen als die bisher gebräuchlichen. Grundvoraussetzung ist, daß das Spielhallengeschehen möglichst umfassend in seinen komplexen räumlichen Bezügen analysiert wird. Sie erschöpfen sich beileibe nicht nur in den im engeren Sinne ökologisch—geographischen Gegebenheiten quasi "objektiver" Struktur. Gleichermaßen und umso mehr, als man von einer Abnahme geographisch akzentuierter Raumvorstellungen auszugehen hat, ist an den "sozialräumlichen Aspekt" im Sinne der oben entfalteten Skizze zu denken. Gewiß ist es mehr als ein semantischer Zufall, daß der Terminus "Spielraum" das Umsetzungsfeld wahrgenommener Handlungschancen, einen "Möglichkeitsraum", (Holzkamp, 1983) bezeichnet. Auch in diesem Sinne ist die Spielhalle eben ein "Spielraum"; zumal hier mit Möglichkeiten gespielt werden kann (Raumfiktionen etwa), die jene Milieus nicht bieten können, die Leibanwesenheit der Kommunikationssubjekte als Zugehörigkeitskriterien voraussetzen. Zu einer Analyse einschlägiger räumlicher Aspekte gehört deshalb zumindest, 1. unter mediengeographischem Aspekt den Medienraum "Spielhalle" als Ausschnitt aus dem Gesamt an ökologischen Bezügen in der Biographie seiner Besucher zu begreifen; 2. die Spielhalle selbst in ihrer Charakteristik als medialen Raum mit entsprechendem "Symbolmilieu" zum Gegenstand zu machen und nicht allein auf die in ihr aufgestellten Einzelgeräte zu fokussieren; 3. in den Situationsdefinitionen der Beteiligten (Besucher, Aufsteller, Aufsichtspersonal usw.) Raum - Konzepte freizulegen und sie sowohl auf ihren Zusammenhang mit der räumlichen Struktur der Spielhallenumgebung und deren Inventar als auch im Zusammenspiel damit mit den medialen Angeboten im engeren Sinne, also den Spielformen und — inhalten zu prüfen; 4. dabei insbesondere auf Virtualisierungen der Raumvorstellungen zu achten und 5. Realisierungsgrad, Gestalt und Funktionszuschreibungen konstruierter virtueller Kommunikationssysteme und die von ihnen aufgebauten fiktiven "gleichgesinnten" Kommunikationsgemeinschaften im Hinblick auf Milieu — Ersatz — Funktionen zu ermitteln.

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Ein fokales Spektrum wie dieses basiert auf der Einsicht, daß nie dringlicher als auf dem Hintergrund der technischen Modernisierungen des gesellschaftlichen Kommunikationsnetzes und der gesamtgesellschaftlichen Individualisierungsschübe mediale Räume, wie hier die Spielhalle, in ihrer Funktion als sozialräumliche Experimentierfelder für ihre Nutzer erforscht werden sollten. Dies impliziert, daß eine Erhebung und Analyse sogenannter "objektiver" Daten der Medien(raum)nutzung nur dann Sinn machen kann, wenn sie in Bezug gesetzt werden zu den bedürfnisgeleiteten Interpretationen, Projektionen und Erwartungshaltungen der Medienakteure. Dafür bieten sich als Ausgangspunkte die subjektiven Medienwelten der Medienakteure als Vermittlungszusammenhänge zwischen "— dem historisch—gesellschaftlichen Kontext der Mediennutzung mit seinen sozio — ökonomischen und normativen Bedingungen, — vorgängigen biographischen Erfahrungen mit ihren Deutungsmustern, ihrem Medienwissen und ihrem wie auch immer gearteten Medienhandlungspotential, — den davon mitbestimmten emotionalen, kognitiven und konativen Definitionsanteilen der aktuellen Nutzungssituation und —Wirkung" (Möller/Uhrmeister, 1984a, S. 128) an. Innerhalb eines solchen Kontextes interessieren die räumlichen Schichtungen innerhalb und zwischen alltäglicher und medialer Lebenswelt. Zurückgreifend auf Elemente der Sozialphänomenologie Alfred Schützs lassen sich die räumlichen Schichtungen von Lebenswelt als dem dem Individuum in Selbsthabe gegebenen Ausschnitt des Universums als Zonen unterschiedlicher Erlebensnähe auffassen. Lebens weit wird danach als leibhaftig und räumlich unmittelbar erfahrene Umwelt, als anonymere, mittelbar, vielfach über Medien wahrgenommene Mitwelt, als vergangene Vorwelt und als zukünftige Ereignisse umfassende Folgewelt erlebt (vgl. Schütz, 1932). Diese Welten differieren qualitativ nach Erfahrungs— und Wirkungsreichweiten. Während die Ereignisse der Vor— und Folgewelt in potentieller entweder wiederherstellbarer oder erlangbarerer Reichweite liegen, befinden sich die Zonen der Umwelt und Mitwelt in aktueller Reichweite. Abhängig vom Stand der technologischen Entwicklung und von den sozialen Zugangschancen eröffnet sich innerhalb der Welt der Reichweite eine Zone, innerhalb derer das Subjekt nicht nur Wahrnehmender ist, sondern auch zum Akteur werden kann. Diese Wirk —Welt oder manipulative Zone stellt gleichsam den Kern der Wirklichkeit dar (vgl. Schütz/ Luckmann, 1975).

