Puskin- und Gogol-Studien
 9783412213497, 9783412205652

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BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE NEUE FOLGE Begründet von HANS-BERND HARDER (†) und HANS ROTHE Herausgegeben von KARL GUTSCHMIDT, roland Marti, PETER THIERGEN, LUDGER UDOLPH und BODO ZELINSKY

Reihe A: slavistische forschungen Begründet von Reinhold Olesch (†)

Band 69

Puškin- und Gogol’-Studien

von

Rolf-Dietrich Keil

2011 BÖH LAU V E R L A G K Ö L N WEIM AR WIEN

Rolf-Dietrich Keil war Studienprofessor für Didaktik des Russischunterrichts an der Universität Bonn und Begründer der Deutschen Puškingesellschaft.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20565-2

Inhalt Vorwort

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9

Zur Deutung von Puškins „Pamjatnik“

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11

Parny-Anklänge im „Evgenij Onegin“

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51

Der Fürst und der Sänger – Varianten eines Balladenmotivs von Goethe bis Puškin ........................................................................................................ 63 Nerukotvornyj – Beobachtungen zur geistigen Geschichte eines Wortes .................................................................................................... 111 Puškins „Akvilon“ ................................................................................................................ 157 Commentationes philologicae. Fünf kleine Puškin-Studien mit einem Vorwort

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169

Warum ich Puschkin übersetze

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185

Der Gefangene der Übersetzer

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189

Pouchkine et Florian ............................................................................................................ 197 Puschkin und die Romantik in Russland

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203

Was heißt „ljubonačalie“? – Zu einer neueren Interpretation von Puškins „Fastengebet“ ................................................................ 217 Florenz und Petersburg oder: Puškin und Foscolo ................................................ 221 Uvida vestimenta poetae. Eine Horaz-Reminiszenz in ovidischer Umgebung (Zu Puškins Gedicht „Arion“) .......................................... 231 Puschkin und Goethe oder „Was ist Wahrheit?“

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Слава, Свобода, Гордость Überlegungen zu Puškins letztem großen Gedicht Der Versroman „Jewgeni Onegin“ (1823–1832)

237

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247

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253

Nachahmung als Selbstdarstellung in der späten Lyrik Puškins .............................................................................................. 265 «Как Сади некогда сказал» – Из наблюдений над ориентализмом Пушкина .................................................................................... 275 Tjutschew und Puschkin .................................................................................................... 279

6

Inhaltsverzeichnis

Puškin und Plutarch

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287

«Я слишком с Библией знаком» или ветхозаветная Троица у Пушкина ............................................................................................................ 291 Traduttore – Traditore? Zum Schicksal eines Puškin-Zitats in deutschen Dostoevskij-Übersetzungen ................................................................ 295 Пушкин о «Девственнице» Вольтера – этапы одной переоценки ................................................................................................ 301

Gogoľs „Krovavyj bandurist“ – Versuch einer Deutung

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307

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317

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323

Doch noch Neues zu Gogoľs „Mantel“? Gogoľ und Paulus

Gogoľ im Spiegel seiner Bibelzitate ............................................................................ 335 Поэма und перл создания – Gogoľs ästhetisches Ideal und die Gattung der „Toten Seelen“ ................................................................ 357 Ein locus amoenus in „Revizor“? oder: Gogoľ als Parodist Puškins .............................................................................................. 373 Gogoľs Deutsche. Folklore – Erfahrung – Fiktion

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381

Was bedeutet «иным ключом» im Proömium des 7. Kapitels der „Toten Seelen“? (Nicht nur ein Übersetzungsproblem) ............................ 409

Namensverzeichnis

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417

Buchveröffentlichungen von R.-D. Keil zu Puškin und Gogoľ ...................... 425 Nachweis der Erstveröffentlichungen

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427

Dem ehrenden Andenken meines Doktorvaters Vsevolod M. Setschkareff

Светлой памяти моего учителя Всеволода Михайловича Сечкарева

Vorwort

Die hier vorgelegte Sammlung von Aufsätzen, Vorträgen und Miszellen ist eine Art Retrospektive auf meine fast 5Ojährige Beschäftigung mit Puškin und die in den letzten 20 Jahren daneben entstandene Aufmerksamkeit für Gogoľ. Die Beiträge sind chronologisch nach dem Datum der Erstveröffentlichung geordnet. Ein paar bisher nicht veröffentliche Stücke gerieten dadurch ans Ende der Reihen. Der Charakter der Texte variiert zwischen streng philologischen Untersuchungen und Interpretationen sowie Darstellungen, die für ein breiteres Publikum bestimmt sind. Entsprechend sind auch die Quellen nicht nur in Fachzeitschriften oder Festschriften zu finden, sondern auch in Publikationen von Vorträgen, Ausstellungskatalogen u. dgl. Dies war einer der Gründe, die mich veranlassten, alle diese z. T. an unvermuteter Stelle publizierten Texte zur gleichen Thematik in einer Art Zusammenschau zu vereinigen. So konnten auch einige russische Publikationen berücksichtigt werden, die außerhalb Russlands kaum bekannt sein dürften. Bedeutsam für die Entstehung vieler dieser Texte waren zwei Umstände: zum einen mein Engagement als Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender (1987–2003) der Deutschen Puschkin-Gesellschaft, zum andern meine Erfahrung als literarischer Übersetzer, die manche Fragestellungen und Sichtweisen bedingten. Aus diesem Grunde habe ich auch meine kurze Danksagung anlässlich der Verleihung des Übersetzerpreises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (1983) in diese Sammlung aufgenommen. Die Verschiedenartigkeit der Ausgangstexte, die zur Weiterverarbeitung gescannt wurden, erklärt die uneinheitliche Transkription russischer Namen, ich halte dies für nicht wirklich problematisch. Im Namensregister ist aber durchgehend die wissenschaftliche Transliteration benutzt worden, mit Ausnahme der Zarennamen, die in der im Deutschen üblichen Schreibweise erscheinen. Sehr wenige sachliche Fehler, die in den Ausgangstexten entdeckt wurden, sind verbessert worden. Für etwa übersehene Fehler trage ich allein die Verantwortung.

10

Vorwort

Mein herzlicher Dank gilt Herrn Professor Dr. Ludger Udolph, der die Idee zu diesem Buch freudig aufnahm und ihre Umsetzung zielstrebig förderte, sowie seinem Team am Institut für Slavistik der Technischen Universität Dresden, das unter der Leitung von Frau Alena Naumann die Digitalisierung der Texte vorbildlich besorgte. Ebenfalls zu danken habe ich Frau stud. phil. Ulrike Lang und Frau stud. phil. Ludmilla Lemke für die Bearbeitung der Vorlagen sowie dem Grafikdesigner Herrn Dipl. Ing. Hagen Hultsch für die grafische Umsetzung und die umsichtigen Satzarbeiten. Nicht zuletzt möchte ich den Herausgebern der „Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte“ dafür danken, dass sie meine Textsammlung in ihre Reihe aufgenommen haben, und dem Verlag Böhlau für die Betreuung und Gestaltung des vorliegenden Buches. Meckenheim, Mai 2009

Rolf-Dietrich Keil

Zur Deutung von Puškins „Pamjatnik“ Ocтавь герою cepдце! Пушкин

1 Puškins „Pamjatnik“ ist schon sehr oft Gegenstand von Interpretationen gewesen, die meist darauf hinausliefen, eine Lösung des Widerspruches zu finden und annehmbar zu machen, der den Interpreten zwischen dieser nahezu letzten Aussage des Dichters über seine Dichtung und seinen früheren Äußerungen zu diesem Thema zu bestehen schien. Dabei wurde entweder versucht, die früheren Stellungnahmen (z. B. „Poėt i tolpa“, das Sonett „Poėtu“ u. v. a.) als Ausflüsse momentanen Unmutes zu bagatellisieren oder, umgekehrt, das Gedicht „Pamjatnik“ als ebenso momentanen „Selbstverrat“ abzutun, oder eine grundsätzliche Wandlung in den ästhetischen Anschauungen des reifen Puškin anzunehmen. Während diese letzte Möglichkeit besonders in jüngster Zeit bevorzugt wurde, erfreut sich die erste schon seit Pypin großer Beliebtheit, die zweite (Evlachov) hat nur wenig Anhänger gefunden und ist heute in Russland natürlich unbeliebt. Einen gewissen Ausgleich „auf höhere Ebene“ hat Vladimir Solov’ev versucht, ohne allerdings rechten Widerhall zu finden. Alle diese Deutungen, soweit sie zu seiner Zeit schon verbreitet waren, hat dann Geršenzon 1919 aufgegriffen1 und angegriffen. Er geht, wohl zu Recht, davon aus, dass Puškin seine ästhetischen Grundanschauungen nicht geändert habe, und folgert, das Gedicht „Pamjatnik“ sei weder ein stolzer Rückblick und Ausblick noch gar „Selbstverrat“, sondern – in konsequenter Fortführung der so oft zitierten programmatischen Gedichte vom Dichter – „ein einziger unterdrückter Seufzer“ angesichts des unausbleiblichen Missverstehens der Dichtung durch das Volk. Die Gründe, die Geršenzon für seine Auffassung aus dem Text des Gedichtes selbst und aus dem übrigen Werk Puškins anführt, sind sehr captios und verdienen eine ernsthafte Auseinandersetzung. Zustimmung scheint seine Interpretation, wenigstens öffentlich, nur bei D. S. Mirsky2 gefunden zu haben. Bei der Lage der Dinge in der Sowjetunion ist das nicht verwunderlich. Auch ich halte Geršenzons Deutung für anfechtbar und werde sie anfechten, aber zuvor scheint mir eine grundsätzliche Frage gestellt werden zu müssen: Besteht überhaupt ein Anlass, im „Pamjatnik“ einen Widerspruch zu Puškins 1 2

M. GERšEnZOn: Pamjatnik. In: Mudrost’ Puškina. M. 1919, S. 49–68. D. S. MIRSky: Pushkin. London 1926, S. 215 und 238.

12

Puškin

ästhetischem Programm zu sehen? Mit anderen Worten: Ist das „Thema“ dieses Gedichtes überhaupt mit dem von „Poėt i tolpa“ und ähnlichen vergleichbar oder gar gleichzusetzen? Darauf ist meines Erachtens nur mit einem klaren nein zu antworten. Das Thema des „Pamjatnik“ ist weder das Verhältnis des schaffenden Dichters zu seiner Umwelt (außer in der letzten Strophe), noch seine Freiheit in Auswahl und Bearbeitung seiner Stoffe, noch seine alleinige Zuständigkeit für die kritische Beurteilung des Geschaffenen, sondern Wert und Würde seines abgeschlossenen Werkes als Leistung und, darin beschlossen, als Ausstrahlung in die Zukunft. Von diesem Thema her bekommen die einzelnen Worte ihr spezifisches Gewicht. In diesem kontext müssen sie zunächst gelesen und verstanden werden. Dabei wird sich u. a. zeigen, dass narod in diesem Gedicht nicht gleichzusetzen ist mit dem bessmyslennyj narod, dem narod neposvjaščennyj aus „Poėt i tolpa“, sondern nur identisch sein kann mit jenem Volk, das in der ersten Strophe gemeint ist in der Zeile k нему нe зapocтет нapoдная тpona

die doch wohl niemand als Ironie oder Resignation deuten würde.

2 Bevor ich auf solche Einzelheiten eingehe, scheint mir noch ein Aspekt erwähnenswert, der zwar in den Sachkommentaren der Editionen vermerkt zu werden pflegt, in den meisten Interpretationen aber – einschließlich der Geršenzons – außer acht gelassen3 wird. Dieses Gedicht ist neben allem anderen auch eine bewusste nachbildung (podražanie) eines literarischen Musters. Schon das Motto „Exegi monumentum“ weist darauf hin. Trotzdem wäre es falsch, das Gedicht „Pamjatnik“ nur als „podražanie“ von Horazens berühmter Ode (III, 30) anzusehen. Allein der Umstand, dass in der glücklicherweise erhaltenen Handschrift4 „exigi“ statt „exegi“ steht, spricht dagegen, dass Puškin den lateinischen Text zur Hand gehabt hat; er hat offenbar, wie so häufig, auswendig zitiert. Doch war ihm das horazische Gedicht von Jugend an vertraut und sicher in seinen Grundzügen gegenwärtig, und vor allem – hier ist die Parallelität wirklich vollkommen – befand er sich als Autor und Herausgeber in einer Lage, die der Horazens bei Abfassung der erwähnten Ode sehr ähnlich war. 3

4

Berücksichtigt ist dieser Aspekt u. a. in der Studie von W. LEDnIckI: Grammatici certant. In: Harvard Slavic Studies II, 1954, S. 241–263. In der älteren und neueren russischen Puškin-Literatur wird hin und wieder Horaz, fast immer Deržavin erwähnt, aber gewöhnlich nur zum Vergleich mit Puškins vierter Strophe herangezogen. Dabei wird eine Parallele zwischen zwei einzelnen Gedanken gezogen, ohne deren Platz und Funktion in der Gesamtstruktur der verglichenen Gedichte zu beachten (s. u.). Vgl. das Faksimile der Reinschrift in der Akademie-Ausgabe cJAVLOVSkIJS, M.-L. 1936, Bd. II, S. 112.

Puškins „Pamjatnik“

13

Horaz bereitete im Jahre 23 v. chr. die Herausgabe seiner carmina in drei Büchern vor und schrieb zu diesem Zweck die Gedichte I, 1 als Widmung an Maecenas5 und III, 30 als Abschluss – beide im gleichen Versmaß – zur Abrundung seiner wohldurchdachten Anordnung. Puškin war im Jahre 1836 mit der Vorbereitung einer einbändigen Gesamtausgabe seines ganzen lyrischen Werkes6 beschäftigt. Es liegt nahe, dass er bei dieser Beschäftigung nicht nur zu einem Rückblick auf das Geleistete angeregt, sondern unmittelbar an Horaz erinnert wurde. Selbst wenn er die Umstände der Entstehung dieser Ode nicht gekannt haben sollte, so war ihm doch ihr Platz am Ende des dritten Buches der Oden und die in allen Horazviten und -kommentaren erwähnte viel spätere Herausgabe des vierten Buchs sicher bekannt und Anlass genug. Er mag sich auch erinnert haben, dass er schon einmal, im Winter 1823, versucht war, Horazens stolzes Bekenntnis zu zitieren. (Im Entwurf der letzten Strophe des 2. kapitels von „Evgenij Onegin“ hieß es: И этот юный стих небрежный Переживет мой век мятежный. Могу ль воскликнуть, о друзья: Exegi monumentum я. bzw. Воздвигнул памятник и я.

Es lässt sich vermuten, dass das Gedicht „Pamjatnik“ als Abschluss des Bandes, zumindest als Abschluss der vorletzten Abteilung „Podražanija drevnim“, gedacht war. Wir haben also einen begründeten Anlass, in diesem Gedicht eine Art poetischer Summa zu sehen, wozu man ja durch den fünf Monate nach Abfassung eingetretenen Tod ohnehin versucht war. Somit ist die Wichtigkeit, die dem „Pamjatnik“ von jeher bei den Interpreten zugeschrieben wurde, wohl auch von Seiten Puškins gegeben und gerechtfertigt. Umso sorgfältiger wird die Deutung sich um eine allseitige Erfassung bemühen müssen.

3 Ist so die innere Beziehung zu dem horazischen Vorbild vor allem durch den Anlass zur Abfassung des „Pamjatnik“ zu umschreiben, so bleibt zu fragen, ob etwa ein anderes Gedicht Puškin als Muster gedient hat, als er das seine schrieb. Bevor wir auf diese schon von Ja. k. Grot richtig beantwortete Frage näher eingehen, sind einige andere darüber geäußerte Vermutungen kurz zu betrachten. 5 6

Auch diese Ode begann Puškin zu übersetzen: „carej potomok, Mecenat“ (1833). nach den Aufschriften auf den Sammelmappen gegliedert in: Stichtvorenija liričeskie; Poslanija; Ėpigrammy, nadpisi i proč.; Ballady i pesni; Sonety; Stichi sočinennye vo vremja putešestvija (1829); Pesni zapadnych slavjan; Vol’nye podražanija vostočnym stichotvorenijam; Prostonarodnye skazki; Podražanija drevnim; Raznye stichotvorenija. (Vgl. A. S. PUškIn, Poln. sobr. soč. v desjati tomach. M. 1957, Bd. III, S. 535).

14

Puškin

In einer der neuesten Monographien über Puškin7 wird auf eine, allerdings in Prosa geschriebene, Parallele bei Radiščev hingewiesen. Es handelt sich um den Beginn des „Slovo o Lomonosove“ am Ende des „Putešestvie iz Peterburga v Moskvu“: Не столп, воздвигнутый над тлением твоим, сохранит память твою в дальнейшее потомство. Не камень со иссечением имени твоего пренесет славу твою в будущие столетия. Слово твое, живущее присно и вовеки в творениях твоих, слово российского племени, тобою в языке нашем обновленное, прелетит в устах народных зa необозримый горизонт столетий. Пускай стихии, свирепствуя сложенно, разверзнут земную хлябь и поглотят великолепный сей град, откуда громкое твое пение раздавалось во все концы обширныя России; пускай яростный некий завоеватель истребит даже имя любезного твоего отечества: но доколе слово российское ударять будет слух, ты жив будешь и не умрешь... Сие изрек я в восторге, остановившись пред столпом, над тлением Ломоносова воздвигнутым. (Hervorhebungen von mir.)

Auf den ersten Blick ist die Ähnlichkeit vielleicht bestechend, aber beruht sie nicht auf dem gemeinsamen Vorbild, eben Horaz? Gewiss, Radiščevs Paraphrase ist, nach Lomonosovs Übersetzung, die dabei wohl als Vorbild gedient hat, die erste konsequente Anwendung des ganzen horazischen Vokabulars aus III, 30 auf einen Russen, wenn auch nicht den Verfasser selbst, denn die „Reise“ ist vier Jahre vor Deržavins Gedicht „k Muze“ geschrieben. Vielleicht hat Puškin auch im Jahre 1836 für seinen Artikel über Radiščev dessen berühmtes Buch wieder durchgelesen, nachdem er sich schon seit 1833 intensiv mit ihm auseinandergesetzt, ja eine detaillierte Entgegnung in seinem „Putešestvie iz Moskvy v Peterburg“ entworfen hatte. Wie sehr ihm dieses Thema am Herzen lag, beweist ja schon der name Radiščev im ersten Entwurf des „Pamjatnik“ (s. u.). Dennoch wäre es verfehlt, anzunehmen, dass Puškin sich irgendwie an Radiščevs Text orientiert habe. Er wird diese Zeilen, deren Schwulst ihm zuwider war8, nur als eines der vielen „podražanija“ Radiščevs angesehen haben, der seiner Meinung nach всегда кому-нибудь да подражал9. Möglich, aber unbeweisbar ist allerdings, dass gerade diese Lektüre ihn an die Horaz-Ode und deren zahlreiche nachahmungen erinnert hat, und so als äußerer Anlass dem in Abschnitt 2 dieses Aufsatzes besprochenen inneren Anlass entgegenkam. Wollte man das annehmen, so könnte man eine letzte Reminiszenz in dem Worte stolp sehen, das Puškin allerdings auch schon 1834 in seinem Tagebuch unter dem 28. november für die Alexandersäule vor dem Winterpalais benutzt10. Was diese Einzelheit betrifft, der W. Lednicki eine umfangreiche Untersuchung gewidmet hat (s. o.), so könnte eine andere, dort nicht erwähnte und 7 8

9 10

B. MEJLAcH: Puškin i ego ėpocha. M. 1958, S. 516f. Er schreibt darüber im „Putešestvie iz Moskvy v Peterburg“: V konce knigi svoej Radiščev pomestil slovo o Lomonosove. Ono pisano slogom nadutym i tjaželym ... On bolee tridcati stranic napolnil pošlymi pochvalami stichotvorcu, ritoru i grammatiku ... In seinem Aufsatz „Aleksandr Radiščev“ (1836). P. Ja. ČERnycH fasst das Wort „stolp“ als archaisierendes Stilelement auf; vgl. seinen Aufsatz: Iz nabljudenij nad jazykom stichotvorenija A. S. Puškina, Ja pamjatnik vozdvig sebe nerukotvornyj, in: Russkij jazyk v škole, 1949, III, S. 33–37.

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Puškins „Pamjatnik“

auch mir nicht zugängliche Quelle von Einfluss gewesen sein, nämlich ein polnisches Gedicht mit französischer Übersetzung unter dem Titel „Ode sur la colonne colossale élevée à l’empereur Alexandre I. St. Pétersbourg. Le 30 Août 1834“, das sich in Puškins Bibliothek befunden hat11. Eine weitere, ebenfalls nichtrussische Anregungsmöglichkeit wird von Tomaševskij erwähnt12, nämlich der „vozvyšennyj gall“ aus Puškins „Oda na vol’nost“‘ (1819): Ponce Denis Écouchard-Lebrun (1729–1807) oder LebrunPindare, wie man ihn in seiner Glanzzeit nannte. Tomaševskij hat neben der Erwähnung dieses Dichters in der frühen „Oda na vol’nost’“ eine Reihe weiterer Berührungspunkte zwischen Puškin und Lebrun angeführt, darunter die Gedichte „Arion“ (1827) und „Žurnalami obižennyj žestoko“ (1827) und ein auswendig zitiertes französisches Epigramm in einem Brief an E. M. chitrovo vom 21. Januar 1831, das gleiche Epigramm übrigens, das Puškin bei der Lektüre Batjuškovs sofort als Übersetzung erkannte. Leider ist die Datierung jener Randbemerkungen zu Batjuškov noch nicht ganz geklärt, doch spricht mehr für die 30er Jahre als dagegen. Die Bekanntschaft Puškins mit dem Werk Lebruns ist also hinreichend gesichert. Auch Lebrun hat, wie viele Franzosen, Horazens „Monumentum“ imitiert, und zwar wie folgt13: Grâce à la Muse qui m’inspire, Il est fini ce monument Que jamais ne pourront détruire Le fer ni le flot écumant. Le ciel même, armé de la foudre, ne saurait le réduire en poudre: Les siècles l’essaieraient en vain. Il brave ces tyrans avides, Plus hardi que les pyramides Et plus durable que l’airain.

non, non; je ne dois point descendre Au noir empire de la mort Amis! épargnez à ma cendre Des pleurs indignes de mon sort. Laissez un deuil pusillanime, croyez-en le dieu qui m’anime: Je ne mourrait point tout entier. Eh! ne voyez-vous pas la gloire Qui, jusqu’au temple de mémoire Me fraie un lumineux sentier?

J’échappe à ce globe de fange: Quel triomphe plus solennel! c’est la mort même qui me venge: Je commence un jour éternel. comme un cèdre aux vastes ombrages, Mon nom, croissant avec les âges, Règne sur la postérité. Siècles! vous êtes ma conquête; Et la palme qui ceint ma tête Rayonne d’immortalité!

11

12 13

nr. 165 von Modzalevskijs Ergänzungsliste zur Bibliothek Puškins in Literaturnoe nasledstvo XVI–XVIII. M. 1934, S. 1017. В. TOMAšEVSkIJ: Puškin i Francija. M. 1960, S. 325ff. Zitiert nach „Œuvres complètes d’Horace ... suivies de traductions en vers français et d’imitations par divers poètes français et étrangers“. Paris et Lyon, 1834, 2. Abt., S. 229.

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Puškin

Diese drei Strophen sind in dem von mir zitierten Werk als „Fragments“ überschrieben, vielleicht war das mir sonst nicht zugängliche Gedicht noch länger. Aber schon diese Probe zeigt, wie weit Lebrun von seinem Vorbild abweicht, u. a. indem er andere horazische Formeln mit einbaut, wie in der Mitte der zweiten Strophe das Ende von Horaz II, 20: Absint inani funere neniae Luctusque turpes et querimoniae; compesce clamorem ac sepulcri Mitte supervacuos honores.

Dass solche Verquickung überhaupt, und gerade bei diesen beiden Horazgedichten, im 18. Jahrhundert allgemein üblich war (vgl. klopstocks Ode „Der Traum“ von 1782), werden wir später noch einmal bei Deržavin sehen. Auf den Gedankenaufbau von Puškins Gedicht hat Lebruns bombastische Ode sicher nicht gewirkt. Das war auch, wie Tomaševskij richtig feststellt, gar nicht nötig anzunehmen, da es bereits eine eigene russische Tradition des horazischen Themas und Schemas gab.

4 Doch es wird Zeit, sich der von Tomaševskij erwähnten russischen Tradition zuzuwenden. Es gab in russischen Versen vor Puškin mindestens14 zwei Übersetzungen der Horazode und eine freie nachdichtung, alle drei von bedeutenden Autoren, alle drei Puškin zweifellos bekannt. Die ersten beiden von Lomonosov und kapnist, die dritte von Deržavin. Für die Beurteilung des Puškinschen Gedichtes als „podražanie“ ist es m. E. notwendig, diese drei Vorstufen und ihr Verhältnis zu dem römischen Vorbild zu berücksichtigen und genau zu untersuchen. Deshalb erlaube man mir, zunächst das Original in Erinnerung zu bringen und, da es selbst für Altphilologen einige Probleme enthält, möglichst wörtlich zu übersetzen. Exegi monumentum aere perennius regalique situ pyramidum altius quod non imber edax, non aquilo impotens possit diruere aut innumerabilis annorum series et fuga temporum. non omnis moriar, multaque pars mei vitabit Libitinam: usque ego postera crescam laude recens, dum capitolium scandet cum tacita virgine pontifex: dicar, qua violens obstrepit Aufidus et qua pauper aquae Daunus agrestium 14

P. n. BERkOV, Rannie russkije perevodčiki Goracija (Izv. An, Ser. VII, nr. 10, 1935) erwähnt auch keine weiteren Übersetzungen dieser Ode.

Puškins „Pamjatnik“

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regnavit populorum, ex humili potens princeps Aeolium carmen ad Italos deduxisse modos. sume superbiam quaesitam meritis et mihi Delphica lauro cinge volens, Melpomene, comam. Aufgerichtet habe ich ein Denkmal, ewiger als Erz, Höher als die königliche (Grab)Stätte der Pyramiden, das nicht ätzender Regen, nicht unbändiger nordsturm einreißen könnte oder die unzählbare Reihe der Jahre und die Flucht der Zeiten. nicht ganz werde ich sterben, ein bedeutender Teil von mir wird Libitina entgehen: solange werde ich an späterem Ruhme frisch wachsen, als noch das capitol ersteigt mit der schweigsamen Jungfrau ein Pontifex: Ich werde genannt werden, wo der heftige Aufidus aufschäumt und wo, arm an Wasser, Daunus über ländliche Völkerschaften herrschte, der aus niedrem (Stande) Machtvolle, der als erster Aeolisches Lied zu italischen Weisen spann. nimm hin den Stolz erworben durch Verdienste, und mit dem delphischen Lorbeer kränze mir willig, Melpomene, das Haar.

(Für die Übersetzung von situ und deduxisse vgl. kIESSLInG-HEInZE: Q. Horatius Flaccus, Oden und Epoden, 9. Aufl., Berlin 1958, S. 382ff; für den eingeschobenen Satz qua violens ... рорulorum vgl. E. Fraenkel: Horace, Oxford 1957, S. 304f)

5 Lomonosovs Übersetzung ist als Exemplum enthalten im 3. kapitel seiner „Rhetorik“ unter dem Paragraphen 268: В неполпом силлогизме или энтимеме полагается одна посылка, потом присовокупляется причина, что все заключается следствием. Таким образом расположена у Горация ода 30 книги третьей, которая состоит в следующей энтимеме: Я поставил знак бессмертной своей славы: затем что перьвой сочинял в Италии оды, какие писал Алцей Эольский стихотворец; того ради должна моя муза себя лавровым венком увенчать. Посылка Я знак бессмертия себе воздвигнул Превыше пирамид и крепче меди, Что бурный аквилон сотреть не может, Ни множество веков, ни едка древность. Не вовсе я умру; но смерть оставит Велику часть мою, как жизнь скончаю.

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Puškin Я буду возрастать повсюду славой, Пока великий Рим владеет светом. Причина Где быстрыми шумит струями Авфид, Где Давнус царствовал в простом народе, Отечество мое молчать не будет, Что мне беззнатной род препятством не был, Чтоб внесть в Италию стихи эольски И первому звенеть алцейской лирой. Следствие Взгордися праведной заслугой, муза, И увенчай главу дельфийским лавром.

Lomonosov scheint sich recht genau an das Original zu halten. Er bewahrt die gleiche Anzahl von 16 Zeilen, jede Zeile ist gleich lang, wenn auch um eine Silbe kürzer als die horazischen, Reim ist nicht vorhanden. Dennoch zeigen sich bei genauerem Zusehen einige wesentliche Abweichungen, ja eigenwillige Freiheiten. Gleich in die erste Zeile hat sich eine Deutung eingeschlichen, die bei Horaz nicht еxpressis verbis vorhanden war: znak bessmertija. Vermutlich hat Lomonosov wegen des schwierigen regalique situ die Anspielung auf ein (erzenes) Grabdenkmal nicht verstanden, so lässt er diese Worte in der zweiten Zeile auch aus. Die Beziehung zu verschiedenen Formen der Totenehrung Erzstatuen und Pyramiden) ist undeutlich geworden, die Intention aber durch das Wort bessmertie in christlicher Terminologie wiedergegeben. Die zerstörende Gewalt der Elemente ist in eine Zeile gedrängt, so dass für den Regen aus metrischen Gründen kein Platz blieb. Der Regen war auch unmotiviert, wenn seine Wirkung auf das Erz nicht erkannt wurde, nämlich die Oxydation. Das darauf abgestimmte Epitheton edax ist in die Doppelformel für die Zeit recht geschickt einbezogen, so dass die ersten fünf Zeilen des horazischen Gedichts in vier russischen Platz finden und – ebenfalls typisch für diese Version – jedes Enjambement vermieden wird. Das non omnis moriar ist beibehalten, omnis allerdings adverbial ausgedrückt, wodurch die Antithese omnis: pars mei etwas geschwächt wird15. Zur Umschreibung der Todesgöttin Libitina bedient sich Lomonosov des einfachen Wortes smerť, das in Verbindung mit dem nachsatz kak žizň skončaju jedenfalls nicht primär religiös gefärbt ist. Auch die folgende Definition der Dauer des nachruhmes hat den religiösen Unterton verloren. An seine Stelle ist ein Bild weltlicher Herrschaft getreten, ergänzt durch das im Original nicht vorhandene povsjudu. Den folgenden, längsten Satz des Vorbildes hat Lomonosov aus sprachlichen Gründen umstellen müssen, hat ihn aber offenbar besser verstanden als manche späteren Übersetzer, indem er die beiden Umschreibungen der Heimat durch 15

In gewisser Weise kompensiert durch die Antithese žizn’: smerť.

Puškins „Pamjatnik“

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die namen Aufidus und Daunus16 zusammenfasst in dem erklärenden otečestvo mое. Der negative Ausdruck für dicar: molčať ne budet ist wohl den Erfordernissen des Metrums zuzuschreiben. Ebenfalls erklärend ist das еx humili potens zu einer vollen Zeile erweitert, der man die parallele Erfahrung des Übersetzers wohl anmerkt. Auch hier bedient sich Lomonosov einer negativen Umschreibung für potens (рrepjatstvom ne byl) und verknüpft das Folgende kausal: čtob ... Um das Enjambement zu vermeiden, wird der ncI-Satz des Originals auf zwei ganze Zeilen ausgedehnt unter Verwendung der gängigen Formel zveneť liroj und erklärender Einführung des namens Alkaios, wohl in Erinnerung an Horaz II, 13: et te sonantem plenius aureo / Alcaee, plectro ... Den letzten Satz interpretiert Lomonosov, wie seine Einleitung noch deutlicher als seine Übersetzung zeigt, völlig frei, um nicht zu sagen falsch. Da im lateinischen Text unmissverständlich steht mihi ... cinge ... comam, ist nur eine bewusste Änderung Lomonosovs anzunehmen, denn er konnte, im Gegensatz zu Deržavin, Latein und konnte es, im Gegensatz zu Puškin, sehr gut. Was hat ihn veranlasst, die Muse sich selbst statt den Dichter krönen zu lassen? Ich glaube, vor allem der Umstand, dass er den religiösen Sinn17 des horazischen Schlusses nicht nachfühlen konnte. Schon dass er statt Melpomene das allgemeinere muza setzt, zeigt, dass er die persönliche Verbundenheit Horazens mit dieser Gottheit, wie sie noch stärker in der Ode Quem tu, Melpomene, semel (IV, 3) zum Ausdruck kommt, nicht bemerkt hat. Für Lomonosov war muza ein gängiges Synonym für Dichtung, keine göttliche Macht, die kränze verleihen könnte. Und der Lorbeer selbst war ihm ebenso metaphorisch, so dass er diese beiden Ausdrücke, als einer Sphäre gehobener Bildersprache angehörig, miteinander verknüpfte. So wird nun auch die „Muse“ aufgefordert, stolz zu sein, während Horaz der Melpomene seinen Stolz auf seine Verdienste als Gabe darbringt.

6 Die zweite hier anzuführende dichterische Übersetzung der horazischen Ode ist die von kapnist, die zuerst 1806 in seinen „Liričeskie stichotvorenija“ im Druck erschien. Eine Vorstufe, die sich in Deržavins Papieren fand, ist mir z. Zt. nicht 16

17

Aufidus: ein kleiner Fluss in Apulien; Daunus: sagenhafter könig dieser Landschaft vor der Gründung von Städten durch griechische Siedler, daher „agrestium populorum“. – Die verbreitete falsche Interpretation, nämlich die syntaktische Verknüpfung von „ex humili potens“ mit dem Vorsatz „qua...“ wird auch im kommentar der großen Akademieausgabe von Lomonosovs Werken noch vertreten (M.-L. 1959, Bd. VIII, S. 931). Gegenargumente vgl. FRAEnkEL, o. c., S. 305. Selbst FRAEnkEL (o. c., S. 306), der sonst die Religiosität Horazens nicht allzu ernst nimmt, schreibt: „Let us not make the mistake of regarding the prayer at the end as a mere poetic convention“ vgl. auch H. OPPERMAnn: Das Göttliche im Spiegel der Dichtung des Horaz, in: „Der Altsprachliche Unterricht“ Heft 4, 1956, S. 54ff.

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Puškin

zugänglich18. Es wäre sicher interessant für die Beurteilung von Deržavins nachahmung, diese Vorstufe zu kennen, Puškin hat sie aber nicht kennen können. Wir begnügen uns daher mit der Anführung der ihm bekannten endgültigen Fassung: Памятник Гopaция Я памятник сeбе воздвигнул долговечный; npeвышe пирамид и крeпчe меди он. Ни едкие дожди, ни 6ypный Аквилон, Ни цепь несметных лет, ни время быстрoтечно He coкрушaт егo. – He вecь yмpy я; нет: Большая часть меня от стpoгиx пapк yйдeт; B noтомствe вoзpacту я cлавой спраледливой: И в гордый Кaпитол с вecталкой молчаливой, Доколe будет жрец торжественно всходить, Не пepecтанет всем молва о мне твердить, Что тамo, гдe Авфид стремит peвyщи воды, И в дебряx, где пpocтым нapoдoм Давн владел, Я пepый, вознесясь от низкия пopоды, B латинские стихи эольску меру ввел. Гордись блистательным отличьем, Мельпомена! Гоpдись: прaвa тeбe достоинство дaлo. Из лавра дельфского, в честь Фебу посвященна, Beнок бесcмертный свив, укрась мое чело. Прим. И в дебрях, где простым народом Давн владел ... – В оригинале сказано: Простым народом, где безводный Давн владел. Но как слово безводный противоречит некоторым образом предыдущему стиху, где упоминается быстрая река Авфид, то я осмелился сказать: и в дебрях, где простым народом Давн владел. К сему повод дало мне то, что Давния, нынешняя Пульская провинция, весьма лесиста и что даже название Давния производится от греческого слова Δαυνος, значащего густый, лесистый.

kapnist erweist sich, schon durch seine Anmerkung, als gewissenhafter Übersetzer von philologischer Gründlichkeit“19. Wenn man seine Übersetzung mit der Lomonosovs vergleicht, zeigt sich erst, wie eigenwillig jener mit dem Original umgegangen ist, wie viel mehr er bestrebt war, das Fremde zu assimilieren. Allerdings ist auch zu bedenken, dass in den Jahrzehnten, die zwischen beiden Übersetzungen liegen (Lomonosovs Rhetorik erschien 1748), das allgemeine Bildungsniveau des russischen Lesepublikums gestiegen war. 18

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Während der korrektur konnte ich diese Variante noch einsehen im 2. Bd. der neuen kapnistausgabe (M.-L. 1960) auf S. 557f. Sie ist sehr viel freier als die spätere hier angeführte Fassung und kann schwerlich auf Deržavins „k Muze“ eingewirkt haben. Die hier zitierte Fassung folgt V. kAPnIST, Soč. M. 1959, S. 291, die Anmerkung ibid. S. 436f. nach seinem eigenen Geständnis konnte kapnist nicht Latein und hielt sich vorwiegend an die Horazübersetzung Jacques Delilles. Doch versuchte er sich dabei immer der originalen Bedeutung zu versichern durch Befragung von kennern des Lateinischen (vgl. kAPnIST, Sobr. soč., M.-L. 1960, II, S. 39, 446f. und 554).

Puškins „Pamjatnik“

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Genauso wie bei Lomonosov fehlt das Äquivalent für regalique situ und damit die Bindung von Pyramiden und Erz an die Vorstellung von Grabdenkmälern. Die Aufzählung der elementaren Gewalten und die Umschreibung der Zeit folgt genau dem Vorbild. Obwohl die Silbenzahl in den Zeilen der lateinischen entspricht bzw. in den weiblich endenden um eine Silbe länger ist, und obwohl das regalique situ fehlt, gelingt es kapnist nicht, den ersten Satz (den er in zwei aufteilt) in vier ganzen Zeilen unterzubringen, wie es Lomonosov trotz kürzerer Zeilen konnte. Es kommt zu einem (dem einzigen) Enjambement an etwas unglücklicher Stelle, denn das non omnis moriar steht nun, wenn auch durch ein bekräftigendes net verstärkt, in der zweiten Hälfte der fünften Zeile. Überhaupt ist die Übersetzung um zwei Zeilen länger geworden als das Original, was hauptsächlich durch die beigegebenen Epitheta verursacht ist: Z. 1 dolgovečnyj (steht zwar für perennius, aber ohne Verbindung mit aere), Z. 6 strogich, Z. 7 spravedlivoj, was an Stelle von recens im Sinn den Schlusssatz vorwegnimmt, Z. 8 gordyj, Z. 9 toržestvenno, Z. 13 blistateľnym, Z. 16 bessmertnyj; dazu kommen andere Einfügungen: die anaphorische Wiederholung von gordis’ in Z. 14 und die Erklärung des Lorbeers in Z. 15 (s. o.). Die Absicht dieser Zusätze ist offenbar die Vermittlung des feierlichen Tones, und hin und wieder macht sich der Reimzwang geltend. Syntaktisch bezieht kapnist den mit dicar beginnenden Satz nach vorn auf dum ..., was auch viele andere Übersetzer und Erklärer getan haben, obwohl es nicht gut möglich ist. Die Bitte um Bekränzung ist, im Gegensatz zu Lomonosov, richtig wiedergegeben, das sume superbiam wird aber wieder mit gordis’ (Lomonosov: vzgordisja) übersetzt, wohl aus dem gleichen Grunde, dem nichtverstehen des religiösen Gehaltes. Weniger entscheidend ist ein anderes nichtverstehen, das zu der in der Anmerkung begründeten Änderung von раuper aquae in v debrjach geführt hat. Obwohl Horaz Apulien an anderer Stelle (ep. 3, 16, vgl. auch Sat. I, 5, 92) als durstig (siticulosa) bezeichnet hat, was einem so guten Horazkenner wie kapnist bekannt gewesen sein dürfte, glaubt er hier einen Widerspruch zum reißenden Aufidus bemängeln zu müssen; er hat nicht nur die Antithese übersehen, sondern eben keine Vorstellung von italienischen Flüssen gehabt.

Im Ganzen ist die kapnistsche Übersetzung eine beachtliche Leistung, was die Versbehandlung angeht. Vielleicht ist er dafür verantwortlich, dass Deržavin in seiner nachahmung den Alexandriner wählte, der ja tatsächlich in seiner Zweiteiligkeit etwas dem spiegelbildlichen Aufbau der ersten asklepiadeïschen Strophe Ähnliches hat, obwohl ihm die starke innere Spannung fehlt.

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Puškin

7 Damit kommen wir zu der ersten bewussten Umsetzung des horazischen Themas durch einen russischen Dichter, zu jenem Gedicht Deržavins, das zuerst 1795 in „Prijatnoe i poleznoe preprovoždenie vremeni“ erschien20. Dies ist keine Übersetzung mehr, sondern, wie die Überschrift besagt, „podražanie“, Anwendung auf den nachbildenden Dichter selbst: К Музе. Подражание Горацию Я памятник себе воздвиг чудесный, вечный, Металлов тверже он и выше пирамид; Ни вихрь его, ни гром не сломит быстротечный, И времени полет его не сокрушит. Так! – весь я не умру, но часть меня большая, От тлена убежав, по смерти станет жить, И слава возрастет моя, не увядая, Доколь славянов род вселенна будет чтить. Слух пройдет обо мне от Белых вод до Черных, Где Волга, Дон, Нева, с Рифея льет Урал; Всяк будет помнить то в народах неисчетных, Как из безвестности я тем известен стал, Что первый я дерзнул в забавном русском слоге О добродетелях Фелицы возгласить, В сердечной простоте беседовать о Боге И истину царям с улыбкой говорить. О муза! возгордись заслугой справедливой, И презрит кто тебя, сама тех презирай; Непринужденною рукой неторопливой Чело свое зарей бессмертия венчай.

Deržavins nachbildung zeigt überall den entschlossenen Zugriff eines Dichters, der auf der Höhe seiner kraft steht. Die erste Strophe folgt noch ganz dem Vorbild, ist aber in der Wortwahl schon eindeutig Deržavins Eigentum. Die Wiedergabe von реrennius (wie auch bei Lomonosov und kapnist ohne Beziehung zu aere) durch die zwei Adjektive čudesnyj, večnyj enthält bei aller Prunkliebe doch auch schon einen Hinweis auf die wunderbare Herkunft der Dichtung. Statt krepče medi sagt Deržavin metallov tverže, was eindrucks- und klangvoller ist. Die Wut der Elemente erfährt ebenfalls eine Steigerung durch das Wort vichr’ und die kühne metonymische Wendung grom bystrotečnyj, die fuga temporum ist unter Verzicht auf die langsame kette der Jahre mit vremeni polet ebenfalls sehr dynamisch wiedergegeben. 20

Der Text des Gedichtes ist hier zitiert nach G. R. DERŽAVIn, Stichotvorenija, Bibl. Poėta, Bol’š. ser. L. 1957, S. 233.

Puškins „Pamjatnik“

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Die zweite Strophe folgt in den ersten drei Zeilen ebenfalls genau dem Vorbild. Das non omnis moriar ist (wie bei kapnist) wörtlich wiedergegeben und eröffnet, durch ein pathetisches tak! eingeleitet, wirkungsvoll die Strophe. Ebenfalls wie kapnist übernimmt Deržavin multaque pars mei Wort für Wort aus dem Lateinischen, ohne Rücksicht auf die für das Russische ungewöhnliche konstruktion. (Lomonosov hatte es russischer gesagt). Für Libitina steht sehr passend das kirchenslavische tlen. Damit weicht Deržavin zum ersten Mal bewusst vom Vorbild ab, indem er russische Entsprechungen einführt. In der nächsten Zeile gibt er den Sinn des horazischen Satzes sehr gut wieder, vor allem das bei Lomonosov und kapnist fehlende recens durch ne uvjadaja. Dann aber verlässt er das Vorbild. Die Dauer des Ruhmes wird statt auf Rom auf die Slaven bezogen, was hier wohl als poetischer Ausdruck für Russen zu verstehen ist. Das gleiche Gefühl des nationalstolzes, eine der Hauptquellen der russischen Odendichtung des 18. Jh.s, kommt in der dritten Strophe zum Ausdruck. Dicar ist mit sluch projdet obo mne recht treffend wiedergegeben. An Stelle des winzigen Flusses und des Heros eponymos der engsten Heimat bei Horaz21 tritt bei Deržavin eine Aufzählung von Gewässern, die die ganze unermessliche Weite des Russischen Reiches sinnfällig machen soll. Vielleicht liegt hier wirklich eine Anregung durch Horaz II, 20 vor, wie Grégoire meint22 – wir hatten ja schon klopstocks „Traumode“ von 1782 als Beispiel einer solchen Verwendung der beiden Horazepiloge über den Dichterruhm angeführt, eine andere Stelle aus II, 20 hatte Lebrun in seine Imitation von III, 30 eingebaut. Der Gedanke ist also naheliegend. Dass Deržavin später (1804) auch eine genaue nachbildung von Horaz II, 20 (unter dem Titel „Lebed’“ schrieb, spricht nicht dagegen23. Was die aufgezählten Gewässer betrifft, so ist vielleicht darauf hinzuweisen, dass die meisten von ihnen mit Deržavins Biographie in Beziehung stehen: Die Wolga bezeichnet seinen Geburtsort, der Ural seine Schulzeit, das Weiße Meer seine Gouverneurszeit und die neva seine zahlreichen Aufenthalte in Petersburg, als gemeiner Soldat, als Höfling, als Minister. In der dritten Zeile dieser Strophe wiederholt Deržavin noch einmal den Gehalt der ersten beiden Zeilen, nur noch nachdrücklicher. Dem sluch projdet obo mne entspricht vsjak budet pomnit’ to, der Umschreibung Russlands durch die Gewässernamen entsprechen die narody neisčetnye– wieder ähnlich wie in Horaz II, 20, wo die äußersten Völkerschaften des Imperiums aufgezählt sind. (wie später bei Puškin). Sehr wichtig ist Deržavin das еx humili potens, dem er wie Lomonosov, und aus dem gleichen Grunde, eine ganze Zeile widmet. Die biographische Parallele ist entsprechend abgewandelt: Lomonosov konnte auch von sich als einem Abkömmling eines bezznatnyj rod sprechen, stammte er doch aus einer Fischerfamilie von der nördlichen Dvina, so wie Horaz der Sohn eines Freigelassenen aus Apulien war. Deržavin stammt zwar aus adligem Geschlecht – er war nicht wenig stolz auf seine fürstlichen 21 22 23

S. o. Anm. 16. In „Les Études classiques“ VI, namur 1937, S. 528. Vgl. W. LEDnIckI, o. c., S. 258.

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Vorfahren tatarischen Blutes –, aber die Familie war verarmt, und er wuchs in kümmerlichen Verhältnissen auf. Entsprechend ändert er die Standesbezeichnung in bezvestnost’ und verstärkt die originale Antithese durch eine figura etymologica. Die vierte Strophe, wie im Original als nebensatz angeknüpft, führt nun aus, was dem Dichter diesen Ruhm verschafft hat. Ebenso wie Horaz rühmt sich Deržavin, der erste zu sein, der eine neue Dichtart in seiner Heimat und Sprache eingeführt hat. Sein Recht dazu ist ebenso anzuerkennen oder zu bestreiten wie das des Horaz (catull hatte vorher griechische Formen übernommen, Sumarokov, Bogdanovič u. a. hatten vorher v zabavnom russkom sloge geschrieben). Vielleicht hat diese Erwägung Deržavin veranlasst, die Werke aufzuzählen, die seinen Ruhm garantieren und die ihm niemand streitig machen konnte: die Felica-Gedichte und die Ode „Bog“. Die Definition seines Stils als zabavnyj ist selbst schon eine Stilisierung, die jener Stelle bei Horaz nicht unähnlich ist, in der er sich Pindar gegenüber als fleißige Biene bezeichnet (IV, 2). noch näher an den Horaz, wie ihn das 18. Jh. liebte, schließt die Formel istinu ... s ulybkoj govorit’ an (ridentem dicere verum, Sat. I, 1, 24). Persönliche Färbung und Realität gewinnen diese Ideale durch die Anführung der Felica-Gedichte als Beispiel des zabavnyj slog – deren Stil war wirklich eine Revolution der Ode durch die Einführung satirischer Elemente –, und durch das Wort carjam, das der horazischen Formel einen politischen Hintergrund gibt. In der letzten Strophe endlich, dichterisch vielleicht der vollkommensten, weicht Deržavin in derselben Richtung wie Lomonosov von Horaz ab, obwohl er durch kapnist sicher den genauen Wortlaut kannte. Doch ist das Religiöse nicht völlig verschwunden, es ist durch den nationalstolz ersetzt, der, wenigstens in dieser Zeit und für einen Mann wie Deržavin, nicht nur vom dynastischen, sondern auch vom orthodoxen Aspekt nicht zu trennen ist. Die Muse ist hier nicht nur Deržavins persönliche Dichtkunst, sondern die russische Dichtung überhaupt, die aufgefordert wird, nicht nur seine persönlichen Gegner, sondern auch die europäischen kritiker, die sie verachten, ihrerseits mit Verachtung zu strafen und sich mit betonter Gelassenheit zu bekränzen. In der stärksten, letzten Zeile hat Deržavin seine Vorliebe für glühende Farbenpracht wieder zu einem seiner prunkvoll irrealen Bilder verwendet. nicht mit Lorbeer soll sich die Muse kränzen, sondern mit dem Morgenrot der Unsterblichkeit. Die Ähnlichkeit mit dem Abschluss des oben angeführten Stückes von Lebrun ist verblüffend, aber vielleicht der gleichen „barocken“ Bildkraft entsprungen. Weiter ausschwingend als Lomonosovs karge Wiedergabe, aber doch hell, kraftvoll und ohne die konventionelle Glätte der kapnistschen Übersetzung, ist Deržavins „Pamjatnik“24 ein echtes, eigenständiges Gedicht, das in glücklicher und überzeugender Weise das Thema ins Russische transponiert. 24

Weder Deržavins noch Puškins Gedicht haben ursprünglich die Überschrift „Pamjatnik“ gehabt; Deržavins hieß „k Muze“ (s. o.), Puškins hatte gar keine Überschrift und brauchte auch keine, wenn es – mit dem horazischen Motto versehen – als „podražanie drevnim“

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8 Dieses Gedicht hatte Puškin vor Augen – gleich ob im Geiste oder wirklich –, als er sein „Pamjatnik“ niederschrieb. Exegi monumentum Я памятник себе воздвиг нерукотворной, К нему не заростет народная тропа, Вознесся выше он главою непокорной Александрийского столпа. Нет, весь я не умру – душа в заветной лире Мой прах переживет и тленья убежит – И славен буду я, доколь в подлунном мире Жив будет хоть один пиит. Слух обо мне пройдет по всей Руси великой, И назовет меня всяк сущий в ней язык, И гордый внук славян, и финн, и ныне дикой Тунгус, и друг степей калмык. И долго буду тем любезен я народу, Что чувства добрые я лирой пробуждал, Что в мой жестокий век восславил я свободу И милость к падшим призывал. Веленью Божию, о муза, будь послушна, Обиды не страшась, не требуя венцa Хвалу и клевету приемли равнодушно, И не оспоривай глупца.