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Was für die Handlungsvollzüge der Lebenswelt generell gilt, trifft in bestimmter Weise auch auf das längst zum Teil der Alltagspraxis gewordene mediale Agieren zu. Allerdings schaffen die Medien, vor allem die der Unterhaltung dienenden, auch ihre eigenen Welten. Sie beziehen ihre Anziehungskraft meist gerade aus dem Umstand, daß sie die Möglichkeit zum Ausbruch aus den Alltagsregeln offerieren können. Solche medieninduzierten Wirklichkeiten sind dann tatsächlich eigene umschlossene Sinnprovinzen mit je eigenem spezifischen Erlebnis— und Erkenntnisstil, einer eigentümlichen Bewußtseinsspannung und Spontaneitätsform, entsprechender Sozialität und Selbsterfahrung sowie Zeit— und Raumauffassung (vgl. dazu Schütz/Luckmann, 1975). Gerade auch die Medienszene einer Spielhalle zeichnet sich durch die Doppelung der Realitätsebenen aus. Auf der einen Seite ergibt sich ihre Alltagsnähe neben der Selbstverständlichkeit ihrer Existenz für ihre Besucher, ihrer steten Verfügbarkeit und ihrer kommerziellen Verwertung vor allem aus der manchem paradox erscheinenden Ähnlichkeit von Spiel und Arbeit. Kulturanthropologische Studien (vgl. z.B. Elkonin, 1980, S. 51—97) sowie Funde archaischen Kinderspielzeugs legen Zeugnis für die etwa bereits von Wundt vertretene Ansicht ab, daß das Spiel "Kind der Arbeit" ist (vgl. Wundt, 1886). Spiel verarbeitet in spezifischer Form gesellschaftliche Praxis, kann sie abbilden, einüben, kolportieren und reflektieren. Es ist wie Arbeit eine tätige Auseinandersetzung mit der Umwelt im Interesse einer gesicherten Lebensbewältigung. Beide Tätigkeitsweisen beziehen ihre Motivation aus einem "Bedürfnis nach Realitätskontrolle" (vgl. Holzkamp —Osterkamp, 1976; Möller, 1988). Sie sind bewußt auf den Umgang mit gegenständlichen und symbolischen Bedeutungen bezogen. Allerdings — und damit kommen wir zur alltagsabgewandten Seite der Spielmedien und der von ihnen beherrschten Raumszenerie — unterscheiden sich Arbeits— und Spieltätigkeit fundamental im Hinblick auf die ihnen immanente intentionale Orientierung auf Realitätsgebiete. Die produktive Ausrichtung der Arbeit ist auf die bewußte Kontrolle des Alltagslebens gerichtet und ihr von daher unmittelbar verhaftet. Spiel dagegen lebt sich in einem separaten Realitätsgebiet aus, in einer erdachten Situation. Die äußere Umgebung seiner Medien ist zwar real vorhanden, und Handlungen werden in ihr real und mit realen Gegenständen ausgeführt, doch das Ambiente hat stark symbolischen Gehalt. Spielen heißt Handeln in einer fiktiven "Als —ob —Realität", in der ein spezifisches symbolisches Bedeutungsfeld vorgegeben ist und ständig neu konstruiert wird. Entsprechend ist die Spielhalle von außen betrachtet Teil des Alltagslebens, generiert jedoch selber wiederum eine alltagsferne Symboiwelt, die für die in sie Eingeschlossenen nicht minder real ist.3 Schon ein kurzer phänomenographischer Blick auf die äußere Aufmachung und die Raumästhetik moderner Spielhallen (vgl. dazu kurz Möller/Uhrmeister,