Puškin übernimmt von Deržavin die Strophenzahl, die Verteilung der Gedankengruppen auf die Strophen und wörtlich oder fast wörtlich die einleitenden Worte der ersten drei Strophen. Er übernimmt auch den Alexandriner, kürzt aber die letzte Zeile jeder Strophe und verleiht dadurch jeder Strophe einen betonten Abschluss. So verschwindet die Verbindung zwischen der dritten und vierten Strophe, bei Deržavin syntaktisch noch ein Satz, und der Aufbau des Ganzen bekommt an Stelle des vertikal ablaufenden charakters, ohne die Reihenfolge des Vorbildes zu verlassen, den von fünf selbständigen gleichsam horizontal verschobenen Variationen des einen Themas von der Unsterblichkeit der Dichtung. Diesem Umstand hat die Interpretation Rechnung zu tragen. Es sollen daher zunächst die fünf Variationen, jede für sich, betrachtet werden.

(vgl. Anm. 6) erscheinen sollte. Die Überschrift „Pamjatnik“ ist bei der posthumen Herausgabe von Žukovskij zugefügt worden.

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1. Variation: Das Denkmal Wie immer bei Puškin, sind seine Bilder im Erlebbaren verankert, wie fast immer weckt das reale Erlebnis in ihm die Erinnerung an die literarische Ausformung vergleichbarer Verhältnisse oder umgekehrt, reizt ihn zu nachbildung oder Widerspruch. Die komponenten, die zur Entstehung eines Gedichtes führen, sind gewöhnlich nicht erfassbar, am wenigsten die erlebnisbedingten, schwer genug die literarischen. Im Falle des „Pamjatnik“ ist die literarische Ahnenreihe durch das Motto angedeutet, die Beziehung zu Deržavin offensichtlich. Aber auch für das Wesen des Erlebnisses, das Puškin befähigte, dem traditionellen Topos eine neue Lebendigkeit zu verleihen, das ihn befähigte, ohne philologische Umwege den Leitgedanken Horazens nachzuempfinden, besitzen wir einige Zeugnisse. Unter den nicht genau datierbaren Entwürfen aus den letzten Lebensjahren des Dichters befindet sich an letzter Stelle (nach der Akademieausgabe 1835 oder 1836 geschrieben) der Plan zur Einleitung eines längeren Gedichtes, der folgenden Wortlaut hat: Prologue Я посетил твою могилу – но там тесно; les morts m’en distraient – теперь иду на поклонение в Царское Село и в Баболово. Царское Село! ... (Gray) les jeux du Lycée, nos leçons ... Delvig et küchelbecker, la poésie – Баболово.

Wir wissen nicht, um wessen Grab es sich handelt. Vielleicht um das Del’vigs? Wohl kaum um das der Mutter, die Puškin am 29. März 1836 verloren und nach Michajlovskoe überführt hatte. Wichtig ist der Besuch eines Grabes. Wichtig ist unter den Assoziationen, die dabei auftauchen, der name Gray, was zweifellos auf die berühmte „Elegy, written in a country-churchyard“ (in Žukovskijs erster Übersetzung) hinweist. Eine Woche vor dem Datum, das die Reinschrift des „Pamjatnik“ trägt, nämlich am 14. August 1836 entwirft Puškin ein Gedicht, das Gedanken aus der eben zitierten notiz aufgreift (nо tam tesno: gnijut vse mertvecy stolicy, / V bolote koe-kak stesnennye rjadkom) und gleichzeitig in manchen Zügen an Gray-Žukovskij erinnert: „Kogda za gorodom, zadumčiv, ja brožu.“ Das Gedicht bricht ab mit dem Gegenbild des anspruchslosen, in die natur eingebetteten Dorffriedhofs, das wohl von Michajlovskoe (kladbišče rodovoe) genommen ist. Puškin hat nicht gewusst, dass Horaz mit den Worten exegi und situs auf Grabinschriften angespielt hat, aber er hat das monumentum richtig als Grabdenkmal verstanden und aus seiner Erfahrung das Bild des Friedhofs mit den überwuchernden Wegen entwickelt. Horaz nennt sein Denkmal dauerhafter als Erz, Puškin geht noch weiter, er nennt es „nicht von Menschenhand geschaffen“, darin das „Wunderbare“ seiner Herkunft und das „Ewige“ seiner Dauer (Deržavin) zu-

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sammenfassend mit einem Wort, das der religiösen Sphäre entstammt und für wundertätige Ikonen, als Übersetzung des griechischen αχειροποιητος25 üblich ist. Er geht auch darin weiter als Horaz, dass er als Wesentlichstes nicht nur Dauer und Höhe erwähnt, sondern den Weg des Volkes zu ihm. Durch das Beiwort nerukotovornyj ist das Denkmal von vornherein dem zerstörenden Zugriff der Elemente und der Zeit entzogen, ihre Gewalt – hier nicht unter dem negativen Aspekt von Regen und Sturmwind gesehen, sondern in der gleichsam positiven Form der alles überwuchernden vegetativen Fruchtbarkeit –, kann dem Denkmal nichts anhaben, es ist geistiger natur und göttlicher Herkunft, aber auch der Weg des Volkes zum Denkmal kann nicht zuwachsen, auch er ist ein geistiger Zugang. All das ist im konkreten Bild gesagt, jede Abstraktion, jede billige Wiederholung von literarischen klischees ist vermieden. Puškin hat auch – im Gegensatz zu allen anderen genannten russischen Autoren – den Sinn des regali situ pyramidum instinktiv erfasst. Das Denkmal des Dichters, so wollte Horaz sagen, ist höher als die berühmtesten königsgräber, die Pyramiden. So wie er an Stelle der antiken Erzstatuen den russischen Friedhof setzte, wählt Puškin nun auch für das königsgrabdenkmal von erstaunlicher Höhe ein russisches Äquivalent: die zur Erinnerung an Alexander I. am 30. August 1834 vor dem Winterpalast enthüllte Säule, eine größere nachahmung der napoleonssäule von der Place Vendôme in Paris26. Wieder gibt er genau den Sinn des horazischen Bildes wieder, wieder geht er darüber hinaus. Denn für Horaz waren die Pyramiden nur ein allgemeines Sinnbild königlichen Ruhmbedürfnisses, für Puškin verbinden sich mit der Alexandersäule persönliche Erinnerungen. Das Verhältnis Puškins zu Alexander I. ist allgemein zu bekannt, um hier noch einmal aufgerollt zu werden. Es wird nicht nur die erniedrigende Gesellschaft der kammerjunker gewesen sein, die ihn veranlasste, fünf Tage vor der feierlichen Enthüllung der Alexandersäule Petersburg zu verlassen (vgl. Tagebuch unter dem 28. november 1834), sondern auch als Privatmann würde er wohl der pompösen Ehrung seines einstigen Bedrückers nicht haben beiwohnen wollen. Und Puškin ist sich bewusst, welche kühnheit es erfordert, 25

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Auf diesen Umstand und die damit gegebene religiöse Assoziation hat Grégoire, l. с, hingewiesen. Lednicki, l. c, scheint ihm das nicht recht zu glauben, denn er setzt in seiner Entgegnung das Wort „religious“ in Anführungszeichen. Er weist auf eine andere mögliche Quelle hin, die R. Jakobson erwähnt, den Poeten Ruban und dessen panegyrisches Gedicht auf das Reiterdenkmal Peters des Großen von Falconet (vgl. Jakobson: Socha v symbolicě Puškinově in: Slovo a slovesnost III, Prag 1937, S. 2ff). Ich glaube, dass Grégoire hier das richtige gefühlt hat. Das Wort „nerukotvornyj“ ist bei Puškin sonst nirgends zu finden (vgl. Puškin-Wörterbuch der Akademie) und fügt sich gerade wegen seines religiösen Untertones sehr gut in den Wortschatz des „Pamjatnik“ ein (s. u.). Tatsächlich übertraf die Alexandersäule an Höhe alle damals bekannten europäischen Denkmäler dieser Art, die römischen Obelisken, die Trajanssäule, die Säule auf der Place Vendôme. Sie wurde 1829 in Auftrag gegeben, der Riesenmonolith wurde 1832 aufgerichtet – eine technische Glanzleistung des französischen Architekten Montferrand, die nikolaus I. zu der Bemerkung veranlasste: „Vous vous êtes immortalisé“ – und schließlich am 30. August 1834 feierlich enthüllt (vgl. Brockhaus-Efron s. v. Aleksandrovskaja kolonna).

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sich mit dem Zarendenkmal zu vergleichen und sich dabei überlegen zu erweisen. Diese kühnheit bringt er auch zum Ausdruck durch glavoju nepokornoj, ohne doch das Bild des Denkmals zu verlassen27. Dass Alexandrijskij stolp nichts anderes als die Alexandersäule heißen kann, hat Grégoire28 umsonst bestritten. W. Lednicki29 hat ihn widerlegt und ist dabei in das andere Extrem verfallen, das ganze Gedicht „Pamjatnik“ für einen Monolog gegen Alexander I. zu halten. Beide Gelehrte werden teilweise recht haben, Grégoire mit der Vermutung, dass Puškin die ungewöhnliche Adjektivbildung alexandrijskij der Zensur gegenüber als Anspielung auf den Pharus hätte ausgeben können (aber schon Žukovskijs Änderung in Napoleonova stolpa beweist, dass das wenig Aussicht auf Glaubwürdigkeit gehabt hätte); Lednicki darin, dass Puškin sich an Alexander I. rächen wollte. Aber für das Gedicht ist doch wohl das Entscheidende das russische Äquivalent für die Pyramiden als königsmale. Sie hätten nicht besser nationalisiert und aktualisiert werden können als eben durch die Alexandersäule. Den Grabdenkmälern auf den Friedhöfen hat das geistige Denkmal voraus, dass es nicht in Vergessenheit geraten, dass der Weg der Menschen zu ihm nicht zuwachsen kann; das Denkmal des kaiserlichen Tyrannen überragt es mit seinem unbeugsamen Haupt. Diese beiden Züge gehen über das horazische Muster hinaus, dessen Sinngehalt sonst ohne Rest in russische Vorstellungsbilder umgesetzt ist. 2. Variation: Unsterbliche Dichtung In der zweiten Strophe weicht Puškin in entscheidender Weise von der horazischen und Deržavinschen Gesamtstruktur ab. Zwar sind die einleitenden Worte dieselben, zwar spricht auch er von der Dauer seines Ruhmes, aber im Gegensatz zu seinen Vorbildern nennt er jetzt schon den Anlass dieses Ruhmes, die Dichtung (lira). Diese Abweichung ist sachlich begründet: Puškin konnte für sich nicht den Primat in irgendeiner Dichtungsart in Anspruch nehmen. (Wir werden später sehen, dass er die Zeile, die diesem Gedanken der Vorbilder zunächst noch entsprach, in der Reinschrift wieder geändert hat.) nicht in diesem Primat also konnte die Begründung seines Ruhmes liegen, sondern allein in der Tatsache seines Dichtertums. Und es geschah, wie die erwähnten Änderungen zeigen, zunächst ohne Überlegung, ganz „instinktiv“. konsequenterweise wird nun auch die Dauer des Ruhmes nicht mehr an nationale – wenn auch für weltgültig gehaltene – Vorstellungen oder Bedingungen geknüpft, sondern allein an die immer und an jedem Orte mögliche Existenz von Dichtern. 27

28 29

Vielleicht verbirgt sich sogar in den Worten „glavoju nepokornoj“ eine Anspielung auf die Alexandersäule, als deren Bekrönung ein bronzener Engel dient, der sein Haupt – mit den Gesichtszügen Alexanders I. – abwärts neigt. L. с Vgl. Anm. 21. L. с Vgl. Anm. 3.

Puškins „Pamjatnik“

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Hatte schon Lomonosov das originale Bild durch den Zusatz povsjudu und die Formel роka velikij Rim vladeet svetom ins Räumlich-Politische umgebogen, hatte Deržavin sich mit seiner Zeile poka slavjanov rod vselenna budet čtiť auf der gleichen Ebene bewegt, so nähert sich Puškin wieder mehr dem horazischen religiösen Bild dum Сapitolium scandet cum tacita virgine pontifex. Horaz sieht die Dauer Roms durch den kult gewährleistet, als dessen Vertreter der роntifex genannt wird. Auch Puškin nennt in derselben Rolle mit dem feierlich-altertümlichen Wort рiit einen priesterlichen Stand (vgl. Izdrevle sladostnyj sojuz Poėtov mež soboj svjazuet: Oni žrecy edinych muz in „k Jazykovu“ (1824) und Edinogo prekrasnogo žrecov in „Mocart i Sal’eri“). Die religiöse Färbung der ganzen Strophe bei Horaz ist auch bei Puškin vorhanden, nur wieder ins lebendig nachfühlbare übersetzt, d. h. in christiche Vorstellungsweise. An Stelle der Todesgöttin Libitina hatte Lomonosov noch nüchtern smerť gesagt, Deržavin hatte schon das kirchenslavische tlen, dafür gesetzt, aber alle Vorgänger hatten das multaque pars mei mehr oder weniger glücklich beizubehalten versucht. Puškin sagt stattdessen: duša, und zwar offenbar zunächst ganz instinktiv. Wenn wir den Erklärern glauben dürfen, hat er auch damit wieder genau den Sinn des von Horaz Beabsichtigten getroffen30. Erst bei der letzten korrektur der Reinschrift wird ihm klar, was damit alles gesagt ist. Und er ändert jetzt das Epitheton zu lire: bessmertnoj ab in zavetnoj, denn bessmertie ist schon mit duša impliziert; er ändert weiter in der nächsten Zeile menja pereživet in moj prach pereživet, damit die Antithese duša: prach, unsterblich: sterblich unterstreichend. So bewegt sich die ganze Strophe in der Sphäre durchaus religiös verstandener Unsterblichkeit, an der auch die Dichtung insofern teilhat, als sie das Vermächtnis (man beachte das an religiösen Assoziationen reiche Wort zavetnoj31) der Seele bewahrt. Mit diesem Vermächtnis geht die Dichtung über die in sich beschlossene Unsterblichkeit der Seele hinaus. Ihre Unsterblichkeit ist die einer immer erneuerten Wirkung (Horaz: recens!), die lebendig sein wird, solange es auf der Welt verwandte Seelen geben wird. Ist damit auch die umfassendste Definition der Ewigkeit nach menschlichen Begriffen gegeben, so spielt doch der роdlunnyj mir hier nur eine untergeordnete Rolle als Bedingung für das Sichtbarwerden des Göttlichen, dem die ganze Strophe geweiht ist.

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31

Vgl. kIESSLInG-HEInZE, o. c., 8. 382: non omnis und multa pars mei Litotes: er meint eigentlich, mein wahres Ich’. P. Ja. ČERnycH erklärt „zavetnyj“ unter Berufung auf Ušakov(!) als ljubimyj, dorogoj, svjato chranimyj“.

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3. Variation: Russland Ist es ein Zufall, dass der Entwurf der letzten drei Strophen des „Pamjatnik“ auf einem eigenen Bogen steht32, oder hat Puškin wirklich diesen zweiten Teil seines Gedichtes zu anderer Zeit bearbeitet als die ersten beiden Strophen? Wir können es nicht wissen. Jedenfalls aber ist es ein Zufall, dass uns der Bogen mit dem Entwurf der letzten drei Strophen erhalten ist. Bei Horaz folgt auf die Umschreibung der Dauer des Ruhmes der Satz dicar, qua ... (man wird mich in meiner Heimat Apulien nennen). dass Horaz nur den engen Bezirk seiner Heimat, nicht etwa Italien oder das Imperium hier anführt, hat viele Erklärer und Übersetzer befremdet, und sie haben andere syntaktische Verknüpfungen des Satzes annehmen zu müssen geglaubt, wie das russische Beispiel kapnists zeigt. Der „italienische campanilismo“33 ist den Russen fremd, und Deržavin hat, dem russischen Heimatgefühl entsprechend, hier eine an Horaz II, 20 orientierte Umschreibung Russlands durch Gewässernamen eingefügt. Puškin verzichtet auf die Aufzählung der Flüsse und Meere, wohl weil die kunde (sluch) vom Dichter an Menschen geknüpft ist, und setzt statt dessen eine Reihe von Völkernamen, die sich aus Deržavins v narodach neisčetnych ebenso gut herleiten lassen wie aus unmittelbarer Anknüpfung an Horaz II, 20. Die ersten Worte der Strophe sind wieder mit denen Deržavins identisch (in der Reinschrift sogar zuerst in der gleichen Reihenfolge). Im ersten Entwurf lautete die Zeile anfänglich „Sluch obo mne dojdet vo vse koncy Rossii“, damit an die oben zitierte Paraphrase Radiščevs anklingend, dann ersetzt Puškin das moderne Rossija durch das altgeheiligte Rus’. Der Entwurf macht auch deutlich, dass jazyk in der zweiten, fast ganz kirchenslavischen Zeile als „Volk“ zu verstehen ist, denn es hieß zuerst vsjak živuščij v nej jazyk. Puškin hat diese Fassung aus metrischen Gründen aufgeben müssen, da ihn der geänderte Anfang der Zeile (statt uznaet: I nazovet menja) dazu zwang, aber diese Änderung durch das kirchenslavische suščij so glänzend gelöst, dass jazyk nun durch den kontext als ebenfalls kirchenslavisch erwiesen wurde34. Die Aufzählung der Völkerschaften hat, was die Reihenfolge betrifft, wohl hauptsächlich metrische Gründe. Puškin hat viele Variationen erwogen. Fest stand von Anfang fin, vnuk slavjan und, durch den Reim, kalmyk. Die Epitheta und der Tungus sind erst zuletzt fest geworden, vorher hatte Puškin an Gruzinec, Kirgizec, und Čerkes gedacht, bei den Epitheta für vnuk slavjan an mogùščij, für Tungus an nyne poludikij und an žestokij35. noch in der Reinschrift ändert er syn stepej als allzu orientalische und allzu irreale „genealogische“ Metapher ab in drug stepej. 32

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Der Aufsatz von JAkUBOVIČ über diesen Entwurf (Puškin, Vremennik Puškinskoj kommissii III, L. 1937) war mir leider nicht zugänglich. Vgl. FRAEnkEL, o. c, S. 305. Dort Parallelen aus cicero (pro Plancio 19–23), Properz (IV, 1, 63f), Ovid (Amores III, 15, 7f) und Martial (I, 61). Vgl. dieselbe Auffassung von „jazyk“ bei ČERnycH, l. с. und – bereits als consensus omnium – in „Puškin v škole“, L. 1956, S. 194. Vgl. das Faksimile des Entwurfs in: Puškin v portretach i illjustracijach, L. 1951, S. 269.

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Ich führe diese Einzelheiten an, um zu zeigen, dass man sich doch hüten sollte, in der Aufzählung der Völkernamen geographische Anordnung oder Anspielung auf die Sockelfiguren der Alexandersäule zu suchen36. Auch dürfte mit gordyj vnuk slavjan. nicht der Pole gemeint sein37, sondern, wie es den panslavistischen Tendenzen des späten Puškin entsprach, alle slavisch sprechenden Völker des russischen Reiches, vor allem die Russen selbst, denen ja seine Dichtung auch zuerst zugänglich werden konnte. Diese Strophe bringt am wenigsten neues und Eigenes für Puškins Durchführung des gegebenen Themas. Er hat nur die Deržavinsche Darstellung des poetischen Prunkes der Flussnamen entkleidet. Am ehesten ist noch das einschränkende i nyne dikij als neuer Gedanke zu verstehen, nämlich als Hinweis auf Puškins Glauben an die kulturmission des russischen Volkes. Dass gerade die Tungusen in diesem Zusammenhang erwähnt werden, kann zwar mit dem Bericht über dieses Volk zusammenhängen, den Puškin im Frühjahr 1836 von küchelbecker aus Sibirien erhielt38, doch glaube ich, dass rein ästhetische Motive, in diesem Falle Erwägungen der Euphonie, bei der Wahl des namens mindestens eine bedeutende Rolle gespielt haben. 4. Variation: Wirkung in der Geschichte War die dritte Strophe vor allem ein Tribut an die Vorbilder und daneben an das nationalgefühl, so weicht die vierte schon durch ihre isolierte Stellung wieder weit von den Mustern ab. Diese isolierte Stellung war nicht nur durch die von Puškin gewählte Form, die kaum ein Enjambement vertragen hätte, geschaffen, sie hatte auch einen sachlichen Grund. Der Gedanke, der bei Horaz zur Verknüpfung gedient hatte: еx humili potens, konnte von Puškin nicht übernommen werden. Das Geschlecht der Puškins zählt zu den ältesten und berühmtesten Bojarengeschlechtern, und Puškin war stolz auf seine Vorfahren. Auch die Deržavinsche Fassung des Gedankens traf für ihn nicht zu, er konnte nicht von bezvestnost’ sprechen, hatte er doch eine Eliteschule besucht, war mit den bedeutendsten Vertretern des literarischen Lebens, karamzin und Žukovskij, schon als Schüler in Verbindung getreten, hatte als 15jähriger schon sein erstes Gedicht veröffentlicht und mit wenig mehr als 20 Jahren einen Ruhm erworben, der manchem Dichter sein Leben lang versagt bleibt. Somit fiel die in den Vorbildern gegebene Verbindung des Heimatgedenkens mit der folgenden Begründung des heimischen Ruhmes fort. Auch diese Begründung selbst war ja von Puškin schon in der zweiten Strophe gegeben worden, denn die Berufung auf den Primat in irgendeiner Dichtungsart war für Puškin ebenso unzutreffend wie die auf einen gesellschaftlichen Aufstieg. Puškin hatte also, wenn er dem Schema Deržavins folgen wollte, einen neuen Gedanken 36 37 38

Vgl. LEDnIckI, o. c., S. 260f. Dagegen spricht auch das zuerst erwogene Epitheton „mogùščij“. Vgl. LEDnIckI, o. c., S. 260f.

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und auch eine neue Einleitung dazu zu finden. Die zahlreichen Ansätze und Änderungen, der mangelnde Abschluss der vierten Strophe im Entwurf lassen diese Schwierigkeit noch erkennen. Einen gewissen Anhalt hat Puškin zweifellos bei Deržavin gesucht, der ja auch über das Verdienst des Primates im zabavnyj slog hinaus einzelne Werke bzw. Grundzüge seiner Dichtung aufgeführt hatte. Dieser Aufzählung scheint Puškin in bewusster kontrastierung zu folgen, und selbst bei dem einleitenden Satz, von dem sie abhängen sollte, scheint er so unter dem Eindruck des Vorbildes gestanden zu haben, dass er zunächst ansetzte: i tem (vgl. Deržavin: ja tem izvesten stal, čtо ...). nach kurzem Schwanken über die Wortfolge gewinnt Puškin aber dann bald den Satz in seiner endgültigen Form: I dolgo budu tem ljubezen ja narodu. Zu narodu stellt sich der Reim svobodu von selbst ein39 und auch die dritte Zeile wird fast ohne Zögern gleich ganz konzipiert: Čto vsled Radiščevu vosslavil ja svobodu. Die zweite Zeile hat erheblich mehr Stadien durchgemacht. Zunächst ist Puškin unter dem Eindruck der berühmten Vorbilder versucht, auszudrücken, worin sein Primat in der Dichtung bestanden habe. So entwirft er: Čto v russkom jazyke muzyku ja obrel, dann: Čto zvuki novye obrel ja v jazyke, und schließlich: Čto zvuky novye dlja pesen ja obrel. Diese Fassung bleibt bis in die Reinschrift erhalten. Erst bei der letzten korrektur, die dem Gedicht als Ganzem gilt, wird sich Puškin darüber klar, dass er den Primatgedanken übernommen hatte, ohne es zu wollen, dass die Begründung seines Ruhmes im Gegensatz zu den Vorbildern schon in der zweiten Strophe gegeben war, und dass zudem in den Augen des Volkes ein derartiges Verdienst nicht zuerst wahrgenommen werden würde. So ändert er die Zeile vollständig: Čto čuvstva dobrye ja liroj probuždal. Das ist etwas, was die Menschen an sich erfahren, auch ohne sich über die künstlerischen Mittel dieser Wirkung Rechenschaft geben zu können, es ist außerdem ein bewusster Gegensatz zu Deržavins paralleler Zeile Pro dobrodeteli Felicy vozglasil. Deržavins Gesprächspartner ist die Zarin (oder in der vierten Zeile der Strophe allgemeiner: die Zaren), deren Tugenden er verkündete; Puškin, der das imaginäre künftige Volk vor sich sieht, sagt: nein, nicht die Tugenden eines Herrschers habe ich besungen, sondern die Herzen der Menschen habe ich ergriffen und edle, nicht niedrige Gefühle in ihnen erweckt. nach dieser entscheidenden Änderung konnte auch der name Radiščev nicht mehr stehen bleiben. nicht nur Rücksichten auf die Zensur veranlassten Puškin, diesen namen zu tilgen, vielmehr das Bewusstsein seiner eigenen zwie39

Von den vielen Belegen für dieses Reimpaar seien nur die zeitlich nächsten genannt (im Entwurf zu „Iz Pindemonti“ – Juli 1836): Pri zvučnych imenach Ravenstva i Svobody, kak budto op’janev, besnujutsja narody, und im Lyzeums-Gedicht (Oktober 1836) in der 4. Strophe: Metalisja smuščennye narody; I vysilis’ i padali cari; I krov’ ljudej to Slavy, to Svobody, To Gordosti bagrila altari.

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spältigen Stellung zu Radiščev, den er als aufrichtigen Menschen schätzte, als Denker, Schriftsteller und potentiellen Revolutionär aber ablehnte. Zwar war das Ziel der Freiheit beiden gemeinsam, aber Puškin verabscheute, schon vor dem Dekabristenaufstand (vgl. die Elegie „André chénier“, 1825), den gewaltsamen Umsturz. So schrieb er in seiner Auseinandersetzung mit Radiščev, dem „Putešestvie iz Moskvy v Peterburg“: „lučšiе i рrоčnejšie izmenenija suť te, kotoryje proischodjat ot odnogo ulučšenija nravov, bez nasil’stvennych potrjasenij političeskich, strašnych dlja čelovečestva40.“ Das Entsetzliche bei den gewaltsamen politischen Erschütterungen war eben die Erweckung der niederen Instinkte der Massen trotz edelster Absichten, wie die Französische Revolution gelehrt hatte. So konnte neben der „Erweckung edler Empfindungen“ der name Radiščev nicht stehen bleiben41. Puškin ersetzte ihn durch die Worte v moj žestokij vek. Damit war die Aussage nicht abgeschwächt, sondern eher verstärkt, nämlich verallgemeinert und vertieft. Damit war auch ein Hinweis gegeben, dass mit narod nicht die Mitlebenden des žestokij vek gemeint sein konnten, sondern spätere Generationen, angedeutet schon in der ersten Zeile durch dolgo. Dies Wort dolgo verdient überhaupt einige Aufmerksamkeit. Der Satz I dolgo budu tem ljubezen ja narodu ist, wie schon gesagt, ganz Puškins Eigentum. Seine Aussage geht weit über alles hinaus, was Horaz und Deržavin von sich rühmten. Puškin wird nicht nur genannt werden (dicar), man wird sich nicht nur an ihn erinnern (vsjak budet pomniť to), sondern man wird ihn lieben. Damit ist das in der ersten Strophe mit narodnaja tropa angedeutete Verhältnis zu künftigen Menschen präzisiert. Aber Puškin bleibt sich dessen bewusst, dass er sich auf historischer Ebene befindet und den unberechenbaren Wechselfällen der Geschichte unterworfen sein wird. Horazens Beispiel hatte ihn gelehrt, dass irdisch glorreichste Verbände, ja dass selbst Völker und Sprachen untergehen können. Deshalb setzt er das einschränkende dolgo. Das gleiche Beispiel hatte ihn aber auch gelehrt, dass große Dichtung selbst solche Untergänge zu überleben vermag42 – deshalb hatte er in der zweiten Strophe die ewige Dauer seines Ruhmes „solange auf Erden auch nur ein Dichter lebt“ verkünden können. Doch zurück zur historischen Ebene, zur vierten Strophe. Die vierte Zeile war im ersten Entwurf noch gar nicht ausgeführt. Lediglich die wieder durchgestrichenen Buchstaben i pr(...) stehen dort; sogar der Reim fehlt noch. Diese Buchstaben werden im Apparat der Akademie-Ausgabe43 gedeutet als Ansatz zu 40

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Fast mit den gleichen Worten wiederholt Puškin diesen Gedanken in „kapitanskaja dočka“, kap. VI (Akademieausgabe 1938, Bd. VIII, S. 319). Es ließen sich auch noch andere Gründe anführen: Der Gedanke der nachfolge (vsled) gehörte ebenso wie der des Primates zum horazischen Vorbild. (Lomonosov hatte so statt „Aeolium carmen“ den namen des Alkaios eingeführt!) Außerdem war die nennung von Personennamen in Oden eine Sitte des 18. Jh.s, die sich überlebt hatte. Es bestand auch kein Anlass, in einem Gedicht über die Unsterblichkeit der Dichtung gerade Radiščev zu verewigen. FRAEnkEL, o. c., S. 304, meint deshalb, Horazens Ewigkeitsformel „turns out to be an enormous understatement“. Bd. III, S. 1034.

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рrosveščеniе, vielleicht zu recht. In der Reinschrift steht dann, auf obrel reimend: I miloserdie vospel, was nach der Änderung der zweiten Zeile schon aus Reimgründen nicht stehen bleiben konnte. Die letzte Fassung lautet nun: I milost’ k padšim prizyval. Das ist nicht nur feierlicher, gewichtiger, sondern auch treffender. Als Werk Puškins, das die Barmherzigkeit besingt, wäre wohl nur Andželo (nach Shakespeares „Меаsure for measure“) anzuführen, Aufrufe zur milosť hingegen gibt es doch mehrere. Man hat oft darauf hingewiesen, dass Puškin hier sein häufiges kühnes und selbstloses Eintreten für Begnadigung der verbannten Dekabristen im Sinne gehabt habe. Das ist sicher richtig, und es ist sicher nicht alles, was diese Worte bergen. Darauf einzugehen wird erst bei der Betrachtung des Gedichtes als abgeschlossenen Ganzen ratsam sein. Übrigens könnte auch diese vierte Zeile eine Replik auf die Parallelstelle bei Deržavin: I istinu carjam s ulybkoj govoril sein. Auch Puškin hat dem Zaren die Wahrheit gesagt, aber nicht lächelnd; dazu war die Zeit, in der er lebte, zu grausig-ernst (žestokij vek!). Von allen Strophen des Gedichtes hat die vierte im Laufe des schöpferischen Prozesses die stärksten Veränderungen erfahren, sie allein ist noch in der Reinschrift so wesentlich korrigiert worden, dass man daraus auf grundlegende Verhältnisse oder gar Wandlungen von Puškins Weltbild hat schließen wollen. Dass das möglich wurde, liegt wohl vor allem daran, dass die Reinschrift erhalten ist und dass die Strophe durch Žukovskijs zensierenden Eingriff und seine Aufdekkung durch Bartenev (1881) in den Mittelpunkt des Interesses geraten war. Der zweite Grund ist, dass sie an der Stelle des Puškinschen Gedichtes steht, wo die Vorbilder Horaz und Deržavin ihren Ruhm begründeten. Ich habe versucht, zu zeigen, dass diese einfache Parallelität nicht gegeben ist, und werde das bei der Betrachtung des „Pamjatnik“ als Ganzes weiter zu belegen versuchen. An dieser Stelle möchte ich aber wiederholend noch einmal feststellen, wie sich mir beim Vergleich der verschiedenen Entwurfsstadien der Verlauf der Entstehung darstellt: 1. Bei der Abfassung des ersten Entwurfs war Puškin in einer anderen Situation als der der ersten drei Strophen: Er konnte nicht dem Schema der Vorbilder folgen. Er hat sich aber bei dieser spontanen niederschrift noch nicht Rechenschaft darüber abgelegt, wie weit er schon abgewichen war und hat versucht, den Primatanspruch, der an dieser Stelle der Vorbilder stand, auch für sich zu erheben. Dabei hat er als seinen Primat die neue Musikalität seiner Verse angeführt. 2. Zur Zeit des ersten Entwurfes war Puškin offenbar stark mit dem Thema Radiščev beschäftigt, das ihn seit 1833 immer wieder in Anspruch genommen hat. Er hatte gerade seinen Aufsatz „Aleksandr Radiščev“ zur Zensur gegeben und vielleicht auch schon von der bevorstehenden negativen Reaktion der Zensur gehört, zumindest dergleichen befürchtet. (Die endgültige Ablehnung der Druckgenehmigung erfolgte am 26. August 1836 – also erst nach Fertigstellung der Reinschrift des „Pamjatnik“). Unter dem Eindruck dieses ihn gerade bewegenden und bedrückenden Themas hat er den namen Radiščev aufgenommen.

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3. Bei der letzten korrektur, die das Gedicht als Ganzes betraf, ist Puškin sich dann klar geworden über die Unangemessenheit der beiden Zeilen. Der Primatanspruch schien ihm sachlich nicht gerechtfertigt44, von der Struktur des Gedichtes her unnötig (der Grund seines Ruhms war in der zweiten Strophe schon genannt; das Dichtertum an sich galt ihm mehr als die Einzel- oder Erstleistung; die Musikalität war ihm nicht das letzte Ziel45, und schließlich war es unwahrscheinlich, dass die Liebe des Volkes gerade darauf beruhen würde). So kam, negativ betrachtet, die Änderung dieser Zeile zustande. Die positive Seite und die Änderung der dritten (und vierten) Zeile haben wir oben schon betrachtet. Erst nach diesen Änderungen fügte sich die vierte Strophe ohne inhaltlichen oder stilistischen Bruch in die Gesamtstruktur des Gedichtes ein. Und nur in ihrer endgültigen Form darf die Strophe m. E. für die Interpretation des Ganzen herangezogen werden. 5. Variation: Die Umwelt Die fünfte Strophe bzw. der letzte Satz enthielt bei Deržavin und Horaz die Anrufung der Muse und die Aufforderung zur Bekränzung, sei es der Muse, sei es des Dichters. Puškin folgt, was die Anrufung der Muse betrifft, genau den Vorbildern, er schreibt im Entwurf als erstes fast an den Anfang der ersten Zeile O Muza und lässt Platz für die noch zu findenden Worte. Aber der Entwurf zeigt auch, dass Puškin in dieser Strophe von Anfang an das Gegenteil von dem ausdrücken wollte, was die Vorbilder sagten. In diesem geplanten kontext bekommt das Wort muza eine neue Bedeutung. Es bezeichnet nicht mehr die inspirierende Gottheit wie bei Horaz; es bezeichnet nicht mehr die (eigene oder überhaupt die russische) Dichtung wie bei Deržavin, sondern es wird zum Synonym für den Dichter. Puškin umgeht so unbemerkt auch die Entscheidung darüber, wer wen kränzen solle. Einmal sind muza und Dichter zusammengefallen, und zum zweiten wollte er gar keinen kranz, weder für sich noch für die Muse. Diese radikale Umkehrung des Sinnes der letzten Strophe zeugt mehr als alles andere dafür, dass in dieser Strophe, nach Puškins Absicht, von der Gegenwart die Rede ist. Auch Deržavin hatte in der letzten Strophe auf die Gegenwart und ihre unfreundlichen Seiten angespielt mit der Zeile: I prezrit kto tebja, sama 44

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Er hätte diesen Primat wohl eher Žukovskij oder Batjuškov zugestanden. Vgl. seine Worte über Ž.: Ego stichov plenitel’naja sladost’ / Projdet vekov zavistlivuju dal’ („k portretu Žukovskogo“ 1818); sladkozvučnye tvoren’ja („Razgovor knigoprodavca s poėtom“ 1824) u. v. a. – über В.: „On sdelal dlja našego jazyka to že samoe, čto Petrarka dlja ital’janskogo („O pričinach zamedlivšich chod našej slovesnosti“ 1824); vgl. auch die Randbemerkungen zu B. s Gedichten mit Ausrufen wie: „kakie zvuki!“ „Zvuki ital’janskie!“ u. ä. Vgl. z. B. seine kritik an Vjazemskijs „Vodopad“ im Brief v. 14. August 1825: ... s gnevom Serdityj vlagi vlastelin – Vla Vla zvuki muzykal’nye, no možno li, napr. skazať о molnii vlastitel’nica nebesnogo ognja? Vodopad sam sostoit iz vlagi, kak molnija sama ogon’. Peremeni kak-nibuď ...

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tech preziraj! Im ganzen war seine Schlussstrophe aber ein stolzer Ausblick in die Zukunft: Čelо svoe zarej besmertija venčaj! Horaz hatte seinen Stolz der Muse dargebracht und sich, nach vollbrachtem Werk, den delphischen Lorbeer erbeten in der der Gottheit gebührenden Weise (und im bewussten Gegensatz zu der selbstbewussten Widmung an Maecenas in I, 1: Quodsi me lyricis vatibus inseres/Sublimi feriam sidera vertice). Puškins Schlussstrophe ist Selbstbeschwichtigung und Trost. Die ihn von allen Seiten bedrängenden Anfeindungen und Widrigkeiten der Gegenwart werden zurückgewiesen. In solcher Gegenwart kann keine Gottheit mehr den kranz verleihen, nur irdische Instanzen könnten das – und solche Auszeichnung lehnt Puškin ab. Er wies solche Vorstellung, die ihm von den Beispielen Petrarcas und Tassos her bekannt war46, von sich. Es genügte ihm, sich seines Wertes bewusst zu sein und seine göttliche Aufgabe trotz aller Hemmnisse zu erfüllen. Deshalb ruft er sich bzw. seiner Muse zu: Sei dem göttlichen Geheiß gehorsam. Ohne kränkung zu fürchten, ohne einen kranz zu fordern, nimm Lob und Verleumdung gleichmütig hin und rechte nicht mit Toren! Du hast dir zeitlichen und ewigen Ruhm erworben, und damit das Recht, die Gegenwart zu ignorieren. Auch diese Strophe hat einige Umformungen im Detail erfahren, von denen für das richtige Verständnis vor allem die folgenden wichtig sind: 1. In der dritten Zeile hieß es zuerst chvalu i bran’ glupca, dann сhvalu i bran’ tolpу, bevor Puškin die durch Schlagreim ausgezeichnete endgültige Formulierung сhvalu i klevetu fand. Die beiden Vorstufen sind deshalb erwähnenswert, weil sie zweierlei deutlich machen. Einmal, dass mit glupec nicht Alexander I. gemeint sein kann. Dazu passt weder bran’ noch die Ersetzung von glupca durch tolру. Glupec ist also, wie in zahllosen anderen Gedichten Puškins und anderer russische Autoren des 18. und frühen 19. Jh. s, als Typos und Topos ein fester Bestandteil der Poetik, das russische Äquivalent des französischen sot: der kunstbanause47. Zum andern zeigt das Wort tolpу, dass die in der letzten Strophe apostrophierten Zeitgenossen durchaus nicht mit dem narod der ersten und vierten Strophe identisch sind. 2. Wichtiger noch sind die Varianten der ersten Zeile. Zunächst hatte Puškin geschrieben: Svjatomu žrebiju, о Muza, bud’ рoslušna, die ersten beiden Wörter änderte er dann in Рrizvan’ju svoemu und schließlich, erst in der Reinschrift, in Velen’ju Božiju. Wie oft in Puškins korrekturen, nähert sich die letzte Fassung wieder der ersten. Wer die erste Fassung kennt, wird nicht in den Fehler Geršenzons verfallen, aus der zweiten Änderung unhaltbare Schlüsse zu ziehen, wie diese48: 46

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Vgl. den Brief von V. V. Izmajlov an P. vom 29. September 1826: Zaviduju Moskve. Ona koronovala imperatora, teper’ koronuet poėta ... Izvinite; ja zabyvajus’. Puškin dostoin triumfov Petrarki i Tassa, no moskvitjane ne rimljane, i kreml’ ne kapitolij (Akademieausgabe XIII, 297). Vgl. z. B. BOILEAUS „Art poétique“, Ende des ersten Gesangs: Un Sot trouve tousjours un plus Sot qui l’admire. GERšEnZOn, о. с, S. 52.

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Gork’ka obida, no takov rokovoj zakon – Bož’je velen’je, ‘роkoris’ Bož’ej vole; vot čto govorit ėta strofa. Рuškin napisal pervonačal’no(!): „Рrizvan’ju svoemu, о Мuza, bud’ роslušna“, t. e. idi svoim рutem naperekor obide, – potom izmenil ėtot stich, soobrazno vsemu zamyslu stichotvorenija, dav emu ne položitelnyj smysl prizyva, a otricatel’nyj pokornosti, smirenija ...

Die erste Fassung Svjatomu žrebiju zeigt, dass der Sinn nicht in der von Geršenzon angenommenen Weise geändert wurde. Svjatoj žrebij, Рrizvan’jе und Velen’je Božie sind verschieden akzentuierte Bezeichnungen für ein und dasselbe: das heilige Los des Dichters, seine Berufung zum Dichter, das göttliche Geheiß, das ihm gebietet, Dichter zu sein. Die „Berufung“ ist unter den drei Ausdrucksmöglichkeiten die konventionellste, das „heilige Los“ gibt dem Berufenen schon deutlicher eine religiöse Würde, aber in diesen beiden Formeln bleibt noch offen, ob das Leben als Dichter ein leichtes oder schweres Geschenk ist. Erst die letzte Fassung, das „göttliche Geheiß“, macht den ganzen Ernst fühlbar. Diesem Geheiß hat der Dichter zu folgen (ja er muss sich selbst daran erinnern), auch wenn er sich damit der Verständnislosigkeit, der kränkung, der Verleumdung aussetzt. So gibt Puškin auch in der letzten Strophe wieder (wie Horaz) ein religiöses Bild. Aber dieses Bild hat seine Heimat ganz in christlichen Vorstellungen. Waren die religiösen Bilder der zweiten Strophe, zwar aus christlichem genommen, allenfalls als Äußerungen einer ästhetischen, „romantischen“ kunstreligion deutbar, so ist dies letzte auf erschütternde Weise vertieft. Die Anerkennung des notwendigen Leidens der von Gott zu besonderen Leistungen Erkorenen, die Idee der svjaščennnaja žertva beschließt den stolzen und zugleich von tiefster irdischer Verlassenheit gezeichneten Rückblick, Ausblick und Umblick von der Höhe des Geleisteten. Die Muse ist keine Gottheit mehr, sie ist eine im Dichter anwesende kraft des einen Gottes, deren Wirken Werke hervorbringt, die „nicht von Menschenhand geschaffen sind“, aber um den Preis eines leidvollen, bedrohten Lebens inmitten von Feinden und Toren. Hier berührt sich die religiöse Auffassung vom Wesen der Dichtung aufs innigste mit der christlichen vom Opfer. War in dem eben erwähnten Gedicht „Роka ne trebuet poėta ... „ der Gott noch mit dem namen Apollon genannt und das Opfer ein Bild aus dem heidnischen kult, der Dichter der opfernde Priester am Altar Apollons, so ist nun, ganz parallel zu der Verschmelzung von Dichter und Muse, der Opfernde selbst zum Opfer geworden, und es gibt für ihn nur noch das Geheiß des einen Gottes, dem er Gehorsam schuldet. Dieser Gehorsam gibt ihm das Recht und die kraft, den Anfeindungen der „Welt“ gelassen zu begegnen. In der Entschlossenheit der Zeilen, die diese „Welt“ abweisen, kann ich keine pokornost’ oder smirenie wahrnehmen. Sie wiederholen vielmehr, vielleicht sogar stärker, die Zeilen des Sonetts „Poėtu“: A ty ostan’sja tverd, spokoen i ugrjum! Gerade in diesen Zeilen kommt zum Ausdruck, dass die nepokornaja glava sich nicht nur über den Tyrannen erhebt, sondern dass sie sich ebenso stolz und unabhängig über die Zeitgenossen emporreckt. Einzig und allein vor Gott kennt Puškin Gehorsam. Seine Dichtung ist ihm durch gött-

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liches Geheiß aufgetragen. Und so endet das Gedicht mit einer Mahnung an sich selbst, sich nicht in fruchtlosen kämpfen und Diskussionen mit der feindlichen Gegenwart zu verzetteln, sondern den von Gott vorgezeichneten Weg weiterzuschreiten. Zum Trost wird diese Mahnung durch die voraufgegangene Verkündung von der Gewissheit der ewigen und zeitlichen Werte, die schon auf diesem Wege geschaffen waren. Und die Worte Velen’je Božie knüpfen an das Epitheton nerukotvornyj der ersten Zeile an, das die göttliche Herkunft der Werke schon angedeutet hatte. Die korrekturen der Reinschrift Vor der Betrachtung des Puškinschen Gedichtes als Ganzes und unabhängig von den Vorbildern ist es nützlich, die letzten, noch in der Reinschrift vorgenommenen Änderungen anzusehen, die ja am deutlichsten zu zeigen vermögen, was Puškin für nötig hielt, um aus dem Entwurf ein fertiges kunstgebilde zu machen, wo er die Feile ansetzte und wie er änderte. Wir haben diese Änderungen bisher nur für sich bzw. im Verband der jeweiligen Strophe besprochen. Es wird sich aber zeigen, dass ihnen allen oder fast allen eine gemeinsame konzeption zugrunde liegt, um nicht zu sagen eine gemeinsame Tendenz eigen ist. In der ersten Strophe weist die Reinschrift keine Änderungen auf, und den Entwurf besitzen wir ebenso wenig wie den der zweiten Strophe. In dieser gibt es zwei wesentliche Änderungen: duša v bessmertnoj lire / Menja pereživet wird zu duša v zavetnoj lire / Moj prach рereživet. Die konventionelle Wortverbindung bessmertnaja lira wird durch die neue, mit religiösen Assoziationen beladene zavetnaja lira ersetzt. Darüber hinaus gibt diese neue Definition von lira, d. h. hier „dichterisches Werk“, einen ersten Hinweis, dass dieses Werk nicht nur in sich ruht, sondern sich auch an spätere Menschen wendet. Die Änderung von menja in moj prach erweckt gleichfalls, schon durch das kirchenslavische Wort, religiöse Assoziationen und schafft eine deutliche, auf christlicher Vorstellung beruhende Antithese duša: prach. In der dritten Strophe zeigt die ursprüngliche, dann durch darüber geschriebene Ziffern geänderte Wortfolge Sluch projdet obo mne, wie stark Puškin die Deržavinsche Fassung noch im Ohr geklungen haben muss, nachdem er doch im ersten Entwurf diese Wortfolge schon der moderneren Betonung von projdët angepasst hatte. Die Änderung von syn stepej in drug stepej zeugt von dem Bestreben, einfache Bilder an Stelle preziöser, nicht einheimischer zu setzen. Es mögen auch Erwägungen der Euphonie mitgewirkt haben (die Vermeidung der drei s-Laute). In der vierten Strophe ist am meisten geändert. Über die vermutlichen Gründe ist oben ausführlich gesprochen worden. Für diesen Überblick bleibt zu betonen, dass die Änderung der zweiten Zeile die gleichen Assoziationen beschwört, die in der zweiten Strophe schon bemerkt wurden, Čuvstva dobrye ... probuždal steht in innerer Beziehung zu zavetnoj; beide Ausdrücke sind mit

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lira verbunden! Die Änderung der dritten Zeile spricht von dem Bemühen, das Spezielle durch das Allgemeine zu ersetzen (vsled Radiščevu durch v moj žestokij vek) und definiert außerdem die relative Zeitlage der ganzen Strophe, den historischen Aspekt. Die Änderung der vierten Zeile verstärkt die in miloserdie schon gegebene Färbung noch im Sinne der übrigen religiösen Assoziationen, besonders durch das Partizip padšim, das unwillkürlich an solche Verbindungen wie раdšiе vo iskušenie denken lässt. Auch der scheinbar nur aus Reimgründen erfolgte Austausch der Verben obrel und vospel gegen probuždal und prizyval bewirkt eine Verlagerung in dem gleichen Sinne wie bei dem Wechsel des Epithetons zu lira in der zweiten Strophe, nämlich von der Autonomie des Ästhetischen zur lebendigen Wirkung im ethischen Raum. In der fünften Strophe schließlich dient die Änderung von Prizvan’ju svoemu in Vеlеn’ju Božiju zweifellos der gleichen Verlagerung und verleiht der sonst ja auch in Satiren und Episteln anzutreffenden kritik oder Verachtung böswilliger und verständnisloser Zeitgenossen ethische Würde. Überblickt man diese letzten Änderungen der Reinschrift im Ganzen, so wird man eine Tendenz zur Schlichtheit und Erhabenheit, verbunden mit einem in religiösen Bildern und Assoziationen zu christlichen Vorstellungen sich bezeugenden ethischen Ernst, erkennen. Einzelne Züge waren schon vor diesen Änderungen vorhanden. Es genügt die Worte zu nennen: nerukotovornyj; duša; tlen’jа; vsjаk suščij v nej jazyk; miloserdie; prijemli und im Entwurf der fünften Strophe svjatomu žrebiju. Diese Ansätze hat Puškin bewusst ausgenutzt und ergänzt durch: zavetnoj; moj prach; čuvstva; milosť k padšim; Velen’ju Božiju. In diesen Wortschatz von einheitlicher semantischer Struktur und gleichen emotional-assoziativen Werten fügt sich auch die Bezeichnung der Welt als podlunnyj mir, des Dichters als piit, der Heimat als Rus’, ja selbst des kunstbanausen als glupec ein, was ebenfalls ein biblischer Ausdruck für „Tor“ sein kann. Und in der gleichen Richtung dürfte die Lösung des philologischen Rätsels zu suchen sein, das Grégoire so beunruhigte: die ungewöhnliche „gräzisierende“ Adjektivbildung aleksandrijskij statt aleksandrov (skij). Macht man die „Gegenprobe“, so zeigt sich, dass vor allem die reinen ästhetischen kategorien entstammenden oder poetischen Bräuchen verpflichteten Wörter und Wendungen getilgt wurden, nämlich bessmertnoj in Verbindung mit lire; zvuki novye dlja pesen ja obrel; vospel; рrizvan’ju svoemu, sowie die rhetorische Metapher syn stepej und der Eigenname Radiščev. Haben wir die gemeinsame Tendenz der letzten Änderungen erkannt, so bleibt zu fragen, welcher gemeinsamen konzeption sie dienen, d. h. in welchem Maße und in welchem Sinne sie zur künstlerischen Einheitlichkeit des Gedichtes beitragen. Das gehört aber schon zur eigentlichen Interpretation, die wir nach diesen Vorbereitungen nun versuchen können.

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9 Puškins „Pamjatnik“ in seiner endgültigen Form ist, ungeachtet der Anregung durch die Gedichte Horazens und Deržavins, ungeachtet wörtlicher Entlehnungen und Anklänge an das letztere, ungeachtet einzelner Transponierungen oder Repliken, ein völlig eigenständiges Gedicht. Das zeigt sich am deutlichsten in der inneren Struktur. Die erste Strophe konstatiert unter dem Bilde des nicht von Menschenhand erschaffenen Denkmals die Tatsache des dichterischen Werkes, seine Größe, seinen Wert im Gegensatz zur eindrucksvollsten Bekundung menschlicher Macht – der Alexandersäule. Die zweite Strophe charakterisiert dieses Werk sub specie aeternitatis, im Wesen als zavet duši, in der Wirkung als slava. Die dritte Strophe verlässt den Bereich des Absoluten und verkündet die künftige Verbreitung der kunde vom Dichter im historisch-geographischen Raum der Heimat im weitesten Sinne. Die vierte Strophe ergänzt den historischen Raum durch die historische Zeit, vertieft die bloße Verbreitung der kunde durch Anführung der erweckenden Wirkung des Dichters (mit seinem Werk und Menschentum) auf künftige Generationen. Die fünfte Strophe verengt den historischen Horizont weiter auf die Gegenwart, in der das göttliche Geheiß dem Dichter gebietet, seinen einsamen Weg unbeirrt fortzusetzen. Der Ablauf der Gedanken macht auf den ersten Blick den Eindruck eines Absteigens49 vom Absoluten, Allgemeinen über das Historische, Besondere zum Momentanen, Individuellen. (Manche – etwa Geršenzon – haben darin auch einen Abstieg vom unabhängigen Stolz über bittere Ironie zur Resignation sehen wollen.) Aber dieser erste Blick täuscht. Bei genauerem Zusehen stellt sich der Ablauf eher als ein zyklischer dar, bei dem die zuerst bemerkte Tendenz der zunehmenden Einengung des Horizontes durch eine Reihe von entgegenwirkenden Momenten aufgehoben wird. Wohl entspricht es dem Bilde des Denkmals mit dem hochgereckten unbeugsamen Haupte, dass zuerst die ewigen Verhältnisse wahrgenommen werden, dann die historischen, erst in ihrer Weite, dann in ihrer durch menschliche Empfindungen bedingten Tiefe, und ganz zum Schluss, gleichsam am Fuße des Denkmals, die lästige Umwelt der Gegenwart. Puškin ist durch diese Gedankenfolge dem anfänglichen Bilde des Denkmals in erstaunlicher Weise treu geblieben, ebenso wie er durch die Worte vom Zuwachsen des Pfades dieses Denkmal konkret vorstellbar machte. So hat er auch dem Denkmal ein Haupt verliehen, das die Vorstellung des Blickens impliziert, das Denkmal damit zu49

GRÉGOIRE spricht a. a. O. von der fünften Strophe sogar als „une chute“!

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gleich belebend50 und durch das „autobiographische“ Epitheton nepokornoj mit dem Dichter in der gleichen Weise verschmelzend wie die „Muza“ der letzten Strophe. Und ebenso wie in der letzten Strophe werden die Selbstaussagen des Dichters durch das Denkmal bzw. die Muse objektiviert: voznessja vyše оn und die Imperative der zweiten Person buď роslušna, priemli, ne osporivaj. Der Entsprechungen zwischen der ersten und der letzten Strophe sind noch mehr. nur in diesen beiden Strophen ist die Gegenwart anwesend: im Aleksandrijskij stolp findet sie – auf der Stufe des Denkmals – ihren symbolischen Ausdruck; im glupec ist ihre niedere Wirklichkeit vertreten. Beide Male steht ihr die Objektivierung des Dichters entgegen: das Denkmal, das Züge eines lebenden Menschen hat (voznessja ... glavoju nepokornoj), und die Muse, die sich der Auseinandersetzungen mit den lebenden Menschen – wie ein Denkmal – enthalten soll. Auch rhythmische Entsprechungen gibt es zwischen beiden Strophen. In den beiden ersten Zeilen ist die Zäsur verschoben, bzw. eine zweite eingeführt, was an dieser Stelle in keiner der anderen Strophen vorkommt. Dann stimmen die letzten Halbverse der jeweils 2. und 3. Zeile rhythmisch überein, ebenso der erste Halbvers von I, 2 mit dem ersten von V, 3, ebenso die beiden Schlusszeilen. keines dieser rhythmischen Motive ◡−◡◡ | ◡−; ◡−◡ | ◡◡−◡; ◡?◡?◡−◡◡ | ◡− und ◡− | ◡?◡◡− kommt in einer der anderen Strophen vor, in keinem einzigen Falle gibt es bei Übereinstimmungen dieser Art zwischen anderen Strophen einen so hohen Anteil von rhythmisch gleichen Halbversen bzw. Versen wie zwischen der ersten und der letzten Strophe. Endlich ist noch der Reim zu nennen, der in der jeweils 2. und 4. Zeile ebenfalls gleichlautend ist51. Sprechen alle diese Beobachtungen schon für die zyklische Struktur des Gedichtes, so ist als wichtigstes noch die Intensivierung des religiösen Elementes zu erwähnen, das in der ersten Strophe mit nerukotvornyj nur vielsagend angedeutet ist, in der letzten aber mit Velen’ju Božiju sich voll entfaltet. So wird der Abstieg, die Einengung des äußeren Horizontes kompensiert durch die wachsende Tiefe des inneren Raumes, durch die Erweiterung der Einsicht, die erst in der Antithese zu den irdischen Bedingungen ihre volle Bedeutung gewinnt. Zwischen diese beiden Pole der zyklischen Bewegung von äußerem Abstieg und innerem Aufschwung eingebettet, ja eingespannt sind die übrigen Strophen: die wiederum antithetisch (und teilweise rhythmisch) einander zugeordneten Strophen 2 und 4, und dazwischen als Ruhepunkt und Angelpunkt der gegenläufigen Bewegung die (rhythmisch „regelmäßigste“) dritte Strophe. 50

51

In dieser Beziehung fügt sich das Gedicht ausgezeichnet in die Gesamtcharakteristik von Puškins „Denkmal-Symbolik“ ein, wie sie R. JAkOBSOn, о. c, geschildert hat. Das veranlasst LEDnIckI, a. a. O., „glupec“ mit Alexander I. zu identifizieren; Gegenargumente s. o.

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Die zweite Strophe entwickelt das Thema vom Wert des Dichters, das in der ersten und fünften vor dem Hintergrund der Gegenwart als Überlegenheit und Abweisung dargestellt ist, nun losgelöst von jeder Relativierung im absoluten Eigenraum, zugleich die Überlegenheit als Unsterblichkeit erklärend. So wird der Gedanke der ersten Strophe begründend weiter entfaltet. Die Objektivierung – Denkmal und Muse – erfährt eine Vertiefung: das Denkmal ist das Werk (lira), die Muse, die kraft, die es schafft und ihm ewiges Leben verleiht, ist die Seele des Dichters. Wie der Dichter sich in der letzten Strophe mit der Muse identifiziert, so identifiziert er sich hier mit der Seele. Das entspricht früheren Äußerungen über die Seele als eigentliches Organ der Dichtung, z. B. in dem Fragment „Osen’“, Str. X: Duša stesnajetsja liričeskim volnen’jem, Trepeščet i zvučit, i iščet, kak vo sne, Izliťsja nakonec svobodnym projavlen’jem.

(1833)

Das Gedicht als „freies In-Erscheinung-Treten“ der Seele hat Anteil an deren Unsterblichkeit. Aber die Unsterblichkeit der Dichtung ist von eigener Art. Solange sie nur unsterblich ist, fehlt ihr das positive Merkmal des Lebendigen, sie gleicht wirklich einer Statue, die niemand sieht. Damit die Unsterblichkeit zum ewigen Leben wird, bedarf es derjenigen, die sie wahrnehmen, die den Pfad zu der Statue finden. Das sind vor allem die Menschen, die verwandter Empfindungen fähig sind, die Dichter. Puškin selbst hat häufig von seiner Erfahrung angesichts früherer Dichtungen gesprochen, im selben Jahre noch, 1836, preist er das Glück, pered sozdan’jami iskusstv i vdochnoven’ja Trepešča radostno v vostorgach umilen’ja

(Iz Pindemonti)

stehen zu dürfen. Auch dass Dichter allein dieser Erfahrung fähig seien, hat er mehrmals formuliert: „Poėzija byvaet isključitel’noj, strast’ju nemnogich, rodivšichsja poėtami“ (O predislovii g-na Lemonte k perevodu basen I. A. krylova, 1825) – „On (poėt) tvorit dlja samogo sebja i, еsli izredka ešče obnarodyvaet svoi proizvedenija, to vstrečaet cholodnost’, nevnimanie i nachodit otgolosok svoim zvukam tol’ko v serdcach nekotorych poklonnikov poėzii, kak on uedinennych, zaterjannych v svete“ (Baratynskij, 1830) und wie ein Echo dieses letzten, zu Lebzeiten Puškins nicht veröffentlichten Aufsatzes klingen die Worte Gogoľs in „neskol’ko slov o Puškine“: „čem bolee poėt stanovitsja poėtom, čem bolee izobražaet on čuvstva, znakomye odnim poėtam, tem zametnej umenšaetsja krug obstupivšej ego tolpy i nakonec tak stanovitsja tesen, čto on možet perečesť po pal’cam svoich istinnych cenitelej“ (1832). Alle diese Äußerungen sind eindeutig auf die Gegenwart bezogen. Aber sie treffen in ihrem positiven Teil, der die Empfänglichkeit der Dichter angeht, für jede Zeit zu. So kann Puškin die Unsterblichkeit oder besser das ewige Leben seiner Dichtung allein schon in der Tatsache gewährleistet sehen, dass es immer

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wieder und überall auf Erden Dichter gibt und geben wird. Von ihnen wird sein Werk gepriesen werden52. Der Wert der Dichtung ist in der zweiten Strophe absolut gesehen und eben deshalb der religiösen Sphäre verschwistert, die in der ersten und fünften Strophe Hintergrund und Begründung abgegeben hatte. Der Wortschatz ist – durch die Änderungen in verstärktem Maße religiös gefärbt. Darin spiegelt sich eine der wichtigsten, wohl für Puškin selbst nicht endgültig auflösbaren Spannungen, die zwischen individuell-ästhetischer und traditionell-christlicher Religiosität. In der Bedingtheit seiner Zeit und Sprache konnte er jedes wahre religiöse Gefühl nur durch christliche Bilder ausdrücken, und es ist sehr schwer zu entscheiden, wieweit solche Bilder im christlichen Sinne ernst gemeint sind. Die Änderung der letzten Strophe (Prizvan’ju svoemu zu Velen’ju Božiju) spricht allerdings sehr dafür. Ebenfalls dafür spricht m. E. die vierte Strophe (und die als Übergang und Vorbereitung dazu dienende dritte). Bestünde das Gedicht nur aus der 1., 2. und 5. Strophe, so wären Puškins ästhetische Grundanschauungen darin vollkommen ausgedrückt, und zwar bereits in einer Form, die die religiöse Würde des Dichters als Auszeichnung wie als Begründung seiner Überlegenheit und Vereinsamung hervorhebt, ohne zu mythologischen Metaphern Zuflucht zu nehmen, sondern in christlichen Bildern. Gerade die Wörter muza und lira zeigen ja durch ihre Stellung an, dass sie mit einem neuen, christlichen Gehalt gefüllt sind als Ort der Seele und als schöpferische kraft, die dem Geheiß Gottes untersteht. Diese Verbindung von antiker Terminologie mit christlichen Gehalten ist für jene Zeit keine außergewöhnliche Erscheinung. Es würde aber für einen repräsentativen Rückblick auf das Geleistete etwas Wesentliches fehlen: die Rechenschaft über das Verhältnis des Dichters zu der historischen Gemeinschaft, in der er gewirkt hat. Die erste und fünfte Strophe berühren nur den negativen Aspekt dieses Verhältnisses. dass es auch einen positiven habe, konnte Puškin weder entgehen, noch durfte es in seiner poetischen Summa fehlen. Im bewussten Gegensatz zu seinen Vorbildern, denen die Heimat und deren Bewohner nur indifferente Träger des eigenen Ruhmes waren, sieht Puškin in ihnen Menschen, die eigener Empfindungen fähig sind und ihm deshalb Liebe entgegenbringen werden. Die vierte Strophe, die dies aussagt, bildet damit einen Gegensatz zur zweiten, die die Dichtung absolut setzte, und auch zur fünften, in der nur die negative Seite des Verhältnisses zur Gemeinschaft beleuchtet wurde. (Übrigens sind auch rhythmische Parallelen zwischen der 2. und 4. sowie zwischen der 4. und 5. Strophe vorhanden.) Dieser doppelte Gegensatz wurde von Geršenzon zur Grundlage seiner Interpretation gemacht. Er versuchte ihn dadurch aus der Welt zu schaffen, dass er die vierte Strophe als bittere Ironie deutete. Er geht offenbar von der willkürlichen 52

Das Wort „slaven“ ist vermutlich auch im kirchenslavischen Sinne zu verstehen; nicht „berühmt“, sondern „gepriesen“ (vgl. etwa: „kol’ slaven naš Gospod’ v Sione“).

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Voraussetzung aus, dass Puškin auch in diesem Gedicht seine ästhetischen Grundsätze und nichts weiter habe demonstrieren wollen. Durch diese einseitige Betrachtungsweise entgehen Geršenzon nicht nur die verbindenden Elemente, die diese Strophe an die übrigen ketten, sondern auch einige wichtige Gegensätze, nämlich, dass die vierte Strophe von der Zukunft, die fünfte von der Gegenwart handelt und dass narod hier keinesfalls identisch sein kann mit dem glupec der letzten Strophe (s. o.). Geršenzon führt viele Stellen aus Puškins Werk an, in denen das Wort narod in kontexten steht, die es negativ, im Sinne von tolpa, čern’, glupcy definieren, übersieht aber alle Stellen, die dem Wort eine positive Bedeutung beilegen. Mit seiner syntaktischen Interpretation hat er zweifellos recht: die 2., 3. und 4. Zeile der vierten Strophe drücken das aus, was den Dichter beim Volke liebenswert machen wird. (Damit ist bestätigt, dass diese Strophe nicht den gleichen Platz einnimmt, wie die entsprechenden Passagen der Vorbilder, die von der [Erst-]Leistung des Dichters als Begründung seines Stolzes und Ruhmes handeln.) Puškin ist sich dessen wohl bewusst gewesen und hat dem Volke keine ästhetischen Urteile in den Mund gelegt. Darf aber deshalb eine Geringschätzung des Volkes und seiner Gefühle daraus gefolgert werden? Es muss wohl berücksichtigt werden, dass die gleiche Dichtungstheorie, die dem Dichter religiöse Würde zusprach – als Priester oder Seher –, auch die kultur schaffende Rolle der Dichtung betonte und unter Rückgriff auf Horazens Orpheusbericht (Ars poetica 391–407) immer wieder verkündete. In der russischen Dichtung durchzieht diese Auffassung ein halbes Jahrhundert von karamzins „Poėzija“ (1787) bis zu Lermontovs „Poėt“ (1838) – charakteristisch für Puškin ist, dass er auch dieses Thema in rein christlichen (alttestamentlichen) Bildern entwickelt, in dem berühmten „Prorok“ (1826). In der geistigen Bewegung, die man Romantik zu nennen pflegt, die aber schon mit Ossian und Herder bedeutenden Einfluss gewinnt, wird zudem dem Volke (sowie seiner nationalen Geschichte und Überlieferung) eine bis dahin unbekannte Verehrung auch als ursprünglicher poetischer Potenz zuteil. Auch Puškin hat das immer wieder betont. In diesem Sinne ist „Volk“ ein dem dichterischen verwandtes Element, im Gegensatz zu der chladnaja, nadmennaja tolpa des zeitgenössischen halbgebildeten Lesepublikums. Und wie wäre schließlich Puškins lebenslange Bemühung um „narodnost“‘ in der Dichtung53 mit einer so grundsätzlichen Verachtung des Volkes zu vereinbaren, wie Geršenzon sie annimmt? Und wie sollte Puškin in einem solchen kontext von svoboda und milost’ k padšim ironisch gesprochen haben? Ist denn žestokij vek Ironie? Den einzigen sachlichen Grund für diese Interpretation könnte man wohl darin suchen, dass Puškin die Worte ljubezen und čuvstva dobrye verwendet, die so schlicht sind, dass man sie, besonders wenn man den Gegensatz zu dem 53

Die Zeugnisse dafür sind neuerdings zusammengestellt und behandelt im ersten Aufsatz von TOMAšEVSkIJS Buch „Puškin i Francija“, S. 11ff.

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feierlichen slaven der zweiten Strophe bedenkt, für banal halten könnte. Und darin könnte allerdings eine Art Ironie liegen, indem Puškin absichtlich die gewöhnlichsten Wörter benutzt, um auf ihre wahre und tiefe Bedeutung hinzuweisen. (Wenn man will, eine Art „Verfremdung“ durch den erhabenen Stil des kontextes.) Was kann denn einem Menschen Größeres widerfahren, als dass er noch nach seinem Tode anderen „liebenswert“ wird, was ist wertvoller als die Fähigkeit, in anderen „gute Gefühle“ zu erwecken? – Das alles, so scheint Puškin sagen zu wollen, vermag die Dichtung, allein deshalb, weil sie Dichtung ist, ohne jede predigende Absicht. Es ist nicht eine Frage des nutzens oder gar nützenwollens, sondern gehört sozusagen per definitionem zur wirklichen Dichtung. Vgl. Puškins Äußerungen über die neuere französische Literatur in seiner Antwort auf die Akademierede M. E. Lobanovs, 1836: cel’ chudožestva jest’ ideal, a ne nravoučenie. no pisateli francuzskie ponjali odnu tol’ko polovinu istiny neosporimoj i položili, čto i nravstvennoe bezobrazie možet byt’ cel’ju poėzii, t. e. idealom!

(Erstaunlicherweise nennt auch Geršenzon diesen Aufsatz, aber als Argument für Puškins Forderung nach Freiheit des Dichters in der Wahl seiner Sujets, einer Frage, die im „Pamjatnik“ gar nicht gestellt ist.) Andererseits ließen sich leicht zahlreiche Stellen aus Puškins Werk beibringen, die zeigen, dass das Wort čuvstvo zu den Leitwörtern gehört, die die höchsten positiven Werte bezeichnen. Einige Beispiele mögen genügen: (Čaadaevu, 1821): Ty byl celitelem moich duševnych sil; O neizmennyj drug, tebe ja posvjatil I kratkij vek, uže ispytannyj sud’boju, I čuvstva, možet byt’ spasennye toboju! ... Vo glubinu duši vnikaja strogim vzorom, Ty oživljal ee sovetom il’ ukorom; Tvoj žar vosplamenjal k vysokomu ljubov’; Terpen’je smeloe vo mne roždalos’ vnov’.

(Demon, 1823): kogda vozvyšennye čuvstva, Svoboda, slava i ljubov’ I vdochnovennye iskusstva Tak sil’no volnovali krov’.

(Ljublju vaš sumrak neizvestnyj, 1825): no, možet byt’, mečty pustye – Byt’ možet, s rizoj grobovoj Vse čuvstva, brošu ja zemnye I čužd mne budet mir zemnoj.

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(Pod nebom golubym strany svoej rodnoj, 1826): no nedostupnaja čerta mez nami jest’. naprasno čuvstvo vozbuždal ja: Iz ravnodušnych ust ja slyšal smerti vest’, I ravnodušno54 ej vnimal ja.

(k Jazykovu, 1826): kak ty šališ’, i kak ty mil, kakoj izbytok čuvstv i sil.

(kto znaet kraj ... 1828): na raj poludennoj prirody, na blesk nebes, na jasny vody, na čudesa nemych iskusstv V stesnen’i vdochnovennych čuvstv. Ljudmila svetlyj vzor vozvodit ...

(k Vel’moze, 1830): Vlijan’e krasoty/Ty živo čuvstvueš’

und ebenfalls aus dem Jahre 1830: Dva čuvstva divno blizki nam – V nich obretaet serdce pišču – Ljubov’ k rodnomu pepelišču, Ljubov’ k otečeskim grobam. Životvorjaščaja svjatynja! Zemlja byla b bez nich mertva, kak ... pustynja I kak altar’ bez božestva.

An diesen absichtlich nur der reinen Lyrik entnommenen Beispielen lässt sich etwas sehr Bezeichnendes ablesen: čuvstvo ist für Puškin oft der Inbegriff des Lebendigen. nicht umsonst ist es in den 9 Beispielen zweimal mit lebensgefährlichen Bedrohungen (seelischer Art) und dreimal mit Todesgedanken antithetisch verknüpft. Dem entspricht negativ etwa: rano čuvstva v nem ostyli (Evgenij Onegin I, 37) kumir bezčuvstvennyj (kogda tvoi mladye leta, 1829), I chot’ bezčuvstvennomu telu / Ravno povsjudu istlevat’ (Brožu li ja vdol’ ulic šumnych, 1829). Gerade als Ausdruck der Lebendigkeit der Seele fügt sich čuvstva in den kontext des Gedichtes ein und bestätigt zudem noch einmal, dass hier nicht von den Gefühlen der indifferenten Menge die Rede sein kann, der Puškin ja solche gar nicht zugesteht. (Sie ist der besčuvstvennyj kumir! – auch das Epitheton chladnyj u. ä. gehört zu den Wörtern, die das Fehlen des Seelenlebens kennzeichnen.) 54

„Ravnodušno“ steht in betontem Gegensatz zu „čuvstvo“. Vgl. die Verwendung der beiden Wörter im „Pamjatnik“!

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Was schließlich das Wort ljubezen angeht, so ist es zu Puškins Zeit noch durchaus in seinem ursprünglichen Sinne verwendet worden (das Puškin-Wörterbuch der Akademie weist diese Bedeutung 34mal nach), während sich die konventionelle Verflachung, ähnlich wie bei dem deutschen Worte „liebenswürdig“ erst anbahnte. In dem feierlichen kontext erinnert es hier an die ähnliche Verwendung in Radiščevs oben zitiertem „Slovo o Lomonosove“, wo von „ljubeznoe otečestvo“ die Rede war. Auch die Verben der vierten Strophe verdienen eine Betrachtung. Von der Verlagerung des Akzentes vom Ästhetischen auf das Ethische war schon die Rede. Aber auch die Aspekte sind ja geändert. Die beiden imperfektiven Präterita „probuždal“ und „prizyval“ unterstreichen das ethisch wesentliche Element der ständigen Bemühung ohne Rücksicht auf den Erfolg. Auch der perfektive Aspekt „vosslavil“ wirkt in die gleiche Richtung, da dieses Wort, neben seiner kirchenslavischen Herkunft, auch noch inchoativ ist. Es bedeutet also etwa: „dass ich es unternommen habe, zu preisen55. Die Antithese zwischen der zweiten und vierten Strophe beruht in dem Gegensatz zwischen ästhetischem und ethischem Aspekt von Leistung und Wirkung. Den Übergang vermittelt die dritte Strophe mit der Angabe des historischen Ortes, an den die Erscheinung und die Wirkung der Dichtung gebunden ist: velikaja Rus’. Überblickt man nun noch einmal das ganze Gedicht, so wird klar, dass die Funktion der letzten Änderungen eben darin besteht, die antithetischen Spannungen zwischen den einzelnen Strophen zu überbrücken und in dem gemeinsamen Bezug der religiösen Sphäre aufzuheben. So enthält jede Strophe Elemente, die das jeweilige Thema in Richtung auf eines der anderen Strophen und in Richtung auf das gemeinsame religiöse transzendieren. In der ersten Strophe sind das die Worte narodnaja tropa (Verweis auf Strophe 4) und nerukotvornyj (religiös), in der zweiten zavetnoj (Verweis auf Strophe 4) und duša: moj prach (religiös). In der vierten Strophe sind es liroj (Verweis auf Strophe 2) und čuvstva dobrye, milost’ k padšim (religiös). In der fünften Strophe sind es Muza (Verweis auf Strophe 2) und Velen’ju Božiju (religiös). nur die dritte Strophe als Zentrum (s. o.) entbehrt solcher Vor- oder Rückverweise, bildet aber selbst als Ganzes den gedanklichen Übergang von den absoluten zu den relativen Aussagen über die Dichtung. Immerhin könnte man die Änderung von vo vse koncy Rossii im ersten Entwurf in po vsej Rusi velikoj im Sinne einer Vertiefung des Heimatgedankens verstehen, da Rus’ immer auch die pravoslavnaja, svjataja Rus’ ist. Das Gedicht als Ganzes ist durch diese letzten Änderungen nicht nur stilistisch einheitlich geworden, wie auch P. Ja. Černych unter Verweis auf die zahlreichen „slavjanizmy“ feststellt56, es hat vielmehr auch seine innere Einheit daher gewonnen: nur in der religiösen Sphäre konnte und wollte Puškin die 55

56

Diese Bedeutung wird von den älteren Wörterbüchern (DAL’ und PAVLOVSkIJ) angegeben, während die neueren „vosslaviť“ gleichsetzen mit „proslaviť“. O. c. (vgl. Anm.10).

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Spannungen aufheben, die sein Leben als Dichter bewegten, die Problematik von Dichter und Menge, die Problematik von Macht und Menschlichkeit, die Problematik von Stolz und Demut: all das ist eingebettet und aufgehoben (d. h. geborgen und gelöst) im Thema der Unsterblichkeit, des ewigen Lebens. Dass Puškin diese Lösung gelingen konnte, ist vor allem jener letzten Antithese zu danken, die in duša: moj prach angedeutet ist. Denn das Gedicht entspringt in weit stärkerem Maße als seine Vorbilder (außer Horaz) dem tiefen Gedanken an den Tod. Dieser Gedanke hat Puškin immer bewegt. Schon 1829 hat er ihm ein ganzes Gedicht gewidmet (Brožu li ja vdol’ ulic šumnych), in dem es heißt: Den’ každyj, každuju godinu Privyk ja dumoj provoždat’ Grjaduščej smerti godovščinu Mež ich starajas’ ugadat’.

Und unter das Gedicht „Pora moj drug, pokoja serdce prosit“ (1834) hatte er als Entwurf einer Fortsetzung geschrieben: Junost’ ne imeet nuždy v at home, zrelyj vozrast užasaetsja svoego uedinenija. Blažen, kto nachodit podrugu – togda udalis’ on domoj. O, skoro li perenesu ja moi penaty v derevnju – polja, sad, krest’jane, knigi; trudy poėtičeskie – sem’ja, ljubov’ etc. – religija, smert’.

Hier stehen die beiden Worte nebeneinander, deren Inhalt den Hintergrund und die innere Einheit des „Pamjatnik“ ausmacht57.

10 Versuchen wir, die Ergebnisse dieser Betrachtung noch einmal zusammenzufassen. 1. Puškins „Pamjatnik“ kann zu Recht als abschließender Rückblick des Dichters auf sein lyrisches Werk betrachtet werden. Es ist ähnlich wie das Horazgedicht, dem sein Motto entstammt, geschrieben worden, als der Dichter eine neue Gesamtausgabe seiner Lyrik vorbereitete. 2. In dieser Gesamtausgabe war dem Gedicht vermutlich der Platz am Ende der podražanija drevnim zugedacht. Dort war es auch wohlbegründet einzuordnen, denn es stellt eine vollständige Transponierung des horazischen Themas 57

Wie stark religiöse Themen Puškin gerade im Jahre 1836 beschäftigten, zeigt schon ein flüchtiger Überblick über die Liste seiner Gedichte und Aufsätze aus diesem Jahr. In unmittelbarer zeitlicher nachbarschaft mit dem „Pamjatnik“ entstanden „Otcy pustynniki i ženy neporočny“, „Mirskaja vlast’“, „kak s dreva sorvalsja predatel’ učenik“, die Rezensionen von Pellicos Erbauungsbuch „Dei doveri degli uomini“, von Eristovs „Wörterbuch der in der russischen kirche verehrten Heiligen“, und die der Werke des weißrussischen kirchenfürsten Georgij koniskij ...

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dar, und zwar besonders hinsichtlich der religiösen Grundstimmung, die sinngemäß ins christliche übertragen ist. 3. In Umfang und Tiefe dieser Transposition unterscheidet sich das Gedicht wesentlich von seinen Vorbildern, vor allem dem russischen Deržavins. Die Berufung auf Parallellen, die besonders bei der vierten Strophe bisher üblich war, ist nicht ohne wesentliche Einschränkungen möglich. Das ergibt sich aus der Gesamtstruktur. 4. Die Gesamtstruktur ist nicht ein gleichgerichtetes Aufsteigen, auch kein Absinken, sondern ein Zyklus mit mehreren ebenfalls zyklisch angeordneten Antithesen (1.–5. und 2.–4. Strophe mit der 3. als Angelpunkt und Überleitung). Jede Strophe zeigt einen Aspekt des Themas von der Unsterblichkeit der Dichtung. Diese Abgeschlossenheit (in der Strophenform manifestiert) wird aber überwunden durch Vor- und Rückverweise auf die anderen Strophen, d. h. Aspekte des Themas einerseits und, andererseits, durch die auch in der Lexik zum Ausdruck kommende Verknüpfung mit der religiösen Sphäre. 5. Die religiöse Sphäre ist das verbindende Element, in. dem alle Spannungen aufgehoben sind58. 6. Der literarische Anlass (vgl. Punkt 1 dieser Zusammenfassung) ist vertieft durch den Todesgedanken, der Puškin befähigte, sowohl die Anspielung Horazens auf Grabdenkmäler wie auch die religiöse Grundlage der Ode an Melpomene zu erfühlen und in die ihm gemäßen Vorstellungen umzusetzen. Diese Vorstellungen aber sind eindeutig christliche. * Horaz hatte zum ersten Mal gewagt, die dichterische Leistung als solche (nicht wegen ihrer Aussage!) unsterblich zu nennen. Jahrhundertelang wurde dieser stolze Anspruch unter gleichen oder ähnlichen Bildern nachgeahmt. Puškin verbindet diese längst ihrem religiösen Ursprung entfremdete Idee mit der Unsterblichkeit der Seele und lenkt wieder zur menschlichen Gemeinschaft zurück. Er gibt dabei nichts von der Unabhängigkeit des Dichters auf, aber er erhebt und begründet sie durch den Gehorsam gegenüber dem göttlichen Geheiß. 58

n. V. IZMAJLOV: Liričeskie cikly v poėzii Puškina 30ch godov (in: Puškin, Issled. i mat. II, M.-L. 1958) spricht die Vermutung aus, das Gedicht „Pamjatnik“ könne als erstes eines geplanten Zyklus vorgesehen gewesen sein, zu dem, nach der erhaltenen nummerierung einiger Entwürfe, gehörten als nr. II: „Otcy pustynniki i ženy neporočny“, als nr. III „kak s dreva sorvalsja predatel’ učenik“, als nr. IV „Mirskaja vlast’“, als nr. VI „Iz Pindemonti“. An Stelle der fehlenden nr. V möchte Izmajlov „kogda za gorodom zadumčiv ja brožu“ setzen, an Stelle der fehlenden nr. I „Pamjatnik“. Zweifellos ist die thematische Verwandtschaft (Religion – Tod – Freiheit des künstlers), vielleicht sogar die Reihenfolge der Themen im Zyklus dem „Pamjatnik“ eng verbunden. Dennoch scheint mir die Einreihung des „Pamjatnik“ als Eröffnungsgedicht eines solchen Zyklus unwahrscheinlich.

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Es geht nicht an, dieses Gedicht als l’art pour l’art-Programm zu deuten; es geht ebenso wenig an, es als Bekenntnis zur Volkserziehung auszulegen. Diese beiden Extreme, die bisher in der Interpretation des „Pamjatnik“ vorherrschten, übersehen aus dem gleichen Grunde (der Schwierigkeit für das eigene System) die tiefe Religiosität, den letzten Ernst vor dem Tode, die dieses Gedicht auszeichnen und zu einem erschütternden Dokument der inneren kämpfe des einsamen Genius machen, einem wahren Vermächtnis seiner Seele.

Parny-Anklänge im „Evgenij Onegin“ Die folgenden Marginalien zu dem oft gestreiften aber noch nie erschöpfend behandelten Thema „Puškin und Parny“ sind im Anschluss an die Lektüre des neuesten OneginKommentars von V. Nabokov1 entstanden und bilden somit gewissermaßen eine Fortsetzung der Einzelbeobachtungen, die ich unter dem Titel „Ergänzungen zu russischen Dichterkommentaren“ in den Bänden XXX, XXXII und XXXIII der „Zeitschrift für slavische Philologie“ veröffentlichen durfte. Sie möchten als bescheidene Dankesgabe an die Herausgeberin dieser Zeitschrift verstanden werden.

Dass Puškin die Werke von Évariste-Désiré de Forges de Parny (1753–1814) gekannt und geschätzt hat und dass er zeitweilig stark von ihnen beeinflusst worden ist, steht fest, seit es eine Puškin-Forschung gibt. Zumeist wird Parny als Vorbild bei der Kommentierung einzelner Lyzeumsgedichte oder der Gavriiliada erwähnt, dagegen nur selten in Zusammenhang mit reiferen, „ernsteren“ Werken. Tatsächlich kann man die Bekanntschaft Puškins mit Parny kaum früh genug ansetzen, und es mag als Vermutung vermerkt werden, dass schon der Monach des 14jährigen Spuren dieser Bekanntschaft zeigen könnte2. Ein Jahr darauf übersetzt Puškin das bei ihm Ėvlega überschriebene Bruchstück aus Parnys ossianisierendem Epyllion Isnel et Asléga. Und als er sich 1815 anschickt, Batjuškovs Moi penaty nachzuahmen, steht dabei wohl nicht nur dieses družeskoe poslanie selbst und Gressets La Chartreuse3 Pate, sondern, freilich weniger deutlich, wohl auch Parny: Von ihm wird vermutlich die Anregung zu dem etwas rätselhaften Titel Gorodok herzuleiten sein. Dies Wort bedeutet ja nicht nur „Städtchen“, sondern auch (im Puškin-Wörterbuch sogar 5mal sooft) einen militärischen Wohnbezirk, u. U. ganz einfach „Kaserne“. Dazu passt, was über Parny und seine Freunde (und von ihnen in manchen versifizierten Freundschaftsepisteln) berichtet wird: Ce genre (la poésie élégiaque) fleurit particulièrement dans une groupe d’aimables poètes, Bertin, Bonnard, Parny et quelques autres, unis par la communauté de la vocation poétique, par celle de leur état d’officiers et par les liens de l’amitié. C’est chez Parny, qu’ils se réunissaient: l’hiver à Paris, l’été dans la «délicieuse vallée de Feuillancourt». Ils avaient donné à ces deux lieux de leurs réunions le nom de «la Caserne». Ils y menaient joyeuse vie4. Puškin, der sich bereits nicht mehr mit bloßer Übersetzung fremder Vorbilder begnügte, mag das Wort gorodok als Äquivalent für «la Caserne» aufgegriffen und dann dessen Doppeldeutigkeit zum besseren Ausbau seiner beabsichtigten Fiktion genutzt haben. 1

2

3 4

Eugene Onegin, A Novel in Verse by A. Pushkin Translated ... by Vladimir NABOKOV, 4 vols. New York, 1964. Und sei es nur in der offensichtlich französischen Lautform des auch in Parnys Le Paradis perdu vorkommenden Teufelsnamens: Molók. Vgl. J. HOLTHUSEN, Puškin und Gresset. In: Die Welt der Slaven, XI, S. 17ff. „Anthologie poétique française – XVIIIe siecle“... par Maurice ALLEM, Paris, 1966, S. 27.

52

Puškin Die Täuschung ist glänzend gelungen; noch heute gilt ja Gorodok weithin als erstes Beispiel des Puškinschen „Realismus“5, obwohl alle Interpreten zugeben müssen, dass die bezvestnost’ des fraglichen Städtchens tatsächlich vollkommen und keine Entsprechung in irgendeiner Realität zu finden ist.

Die mancherlei Anklänge an Parny in anderen Lyzeumsgedichten zu verfolgen, würde hier zu weit führen. Von der Gavriiliada war schon kurz die Rede. Seltsamerweise hat man von Parny-Spuren im Evgenij Onegin bisher nur wenig gehört. Dabei legt doch – abgesehen davon, dass Puškin selbst in einer später wieder getilgten Anmerkung zu EO II, 18, Z 11–14 auf Parny als seine Quelle hingewiesen hatte6 – schon die etwa gleichzeitige Entstehung der ersten Kapitel des Romans und der Gavriiliada eine Untersuchung nahe. Eine Ausnahme unter den Kommentatoren macht V. Nabokov, der auf einige Parallelen hingewiesen hat und die Strophe EO III, 25 als fast wörtliche Parny-Imitation nachweist7. Aber auch er hat längst nicht alle Anklänge bemerkt oder vermerkt, dagegen sind nicht alle, die er vermerkt, auch über jeden Zweifel erhaben8. 5

6

7

8

Z. B. auch bei Pasternak, Doktor Živago, izd. Ann Arbor, 1958, S. 293. Die hier gerühmte „Katalogtechnik“ findet sich sehr ausgeprägt bei Gresset. Puškin hatte hier in einer für die Ausgabe von 1833 bestimmten, aber wieder gestrichenen Anmerkung ohne Namensnennung des Autors die folgenden Zeilen aus Parnys Coup d’œil sur Cythère (1787) zitiert: Et je ressemble au vieux guerrier Qui rencontre ses frères d’armes, Et leur parle encor du métier. Ebenfalls nicht in die gedruckte Fassung gelangte der Name Parny aus einigen Entwürfen der Strophe EO I, 5, so daß die einzige Erwähnung des Namens im EO die in Strophe III, 29 geblieben ist. Da die Parallele vermutlich noch weiter geht als bei Nabokov zitiert, sei die ganze Stelle aus Parny (Les tableaux II, La main) hier angeführt: Quand on aime bien, l’on oublie Ces frivoles ménagemens Que la raison ou la folie Oppose au bonheur des amans. On ne dit point: «La résistance Enflamme et fixe les désirs; Reculons l’instant des plaisirs Que suit trop souvent l’inconstance». Ainsi parle un amour trompeur, Et la coquette ainsi raisonne. La tendre amante s’abandonne A l’objet qui toucha son cœur; Et dans sa passion nouvelle, Trop heureuse pour raisonner, Elle est bien loin de soupçonner Qu’un jour il peut être infidèle. Zweifelhaft erscheint mir z. B. Nabokovs Kommentar in Bd. II, 419 zu EO IV 8, Z. 7–8 sowie zu EO I, 23 (Nabokov II, 98). Ebensogut auf Parny wie auf zahlreiche andere Quellen kann die Erwähnung von spleen zurückgeführt werden (EO I, 37; 38 und VI, 15 und die entsprechenden Kommentarstellen). Das gleiche gilt von den „typical commonplaces“ (vgl.

Parny-Anklänge

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Auch die im folgenden angeführten, meines Wissens überwiegend neuen Vergleichsstellen erschöpfen sicher das Parny-Thema selbst für den Evgenij Onegin nicht. Das Thema ist deshalb so schwer zu überschauen und zu gliedern, weil Puškin einerseits ständig aus vielen literarischen Reminiszenzen Anregungen zu eigener Gestaltung empfängt, seine Quellen aber oft gleichen oder ähnlichen thematischen und stilistischen Traditionen verpflichtet sind und sich daher kaum mit Sicherheit voneinander unterscheiden lassen, und weil Puškin andererseits mit all diesen Anregungen völlig frei schaltet und sie durch Zerlegung, Neuzusammenfügung, Umdeutung oder psychologische Vertiefung seinen künstlerischen Zielen dienstbar macht, wodurch es wiederum äußerst erschwert wird, das Übernommene im Eigenen noch sicher zu erkennen. Die Fälle, die hier zusammengestellt sind, betreffen denn auch weniger zitatartige Übernahmen von Ausdrücken, Sätzen, Metaphern (die auch vorkommen, aber meist zum Gemeingut der französischen Poesie des 18. Jh.s gehören dürften), als vielmehr bestimmte Kunstgriffe der epischen Erzähltechnik, Sentenzen, Charakterschilderungen und Motive verschiedenster Art, wobei Sinn und Funktion bei Puškin gegenüber dem Vorbild erheblich verändert sein können. Um Platz zu sparen, führe ich die Stellen aus dem Evgenij Onegin, wo es möglich ist, nur mit Kapitel, Strophen, und evtl. Zeilenzahl an, während die Parny-Zitate mit Angabe der Band- und Seitenzahl nach der ersten Gesamtausgabe9 ausgeschrieben werden.

Kunstgriffe der epischen Erzähltechnik Bekanntlich parodiert Puškin die obligatorische Invocatio des Epos, indem er sie ans Ende des siebenten Kapitels setzt. Er geht damit erheblich weiter als Parny, der seine Burleske Goddam mit den Zeilen eröffnet (II, 79): Je vais chanter ... Non, messieurs, je me trompe; Ce vieux début a pour moi trop de pompe; Je vais siffler ...

Entsprechend verzichtet Puškin denn auch expressis verbis in EO I, 2 auf jegliches Vorwort. Dazu vgl. Parny, La journée champêtre (I, 147):

9

Nabokov zu EO I, 32 und IV, 39) und von dem syntaktischen Muster der Zeile 2 in EO VIII, 4. Für anfechtbar halte ich auch die Beantwortung der rhetorischen Frage in EO III, 31 durch Nabokov (Bd. II, S. 384) mit Parny! Wenn hier eine Antwort überhaupt herausgefordert sein sollte, wäre, da es sich bei Tatjanas Brief um französische Prosa handelte, viel eher an einen französischen Romanautor zu denken – trotz der benachbarten Erwähnung Parnys zwei Strophen vorher! Diese interessante Frage diskutiert Nabokov seltsamerweise gar nicht. Ein gutes Beispiel für seine Findigkeit ist aber der Nachweis, dass „rost-beef okrovavlennyj“ (gerade wegen der falschen Rechtschreibung in Handschrift und Erstdrucken) zurückgeht auf „sanglant rost-beef“ in Parnys Burleske Goddam (Nabokov II, 73 zu EO I, 16). «Œuvres d’Évariste de Parny», Paris, 1808, 4 Bde. sowie laut Einband als 5. Band «La Guerre des Dieux». Die Rechtschreibung der Zitate folgt dieser Ausgabe.

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Puškin Pour le conteur et pour l’amant Toute préface est ennuyeuse; Venons bien vite au dénouement.

Die Unterbrechung einer Episode durch das Ende eines Kapitels (EO III/IV) praktiziert Parny ebenfalls am Ende des dritten Gesangs seines Goddam, hier in einer Form, die offenbar dem Schelmenroman entstammt (II, 108): De ce tumulte, impatient lecteur, Dans l’autre chant vous connaitrez l’auteur.

Ebenso wie hier ist auch sonst die Anrede an den Leser ein gern geübter Brauch. Desgleichen ruft Parny – wie Puškin (z. B. in EO I, 35, Z. l) – sich selbst nach einer Digression zu seinem Helden zurück (Goddam; II 113): Que fait Ernest?

Alle diese „priemy“ sind also keineswegs erst nach Byron oder nur in „romantischem“ Stil anzutreffen.

Sentenzen Zu EO I, 25, Z. 3–4 vgl. Parny, Le Voyage de Céline (III, 82): Mais ce principe clair et sage ... N’a point encor changé l’usage: L’usage est un vieil entêté.

In mehreren Varianten bietet Parny die auch in EO II, 15, besonders im Schlusscouplet, empfohlene Nachsicht mit der Jugend und jungen Dichtern. Poésies érotiques, Livres II, Dépit (I, 49): Ami, garde-toi d’en guérir: L’erreur sied bien à la jeunesse.

La journee champetre, Epilogue (I, 156): Il n’est qu’un tems pour les douces folies; Il n’est qu’un tems pour les aimables vers.

Charakterschilderungen Eine ganze Anzahl von Personen sind in Puškins Roman durch allgemeine oder spezielle Züge gekennzeichnet, die sich auch bei Parny nachweisen lassen. Man vergleiche etwa zu EO II, 21, Z. 9–14 (Ol’ga) Poésies érotiques, Livre IV, Elégie IX (I, 99):

Parny-Anklänge

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Belle de ta seule candeur Tu semblais une fleur nouvelle, Qui, loin du zéphyr corrupteur, Sous l’ombrage qui la recèle S’épanouit avec lenteur10.

Sehr ähnliche Stimmungen wie der von der Welt enttäuschte Onegin in EO I, 38 erlebt – aus anderen Gründen – der Held der „Anecdote historique“ Jamsel (I, 196): A son ami plongé dans la tristesse Le monde en vain offrait tous les secours, Tous les plaisirs que cherche la jeunesse, Les jeux, les arts, de nouvelles amours: Rien ne distrait sa morne inquiétude; Pour lui le monde est une solitude.

und (I, 198): Ni le printems, ni les parfums de Flore, Ni la douceur du baiser paternel, Ni l’amitié plus consolante encore, Rien n’effaçait un souvenir cruel. un noir chagrin lentement le dévore.

und (I, 199): Se trouve-t-il dans un cercle nombreux? Seul il conserve une air morne et farouche; ... Les entretiens l’obsèdent; rien ne frappe Ses yeux distraits …

Und ganz ähnlich geartet – und erfolglos – sind Jamsels wie Onegins Versuche, diesem Zustand zu entgehen, vgl. etwa zu EO I 44 Jamsel (I, 198): Dans les écrits où parle la sagesse Il veut puiser la force et la vertu. Hélas! son œil en parcourait les pages; Mais son esprit inattentif, errant, Volait ailleurs ...

Ähnlich erfolglos wirkt der Landaufenthalt (vgl. EO I, 54) hier (I, 197f): Jamsel retourne aux lieux qui l’ont vu naître. Il croit en vain dans ce séjour champêtre Calmer son âme, et respirer la paix. La solitude augmente ses regrets.

Während aber Jamsel im Gegensatz zu Onegin einen Grund für seine Trauer hat, also die Übereinstimmung hier nur in Äußerlichkeiten liegt, reicht sie zwi10

Auf diese Parallele wies bereits NABOKOV (Bd. II, S. 270) hin.

56

Puškin

schen dem Werthern nachempfundenen Jüngling und Lenskij weiter. Wie in EO II, 9 und II, 20 heißt es schon in der ersten Zeile von Jamsel (I, 194): Jeune, sensible, et né pour les vertus, Jamsel aimait comme l’on n’aime plus.

Und, wenn auch aus anderen Motiven als Lenskij in EO I, 22, Z. 6–7, sucht Jamsel die dichten Wälder auf (I, 199): il s’échappe, Et va des bois chercher la profondeur.

Ebenso wie die Weltschmerzsymptome dieses französischen Werther-Nachklangs sich verstreut in Beschreibungen Onegins und Lenskijs wiederfinden, gibt es andere Fälle, in denen Züge, die bei Parny einem Typus zugehören, bei Puškin zur Charakterisierung verschiedener Personen dienen. So sind in dem folgenden Parny-Zitat Charakteristika beisammen, die sich bei Puškin auf das alte Ehepaar Larin (EO II, 34 und 35) einerseits und auf den rogonosec veličavyj (EO I, 12) andererseits verteilen. Goddam, Chant 3 (II, 10l): Heureux encor le marchand pacifique Fumant sa pipe au fond de sa boutique! II craint sa femme et son ton arrogant; De la maison il lui laisse l’empire, Au moindre signe obéit sans mot dire, Et vit ainsi cocu, battu, content.

Verschiedene Motive In diese letzte Gruppe habe ich notgedrungen alles eingereiht, was in die ersten drei nicht passen wollte. Ich sehe ab von einzelnen Wörtern und Wendungen, wie etwa objet oder essaim, die bei Parny genau so häufig zu finden sind wie bei anderen Franzosen des 18. Jh.s. Nur einige wenige, bisher nicht beachtete Topoi dieser Art sollen erwähnt werden, z. B. ist die Wendung V teni chranitel’noj dubravy (EO II, 21) ein Klischee der französischen erotischen Poesie. Parny hat u. a. bois favorable (I, 153), er lässt auf eine Rüster ritzen: Respectez mon jeune feuillage; Il a protégé le plaisir.

(I, 154)

und spricht in einem Brief von cet utile ombrage Que mes vers ont souvent chanté.

Entsprechend:

(I, 245)

Parny-Anklänge Tout deux cachés sous l’ombre hospitalière

57 (III, 55)

Nur um Nabokovs Bemerkung zu EO I, 11 – „The entire stanza is on the verge of light verse, with a derivative eighteenth-century tang about it“ – auch von Parny her zu bestätigen, sei vermerkt, dass in der gleichen Funktion wie dort davat’ uroki bei Parny mehrfach leçons (I, 23; 188, III, 209) bzw. instruire vorkommt. Und nur, weil Nabokov zu EO I, 30 als französische Entsprechung zu nožki ohne Quellenbeleg petits pieds angibt, sei auch auf den Gegenstand der bekannten langen Digression eingegangen. Parny spricht nie von petits pieds, dagegen oft von pieds mignons oder délicats. Und Puškins Seufzer in EO I, 31: Ach, nožki, nožki, gde vy nyne? Gde mnete vešnie cvety?

bewegt sich, zumindest in der zweiten Zeile, sozusagen ebenfalls auf literarisch wohlbekanntem Boden. Seit der Pléiade gehört es zu den Lieblingsgenüssen und -aktivitäten der pieds mignons: fouler la verdure, welche ebenso obligatorisch mit Blüten besät ist. Beispiele aus Parny: (III, 214): Elle foule d’un pied mignon, D’un pied nu, les fleurs du gazon.

(II, 118): Le pied mignon sort de riches souliers Pour mieux fouler la verdure fleurie.

Ja, im dritten Buch seiner Poésies érotiques hat Parny ein ganzes Gedicht dem Gazon foulé par Eléonore (I, 69) gewidmet, und auch dieser Rasen wird angeredet: Trône de fleurs ... Die Beispiele sind nur eine kleine Auswahl. Zu EO II, 2 bemerkt Nabokov mit Recht: „zámok is a commonly used Russian translation of the french château” und: „The descriptive formulas in this stanza were common to the European novel of the time, whether the locale was Muscovy or Northamptonshire”. Zur Bestätigung – auch für EO II, 1 – hier einige Parallelen aus Sizilien (Parny, La journée champêtre, I, 115f): Sur le penchant d’une haute montagne La main du goût construisit un château, D’où l’œil au loin se perd dans la champagne. De ses côtés part un double coteau. L’un est couvert d’un antique feuillage Que la cognée a toujours respecté; Du voyageur il est peu fréquenté, Et n’offre aux yeux qu’une beauté sauvage. L’autre présente un tableau plus riant: L’épi jaunit; Zéphyre en s’égayant Aime glisser sur la moisson dorée; … A quelque pas se forme une éminence,

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Puškin D’où le pasteur appelle son troupeau; De là son œil suit avec complaisance Tous les détours d’un paisible ruisseau.

Hierhin begeben sich die jungen Leute der Journée champêtre zu ihren Schäferspielen, u. a. pour mieux fouler la verdure fleurie. Diese Stadtflucht wird in unzähligen Variationen von Parny und allen seinen dichtenden Zeitgenossen vorgeführt. So heißt es in Ma retraite (I, 65): Solitude heureuse et champêtre, Séjour du repos le plus doux, … Je suis libre; j’échappe à ces soins fatigans, A ces devoirs jaloux qui surchargent la vie. Aux tyranniques lois d’un monde que j’oublie Je ne soumettrais plus mes goûts indépendans.

Man fühlt sich an EO I, 55 erinnert, die gleiche Erinnerung rufen Zeilen wach wie die A mes amis (I, 5l): Occupons nous de ne rien faire!

Gleichzeitig klingen aber auch Töne mit an, die die Gegenwelt beschwören, der man entfliehen will, die uslovija sveta, die sueta (EO I, 45) – französisch: les tyranniques lois du monde (s. o.) oder l’étiquette orgueilleuse Et les ennuis attachés au bon ton.

(I, 117)

Das letzte wiederum auf russisch: Dovol’no skučen vysšij ton.

(EO I, 42)

All das sind vertraute Themen, seit es Städte und dort Literaten gibt, zuerst klassisch formuliert – und gleichzeitig parodiert von Horaz: Beatus ille ... die Kehrseite des ersten Arkadien wie der letzten Rokoko-Schäferei. Mit zur letzteren gehört auf Seiten der Schäferinnen eine zumindest vorgetäuschte aimable ignorance (Parny I, 33f und 56), die der Dichter durch keinerlei Studien (Plan d’études I, 33) bedroht wissen möchte. Wie viel davon schwingt noch in EO III, 27–29 mit? Gerade hier steht ja Puškins Eingeständnis von seiner Liebe zu den Gallizismen, III, 25 war eine fast wörtliche Parny-Imitation und am Ende von III, 29 steht der Name Parny in leicht bedauernder Abschiedsintonation kak prošloj junosti grechi. Noch zu diesen Jugendsünden zählt wohl der ungeduldige Ausruf: Les belles ne vous valent pas

(Parny I, 41)

der in EO I 34 ganz ähnlich die nožki-Digression beschließt. Aber bei Parny spricht nur der Liebhaber, nicht der Dichter. Hat Parny dem Dichter Puškin als Dichter nichts zu sagen? Gewiss gibt es auch zur Dichtung Parallelstellen. Sie sollen diesen Überblick beschließen.