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1983) vermag die synthetische, durch akustische, optische und weitere architektonische Akzente erzielte Alltagsferne ihres Symbolmilieus zu erkennen geben. In dem augenscheinlichen Bemühen, eine Symbiose zwischen Mutterbauch— und Raumschiff — Assoziationen herzustellen, wird mit Hilfe diverser dezent verkleideter Gemütlichkeits—Techniken ein Behaglichkeits — Milieu zu schaffen gesucht, in dem sich moderne Technik, diametral gegensätzlich zur Maschinenanwendung in der Arbeitswelt, im nett — unterhaltsamen Gewand präsentiert. Die Szenerie liefert einen von den Alltagserfordernissen scheinbar abgeschütteten Handlungsraum, der an im Schützschen Sinne "vorweltliche" Raumerfahrungen anknüpfen kann, gleichzeitig aber folgeweltliche Assoziationen zu integrieren versucht und seinem Akteur Mitweltwissen in wirkungsrelevante Umwelterfahrungen zu transponieren gestattet. Die besondere Attraktivität der Sinnprovinz Spiel verdankt sich vermutlich in erster Linie ihrem Angebot "fiktiver Identifikationspunkte" (Wygotski, 1980). Spiel erlaubt den zeitweiligen Wechsel der Identität, das Schlüpfen in eine andere Haut, das Einnehmen anderer (meist sehnlichst erwünschter) Rollen. Der Spieler kann der sein, den er spielt. Die Alltagsdistanz des Spiels kann so einerseits Kompensationserfahrungen für reales Versagen wie auch die vorübergehende "Als—ob—Erfüllung" von Bedürfnisutopien bieten, dabei sogar evtl. Wünsche zu "Interessen" sublimieren, als auch andererseits kontrollierend für das alltägliche Handeln wirken. Gerade das "Außer —sich —sein" in fiktiven Identitäten bietet "eine Art Reflexion" (Elkonin, 1980, S. 428) sowohl der spielerischen Handlung als aber auch der Handlungsmuster der Realität. In dieser zweifachen Hinsicht vermag der Spieler seinen "Spielraum" zu erproben. Solche Virtualisierungstendenzen von Realität, als Eigenart von Spiel also allgemein bekannt, aber in eine spezifische Sinnprovinz verbannt, sind nun aber auch — wie oben skizziert — Spezifika der neuen Qualität informations— und kommunikationstechnischer Entwicklungen, die den Alltag betreffen. Je mehr die Selbstverständlichkeiten und Verläßlichkeiten einer an die Leiblichkeit gebundenen Defintion des Standorts der Person in Zeit und Raum schwinden, je mehr "Welten" medial eingeholt und partizipierbar werden, um so eher wird mediales Handeln nolens volens zum Ausfüllen von Handlungs —"Spielräumen", zur Interpretationsaufgabe, zum Experiment mit den Grenzen des Erfahrungs— und Wirkungsraums in Umwelt und Mitwelt sowie in den Zeiträumen von Vor — und Folgewelt. Während das Wechseln in die Spielrealität aber noch explizit eine "Auszeit" vom Alltag markiert, sind neue medienvermittelte Realitätsdefinitionen an der Konstruktion von Alltag selbst beteiligt.