Parny-Anklänge

59

Zunächst sei noch ein Motiv betrachtet, das schon Literarisches berührt: die Beurteilung der damals (der zeitliche Abstand der beiden Autoren ist wegen der „provinziellen Verspätung“ Russlands fast unbedeutend) modernen, vorwiegend englischen Romane und speziell ihrer Wirkung auf junge Damen. Um das Spezielle vorwegzunehmen, die Übereinstimmung zwischen EO II, 29 und besonders EO III, 9–11 und der folgenden Stelle aus der Confession d’une jolie femme (II, 186) ist manchmal frappant: Pour ajouter à ma science, Je dévorait quelques romans. Dans le beau pays des amans Je m’égarai sans défiance. Que ce pays plut à mon cœur! Que de chimères insensées Dont je savourais la douceur! Combien de nuits trop tôt passées! Que de jours trop tot disparus! Que d’instans alors j’ai perdus! Dans ce pays imaginaire, L’Amour était toujours sincère, Soumis jusque dans son ardeur, Tendre et fleuri dans son langage, Jamais ingrat, jamais volage, Et toujours le dieu du bonheur. Hélas! de ce monde factice, Charmant ouvrage du caprice, Dans le vrai monde je passai. Quel changement! quelle surprise! O combien je m’était méprise!

Man sieht, es bedurfte keines „schönen Scheins“ der deutschen Romantik, um Puškin das Wort obman nahe zu legen. Der gleiche Gedanke von dem monde factice wird von Parny gleich zweimal in Le voyage de Céline entwickelt. Im ersten Fall handelt es sich um die Entlarvung der zeitgenössischen Idealisierung exotischer „Naturkinder“. Der zu Hause enttäuschten Céline begegnet auf ihrer Traumreise ein solches (III, 69): Bien indigène et peu semblable Aux sauvages de nos romans.

Worauf sie alsbald – auch von der Südsee-Wirklichkeit desillusioniert – sagt (III, 7l): Adieu donc, adieu sans retour A toute la sauvagerie, Bonne dans les romans du jour.

In einer zweiten Episode der Traumreise ist dann von Romanen ganz allgemein die Rede. Die überall unbefriedigte Céline gerät in eine neue Gegend (III, 83):

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Puškin Un peuple immense l’environne; D’or et de myrte on la couronne; Avec pompe sur un autel Un groupe amoureux la dépose; A ses pieds qui foulent la rose On brûle un encens solenel; Les hymnes montent jusqu’au ciel.

Endlich erfährt sie (III, 85): Elle est au pays des romans.– Tout disparait, et c’est dommage.

Kleinere Spitzen gegen den englischen Roman findet man hier und dort, so in der Eröffnung der Galanteries de la Bible (III, 15l): Approchez, chrétiennes jolies. De la Genèse les versets Valent bien d’un roman anglais L’horreur et les tristes folies.

(vgl. EO III, 12). Im zweiten Gesang von Goddam heißt es nach der Beschreibung einer „nymphe galante“ (II, 92) und anderer Damen des britischen Hofes: Remarquez-vous ces beautés? Rien n’égale De leurs yeux bleus la douceur virginale, Mais ces yeux bleus dévorent les romans.

Die verführerische Wirkung der „Romane“ auf junge Mädchen und Frauen, der Kontrast zwischen den chimères insensées und ihrer douceur (russisch: oduševlennye tvoren’ja, sladostnyj obman) und le vrai monde ist bei Parny ebenso deutlich wie bei Puškin. Was Puškin aber hinzutat, ist die nur von einem so scharfen Beobachter und so ganz in der Literatur lebenden Geist erdenkbare psychologische Verknüpfung dieser Ansätze zu dem Motiv der seelischen Determination seiner Heldinnen – von Tatjana bis zu Mar’ja Gavrilovna im Schneesturm – durch die Lektüre von Romanen. Unter den Stellen, die die Dichtung unmittelbar berühren, musste alles unberücksichtigt bleiben, was nur atmosphärisch ähnliche Schwingungen brachte, und auch die zahlreichen Belege für ähnliche Stilisierung des Dichtens überhaupt im Sinne der „Selbstauffassung des Dichters“ von J. Holthusen im zitierten GressetAufsatz. Hierzu wäre eine eigene Abhandlung vonnöten, die die vorliegende an Länge um ein Vielfaches überträfe. Festgehalten seien nur einige m. E. besonders deutliche Einzelheiten. So spricht Puškin in EO I, 58 vom Verhältnis zwischen Liebesempfindung und Dichtertum. Viel allgemeiner behandelt dies Verhältnis Parny in La journée champêtre. Nach einer Aufzählung der in ihrer persönlichen Liebe unglücklichen Dichter (Sappho, Gallus, Petrarca und Waller) heißt es (I, 141): Leurs peines, leurs chagrins d’un jour Laissent une longue mémoire;

Parny-Anklänge

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Et leur muse, en cherchant l’amour, A du moins rencontré la gloire.

In EO I, 59 scheint die Zeile 10: Ja vsë grušču; no slëz už net

ein Echo zu sein auf Parnys (I, 92): Je pleure encor; mais j’ai cessé d’aimer

was allerdings nur den Zustand der Liebesenttäuschung wiedergibt. Auch hier kommt bei Puškin der Zusammenhang mit dem Dichtungsthema hinzu. Wie Puškin in der Widmung zum EO seine Verse nebrežnyj plod moich zabav nennt, spricht Parny von Fruits légers de ma faible veine (II, 139), und auch er empfängt die Belohnung vor allem von l’amitié (ibid.). Das Gedicht, in dem diese Passagen sich finden, steht als erstes unter Réponses diverses und mag als einziges Beispiel für die „Selbstauffassung“ oder Selbststilisierung Parnys als Dichter hier ganz stehen, zumal sein Ende in den Anklängen an EO II, 40 sowohl die Ähnlichkeit wie die Unterschiede recht deutlich hervortreten lässt. (II, 139f): Crois-moi, la brillante couronne Dont tu flattes ma vanité, C’est l’amitié qui me la donne Sans l’aveu de la vérité. Fruits légers de ma faible veine, Cet honneur n’est point fait pour vous; Modestes et connus à peine, Vous me ferez peu de jaloux. Il est vrai qu’à la noble envie D’être célèbre après ma mort Je ne me sens pas assez fort Pour sacrifier cette vie. Dans les sentiers d’Anacréon Égarant ma jeunesse obscure, Je n’ai point la démangeaison D’entremêler une chanson Aux écrits pompeux du Mercure, Et je renonce sans murmure A la trompeuse ambition D’une célébrité future. J’irai tout entier aux enfers. En vain ta voix douce et propice Promet plus de gloire à mes vers; Ma nullité se rend justice. Nos neveux, moins polis que toi, Flétriront bientôt ma couronne:

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Puškin Peu jaloux de vivre après moi, Je les approuve et leur pardonne.

Was die Unterschiede betrifft, genügt es daran zu erinnern, dass Puškin im Entwurf bereits hier versucht war, das horazische Exegi monumentum zu zitieren, während Parny die gleiche Ode parodiert mit seinem J’irai tout entier aux enfers.

Ähnlich dagegen sind die letzten vier Zeilen Parnys den Puškinschen Schlusszeilen auch der Entwurffassung. Und hier taucht außerdem auch noch ein – langvermisstes – literarisches Vorbild auf für jenes potreplet lavry starika, das man gewöhnlich von einer Floskel des Lyzeumslehrers Košanskij herzuleiten pflegt11. Und noch ein letztes: in EO III, 13 kündigt Puškin die Möglichkeit seines Übergangs zur Prosa an. Vielleicht ... V menja vselitsja novyj bes.

Das setzt einen staryj bes voraus. Sollte es nicht der sein, den Parny in einer anderen Réponse (III, 142) näher vorstellt: Ce joli démon qui vous aime, Et dont je suis un peu jaloux. Autrefois avec moins de grace Il inspirait Anacréon; A Rome il allait sans façon S’asseoir sur les genoux d’Horace; Chaulieu soupirait avec lui. ...

Wenn wir nach diesem kurzen Überblick zusammenstellen, wo im EO sich Anklänge an Parny niedergeschlagen haben könnten, finden wir die Strophen I, 2, 5, 11, 12, 16, (23), 25, 31, 34, 35, (37), 38, 42, 44, 45, 55, 58; II, 1, 2, 9, 15, 18, 20, 21, 22, 29, 34, 35, 40; III, 9, 10, 11, 12, 13, 25, 27, 28, 29; IV, (8); VI, (15); VII, 55, sowie die Widmung. In Klammern stehen hier die oben als zweifelhaft bezeichneten Zuordnungen Nabokovs. VII, 55 ist die verspätete Invocatio. Lässt man sie, die eingeklammerten Stellen und die wohl als „commonplace“ zu wertenden fruits légers/nebrežnyj plod der Widmung außer acht, so bleiben in den ersten drei Kapiteln 15, 12, und 9 Strophen übrig. Wenn dort auch nicht alles als gesichert gelten kann, ist doch zweierlei deutlich: Der aufweisbare Einfluss Parnys beschränkt sich auf die ersten drei Kapitel, und er nimmt ständig ab. Auf einen letzten Gipfel in den Strophen III, 25–29 folgt als bewusster Abschied das Schlußcouplet von III, 29: Ja znaju: nežnogo Parni Pero ne v mode v naši dni. 11

Im Bilde noch näher an Puškins Formel, in der Beziehung aber ferner ist flétrir les lauriers bei Boileau (Discours au Roi, Z. 12).

Der Fürst und der sänger Varianten eines Balladenmotivs von goethe bis Puškin

1. Walter Muschg hat in seiner „Tragischen Literaturgeschichte“1 eine Typologie der Erscheinungsformen dichterischer Existenz vorgeschlagen, in der er drei ursprüngliche – Magier, seher, sänger – und drei abgeleitete Typen des Dichters – gaukler, Priester, Poet – unterscheidet. Falls es diese Typen jemals rein gegeben hat, so nur auf bestimmten und unterschiedlichen historischen Entwicklungsstufen menschlicher gesellschaften. Im Zeitalter der beginnenden bürgerlichen Kultur kann es spuren solcher Typen nur noch in verschiedenen Mischungsgraden und mehr oder weniger verdeckt geben. Insofern ist das Wort „sänger“ in unserer Überschrift (wie in den betrachteten Balladen und anderen Zeugnissen der betrachteten Zeit) metaphorisch zu verstehen, als stellvertretend für „Dichter“ überhaupt und somit alle anderen Erscheinungsformen dichterischer Existenz mitbedeutend. In Zeiten, in denen es so etwas wie den von Muschg beschworenen Typ des „sängers“ real gab, war seine Rolle in der gesellschaft weitgehend festgelegt: er war, anders als die historisch älteren Typen des Magiers oder des Propheten, die einer eventuell konkurrierenden „weltlichen“ Macht ebenbürtig oder gar überlegen waren, als dienendes glied in die feudale gesellschaft integriert. Mit dem Zerfall dieser gesellschaft verliert er seine feste Rolle, der sinn seiner Kunst wird fragwürdig, seine stellung zur gesellschaft und damit auch zur weltlichen Macht (dem „Fürsten“) wird nicht nur von Fall zu Fall, sondern grundsätzlich problematisch. Die aus ihrer Rolle „befreite“ Kunst wird sich ihrer selbst bewusst und beginnt nach ihrer herkunft, nach ihrer Legitimation, nach ihrem sinn zu fragen. Mit dem Verblassen und Verschwinden auch der letzten abgeleiteten Dichterrolle, der des hofpoeten, vollendet sich im 18. Jahrhundert die „Emanzipation“ der Dichtkunst, gefolgt im 19. Jahrhundert von der der Musik und schließlich auch der Malerei. Der Künstler als solcher wird zur Problemfigur, und die Kunst kann auf der suche nach ihrem sinn notwendigerweise, da ihr innerer Antrieb unleugbar und unwiderstehlich bleibt, ihre gesellschaftliche Funktion aber unsicher, ja unkenntlich geworden ist, am Ende nur noch sich selbst entdecken – l´art pour l´art. Natürlich ist diese eben skizzierte Entwicklungslinie eine noch gröbere Vereinfachung als Muschgs Dichtertypen; aber man sollte sie im Auge behalten, wenn man ihre vielfachen spiegelungen und Brechungen in der abschließenden Phase der Kunst1

Walter Muschg: Tragische Literaturgeschichte. Bern, 1948; im Folgenden zitiert nach der 4. Auflage, 1969.

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Puškin

emanzipation, in Deutschland Klassik und Romantik genannt, überblicken und eine von ihnen deutend verfolgen will. Nicht umsonst ist zu keiner Zeit in Europa, und vor allem in Deutschland, soviel über Kunst philosophiert, geschrieben und gedichtet worden wie zwischen 1780 und 1830. Dieser Reflexion vorauf ging die Freisetzung der Energien im „sturm und Drang“, der unter anderem auch die Ballade wie das (Volks-)Lied zu literaturfähigen gattungen machte. In der Französischen Revolution wurde dann auch die bisher oft unbemerkt gebliebene Fragwürdigkeit des Typus „Fürst“ offensichtlich. Im grunde war aber diese Fragwürdigkeit – ebenso wie die Rollenunsicherheit des „sängers“ – eine der Voraussetzungen dafür, dass das Verhältnis beider zueinander überhaupt gegenstand von Reflexion und künstlerischer gestaltung werden konnte. Die gestaltung dieser Problematik – formal mit der damals „neuen“ gattung der Ballade verbunden – spiegelt getreu sowohl die allgemeinen Tendenzen der Zeit: hin- oder Rückwendung zu den ursprüngen, seien sie in Natur, Einzelseele, Volkhaftem oder in der geschichte zu vermuten, als auch die persönlichen Erfahrungen oder Wunschvorstellungen der einzelnen Autoren im spannungsfeld von Dichterexistenz und weltlicher Macht, von „sänger“ und „Fürst“. Die Betrachtung einiger herausragender (und in verschiedener Weise miteinander verknüpfter) gestaltungen dieses Themas in der deutschen und russischen Lyrik der oben angedeuteten Zeitspanne wird, so hoffe ich, aus dem hier skizzierten größeren Zusammenhang auch für das Verständnis jedes einzelnen der betrachteten gedichte gewinn ziehen.

2. goethe: Der sänger Für goethe selbst hat dieses gedicht offenbar viel bedeutet. Er legt es, genauso wie seine tief-persönlichen Verse Wer nie sein Brot mit Tränen aß und Wer sich der Einsamkeit ergibt im „Wilhelm Meister“ dem harfner in den Mund, und zwar als erstes seiner Lieder, vor den beiden eben genannten. und er stellt es außerdem in seinen gedichten bzw. Werkausgaben ab 1800 an die spitze der gruppe „Balladen“, von welchem Platz es erst später durch die Vorschaltung von „Mignons Lied“ ein wenig verdrängt wird.2 Für den Druck als selbständige Ballade feilt er 2

Die Erstveröffentlichung erfolgte im 11. Kapitel des 2. Buches von „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ 1795. Als selbständiges gedicht erschien es erstmals in den „Neuen schriften“ 1800, wo es die gruppe „Balladen“ (s. 39), sodann 1806 in cottas Ausgabe der „Werke“, wo es die gruppe „Balladen und Romanzen“ eröffnet. Nur diese drei Ausgaben lagen zum Zeitpunkt der Entstehung der ersten russischen Nachbildung, Katenins „Pevec“, vor. Danach erst erscheint der „sänger“, erstmals 1815 in cottas Werkausgabe (Bd. I, s. 209), als zweites gedicht der gruppe „Balladen“ nach „Mignon“. Diese Anordnung wiederholt sich 1827 (Bd. I, s. 178) in der Ausgabe letzter hand. Interessant ist, dass die erste der etwa 20 russischen Übersetzungen von Mignons Lied (Kennst du das Land ...) erst 1818, also nach Erscheinen der cotta-Ausgabe von 1815–17, entsteht. Es handelt sich um Žukovskijs Version in Nr. 1

Der Fürst und der sänger

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über Jahre hin immer wieder daran,3 während im Romantext die erste Druckfassung stehen bleibt. Vieles spricht dafür, dass das gedicht nicht nachträglich aus dem Romantext isoliert, sondern unabhängig von ihm und vermutlich früher als er entstanden ist, vielleicht schon in den ersten Weimarer Jahren.4 goethe hat auch selbst recht ausführlich die in dieser Ballade angedeutete Auffassung vom Dichter dargelegt, zum Teil unter Verwendung ähnlicher Bilder und Worte, auf die ich mir erlaube, in dem folgenden Zitat durch hervorhebung hinzuweisen. Diese Ausführungen finden sich in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“, im 2. Kapitel des 2. Buches, und sind ohne Veränderung aus der urfassung („Wilhelm Meisters theatralische sendung“, Buch 2, Kapitel 3; geschrieben 1782) übernommen: (Wilhelm spricht) ... und so ist der Dichter zugleich Lehrer, Wahrsager, Freund der götter und Menschen. Wie willst du, dass er sich mit einem niedrigen gewerbe besudle, er, der wie ein Vogel gebaut ist, um die Welt zu überfliegen, in den Lüften zu nisten und seine Nahrung von Knospen und Früchten, einen Zweig leicht mit dem andern verwechselnd, zu nehmen, er sollte zugleich wie der stier am Pfluge ziehen, wie der hund sich auf eine Fährte gewöhnen oder vielleicht gar, an die Kette geschlossen, einen Meierhof durch sein Bellen sichern!

(Wilhelms skeptischer gesprächspartner Werner wendet ein) Wenn nur auch die Menschen wie die Vögel gemacht wären und, ohne dass sie spinnen und weben, ein holdseliges Leben in genuss zubringen könnten! Wenn sie nur auch bei Ankunft des Winters sich so leicht in ferne gegenden begeben könnten, dem Mangel auszuweichen und sich vor dem Froste zu sichern!

(worauf Wilhelm entgegnet) so haben die Dichter in Zeiten gelebt, wo die Natur noch ehrwürdiger war, und so sollten sie immer leben. Genüglich in ihrem Innersten ausgestattet, bedürften sie nur wenig; die Gabe, schöne Empfindungen, herrliche Bilder den Menschen in den süßten stimmenden Worten und Melodien mitzuteilen, bezauberte von jeher die Welt und war für sie ein reiches Erbteil. An der Könige Hofe, an den Tischen der Reichen, vor den Türen der Ver-

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seiner Privatdrucke „Für Wenige“ (s. 26–29), die zugleich seine erste Übersetzung einer goethe-Ballade ist. sowohl Žukovskij als auch Katenin haben also, als sie es erstmals unternahmen, eine goethe-Ballade zu übersetzen, dafür die in der jeweils neuesten Ausgabe erste dieser gruppe gewählt. Bibliographische Angaben nach h. g. gRAF: „goethe über seine Dichtungen“, Ffm. 1914, und Z. V. ŽIToMIRsKAJA: „Iogann Vol’fgang gete, Bibliografičeskij ukazatel’ russkich perevodov i kritičeskoj literatury na russkom jazyke 1780–1971“, M. 1972. Die geschichte dieser Textänderungen referiert und kommentiert Annemarie chRIsTIANsEN, in: „Zwölf gedichte goethes“, stg. 1973, s. 48–60. Vgl. dazu Bernhard sEuFFERT „Der sänger“ in: chronik des Wiener goethe-Vereins, Bd. 39, Wien, 1934, s. 1–4. sicher als terminus ante quem ist der september 1781, als herder von goethe einige gedichte zur Abschrift erhielt, darunter den „sänger“ – damals noch ohne diese Überschrift. seuffert hält, wie sein hinweis auf einen Brief goethes (an Merck, 22.1.1776) zeigt, eine weit frühere Entstehung für denkbar. Der Vogelvergleich

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Puškin liebten horchte man auf sie, indem sich das ohr und die seele für alles andre verschloss, wie man sich selig preist und entzückt stille steht, wenn aus den gebüschen, durch die man wandelt, die Stimme der Nachtigall gewaltig rührend hervorruft! Sie fanden eine gastfreie Welt, und ihr niedrig scheinender stand erhöhte sie nur so viel mehr.

Dieser Textabschnitt lässt zumindest einige der Assoziationen deutlich werden, die für goethe in dem Vogel-Vergleich anklingen: den Vers der Bergpredigt (Mt. 6.26) wobei das spinnen und Weben eigentlich zu den „Lilien auf dem Felde“ gehörte (Mt. 6.28); sodann die Vorstellung von der zu ehrenden Natur und der Naturhaftigkeit des Dichtens: Das Lied, das aus der Kehle dringt ... Wilhelms begeistertes Plädoyer für selbständigkeit und selbstgenügsamkeit des Dichters wird im Roman provoziert durch den Einwand Werners, man könne das Dichten doch auch gewissermaßen nebenberuflich betreiben. Das wird von Wilhelm empört abgelehnt, aber gerade das war für goethe, seit er nach Weimar gekommen war, jahrelang ein ungelöstes, schmerzendes Problem, das dadurch, dass der herzog ihm auch menschlich nahe stand, nicht einfacher wurde. Aus diesem inneren Konflikt erwuchs in den 80er Jahren der „Tasso“ und schließlich der Entschluss zur Flucht nach Italien. Der „sänger“, vermutlich vor dem „Tasso“ entstanden5, reflektiert die gleiche spannung im Keim, sozusagen vor dem Ausbruch des Konflikts, der zudem durch die historische Einkleidung entschärft ist: der soziale Abstand zwischen König und sänger ist so groß, dass eine menschliche Verpflichtung des „vogelfreien“ Fahrenden gegenüber dem König nicht aufkommen kann. Er lehnt aber auch das symbol einer Bindung, die goldene Kette6, ab. sie komme den Rittern oder dem Kanzler zu, also solchen, die durch ihren Dienst an den König gekettet sind, und sie wird als Last bezeichnet. Erst nachdem durch die Ablehnung der Kette (und damit auch des goldes) die unabhängigkeit des sängers deutlich gemacht ist, erklärt er programmatisch:

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als selbstaussage goethes geht sogar schon auf die Leipziger Zeit zurück, vgl. die Blankverse in dem Brief an Riese vom 20./21. oktober 1765. Die Interpretation von Emil sTAIgER („goethe“, I, 458f) scheint die Annahme einer späteren Entstehung des „sängers“ vorauszusetzen, während Muschg (o. c., s. 229f) eine fortschreitende Entwicklungslinie vom „sänger“ zum „Tasso“ sieht, was ich für wahrscheinlicher halte. Die goldene Kette ist offenbar als Belohnung noch älter denn als Amtssymbol. so bekommt sie Joseph vom Pharao für seine Traumdeutung (1. Mos. 41.42) und Daniel von Belsazer für seine Deutung der schrift an der Wand (Dan. 5.29) – beides Belohnungen für prophetische Leistungen, die auch ganz unbefangen angenommen werden, obwohl das Verhältnis der Empfänger zu den verleihenden Fürsten alles andere als gut ist. Bezeichnend für die spätere Auffassung, der solche unbefangenheit nicht mehr möglich war, ist nicht nur goethes „sänger“. In heines Bearbeitung der Daniel-Erzählung, „Belsatzar“, kommt weder die goldene Kette noch Daniel selbst mehr vor (Die Magier kamen, doch keiner verstand / Zu deuten die Flammenschrift an der Wand). Dabei zeigt diese „Romanze“ im setting und einigen stilistischen Zügen Anklänge sowohl an goethes „sänger“ wie an schillers „graf von habsburg“, aber das alleinige Thema ist die hybris des Königs. Was dies Thema angeht, so besteht eine erstaunliche Parallele zu Puškins „Pesn’ o veščem olege“, umso erstaunlicher als – bei fast gleichzeitiger Entstehung – jegliche Beeinflussung ausgeschlossen ist.

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Ich singe wie der Vogel singt, Der in den Zweigen wohnet; Das Lied, das aus der Kehle dringt, Ist Lohn, der reichlich lohnet.

Vom gegenstand oder Inhalt seines Liedes ist mit keinem Wort die Rede (auch in der zitierten Prosastelle waren nur ästhetische Werte benannt: schöne Empfindungen, herrliche Bilder, süßte stimmende Worte und Melodien) – der Vergleich mit dem gesang des Vogels schließt derartiges von vornherein aus – und das historische Kolorit beschränkt sich auf allgemeinste Andeutungen eines idealen Mittelalters. Der König hat den sänger (wie carl-August goethen) gerufen, er hat sich an seinem gesang erfreut und ihn bewirtet, er muss ihn auch wieder ziehen lassen. Es kommt nicht eigentlich zu einem gespräch zwischen den beiden; dem König gehören nur die ersten vier den Auftritt des sängers vorbereitenden von den 42 Zeilen des gedichts. Der sänger zeigt sich zwar zunächst von der Pracht des saales beeindruckt (str. 2), besinnt sich aber bald darauf, weshalb er gerufen wurde. Der Berichterstatter – ihm gehören insgesamt 11 Zeilen – beschreibt die Wirkung des Liedes (str. 3), und von den 21 Zeilen der zweiten hälfte spricht 20 der sänger; sie enthalten seine Ablehnung des Lohnes, den Vogelvergleich, die Bitte um Wein und den Dank dafür. Thema des gedichts ist die unabhängigkeit des sängers und die selbstgenügsamkeit der Kunst – beides, sowohl im hinblick auf die realen mittelalterlichen Verhältnisse wie auch auf goethes aktuelle situation, einigermaßen idealisiert, aber gerade darin konsequenter Ausdruck einer „emanzipierten“, zum Bewusstsein ihres Eigenwertes gekommenen (Dicht-)Kunst, einer Auffassung von Rang und Wesen des Dichters, die Wilhelm Meister im Laufe des bereits einmal zitierten gesprächs mit Werner so beschreibt: Was beunruhiget die Menschen, als dass sie ihre Begriffe nicht mit den sachen verbinden können, dass der genuss sich ihnen unter den händen wegstiehlt, dass das gewünschte zu spät kommt, und dass alles Erreichte und Erlangte auf ihr herz nicht die Wirkung tut, welche die Begierde uns in der Ferne ahnen lässt. Gleichsam wie ein Gott hat das Schicksal den Dichter über dieses alles hinübergesetzt.(…) Ja, wer hat, wenn du willst, Götter gebildet, uns zu ihnen erhoben, sie zu uns herniedergebracht, als der Dichter?7

Aus solchen und ähnlichen grundsätzlichen Ausführungen, um derentwillen die Romantiker gerade den „Wilhelm Meister“ so hoch schätzten, wird deutlich, welche „allerhöchste Kunstbewertung und Kunstverehrung“8 hinter der scheinbaren Bescheidenheit des sängers und der scheinbaren Anspruchslosigkeit des Vogelvergleichs steht. Auch goethe selbst hatte ja in der zitierten Passage schon von dem nur „niedrig scheinenden stand“ der sänger gesprochen, der sie „nur so viel mehr erhöhte“ ... 7 8

„Wilhelm Meisters Lehrjahre“, 2. Buch, 2. Kapitel. hervorhebung von mir – R.-D. K. Mit diesen Worten charakterisiert h. A. KoRFF das „tiefste Wesen“ der goethezeit („geist der goethezeit“, Lpz. 1954, Bd. I, s. 24).

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3. schiller: Der graf von habsburg Man könnte versucht sein zu fragen, ob denn dieses breit angelegte historiengemälde „im Dienst einer klaren Moral“ überhaupt etwas mit goethes „sänger“ gemeinsam habe außer dem banalen Faktum, dass in beiden gedichten jeweils ein König und ein sänger auftreten, letzterer von ersterem gerufen. Alles Übrige ist doch völlig verschieden; das beginnt schon beim umfang: jede Zeile, jede strophe ist länger, das ganze um ein Vielfaches; die Überschrift nennt nicht den sänger, sondern den Fürsten als helden des gedichts, und auch nicht etwa den Fürsten als Typ, sondern eine konkrete historische Persönlichkeit, den grafen (Rudolf) von habsburg. Dementsprechend dient das reiche historische Detail auch nicht der Andeutung eines idealen Mittelalters als konfliktdämpfender Folie für eine selbstaussage des sängers, sondern hat ein über das Dekorative hinausgehendes Eigeninteresse. Am sänger aber interessiert nicht, wie er singt, sondern was. Zweifellos geht es schiller um den Inhalt des Liedes, dessen Referat ja auch sechs der zwölf zehnzeiligen strophen gewidmet sind. und dieser Inhalt, der seinerseits wieder nur der positiven charakterisierung des grafen von habsburg dient, war eben jene erbauliche geschichte, die schiller bei seinen studien zum „Wilhelm Tell“ in des schweizers Tschudi (1502–1572) „chronicon helveticum“ (gedruckt 1734 in Basel) fand und dem priesterlichen sänger in den Mund legte. Zum Teil schloss er sich (...) fast wörtlich an Tschudi an (so in V. 68–70, 91–100), aber die ganze den gesang umrahmende situation ist sein frei erfundenes Eigentum. Tschudi hat hierfür nur den hauch einer Anregung durch den schlusssatz: ‘Darnach ist derselbe Priester des churfürstlichen Ertz-Bischoffs von Meentz caplan worden, und hat Im und anderen herren von solcher Tugend, auch von Mannheit dises grafen Rudolfs so dick angezeigt, dass sein Nam im gantzen Rich rumwürdig und bekant ward, dass Er hernach zu Römischen Künig erwelt ward’. Diese historisch falsche Darstellung beseitigte schiller9

– wiewohl nicht in der dahinter stehenden frommen Tendenz, und auch ohne sie durch eine historisch richtige zu ersetzen. Vielmehr gestaltete er die umrahmende situation dadurch um, dass er den Priester als sänger verkleidete (obgleich das Wort Talar verräterisch bleibt), ihn mit dem Kaiser zusammenbrachte und vor allem die Wirkung des Liedes auf Rudolf dem Vorbild der odyssee anglich, wo der sänger Demodokos dem unerkannt bei den Phäaken weilenden odysseus dessen eigene Taten vorträgt, aber odysseus schmolz in Wehmut, Tränen benetzten ihm Wimpern und Wangen (...) Allen übrigen gästen verbarg er die stürzende Träne. (od. VIII, 521–22 und 532; nach Voß) 9

so der Kommentator in „schillers sämtliche Werke“, säkular-Ausgabe in 16 Bänden, stg. und Bln. o. J. (1905ff), Bd. I, s. 312.

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Über die Wirkung dieses Abschlusses war sich schiller völlig im Klaren. Er schreibt am 24. Juni 1804 an s. L. crusius: haben sie doch die güte, ihm [dem Maler V. h. schnorr von carolsfeld] aus dem cottaischen Damen calender auf dies laufende Jahr die Ballade von mir, welche Graf Habsburg betitelt ist mitzuteilen, ob er nach Lesung derselben nicht vielleicht Lust bei sich verspürt, eine gruppe davon zu zeichnen, besonders scheint mir der Inhalt der letzten strophe von mahlerischem Effekt zu seyn.10

und schon ein Jahr früher, bald nach der Vollendung des gedichts (die am 25. April 1803 erfolgte), schreibt er an c. g. Körner: Mich freuts, dass euch meine Ballade von Rudolf von hapsburg lieb geworden ist. Ich bin selbst mit der Art, wie ich diese Anekdote genommen und eingekleidet habe, besonders zufrieden.11

Wie hat er sie eingekleidet? Als Dramatiker, was den gut vorbereiteten schlusseffekt betrifft, als historiker, was die Realiendekoration und die Anspielung auf das tu felix Austria, nube! in der vorletzten strophe angeht; als Kunsttheoretiker jedoch in den strophen 3 bis 5, die für unsere Fragestellung die entscheidenden sind: und der Kaiser ergreift den goldnen Pokal und spricht mit zufriedenen Blicken: „Wohl glänzet das Fest, wohl pranget das Mahl, Mein königlich herz zu entzücken; 25 Doch den sänger vermiss ich, den Bringer der Lust, der mit süßem Klang mir bewege die Brust und mit göttlich erhabenen Lehren. so hab ich’s gehalten von Jugend an, und was ich als Ritter gepflegt und getan, 30 Nicht will ich’s als Kaiser entbehren.“ und sieh! in der Fürsten umgebenden Kreis Trat der sänger in langem Talare, Ihm glänzte die Locke silberweiß, gebleicht von der Fülle der Jahre. 35 „süßer Wohllaut schläft in der saiten gold, Der sänger singt von der Minne sold. Er preiset das höchste, das Beste, Was das herz sich wünscht, was der sinn begehrt; Doch sage, was ist des Kaisers wert 40 An seinem herrlichen Feste?“

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„Dichter über ihre Dichtungen. Friedrich von schiller“ hrsg. von Bodo LEcKE, München 1970, Bd. II, s. 166. Ibid. Das Datum ist dort versehentlich mit 16. Juni angegeben statt 16. Juli (1803); vgl. die Datierungen in „schillers Briefwechsel mit Körner“, Lpz. 1859, IV, 239 und „schillers sämtl. Werke“ (horenausgabe) XIX, 341.

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Puškin „Nicht gebieten werd ich dem sänger“, spricht Der herrscher mit lächelndem Munde, „Er steht in des größeren herren Pflicht, Er gehorcht der gebietenden stunde. 45 Wie in den Lüften der sturmwind saust, Man weiß nicht, von wannen er kommt und braust, Wie der Quell aus verborgenen Tiefen, so des sängers Lied aus dem Innern schallt und wecket der dunklen gefühle gewalt, 50 Die im herzen wunderbar schliefen.“

In diesem Idealbild des nicht nur frommen und weisen, sondern auch kunstverständigen Fürsten kann es keinen Konflikt mit dem sänger geben. Aber auch schiller nutzt die gelegenheit, seine Dichtungsauffassung darzulegen. Er tut es in drei Etappen. Zuerst erklärt der Kaiser, was er vom sänger erwartet: ästhetischen genuss (süßen Klang) und göttlich erhabene Lehren (V. 25–27). hier ist das horazische aut prodesse ... aut delectare zum et ... et gesteigert, zu einer Klimax umgewendet, das delectare psychologisch vertieft, das prodesse sakral überhöht. Es geht um die Wirkung der Kunst auf die Menschen, schillers großes Thema, die „ästhetische Erziehung“ durch „die Künstler“. Der sänger antwortet auf die Erwartung des Fürsten mit einer Aufzählung dessen, was er bieten kann. Dem süßen Klang entspricht ebenso süßer Wohllaut als einzige ästhetische Komponente, und auch diese Aussage über das Wie des gesanges ist – meilenweit entfernt von goethes schlichtem Vogelvergleich – eingekleidet in die prunkvoll-künstliche Mehrfachmetapher vom Schlaf in der Saiten Gold. Alles Weitere bezieht sich auf das Was des gesangs: das Thema Minne geht wohl zu Lasten des Zeitkolorits, und das Höchste das Beste, was das Herz sich wünscht, was der Sinn begehrt, ist sicher im moralischen sinne zu verstehen, obwohl es nicht so eindeutig klingt wie die göttlich erhabenen Lehren. Überhaupt macht der sänger zunächst einen weniger sicheren Eindruck als der Fürst, dessen wahre Kenntnis sich in der fünften strophe voll entfaltet. Er weiß, dass er der Inspiration nicht gebieten kann, sondern dass sie aus unbekannten Quellen aufsteigt, wann sie will. Er drückt dies in zweifacher Weise bezeichnend aus: einmal durch das versteckte Bibelzitat (Joh. 3.8 „Der Wind bläst, wo er will, und du hörest sein Sausen wohl, aber du weißt nicht, von wannen er kommt und wohin er fähret. Also ist ein jeglicher, der aus dem geiste geboren ist.“), zum andern durch die Übertragung der ihm vertrauten herrschafts- und Dienstverhältnisse auf den größeren Herrn, in dessen Pflicht der sänger stehe, wenn er der gebietenden Stunde gehorche. All das befindet sich in schönem Einklang mit dem religiösen unterton des ganzen gedichts und der Absicht, des grafen gläubigen Christensinn recht eindringlich vorzuführen. Damit gerät die Kunst des sängers in die Nachbarschaft des heiligen geistes, der sänger selbst in die Nähe des Priesters, ja des Propheten – und tatsächlich entpuppt sich dieser sänger ja später als Priester und betätigt

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sich (in der vorletzten strophe) als – allerdings sehr weltlich orientierter – Prophet. Durch die zumindest angedeutete gleichsetzung mit dem heiligen geist löst schiller das Dilemma, das sich sonst unweigerlich auftun müsste zwischen der moralischen Funktion der Kunst und der unkontrollierbarkeit der Inspiration. Allerdings darf die christliche, ja katholische Einfärbung dieser Ballade nicht zu wörtlich genommen werden; sie geht vor allem zu Lasten des historikers und Bühnenfachmannes schiller, der wohl wusste, was er einem mittelalterlichen Thema schuldig war. In dieses Mittelalter hinein projiziert er sein Idealbild von einem deutschen Kaiser, der als Richter auf Erden endlich die kaiserlose, die schreckliche Zeit beenden würde – geschrieben im Jahre 1803, wenige Wochen nach dem Reichsdeputationshauptschluss! Die Beschwörung einer Frieden und ordnung stiftenden idealen herrschergestalt wird gerade vor dem zeitgeschichtlichen hintergrund der staatlichen Misere Deutschlands und der Auflösung vieler alter ordnungen im umgebenden Europa verständlich. Dass schiller auf den grafen von habsburg verfiel, mag mit dem Zufallsfund bei Tschudi zu erklären sein; es könnte sogar ein gewisses gegengewicht zu dem gleichzeitig konzipierten „Wilhelm Tell“ mitbeabsichtigt sein, der ja gewiss nicht den Abfall der schweizer vom hause habsburg oder ihr herausrücken aus dem Reichsverband verherrlichen sollte, sondern stellvertretend und idealisiert für jeden Befreiungskampf gegen fremde unterrückung stand – damals, in Anbetracht der französischen Besatzung, auch in der schweiz aktuell. Wie dem auch sei, hier soll keine gesamtinterpretation der Ballade versucht werden, sondern nur eine Klärung der poetologischen Variante, die schiller in das Motiv von Fürst und sänger hineingebracht hat. Die Ballade als ganzes ist dabei insofern wichtig, als die historische Einkleidung auch der Darlegung der Dichtungsauffassung übergeworfen ist. Dadurch könnte der Eindruck entstehen, schiller habe die Dichtung als dienendes Werkzeug einer primär christlichen Moral- und staatsauffassung verstanden. Daran ist nur richtig, dass er allerdings der Dichtung, wie der Kunst überhaupt, eine dienende, absichtsvoll bewirkende Funktion zusprach und sie der Moral unterstellte, aber einer strengen Moral ohne Religionströstungen, wie es sogar in dem ganz in christlichem Milieu spielenden Malteserfragment heißt.12 seine grundkonzeption war ja gerade, „die weltgeschichtliche sendung der Kunst in einer führerlosen Menschheit zu erneuern“, wie Muschg sagt,13 der auch darauf hinweist, dass diese Lehre vielleicht am größten tönt in den allegorischen gedichten, die das Thema der Künstler weiterführen (...) sie verwenden durcheinander hieratische und heroische Bilder und nennen den Dichter bald seher, bald sänger, bald Priester, weil alle diese Bilder und Namen nur noch als gleichnisse für die von schiller verkörperte sendung des Dichters gemeint sind.14 12 13 14

säkular-Ausgabe, VIII, 204. Muschg, o. c., s. 308. Ibid.

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In diese Reihe gehört auch der Priester-sänger im „grafen von habsburg“, der, seltsam genug, sogar im gedicht den sänger nur spielt – eine sehr schillersche spielart der „allerhöchsten Kunstbewertung und Kunstverehrung“. In diesem Punkte, der Kunstbewertung und Kunstverehrung, unterscheidet sich schiller von goethe nicht, bei aller Verschiedenheit der Ausformung dieser Überzeugung in den beiden untersuchten Balladen.

4. Katenin: Pevec u. a. sowohl goethes wie schillers Ballade fanden im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ihren Weg in die russische Literatur. unter der Überschrift PEVEc und mit dem Verfassernamen Katenin erschien 1815 im „syn otečestva“ das folgende gedicht:

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V stol’nom Kieve velikom Knjaz’ Vladimir piroval; okružen blestjaščim likom, V svetloj gridne zasedal. Vsech bojar svoich premudrych, Vsech krasavic lepokudrych, sil’nych vsech bogatyrej Zval on k trapeze svoej.

Za dubovyj stol sachárnych 10 sorok jastv prineseny; Medu sladkogo jantarnych sorok čaš oprazdneny – Vsech živit vesel’e novo; I zronil zlatoe slovo 15 Knjaz’ k gostjam: „Pošlem gonca, – grusten pir, gde net pevca“. Molvil knjaz’; gonec pospešnyj skoro v put’, skorej nazad, I, pevec na pir utešnyj 20 Vdochnovennyj s nim uslad. Veščij perst živye struny Vskolebal; gremjat peruny: Zverem ryščet on v lesa, V’etsja pticej v nebesa. Bodry junoši vnimali, Bystryj vzor v pevca vperja; Devy krasnye vzdychali, Robkim okom dolu zrja. Knjaz’, čudjas’ iskusstvu divnu, 30 Povelel zlatuju grivnu

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s cep’ju bisernoj prinest’ – Pesnej sladkich v mzdu i čest’. „Ne dari menja ty zlatom, cep’ju redkoj ne dari. 35 Pust’ v narjade sem bogatom V bran’ tekut bogatyri; Im bojar ukras’ počtennych, Vlasti bremenem stjagčennych: Voin – meč, a sudija – 40 Ščit deržavy tvoeja. Ja poju, kak ptica v pole, oživlennaja vesnoj; Ja poju: čego mne bole? Pesn’ ot serdca – dar dragoj. 45 Esli ž chočes’, knjaz’, nagradu Po želan’ju dat’ usladu, – Pust’ počtit menja knjažna Kubkom svetlogo vina.“ Nalit kubok: „Bud’te zdravy, 50 gosti čestnye, vsegda; obo mne vo dni zabavy Vspominajte inogda. sčastliv dom, gde dar sej skuden; Bog k vam ščedr, on pravosuden: 55 Blagodarny ž nebesam Bud’te tak, kak gost’ vaš vam“.

Das gedicht ist nach Auskunft von Katenins Freund und herausgeber N. I. Bachtin „im Ausland“ geschrieben,15 wo Katenin sich als offizier des Preobraženskij garderegiments von Anfang 1813 bis Juni 1814 aufgehalten hatte, 1813 in Deutschland, danach in Frankreich. Ebenfalls „im Ausland“ geschrieben (und kurz vor dem „Pevec“ in der gleichen Zeitschrift veröffentlicht) wurde die „Nataša“. Leider ist eine genauere Datierung nicht möglich, doch zeugen beide gedichte von der 15

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Es wurde zu Lebzeiten Katenins nur einmal nachgedruckt in der von N. I. BAchTIN betreuten Ausgabe „sočinenija i perevody v stichach Pavla Katenina“, č. 1 i 2, sPb. 1832. Dort (II, 27) steht es unter den Übersetzungen mit dem angefügten Kommentar Bachtins. Die letzten fünf Verse sind gegenüber dem Erstdruck wie folgt geändert: Vspomjanite inogda. Dom vaš polon vsem, i sami Vy ljubimy nebesami: Blagodarny ž bud’te im, skol’ko gost’ vaš vam samim. vgl. P. A. KATENIN, Izbrannye proizvedenija (Bibl. poėta, bol’š. ser.) M.-L., 21965, s. 77–78 u. 655. Dort fehlt bei der Quellenangabe die Nennung des 2. Buches von „Wilhelm Meisters Lehrjahren“; es ist lediglich das 11. Kapitel erwähnt. Lucjan suchANEK: „Rosyjska ballada romantyczna“, Kraków, 1974, s. 46f.

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hinwendung Katenins zur „modernen“ gattung der Ballade. sein eigentliches Debüt als Lyriker steht somit deutlich im Zeichen der Konkurrenz mit Žukovskij, dessen Popularität als Balladendichter damals noch unangefochten war. Während Katenin in seiner „Nataša“ das seit Bürgers „Lenore“ (1773) in deutschen, englischen und russischen Balladen beliebteste strukturschema der unglücklichen, getrennten und erst im Tode (unter schaurigen Begleitumständen) wieder vereinten Liebenden aufgreift und es in volkstümlich-patriotischen Tönen (wie man gemeint hat, fast parodistisch16) variiert, wendet er sich mit dem „Pevec“ einem anderen strukturschema zu, das bisher in russischen Balladen noch nicht behandelt worden war,17 eben dem von Fürst und sänger. Man kann, wenn man will, selbst im Titel eine Art herausforderung an Žukovskij sehen, dessen „Pevec“ – 1811 geschrieben, 1813 gedruckt – als vollendetes Muster der gräberelegie sehr geschätzt wurde. Wie dem auch sei, die Anregung zu Katenins „Pevec“ ging von goethes gedicht aus, u. a. wohl auch, weil dieses gedicht in den damals neuesten goethe-Ausgaben die gruppe der Balladen eröffnete (vgl. Anm. 2) und somit als vorbildlich für die gattung angesehen werden konnte. Dass es Katenin hauptsächlich um die sujetmäßige Bereicherung und nationale Ausformung der Ballade ging (nicht im folkloristischen sinne, sondern im patriotischen), beweist seine Behandlung des stoffes. Bachtin hat wohl Recht, wenn er meint, der „Pevec“ „könnte als eigenständiges Werk gelten, so russisch ist er in der Übersetzung geworden.“18 Diesen Eindruck erreicht Katenin, dem Prinzip von Žukovskijs „Ljudmila“19 folgend, durch eine Russifizierung des setting, wobei gleichzeitig der 17

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Friedrich Wilhelm NEuMANN („geschichte der russischen Ballade“, Königsberg (Pr.), 1937, s. 33) vermerkt „das erste Auftreten eines sängers – unter Einfügung eines sängerliedes – in der russischen Ballade“ bei I. I. Dmitriev in seiner Ballade „starinnaja ljubov’“ (1805). Dort ist das erwähnte strukturschema der Liebesballade in der Lenore-Nachfolge so abgewandelt, dass die heldin Milolika Tochter eines vožď velikoj ist, der ihre Liebe zu einem sänger missbilligt, und zwar wegen des standesunterschiedes. Die unglücklichen Liebenden werden auch hier im Tode vereint. Das eingefügte sängerlied ist eine sentimentale Liebesklage. Zum Thema Fürst und sänger trägt diese Ballade nichts bei. Trotzdem ist ein entfernter Zusammenhang mit goethes „sänger“ nicht ganz auszuschließen. Darauf deutet vor allem die strophenform hin, die der von goethes „sänger“ bis auf die Reimfolge im ersten Quartett genau gleicht: aBBaCCx, vierfüßige Jamben mit der ungewöhnlichen Anzahl von sieben Zeilen und dem charakteristischen Fehlen des Reims in der siebten Zeile. In einer sehr ähnlichen strophe (vier- und dreifüßige Jamben aBaBccX) schrieb goethe die Balladen „Der sänger“, „Der untreue Knabe“, „Das Blümlein Wunderschön“, sowie später noch den „Totentanz“. Dass DMITRIEV sich für goethe interessierte, beweist die Tatsache, dass von ihm die überhaupt erste gedruckte Übersetzung eines goethe-gedichts ins Russische stammt: Er veröffentlichte 1795 „Na slučaj groma. Podražanie germanskomu poėtu g. gete“ (gedruckt in Prijatnoe i poleznoe preprovoždenie vremeni, (č. 8, s. 209f) – eine umsetzung von „grenzen der Menschheit“ in den stil der geistlichen ode. In ähnlicher Weise könnte in „starinnaja ljubov’“ der von goethe angeregte sänger in die übliche Balladenstruktur integriert worden sein. P. A. KATENIN, M.-L. 1965, s. 666. suchANEK, o. c., s. 46, vermutet als Vorbilder „Ljudmila“ und „svetlana“, was wegen der ungeklärten Datierung der „Nataša“ nicht ganz sicher ist.

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Rahmen für den Auftritt des sängers mehr Platz und mehr Detail erhält. An die stelle des höchst allgemeinen Mittelalters bei goethe (vgl. Tor, Brücke, Ritter, Sänger als signalwörter) tritt bei Katenin ein reicheres Bild der großen Zeit des russischen Mittelalters, schon in der ersten Zeile durch den Namen Kiev gesättigt mit nationalen und literarischen Assoziationen, die dann neue Nahrung erhalten in Wörtern wie gridnja, dubovyj stol, lik, jantarnye čaši, gonec, bogatyri, bojare, grivna ... und so wie der ort genannt ist, bekommen auch Fürst und sänger Namen: Vladimir, zugleich historisch wie sagenumwoben und liedergefeiert, und uslad, eine künstliche, aber damals sehr verbreitete Namensprägung des archaisierenden sentimentalismus.20 Durch diese Namensgebungen sind Fürst und sänger zwar keineswegs historisch greifbarer geworden, aber doch heimisch-vertrautere Typen. Die derart auf Typisches abzielende Russifizierung des Erzählrahmens findet ihre Parallele in der sprachlichen stilisierung, die sehr bewusst Elemente der Bylinen, der chronik und des Igor’-Liedes verwendet.21 Die Ausweitung des Rahmengeschehens auf drei strophen hat goethes zweite strophe verdrängt. An die stelle des Erstaunens des sängers über den Saal voll Herrlichkeit und Pracht (und die auch von schiller wieder verwendete sternenmetapher) ist die Beschreibung des gelages durch den Berichterstatter getreten. Ein vermutlich unbeabsichtigter Erfolg dieser Änderung ist die größere unbefangenheit und unabhängigkeit des sängers gegenüber seinen gastgebern. Dazu passen weitere Einzelheiten: der sänger singt nicht vor dem Tor und wird daraufhin erst gerufen, sondern er wird von irgendwo herbei gerufen zum schmuck des Festes; dies, wie die Begründung dafür: grusten pir, gde net pevca (V. 16) erinnert an den „grafen von habsburg“. stilistisch passen dazu die sentenzen, die der sänger in den Versen 39–40 äußert. All das zusammen festigt die stellung des sängers seinen gastgebern gegenüber im Verhältnis zu goethes Ballade beträchtlich. Wie auch alle späteren Nachdichter22 hat Katenin einige Mühe, die zentrale Aussage des sängers in russischen Versen wiederzugeben. Es geht nicht ohne verändernde Zugaben ab: der Vogel wird aus den Zweigen aufs freie Feld versetzt 20

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Der Name Uslad scheint von M. I. PoPoV, als angebliche altslavische Entsprechung des antiken „gottes“ Komos, in umlauf gebracht worden zu sein (vgl. Popovs unter verschiedenen Titeln zwischen 1768 und 1794 erschienenen Kompilationen zum Thema „slavische Altertümer“ – im svodnyj katalog russkoj knigi XVIII veka, Bd. II, M. 1964, s. 449f unter den Nr. 5509 und 5513–15). Zu Beginn des XIX. Jahrhunderts begegnet der Name, in gleicher Funktion wie Bajan/Bojan, in gedichten, so auch in Balladen, z. B. bei F. gRAMMATIN „uslad i Vsemila – starinnaja russkaja ballada“ (1810) – Nachdruck: Poėty 1790–1810-ch godov, L. 1971, s. 323 – schon 1809 nennt Žukovskij den helden seiner Erzählung „Mar’ina rošča“ Uslad, ebenso heißt bei ihm schillers „Jüngling am Bache“ („Žaloba“ – V. A. ŽuKoVsKIJ, sobranie sočinenij v 4 tomach, M.-L. 1959, I, 109). Katenin selbst schreibt 1817 ein gedicht „Pevec uslad“, in dem er sich selbst Uslad, seine verstorbene geliebte Vsemila nennt (o. c., s. 98). Beide Namen kommen in gleicher Funktion auch in späteren gedichten Katenins vor. (Die hinweise auf M. I. Popov und F. grammatin danke ich h. Rothe). Vgl. die detaillierte untersuchung bei suchANEK, o. c., s. 49–51. unter ihnen einige bedeutende russische Lyriker. hier die fraglichen vier Zeilen in den Fassungen von

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Puškin

und zudem noch durch den Frühling „belebt“, sein Lied dringt nicht einfach aus der Kehle, sondern kommt „ von herzen“, und aus dem reichlich lohnenden Lohn wird eine „kostbare gabe“ (vv. 41–44). Immerhin ist die volkstümliche schlichtheit, die goethe durch seine Wortwiederholungen erreicht (... singe ... singt, ... Lohn ... lohnet), durch die Anapher Ja poju und das fast gesprächhafte čego mne bole? (man denke an Tat’janas Brief) nicht ungeschickt wiedergegeben. Die letzte strophe enthält in den Reimen der Zeilen 53–54 eine offensichtliche Anlehnung an den schluss von Žukovskijs „Ljudmila“ und wurde vielleicht auch deshalb später abgeändert.23 Abgesehen von der Einführung des Themas von Fürst und sänger in die russische Ballade ist Katenins „Pevec“ auch hinsichtlich der strophenform interessant. gerade in diesem Zusammenhang wäre eine genauere Datierung wünschenswert, so wüsste man gern, ob der „Pevec“ vor oder nach der „Nataša“ geschrieben ist, und ob Katenin zur Zeit der Abfassung beider gedichte Žukovskijs „svetlana“ schon gekannt hat oder nicht.24 Aber auch ohne diese Kenntnisse steht fest, dass er sich weder im

23

24

Tjutčev: (1830)

Na bož’ej vole ja poju Kak ptička v podnebes’e, Ne čaja mzdy za pesn’ svoju – Mne pesn’ sama vozmezd’e.

(F. I. Tjutčev: Polnoe sobranie stichotvorenij – Bibl. poėta, bol’š. ser. L. 21957, S. 114)

K. Aksakov: (1838)

Poju, kak ptica, vol’no ja, Čto po vetvjam letaet, I pesn’ svobodnaja moja Bogato nagraždaet.

(Sočinenija K. Aksakova, č. I. Pg. 1915, S. 137)

A. A. Fet: (1840)

A ja poju kak solovej Na vetke vinograda, I pesnja ot duši moej sama sebe nagrada.

(Polnoe sobranie sočinenij A. A. Feta, SPb. 1901, III, 358 – nicht in der Ausgabe der Bibl. poėta, b. s. L. 21959)

A. grigor’ev: (1852)

Ja vol’noj pticeju poju, I zvuki mne otrada! oni za pesnju za moju Mne lučšaja nagrada.

(Apollon Grigor’ev: Stichotvorenija, 1937 Bibl. poėta, mal. ser. S. 243 – o. O.)

Die Fassungen von Škljarevskij (1825) und strugovščikov (1834) waren mir nicht zugänglich; spätere Übersetzungen habe ich nicht berücksichtigt, da sie „zu jener späten Etappe der Aneignung goethes gehören, als er aus einem aktiven Faktor der zeitgenössischen literarischen Entwicklung schon zu einem Denkmal des Kulturerbes der Vergangenheit geworden war“, wie ŽIRMuNsKIJ (o. c., s. 29) in einem größeren Zusammenhang sagt. Auf diese Parallele weist auch Michael R. KATZ hin in „The Literary Ballad in Early Nineteenth-century Russian Literature“ (oxford, 1976, s. 123). Allerdings scheint mir seine Interpretation sowohl dieser Parallele wie auch der Themenwahl und Behandlung des „Pevec“ durch KATENIN (o. c., s. 122f) als „heavy dependence on Zhukovsky“ zu oberflächlich zu sein, wie auch die gegenüber der Katenin-Ausgabe (s. o. Anm. 15) noch unvollständigere Quellenangabe – „Wilhelm Meister, 11. Kapitel“ (Lehrjahre? oder Wanderjahre? welches Buch?) nicht für gründlichkeit der Recherchen spricht. Weder suchanek noch Katz, der suchanek nicht benutzt hat, gehen auf diese Frage ein, doch behandelt suchanek „Nataša“ vor dem „Pevec“ (auch in der Titelaufzählung o. c.,

Der Fürst und der sänger

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Reimschema noch in der Länge der strophe an „Ljudmila“ (noch – evtl. – in der wechselnden Zeilenlänge an „svetlana“) orientiert hat. Er entwickelt vielmehr eine eigene strophe,25 die er sowohl für die „Nataša“, wie für den „Pevec“, wie für die später (wohl 1815) entstandene Aufsehen erregende „oľga“ verwendet. gerade die strophenform lässt vermuten, dass zuerst die „Nataša“ geschrieben wurde, und dass sie, genau wie später die „oľga“, bewusst als contrafaktur zu Žukovskijs außerordentlich populärer „Ljudmila“ konzipiert war. Die von Katenin entwickelte strophe ist nämlich eine genaue Übertragung der strophe von Bürgers „Lenore“ (dem gemeinsamen Vorbild von „Ljudmila“, „Nataša“, „svetlana“ und „oľga“) aus dem jambischen ins trochäische Metrum unter Beibehaltung der silbenzahl pro Vers und der Reimstellung AbAbCCdd mit regelmäßigem Wechsel zwischen männlichem und weiblichem Zeilenausgang.26 Katenin ist also Žukovskij nur darin gefolgt, dass er, abweichend von Bürger, Trochäen verwendete, die für das damalige gattungsbewusstsein ohnehin der Ballade als einem bestenfalls „mittleren“ genre besser anstanden als Jamben.27 Er hat sich dagegen in Länge und Reimfolge der strophe an das Bürgersche Vorbild gehalten und damit allein schon Kritik an Žukovskijs Bearbeitung(en) der „Lenore“ angemeldet. Die aus der „Lenore“ gewonnene Balladenstrophe wurde von ihm dann auch als Vehikel für goethes „sänger“ benutzt, der damit in seiner russischen umformung schon innerhalb jeder einzelnen strophe an umfang zunahm – um eine Zeile – und regelmäßiger wurde – durch den beschließenden Reim. Das schon erwähnte reichere Detail der Rahmenerzählung dehnte den gesamtumfang ebenfalls aus – um eine strophe. All dies zusammen: setting, trochäisches Metrum und volldurchgereimte strophe nach dem Vorbild der „Lenore“ sollten offenbar das typisch Balladenhafte gegenüber dem deutschen Vorbild steigern. Neben diesen handwerklich-kritischen Aspekten scheint die eigentliche Thematik – Fürst und sänger – für Katenin zweitrangig gewesen zu sein, was nicht verwunderlich ist, da für ihn zu jener Zeit das Problematische eines solchen

25

26

27

s. 43), während Katz sich an die umgekehrte Reihenfolge in der Katenin-Ausgabe der Bibl. poėta hält. Die gleiche strophenform ist vorher, soweit bekannt, nur einmal verwendet worden, und zwar in dem gedicht „Čižik“ eines Anonymus, das ŽuKoVsKIJ 1810 in seiner Anthologie „sobranie russkich stichotvorenij ...“, č. II, s. 193f, abdruckte. Diese Parallele dürfte zufällig sein. unklar bleibt in diesem Zusammenhang die Datierung von Puškins Lyzeumsgedicht „K Nataše“, das gewöhnlich unter dem Jahr 1814 geführt wird und die gleiche strophenform aufweist, dabei aber mehr Anklänge an Katenins „Nataša“ als an den Anonymus enthält. (Vgl. B. ToMAŠEVsKIJ: „strofika Puškina“ in Puškin – Issledovanija i materialy, tom II, M. L. 1958, s. 103). Dabei ist die Abfolge umgekehrt wie bei Bürger, d. h. die strophe beginnt mit dem weiblichen statt mit dem männlichen Zeilenausgang, wodurch die silbenzahl der der entsprechenden Lenoren-Zeile gleich bleibt, obwohl die Zahl der hebungen ausgeglichen ist und durchweg vier beträgt. Abgesehen von dem „gattungsbewusstsein“ wäre eine Nachbildung der metrischen struktur des „sängers“ mit ihrem Wechsel von vierhebigen und dreihebigen jambischen Zeilen als Imitation von Žukovskijs „Pevec vo stane russkich voinov“ (1812) erschienen.

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Puškin

Verhältnisses durch keine persönliche Erfahrung bewusst gemacht worden war. Daher ist es eher ein unbewusster Reflex dieser mangelnden Erfahrung, dass sein sänger, wie erwähnt, im grunde unabhängiger und selbstsicherer auftritt als der goethes. gerade dies aber hat gewiss auf die späteren gestaltungen des Themas auf russischem Boden eingewirkt.

5. Arapov: Pevec unter ihnen ist hier die zweite russische Bearbeitung von goethes „sänger“, die auch metrisch getreue, vom Autor jedoch als „frei“ bezeichnete Übersetzung zu nennen, die nur ein Jahr nach Katenins „Pevec“ erschien,28 und deren Verfasser ein jüngerer Bekannter Katenins war, der später durch seine „Annalen des russischen Theaters“ bekannt gewordene P. Arapov.29 hier seine Version (mit den Abänderungen im Zweitdruck von 1820): Pevec

(Vol’nyj perevod iz gete)

„Čto slyšu ja pered dvorcom? Čej liry zvuk nesetsja? ... Pust’ on v prisutstvii moem V sej zale razdaetsja!“ Korol’ skazal – i paž bežit Letit – „Prochožego s soboj Vvedi v moi čertogi!“ „Da vkupe zdravstvujut knjaz´ja! Da zdravstvujut prekrasny! ... Ne v jave l’ nebo vižu ja? Ne zrju li zvezdy jasny?“ – „Čertog velič’ja polon moj; svoj vzor ot prelestej sokroj: Ne mesto k udivlen’ju!“ ... Pevec potupil vzor k zemle ... I zvuk raznes strunami; Vostorg načertan na čele 28 29

a)

Erstveröffentlichung in Duch žurnalov, 1816, kn. 46, s. 445f. unbekannt geblieben ist er allen Auflagen der Literaturnaja Ėnciklopedija, und auch in der BsĖ wird er nur mit einem Titel unter dem stichwort teatrovedenie erwähnt, daher hier ein paar Daten (nach BRoKgAuZ-EFRoN, sPb. 1890, II, 15f): Arapov, Pimen Nikolaevič, 1796–1861, schüler der Moskauer Adligen-Pension (wie Žukovskij), offizier im Preobraženskij Regiment (wie Katenin), Verwaltungsdienst in sibirien, saratov u. Novgorod, sowie sekretär für Theaterwesen beim Moskauer generalgouverneur, schüler von V. V. Izmajlov, Freund von Katenin, fruchtbarer stückeschreiber (etwa 20), Theaterkritiker der „severnaja pčela“, herausgeber von Almanachen und gedenkbüchern zur Theatergeschichte. sein hauptwerk, „Letopis’ ruskago teatra“, postum 1861 in Petersburg erschienen, enthält die chronologie der Theaterereignisse in Russland seit Ende 1825.

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Der Fürst und der sänger u rycarej s knjaz’jami. Koroľ vozdat’ želaja čest’ Pevcu, zlatuju cep’ prinest’ Velit za trud v nagradu.

b)

„Zlatoj mne cepi ne davaj! Ty ej ukras’ geroja! Pod bronej vernosti puskaj on smelo iščet boja. otdaj vel’može, kem ty čtim: Pust’s tjažkim bremenem svoim Vlačit zlatoe bremja! Kak probuždennyj solovej Poet svoj gimn Prirode: Tak liroju gordjas’ moej, Nagradu zrju v svobode. No ja osmeljusja prosit’: Veli, korol’, pevca počtit’ Vinom iz kubka zlata.“ Vino zapenilos’ črez kraj – „0 ščedryj car’, o čada! Da slavitsja vaš dom, vaš kraj! gde dar sej ne nagrada. Kol’ sčast’e posetit tebja, Počti Tvorca chvaloj – kak ja Tvoe čtu ugoščen’e.“

c)

d)

e)

(Varianten im „sorevnovatel’ prosveščenija i blagotvorenija“, 1820, 5. 10, kn. 4, s. 81–82: a) b) c) d) e)

I zagremel strunami Velel za trud v nagradu Tak liroj oživlen moej, Veli, monarch, menja počtit’ Da slavitsja vaš dom, tot kraj,)

obwohl Arapov sichtlich bestrebt ist, nahe am original zu bleiben, finden sich doch erhebliche Abweichungen, so etwa der schluss der ersten und der zweiten strophe, die bei ihm vom König gesprochen werden statt vom Berichterstatter bzw. vom sänger selbst. Besonders betroffen ist wiederum die zentrale Aussage des sängers, die hier, zurückübersetzt, etwa lautet: Wie die erweckte Nachtigall singt ihre hymne der Natur, so seh, stolz auf die Leier mein, den Lohn ich in der Freiheit.

Dies ist zugleich eine umstilisierung in Richtung der „hohen“ Dichtung und eine sehr weitgehende umdeutung der goetheschen selbstgenügsamkeit zu

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Puškin

stolzem selbstbewusstsein, wobei das ganze in dem Wort svoboda (Freiheit) gipfelt, das 1816 schon dabei war, ein politisches Reizwort zu werden. Katenins „Pevec“, der zudem im Erstdruck keinen hinweis auf seinen Zusammenhang mit goethe mitführte, musste dieser mit goethes Namen versehenen Fassung gegenüber fast sentimental wirken. Man vergleiche die beiden Zeilen Pesn’ ot serdca – dar dragoj und Nagradu zrju v svobode, die beide für goethes Ist Lohn, der reichlich lohnet stehen ... Es ist nicht von der hand zu weisen, dass für manche, die das original nicht kannten oder nicht verstanden, gerade Arapovs Text zum Vermittler dieses goethe-gedichts geworden sein könnte. Von seiner Version her ließe sich ein Weiterwirken des Vogelvergleichs – losgelöst vom Thema Fürst und sänger – in den 20er Jahren verfolgen, nicht zuletzt auch bei Puškin, wovon noch zu sprechen sein wird. Andererseits gab es natürlich unter den Lesern von Dichtung damals viele, die gut und sehr gut deutsch konnten, und noch mehr, die sich von solchen Auskunft einholen konnten. und so brauchen wir nicht erst die späten Ljubomudry abzuwarten,30 bis wir auf spuren des goetheschen sängers stoßen. solche spuren gibt es früh, auch in nächster Nähe Puškins. Als dessen guter Freund und ehemaliger Klassenkamerad, Baron Del’vig, 1819 daran ging, eine sammlung seiner gedichte zum Druck vorzubereiten, setzte er als Motto darüber: Ich singe wie der Vogel singt, Der in den Zweigen wohnet.

– und zwar auf deutsch! Die Ausgabe kam nicht zustande, aber auch in der einzigen, zehn Jahre später gedruckten Ausgabe seiner gedichte zu Lebzeiten (1829) behielt Del’vig dies Motto bei, das zu diesem Zeitpunkt durchaus modegerecht wirkte. Für uns ist aber interessant zu wissen, dass er es schon 1819 ausgewählt hatte.31 Ein anderer Anklang an goethes „sänger“ findet sich 1820 in Baratynskijs „Finljandija“: 30

31

Als ein Beispiel für viele stehe der von ŽIRMuNsKIJ (o. c., s. 184) angeführte Abschnitt aus ŠEVyREVs „Teorija poėzii v istoričeskom razvitii u drevnich i novych narodov“, M. 1836: „no sprosjat nas: dlja čego vozdvignut sej izjaščnyj Panteon vsemirnoj Poėzii? Imeet li on značenie v žizni? K čemu vedut ėti sokrovišča iskusstva? My otvečaem na ėti voprosy stichami samogo že Poėta: Ich singe wie der Vogel singt, Der in den Zweigen wohnet. My perevodim ėti slova na jazyk sovremennogo filosofa: „iskusstvo imeet cel’ samoe v sebe“. V germanii Šelling skazal ėto v nauke: gete v to že vremja ispolnil na dele.“ Dergleichen gedanken gehörten schon in den 20er Jahren zum künstlerischen credo der Ljubomudry, aus deren Kreis ja auch Ševyrev hervorgegangen ist, dessen „Istorija poėzii (M. 1835) Puškin eine „trostreiche Erscheinung, ein wichtiges Buch“ genannt hat (XII, 65 der großen Akademie-Ausgabe: Puškin, Polnoe sobranie sočinenij, 1937–1949, nach der hier auch im folgenden zitiert wird). Vgl. ŽIRMuNsKIJ, o. c. , s. 143f.

Der Fürst und der sänger

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Čto nuždy do bylych iľ buduščich plemen? Ja ne dlja nich brenču nezvonkimi strunami; Ja, nevnimaemyj, dovoľno nagražden Za zvuki zvukami, a za mečty mečtami.32

Bei Baratynskij zeichnet sich bereits eine neue Variante des goetheschen Motivs ab. Der Lohn, der reichlich lohnet dient nun dem resignierenden Dichter zum Trost, wenn ihm niemand mehr zuhört. Auch das liegt in der Logik der oben skizzierten Linie zum l’art pour l’art. Baratynskij war eng mit Del’vig befreundet, der bereits als schüler eine Übersetzung von goethes „Nähe des geliebten“ versucht und seinem Klassenkameraden Puškin ein gedicht gewidmet hatte,33 dem er ein Motto aus goethes „Euphrosyne“ voranstellte.34 in diesem Zusammenhang erinnert man sich an den Brief Puškins an Žukovskij vom Ende April 1825, in dem es heißt: „Du fragst, welches Ziel die „Zigeuner“ haben? Aber ich bitte Dich! Das Ziel der Dichtung ist Dichtung, wie Del’vig sagt (wenn er das nicht gestohlen hat).“35 Aber damit haben wir chronologisch schon vorgegriffen. Kehren wir zunächst noch einmal zurück ins Jahr 1818.

6. Žukovskij: graf gapsburgskij so verschieden wie goethes „sänger“ und schillers „graf von habsburg“ sind die Prinzipien der Wiedergabe beider gedichte durch Katenin und Žukovskij. Es ergibt sich dabei eine Art chiasmus: für goethe war das Verhältnis Fürst: sänger in den frühen Weimarer Jahren ein persönliches Problem, für seinen Nachdichter Katenin nicht. schiller wiederum war in Jena von diesem Problem persönlich nicht betroffen, sein Übersetzer Žukovskij dagegen befand sich in einer wesentlich anderen situation. Er war während der napoleonischen Feldzüge durch patriotische gedichte, besonders 1812 durch seinen „Pevec vo stane russkich voinov“ auch über literarisch interessierte Kreise hinaus bekannt geworden, hatte durch sein „Poslanie Imperatoru Aleksandru“ (1814) nochmals die wohlwollende Aufmerksamkeit des hofes erweckt, war 1815 zum hauptamtlichen Vorleser der Kaiserin bestellt und 1816, nach dem Erscheinen seiner ersten gedichtsammlung, die der Kultusminister uvarov dem Kaiser vorgelegt hatte, mit einer Jahrespension von 4.000 Rubeln bedacht worden. Bald darauf wird er dazu ausersehen, die ehemalige preußische Prinzessin charlotte – nach ihrer heirat mit dem Bruder des Zaren, Nikolaj Pavlovič, großfürstin Aleksandra Fedorovna – im Russischen zu unterrichten. Auf ihren 32 33

34 35

E. A. BARATyNsKIJ: Polnoe sobranie stichotovrenij, Bibl. poėta, b. s., L. 21957, s. 64 „Puškinu“ (Kto, kak lebed’ cvetuščej Avzonii ...) A. A. DEL’VIg: Polnoe sobranie stichotvorenij, Bibl. poėta, b. s., L. 21959, s. 109f. Das Motto wird dort nur im Kommentar (s. 286) erwähnt, aber nicht angeführt. Es lautet: Nur die Muse gewährt einiges Leben dem Tod. XIII, 167.

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Puškin

Wunsch, so berichten jedenfalls ältere Biographien,36 hat er viele gedichte schillers, goethes, uhlands und J. P. hebels übersetzt, die dann, im Jahre 1818, in insgesamt sechs heften in geringer Auflage unter dem Titel „Für Wenige / Dlja nemnogich“ zweisprachig für den Kreis der großfürstin als Privatdrucke erschienen. Im fünften dieser hefte findet sich der „graf von habsburg“, und als Entstehungszeit wird der April 1818 genannt, der gleiche Monat, in dem der erste sohn der großfürstin geboren wurde, der nach dem seit Pauls I. Krönung gültigen Erbfolgerecht der designierte Thronfolger der nächsten generation war.37 Aus Anlass der geburt des Prinzen, des späteren Kaisers Alexander II, dessen Lehrer Žukovskij von 1824–1825 an werden sollte, verfasste der Dichter zudem ein Widmungsgedicht an die junge Mutter, die er insgeheim verehrte, und es besteht gewiss eine innere harmonie zwischen den segenswünschen für den neugeborenen Prinzen: Da na črede vysokoj ne zabudet svjatejšego iz zvanij: čelovek

(Žuk. 1959. Bd. I, s. 310)

und dem herrscherideal von schillers „graf von habsburg“. Bei der Übersetzung dieses gedichts38 hat Žukovskij vor allem die religiöse Komponente an einigen stellen fühlbar verstärkt: schiller: Nicht fürchtet der schwache, der Friedliche mehr, Des Mächtigen Beute zu werden.

(II, 9–10)

Žukovskij: Ne brošeny slabyj, vdova, sirota Moguščim vo vlast’ bez pokrova.

schiller: und der graf zur Erde sich neiget hin, Das haupt mit Demut entblößet, 36

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(vom Pferd aus. R. D. K)

so z. B., unter Berufung auf den mir nicht zugänglichen Freund und ersten Biographen des Dichters, seydlitz, A. s. ARchANgEL’sKIJ in der Biographischen skizze seiner Ausgabe „Polnoe sobranie sočinenij V. A. Žukovskogo v 12-i tomach“, sPb. 1902 (Bd. I, s. XXIII). Paul I. hatte die bis dahin mögliche weibliche Thronfolge abgeschafft. Da weder Alexander I. noch sein ältester Bruder Konstantin erbberechtigte Kinder hatten, war der erste sohn von Konstantins nächstjüngerem Bruder Nikolaj in der auf Alexanders Brüder folgenden generation erster Thronprätendent. Natürlich konnte bei seiner geburt (17. April 1818) niemand wissen, ob er dies Erbe jemals tatsächlich antreten werde. Jedenfalls war Žukovskij aber mit seinem geburtstagsgedicht und dem „grafen von habsburg“ ein besserer Prophet als z. B. Virgil mit seiner 4. Ekloge (wenn diese auch geistesgeschichtlich wichtiger geworden ist). Wer will, kann durchaus einen tieferen sinn darin erblicken, dass gerade dem späteren ZarBefreier solche Töne christlicher Menschlichkeit an der Wiege gesungen wurden. V. A. ŽuKoVsKIJ: sobranie sočinenij v četyrech tomach, M.-L. 1959, Bd. II, s. 142–145. In den folgenden gegenüberstellungen von originalen und übersetzten Zeilen bezeichnen jeweils die römische Ziffer die strophe, die arabischen die Verse innerhalb der strophe.

Der Fürst und der sänger Zu verehren mit gläubigem christensinn, Was alle Menschen erlöset

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(VII. 1–4)

Žukovskij: I nabožnyj graf, umilennyj dušoj, Kolena svoi preklonjaet s serdečnoju veroj, s gorjačej moľboj Pred Tem, čto živit i spasaet.

(also abgesessen. R. D. K)

schiller: Was schaffst du? redet der graf ihn an, Der ihn verwundert betrachtet. herr, ich walle zu einem sterbenden Mann, Der nach der himmelskost schmachtet.

(VIII, 1–4)

Žukovskij: „Kuda“ – izumivšijsja graf voprosil. „V selo; umirajuščij niščij Ždet v mukach, čtob pastyr’ ego razrešil, I alčet nebesnyja pišči.“

In ähnlicher Weise, wie an die stelle des „Friedlichen“ die biblischen „Witwen und Waisen“, an die stelle des sterbenden „Mannes“ der „in Qualen“ sterbende „Bettler“ tritt, sind nun nicht nur die Demutsgesten des grafen verstärkt, sondern auch stand und Leistung des sängers werden noch über schillers göttlich erhabene Lehren hinaus mit sakralen Ehrentiteln und Beiwörtern erhöht: (III, 8ff) Ja pesnej byl drugom, kak rycar’ prostoj; stav kesarem, brošu l’ obyčaj svjatoj Piry uslaždat’ pesnopen’em?

anstelle von: so hab ich’s gehalten von Jugend an, und was ich als Ritter gepflegt und getan, Nicht will ich’s als Kaiser entbehren.

oder: (IV, 5ff) V strunach zolotych vdochnoven’e živet. Pevec o ljubvi blagodatnoj o vsem, čto svjatogo esť v mire

anstelle von: süßer Wohllaut schläft in der saiten gold, Der sänger singt von der Minne sold, Er preiset das höchste, das Beste.

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Puškin

In allen diesen Abweichungen in Richtung einer Verstärkung des religiös Rührenden und Feierlichen spiegelt sich sowohl Žukovskijs persönliche, pietistische Frömmigkeit, wie auch die bewusste oder unbewusste Einstellung auf eine Leserschaft („Für Wenige!“), bei der schillers historisch gemeinte Realien in das Licht jener exaltierten Frömmelei getaucht wurden, von der damals das hofleben in der umgebung Alexanders I. geprägt war. Der umstand, dass die Übersetzungen der hefte „Für Wenige“ sei es von der ehemaligen preußischen Prinzessin direkt angeregt, sei es für sie und ihren des Deutschen kundigen Kreis geschrieben wurden, mag erklären, weshalb Žukovskij sich nicht, wie im Falle der Bürger-Bearbeitungen, bemühte, das setting zu russifizieren oder den Ton auf folkloristische Volksnähe abzustimmen. Er bemühte sich vielmehr, auch im Metrum dem deutschen Vorbild nahe zu bleiben. Allerdings ging er nicht so weit, den akzentuierenden Vers des originals nachzubilden, sondern ersetzte ihn durch einen regelmäßigen Amphibrachys unter Beibehaltung von charakter und Abfolge der Reime: aBaBccDeeD, bei wechselnder Anzahl der Amphibrachien: 4343443443. Dies amphibrachische Metrum, das sich bei Žukovskij schon früher, und nicht nur in Übersetzungen aus dem Deutschen, findet39, gibt einen ersten hinweis auf einen eventuellen Zusammenhang zwischen dem „graf gapsburgskij“ und Puškins „Pesn’ o veščem olege“, der wir uns nunmehr zuwenden wollen.

7. Puškin: Pesn’ o veščem olege Dieses historische Lied hat ein seltsames schicksal gehabt, wenn man seine Rezeption durch das breite Publikum mit der durch Kritik und Literaturwissenschaft vergleicht. schon am 21. März 1825, also kaum drei Monate nach dem Erstdruck in den „severnye cvety na 1825 god“, die in der letzten Dezemberwoche 1824 ausgeliefert wurden, wird es bei einem schulabschlussexamen öffentlich vorgetragen40 und ist seitdem bis heute nicht mehr von der Liste der obligatorisch auswendig zu lernenden gedichte abgesetzt worden. Man wird auch heute kaum einen Russen finden, der nicht wenigstens die Anfangszeilen aufsagen könnte. 39

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Amphibrachisch sind die strophen der „Pesn’ araba nad mogiloju konja“ (1810, in der zitierten Ausgabe Bd. I, s. 103ff) aaBBccDD / 44444444; des gedichts „Teon i Ėschin“ (1814, Bd. I, s. 211ff) mWmW ‘ reimlos / 4343; „gornaja doroga“ (= schillers „Berglied“, 1818, Bd. I, s. 104f) aBaBCC / 434344; „Mečta“ (1818, Bd. I, s. 312f) aabb / 4444; „Mščen’e“ (= uhlands „Rache“, geschrieben 1816, gedruckt 1820, Bd. II, s. 80) aa / 44; „Tri pesni“ (= uhlands „Drei Lieder“, geschrieben 1816, gedruckt 1820, Bd. II, s. 83) aabb / 4444. In den Übersetzungen aus dem Deutschen ersetzt der Amphibrachys überall originale akzentuierende Verse, wie im „graf gapsburgskij“. In der „Pesn’ araba ...“ steht er anstelle französischer Zehn- bzw. Elfsilbler mit Zäsur nach der vierten silbe („L’arabe au tombeau de son coursier“ – Œuvres complètes de Millevoye, Paris, 1837, Bd. I, s. 98f). M. A. cJAVLoVsKIJ: Letopis’ žizni i tvorčestva A. s. Puškina, I. M. 1951, s. 583 und 590f. (21. März und 14. April 1825).

Der Fürst und der sänger

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Dieser Beliebtheit und unverwüstlichkeit steht von Anfang an eine zögernde bis enttäuschte Aufnahme durch die Rezensenten vom Fach gegenüber. Puškins Freund Pletnev, der das Lied als nationale Errungenschaft pries41 wurde deshalb angegriffen. Im „syn otečestva“42 fand man, das gedicht „falle etwas ab“ gegenüber dem, was man von Puškin gewohnt sei, es habe „alles außer dem puškinschen Feuer und jenem bezaubernden Liebreiz, dem freien spiel der Verse, das wir besser intuitiv erfassen als wir es auszudrücken vermögen“, man fand darin „eine gewisse Kälte, die völlig entgegengesetzt ist jenem schwung von gefühl und Phantasie, die uns begeistern und, sozusagen, mit fortziehen in die Welt, die immer so glücklich vom Dichter erschaffen wird“. Man kannte den Puškin des „Kavkazskij plennik“, des „Bachčisarajskij fontan“ und war enttäuscht. ob es der gleiche Mangel an erwarteter „Romantik“ war, der A. Bestužev störte? Er hatte zwar in der „Poljarnaja zvezda“ ein kurzes Wort des Lobes geäußert,43 kann aber nicht begeistert gewesen sein. sonst hätte Puškin kaum versucht, ihn brieflich so umzustimmen: Dir gefällt, scheint’s, der oleg nicht, umsonst. Die kameradschaftliche Liebe des alten Fürsten zu seinem Pferd und seine Besorgtheit um dessen Geschick44 ist ein Zug rührender Einfalt, und auch der Vorgang an sich hat in seiner schlichtheit doch viel Poetisches.45

Diese Rechtfertigung mit ihrer Beschwörung des Rührenden und des Poetischen zielt ganz offensichtlich in die gleiche Richtung, aus der auch die Kritik im „syn otečestva“ gekommen war. seltsamerweise glaubt ein so profunder Kenner Puškins wie Tomaševskij, der zudem sowohl den Artikel aus dem „syn otečestva“ wie Puškins Brief an Bestužev dabei zitiert, in jener Briefstelle die wahre Begründung des Interesses Puškins am Thema oleg zu fassen: Die Besonderheit dieser Ballade beruht darauf, dass sie nicht über ein fiktives sujet, sondern nach einer Überlieferung der chronik geschrieben ist und, infolgedessen, so etwas wie ein historisches Lied darstellt. Aber zum unterschied von der Behandlung anderer historischer stoffe, die Puškin zur künstlerischen Bearbeitung wählte, gibt es in dieser Ballade kein Echo auf Zeitereignisse. ‘Pesn’ o veščem olege’ hat das Ziel,46 unter genauer Beachtung der Daten historischer Zeugnisse und der Überlieferung ein historisches Bild zu zeigen. Puškin reizte die poetische Seite des Chronik-Berichts.47

Darauf folgt dann als Beleg die eben von mir zitierte stelle aus dem Brief an 41 42 43 44

45 46 47

B. ToMAŠEVsKIJ: Puškin, kniga pervaja, M.-L. 1956, s. 547f. syn otečestva, 1815, 6. 99, Nr. 3, s. 308f. Poljarnaja zvedzda, Neudruck 1960, s. 497. Die hier von mir hervorgehobenen Worte sind von Puškin nachträglich eingefügt. Auch darin wird die auf den Empfänger ausgerichtete Absicht deutlich, möglichst viele ihn ansprechende Argumente zu finden. umso weniger darf diese Briefstelle m. E. als vollwertige selbstaussage gewertet werden. Vgl. auch Anm. 54. XIII, 139. Diese Formulierung überrascht bei einem Puškin-Kenner; s. o., Anm. 35. ToMAŠEVsKIJ: Puškin, kn. 1-ja, s. 545; hervorhebung von mir – R.-D. K.

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Bestužev und – in einer Anmerkung – der von Puškin benutzte Text der so genannten L’vovschen chronik. Das ist die Quintessenz der Ausführungen Tomaševskijs zu unserem gedicht in seinem Puškin-Buch 1956. In der großen Bestandsaufnahme der Puškinforschung – „Puškin, itogi i problemy izučenija“, 1966 – weist das Register die „Pesn’ o veščem olege“ ein einziges Mal aus, und dort (s. 386) wird sie nicht um ihrer selbst willen erwähnt. Wo das gedicht sonst behandelt wird, lobt man den historismus, der sich mit Puškins Anmerkung gegen Ryleevs Anachronismus leicht beweisen lässt48 und eine willkommene spielart des „Realismus“ darstellt. Weiter geht gorodeckij, der – ähnlich wie Izmajlov49 – einen Wettstreit mit Žukovskij um den rechten Balladenstil zu erkennen glaubt50 und in den Worten, die der alte Zauberer an oleg richtet, einen „Reflex persönlicher Erlebnisse und des geisteszustandes Puškins zu jener Zeit“51 erblickt, ohne dies näher zu erklären. Nicht uninteressant ist in diesem Zusammenhang auch das Zeugnis des Enfant terrible unter den Puschkinisten, des im osten verschwiegenen, im Westen verschrieenen Andrej sinjavskij (Abram Terc), der sich so vernehmen lässt: hinter Puškins unterwerfung unter das Verhängnis hört man einen seufzer der Erleichterung, – gleich, ob nun Erfolg oder Verlust dabei herausgekommen ist. so wird, von Autors gnaden, der verheißene Tod des oleg von uns mit Enthusiasmus aufgenommen. Der Zug mit dem Pferd hat sich als richtig erwiesen: der Fürst ist mattgesetzt: das Verhängnis hat die oberhand behalten: die sache ist gelaufen. Tusch!52

sinjavskij gibt eine zwar saloppe, aber im Kern durchaus zutreffende Beschreibung der heutigen Leserreaktion und ordnet das gedicht gleichzeitig – zu Recht – in den für Puškin eminent wichtigen Vorstellungskomplex vom unentrinnbaren Verhängnis (rok) ein. so gewiss der „oleg“ auch in diesen thematischen Zusammenhang hineingehört, so wenig erschöpft sich doch die Bedeutung der Ballade darin. Zwar triumphiert das Verhängnis auch hier, aber es ist zuvor verkündet worden. Wichtiger also als das Verhängnis und seine Macht ist der, der es vorher kennt, voraussagt und rechtbehält; wichtiger auch, wer ihm hier erliegt. hier verdienen die Beobachtungen von suchanek Erwähnung: 48

49

50 51 52

Aus der Tatsache, dass Puškin Ryleevs Ausdruck ščit s gerbom Rossii mehrfach als Anachronismus kritisiert hat (vgl. II. 2, 741; XIII, 54 und 175f), hat man lange Zeit geschlossen, seine „Pesn’ o veščem Olege“ sei als Kontrafaktur zu Ryleevs Duma „oleg veščij“ konzipiert und entstanden. Auf die zeitlichen schwierigkeiten eines solchen Kausalzusammenhanges hat bereits F. W. NEuMANN (o. c., s. 105) kurz hingewiesen. Während A. g. cEJTLIN (K. F. Ryleev, Polnoe sobranie sočinenij, M.-L. 1934, s. 577) diesen Zusammenhang noch für wahrscheinlich hält, sind seither kaum noch stimmen für diese Annahme laut geworden. goRoDEcKIJ (s. u., Anm. 49) vergleicht wiederum die beiden gedichte, äußert sich aber nicht zur Entstehungszeit. N. V. IZMAJLoV: Liričeskie cikly v poėzii Puškina 30-ch godov – in: Puškin, issledovanija i materialy II, M-L. 1958, s. 9. B. P. goRoDEcKIJ: Lirika Puškina, M.-L. 1962, s. 264. Ibid s. 270. Abram TERc: Progulki s Puškinym, London 1975, s. 48f. Meine Übersetzung hier folgt nicht der von swetlana geier (Andrej sINJAWsKIJ: Promenaden mit Puschkin, Ffm. 1977).

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Bezeichnend in der Ballade ist die Art, wie der Dichter die Wörter volchv und kudesnik einsetzt. In der chronik werden diese Wörter nebeneinander verwendet, in der ‘Pesn’ o veščem olege’ nennt der Fürst den seher immer kudesnik, der selbst aber nennt sich volchv, womit er seine Position, seinen glauben an seine sendung, die Richtigkeit seiner Prophezeiung unterstreicht. Der Fürst dagegen drückt seine skepsis, seinen unglauben an die scheinbar abstruse Weissagung aus. ‘Pesn’ o veščem olege’ ist ein Werk, das sich auf historisches Material stützt, doch fällt es nicht schwer, eine Anspielung auf die gegenwart darin aufzuspüren. Die unabhängigkeit und der stolz des inspirierten seher-Propheten ist eine Variante des Problems der Dichter-Rolle. Angesichts der Verbannung Puškins war das überaus aktuell und kühn, worüber der Dichter sich selbst im Klaren war, weshalb er seinem Bruder und Pletnev, die seine erste gedichtsammlung zum Druck vorbereiteten, folgende Anweisung gab: ‘NB. In der Pes. o vešč. Ol. muss die strophe Volchvy ne bojatsja usw. ganz mit „–“ gekennzeichnet sein. Es handelt sich um die Antwort des Zauberers, und nicht um meine Überlegungen.’53, 54

spätestens bei diesem Zitat (wenn nicht schon bei dem Brief an Bestužev) fühlt man sich an das Doppelrezept erinnert, das geršenzon einmal für Puškinforscher formulierte: „glaubt blind, ja abergläubisch alles, was Puškin mitteilt – und glaubt niemals seinen Angaben über den Zweck seiner Mitteilungen!“55 In der Tat: die Versicherung, dass es sich ausschließlich um die Meinung des Zauberers (kudesnika!) handele, soll (gewiss nicht die Angeredeten, sondern via Druckbild den Zensor) davon ablenken, dass hier die zentrale selbstaussage des Dichters verborgen ist. Dies ist nun allerdings, vor suchanek und gorodeckij, auch von einem russischen Forscher bereits bemerkt worden, aber irgendwie wieder in Vergessenheit geraten. Tynjanov56 schrieb 1929 im Zusammenhang mit der Besprechung von Katenins „staraja byl’“: Es ist das gleiche Metrum, in dem Puškins ‘Pesn’ o veščem olege’ geschrieben ist, wo die Beziehung des Dichters zur Macht in der Formel gegeben war: Volchvy ne bojatsja mogučich vladyk, I knjažeskij dar im nenužen.57

Aus den Beobachtungen von Tynjanov, gorodeckij und suchanek geht eindeutig hervor, dass die Ballade von oleg neben allem, was sie sonst auszeichnen mochte, eine – geschickt eingekleidete, oder, wenn man will, getarnte – stellungnahme 53 54

55 56 57

Rukoju Puškina, M. 1935, s. 230. L. suchANEK, o. c., s. 72 – Weder suchanek noch gorodeckij erwähnen Tynjanov (s. u. Anm. 55). M. gERŠENZoN: Mudrost’ Puškina, M. 1919, s. 124. Ju. N. TyNJANoV: Archaisty i novatory, L. 1929, s. 166. schade, dass Tynjanov nicht (wie später goRoDEcKIJ, o. c., s. 269) auch die folgenden zwei Zeilen zitiert: Pravdiv i svoboden ich veščij jazyk I s volej nebesnoju družen. An den von mir hervorgehobenen Wörtern wird die Verbindung zu Turgenevs gedicht in Prosa „Russkij jazyk“ deutlich, wo es heißt: s v o b o d n y j i p r a v d i v y j russkij j a z y k ... (Alle hervorhebungen, auch oben im Tynjanov-Zitat, von mir – R.-D. K.)

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Puškins zum Verhältnis „Fürst und sänger“ war, also, entgegen Tomaševskijs Befund (o. c., s. 545), sehr wohl ein „Echo auf Zeitereignisse“ enthielt. Ein anderes, mehr literarisches Echo, hatten Izmajlov und gorodeckij zu bemerken geglaubt. Wie sehr Literarisches und Nichtliterarisches bei Puškin immer zusammenhängen, zeigt sich in unserem Falle an dem umstand, dass Tynjanov auf die Parallelität der strophenform bei Katenin und Puškin aufmerksam geworden war und so die möglicherweise auch politische Polemik zwischen beiden Dichtern erst aufdecken konnte. Vielleicht besteht ja auch ein Zusammenhang zwischen den thematischen Beobachtungen („Fürst und sänger“) und dem vermuteten gattungsinternen Wettstreit mit Žukovskij, den Izmajlov und gorodeckij annehmen? und vielleicht spielen dabei wieder Formalia wie Metrum oder strophenform eine Rolle? Auf diesem formalen sektor hat Tomaševskij einige wichtige Beobachtungen und Vermutungen beizusteuern: in seinem Puškin-Buch bemerkt er bei der Besprechung der oleg-Ballade: „Puškin wählt eine energischere strophe und ein reines Balladen-Versmaß – den Amphibrachys. Darin folgte er Žukovskij. Die strophe der „Pesn’“ stimmt mit den ersten sechs Zeilen der strophe des „graf gabsburgskij“ überein. Noch näher steht diese strophe der „gornaja doroga“58 (mit Ausnahme der ersten und vierten strophe stimmen alle übrigen in Metrum und Reimstellung mit der strophe von Puškins „Pesn’“ überein).“59 Ausführlicher behandelt Tomaševskij den formalen Aspekt in seiner großen Arbeit über Puškins strophenformen.60 Dort heißt es u. a.: „Die Quelle dieser strophe (d. h. der ‘Pesn’ o veščem olege’ – R.-D. K.) kann man mit hinreichender genauigkeit angeben. Es ist die strophe der „gornaja doroga“ (1818) von Žukovskij. Als Puškin die genannte strophe für die ‘Pesn’ o veščem olege’ wählte, band er sich nicht bezüglich der Besonderheiten, die für den Kreis der in dieser strophe geschriebenen Werke charakteristisch sind. sie klang für ihn wie ein signal für das weitergefasste genre der deutschen Ballade. so ist besonders das genre der Ballade ‘graf gabsburgskij’ (Übersetzung von Žukovskij, 1818) der ‘Pesn’ o veščem olege’ näher als das genre der aufgezählten Balladen.61 Es ist nicht unmöglich, dass die strophe des ‘grafen von habsburg’ hier durchaus eine Rolle gespielt hat. Tatsächlich enthält nämlich die strophe dieser 58 59 60

61

gemeint ist Žukovskijs Übersetzung von schillers „Berglied“. B. ToMAŠEVsKIJ: Puškin, kn. 1-ja; M. 1956, s. 545. B. ToMAŠEVsKIJ: strofika Puškina, in: Puškin – issledovanija i materialy II, M.-L. 1958, s. 107f. Bei den im gleichen Abschnitt aufgezählten Balladen handelt es sich z. T. um gedichte, die später entstanden sind als die „Pesn’ o veščem olege“, was der Anlage der Arbeit T.s entspricht. Für die Entstehungsgeschichte der oleg-strophe kommen von den dort genannten balladenartigen gedichten infrage: Puškin: „sražennyj rycar’“ (1815), „Černaja šaľ“ (1820); Žukovskij: „Lesnoj car’“ (1818, = goethe „Erlkönig“), „gornaja doroga“ (1818 = schiller „Berglied“), sowie goethes Ballade „Der getreue Eckart“ (1813), die nach T. – ohne russische Zwischenstufe – das Vorbild für die strophe von Puškins „sražennyj rycar’“ abgegeben haben soll, was chronologisch schwierig ist, denn goethes gedicht wurde erst 1815, im 1. Band der cottaschen Ausgabe der Werke, veröffentlicht (vgl. h. g. gRAF, o. c. IX, s. 934).

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Ballade die strophenform des ‘Berglieds’ als Bestandteil. Nach den sechs Versen dieser strophenform kommen noch vier Verse der Form 3443 mit entsprechender Reimstellung. Vielleicht ist Puškin sogar von dieser strophe ausgegangen, hat aber, da er sie für überladen hielt, jene vierzeilige coda gestrichen, wobei er sich auf das Beispiel von schillers eigener strophe stützen konnte, die ihm aus der Übersetzung Žukovskijs bekannt war. um es gleich zu sagen, den zuletzt zitierten Absatz Tomaševskijs halte ich für eine sehr wahrscheinliche Rekonstruktion des Ablaufs, wenn auch nicht für seine Erklärung. Dazu genügt das studium der Formalia nicht. Tomaševskij hatte ja auch angedeutet, dass hier das „genre“ (žanr) eine Rolle spiele, und so ist es gewiss. Leider war die Verwendung dieses Wortes keineswegs terminologisch genau, denn einmal spricht Tomaševskij vom „genre“ der deutschen Ballade, und gleich danach spricht er vom „genre“ des „grafen von habsburg“ und dem ihm nahe stehenden des „oleg“. Wenn Tomaševskij in diesen drei Fällen das gleiche meinen sollte, so am ehesten wohl das, was Walter hinck den Typ der Legendenballade (im gegensatz zur nordischen Ballade) genannt hat.62 Wie weit dieser Typ für die deutsche Ballade im ganzen bedeutsam sein mag, soll uns hier nicht weiter interessieren. Wichtig für unseren Zusammenhang bleibt die von Tomaševskij zurecht vermerkte Affinität zwischen dem „grafen von habsburg“ und Puškins „oleg“, die eine Affinität eben nicht nur des Metrums und des strophenbaus ist, sondern das „genre“, den gesamtcharakter, die struktur auch der Inhaltselemente betrifft. Welches sind nun diese gemeinsamen oder doch vergleichbaren Elemente? hier lassen sich verschiedene Ebenen unterscheiden. Eine dieser Ebenen ist strukturiert durch das Verhältnis des Fürsten zu seinem Pferd: sowohl im „grafen von habsburg“ wie im „oleg“ wird berichtet, dass der Fürst überraschenderweise auf die Nutzung seines Pferdes verzichtet, und zwar für allezeit. Der Anlass zu diesem Verzicht ist in beiden Fällen verschieden begründet, aber doch insofern parallel, als der Veranlasser eine Person von sakraler (christlicher oder heidnischer) Würde ist. Damit sind die Parallelen auf dieser Ebene erschöpft. Der graf von habsburg handelt bei seinem Verzicht aus gläubiger Verehrung des sakraments, das der Priester vertritt; oleg handelt bei seinem Verzicht aus abergläubischer Furcht vor dem heidnischen Zaubermann. Der graf von habsburg bereut seine handlungsweise nicht, er wird später durch die Kaiserwahl dafür belohnt; das Pferd spielt keine Rolle mehr, er scheint es vergessen zu haben. oleg erinnert sich an das Pferd, wenn auch später, er bereut seine handlungsweise und wird dafür bestraft durch den tödlichen schlangenbiss. Die gesamte struktur dieser Ebene hatten schiller und Puškin in ihren chronik-Quellen vorgefunden. Für Puškin ergaben sich weitere Assoziationen zum Thema des Pferdes als Kriegskameraden durch folgende literarische Bearbei62

Walter hINcK: Die deutsche Ballade von Bürger bis Brecht, göttingen 1968, besonders Kapitel 1.

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tungen: 1. Millevoye: „L’arabe au tombeau de son coursier“,63 von Žukovskij 1810 übersetzt als „Pesn’ araba nad mogiloju konja“64 – in strophen (abgesehen vom alexandrinischen Refrain) aus acht amphibrachischen Zeilen: aaBBccDD / 44444444 – das tote Pferd wird von seinem Reiter betrauert; 2. Puškins eigenes gedicht „sražennyj rycar’“ (1815) – in strophen aus sechs amphibrachischen Zeilen: aaBccB /443443 der tote Reiter wird von seinem Pferd nicht verlassen; 3. Puškins Beschreibung des Verhaltens von Ruslans Pferd in „Ruslan i Ljudmila“ VI, 40–4665 – der tote Reiter wird von seinem Pferd nicht verlassen; 4. uhlands „Rache“ in Žukovskijs Übersetzung „Mščen’e“ (1816 – gedruckt 1820; Tomaševskij nennt es als Quelle des Metrums von Puškins „Čërnaja šaľ“ 1820) – in zweizeiligen amphibrachischen strophen aa / 44 – das Pferd rächt den ermordeten Reiter. Allein diese Pferdethematik, auf die Puškin ja Bestužev hinwies (was Tomaševskij und auch Blagoj66 ihm aufs Wort glaubten), hätte ausgereicht, um die Wahl des amphibrachischen Metrums zu motivieren. sie enthält auch genügend Elemente, die einen Zusammenhang mit dem „grafen von habsburg“ nahe legen – hier fällt auf, dass oleg dem Zauberer ebenfalls ein Pferd schenken will, ein Zug, der in der chronik fehlt, Puškin aber erst die Möglichkeit gibt zu der stolzen Zurückweisung dieses geschenks durch den Zauberer: knjažeskij dar im nenužen! Auch dieses Detail, in dem das Pferd die Funktion der goldenen Kette aus goethes „sänger“ übernimmt, bestätigt die Vermutung, dass das Pferdemotiv eben nicht das wichtigste war. Wichtiger war für schiller wie für Žukovskij im „grafen von habsburg“ die Ebene des Fürsten und des sängers. In dieser Ebene hatte das Pferd für die beiden agierenden Personen nur symbolwert, während der sänger einerseits dazu diente, das Fürstenideal zu verkünden, andererseits dem Autor Anlass gab, seine Kunstauffassung darzulegen (bzw. sogar vom Fürsten darlegen zu lassen). Diese Rollenverteilung nun war es, mit der Puškin auf keinen Fall einverstanden sein konnte, die seinen Protest herausfordern musste. schiller hatte, als er seine Ballade schrieb, keine akuten Probleme mit irgendeinem Fürsten; er konnte seinen sänger-Priester-Propheten zum Lobe eines ersehnten idealen Fürsten auftreten lassen. Žukovskij lebte, als er schillers gedicht übersetzte, in gutem Einvernehmen mit dem hof, ja am hof; er konnte seine frommen Wünsche und hoffnungen bezüglich des gerade geborenen künftigen Thronerben mit dem schillerschen Idealbild identifizieren. Puškin konnte und wollte nichts dergleichen. Er lebte, als er seine „Pesn’ o veščem olege“ schrieb, in dem elenden Provinznest Kišinev, wohin er auf Weisung des Zaren seit nahezu zwei Jahren strafversetzt worden war. Er hatte ein äußerst negatives Bild von jenem über sein 63 64 65 66

u. a. Œuvres complètes de Millevoye, Paris 1837, Bd. I, s. 98f. ŽuKoVsKIJ, 1959, Bd. I, s. 103f. IV, 76. D. BLAgoJ: Tvorčeskij put’ Puškina, M. 1950, s. 309.