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Virtualisierungstendenzen durch spielerischen BildschirmUmgang Die Nahtstelle zwischen spielerischen und medialen Virtualisierungen und damit gleichzeitig die Vorhut der neuen medialen Möglichkeiten bilden die den Spielhallen—Boom auslösenden Bildschirmspiele. Dies vermag eine Inhaltsanalyse der einschlägigen Software und die Fokussierung auf strukturelle Momente der von ihnen ausgehenden Verhaltensforderungen an den Nutzer zu erweisen. Vergleicht man die Umwelt der Figuren auf den elektronischen Spielplätzen einmal mit den phantasierten Handlungsräumen von Jugendlichen (vgl. Jugendwerk 1981) so treten erstaunliche Parallelen zutage. Alternativräume, Schlaraffenlandphantasien, narzißstische Projektionen, zivilisatorische Abenteuerszenarien und Weltall — Futurologien finden sich hier als traumhafte Alltags — Flips in ein Action—Gerät umgesetzt. Im Angebot der gängigen "soft technology" der Spielhalle dominieren dabei jedoch recht deutlich die beiden letztgenannten (Alp—)Traumorte. Im Anschluß an die Auswertung der Shell —Studie und auch an die Knoll — Untersuchung von 1986 kann geschlossen werden, daß sie in erster Linie das Phantasiematerial für die großstädtisch geprägte Vergnügungs — und Spannungskultur der vornehmlich jugendzentrierten, männlichen Arbeiterjugendlichen bereitstellen. Für diese Vermutung sprechen auch die im Extrem bis zu Gleichgültigkeit und Destruktivität reichende Aufgeschlossenheit dieser Gruppierung gegenüber futurologischer Technologie und ihre Vorliebe für zwar action —bezogene, aber nicht ganzheitlich körperbetonte Flips. Science fiction— und Zivilisationsutopien ä la "Star War"—games erlauben raumzeitliche Grenzüberschreitungserfahrungen, indem sie Folgewelt—Phänomene in die Spieltätigkeit integrieren bzw. ferne Medien—Welten zur Comic —Umwelt heranholen. Deren Tätigkeitsanforderungen sind bei der marktgängigen Software im wahrsten Sinne des Wortes auf die Sicherung des (Handlungs)Spielraums bezogen. Ihr Spektrum bewegt sich dabei zwischen den Polen von Revier — bzw. Besitz — Sicherung einerseits und Verfügungserweiterung andererseits oder anders ausgedrückt: zwischen Verteidigen und Erobern (vgl. Möller, Uhrmeister, 1984b). Wie auch immer die Anteile der Pole in der konkreten Spiel — Software ausfallen, in jedem Fall vermag das Spiel das Erlebnis eigener Kontrollfahigkeit innerhalb einer von Gefahrdungen und Widernissen durchsetzten (Spiel)Welt zu verschaffen. Aufgrund der technischen Möglichkeiten gezielten Bildschirmeingriffs zeichnet es dabei ein Selbstbild vor, das auf Fähigkeiten wie "Geschicklichkeit", "Können", "Reaktionsschnelligkeit" etc. beruht und das gleichzeitig über das scharf konturierte Profil eines Comic —Helden zu verfügen gestattet. Es erlaubt daher auch eine Fremdpräsentation, die die personale Bedeutung an dem Erbringen von (allerdings abstrakter; vgl. Fritz, 1982) Leistung festzumachen gestattet. Das gegebene technische Arrangement ist durchaus dazu angetan, das Gefühl spielerischer Kontrollfahigkeiten auch auf andere Technikbe-

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reiche transferierbar werden zu lassen und so die Illusion zu nähren, eine anderweitig bedrohliche Technik bei entsprechender individueller Anstrengungsbereitschaft doch im Griff halten zu können. Sind dies durchaus Orientierungen, die Alltagserfordernissen entgegenkommen, so werden sie doch in einer spezifischen Als—ob—Realität realisiert, die — wie erwähnt — in räum—zeitlicher Hinsicht als aber auch in Bezug auf Emotionalität und Normen alltagsfern ist. Das Spielleben ist voller Höhen und Tiefpunkte. Es erlaubt, zusammengeballt auf Sekunden, Gipfelpunkterlebnisse von Liebe und Hass, Tod und Wiederauferstehung, Vernichten und Retten, kurzum Abenteuer, wie der Alltag sie nicht bietet oder gar darüber hinaus negativ sanktioniert. In dieser Art Realitätsverdopplung tritt das Faszinationselement alltagsweltlichen Bruchs zutage, das D. Prokop (1979) bezeichnet als "das voyeuristische Vergnügen, mit der Grenze zwischen der Oberflächenrealität' und der 'geheimen, subtilen Realität' zu spielen, ohne sie selbst zu überschreiten" (ebd., S. 2). Dies alles baut auf der gerade für die neuen Informations— und Kommunikationstechniken kennzeichnenden Voraussetzung auf, vermittels diverser Steuerregler sozusagen jedermann Einflußmöglichkeiten auf ein laufendes Mattscheibengeschehen zu gewähren und gar die Illusion zu verschaffen, per Identifikation mit einer steuerbaren Figur auf dem Bildschirm einen Realitätssprung vollziehen und sich in die dort vorgezeichnete Szenerie hineinversetzen zu können. Die damit einhergehende tendenzielle Entzeitlichung und Enträumlichung der Erfahrungswelt, verbunden mit der relativen Körperlosigkeit des Automatenspektakels und der weitgehenden Kontextisolierung der Medieninhalte, verändert die Verstehensgrundlagen der über diese Medien transportierten Botschaften. Zunehmende Zeichenanonymität verdrängt den durch Gesten, Mimik, Leibhaftigkeit und okkasionelle Gegebenheiten gekennzeichneten "natürlichen" Handlungsrahmen kommunikativen Austausches. In Anlehnung an Schütz/Luckmann (1975) kann daraus geschlossen werden, daß die Fähigkeit, den gemeinten Sinn zu verstehen, in wachsendem Maße eingeschränkt wird, denn zum Verständnis subjektiven Sinns gehört wesentlich die Betrachtung des Sinnzusammenhangs, der im Moment des Erzeugens des Zeichens dem Erzeuger gegeben war. Diese bei isolierter Nutzung industriell vorgefertigter Medienprodukte generell vorhandene Schwierigkeit — oben wurde ja bereits auf die Virtualität des Massenkommunikationssystems hingewiesen — wird insbesondere bei den Bildschirmspielen dadurch verschärft, daß sie solche symbolisch—anonymen Nahwelten mittels elektronisch realisierter Eingriffsmöglichkeiten über Identifikationsfiguren zu medialen Wirkwelten aufwerten. Fundamental anders als bei bloßer Medienrezeption, wie wir sie vom Fernsehen oder Kino her kennen, kann hier Medien(als — ob)realität im wahrsten Sinne des Wortes "Wirk"lichkeit werden. Der Ablauf der Bilder und damit des Geschehens scheint dem Willen

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des Gerätenutzers unterworfen zu sein. Der von der Medienbotschaft ausgehende AufForderungscharakter an ihren Rezipienten stellt sich dadurch als Verhaltenserwartung dar. Da der vom phantasierten Spielgegenüber ausgehende Impuls nicht direkt—kommunikativ vergewisserbar ist, gerät die ansonsten verläßliche Basis der bewußt — intentionalen Motivationsorientierung des Handelns ins Wanken und verkommt das "abgerufene" Verhalten zu einer der eigenen bewußten Kontrolle weitgehend entzogenen bloßen Reaktion. Unter diesen Voraussetzungen wird die Wirkwelt zur Reaktionswelt degradiert. Gleichwohl erlebt der Spieler das Geschehen nicht nur passiv mit, sondern erfahrt sich als aktiv Handelnden, etwas Bewirkenden. Wie verquer und rudimentär diese Erfahrung auch immer sein mag, sie stellt die Grundcharakteristik dar, die die neuen Perspektiven des Umgangs mit dem Bildschirm auszeichnet. Sie bringt eine wesentliche Veränderung lebensweltlicher Erfahrungshorizonte mit sich. Die Reichweite der Wirkzone des eigenen Handelns, als Kern dessen, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, wird sich ausweiten. Leiblicher Kontakt ist für sie kein Konstitutionsmerkmal mehr. Fernwirken heißt das neue Stichwort. Die Vernetzung von Computern untereinander, vor allem auf dem jetzt mit Macht technologiepolitisch vorangetriebenen Niveau der Glasfaser—Vermittlung, ist nur der konsequente nächste Schritt auf dem Weg zur Etablierung des Bildschirms als Betätigungsfeld, ja als Arbeitsmittel. So gesehen, sind die Videospielereien in Spielhallen und anderswo nichts anderes als der Ansatz zum Sprung in die Grauzone noch zu entdeckender Computerwirkwelten.