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schicksal bestimmenden „Fürsten“, und er fühlte sich ihm, entgegen aller Evidenz, insgeheim überlegen. Dieses gefühl ließ ihn in der chronikerzählung ein geeignetes Material erkennen, um dem in Žukovskijs „graf von habsburg“ dargestellten idyllischen Verhältnis von Fürst und sänger sein eigenes, eher heroisches Modell entgegenzusetzen. In der praktisch sein ganzes schöpferisches Leben andauernden geheimen Auseinandersetzung mit seinem einzigen Lehrer Žukovskij bildet die „Pesn’ o veščem olege“ ein besonders subtiles Kapitel. Wenn man von der Annahme ausgeht, dass die „Pesn’ o veščem olege“ – laut Manuskript der Reinschrift datiert auf den 1. März 182267 – einerseits eine kritische Auseinandersetzung mit Žukovskijs Version des „grafen von habsburg“, andererseits eine Art Abrechnung Puškins mit Alexander I. ist, so werden eine ganze Reihe von Details sowohl formaler wie inhaltlicher Art gut erklärbar. Formal ist die gewählte strophe sicher eine Reminiszenz an die von Žukovskij benutzte; sie ist sozusagen das einzige Zitat, und auch dies ist durch die von Tomaševskij erwähnte Kürzung um die coda verschleiert. Zudem ist ein solches Zitat eher eine Ehrung als eine Kritik, und es lag Puškin ja auch fern Žukovskij persönlich anzugreifen. Immerhin ist er gerade Anfang 1822 nicht gerade gut auf ihn zu sprechen. so schreibt er am 2. Januar an Vjazemskij: „Žukovskij ärgert mich wahnsinnig – was hat ihm bloß an diesem Moore gefallen? dem peniblen Nachahmer der wüsten orientalischen Einbildungskraft? Die ganze „Lalla Rookh“ ist nicht soviel wert wie zehn Zeilen aus „Tristram shandy“; es ist Zeit, dass er zu seiner eigenen Einbildungskraft kommt und zu leibeigenen Erfindungen.“68 und am 27. Juni heißt es in einem Brief an gnedič: An Žukovskij habe ich auch geschrieben, aber er schweigt beharrlich. (...) Mit ungeduld erwarte ich seinen „Prisoner of chillon“; das ist doch was anderes als die „Peri“ und würdig eines solchen Übersetzers, wie es der sänger des „gromoboj“ und der „staruška“ ist.69 übrigens, es ärgert mich, dass er übersetzt, und stückchenweise übersetzt – Tasso, Ariost und homer ist eine sache. Matthisons Lieder und die missgestalteten Erzählungen Moore’s sind eine andere ...70

später im Jahre 1822 folgen noch einige Erwähnungen von unbeantworteten Briefen, die Puškin an Žukovskij gerichtet habe. offenbar wusste er nicht, dass dieser (praktisch seit september 1820) im gefolge seiner schülerin, der großfürstin Aleksandra Fedorovna, Europa bereiste.71 Wie dem auch sei, die zitierten Passagen aus den erhaltenen Briefen zeigen, dass keine persönliche Animosität vorlag, son67

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II, 2, 743. Dabei bleibt offen, ob diese Datierung den Zeitpunkt der ersten Konzeption oder den des Abschlusses der Reinschrift meint. Mehr für die erste Annahme spricht die Lage der Zeugnisse in „Rukoju Puškina“, M.-L. 1935, s. 274, besonders aber 230 und 233. XIII, 34. „gromoboj“ – der erste Teil von ŽuKoVsKIJs „Dvenadcat’ spaščich dev“ (Žuk. II s. 86ff); „staruška“ nach southey: The old woman of Berkeley“ (Žuk. II s. 43ff). XIII, 40. Zu Moore’s „Lalla Rookh“ vgl. D. gERhARDT: Vergangene gegenwärtigkeiten, göttingen 1966. V. A. ŽuKoVsKIJ: Polnoe sobranie sočinenij v 12-ti tomach, sPb. 1902, Bd. I. s. XXXIIIf.

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dern nur eine Verärgerung über die objekte, die Žukovskij seiner Übersetzungskunst für würdig befand. In diesem Zusammenhang wird schiller sicher nicht in der Kategorie Matthison-Moore gesehen worden sein. Aber das deutsche Kolorit dürfte Puškin doch gestört haben, und er mag sich überlegt haben, ob eine derartige Legende nicht auch im Kolorit des russischen Mittelalters möglich wäre, wenn es ginge so, dass das Verhältnis des sängers zum Fürsten im sinne seiner eigenen schlechten Erfahrungen korrigiert würde. Wir wissen nicht, wann Puškin auf die L’vovskaja letopis’ gestoßen ist, die er zweifellos benutzt hat.72 Aber es scheint mir möglich, noch eine weitere Quelle zu benennen, die bei der Konzeption der „Pesn’ o veščem olege“ eine Rolle gespielt haben könnte.73 Es handelt sich um einen Aufsatz von Karamzin, den dieser erstmals 1802 im „Vestnik Evropy“ (Nr. 24) veröffentlicht hatte, und der in der Werkausgabe von 1820 nachgedruckt war.74 Der Aufsatz trägt den Titel: „o slučajach i charakterach v rossijskoj istorii, kotorye mogut byt’ predmetom chudožestv“. Karamzin schreibt unter dieser Überschrift einen „Brief an herrn N. N.“, der beginnt: Der gedanke, Künstlern gegenstände aus der vaterländischen geschichte vorzugeben, ist würdig Ihres Patriotismus, und er ist das beste Mittel, deren große charaktere und Ereignisse für uns lebendig zu machen, besonders solange wir noch keine redegewandten historiker haben, die unsere berühmten Vorfahren aus dem grabe heraufführen und uns ihre schatten im strahlenden Ruhmeskranze darbieten können. Dem russischen Talente ist es das Nächste und Liebste, Russisches zu rühmen zu jener glücklichen Zeit, da der Monarch und die Vorsehung selbst uns zu wahrhafter völkischer größe aufrufen. Man muss die Russen zur Verehrung des Eigenen heranziehen; man muss zeigen, dass es gegenstand der Inspiration des Artisten und der starken Wirkungen der Kunst auf das herz sein kann.

Auf diese Einleitung folgen einige Bemerkungen über Rjurik und die Waräger. später heißt es: oleg, der Besieger der griechen, kann mit seinem heroischen charakter die Phantasie des Künstlers entflammen. Ich sähe ihn gern in dem Augenblick, als er seinen schild an das Tor von Byzanz (k Caregradskim vorotam) schlägt, vor den Augen der griechischen Würdenträger und seiner tapferen gefährten, die auf jenen schild blicken wie auf ein sicheres Ziel ihrer künftigen Taten. In diesem Augenblick hätte oleg fragen können: Wer ist größer und ruhmreicher als ich auf der Welt? Der gleiche Fürst kann gegenstand eines Bildes anderer Art sein – eines philosophischen, wenn man es so ausdrücken will. In allen alten chroniken gibt es Fabeln, die vom Alter geheiligt und von dem aufgeklärtesten historiker geehrt werden, besonders wenn sie lebendige 72

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Der Nachweis gelang K. A. NEMIRoVsKAJA: „Pesn’ o veščem olege“ i letopisnoe skazanie; in: Učenye zapisky Leningradskogo Gosudarstvennogo pedagogičeskogo instituta im. A. I. Gercena, t. 76, 1949, s. 13–56. Nach der Niederschrift entdeckte ich, dass diese Quelle schon von Vinogradov berücksichtigt wurde: (V. V. VINogRADoV: stil’ Puškina, M. 1941, s. 431f). Dort wird die Meinung vertreten, Puškins „Pesn’ o veščem olege“ sei polemisch gegen Karamzins historischen stil gerichtet, was ich so nicht glaube; eher wird darin die abschließende Moral des karamzinschen Artikels parodiert. sočinenija Karamzina, izd. 3-e, ispravlennoe i umnožennoe, M. 1820, Bd. VII, s. 247ff.

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Züge der Zeit darstellen, oder eine sittliche Belehrung beinhalten, oder witzig sind. Von solcher Art ist die Fabel vom Tode olegs. Zauberer (volchvy) hatten ihm prophezeit, dass er durch sein Lieblingspferd sterben werde. heldenhaftigkeit bewahrte die Menschen damals nicht vor Aberglauben: oleg, der den Zauberern glaubte, entfernte das Lieblingspferd von sich; er erinnerte sich seiner nach einigen Jahren – erfuhr, dass es gestorben sei – hatte den Wunsch, seine Knochen zu sehen – und sagte, nachdem er den schädel mit dem Fuß gestoßen hatte: ,Das soll für mich gefährlich sein?’ Aber eine schlange verbarg sich in dem schädel, sie biss oleg in den Fuß, und der held, der Besieger des griechischen Imperiums, starb durch ein Reptil! Der Eindruck des Bildes muss sittlich belehrend sein: Gedenke der Vergänglichkeit des menschlichen Lebens! Ich würde oleg in dem Augenblick darstellen, wo er mit dem Ausdruck der Verachtung den schädel wegstößt; die schlange reckt ihren Kopf hervor, aber hat ihn noch nicht gebissen: das gefühl des schmerzes und sein Ausdruck sind unangenehm auf einem heldenantlitz. hinter ihm stehen Krieger mit griechischen Trophäen als Zeichen der errungenen siege. In einiger Entfernung könnte man einen der Zauberer darstellen, welcher auf oleg blickt mit bedeutendem Ausdruck (s vidom značitel’nym).75

Es ist wohl als sicher anzunehmen, dass sowohl Puškin als auch Ryleev diesen Text Karamzins gekannt haben, und es ist bezeichnend, dass Ryleev den ersten, Puškin den zweiten Bildvorschlag des historikers zur grundlage ihrer dichterischen Bearbeitung des Themas oleg – beide durchaus im sinne der patriotischen Einleitung Karamzins – gewählt hat. Dabei hat sich Ryleev weithin auf den Bericht in Karamzins „geschichte“ verlassen,76 Puškin ist auf die Quellen selbst zurückgegangen und hat die L’vovskaja letopis’ zu Rate gezogen. Interessant ist die sozusagen spiegelverkehrte Parallele zu schiller, der sich des „mahlerischen Effektes“ seiner Ballade sicher ist und sie einem Maler zur Darstellung empfiehlt (s. o. s. 69).77 schauen wir nun den chronik-Text und Puškins Version genauer an. Legen wir dabei die Fassung der „L’vovskaja letopis’“ in der Ausgabe von 1792 zugrunde, deren Wortlaut auch Tomaševskij anführt.78 in dieser Fassung heißt es, oleg habe volchvy i kudesniki zusammengerufen, um sie darüber zu befragen, 75 76

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Ibid. s. 251–52. KARAMZIN: Istorija gosudarstva rossijskago, Bd. I, Kap. V, in der Ausgabe von 1842 (sPb) spalte 86 des 1. Buches. Überhaupt ist der Zusammenhang zwischen gestaltungen gleicher oder verwandter Thematik in den darstellenden Künsten und in der Literatur ein vernachlässigtes gebiet der Forschung, das allerdings so manche ästhetische Enttäuschung bereithalten dürfte. Die Enttäuschung, die man z. B. bei Betrachtung zeitgenössischer Buchillustrationen erlebt, beruht wohl auf dem sich schneller wandelnden Kunstgeschmack und auf dem, im gegensatz zur sprache, sehr viel materielleren Medium. (Vgl. dazu die grundsätzlichen Ausführungen von E. R. cuRTIus in „Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter“, Bern 2 1954, s. 24–25). Wie schillers oben zitierter Brief (1804) und Karamzins Aufsatz (1802) zeigen, gilt zu Beginn des XIX. Jahrhunderts auch bei führenden geschmacksrichtern, was DIDERoT in seinen „Pensées détachées sur la peinture, la sculpture et la poésie“ (Erstdruck 1798) so formuliert: „on retrouve les poètes dans les peintres, et les peintres dans les poètes“ (DIDERoT: Œuvres esthétiques – classiques garnier – Paris 1959, s. 749). ToMAŠEVsKIJ: Puškin, kn. 1-ja, s. 547. Dieser Text weicht in Einzelheiten ab von dem in Polnoe sobranie ruskich letopisej, Bd. XX/1, s. 49–50 abgedruckten.

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wodurch er zu Tode kommen würde. Darauf habe ihm ein kudesnik geantwortet: „Fürst! das Pferd, das du liebst und auf dem du reitest, von dem wird dir das Ende kommen.“ oleg beschließt daraufhin, auf diesem Pferd nicht mehr zu reiten und will es auch nicht mehr sehen. Eines herbstes, fünf Jahre nach seiner Rückkehr aus car’grad fällt ihm die geschichte wieder ein, er will das Pferd wieder sehen, erfährt aber vom stallmeister, dass es schon gestorben ist. „oleg aber fing an zu lachen und schmähte die volchvy und den kudesnik, der ihm prophezeit hatte durch dies Pferd zu sterben, und sagte: immer reden solche Lügen, denn wir sehn es ja jetzt: das Pferd ist schon tot, und ich bin am Leben“, er lässt satteln, um die Knochen des gestorbenen Pferdes aufzusuchen. Dort steigt er ab „und mit Lachen und schelten sagte er: und durch diesen schädel da soll ich sterben?“ Er tritt auf den schädel, die schlange kommt hervor, beißt ihn ins Bein, „wodurch er krank wurde und starb.“ Ein kurzer Nachsatz berichtet von dem großen Begräbnis und dem ort seines grabes. Der stil der Erzählung ist prägnant, plastisch, ja dramatisch. Der schreiber scheint dem Fürsten mehr sympathie entgegenzubringen als den Zauberern, obwohl ja beide heiden waren. Den braven Mönch, der oleg als Kronzeugen für die unglaubwürdigkeit der schamanen und Medizinmänner (so etwas waren vermutlich die volchvy und kudesniki) benutzt, scheint es nicht zu stören, dass der Verlauf der geschichte selbst ja ihnen recht und dem Fürsten unrecht gibt. genau dies war der Punkt, an dem Puškin ansetzte. Er beseitigte zunächst die unstimmigkeit, dass oleg selbst die Zaubermänner zu sich ruft, um dann später auf ihre notorische Verlogenheit zu schimpfen. Bei Puškin geschieht die Begegnung zufällig; während der Fürst mit seiner gefolgschaft übers Feld reitet, kommt ihm aus dem dunklen Walde e i n kudesnik entgegen. Die Abweichung von der chronik scheint minimal, denn auch dort leben die volchvy in Wäldern, auch dort ist es nur einer von ihnen, der die Weissagung ausspricht. Aber dadurch, dass die übrigen Zauberer ausgeschaltet sind, stehen sich nun der seher und der Fürst als Prototypen gegenüber, wobei hinter dem Fürsten noch seine gefolgschaft anwesend bleibt, während der seher allein ist. Es kommt zu einem Messen der Kräfte. Was in der chronik in wenigen knappen sätzen erzählt wird, ist in der Ballade auf über 100 Verse ausgedehnt (der „graf von habsburg“ hatte sogar 120 Verse, Puškin hat also nicht nur die strophe gestrafft, sondern auch den gesamtumfang.) Die relative Breite gibt gelegenheit zu charakteristiken der beiden sprecher, zur Erweiterung ihrer Aussagen und zur Einfügung neuer handlungsdetails. Ein solches Detail wurde bereits erwähnt: das Angebot olegs an den seher, er dürfe sich als Belohnung ein Pferd aussuchen. Dies wird zusätzlich psychologisch begründet: fürchte dich nicht vor mir! – oleg ist sich seiner Überlegenheit sicher, aber von Neugier und Aberglauben getrieben; er traut dem kudesnik das, was er von ihm erwartet, im grunde nicht ganz zu und glaubt ihn mit der Aussicht auf Belohnung ermuntern zu müssen. suchanek hat auf die Bedeutung der differenzierten Verwendung von kudesnik als Anrede durch oleg und volchvy als selbstbezeichnung des sehers aufmerksam gemacht (s. o. s. 87); ebenso bezeichnend sind die Epi-

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theta, die der Berichterstatter dem Zaubermann gibt. Beim ersten Auftreten (II, 1) nennt er ihn zwar auch kudesnik, aber vdochnovennyj,79 ein Epitheton, das damals normalerweise dem Dichter zukam. Er ist außerdem ein alter Mann (starik II, 3), wie goethes sänger, wie schiller/ Žukovskijs sänger-Priester, und zudem noch weise (mudryj starec II, 6). Er ist einzig und allein Perun untertan (II, 3) und Verkünder der geheimnisse der Zukunft (II, 4). All das teilt der Berichterstatter als objektive Fakten mit, bevor der Dialog mit dem Fürsten überhaupt beginnt. Als aber der Dialog beginnt, redet oleg den Alten an als „ljubimec bogov“ was zwar sehr schön in das heidnische Kolorit passt, aber nichtsdestoweniger um 1820 ein äußerst gängiges metonymisches Klischee für „Dichter“ war. Was der so angeredete auf die neugierige Frage nach der ganzen Wahrheit und die Zusicherung einer Belohnung antwortet, bekommt seine großartigkeit aus dem Plural des ersten Wortes volchvy und dem verächtlichen Adjektiv knjažeskij (dar): Der Plural besagt Wir Seher, d. h. solche wie ich, die inspiriert und weise, die Lieblinge der Götter sind, wir haben keine Angst vor mächtigen Herrschern und brauchen kein Fürstengeschenk! Das wird dem Fürsten wie eine herausforderung entgegengeschleudert, und die Begründung ist eigentlich noch kühner: Pravdiv i svoboden ich veščij jazyk I s volej nebesnoju družen.

Mit dem ersten Worte pravdiv wird des Fürsten Forderung vsju pravdu wiederaufgenommen und ad absurdum geführt: die sprache der seher ist von Natur aus wahr, richtig und gerecht, sie ist zudem völlig frei, und sie ist veščij – zukunftsverheißend. Mit diesem Epitheton ist der gipfel der herausforderung erreicht: in der Reinschrift hatte Puškin in der ersten Zeile der ersten strophe das Wort veščij als Epitheton zu Oleg noch typographisch hervorheben wollen.80 Das weist darauf hin, dass er in diesem Ehrentitel des Fürsten keinen sinn sah, 79

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Dieses Wort ist in der Reinschrift zunächst in prestarelyj geändert, dann aber wiederhergestellt worden (11.2, 741). genauso verfuhr Puškin mit mudromu (starcu), das er im zweiten Durchgang durch gordomu ersetzte, um es dann zu restituieren. Die Wahl der gehobenen und auch dem Dichter adäquaten Epitheta anstelle der eher abwertenden bestätigt Puškins Absicht, den seher zum eigentlichen helden der Erzählung zu machen, mit dem er sich weitgehend identifiziert. In der Wiedergabe des Manuskripts (loc. cit.) ist veščij in der 1. Zeile kursiv gedruckt. Zweimal wird oleg mit seinem historischen Beinamen benannt, in der jeweils 1. Zeile der I. und der XI. strophe d. h. jeweils zu Beginn der beiden, durch Jahre getrennten, Abschnitte der erzählten Zeit, was diesen Anfängen gewissermaßen historische Authentizität verleiht. Innerhalb des zweiten Abschnitts, nämlich in den strophen XIII und XIV, also kurz bevor sich die Weissagung des sehers an ihm erfüllt, heißt er mogučij oleg, eine Parallele der mogučich vladyk aus der Rede des sehers, die diese Rede als pravdivyj, svobodnyj veščij jazyk und s volej nebesnoju družen bestätigt. In den beiden Adjektiven veščij und mogučij hat Puškin die geistige und die weltliche Macht gekennzeichnet und zugleich angedeutet, wie unsinnig der historische Beiname des oleg eigentlich sei. Bezeichnenderweise fehlt in der Reinschrift noch die spätere Überschrift der Ballade, die dann – für die Veröffentlichung – die subtile Kritik an dem Ehrentitel veščij wieder verschleierte.

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im gegenteil, als veščij erweist sich in der von der chronik überlieferten sage ja gerade nicht der Fürst sondern der seher. sein Wort ist in Übereinstimmung mit dem himmlischen Willen. Dies ist die zentrale Aussage des ganzen gedichts, alles Übrige ist Kolorit, staffage. selbst die Reaktionen olegs in den strophen XIII und XVI sind gegenüber dem chronikbericht abgeschwächt: er stellt nicht mehr apodiktisch die Verlogenheit der Zauberer fest, sondern denkt dergleichen nur (XIII, 2). und auch die Zeilen XVI, 1–2 klingen bei weitem nicht so scharf wie die entsprechende stelle der chronik so smechom i ruganiem. oleg ist im ganzen mit psychologischen Feinheiten gezeichnet, die ihn zugleich menschlich glaubwürdig machen wie auch aus dem heroischen stilisierungsschema (das für Karamzin noch galt) entfernen, ohne deshalb das historische Kolorit zu stören. Er zeigt eine gewisse scheu vor dem seher, den er mit Liebling der Götter (III, 1) anredet, fühlt sich ihm aber auch überlegen (III, 5–6). Er belächelt die Prophezeiung zunächst (VIII, 1), verhält sich dann aber so, als ob er ihr glaubte (VIII, 3–4). Dies gibt gelegenheit, den Abschied von seinem Pferd ausführlich und rührend darzustellen (VII, 5 – X, 4). Das wird in strophe XII (1–4) wieder aufgenommen. Nachdem er den Tod des Pferdes erfahren hat (XII, 5–6) wird er erneut nachdenklich und macht im stillen sowohl dem kudesnik (lživyj starik!), als auch sich selbst Vorwürfe (XIII, 2–5). schließlich, am ort, wo er die Knochen des toten Pferdes besichtigt, gilt seine Rede wieder vor allem diesem seinem einsamen Freund (XV, 2–6) und nur ein kurzer, leicht spöttischer satz der scheinbar widerlegten Weissagung (XVI, 1–2). Raffinierterweise enthält dieser von ihm ironisch gemeinte satz aber bereits die ganze Wahrheit, nach der er einst den Zauberer gefragt hatte (III, 5), und die in den wenigen noch folgenden Zeilen leidenschafts- und kommentarlos berichtet wird. solange man sich auf das, was oleg sagt und tut, konzentriert, scheint tatsächlich die alte sage81 und in ihr wiederum das rührende Verhältnis des Fürsten zu seinem Pferd im Mittelpunkt zu stehen. oleg als staatsmann und Feldherr wird dagegen erst aus der langen Rede des sehers (strophen IV bis VII) erkennbar. umgekehrt wie bei schiller/Žukovskij belehrt hier nicht der Fürst den sänger über das Wesen der Inspiration, sondern der seher den Fürsten über das Verhängnis, dem er trotz aller großartigen Erfolge nicht entrinnen wird. In der schilderung, 81

Was das Alter anbetrifft, so hat Karamzin in seiner „geschichte des russischen Reiches“ (o. c., Anmerkungen zum 1. Buch, spalte 94; zur Anm. 332) gewissenhaft vermerkt, dass es eine isländische Version der Erzählung in der saga von Örvar-oddr gibt, und daran die Frage geknüpft: „haben nun die Kiever Waräger ihren nördlichen Landsleuten jenes Märchen übermittelt oder die nördlichen den Kievern?“ – worauf er keine Antwort gibt. heute scheint chronologisch wie typologisch festzustehen, dass die isländische Fassung die bei weitem spätere ist. Ihre Entstehung wird erst nach 1300 angesetzt, also bereits in der Verfallszeit der saga; sie ist voll von äußerst märchenhaften und phantastischen Zügen und zählt daher zu den sogenannten lygisögur (Lügensagas). Vgl. P. hALLBERg: Die isländische saga, Bad homburg v. d. höhe, 1965, s. 163f.

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die der seher von olegs erstaunlichem Schicksal (V, 6) entwirft, und die vordergründig wie eine geschickte schmeichelei, würdig eines hofpoeten, wirken könnte, ist wie in einem Vexierbild82 hinter oleg (phonetisch Al´ék!) die Figur Alexanders I. versteckt. Das beginnt mit einem Zug der Porträtähnlichkeit: Der seher sieht das Los des Fürsten auf dessen lichter Stirne (na svetlom čele, IV, 6); bekanntlich hatte Alexander I. eine hohe stirn, schütteres blondes haar und schon früh eine stirnglatze. Auf diesen Porträtzug kommt Puškin im Zusammenhang mit Thorvaldsens Büste des Kaisers83 noch 1828 in einer Notiz und 1829 in einem Epigramm „K bjustu zavoevatelja“84 zurück, wo er den chladnyj losk čela erwähnt. Im Vergleich mit diesen beiden späteren Äußerungen über den Kontrast zwischen dem lächelnden Mund und dem zornigen und mürrischen Ausdruck der oberen gesichtshälfte, gewinnt auch der Anfang der VIII. strophe Porträtähnlichkeit: oleg usmechnulsja; odnako čelo I vzor omračilisja dumoj.

Die in der V. strophe vom seher aufgezählten Fakten finden leicht Parallelen in der Biographie des Zaren, noch deutlicher wird das aus den Varianten des Manuskriptes. Da folgt auf die V. strophe, also auf die Erwähnung des ruhmreichen sieges (1813–14) und den schild an den Toren von Byzanz (Einzug in Paris, Frühjahr 1814) die Variante: I vnov’, kak na triznu, stremiš’sja na bran’ I vnov’ voznesen i proslavlen Tvoj meč sobiraet krovavuju dan’ Tvoj nedrug vo prache razdavlen –85

was die Ereignisse der „100 Tage“ bis Waterloo widerspiegelt und den nedrug als Napoléon zu erkennen erlaubt. Puškin hat diese Variante nicht in die endgültige Fassung übernommen und dafür die Verse über das Meer ausgefeilt, die zu dem in der chronik überlieferten Wikingerzug des historischen oleg besser passen mögen, wiewohl sie auch auf Alexanders I. kurzen Englandbesuch 1814 gemünzt sein könnten.86 hat man diese umrisse erst einmal entdeckt, so wird man auch dem lukavyj kinžal, der die Jahre des siegers verschone (VI, 6) 82

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Der Vergleich mit einem Vexierbild stammt nicht von mir. Er steht in einem anderen Zusammenhang bei M. gERŠENZoN in seinem Aufsatz zum „stancionnyj smotritel’“ (Mudrosť Puškina, M. 1919, s. 122). Die Büste wurde im herbst 1820 in Warschau von Thorvaldsen modelliert. sie „gelang und wurde nachmals unzählig oft bestellt, allein 1822 waren in der römischen Werkstatt sechs stück unter dem Meißel“ P. o. RAVE: Thorvaldsen, Berlin 1947, s. 94. XII, 178 die Notiz; III, 206 das Epigramm. Ein Kurzkommentar zu diesem findet sich in der 10-bändigen Editio minor der Akademie, M. 1957, Bd. III, s. 504. II, 2, 742. Ich führe nur die zweite der beiden Varianten an, die sich nur in der Wortwahl geringfügig von der ersten (s. 741) unterscheidet. Die Überfahrt nach England, die im Juni 1814 gemeinsam mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. unternommen wurde, soll trotz der Jahreszeit recht ungemütlich gewesen sein. Vgl. z. B. Alan PALMER: Alexander I., N. y. 1974, s. 293f.

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einen Zusammenhang mit Puškins eigenem gedicht „Kinžal“ (1821, II, 173 f) nicht absprechen. ganz im sinne der dort angedeuteten Drohung hieß es auch im Entwurf zum „oleg“ zwei Zeilen nach der Erwähnung des lukavyj kinžal: No znaju, no vižu paden’e tvoe Zapomni že nyne ty slovo moe.

Auch diese allzu feindselige Einleitung zur eigentlichen Weissagung hat Puškin dann wieder getilgt, womit auch die innere spannung der Rede verstärkt wurde, da die Weissagung nach fünf Zeilen über die Tugenden des Pferdes als Überraschung in einem einzigen satz, in der letzten der 24 Zeilen der Rede (VII, 6) kommt. In der endgültigen Fassung ist die „Pesn’ o veščem olege“ so erfolgreich von ihrem persönlichen und zeitgeschichtlichen subtext gereinigt, dass sie als Musterstück einer Legendenballade mit altrussischem Kolorit gelten konnte: vom unbelasteten Publikum wegen des mitreißenden Rhythmus der bravourösen Verse geliebt, von den auf romantische Ansprache an die Emotionen des Lesers erpichten Zeitgenossen als etwas kalt und von den auf propagandistische Nutzung bedachten Radikalen als ungeeignet empfunden. Die Betrachtung im größeren Rahmen des Motivs von „Fürst und sänger“ (bzw. „seher“) und seiner Wandlungen zeigt, dass Puškins Ballade oder historisches Lied sowohl formal wie thematisch eine literarische Tradition fortsetzt, die, von goethe und schiller ausgehend, durch Katenin, Arapov und Žukovskij nach Russland verpflanzt worden war. Puškin greift den goetheschen gedanken von der unabhängigkeit des Dichters auf, die ihn geschenke zurückweisen lässt, begründet ihn aber nicht mit der selbstgenügsamkeit des sängers, sondern mit der selbstgewissheit des sehers, im Bunde mit höheren Mächten zu stehen und deshalb dem Fürsten überlegen zu sein. Die vergleichsweise bescheidene Zurückweisung des Lohnes ist zur stolzen herausforderung gesteigert. Da das ganze in der von schiller/Žukovskij entlehnten Form geschieht, verbirgt sich darin eine ebenso behutsame wie energische Korrektur des im „grafen von habsburg“ geschilderten Verhältnisses von Fürst und sänger. Wer die „Pesn’ o veščem olege“ nur werk- oder auch gattungsimmanent betrachtet, kommt über die Feststellung formaler Meisterschaft und ebenso formaler Konkurrenz mit den damals gängigen Balladentypen nicht hinaus. gewiss ist auch die hinwendung zu historischen Quellen und die Berücksichtigung der Detailrichtigkeit im sinne des historismus ein wichtiger schritt auf der Entwicklungslinie, die zum „Boris godunov“ (1825) führt. Aber der Lebensnerv des gedichtes liegt gerade nicht im historischen, sondern darin, dass diese chronik-Legende den Dichter auf eigene Überzeugungen und Erfahrungen verwies, die ihm erst mehr als eine nur handwerklich saubere Versifizierung ermöglichten. Puškin wurde hier an sein Verhältnis zu Alexander I. erinnert, und er konnte diese Parallele zum oleg der Legende nur ziehen, weil er sich selbst in dem seher der Legende wiederfand.

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Diese Identifizierung ist das früheste Zeugnis für das – ernst gemeinte – Prophetenthema in Puškins Werk.87 seit Karamzins „Poėzija“ (1787) und zunehmend häufiger und klischeehafter seit Beginn des XIX. Jahrhunderts waren Wörter wie prorok oder veščun metaphorisch für Dichter im schwange gewesen, aber niemand, der sie als Redeschmuck verwendete, nicht einmal Žukovskij, hatte sie jemals wirklich ernst genommen.88 Es zeichnet Puškin unter allen seinen Vorgängern und Zeitgenossen aus, dass er einen untrüglichen sinn für das wahre gewicht des Wortes hatte. gewiss erscheint seine Vorstellung vom Propheten 1822 noch äußerlich und oberflächlich, ist seine Übertragung der Weissagung aus der Legende auf seinen fürstlichen Widersacher Alexander eher der unfromme Wunsch eines zornigen jungen Mannes als ein dilatorischer schicksalsspruch – und noch die erste Reaktion auf die Nachricht vom plötzlichen Tode Alexanders Ende 1825: „ja prorok, ej Bogu, ja prorok!“89 spiegelt mehr kindische genugtuung und allenfalls Aberglauben als tieferes Verständnis für das Wesen des Prophetentums. Erst 1826, nach der Katastrophe seiner dekabristischen Freunde und Bekannten wird ihm, dem, wie es schien, einzigen Überlebenden (tainstvennyj pevec90), die ganze tragische Bürde des Prophetenamtes und seine moralische unvorbereitetheit dafür erschreckend deutlich (otverzlis’ veščie zenicy kak u ispugannoj orlicy).91 Aber es bleibt festzuhalten, dass der innere Weg zur Erhabenheit des „Prorok“ nur möglich wurde, weil Puškin schon früher einen wahrhaften und ihn persönlich unmittelbar betreffenden sinn in der damals gängigen Metapher Prophet = Dichter erkannte und seither die Worte dieses Feldes ernst nehmen konnte. Das erste Zeugnis für diese Erkenntnis ist seine Bearbeitung des Legendenstoffes der chronik in der „Pesn’ o veščem olege“.

8. Ausblick auf Puškins weiteres Werk Als Balladenmotiv kehrt das Thema „Fürst und sänger“ bei Puškin später nicht mehr wieder. 1825 gibt es eine entfernte Parallele im „Boris godunov“, wo der Dichter in der Maske des Narren in christo (jurodivyj) dem Zaren die ganze 87

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N. F. FRIDMAN hat das nicht gesehen und lässt das Prophetenthema erst mit den „Podražanija Koranu“ (1824) einsetzen. Vgl. seinen Aufsatz: obraz poėta-proroka v lirike Puškina: Učenye zapiski MGU, vyp. 118yj. Trudy kafedry russkoj literatury, kniga vtoraja M. 1946, s. 83–107. Vgl. z. B. die knappen Ausführungen bei A. D. gRIgoR’EVA: Poėtičeskaja frazeologija Puškina, M. 1969, s. 121–123. XIII, 249. „Arion“ (1828 – III, 58) Vgl. dazu ulrich Busch: Zu Puškins gedicht „Arion“: selbstanklage des sprechers, in Festschrift für Margarete Woltner, heidelberg, 1967, s. 39–45. Die hervorhebungen sind von mir, die Zeilen bekanntlich aus dem „Prorok“ (1826–III, 30 f). In veščie zenicy, einer ganz ungewöhnlichen Wortverbindung, scheint mir die Vorstellung vom veščij jazyk des Propheten mitzuschwingen, übersetzt in die optische Metapher vom plötzlichen Erwachen.

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Wahrheit sagt.92 Nach dem Tode Alexanders I. zeigt sich bald, dass das Verhältnis zum jeweiligen Zaren für Puškin auch weiterhin von entscheidender Bedeutung für sein Leben und Dichten bleiben werde. Puškin setzt sich sofort auch dichterisch damit auseinander, aber nunmehr ohne historische Einkleidung, nicht in Balladenform, sondern in den der ode nahe stehenden, aber knapperen „stanzen“ („stansy“ – 1826),93 die ihm von vielen alten Freunden sehr übel genommen werden. Ein nicht zu Ende geführter Entwurf aus dem herbst 1827 könnte als Teil einer Antwort auf diese Vorwürfe gedacht gewesen sein: Blažen v zlatom krugu vel’mož Piit, vnimaemyj carjami. Vladeja smechom i slezami, Pripravja gor’koj pravdoj lož’, on vkus prituplennyj ščekotit I k slave spes’ bojar ochotit, on ukrašaet ich piry, I vnemlet umnye chvaly. Mež tem, za tjažkimi dverjami, Tesnjas’ u černogo kryl’ca, Narod, gonjaemyj slugami, Poodaľ slušaet pevca.

(III, 75)

Die historische Einkleidung scheint auf eine Zeit hinzudeuten, die nicht allzu weit von oleg entfernt, näher noch dem setting von Katenins „Pevec“ am hofe Vladimirs ist. Aber die Einschätzung der damaligen Verhältnisse ist erheblich realistischer (und damit auch historisch wahrer) geworden, und es taucht als völlig neue größe das Volk auf, wodurch etwaige Konflikte zwischen Fürsten und sängern abgeschwächt und als interne Angelegenheit der herrenschicht hinter den schweren Türen eingestuft werden94 Entsprechend ist auch die Auf92

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Vgl. Puškins Brief an Vjazemskij vom 7.(?) November 1825: Žukovskij meint, der Zar würde mir um der Tragödie willen verzeihen – wohl kaum, mein Lieber, sie ist zwar im guten geiste geschrieben, aber ich habe eben doch nicht alle meine ohren unter der Kappe des Narren in christo verstecken können. sie gucken vor! (XIII, 140). III, 40. Die Beurteilung der mittelalterlichen Verhältnisse kommt hier der durch heutige Forscher sehr nahe und unterscheidet sich erheblich von romantischen Anschauungen über Volksepik und Volksdichtung des Mittelalters (Vgl. z. B. A. hAusER: sozialgeschichte der Kunst und Literatur, Mü. 1953, Bd. I, s. 163–174). Eine ähnlich treffende charakteristik gibt Puškin von den orientalischen hofdichtern des Mittelalters (syny Saadi) in dem zu seinen Lebzeiten ungedruckt gebliebenen gedicht V prochlade sladostnych fontanov (III, 129), das Mickiewicz als sänger der Krim gewidmet sein soll. Dort heißt es u. a.: Poėt byvalo tešil chanov stichov gremučim žemčugom. Na niti prazdnogo veseľja Nizal on chitroju rukoj Prozračnoj lesti ožerel’ja I četki mudrosti zlatoj.

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gabe des sängers modifiziert, er sorgt für Lachen und Weinen, er kitzelt den abgestumpften Geschmack, er reizt die Ruhmsucht der Bojaren, deren Gelagen er zum Schmuck dient. und wenn er noch bittere Wahrheit (beileibe nicht die ganze!) einfließen lässt, so nur als Würze der Lüge. Dafür darf er dann auch kluges Lob vernehmen. Es scheint, als ob dies historische Bild einem zeitgenössischen hätte gegenübergestellt werden sollen, um den unterschied von Puškins stellung zum neuen Zaren deutlich gegen diesen mittelalterlichen sänger abzusetzen. Wie dem auch sei, der Entwurf ist unvollendet geblieben. Puškin hat es vorgezogen, seine Antwort an die Freunde („Druz’jam“ 1828, III, 89f) ohne alle historische Einkleidung zu geben, und sie damit wie in der äußeren, so auch in der inneren Form deutlich auf die „stansy“ zu beziehen. Er definiert also sein Verhältnis zu Nikolaj I. freimütig und ohne alle umschweife. Er mag ihn einfach und ist sich dankbar der Aufhebung seiner Verbannung bewusst: Vo mne počtil on vdochnoven’e; osvobodil on mysľ moju. I ja l’ v serdečnom umilen’e Emu chvaly ne vospoju? (...) Beda strane, gde rab i l’stec odni približeny k prestolu, A nebom izbrannyj pevec Molčit, potupja oči dolu.

(hervorhebungen von mir – R.-D. K.)

Als Puškin dies gedicht der allerhöchsten Zensur vorlegte, bekam er von Benckendorff die Antwort: „Was Ihr gedicht unter der Überschrift ‘An die Freunde’ angeht, so ist seine Majestät vollkommen zufrieden damit, wünscht aber nicht, dass es gedruckt werde.“ (XIV, 6) Dafür hatte der Zar gründe genug. schon die Überschrift musste ihn stören: Der Dichter nannte da Freunde Leute, die ihm seine positive Einstellung zum Zaren als schmeichelei vorwarfen. Er gab in den letzten drei strophen ein derartiges Bild vom wirklichen schmeichler, dass sich mancher hohe Würdenträger darin wieder erkennen konnte. und in den hier zitierten Zeilen kommt heraus, dass dieser warme Fürsprecher des Zaren dies eben deshalb glaubte sein zu können, weil er in Bezug auf die sonderstellung „von gottes gnaden“ dem Zaren sich zumindest ebenbürtig fühlte. Die unmittelbare zeitliche Nachbarschaft zur Entstehung des „Ančar“ (III, 133f) und des „otvet Kateninu“ (III, 135) macht es wahrscheinlich, dass auch dies gedicht mit den im spätherbst 1828 durch Katenins „staraja byl’“ neubelebten Kontroversen über Puškins stellung zum Zaren in innerem Zusammenhang steht. Aber sowohl in dem ein Jahr zurückliegenden Entwurf Blažen v zlatom krugu vel’mož wie in diesem orientalisierenden gedicht beginnt Puškin zwar mit einer historisch korrekten, wenn man will realistischen, schilderung von Dichtern, denen man zurecht schmeichelei vorwerfen könnte – und das war es ja, was man ihm vorwarf – aber er führt die Kontrastierung nicht durch bzw. biegt zur Anrede an Mickiewicz ab. Ausgeführt hat er seine persönliche Antwort nur in „Druz’jam“: Net, ja ne l’stec, kogda carju/Chvalu svobodnuju slagaju!

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Das Thema „Fürst und sänger“ hat nichts von seiner Aktualität verloren, aber es beginnt, zunächst von Puškin noch nicht bemerkt, in ein tragisches stadium einzutreten, da eben jenes Bewusstsein der Erwähltheit, das dem Dichter erlaubte, den Zaren zu loben, ohne ihm zu schmeicheln, ihn auf eine stufe hob, deren Ebenbürtigkeit der Zar, zumal dieser Zar, auf gar keinen Fall anerkennen wollte und konnte. Die Enttäuschungen, die Puškin in seinen Beziehungen zu Nikolaj I. immer wieder erleben musste, haben sich schließlich noch einmal sehr sublimiert niedergeschlagen im Jahre 1834, worauf ich gleich zurückkommen werde. 1828 kommt es im Anschluss an die im ersten heft des Moskovskij vestnik veröffentlichten „stanzen“ und die in Abschriften kursierende selbstverteidigung „An die Freunde“˝ zu einer eigenartigen literarischen Kontroverse zwischen Puškin und Katenin, die allerdings von beiden höchst verhüllt geführt wurde. Katenin reagierte auf Puškins Lob des neuen Zaren mit der schon mehrfach erwähnten „staraja byl’“, deren hintergründe Tynjanov glaubhaft aufgedeckt hat.95 Der Inhalt ist ganz kurz folgender: am hofe Vladimirs (wie beim „Pevec“, 1815!) wird ein sängerwettstreit abgehalten, Konkurrenten sind ein junger griechischer Kastrat und ein alter Russe. Der grieche singt ein im Metrum der „stanzen“ gehaltenes langes und kunstvolles Loblied auf den Fürsten, worauf der alte Russe es vorzieht, sich als geschlagen zu bekennen, ohne in den Wettkampf einzutreten. Diese lange und ausgeschmückte, in wechselnden Metren verfasste Versgeschichte sandte er an Puškin, nicht ohne ihn durch ein sehr schmeichelhaftes Widmungsgedicht vom wahren sinn ablenken zu wollen. Puškin, der die „staraja byl’“ hätte drucken lassen sollen, druckte dafür nur seine Antwort auf die Widmung (die niemand kannte), und die sache blieb für den Leser absolut dunkel. Bezeichnenderweise wählt Katenin für die reine Erzählung in der „staraja byl’“ die strophenform der „Pesn’ o veščem olege“, gleichsam um Puškin daran zu erinnern, dass der ehedem (1822) ganz anders über das Verhältnis von sänger (= seher) und Fürst gesprochen habe. (Viel spricht dafür, dass Katenin damals der einzige gewesen war, der diesen sinn des oleg bemerkt hatte.) Puškin repliziert auf diese geschickt getarnte Kritik auf zweifache Weise. Einmal durch die ironische Zurückweisung von Katenins zweideutiger Widmung („otvet Kateninu“ – III, 135), zum andern, indem er dem von Katenins griechen geschilderten künstlichen Lebensbaum, der angeblich den hof Vladimirs schmücke, seinen Todesbaum „Ančar“ (III, 133f) entgegenstellt,96 was in unserem Zusammenhang auch heißt, dass er (Puškin) nicht mehr, wie Katenin, ausschließlich über die Rolle des Dichters – bei hofe oder nicht – nachdenkt, sondern über die für die Menschen weit wichtigere Frage nach Berechtigung und Wesen der irdischen Macht schlechthin; und dass er dabei zu tiefen und erschütternden Einsichten gekommen ist, von denen der ewig mäkelnde altliberale Kunstrichter auf seinem Landgut nichts ahnt. 95

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„staraja byl’“ in KATENIN, o. c., s. 175–183. Die Aufschlüsselung des hintergrundes bei Ju. TyNJANoV: Archaisty i novatory, L. 1929, s. 160–177. V. V. VINogRADoV: stil’ Puškina, M. 1941, s. 422–426.

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Auch diese geschichte muss man wohl noch mitbedenken, wenn man die erwähnte letzte gestaltung des „Fürst-und-sänger“-Themas von 1834 zu deuten versucht. Es handelt sich um das Märchen „Vom goldenen hahn,97 in dem sich wiederum ein Fürst (car’ Dadon) und ein seher (mudrec, zvezdočet) antagonistisch gegenüberstehen, letzterer überdies noch ein Kastrat (skopec) – wie der griechische sänger in Katenins „staraja byl’“. Der Machtkampf zwischen den beiden wird hier überschattet durch das Motiv der femme fatale (šamachanskaja carica), die vordergründig beide (und noch mehrere Männer) zugrunderichtet, um dann kichernd zu verschwinden, als ob nichts gewesen wäre. Dies Märchen ist einer der verschlüsseltsten Texte aus Puškins Feder, weshalb es auch dem Zensor so verdächtig war, dass er die beschließenden Verse skazka lož’ da v nej namek; Dobrym molodcam urok.

sicherheitshalber strich.98 ohne hier eine detailliertere Interpretation zu versuchen – der naive Leser quittiert auch diesmal mit einem seufzer der Erleichterung den Vollzug des Verhängnisses – könnte man doch vielleicht sagen, dass der lebenslange Zweikampf, den das Verhältnis „Fürst und sänger“ für Puškin darstellte, in diesem Märchen gewissermaßen unentschieden, aber für beide Kontrahenten tödlich endet. Der endgültige Triumph des sängers verbirgt sich erst in einem der letzten gedichte von Puškins hand, im sogenannten „Pamjatnik“ ...99 Zusammenfassend lässt sich wohl sagen, dass das Thema „Fürst und sänger“ für Puškin aufgrund seiner Lebensumstände von zentraler Bedeutung auch für sein selbstverständnis als Dichter gewesen ist. so ist es nicht erstaunlich, wenn er diesem Thema mehrfach künstlerische Form verliehen hat – in der verschlüsselten Form der Ballade anfangs, als es sich um das Verhältnis zu dem persönlich und räumlich entfernten Alexander I. handelte; später bei direktem persönlichen Kontakt in unverhüllter Darlegung des Verhältnisses zu Nikolaj I.; zuletzt, nach vielen Enttäuschungen, verrätselt im Märchen und endlich, wieder mit vielen Reminiszenzen an die Jugend und damit auch an Alexander, eingekleidet in die klassische horazparaphrase. häufiger als diese Werke, die die Beziehung des Dichters zum Fürsten ganz offen oder verborgen zum hauptthema haben, sind gedichte und Aussagen, die nur einen von beiden berühren, und sie haben bisher auch mehr Beachtung gefunden. Trotzdem könnte eine Berücksichtigung der hier behandelten Thematik auch bei der Interpretation solcher gedichte reizvoll sein; dafür nur andeutungsweise ein Beispiel: Wenn es in dem sonett „Poėtu“ (1830 – III, 223) heißt Ty car’, so ist das eine Metapher, die so unauffällig gewesen sein muss, dass sie die Zensur glatt 97 98 99

„skazka o zolotom petuške“ (III, 557ff). III, 563 und 1122. Besonders in der ersten strophe. Vgl. dazu meinen Aufsatz „Nerukotvornyj ...“ in diesem Band s. 111ff.

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Puškin

passierte. gewiss lassen sich Vorbilder bei Deržavin und Žukovskij finden. und der Nachdruck liegt hier, wie der Kontext zeigt, vor allem auf der Einsamkeit und Abgesondertheit vom Volk. Dennoch schwingt auch etwas mit von Puškins Überzeugung der Ebenbürtigkeit von Fürst und sänger als zwei verschiedenen Formen des gottesgnadentums, der Auserwähltheit. Auch das war natürlich nicht neu. unter den hier betrachteten gedichten kommt dieser Auffassung besonders schillers „graf von habsburg“ nahe. und schiller hatte es auch expressis verbis gesagt, in der „Jungfrau von orleans“ I, 2: Drum soll der Dichter mit dem König gehen, sie beide wohnen auf der Menschheit höhen.

(1801)

Was Žukovskij so übersetzte: Pust’ ob ruku idet s monarchom on: oni živut na vysotach sozdan’ja.100

(1817)

Puškin war durchaus in jener geistigen Atmosphäre der „allerhöchsten Kunstbewertung und Kunstverehrung“ aufgewachsen. Was ihn gegenüber seinen Zeitgenossen auszeichnet ist, dass seine persönliche Erfahrung ihn befähigte, hinter gebräuchlichen Metaphern wesentliche subjektive Wahrheiten zu erkennen. Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist die Entwicklung des Prophetenbildes vom volchv/kudesnik der „Pesn’ o veščem olege“ zum „Prorok“. Ein anderes Beispiel ist die Variation des Vogelvergleichs aus goethes „sänger“. Ich singe wie der Vogel singt, Der in den Zweigen wohnet; Das Lied, das aus der Kehle dringt, Ist Lohn, der reichlich lohnet.

hatte goethe gesagt, Puškins Klassenkamerad Del’vig hatte die ersten beiden Zeilen dieser strophe 1819 als Motto für seine geplante gedichtsammlung ausgewählt; der seit Ende August 1817 mit Puškin persönlich bekannte Katenin hatte das goethe-gedicht unter dem Titel „Pevec“ 1815 im Syn otečestva101 in seiner Nachbildung veröffentlicht, wo es hieß: Ja poju, kak ptica v pole, oživlennaja vesnoj: Ja poju, čego mne bole? Pesn’ ot serdca – dar dragoj.

Katenins Bekannter Arapov hatte seine freie Übersetzung des goethe-gedichts 100

101

ŽuKoVsKIJ, o. c., Bd. III, s. 23. Die Übersetzung entstand von 1817 bis 1821 und wurde erstmals vollständig 1824 gedruckt. Zur ersten Bekanntschaft Puškins mit Katenin vgl. cJAVLoVsKIJ: Letopis’ žizni i tvorčestva s. Puškina, I. M. 1951, s. 134. Ebenfalls 1815 veröffentlichte auch Puškin erstmals ein gedicht („Napoleon na Ėl’be“) im Syn otečestva, vgl. N. sMIRNoV-soKoL’sKIJ: Rasskazy o prižiznennych izdanijach Puškina, M. 1962, s. 488.

Der Fürst und der sänger

105

1816 im Duch žurnalov und 1820 nochmals im Sorevnovatel’ prosveščenija i blagotvorenija102 veröffentlicht. Bei ihm hieß es: Kak probuždennyj solovej Poet svoj gimn Prirode: Tak liroju gordjas’ moej, Nagradu zrju v svobode.

/Tak liroj oživlen moej (1820)

Es kann als sicher gelten, dass Puškin sowohl das original wie diese beiden Nachdichtungen gekannt hat. Aus gründen, die mehr in der Übersetzungsschwierigkeit des deutschen Verbums dringen liegen dürften als in unfähigkeit, Metrum- oder Reimzwang, weichen beide Übersetzungen wesentlich vom original ab, indem sie eine Art ursache für den gesang des Vogels zumindest andeuten: Katenin führt den Frühling als belebenden Faktor an, Arapov spricht von der erwachten Nachtigall. gerade diese Nuancen, die bei goethe fehlen (dem es ja darum ging, die nicht weiter abzuleitende Naturhaftigkeit des singens zu betonen), scheinen bei Puškin haften geblieben zu sein. Auf ihre spuren stoßen wir in dem liedhaften Einschub des dritten Textabschnitts der „cygany“ (IV, 183): Ptička Božija ne znaet Ni zaboty, ni truda; chlopotlivo ne svivaet Dolgovečnogo gnezda; V dolgu noč’ na vetke dremlet; solnce krasnoe vzojdet: Ptička glasu Boga vnemlet, Vstrepenetsja i poet. Za vesnoj, krasoj prirody, Leto znojnoe projdet – I tuman i nepogody osen’ pozdnjaja neset: Ljudjam skučno, ljudjam gore; Ptička v dal’nye strany, V teplyj kraj, za sine more uletaet do vesny.

Dieses Lied war früher öfter in Anthologien zu finden, es scheint in den kunsttheoretischen Diskussionen der symbolisten eine Rolle gespielt zu haben und mit goethes Vogelvergleich ebenso wie mit der l´art pour l´art – Doktrin assoziiert worden zu sein. Darauf deutet die Kritik Mandel’štams in seinem Aufsatz „Vom gesprächspartner“, der erstmals 1913 im Apollon erschien. Dort heißt es: Den Dichter als ein Vöglein Gottes anzusehen, ist eine gefährliche und in der Wurzel falsche Ansicht. Es gibt keine gründe für die Annahme, dass Puškin in seinem Liedchen unter dem Vöglein den Dichter verstanden habe. Aber auch mit Puškins Vöglein steht 102

Auch im Sorevnovateľ ... druckte Puškin 1818 und 1821 je ein gedicht; vgl. sMIRNoVsoKoL’sKIJ, o. c., s. 498.

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die sache keineswegs so einfach. Bevor es zu singen beginnt, lauscht es auf Gottes Stimme. offenbar hört der, der dem Vöglein zu singen gebietet, ihm auch zu. Das Vöglein hat sich aufgerappelt und singt, weil ein „natürlicher Vertrag“ es mit gott verbindet – eine Ehre, von der der genialste Dichter nicht zu träumen wagt ...103

An dieser Interpretation Mandel’štams ist der letzte Teil, der vom Zuhören gottes und dem „natürlichen Vertrag“ handelt, aus Puškins Zeilen gewiss nicht abzuleiten. Der erste Teil, in dem in Zweifel gezogen wird, dass Puškin hier an den Dichter gedacht habe, lässt sich eher vertreten. Dennoch muss dieser Eindruck weit verbreitet gewesen sein, sonst wäre Mandel’štams Polemik nicht zu erklären. und diese Verbreitung hat ihre gründe gehabt. Einmal, wie schon gesagt, durch die Assoziation zu goethes Versen, zum andern durch den allerdings verschieden deutbaren Kontext im Poem „cygany“. Die goethe-Assoziation gewinnt an Wahrscheinlichkeit, wenn man nicht nur an den „sänger“ denkt, sondern auch an die ja ebenfalls in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“, Buch 2, Kapitel 2 stehenden, von mir schon zitierten Ausführungen Werners: „Wenn nur auch die Menschen wie die Vögel gemacht wären und, ohne dass sie spinnen und weben, ein holdseliges Leben in genuss zubringen könnten! Wenn sie nur auch bei Ankunft des Winters sich so leicht in ferne gegenden begeben könnten, dem Mangel auszuweichen und sich vor dem Froste zu sichern!“ Es gibt keinen gedanken dieser Passage, der sich in dem Liedchen nicht wiederfände.104 Zu bedenken ist auch, dass das Metrum des Liedchens, vierfüßige Tro103

104

Zitiert nach der bisher vollständigsten Ausgabe – osip MANDEL’ŠTAM: sobranie sočinenij v trech tomach, N. y. 1971, Bd. II (2. Aufl.), s. 233f. Zu erklären wäre nur, woher Puškin 1824 den „Wilhelm Meister“ gekannt haben könnte. Ich muss gestehen, dass mir dieser gedanke selbst überraschend war. 1824, ja überhaupt zu Lebzeiten Puškins, existierte keine französische, geschweige denn eine russische Übersetzung von goethes Roman. Das Kurzreferat, das Madame de staël im XXVIII. Kapitel des 2. Teils von „De l’Allemagne“ darüber gegeben hatte, war nicht gerade dazu angetan, Puškin zur Bemühung um das sprachlich für ihn schwer zugängliche original anzuspornen: „Wilhelm Meister est plein de discussions ingénieuses et spirituelles; on en ferait un ouvrage philosophique de premier ordre, s’il ne s’y mêlait pas une intrigue de roman, dont l’intérêt ne vaut pas ce qu’elle fait perdre ...“ etc. Trotzdem kann nicht ausgeschlossen werden, dass Puškin durch des Deutschen mächtige Freunde oder Bekannte Teile jener „geistreichen unterhaltungen“ erfahren konnte, zumal solcher, die die Rolle des Dichters betrafen. Als Vermittler solcher Kenntnisse käme vielleicht Küchelbecker infrage, von dessen Korrespondenz mit Puškin wir leider nur winzige Bruchstücke besitzen. Küchelbecker war aber 1824 nicht in odessa. Von dort aus schrieb Puškin im April oder Mai 1824 jenen Brief (laut Akademie-Ausgabe XIII, 92 an Vjazemskij), der ihm die Verbannung nach Michajlovskoe einbrachte. In dem erhaltenen Bruchstück lesen wir: „indem ich shakespeare und die Bibel lese, ist manchmal der heilige geist nach meinem geschmack, aber ich ziehe goethe und shakespeare vor.“ Ebenfalls eine Erwähnung goethes gibt es in Nr. 72 der Korrespondenz, (XIII, 82) einem Brief, den V. I. Tumanskij am 11. Dezember 1823 in gegenwart Puškins an Küchelbecker schrieb. Vasilij Ivanovič Tumanskij, Jahrgang 1800, gehörte seit dem 1. Juni 1823 der Kanzlei des grafen Voroncov in odessa an, war also Puškins Kollege im täglichen Dienst. Er hatte 1816–18 die deutsche st. Peters-schule in Petersburg besucht und anschließend das collège de France in Paris bis 1821. Er war begeisterter Dichter, hatte in Frankreich Freundschaft mit Küchelbecker

Der Fürst und der sänger

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chäen, das gleiche ist, in dem Katenins „Pevec“ gehalten war. Wenn die Vermutung eines Zusammenhanges mit goethe richtig sein sollte,105 so spräche der Kontext des „Wilhelm Meister“ zugleich auch für die Annahme, dass der Vogelvergleich auf das Wesen des Dichters bezogen ist, denn an der zitierten stelle der „Lehrjahre“ repliziert Wilhelm ja: „so haben die Dichter in Zeiten gelebt, wo die Natur noch ehrwürdiger war, und so sollten sie immer leben.“ Was den Kontext der „cygany“ betrifft, so ist eine Beziehung dieses Liedes zum Typus des Dichters allerdings nicht ohne weiteres zu erkennen. Von den nahe liegenden Assoziationen, die das Bild des Vogels erweckt, steht nicht die des singens, sondern die der biblischen sorglosigkeit und die der unbeschränkten Bewegungsfreiheit im Vordergrund. Das Lied ist ja eingeschaltet zwischen die zwei Teile der Vorstellung des helden Aleko durch den Autor. sie geschieht in typisch byronscher Manier, wozu sowohl dunkle Andeutungen über das frühere schicksal des helden gehören, wie autobiographische Details in dessen Lebensumständen, die eine geheime Identität des Autors mit seinem helden vermuten lassen – dazu gehört, wie schon oft bemerkt wurde, auch der Name des helden – Aleko.106 Bedenkt man diesen autobiographischen Aspekt, so ist zumindest unterschwellig auch eine Beziehung zum Dichterbild gegeben. Im Vordergrund steht natürlich die Parallele zur Vogelfreiheit Alekos: Ego presleduet zakon heißt es von ihm schon vor dem Liedchen (v. 47), und nach dem Liedchen wird er izgnannik pereletnyj genannt (v. 121). Das klingt beinahe, als ob Puškin den deutschen Begriff vogelfrei

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geschlossen und war mit ihm gemeinsam 1821 nach Russland zurückgekehrt. seiner Bekanntschaft mit Bestužev und Ryleev verdankte Puškin die Verbindung zu den herausgebern der Poljarnaja zvezda. Es ist zudem bekannt, dass Tumanskij in odessa in der literarisch interessierten Familie des hafenkommandanten sonntag (Zontag) den „Faust“ vorgelesen hat (vgl. cJAVLoVsKIJ: Letopis’ ..., s. 437). Tumanskij scheint von seinem Verhältnis zu Puškin, von seinen Deutschkenntnissen und von seinen persönlichen literarischen Interessen her am ehesten als Vermittler goethescher gedanken oder gar Texte infrage zu kommen. Bisher waren als Reflexe der Beschäftigung Puškins mit goethe nur das „gespräch des Buchhändlers mit dem Dichter“ und die „szene aus Faust“ bekannt (beide 1824–25). Ein mittelbares Zeugnis mag das kurz nach ihrer ersten Bekanntschaft im herbst 1826 entstandene gedicht D. V. Venevitinovs „K Puškinu“ sein, in dem dieser den älteren Dichter auffordert, nach Byron und chénier nun auch goethe zu besingen, den er dabei Nastavnik naš, nastavnik tvoj nennt (D. V. VENEVITINoV: Izbrannoe, M. 1956, s. 70). Jedenfalls ist wohl mit einer weitergehenden Bekanntschaft Puškins mit goethe zu rechnen als bisher meist angenommen wurde (auch von mir; vgl. meine Rezension über Edmund Kostka: „glimpses of germanic-slavic Relations from Pushkin to heinrich Mann“ in arcadia, Bd. 12, 1977, heft 1, besonders s. 104). Man könnte natürlich auch an die von Puškin in dem erwähnten Brief (XIII, 91) angesprochene Bibellektüre denken, nur wird durch den Matthäustext ein sehr viel geringerer Teil des Liedchens abgedeckt als durch die goethe-Parallele. Vgl. u. a. V. M. ŽIRMuNsKIJ: Bajron i Puškin, L. 1924, s. 47 u. 124. Žirmunskij erwähnt u. a. auch als „Besonderheit der lyrisch-dramatischen Komposition“ von Puškins sogen. südlichen Poemen „das Auftreten von lyrischen Liedern“, führt unter den Beispielen unser „Vogellied“ aus den „Zigeunern“ an, und schreibt dann: „Es ist interessant zu vermerken, dass der gleiche Kunstgriff auch im deutschen romantischen Roman vorhanden ist, bei Tieck, Brentano, Eichendorff und im „Wilhelm Meister“ goethes, dem urbild dieser Art Romane“ o. c., s. 77).

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gekannt hätte;107 kurz nach Beendigung der „Zigeuner“ nennt er sich selbst hors la loi (XIII, 117) ... Dennoch, in dem fraglichen Lied ist auch vom singen des Vogels die Rede. und hier trifft Mandel’štams Beobachtung zu. Die Zeilen Ptička glasu Boga vnemlet, Vstrepenetsja i poet

beschreiben etwas anderes als der reine Vogelvergleich goethes. Im grunde war diese Veränderung schon durch die Wortwahl der ersten Zeile des Liedes angedeutet: Ptička Božija ... Das klingt wie Folklore, soll es wohl auch, öffnet aber gleichzeitig den Weg zu einer Deutung des gesanges, die dessen transzendente ursache beschwört.108 Wir erinnern uns nun, dass die beiden russischen umdichtungen des goetheschen „sängers“ an dieser stelle ebenfalls ein kausatives Element enthielten, Arapovs Fassung darüber hinaus noch die Vorstellung des Erwachens. sie kehrt bei Puškin wieder in der scheinbar realistischen Beschreibung: ptička ... vnemlet, vstrepenetsja i poet. Dies hat nun allerdings mit dem outlaw Aleko nichts mehr, mit dem Dichter Aleksandr sergeevič sehr viel zu tun. Es ist in der Tat eine realistische Beschreibung – des Vorgangs der dichterischen Inspiration, wie sie Puškin später mehrfach gegeben hat, z. T. unter Verwendung der gleichen Bilder und Begriffe: („Poet“) No liš’ božestvennyj glagol Ko sluchu čutkomu kosnetsja, Duša poėta vstrepenetsja, Kak probudivšijsja orel.

(1827 – III, 65)

(„osen’“) I probuždaetsja poėzija vo mne: Duša stesnjaetsja liričeskim volnen’em, Trepeščet i zvučit, i iščet, kak vo sne, Izlit’sja nakonec svobodnym projavlen’em –

(1833 – III, 321)

In diesen Zusammenhang gehören auch die verschiedenen Phasen der Erweckung zu neuem Wahrnehmen der Welt, wie sie im „Prorok“ geschildert werden; in diesen Zusammenhang gehört der Vergleich der Inspiration mit den unerklärlichen Elementarkräften des sturmwindes und der Liebe im „Ezerskij“ (str. XIII; V, 102), in diesen Zusammenhang gehört vor allem der wichtige Begriff des probuždenije und vozroždenie (duši); man denke an die Zeilen Duše nastalo probužden’e 107

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(1825 – III, 407)

Vgl. in dem gedicht „uznik“ (1822 – II, 182) die Zeile: My vol’nye pticy, davaj uletim! Auch in diesem Falle besteht die Neuerung Puškins im Verhältnis zu seinem Vorbild darin, dass er nach der transzendenten ursache spürt, wo das Vorbild nur deren Auswirkungen konstatierte. Eine deutliche Parallele bietet die Verwendung von nerukotvornyj anstelle des horazischen aere perennius, vgl. meinen Aufsatz in diesem Bande, besonders s. 140.

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oder die Erinnerung an jene Zeit, zehn Jahre später: Poėzija, kak angel utešitel’ spasla menja, i ja voskres dušoj.

(1825 – III, 996)

„Aber das ist schon eine andere geschichte ...“ Die elementare, dem menschlichen Willen und Planen ganz entzogene gewalt der dichterischen Inspiration, die im grunde ja auch goethe und schiller ausdrücken wollten, hat im Werke Puškins oftmals in Bildern des plötzlichen Erwachens Ausdruck gefunden, das mit plötzlichem Klarsehen und wunderbaren Tönen einherging. Dies elementare Erlebnis gab ihm seine Überlegenheit gegenüber den stumpfen Vertretern der weltlichen Macht und befähigte ihn, sich mit sehern und Propheten verwandt zu fühlen. Vielleicht ist es ein subtiler Reflex dieses Bewusstseins, wenn er noch 1833, im „Mednyj vsadnik“ seinen alten Widersacher Alexander I. angesichts der Überschwemmungskatastrophe sagen lässt: s Božiej stichiej carjam ne sovladet’.

(V, 141)

nerukotvornyj – Beobachtungen zur geistigen geschichte eines Wortes

Рукотворенное же проклѧто есть, и сотворивый е: якѡ ѻвъ ѹбѡ содѣла, сїе же тлѣнное Богомъ именовасѧ. Премудр. Солом.

В каждом слове бездна пространства: каждое слово необъятно, как поэт. Н. В. Гоголь: „Несколько слов о Пушкине“

natürlich kann man heute nicht über das Wort nerukotvornyj sprechen, ohne dabei zuallererst an Puškin zu denken, und vermutlich wäre man ohne Puškins „Pamjatnik“ dazu auch gar nicht versucht. die Leistung dieses Wortes in jenem gedicht genauer zu erfassen, ist denn auch ein Anliegen der folgenden untersuchungen und Betrachtungen – allerdings nicht das einzige. denn es wird sich zeigen, dass das Wort nerukotvornyj (bzw. seine Vor- und nebenformen) durchaus um seiner selbst willen Interesse verdient; und es wird sich ferner zeigen, inwieweit die bisher zu diesem thema geäußerten Ansichten und Vermutungen – und das sind nicht wenige1 – der Ergänzung oder Richtigstellung bedürfen. dabei soll aber die Auseinandersetzung mit früheren Arbeiten nicht zum hauptzweck der Studie werden, weshalb solche kritik vornehmlich den Anmerkungen überlassen bleibt, deren umfang durch eine abgekürzte Zitierweise und ein Literaturverzeichnis am Schluss des Aufsatzes entlastet wird. die darstellung selbst bemüht sich, die von der geschichte unseres Wortes nahe gelegten gedanken möglichst auch chronologisch zu entwickeln, wobei selbstverständlich der Besprechung von Puškins „Pamjatnik“ breiter Raum zukommt.

1 die geschichte von nerukotvor(en)nyj beginnt lange bevor es dieses slavische Wort gab; sie beginnt sogar schon lange vor dem ersten Auftreten seines unmittelbaren griechischen Vorbildes acheiropoiētos. denn dies ist bereits eine 1

Vollständige bibliographische Angaben finden sich im Literaturverzeichnis am Ende dieses Aufsatzes. Von Stellungnahmen zum „Pamjatnik“ bzw. zum Wort „nerukotvornyj“ seien genannt das Buch von M. P. ALEkSEEV (1967), die Rezension dazu von J. BoJkoBLochyn (1971), sowie die Aufsätze von I. FEJnBERg (1933 = 1976), h. gRégoIRE (1937), R. JAkoBSon (1937), W. LEdnIckI (1956), R.-d. kEIL (1961), V. nEPoMnJAščIJ (1965 u. 1966), d. BLAgoJ (1966), A. šuStoV (1969 u. 1973), d. g. huntLEy (1970), W. BudIch (1974) und J. PLähn (1975).

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Puškin

bewusste, ja polemische gegenbildung zu dem älteren сheiropoiētos – dem älteren, nicht dem alten, das bei den klassischen Autoren des V. und IV. vorchristlichen Jahrhunderts belegt ist und „handgemacht“ bedeutet. Bei jenem klassischen Ahn brauchen wir uns nicht aufzuhalten.2 Eine geistige geschichte beginnt für сheiropoiētos erst in der koine, in der Septuaginta, d. h. in der Sondersprache des hellenistischen Judentums. In der griechischen Übersetzung der alttestamentlichen Schriften tritt unser Wort insgesamt 15mal auf, meist substantiviert als plurale tantum: ta сheiropoiēta, und das heißt nicht einfach „die handgemachten“, sondern hat eine ganz bestimmte (und äußerst negative) theologische Bedeutung – es sind damit immer heidnische götzenbilder gemeint. die slavische Übersetzung der Bibel ist meist ein getreuer Spiegel des griechischen textes. deshalb, und weil die texte nicht ganz einfach erreichbar sind,3 seien die entsprechenden Belege hier in extenso zitiert, und zwar im Wortlaut der „Moskauer Bibel“, in etwas vereinfachter orthographie und unter hervorhebung der Formen von rukotvoren-: 3. Mos. 26.1 Не сотворите себѣ (образѡвъ) р у к о т в о р е н ы х ъ , ниже изваѧныхъ, ниже столпа поставите себѣ, ниже камене поставите въ земли вашей во знаменїе, во еже покланѧтисѧ ему: азъ есмь Господь Богъ вашъ.

3. Mos. 26.30 И сотворю пустаѧ капища ваша, и потреблю древѧнаѧ р у к о т в о р е н ї ѧ ваша, и положу трупы вашѧ на трупѣхъ кумјръ вашихъ, и возненавидитЪ васъ душа моѧ.

2

3

die entsprechenden Erwähnungen solchen Vorkommens durch A. šuStoV (1969, S. 21) geben für eine geistige geschichte unseres Wortes ebenso wenig her wie die Erwähnung der selteneren konkurrenzbildung cheirokmētos (ebd.). Alle bisherigen Angaben in der erwähnten Sekundärliteratur sind unvollständig, einige falsch. A. šuStoV (1969, S. 21) schreibt, dass „in den griechischen Übersetzungen des Alten testaments die Wörter (für) rukotvornyj und nerukotvornyj nicht vorhanden“ seien, was nur für das zweite zutrifft. W. BudIch (1974, S. 40) schließt aus d. g. huntLEyS richtiger Feststellung (1970, S. 362), unser Wort käme „nur einmal in den Evangelien“ vor, dies – Mk. 14.58 – sei auch der einzige Beleg in der Bibel. Somit entgehen ihm nicht nur die Lukasund Paulus-Stellen, sondern auch der umstand, dass die von ihm als mögliche zusätzliche Quellen angebotenen alten handschriften (Lesemenäen, Antiochus-Pandekten, kosmas Indikopleustes) – abgesehen davon, dass sie für Puškin so abgelegen wie unnötig waren – nur Zitate oder Paraphrasen der hier aufgeführten Stellen aus der Apostelgeschichte, dem 2. korinther- und dem hebräerbrief sind (was auch Sreznevskij nicht verriet). Eine Ausnahme macht nur die hamartolos-chronik, in der es offenbar um Ikonen geht. nicht ganz vollständig sind auch die Angaben bei J. PLähn, der aus dem At nur die vom Akademie-Wörterbuch (1806 falsch, 1847 richtig) benannte Judith-Stelle erwähnt. Solche unvollständigkeit erklärt sich leicht aus dem Fehlen einer Wortkonkordanz zur russ.-ksl. Bibel. Ich habe deshalb auf die Septuaginta-konkordanz von hAtch und REdPAth (1897) zurückgegriffen. dort ist cheiropoiētos 15mal nachgewiesen. nur an den 11 hier ausgeschriebenen Stellen steht dafür

nerukotvornyj

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Judith 8.18 Ибо не воста въ родѣхъ нашихъ, ниже есть въ днешнїй день, ниже племѧ, ниже отечество, ниже сонмъ, ниже градЪ ѡтъ насъ, иже покланѧтисѧ богѡмъ р у к о т в о р е н н ы м ъ , якѡже бысть въ первыхъ днехъ.

Weish. Sal. 14.8 Р у к о т в о р е н н о е же проклѧто есть, и сотворивый е: якѡ ѻвъ ѹбѡ содѣла, сїе же тлѣнное Богомъ именовасѧ.

Jes. 2.18 И р у к о т в о р е н а ѧ всѧ скрыютъ.

Jes. 10.11 якѡже бо сотворихъ самарји, и р у к о т в о р е н н ы м ъ еѧ, такѡ сотворю и јерусалиму и кумјрѡмъ егѡ.

Jes. 19.1 Се Господь сѣдитъ на облацѣ легцѣ, и прїидетъ во егѵпетъ, и потрѧсутсѧ р у к о т в о р е н н а ѧ егѵпетскаѧ ѡтъ лица егѡ, и сердца ихъ разслабнутъ. въ нихъ.

Jes. 21.9 и се самъ грѧдетъ (мужъ) всадникъ двоконный, и ѡтвѣщавъ рече: паде, паде вавѵлѡнъ, и вси кумјры егѡ, и всѧ р у к о т в о р е н н а ѧ егѡ сокрушишасѧ на земли.

Jes. 31.7 якѡ въ той день ѡтвергнутъ человѣцы р у к о т в о р е н н а ѧ своѧ сребрѧнаѧ, и р у к о т в о р е н н а ѧ златаѧ, яже сотвориша руки ихъ.

Jes. 46.6 слагающїи злато из мѣха, и сребро вѣсомъ, поставлѧютъ въ мѣрилѣ, и наемше златарѧ, сотвориша р у к о т в о р е н н а ѧ , и преклоншесѧ покланѧютсѧ имъ.

Alle diese Stellen sind Anwendungen des Bilderverbots aus dem dekalog (2. Mos. 20.4–5), Abwandlungen des Bilderfluchs (z. Β. 5. Mos. 27.15: „Verflucht sei, wer einen götzen oder ein gegossenes Bild macht, einen greuel des herrn, im slav. text rukotvoren-. die fehlenden Stellen sind im Buch daniel und den ihm zugerechneten Legenden, wo die slav. Entsprechung bogi heißt. (hier scheint die slav. Übersetzung auf dem theodotion-text zu beruhen).

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Puškin

еin Werk von den Händen der Werkmeister!“). da dem griechischen ein äquivalent für die abwertende Bezeichnung „götzenbild“ (hebr. elilim) fehlte – еidōlon war zur Zeit der Septuaginta-Übersetzung zumindest noch neutral – behalf man sich mit der nach einigen Paraphrasen, wie den erwähnten in 2. Mos. 27.15 oder Jes. 31.7, gebildeten umschreibung сheiropoiēta = „mit händen gemachte“, was nun, in jüdischem Munde, einen neuen Sinn, den des Wertlosen, ja Verabscheuungswürdigen bekam. dahinter steht die ganze theologie und Anthropologie des Alten testaments und die auch im alten Judentum immer wieder aufbrechende Spannung zwischen abstrakter gottesvorstellung und dem Bedürfnis nach konkreten, und das heißt auch künstlerischen Formen der Verehrung.

2 Es ist wichtig, diesen Sachverhalt im Sinne zu haben, um den entscheidenden gradunterschied zwischen der Wortverwendung in den eben zitierten alttestamentlichen und den nun folgenden neutestamentlichen Belegen herauszuspüren. die Zitate folgen hier sowohl in der russ.-ksl. Fassung der „Moskauer Bibel“ wie in der seit 1822 gedruckt vorliegenden russischen Übersetzung des neuen testaments und der Psalmen, wiederum orthographisch etwas vereinfacht und unter hervorhebung der uns interessierenden Wortformen:4 Markus 14.58 якѡ мы слышахомъ егѡ глаголюща, якѡ азъ разорю церковь сїю р у к о т в о р е н у ю , и треми денми ину н е р у к о т в о р е н у созижду.

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Мы слышали как Он говорил: Я разрушу храм сей рукотворенный, и через три дня воздвигну другой, не рукотворенный.

huntLEy (1970, S. 261) irrt, wenn er meint, zu Puškins Lebzeiten sei die von ihm zitierte ksl. Bibelübersetzung (mit nasalvokalen!) gebräuchlich gewesen. Relativ verbreitet war bis Anfang der 20er Jahre ohnehin nur der Psalter. die 1813 von dem schottischen congregationalisten Paterson gegründete Russische Bibelgesellschaft druckte zunächst, außer fremdsprachigen Ausgaben für Protestanten, die sogen. Elisabeth-Bibel von 1751 nach; seit 1816 wurde von Alexander I. die Übersetzung in ein gemäßigt modernes Russisch gefördert. In dieser Übersetzung erschienen (mit gegenüberstehendem ksl. text) 1818 die Evangelien, 1822 das ganze nt mit Psalter. die ganze Bibel lag erst 1869 in russischer Übersetzung vor. Puškin dürfte, wie Paterson es für den Zaren und viele gebildete Russen bezeugt, zur eigenen Lektüre die französische Übersetzung von Lemaistre de Saci benutzt haben, die ebenfalls von der Russischen Bibelgesellschaft nachgedruckt wurde (vgl. Puškins Brief an seinen Bruder aus Michajlovskoe vom Ende november 1824), und daneben die russ.-ksl. oder, wo vorhanden, die neurussische Fassung, die beide hier nach den im Literaturverzeichnis genannten neueren Ausgaben zitiert werden.

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Apostelgesch. 7.48 Но вышнїй не въ рукотворенныхъ церквахъ живетъ, якѡже пророкъ глаголетъ.

Но Всевышний не в рукотворенных храмах живет, как говорит пророк.

Apostelgesch. 17.24 Богъ сотворивый мјръ, и всѧ яже въ немъ, сей небесе и земли, Господь сый, не въ р у к о т в о р е н н ы х ъ храмѣхъ живетъ.

Бог, сотворивший мир и все, что в нем, Он будучи господом неба и земли, не в рукотворенных храмах живет.

2. korinther 5.1 Вѣмы бо, якѡ аще земнаѧ наша храмина тѣла разоритсѧ, созданїе ѡтъ Бога имамы, храмину н е р у к о т в о р е н у , вѣчну на небесѣхъ.

Ибо знаем, что, когда земной наш дом, эта хижина, разрушится, мы имеем от Бога жилище на небесах, дом нерукотворенный, вечный.

Epheser 2.11 Тѣмже поминайте, якѡ вы иже иногда языцы во плоти, глаголемїи неѡбрѣзанїе ѡтъ рекомагѡ ѡбрѣзанїѧ во плоти рукотвореннагѡ.

Итак, помните, что вы, некогда язычники по плоти, которых называли необрезанными так называемые обрезанные плотским обрезанием, совершаемым руками.

kolosser 2.11 ѡ немже и ѡбрѣзани бысте ѡбрѣзанїемъ нерукотвореннымъ, въ совлеченїи тѣла грѣховнагѡ плоти,во ѡбрѣзанїи Христовѣ.

В Нем вы и обрезаны обрезанием нерукотворенным, совлечением греховного тела плоти, обрезанием Христовым.

hebräer 9.11 Христосъ же пришедъ архїерей грѧдущихъ благъ, болшею и совершеннѣйшею скинїею, нерукотворенною, сирѣчь не сеѧ твари.

Но Христос, Первосвященник будущих благ, придя с большею и совершеннейшею скиниею, нерукотворенною, то-есть не такового устроения.

hebräer 9.24 Не въ рукотвореннаѧ бо свѧтаѧ вниде Христосъ, противоѻбразнаѧ истинныхъ,но въ самое небо, нынѣ да явитсѧ лицу Божїю ѡ насъ.

Ибо Христос не вошел в рукотворенное святилище, по образу истинного (устроенное), но в самое небо, чтобы предстать ныне за нас пред лице Божие.

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Was in diesen texten mit dem Epitheton сheiropoiētos geschieht, ist für jüdische Vorstellungen ungeheuerlich: das gleiche Wort, mit dem bisher die Abscheu vor heidnischen götzenbildern zum Ausdruck gebracht wurde, dient hier zur kennzeichnung der höchsten heiligtümer: des tempels als sakralen und nationalen Mittelpunktes des Judentums und der Beschneidung als Zeichen des Bundes mit Jahwe – offenbar in bewusst herabsetzender oder zumindest (wie im hebräerbrief) in relativierender Funktion. Man braucht sich nur vorzustellen, die Anklage gegen Jesus (Mk. 14.58) sei auf griechisch erhoben worden, was ja nicht unwahrscheinlich ist, so wie die Rede des Stephanus (Apg 7) vor den Synagogenvertretern der Libertiner und kyrenäer und Alexandriner ...“ usw. ja auch nur auf griechisch denkbar ist – und die Reaktion der Rabbiner: „gotteslästerung!“ wird allein schon wegen der Wortverbindung сheiropoiētos naos (handgemachter = götzendienerischer tempel) verständlich; und die Apostelgeschichte berichtet ja auch, wie mühsam die heidenmission und der Verzicht auf die Beschneidung in der urgemeinde durchgesetzt werden mussten. hinter dieser entscheidend erweiterten Verwendung von сheiropoiētos und der Bildung eines gegenwortes steht nicht nur eine radikalere Auslegung des Zweiten gebots, sondern gleichzeitig eine Sprengung des jüdischen Partikularismus und ein ebenfalls radikaler Pessimismus im hinblick auf alles Menschenwerk und Menschenwirken – sämtlich Züge, die einem eschatologisch-apokalyptischen Weltgefühl entsprechen und wohl auch entstammen.5 die äußerste Abstraktion der gottesvorstellung verbindet sich in der Apokalyptik mit der naherwartung des Endes „dieser Welt“ und dem Anbruch des neuen äons, in dem nichts mehr so sein wird, wie es jetzt ist, also auch der tempel (im neuen Jerusalem) nicht mehr mit händen gebaut. Es ist gewiss kein reiner Zufall, dass die Vorstellung, es geschehe geheimnisvoll-Bedeutsames ohne Zutun von Menschenhand, bereits in den ältesten apokalyptischen Visionen, zwei bis drei Jahrhunderte vor Jesus, auftaucht. So heißt es von daniel: jakože viděl esi, jako otsěčesja ot gory kamen’ bez ruk (dan. 2.45) und von Esra: jakože viděl esi goru izvajanu bez ruk (3. Esra 13.36).6 und auch spätere, bereits gänzlich apokryphe Apokalypsen bedienen sich derartiger Ausdrucksweisen, so z. B. der sogenannte „slavische“ henoch, wo der thron des herrn als prěvělikij bezrukotvornyj bezeichnet ist und gott selbst sich dem Visionär vorstellt mit den Worten az sam věčen, nerukotvoren“...7 Auch die oben angeführten neutestamentlichen Stellen beziehen sich ja sämtlich auf jenseitige oder doch transzendente (apokalyptisch: dem neuen äon zugehörige) Erfahrungen wie Auferstehung, Leben nach dem tode, immaterielle 5

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Eine Zusammenfassung des heutigen Forschungs- und Erkenntnisstandes bezüglich der Apokalyptik bietet Walter SchMIthALS (1973). die Quellenangabe folgt der in Russland üblichen orthodoxen tradition. das so genannte 3. (und 4.) Buch Esra gilt im Westen als apokryph. In der textausgabe von A. VAILLAnt (1952) auf den S. 24 und 32.

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Beschneidung als Erwähltsein, Abstreifen des sündigen Leibes, hineingenommensein in das Leben in christo. die beiden komponenten des neuen Begriffes aсheiropoiētos, einerseits seine kontrastbeziehung zu сheiropoiētos, andererseits sein apokalyptisch-visionärer, wunderträchtiger Aspekt, haben die weitere geistige geschichte des Wortes entscheidend bestimmt.

3 Was den kontrast сheiropoiētos (= heidnisch, götzendienerisch): aсheiropoiētos (= nicht von „dieser Welt“, wahrhaft göttlich) angeht, so konnte er natürlich nur dort zur geltung kommen, wo die betreffenden Bibeltexte entweder auf griechisch oder in solchen Übersetzungen verbreitet waren, in denen diese termini deutliche Antonyme sind. gerade im Alten testament war ja die Septuaginta vom hebräischen text abgewichen, der mit seinem Wort für „götzen“ keineswegs die Vorstellungen von „hand“ oder „machen“ implizierte. deshalb spiegeln Übersetzungen, die ohne griechische Vermittlung direkt aus dem hebräischen erfolgten, die griechische Antithese oft nicht wieder. So bietet z. B. die Vulgata folgende Ausdrücke: idola (Lev. 26.1; Sapient. 14.8; Isai. 2.18, 10.11, 31.7bis), simulacra (Lev. 26.30, Isai. 19.1), sculptilia deorum (Isai. 21.9) dei alieni (Iudith 8.18) und einfach dei (Isai. 46.6).8 dieser scheinbar geringfügige, rein verbale unterschied zwischen der lateinischen und der griechischen Bibelübersetzung hatte weitreichende Folgen in der jeweiligen theologie, geistes- und kunstgeschichte. der Westen hat das Bilderverbot niemals als so problematisch empfunden, da seine texte ja eindeutig auf heidnische götzenbilder hinweisen und nicht sakrale kunst überhaupt als wertloses, ja frevlerisches Menschenwerk abqualifizierten, und im Westen hat die sakrale kunst denn auch eine freiere, eigengesetzliche Entwicklung genommen, die von einer narrativen zu einer mehr und mehr dekorativen Funktion führte. Im osten dagegen wurde der Streit um die heiligkeit und Zulässigkeit der Bilder (vor allem christi, Mariens und der dreieinigkeit) zu einer krise auf Leben und tod, die über ein Jahrhundert dauerte (717–842),9 und 8

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Im nt bietet die Vulgata non manu factum (Мk. 14.58, Eph. 2.11, kol. 2.11, hebr. 9.24) und sogar non manufactum (Apg 7.48, 17.24, 2. kor. 5.1, hebr. 9.11). Es bleibt unerfindlich, wie šustov (1969, S. 22) zu der Behauptung kommt: „die westlichen kirchenleute machten bei der Übersetzung des nt ins Lateinische keine Lehnübersetzung, sondern zogen eine umschreibung vor, die eine deutung des für sie unverständlichen Wortes gab. Formal hätte das aussehen können wie non manufactos, tatsächlich sah es erheblich umständlicher aus: absque manibus factus“. Es ist nicht uninteressant, dass während dieser krise der bisherigen christlichen Vormacht Byzanz durch die hinwendung des Papstes zu einem anderen Schutzherrn, nämlich karl dem großen, nicht nur die endgültige Spaltung in West- und ostkirche vorbereitet, son-

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deren Beendigung noch heute am ersten Fastensonntag als „triumph der orthodoxie“ gefeiert wird; seither ist die Ikonenverehrung unersetzlicher Bestandteil des gottesdienstes wie der Volksfrömmigkeit. gerade im Zusammenhang mit dem Bilderstreit kommt nun die zweite, die apokalyptisch-visionäre komponente von aсheiropoiētos voll zum Zuge. An die Stelle der apokalyptischen naherwartung des Endes „dieser Welt“ war ja die paradoxe Situation getreten, dass das heil mit christus schon gekommen war, während der heillose Zustand „dieser Welt“ fortbestand. die griechischen theologen, als würdige Erben der antiken Sophisten wie der antiken Rhetoren (was oft dasselbe war), beschrieben in immer neuen Wendungen diese Situation, unter Betonung der prinzipiellen unerklärbarkeit des heilsgeschehens und mittels zahlreicher paradoxer und antithetischer Formulierungen. In der patristischen Literatur wird dabei aсheiropoiētos zum Modell für viele analoge Bildungen wie aсheiroplastos, aсheiromiantos, aсheiroteuktos und manche anderen, die besonders in der Marienhymnik aber eben auch in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Ikonoklasmus Verwendung finden.10 Vermutlich spielte das Wort aсheiropoiētos auch eine wichtige Rolle bei der Beilegung des Bilderstreits, da die Anhänger der Bilderverehrung eine Überlieferung für sich geltend machen konnten, die von der wunderbaren Entstehung des Abbildes von christi Antlitz berichtet, das, auf einem handtuch (ubrus) abgedrückt, dem könig Abgar V. von osroëne heilung verschafft habe. dieses Bild, theoteuktos oder, häufiger, acheiropoiētos еikōn genannt, war um die Mitte des VI. Jahrhunderts in Abgars ehemaliger hauptstadt Edessa wieder entdeckt worden. 944 kaufte es der byzantinische kaiser Romanos I. Lekapēnos den Sarazenen ab, und anschließend wurde es in feierlicher Prozession nach konstantinopel überführt. dieses Bildnis legitimierte – mehr noch als die nach der Überlieferung vom Evangelisten Lukas gemalten Bilder der gottesmutter – die Ikonenverehrung. daher war das Ereignis der Einholung des „nicht von Menschenhand geschaffenen Bildes des Erlösers“ der ostkirche so wichtig, dass sie ihm einen eigenen Feiertag weihte, der bis heute am 16. August begangen wird: Prazdnik ot Edesa prenesenija v konstantin´grad nerukotvorennago оbraza Gospoda našego Iisusa Christa, rekše Svjatago ubrusa.11 Spätestens seit der Einsetzung dieses Feiertages ist die Wortverbindung acheiropoiēstos еikōn (ksl. = nerukotvorennyj obraz oder seltener nerukotvor(en)nyj Spas ein feststehender, für die orthodoxie zentraler Begriff, zählt die damit bezeichnete Ikone zu den verbreitetsten Ikonentypen.

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dern auch der grundstein zum „christlichen Abendland“ gelegt wurde. die Missionierung der Slaven erfolgte danach bereits im Zeichen der West-ost-Rivalität. die größte Zahl von Bildungen mit acheiro- schreibt das Lexikon von g. W. h. LAMPE (1961) dem kirchenvater Johannes von damaskus zu, der u. a. die umfangreichste theologische Verteidigung der Bilderverehrung verfasst hat. Vgl. dazu die Studie über die theologie der Ikone von L. ouSPEnSky (1960). Vgl. u. a. S. V. BuLgAkoV (1900, S. 287) sowie die Angaben im „typikon“ unter dem 16. August.

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4 Als die Slaven intensiver mit der orthodoxie in Berührung kamen, waren die oben geschilderten Entwicklungen im Wesentlichen abgeschlossen. In die slavischen Übersetzungen der griechischen Bibel- und kulttexte gelangten genaue nachbildungen aller griechischen komposita mit acheiro-: nerukotvorennyj, nerukopletennyj, nerukosečnyj, nerukopisannyj u. a. da der Bilderstreit vorüber war, wurde der kontrast zu den alttestamentlichen rukotvorenija kaum noch wahrgenommen, zumal die betreffenden texte liturgisch keine Rolle spielten. Vom neuen testament her aber, von den Marienhymnen und vom Ikonenkult her verstand man nerukotvorennyj als gleichbedeutend mit göttliсher Herkunft = unerklärlich = übernatürlich = wunderträchtig, und da manche der so benannten Ikonen sich, gleich ihrem urbild, auch als wundertätig erwiesen, mag wohl, parallel zu čudotvornyj, die kürzere nebenform nerukotvornyj entstanden sein.12 Innerhalb der russischen orthodoxen kirche sind bis heute keine nennenswerten neuentwicklungen mehr aufgetreten. Solange aber das russische Leben, und sei es auch nur äußerlich, von der orthodoxie geprägt war, blieb für jeden in diesem kulturkreis Aufgewachsenen die Verbindung von nerukotvor(en)nyj mit оbraz die naheliegendste, ja eigentlich die einzige sinnvolle Assoziation, was indirekt von allen vorrevolutionären Wörterbüchern bestätigt wird.13 Bestätigt wird es auch von den wenigen schriftlichen Belegen, die bisher in der diskussion um nerukotvornyj genannt worden sind, so verschieden sie sonst sein mögen. da ist der Studentenscherz von Jazykov (1824)14 neben dem erschütternden Abschiedsbrief, den Ryleev am 13. Juli 1826, wenige Stunden vor seiner hinrich12

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A. šuStoV (1973, S. 171) meint, „ausländischen Forschern fällt es offenbar schwer, den unterschied in den stilistischen und grammatischen nuancen zu erfassen, der zwischen den Wörtern nerukotvorennyj und nerukotvornyj besteht. Indessen ist das erste tatsächlich eine kirchenslavische Lehnübersetzung aus dem griechischen, das zweite das Ergebnis hartnäckiger schöpferischer Suche (poiskov) russischer dichter. „Einige Zeilen vorher hatte er freilich, ohne sich auf eine der beiden Formvarianten festzulegen, gesagt, das Wort habe „mit der Zeit seine geistliche nuance immer mehr verloren und sei zum XVIII. Jahrhundert ganz verweltlicht und der theologie entglitten“. šustov verweist ebendort auf seine detailliertere darstellung der Wortgeschichte, wo er (1969, S. 24) die kürzere Form rukotvornyj, die offenbar ohne hartnäckige schöpferische Suche russischer dichter zustande gekommen war, in dem 1964 veröffentlichten Rukopisnyj leksikon pervoj poloviny XVIII veka nachweist. Mir liegt für das gleiche Wort ein auch noch nicht ganz verweltlichter Beleg vor im dritten Bande der 3. Auflage von P. ALEkSEEVS Сеrkovnyj slovar’ (1816), wo das Stichwort rukotvornyj von der Quellenangabe Grig. Naz., d. h. gregor von nazianz, begleitet ist. offenbar haben beide Varianten auch im kirchlichen gebrauch längere Zeit hindurch nebeneinander bestanden. J. PLähn (1975, S. 389) hält, unter Verweis auf Leskien, die parallele Ausbildung beider Formen schon im Abg. für möglich. Für eine Verwendung in russischen gedichten dürfte die Eignung der kürzeren Variante für jambische Maße, die šuStoV (1969, S. 23) erwähnt, wesentlich gewesen sein. die stereotype Illustration ist immer nerukotvor(en)nyj obraz, ohne jeden Quellenbeleg und ohne jede Erklärung. Vgl. dazu auch die Arbeit von J. PLähn (1975). die Ikonen-Assoziation war so stark, dass auch Marien-Ikonen volkstümlich als neru-

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tung, an seine Frau schrieb, und in dem es heißt: „Nastin’ku blagoslovljaju myslenno nerukotvornym Obrazom Spasitelja i poručaju vsěch pokroviteľstvu Živago Boga“.15 Ist hier ohne jede Metapher die Ikone gemeint, so belegt das Zeugnis von Belinskij die erwähnte Assoziation von nerukotvorennyj mit obraz gerade im Anschluss an Puškins gedicht. Belinskij lässt sich – in seinem Brief an Botkin vom 24.2.–1.3.1840 – von diesem gedicht anregen zu einer temperamentvollen darlegung seiner unterscheidung zwischen „ursprünglicher“ und „reflektierter“ dichtung, in dieser darlegung, in der ihm Puškin, im gegensatz zu goethe und Schiller, den typ des „ursprünglichen“ dichters vertritt, stehen die Worte:16 Ja vižu nravstvennuju ideju tol’ko v nerukotvorennych, javlennych obrazach; kotorye odni est’ absoljutnaja dejstvitel’nost’, a ne te, gdе chitrila čelovečeskaja mudrost’.

Was immer Belinskij als theoretiker der Literatur (und in nachfolge von Schillers naiver und sentimentalischer dichtung) hier genau gemeint haben mag, in unserem Zusammenhang interessiert an dieser Passage die spontane Assoziation des gerade gelesenen nerukotvorennyj einerseits mit obraz, andererseits mit seinem Synonym javlennyj,17 sowie die Interpretation, die er mit dem letzten nebensatz gibt, und die an P. Alekseevs Erläuterung zum Stichwort rukotvor(en)nyj

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kotvornyе galten. darauf beruht die Verwendung des Wortes in einem Scherzgedicht von JAZykoV (1964, S. 132) aus dem Jahre 1824: Komu dostanetsja ona, / Nerukotvornaja Marija? ... womit die damals noch unverheiratete Marija nikolaevna dirina gemeint war. In ähnlicher Anknüpfung spricht Fet, allerdings ernsthaft, 1857 von seiner unverheiratet unter tragischen umständen umgekommenen Jugendgeliebten Marija Lazič, wenn er hofft, im Jenseits ihre nerukotvornye čerty wiederzusehen. Vgl. A. A. FEt (1959, S. 229). das von šuStoV (1969, S. 25) auch noch angeführte Brjusov-Zitat knüpft ebenfalls an die biblische Maria an. und da das dort erwähnte Zitat aus L. A. MEJS „Pskovitjanka“ „Spasa lik nerukotvornyj“ eindeutig eine Ikone meint, bestätigen alle von šustov für die Zeit bis 1902 beigebrachten literarischen Belege nur die von mir behauptete Assoziation. šuStoV (1969, S. 24) schreibt zu diesem Brief (Faksimile in: RyLEEV, 1934, nach S. 516), der seinerzeit in Abschriften kursierte: Puškin musste ihn auch kennen. der Brief als solcher mit seinen religiösen Motiven der Losgelöstheit von allem Irdischen hat ihn wohl kaum berühren können, aber die neue Form des ihm schon von Ruban her bekannten Wortes belebte seine gedanken. „– Abgesehen davon, dass es sich nicht um eine neue Form des Wortes handelt, möchte man bei dieser Einschätzung Puškins ausrufen: „A sud’i kto?“ V. g. BELInSkIJ (1956, Bd. IX, S. 474), vgl. M. P. ALEkSEEV (1967, S. 28 und 56). M. P. ALEkSEEV (1967, S. 56) möchte glauben machen, Belinskij habe „das Wort ‘nerukotvornyj’ durch ein anderes, wie ihm damals offenbar schien aus der gleichen Sphäre schellingianischer Vorstellungen vom inspirierten Sänger entlehntes Wort erklärt“. dazu ist zu sagen, dass weder nerukotvornyj noch javlennyj zur terminologie Schellings oder der Schellingianer gehörten oder gehören konnten, da es sich nicht um beliebige, sondern um ausschließlich in der orthodoxie russischer Zunge beheimatete Sakralwörter handelt. dazu die Lexika: Slovar’ Akademii Rossijskoj, Bd. 6, 1822 gibt ein eigenes Stichwort javlénnyj obraz als offenbar einzige Verwendung und mit der Erklärung reč. cerk. Obnaruživšijsja, otkryvšijsja, javivšijsja, izvestnyj po čudotovoreniju, davon unterschieden wird der terminus der kanzleisprache javlényj als getrenntes Stichwort. dal’ gibt in der 3. Aufl., SPb.-M. 1909 im 4. Bande unter dem Stichwort javit’ die Ableitung mit dem text: javlénnyj o b r a z , nerukotvorennyj, pojavivšijsja čudesno, unterschieden wiederum von dem kanzleiterminus jávlennyj. diese Betonung, die dem Muster der heutigen Perfekt-

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erinnert.18 gewiss sind dies alles nur Metaphern, aber bezeichnenderweise bleibt Belinskij, angeregt von Puškins gedicht, in dem vertrauten semantischen Feld dieses Wortes: javlennyj оbraz, ne čelovečeskaja mudrost’, chitrost’, chudožestvo.

5 Zu diesen allgemeinen Fakten, die Bedeutung und typische Assoziationen von nerukotvorennyj im orthodoxen Russland überhaupt und zur Zeit Puškins besonders betreffen, kommen noch einige speziellere umstände hinzu, die sich auf Petersburg und die Entstehungszeit des „Pamjatnik“ beziehen. Wie bereits erwähnt, feiert die orthodoxe kirche das Fest der „Überführung des nichthandgemachten Bildnisses christi nach konstantinopel“ alljährlich am 16. August. Volkstümlich hieß dieses Fest im alten Russland „tretij Spas“, da es nach dem Fest des Ehrwürdigen kreuzesholzes (1. August) und der Verklärung des herrn (6. August) das dritte dem Erlöser geweihte Fest im Monat August ist.19 Wie die Mehrzahl der insgesamt zwölf Ikonen-Feste der russischen kirche ist auch der 16. August ein „kleiner“ Feiertag. nur in kirchen, die dem „nerukotvornyj obraz“ geweiht sind, gilt er als „mittlerer“ Feiertag und wird dementsprechend festlicher begangen. nun gab es in Petersburg seit 1823 eine kirche, die diesem Bildnis geweiht war, und diese kirche gehörte zudem noch zur kaiserlichen hofhaltung. Es handelt sich um die meist „Marstallkirche“ (konjušennaja cerkov’) genannte Pridvornaja cerkov’ Spasa Nerukotvornago.20 Ihr kirchweihfest war also am 16. August, und der 16. August 1836 (alten Stils) fiel auf einen Sonntag. Puškin war als kammerjunker Angehöriger des hofstaates und als solcher – obzwar in jenem Sommer auf dem kamennyj ostrov wohnhaft – höchstwahrscheinlich verpflichtet, am Festgottesdienst in der Marstallkirche teilzunehmen. Jedenfalls

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Passiv-Partizipien entspricht, scheint sich durchgesetzt zu haben. Ein auch sonst mit unserem thema, Puškins „Pamjatnik“, eng verbundener Beleg dafür findet sich in Pasternaks gedicht „Avgust“, dessen letzte Strophe heißt: Proščaj razmach kryla raspravlennyj, Poleta vol’noe uporstvo, I obraz mira, v slove javlennyj, I tvorčestvo, i čudotvorstvo. diese Worte spricht während der eigenen Beisetzung des dichters ... prežnij golos moj providčeskij, (Zvučal,) netronutyj raspadom. (Boris PAStERnAk, 1958, S. 549). die Pasternaksche Schlussformel zitiert ohne Quellenangabe nepomnjaščij (1965, S. 137). „kotoryj sodělan čelovečeskim chudožestvom“ –P. ALEkSEEV (1816, S. 333) S. V. BuLgAkoV (1900, S. 287). der vtoroj Spas wird übrigens in dem oben in Anm. 17 zitierten Pasternak-gedicht erwähnt. V. k. ZAžuRILo et al. (1974, S. 213).

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ist es so gut wie ausgeschlossen, dass er von jenem Festgottesdienst und seinem Anlass nichts erfahren haben sollte.21 Wenn man bedenkt, dass das datum der Reinschrift des „Pamjatnik“ der 21. August ist (der einzige erhaltene Entwurf ist nicht datiert, der zeitliche Abstand zwischen Reinschrift und Entwurf vermutlich gering),22 so wäre das Auftreten des Wortes nerukotvornyj gerade in jenen Augusttagen 1836 auch ohne jede literarische Ahnenreihe schon erklärlich genug. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass das Wort schon vorher auch in literarischen kontexten aufgetaucht war. dieser möglichen Vorgeschichte seiner Verwendung durch Puškin wollen wir uns nunmehr zuwenden.