Fazit: Die Relevanz von Spielhallen innerhalb der aktuellen Medien — Diskussion ergibt sich nicht aus der Tatsache, daß sie aus der Sicht des Jugendmedienschutzes für jugendgefährdende Orte gehalten werden. Sie erschöpft sich auch nicht darin, den Textinhalt einer Strophe im Klagegesang von der Technisierung und Kommerzialisierung der medial bestimmten Freizeit abzugeben. Was Spielhallen zu einem respektablen Forschungsgebiet auch insbesondere innerhalb pädagogisch akzentuierter Medien— und Kommunikationswissenschaften macht, ist vielmehr der Umstand, daß hier kommunikationskulturelle Problemlagen der aktuellen Informations— und Kommunikationstechnologie — Entwicklungen aufzutreten scheinen. Spielhallen als mediale Räume in den Blick zu nehmen, erhält in diesem Rahmen dadurch Sinn, daß hier quasi im Vorschein auf Vernetzungsmedien (vgl. dazu Möller, 1985) Virtualisierungen des Raum — Konzepts zum Gegenstand der wissenschaftlichen Beobachtung gemacht werden können. Sie gestatten, die zunehmende Polymorphie gesellschaftlicher "Phantom —Kommunikation" auch

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auf dem Hintergrund epochaler Wandlungsprozesse der Vergesellschaftungsmodi der Individuen zu diskutieren. Erforschung medialer Räume heißt deshalb nicht nur, eine Inventarbestimmung von mit Medien ausgestatteten Räumen zu unternehmen, sondern auch auf (Sozial— )Raumkonstruktionen, die medienerzeugt sind, zu fokussieren. Solche Medien(als — ob)realitäten oder Medienwelten sind sowohl in ihren durch die Medienprodukte transportierten Inhalten als auch in der Anforderungsstruktur des medialen Geräts an Wahrnehmungsweise, gegenständliche Tätigkeit und Interaktionsgebaren seiner Nutzer zu analysieren. Da Medienwelten nur insoweit konstruiert werden, als ihre Träger sie entsprechend definieren und mit subjektiver Funktionalität für ihre Lebensvollzüge belegen, gilt es, die (Multi)Funktionalität verschiedener Medien und Medienorte in verschiedenen Mediennutzungssituationen freizulegen und ihre sozial—kommunikative Einbettung zu reflektieren. Dabei drängt sich im Zuge zu konstatierender neuer Modi der Vergesellschaftung die Frage auf, inwieweit räumliche Elemente der beobachtbar zunehmenden Virtualisierung des gesellschaftlichen Kommunikationssystems möglicherweise als Ersatzleistungen für aufgelöste oder sich auflösende sozialräumliche Einbindungen fungieren, gleichsam Milieu — Surrogate bilden (können). Unter einer solchen Perspektive kann vorerst freilich kaum eine andere als qualitativ angelegte Forschung wirklich relevante Erkenntnisse verschaffen. Subjektive Medienwelten erschließen sich nämlich in ihren vielfaltigen subjektiven Funktionszusammenhängen erst dann, wenn Instrumentarien nicht standardisiert, sondern offen genug angelegt sind, biographische Zusammenhänge, situative Kontexte und den Bedeutungsgehalt medial konstruierter nicht — alltäglicher Sinnprovinzen (Phantasien, Träume z.B.) überhaupt erst einzufangen und damit ihre Beteiligung an der Konstitution sozialer Interaktion und der Gestaltung der Umwelt überhaupt zu thematisieren.

Anmerkungen 1 2

3

Die Zitate entstammen Werbebroschüren der Automatenwirtschaft. Mit Recht haben bereits König u.a. (1969) darauf verwiesen, daß "Langeweile" bzw. der Wunsch nach "Zeitvertreib" nicht in den Rang motivationaler Erklärungen erhoben werden können: "Es bleibt unklar, warum Personen, die sich langweilen, an Geldautomaten spielen und nicht andere Dinge tun z.B. ein Kino besuchen, einen Kriminalroman lesen ..." (ebd., S. 8). "Die Entstehung des fiktiven Feldes, wobei aber die Bewegung in ihm wie in einem realen vor sich geht, ist der genetische Hauptwiderspruch des Spiels." (Wygotski, 1980). In der Spielphantasie lösen sich die Gedanken vom Gegenstand. Der Stock, auf dem das spielende Kind "reitet", indem es mit ihm hüpft, wird zum Pferd. Die Bedeutung verdrängt die Relevanz des Gegenstandes. Er wird zu einer dinglichen Stütze für die Bedeutung degra-

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diert. Die Bedeutung ist auch wichtiger als die tatsächliche Handlung. Wie im Spiel ein Gegenstand für einen anderen steht, so ersetzt auch eine Handlung eine andere (Hüpfen als "Stütze" der realen Handlung wird zum Reiten) (vgl. Wygotski, 1980).

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