6 Seit den ersten hinweisen in den 30er Jahren unseres Jahrhunderts bis zu der großen Interpretation von nepomnjaščij (1965) und šustovs erstem Aufsatz (1969) zur Wortgeschichte von nerukotvornyj galt es als ausgemacht, dass der erste und einzige Autor, der vor Puškin unser Wort in einem gedicht verwendet hat, der Übersetzer und poeta minor Vasilij grigor’evič Ruban (1742–1795) gewesen sei.23 Er hatte 1770 jene Nadpis’ k kamnju, naznačennomu dlja podnožija statui imperatora Petra Velikogo verfasst, die ihm noch lange nach dem tode Erwähnung und, trotz mancher Einschränkung (vgl. die Epigramme von kapnist und chemnicer sowie den noch zu besprechenden Seitenhieb von Vjazemskij),24 allgemeines Lob einbrachte, u. a. von deržavin (1811), ostolopov (1821), greč (1822) und sogar noch Zagoskin (1844).25 In jenem ein halbes Jahrhundert lang als anthologiewürdig geltenden Epigramm hat Ruban den Sockel des falconet21

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Einen vergleichbaren Vorgang erwähnt n. n. PEtRunInA (1974, S. 287) im Zusammenhang mit der Entstehung und datierung des gedichtes „Polkovodec“: „7 aprelja 1835 g. Puškin po dolgu kamer-junkera objazan byl prisutstvovať na bogosluženii v dvorcovoj cerkvi.“ dies ist übrigens eine weitere Parallele zwischen diesem gedicht und dem „Pamjatnik“, vgl. die Ausführungen im Abschnitt 11 dieses Aufsatzes. Faksimiles der handschriften u. a. bei M. P. ALEkSEEV (1967, S. 236 und 239); zur Entstehungszeit ebd. S. 18f. Für die 30er Jahre vgl. I. FEJnBERg (1933 = neudruck 1976, S. 118) und R. JAkoBSon (1937, S. 16). V. nEPoMnJAščIJ (1965, S. 139), A. šuStoV (1969, S. 23). šustov korrigiert sich in seinem zweiten Aufsatz (1973, S. 171) mit den Worten: „Es ist wichtig daran zu erinnern, dass das Wort in seiner erneuerten Form von russischen dichtern bereits vor Puškin verwendet wurde (Ruban, žukovskij, Ryleev, Jazykov).“ Abgesehen von der irrigen tendenz šustovs, ein kirchliches längeres von einem weltlichen kürzeren Wort zu unterscheiden, sind die Belege bei Ruban, Jazykov und Ryleev von uns bereits besprochen, auf žukovskij werde ich sogleich zurückkommen. Richtig bleibt, dass Rubans Verse zur Zeit der Entstehung von Puškins „Pamjatnik“ der einzige рublizierte Beleg für eine poetische Verwendung von nerukotvornyj waren. Vgl. V. V. kAPnISt (1960, I, 73, es handelt sich um die Verse 201–04 der 1. Satire, in der Ruban unter dem namen Rubov mehrfach vorkommt), chEMnIcER (1963, S. 218). nachweise bei M. P. ALEkSEEV (1967, S. 58).

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schen Reiterdenkmals über die antiken Weltwunder gestellt und als nerukotvornaja (…) Rosskaja Gоra apostrophiert. der Vergleich mit den sieben Weltwundern war ein im panegyrischen Stil gängiger topos – E. R. curtius nennt ihn (1954, S. 171f) „Überbietung“ – den schon trediakovskij verwendet hatte.26 Ebenso zum Arsenal der Panegyrik gehörte im russischen XVIII. Jahrhundert die religiöse Metaphorik, ein Phänomen, das noch seiner untersuchung harrt.27 Ruban scheint bei seinem Epigramm vor allem an die von daniel 2. (s. o., S. 276) inspirierten Formeln kamen’ nerukosečnyj – für christus28 – und gora nesěkomaja – für Maria29 – anzuknüpfen. An eine andere Quelle hat šustov gedacht, der (1969, S. 24) darauf hinwies, dass Ruban auch herausgeber der Reiseerinnerungen von V. g. grigorovičBarskij gewesen sei, eines Pilgers, der die ägyptischen Pyramiden als rukotvorennye gory beschrieben hatte. Man könnte auch daran denken, dass er sich als Übersetzer mit Johannes von damaskus befasst hat (vgl. unten Anm. 10), möglicherweise genügt aber schon der hinweis auf Rubans Bildungsweg, der in der kiever geistlichen Akademie begann.30 Bei alledem ist nicht recht einzusehen, warum Puškin seine Anregung zur Wortwahl gerade aus dem – ihm ganz gewiss von Jugend auf bekannten31 – panegyrischen Epigramm Rubans bezogen haben sollte, das thematisch (trotz der kühnen deutung von nepomnjaščij)32 mit seinem und dem horazisch-deržavinschen „Monumentum“ doch wenig gemein hatte, und in dem das Bild von der nerukotvornaja gora preziös, weither geholt und im grund auch etwas ungenau war. 26 27

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Vgl. M. P. ALEkSEEV (1967, S. 59). Einer der gründe dafür, dass eine solche untersuchung noch nicht unternommen wurde, ist zweifellos in den gottesdienstlichen texten selbst zu vermuten. diese umfangreichen texte mit ihren über viele Bücher verstreuten, aber sich dennoch immer wiederholenden gebetsformeln und gesängen sind für eine philologische nutzung praktisch noch völlig unaufgeschlossen. Sie bergen aber sicher viel Interessantes, wie die folgenden, zufällig entdeckten Metaphern zeigen. Z. B. den Vers des 9. Liedes im 4. ton des oktoich, der sonntags morgens und abends, mittwochs und donnerstags morgens gesungen wird (irmos): Kamen’ nerukosečnyj, ot nesekomyja gory tebe, Děvo, kraeugol’nyj, Christos ... Vgl. das theotokion (bogorodičen) zum 1. Lied des 1. tons, gesungen am Sonntagmorgen: Radujsja, blagodati, istočniče, radujsja lěstvice, i dvere nebesnaja, radujsja sveščniče, i ručko zlataja, i goro nesěkomaja! (ebenfalls aus dem oktoich). Alle nachrichten über Ruban finden sich bei B. L. ModZALEVESkIJ (1897). Bei der allgemeinen Popularität der „nadpis’“ Rubans (vgl. oben Anm. 24 und 25) brauchte Puškin nicht erst „bei der Arbeit am ‘Ehernen Reiter’ und der ‘geschichte Peters’“ auf sie zu stoßen, wie šuStoV (1969, S. 23) vermutet. Bei der gleichen Arbeit hat Puškin sicher auch ein von Ruban herausgegebenes Buch benutzt, das 1783 erschien und 6 Auflagen erlebte: Rossijskij carskij pamjatnik, soderžaščij po azbučnomu porjadku kratkoe opisanie žizni Rossijskich gosudarej“. (ModZALEVESkIJ, 1897, S. 407, Anm. 2) Wer wollte behaupten, Puškin hätte daher das Wort „pamjatnik“ übernommen? Ebenso vertraut war ihm als orthodoxem Russen auch das Wort nerukotvornyj, das nur šustov als weltliche neuerung ausgeben möchte. V. nEPoMnJAščIJ (1965, S. 139): „aber auch der große Peter erweist sich als um eine Stufe niedriger“.

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7 trotzdem scheint Ruban – allerdings auf ganz andere, indirekte Weise – doch etwas mit der literarischen Ahnenreihe von Puškins Wortverwendung zu tun zu haben. dazu müssen wir uns etwas im umkreis des Arzamas umschauen, d. h. in Puškins Lyzeumszeit.33 In dem lebhaften Austausch scherzhaft-programmatischer Versepisteln, der der gründung jenes Literatenklubs vorausging, gibt es u. a. eine freundschaftliche kontroverse über die dichtungsauffassung zwischen žukovskij und Vjazemskij. der Fürst weist žukovskijs Idealvorstellung zugunsten eines unverbindlich-spielerischen dichterbildes im geiste der poésie fugitive zurück und stilisiert sich selbst als dilettanten. dabei weist er aus gegebenem Anlass daraufhin, dass ein einmaliger Erfolg noch kein Beweis für wahre Begabung sei, und sagt (in dem Sendschreiben „k druz’jam“, d. h. an žukovskij und Batjuškov, 1814)34: net, net! opasnoe otvergnuv obol’ščen’e, udaču ne sočtu za nesomnennyj dar; I Ruban pri odnom stiche vošel v chram slavy!

Mit diesem einzigen Vers (= gedicht) ist zweifellos jene viel zitierte „nadpis’“ Rubans gemeint. die Anspielung war auch insofern nahe liegend, als Vjazemskij mit seinem „Erfolg“ die günstige Aufnahme seiner eigenen Nadpis’ k bjustu imperatora Aleksandra I meinte,35 also ebenfalls eines panegyrischen Epigramms auf ein Zarendenkmal, das ähnlich dem Rubanschen auch zuerst in einem Separatdruck (aus Anlass der Einnahme von Paris) erschienen war. dabei war der implizierte Vergleich natürlich alles andere als ernst gemeint, zumal Vjazemskij über Ruban aus der Familientradition36 vermutlich mehr wusste als seine Freunde. Auch žukovskij nahm den Vergleich natürlich nicht für bare Münze, aber er war doch mit der nonchalance, mit der sein Freund und Mitstreiter für karamzins sprachliche Reformen seine eigene dichtergabe herunterspielte, nicht einverstanden und antwortete noch im gleichen Jahre 181437, natürlich ebenfalls in einer Versepistel: „k Vjazemskomu (otvet na ego poslanie k druz’jam)“. 33

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Es bestätigt sich somit in noch weiterem Sinne (und nicht nur auf del’vig konzentriert) M. P. ALEkSEEVS Ansatz (1967, S. 140), dass die ursprüngliche konzeption des „Pamjatnik“ in Erinnerungen aus der Lyzeumszeit zu suchen sei. P. A. VJAZEMSkIJ (1958, S. 68). die dort gegebene datierung „1814 oder 1815“ kann präzisiert werden. Vgl. Anm. 37. dieses Epigramm wird in der erwähnten Ausgabe (P. A. VJAZEMSkIJ, 1958) im kommentar, auf S. 417 abgedruckt, allerdings ohne Absetzung der Verszeilen. Ruban war 1773 Protokollführer beim generalstaatsanwalt A. A. Vjazemskij, und ab 1774 18 Jahre lang Sekretär von Potemkin, dem unmittelbaren und ungeliebten Vorgesetzten von P. A. Vjazemskijs Vater, (vgl. ModZALEVSkIJ, 1897, S. 403f und P. Α. VJAZEMSkIJ, 1958, S. 5). der kommentar in V. A. žukoVSkIJ (1951, Bd. I, S. 443) datiert die Abfassung dieser Antwort auf den 8.–9. november 1814. Somit kann die datierung von Vjazemskijs Sendschreiben, die in der zitierten Ausgabe (auf S. 416) als terminus post quem den 19. Mai 1814 nennt, auch durch einen terminus ante quem, die ersten novembertage 1814, präzisiert werden.

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Von dieser 136 Verse zählenden Antwort wurde nur das von der Person Vjazemskijs unabhängige Ende, ab Vers 87, im „Rossijskij muzeum“ 1815 (und später in žukovskijs gedichtsammlungen) veröffentlicht. daher blieben die ersten 86 Verse meist unbeachtet, zumal sie erst durch die gesamtausgabe der Werke žukovskijs von Archangel’skij (1902, Bd. II, S. 50 f) allgemein zugänglich wurden. Es kann aber kaum ein Zweifel daran bestehen, dass Puškin, der 1815 mit žukovskij und im März 1816 auch mit Vjazemskij persönlich bekannt wurde,38 dies gedicht schon damals in seiner vollständigen Fassung kennen lernte, sei es durch den Autor, sei es durch den Adressaten oder seinen mit beiden eng befreundeten onkel Vasilij L’vovič.

8 žukovskij greift in seiner Antwort mehrfach Formulierungen aus Vjazemskijs gedicht auf, so z. B. (v. 14ff): ne mysli počitať uspech za obol’ščen’e I sodrogaťsja ot pochval! chvala druzej – poėtu vdochnoven’e! chvala nevežd – brjacajuščij kimval!

und ähnlich wie die hier von mir hervorgehobenen Wörter uspech und obol’ščene’, wie ein paar Verse weiter (v. 20) die von žukovskij selbst hervorgehobene Formel chvaly i реni, nimmt er auch das Bild vom chram slavy auf und wandelt es so ab (v. 57ff): Letaj nerobkimi perstami Po očarovannym strunam I muzy ne strašis’! V nerukotvornyj chram Stezej cvetuščeju, no skrytoju ot sveta ona vedet poėta.39

Vjazemskij hatte mit сhram slavy eine abgegriffene allegorische Floskel benutzt, die selbst in Russland schon seit Lomonosov in mancherlei Varianten (сhram nauk, muz, Feba, premudrosti, slavy usw.) im Schwange war. žukovskij gelingt es, auch dieser Floskel noch einen belebenden Reiz abzugewinnen durch das Epitheton nerukotvornyj. diese Wendung, so überraschend sie scheinen mag, liegt jedoch in der konsequenz der thematischen grundlinien von žukovskijs früher dichtung. Auch er hatte in seinen frühesten dichterischen Versuchen die allegorischen Formeln сhram pravosudija, ljubvi (an Paul I., 1797) und сhram svjatoj nauk, (an cheraskov, 1798) benutzt. Ebenfalls 1798 er38 39

Vgl. M. cJAVLoVSkIJ (1951), S. 80 u. 94. V. A. žukoVSkIJ (1959, Bd. 1, S. 235). Sofern nicht anders vermerkt, sind alle hervorhebungen von mir (R-d. k.).

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scheint dann die Wendung сhramy dobrodeteli in dem ersten der Vergänglichkeit und dem bleibenden Wert der tugend gewidmeten gedicht Dobrodetel’, in dem ebenfalls bereits das thema des (wertlosen) grabdenkmals anklingt: ne kamen’ gibnuščij velič’ja V potomstve pozdnom nam pridast.

Fast alle größeren gedichte aus žukovskijs erster Schaffensperiode – einschließlich der berühmten Übersetzung(en) von grays „Elegy written in a country churchyard“ (1802) – kreisen um die themen Vergänglichkeit, Fragwürdigkeit des Ruhms, nutzlosigkeit teurer denkmäler, alleiniger Wert der tugend. Insofern ist es unwesentlich, dass das gedicht „geroj“ (1800) damals ungedruckt geblieben ist;40 es enthält nichts neues, nur die bekannte und vielfach abgewandelte thematik in besonders prägnanten Formulierungen. dort heißt es etwa, in Strophe IX: no čto geroj? – neužto bran’ju Edinoj budet slaven on? neužto kroviju omytyj, Ego venec prebudet svež? Ach net! zasochnet i pobleknet, I оbelisk ego padet; On porastet mchom i travoju, I s nim vsja pamjať propadet.

dem setzt žukovskij in Strophe XI die Behauptung entgegen: geroem tot liš’ nazovetsja, kto dobrodetel’ krasnu čtit.

Von einem solchen helden heißt es in Strophe XIII: tot сhrama slavy liš’ dostignet, V potomstve večno budet žit’, – I čelovečestvo vozdvignet Emu serdečnyj mavzolej.

Zu solchem tugendheldentum fühlt sich auch der junge Autor fähig und berufen, und in der Schlussstrophe (XV) ruft er aus: Мoj obelisk togda netlennyj kosoju vremja ne srazit; Moj slavy chram ne sokrušitsja: on budet issečen v serdcach.

40

das kann mehrere gründe haben, z. B. dass die reimlosen Jamben aus der Mode gekommen waren, oder dass der als Vertreter des kriegshelden hier benannte Alexander zu negativ beurteilt ist, als dass man dies unter der Regierung des gleichnamigen Zaren (ab 1801) hätte drucken können. Wir wissen es ebenso wenig wie wir wissen, ob Puškin den text gekannt hat. Ich halte es für wahrscheinlich.

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hier, wie in vielen ähnlichen Passagen der frühen Lyrik žukovskijs finden wir, ganz im geiste der „Poėsie de la nuit et des tombeaux“41 die themen Ruhm und Vergänglichkeit – jener durch denkmäler, diese (frei nach ossian) durch gras und Moos versinnbildlicht – vereinigt mit dem Lob der tugend und dem wahrhaft würdigen Andenken in den herzen der nachgeborenen. Auch dieser echte Ruhm erscheint unter dem Bilde des denkmals, allerdings des verinnerlichten, entmaterialisierten denkmals: serdečnyj mavzolej, оbelisk netlennyj, сhram issečen v serdcach ... der freimaurerisch-pietistische tenor ist in allen diesen gedichten unüberhörbar, nicht verwunderlich im umkreis der Moskauer Adligen Pension mit ihrem spiritus rector Prokopovič-Antonskij, einem Mitstreiter novikovs und engen Freund von Schwarz.42 Über alle Zeitmoden und -strömungen hinaus ist aber bei žukovskij seine ursprüngliche Religiosität, sein persönlicher unsterblichkeitsglaube zu berücksichtigen, der sich ebenfalls schon sehr früh artikuliert, so z. B. in dem (unter einem Motto aus youngs „night thoughts“ stehenden) groß angelegten gedicht Čelovek (1801), das schließt: Mužajsja’ – i popreš’ protivnikov stopoju; tvoj raj i ad v tebe! ... Bran’, bran’ tvoim strastjam! – Pered toboj otverst bessmert’ja večnyj сhram; ty smerti slomiš’ serp mogučeju rukoju, – Мogila – k večnoj žizni put’!

Auch dieser gedanke ist konstituierend für žukovskijs dichtung; man vergleiche nur die Schlusszeilen von „dobrodetel’“ (1798), „k tibullu“ (1800), „geroj“ (1800), „Stichi sočinennye v den’ moego roždenija“ (1803), oder den Schluss der Erzählung „Mar’ina rošča“ (1808), um nur einige Beispiele zu nennen. Es ist nach alledem anzunehmen, dass dem von natur aus religiösen und mit Auferstehungsgedanken vertrauten dichter und – nach Vjazemskijs spöttischer definition – „grobovych del masteru“ auch die paulinische Formel von der сhramina nerukotvorna, večna na nebesech (2. kor. 5.1, vgl. о. S. 115) geläufig war, zumal sie im orthodoxen Bestattungsritus eine Rolle spielt.43 nach der 1802 erfolgenden Annäherung an karamzin mehren sich auch bei žukovskij sakrale Metaphern für die dichtung, was die tradition von karamzins Jugendhymnus „k Poėzii“ (1787) fortführt, wo von роėzija svjataja = svjataja dščer’ nebes = svjatyj jazyk nebes die Rede gewesen war. diese überschwängliche 41 42

43

P. van tIEghEM (1921). Vgl. V. I. REZAnoV (1906), S. 15–24. dort z. B. folgende Passage aus einer Schulrede Antonskijs über die Bedeutung der Einbildungskraft: „Voobraženie (...) dolžno by ustremljaťsja ko vsemu vysokomu, izjaščnomu, blagorodnomu i napravljať parenie svoe ko chramu slavy i dobrodeteli“ (S. 21). Wegen des in Anm. 27 beschriebenen Zustandes der gottesdienstlichen texte kann ich dies nur mit einem nachweis belegen: die Apostellesung „za upokoj“ wird jeweils mittwochs aus 2. kor. 5, Vers 1–10, genommen. So übereinstimmend die „Moskauer Bibel“ im Anhang zum nt (1894, S. 181 vorn) und die russische Bibel (1956, S. 1270).

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Sakralisierung der dichtung, die – von antiken Quellen, voran horaz und ovid, gestützt und somit in der europäischen tradition altbekannt – diesmal vom deutschen „Sturm und drang“ mit seinem geniekult (vermittelt durch Lenz) und durch die klopstock-Rezeption frisch belebt worden war, übernahm žukovskij von karamzin und ergänzte sie seinerseits später durch die mehrfach von ihm paraphrasierte Rolle des dichters als himmelsbewohners aus Schillers „teilung der Erde“.44 die Verbindung des grabthemas mit der Sakralmetaphorik für die dichtung vollzog žukovskij schon 1804, als er sein Preislied „k poėzii“ mit den Zeilen ausklingen ließ: druz’ja nebesnych muz! plenimsja l’ suetoj? Prezrev minutnye uspechi – ničtožnyj glas pochval, kimval’nyj zvon pustoj, – Prezrevši roskoši utechi, Pojdem velikich ρо sledam! – Stezja k bessmertiju sud’boj otkryta nam! ne ostydim sebja chvaloju Vysokich žrebiem, prezritel’nych dušoju, – derznem dostojnych uvenčať! Ljubimcu l’ Febovu za prizrakom gonjaťsja? Ljubimcu l’ Febovu vo prache presmykaťsja I uniženiem Fortunu obol’ščat’? Potomstvo razdaet vency i posramlen’e: Derznem svoj mavzolej v altar’ рreobratit’! o slava, serdca voschiščen’e! o žrebij sladostnyj – v ljubvi potomstva žiť!45

So kommt es keineswegs überraschend, wenn er zehn Jahre später auf Vjazemskijs klischeehafte Formel mit der neuen Prägung nerukotvornyj chram reagiert, in der sowohl das traditionelle tempel-Allegorem wie die persönliche unsterblichkeitshoffnung sich verbinden mit dem sakralen Vokabular der hohen dichtungsauffassung. dass dies alles möglicherweise durch des Spötters Vjazemskij Anspielung auf Rubans nerukotvornaja gora ausgelöst sein könnte, verleiht dem Vorgang eine zusätzliche Pointe, die gut zu der seltsam zwischen Scherz und Ernst schillernden Arzamas-Atmosphäre passen würde. In jedem Falle steht aber der kontext, in dem das Wort nerukotvornyj hier bei žukovskij erscheint, nämlich die thematik von Rang und Ruhm des dichters, 44

45

dies Schillergedicht ist erstmals ausführlich paraphrasiert in dem Sendschreiben „k Batjuškovu“ (1812), vv. 73–127. žukoVSkIJ (1959, Bd. I, S. 121–123). Für den gang der Argumentation hätte ein kürzeres Zitat vielleicht genügt. Mir lag aber daran, den tugend-tenor ebenso zum Bewusstsein zu bringen wie einige typische Wortformeln: kimval’ nyj zvon z. B., der, natürlich aus Paulus, 1. kor. 13.1, stammend, in dem uns interessierenden „otvet Vjazemskomu“ von 1814 wiederkehrt. Zugleich ist es ratsam, die Formeln, mit denen žukovskij den Augenblickserfolg gegen den wahren Ruhm absetzt, im ohr zu behalten. Sie kehren z. t. fast wörtlich in Puškins „Polkovodec“ (1835) wieder, wovon in Abschnitt 10 noch zu sprechen sein wird.

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dem thema von Puškins „Pamjatnik“ doch bedeutend näher als Rubans panegyrisches Epigramm. Zudem ist diese thematik bei žukovskij, dem Lehrer und Freund Puškins, nicht nur an sich häufig und zentral, sondern auch nicht selten mit dem Bilde des grabmals verbunden, ja des „unverweslichen“ denkmals, während das Vergessenwerden materieller denkmäler (monumenty, pamjatniki, obeliski, mavzolei) – frei nach young, gray und ossian – durch Überwuchern mit gras und Moos angezeigt wird. ganz sicher hat also žukovskij einen bedeutenden Anteil an den gedanken und Bildern, die in Puškins „Pamjatnik“ Jahrzehnte später gestalt gewonnen haben.46

9 die bisherige Betrachtung hat, glaube ich, gezeigt, dass die Sonderstellung von nerukotvornyj als hapaxlegomenon in Puškins Wortschatz47 vorerst nichts weiter beweist als die Sorgfalt des dichters bei der Wortwahl. denn das Wort als solches war in seiner ursprünglichen, an die Ikonenverehrung gebundenen Bedeutung damals allgemein bekannt und wurde daher auch normalerweise,48 selbst bei ganz verschiedenen Anlässen bzw. Absichten seiner Benutzer, mit der sakralen Sphäre assoziiert. Es gab außerdem, wie wir gesehen haben, in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher nachbarschaft zur Entstehung von Puškins „Pamjatnik“ ein äußeres Ereignis, das geeignet war, den dichter gerade an dieses zwar bekannte, aber doch nicht täglich verwendete Wort zu erinnern, nämlich den Festgottesdienst in der Pridvornaja cerkov’ Sраsa Nerukotvornogo am Sonntag, dem 16. August 1836. 46

47

48

Auch dieser gedanke klingt bei M. P. ALEkSEEV einmal unklar an (1967, S. 218f), wo aber nur vom Bild des verwachsenen Pfades die Rede ist. šuStoV erwähnt den namen žukovskij in seiner Aufzählung von dichtern, die vor Puškin das Wort nerukotvornyj gebraucht hätten (1973, S. 171), ohne diesem gebrauch nachzugehen. Vgl. o. Anm. 23. Wer die statistische Struktur von texten kennt, wird sich über hapaxlegomena nicht wundern; sie pflegen selbst bei großen textmengen zwischen 30 und 50 % der vorkommenden Lexeme auszumachen. In Puškins Werk sind nach den Erhebungen von R. M. FRuMkInA 6.388 hapaxlegomena bei einem Wortschatz von 21.197 verschiedenen Wörtern vorhanden, also immerhin 30, 36 %. Bei einem gesamtumfang des Werkes (soweit es im PuškinLexikon erfasst ist) von 544.777 Wortstellen ist das normal, für poetische texte, die zu Wiederholungen neigen, ist es ein hoher Prozentsatz, der auf die Sorgfalt des Autors bei der Wortwahl hindeutet. Zu den Zahlen vgl. FRuMkInA (1963), besonders S. 28. die einzige bisher noch nicht besprochene Verwendung des Wortes, in einer notiz VJAZEMSkIJS, scheint mir in mehrfacher hinsicht nicht „normal“ zu sein. Erstens ist sie aufgrund des charakters von Vjazemskijs notizen nicht zu datieren, könnte also unter umständen erst Jahrzehnte nach Puškins tod notiert sein; zweitens entbehrt sie nicht eines gewissen selbstgefälligen und polemischen untertons, auch wenn ALEkSEEV, der sich zurecht über die Verständnislosigkeit Vjazemskijs wundert (1967, S. 55, Anm. 4), entschuldigend meint, die Bemerkung „womit hat er denn seine Verse geschrieben, wenn nicht mit der hand?“ sei eher naiv als böswillig. Wie dem auch sei, weder allzu große naivität noch Böswilligkeit können wohl als normale Voraussetzungen des Wortgebrauchs gelten.

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Es gab weiterhin in literarischer Verwendung vor Puškin, und ihm zweifellos bekannt, nicht allein die zwar berühmte, aber doch irgendwie nicht ebenbürtige und etwas abgelegene nerukotvornaja gora aus Rubans Epigramm von 1770, sondern eben auch jenen nerukotvornyj chram (slavy? bessmertija?) in žukovskijs „otvet Vjazemskomu“ von 1814, bzw. 1815, um das Jahr zu nennen, in dem er Puškin wohl bekannt geworden ist. und immerhin war žukovskij Puškins erster und einziger Lehrmeister in der Poesie, von dem sein Schüler49 noch 1830, in der Reinschrift der 2. Strophe des nachmaligen VIII. kapitels von „Evgenij onegin“ sagte: (VI, 621)50 I ty, gluboko vdochnovennyj Vsego prekrasnogo pevec, ty, idol devstvennych serdec, ne ty l’, pristrasťem uvlečennyj, ne ty l’ mne ruku podaval I k slave čistoj prizyval?

diese Zeilen, die in der gedruckten Fassung dann durch Punkte ersetzt wurden, gehören zu dem Rückblick Puškins auf sein debut als dichter im Lyzeum; sie stehen zwischen der (im druck erhaltenen) Erwähnung deržavins sowie (den später ebenfalls unterdrückten Erwähnungen) dmitrievs und karamzins. Beschworen wird also die Zeit zwischen dem Januar 1815, als Puškin vor deržavin seine „Vospominanija v carskom Sele“ deklamierte, und dem März 1816, als er neben Vjazemskij auch karamzin erstmals vorgestellt wurde. dazwischen liegt die Bekanntschaft mit žukovskij – und u. a. vermutlich auch mit dem bereits mehrfach erwähnten ‘otvet Vjazemskomu“. nicht umsonst gipfelt der žukovskij gewidmete Abschnitt der onegin-Strophe in den (von mir hervorgehobenen) Worten k slave čistoj. diese Formel stammt nämlich auch von žukovskij, und zwar aus dem Poslanie „k kn. Vjazemskomu i V. L. Puškinu“, das am 16. oktober 1814 geschrieben und 1815 in nr. 6 des „Rossijskij muzeum“ vollständig abgedruckt wurde, wo der am 8.–9. november 1814 geschriebene „otvet Vjazemskomu“ teilweise schon in nr. 3/1815 erschienen war. Zwischen diesen beiden Sendschreiben entstand eine weitere (damals nicht gedruckte), zweiteilige Versepistel ebenfalls an Vjazemskij und Puškins onkel. thematisch hängen diese Sendschreiben, die der junge Puškin natürlich alle kannte, aufs engste zusammen; sie beziehen programmatisch Position in dem literarischen Streit zwischen den Anhängern šiškovs und den Befürwortern der stilistischen Richtung karamzins. Von allen reimenden korrespondenten hat 49

50

Vgl. Puškins Brief an Vjazemskij vom 25. Mai 1825 „ja ne sledstvie, a točno učenik ego“ (ХШ, 183). Alle Puškin-Zitate nach der Ausgabe: Puškin, Polnoe sobranie sočinenij, Izd. An SSSR, tt. I–XVI, M.-L. 1937–1949, nur mit Band- und Seitenzahlen. hervorhebungen von mir (R.-d. k.).

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žukovskij nicht nur das größte dichterische talent, sondern auch am meisten tiefgang. davon zeugen – in der ihm eigenen, fast pietistischen tonart – auch seine Aussagen zum dichterruhm, den er wiederum mit nachdruck gegen bloßen Beifall absetzt. So wie er um die Jahrhundertwende schon den tugendhelden als einzig ruhmeswürdigen über den kriegshelden erhoben hatte, rückt er nun den dichtenden Freunden den „gerechten“ des 1. Psalms als trost und Ansporn vor Augen. Vom kriegshelden ist (nur ein halbes Jahr nach der Einnahme von Paris durch russische truppen) überhaupt keine Rede mehr, dafür aber ist – in Fortführung der oben erwähnten Sakralisierung – jetzt der dichter in den Rang des tugendhelden aufgerückt, ja die dichtung selbst zur tugend geworden: (žuk. I, 222)51 Muž pravednyj prjamym putem Idet – i terpit li gonen’ja, Izbavlen li ot nich sud’boj – on schoden tam i tut s soboj; on blag bez primesi ne prosit – net! V luščij mir on perenosit naděždy lučšie svoi. Tаk i poėt, druz’ja moi; Ροėzija est’dobrodetel’. naš genij lučšij nam svidetel’. Zdes’s slavy čistoj ne najdem – na čto ž iskať? Perenesem Svoi nadeždy v mir potomstva ...

Es wäre eine eigene untersuchung wert, die allein in diesem gedicht (oder, etwas weiter gefasst, in den „dolbino-gedichten“) žukovskijs formulierten gedanken aufzuzeigen, die dann in Puškins bekannten und viel diskutierten poetologischen gedichten der späten 20er Jahre wiederkehren. Wir können das jetzt nicht weiterverfolgen und halten uns nur an den zitierten Auszug mit der Formel slava čistaja. Es scheint, dass Puškin viele Jahre gebraucht hat, bis er sich dazu durchrang, dem Ruf seines Lehrers zu glauben und zu folgen, der ihn k slave čistoj prizyval. Selbst die Wiederaufnahme dieser Worte in dem onegin-Entwurf von 1830 scheint noch nicht ganz das zu ermessen, was žukovskij 1814 mit eben diesen Worten gemeint hatte. Überhaupt zieht sich ja Puškins Auseinandersetzung mit žukovskij, selten an der oberfläche, meist in sehr verhüllter Form, auf jeden Fall aber bedeutsamer als bisher angenommen,52 durch das gesamte Werk des jüngeren dichters. In der Frage des dichterruhms, die nicht die einzige dieses seltsa51 52

Band- und Seitenzahl bezieht sich auf die Ausgabe in vier Bänden, M.-L. 1959. Einen ersten Versuch der zusammenhängenden Würdigung des Verhältnisses beider dichter hat I. EJgES (1941) unternommen. Seither fehlt es an einer Erweiterung und vor allem Vertiefung seiner Erkentnisse.

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men, versteckten dialoges ist, erreicht Puškin offenbar erst im „Pamjatnik“ eine Stufe, die der seines Lehrers von 1814 vergleichbar ist. Er hat sich lange dagegen gesträubt, er hat es sich (und žukovskij) schwer gemacht, aber er hat schließlich eine so gewaltige sprachliche geste gefunden, dass man vergaß nach den Vorstufen und Voraussetzungen zu fragen – oder sie in falscher Richtung suchte.

10 Es mögen hier, gleichsam als Belege für die eben aufgestellte Behauptung, einige Stationen des langen Weges angedeutet werden, den Puškin in der Beurteilung des Ruhmes, besonders des dichterruhmes und damit auch seines eigenen, zurückgelegt hat, bevor dies im „Pamjatnik“ zum hauptthema wurde. In der Schulzeit gehen ihm die konventionellen „klassizistischen“ Formeln, darunter auch die horazische, ebenso wie žukovskijs Prägungen schillerscher Provenienz, leicht von der hand, z. B. in „gorodok“ (1815): (I, 102) Ach, sčastliv, sčastliv tot, kto liru v dar ot Feba Vo cvete dnej voz’met! kak smelyj žitel’ neba on k solncu vosparit, Prevyše smertnych stanet, I slava gromko grjanet: „Bessmerten vvek piit!“ no eju l’ mne gordiťsja? no mne l’ bessmerťem l’stiťsja? (...) kak znať, i mne, byť možet, Pečať svoju naložit nebesnyj Apollon; Sijaja gornim svetom, Bestrepetnym poletom Vzleču na gelikon. Ne ves‘ ja predan tlen’ju; (...)

Immerhin ist der debütant vorsichtig genug, seine (von all seinen gleichaltrigen und älteren Freunden genährten) Ambitionen hinter einer Frage zu verstecken. Puškin ist zu früh berühmt gewesen, als dass er leicht den unterschied zwischen Berühmtheit und Ruhm hätte erkennen können. nach dem ersten Schicksalsschlag, der Strafversetzung in den Süden, wird er der nevernaja Slava gegenüber gleichgültig („del’vigu“, II, 168), ja manchmal undankbar („V. F. Raevskomu“, II, 265–1822), denn auch mit diesem lepetan’e slavy šumnoj kann ja nur aktuelle Berühmtheit gemeint sein. Andeutungsweise taucht der Begriff

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des wahren Ruhmes auf, wo die historische dimension ins Blickfeld tritt; so in der Elegie „k ovidiju“ (1821), dem der Verbannte bekennt (II, 220): ne slavoj, učast’ju ja raven byl tebe;

so auch am Schluss des zweiten onegin-kapitels (1823), wo Puškin das allzu stolze horazische exegi monumentum des Entwurfs wieder streicht und sich statt dessen mit folgendem (anschließend wieder ironisch relativierten) Bekenntnis begnügt: (VI, 49) živu, pišu ne dlja pochval; no ja by, kažetsja, želal Pečal’nyj žrebij svoj proslavit’, čtob obo mne, kak vernyj drug, Napomnil chot’ edinyj zvuk.

XL I č’e-nibuď on serdce tronet (...)

Aber solche töne bleiben vereinzelt. und bezeichnenderweise kommt hier das Wort slava auch nicht vor. Wo es aber steht, ist es meist synonym mit pochvala. das gilt für den etwa gleichzeitig mit dem zweiten onegin-kapitel entstandenen „demon“, in dem Puškin seine vergangene Jugend charakterisiert als die Zeit, (II, 299) kogda vozvyšennye čuvstva, Svoboda, slava i ljubov’ I vdochnovennye iskusstva tak sil’no volnovali krov’.

und das gilt auch noch, obwohl nicht mehr immer eindeutig, für die zahlreichen kritischen bis sarkastischen Stellen, die der slava in den Jahren 1824–25, also nach dem zweiten Schicksalsschlag, der Verbannung nach Michajlovskoe, gelten: (IV, 187) Pevec ljubvi, pevec bogov, Skaži mne: čto takoe slava? Mogil’nyj gul, chvalebnyj glas, Iz roda v rody zvuk beguščij Ili pod sen’ju dymnoj kušci cygana dikogo rasskaz?

(II, 326) Čto slava? šepot li čteca? gonen’e l’ nizkogo neveždy? Il’ voschiščenie glupca?

(cygany – 1824)

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Puškin

(II, 329) Čto Slava? Jarkaja zaplata na bednom rubišče pevca.

(Razgovor knigoprodavca s poėtom – 1824)

Parallel dazu in der „Scena iz Fausta“: (II, 435) A slava ... luč ее slučajnyj neulovim. Mirksaja čest’ Bessmyslena, kak son.

und erst recht in Liebesmadrigalen: (II, 392f) želaju slavy ja, čtob imenem moim tvoj sluch byl poražen vsečasno.

(želanie slavy – 1825)

und Albumversen: (II, 421) Čto slava mira? ... dym i prach. (n. n. pri posylke nevskogo al’manacha – 1825)

In Michajlovskoe gewinnt aber auch die historische dimension, vor allem in Zusammenhang mit der Arbeit am „Boris godunov“ zunehmend an Bedeutung für Puškin. und er sucht auch jetzt wieder klarheit über die eigene Lage zu gewinnen durch vergleichende Identifizierung mit einem früheren dichter und wählt, wie in kišinev ovid, so jetzt – André chénier. diese Wahl lässt auf eine noch tiefere krise schließen, die nur durch die inzwischen stärker ausgebildete Fähigkeit zur objektivität verdeckt wird. Puškin lässt den eingekerkerten dichter am Vorabend der hinrichtung klagen: (II, 399) uvy, moja glava Bezvremenno padet. Moj nedozrelyj genij dlja slavy ne sveršil vozvyšennych tvorenij. Ja skoro ves’ umru.

und die „historische Elegie“ klingt aus mit den Worten: (II, 402) Vot placha. on vzošel. on slavu imenuet ... Plač’, muza, plač’! ...

Zu dem Satz on slavu imenuet macht Puškin die Anmerkung: „An der Richtstätte schlug er sich an den kopf und sagte: роurtant j’avais quelque chose là!“ dieser hinweis ist für unser thema insofern wichtig, als er Puškins Assoziation

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von glava/golova und slava belegt, Ruhm also als eine Funktion geistiger größe ausweist. damit harmoniert die Erkenntnis, dass für den wahren Ruhm, der auch im Angesicht des todes Bestand hat, vozvyšennye tvorenija erfordert werden. dies drückt Puškin in anderer Weise und persönlicher in dem Jubiläumsgedicht des gleichen Jahres, „19oe oktjabrja“ aus, in der seinem Freund del’vig gewidmeten 12. Strophe, wo es heißt: (II, 427) no ja uže ljubil rukopleskan’ja Ту, gordyj, pel dlja muz i dlja duši; Svoj dar kak žizn’ ja tratil bez vniman’ja, ty genij svoj vospityval v tiši.

diesem Eingeständnis folgt die Einsicht: Služen’e muz ne terpit suety; Prekrasnoe dolžno byť veličavo.

die Annäherung an žukovskijs Position ist deutlich, wenn auch noch ganz auf das ästhetische beschränkt. Seltsam zwischen Ironie und tieferer Bedeutung schwankt dann, 1826, noch in Michajlovskoe geschrieben, die „positive“ Variante von Lenskijs denkbarem geschick, falls er nicht im duell gefallen wäre – in der 37. Strophe des VI. kapitels: (VI, 133) Byť možet, on dlja blaga mira Il’ сhot’ dlja slavy byl rožden;

wobei es unklar bleibt, ob die anschließend aufgezählten Möglichkeiten mehr dem blago mira oder mehr der slava zuzurechnen sind. die im Entwurf folgende 38. Strophe enthält dann die auf Lenskij nicht mehr passende Variante des weltlichen Ruhms in desillusionierender Bitterkeit: (VI, 612) Ispolnja žizn’ svoju otravoj, ne sdelav mnogogo dobra, uvy, on mog bessmertnoj slavoj Gazet napolniť numera uča ljudej, moroča bratij Pri grome pleskov i prokljatij on soveršiť mog groznyj puť, daby poslednij raz dochnuť V vidu toržestvennych trofeev, kak naš kutuzov il’ nel’son, Il’ v ssylke, kak napoleon, Il’ byť povešen, kak Ryleev.

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Bemerkenswert an diesen Zeugnissen ist neben dem aufkeimenden todesthema vor allem das nebeneinander von blago bzw. dobro und slava. Schon im Entwurf zur 34. Strophe des VI. kapitels hatte Puškin ausgerufen: (VI, 411) geroj, buď prežde čelovek!

und dabei auch gleich die Assoziation zu žukovskijs frühen Versen angedeutet mit den Worten der folgenden Zeile: čuvstviteľnosť byvala v mode

und es ist bezeichnend, dass wenig später auch die hoffnung auf den neuen Zaren Ausdruck findet in der Zusammenstellung (III, 40) V nadežde slavy i dobra ...

diese letzten Zitate haben nichts mehr mit dem dichterruhm zu tun; sie gelten dem Staatsmann oder Feldherrn, oder dem Vaterland. Von alledem war natürlich bei patriotischen gelegenheiten oder im Zusammenhang mit dem faszinierenden Phänomen napoleon bei Puškin auch früher schon die Rede gewesen. Bezeichnend für die Zeit nach Michajlovskoe ist aber, dass diese sozusagen allgemeine Variante des Ruhms ihn immer stärker zu beschäftigen beginnt. das mag mit der wachsenden Bedeutung des historischen Bewusstseins für sein Schaffen und sein Selbstverständnis zusammenhängen und auch durch persönliche Erfahrungen jener Jahre mitbedingt sein. Im herbst 1826 war Puškin aus der Verbannung zurückgekehrt, zunächst umjubelt von einer neuen generation der geistigen Elite Moskaus – in dieser Situation war kein Anlass, vom dichterruhm zu reden; er war kein Problem. Bald nach dem ersten Rausch jedoch fühlt sich Puškin wachsendem unverständnis und schließlich, etwa ab 1829, offener und öffentlicher Feindschaft ausgesetzt. Auch in dieser Situation hatte das thema dichterruhm keine Aktualität; nur in einem epigrammartigen Antwortschreiben auf katenins Widmung der „Staraja byl“ taucht slava noch einmal kurz auf, dem von der ungunst des Publikums verfolgten katenin gegenüber besonders ironisch, und wird negativ beschieden. (III, 135–1828) Statt gedanken an Ruhm und nachruhm zu verschwenden, reagiert Puškin mit Abgrenzungen und Standortbestimmungen im Sinne einer Autonomie der ästhetik: so in „Poėt i tolpa“ (III, 141f–1828), wo er mit dem Priestervergleich die schon traditionelle Sakralisierung der dichtung fortführt bis zu dem erstaunlichen Schluss: My roždeny dlja vdochnoven’ja, dla zvukov sladkich i molitv.

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die Abwehrhaltung findet ihren vorläufigen höhepunkt in dem Sonett „Poėtu“ (1830), das gewöhnlich wegen der kunsttheorie der beschließenden terzette zitiert wird. In den Quartetten findet sich aber nicht nur die entschiedene Ablehnung aktueller Berühmtheit: (III, 223) Vorstoržennych росhval projdet minutnyj šum,

sondern auch der hinweis auf die geistige herkunft der Leistung: svobodnyj um, рlody ljubimych dum, und, fast immer vergessen, auf ihre moralische Qualität: podvig blagorodnyj. All das sind Züge, die uns aus unserer raschen Übersicht jetzt schon vertraut vorkommen. neu und kühn (obwohl auf young–deržavin– žukovskij gestützt, aber vom Menschen überhaupt auf den dichter gewendet) ist die Metapher: Ty car’. der dichter ist sich seines außergewöhnlichen Ranges unter den Menschen sehr deutlich bewusst. Sein Sinn für Realität wie für geschichte führt ihn wieder zu Fragen des Verhältnisses und Zusammenhangs von historischer und menschlicher größe. dieses thema, das schon in onegin-Entwürfen des Jahres 1826 angeklungen war (s. o. S. 136), gewinnt erneut gestalt in dem großen dialog-gedicht des Boldino-herbstes 1830: „geroj“. Bevor der eigentliche dialog eröffnet wird, gibt dort der mit dem „dichter“ sprechende „Freund“ eine charakteristik des Ruhmes mit den Worten: (III, 251) da, slava v prichotjach vol’na. kak ognennyj jazyk, ona Po izbrannym glavam letaet, S odnoj segodnja isčezaet I na drugoj uže vidna. Za noviznoj bežať smirenno narod bessmyslennyj privyk; no nam už to čelo svjaščenno, nad koim vspychnul sej jazyk.

In unserem Zusammenhang interessieren an diesem vielschichtigen und noch keineswegs hinreichend erklärten gedicht vor allem zwei Punkte: einmal die eben zitierte chrakteristik des Ruhmes. Aus dem luč slučajnyj der „Scena iz Fausta“ ist eine feurige Zunge geworden, die bald auf dieses, bald auf jenes erwählte Haupt hinabfährt; und „uns ist schon die Stirne heilig, auf der diese (Feuer-)Zunge einmal aufgeflammt ist“. das ganze Bild ist vom Pfingstwunder genommen, von der Ausgießung des heiligen geistes. die Beziehung Ruhm – haupt (slava – glava/čelo) ist so deutlich wie bisher noch nie. die verdeckte Beziehung zum dichter liegt in dem Begriff des Erwähltseins (vgl. z. B. nebom izbrannyj реvес in „druz’jam“ – 1828; III, 89).

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der zweite Punkt ist der moralische Aspekt des heldentums, der wiederum, ganz im Sinne des frühen žukovskij, hervorgehoben, ja gegen eine kleinlich objektive geschichtsschreibung vom dichter wenigstens in seine Welt des schönen Scheins gerettet werden soll: (III, 253) t’my nizkich istin mne dorože nas vozvyšajuščij obman. ostav’ geroju serdce: čto že on budet bez nego? tiran!

das Problem, was legitim als heldentum gelten könne, d. h. wahren Ruhm verdient und dazu moralischer Legitimation bedarf, ist in diesem dialog nicht gelöst, sondern durch die ästhetisch begründete Abwehrgeste nur zurückgedrängt. Weitere fünf Jahre später, und um viele Enttäuschungen reicher, kehrt Puškin zum thema des Ruhmes zurück, aber er wählt nicht mehr einen napoléon als Beispiel, sondern einen Feldherrn, der vom Ruhm übergangen wurde – Barclay de tolly – in dem großen gedicht „Polkovodec“. Auch hier haben wir es, wie bei ovid (1821) oder André chénier (1825) mit einer Identifizierung des dichters mit seinem helden zu tun, obwohl dies im Falle Barclays schwerer zu erkennen ist. Wie in einer neueren untersuchung zurecht gesagt wird, ist das tragische Schicksal Barclays im ‘Polkovodec’ eingebettet in ein kompliziertes System von Assoziationen, die das gedicht in die lange Reihe der Meditationen des dichters über das Verhältnis der zu hoher geschichtlicher Leistung berufenen Persönlichkeit und der ‘Menge’ einordnen.

In der gleichen untersuchung wird hingewiesen auf den dichter im Sonett „Poėtu“, der „verurteilt ist zur Einsamkeit, dem sud glupca i smech tolpy сholodnoj vertraut sind, und dessen Festigkeit und Ruhe erkauft sind um den Preis des Verzichts auf Ruhm im namen der treue gegenüber seiner Berufung“.53 Auch die Formel narod bessmyslennyj als Wiederaufnahme aus „Poėt i tolpa“ (1828) und „geroj“ (1830) bestätigt, dass Puškin auch im „Polkovodec“ in eigener Sache spricht. Seine Erfahrung in den 30er Jahren war ja gerade die allgemeine Ablehnung und das unverständnis des Publikums (einschließlich des jungen Belinskij). diesen Aspekt der biographischen Voraussetzungen auch des „Pamjatnik“ hat nepomnjaščij eindringlich und überzeugend dargestellt.54 Seine darstellung wird bestätigt durch den nachweis von Petrunina (1974, 283f), dass der keim zum „Polkovodec“ in den Zeilen liegt, die den Beschluss bilden sollten: (III, 380) o ljudi! žalkij rod, dostojnyj slez i smecha! žrecy Minutnogo, poklonniki uspecha! 53 54

n. n. PEtRunInA (1974, S. 303). V. nEPoMnJAščIJ (1965).

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wonach in der endgültigen Fassung dann die hinwendung zum Bild des künftigen dichters erscheint. Seit vielen Jahren vom Erfolg verlassen, inmitten von Sorgen, Anfeindungen und Verdächtigungen sich dennoch schmerzlich seines überragenden Ranges bewusst, hat Puškin gelernt, die „Priester des Augenblicks“, die „Verehrer des Erfolges“ gründlich zu verachten, lernt er nun, was schwieriger ist, sie bedauernd (žalkij rod) zu ertragen. Von hier aus gibt es eine direkte Beziehung zur letzten Strophe des „Pamjatnik“, die – solange sie nur „textimmanent“ gelesen wird – so unvereinbar scheint mit der stolzen Bilanz der ersten vier Strophen. dieser Zusammenhang ist offenbar viel konkreter, als man früher schon dann und wann vermutet hatte.55 Petrunina berichtet, dass Puškin seine „Primečanija o pamjatnike knjazju Požarskomu i gr. Mininu“ kurz vor dem 18. August 1836 geschrieben haben muss. Auf der handschrift findet sich eine notiz: Polkovodec. U R. Carja. Wir erinnern uns an das datum der Reinschrift des „Pamjatnik“ – 21. August 1836. Puškin hat sich also in der gleichen Woche auch mit dem „Polkovodec“ wieder beschäftigt.56 Was aber „Pamjatnik“ von allen vorangehenden Aussagen zum Ruhm unterscheidet, ist eben jener positive Aufschwung, den bereits die ersten zwei Zeilen ausdrücken: (III, 424) Ja pamjatnik sebe vozdvig nerukotvornyj, k nemu ne zarastet narodnaja tropa.

das Bild ist so konkret wie transzendent. Wieder benutzt Puškin die Identifizierung als Mittel der Selbstanalyse und Selbstdarstellung, diesmal in der Form des podražanie. Wie einst ovid, dann André chénier, wird nun horaz und zugleich deržavin beschworen, das heißt sowohl das nationale Element wie das klassische Weltniveau. Aber es geschieht mit soviel charakteristischer Abweichung von den Vorbildern, dass ein neues und Eigenes entsteht. dazu trägt gewiss sehr viel das Reimwort der ersten Zeile bei,57 das die religiös-feierliche gestimmtheit herstellt, noch bevor (und auch ohne dass) man sich aller seiner Implikationen bewusst wird; dazu trägt aber auch die zweite Zeile bei, die eine ursprünglich ganz andere tradition auf die gleiche hohe Ebene hebt. Beiden müssen wir noch einige Aufmerksamkeit zuwenden.

55 56 57

So schon Sakulin, vgl. FEJnBERgS Skizze „Pamjatnik“ (1933 = 1976, S. 113). n. n. PEtRunInA (1974, S. 292). Vgl. die treffende charakteristik von h. gRégoIRE (1937, S. 526): „un mot de couleur mystique et byzantine, admirablement choisi pour donner à l’auditeur ou au lecteur slave une sorte d’impression religieuse: nul doute que ce début solennel n’ait beaucoup contribué à faire l’Exegi monumentum de Pouchkine, malgré le juste orgueil commun aux deux poèmes, quelque chose de plus ému et de plus émouvant que l’ode latine“.

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11 horaz hatte sein imaginäres denkmal gekennzeichnet als aere рerennius – „erzüberdauernder“. diese Formel wurde seither in unzähligen Varianten, besonders eindrucksvoll von Shakespeare,58 wiederholt. In die Reihe dieser Wiederholungen gehört auch deržavins spätbarocke Prunkformel čudesnyj, večnyj, worin das erste Wort schwerlich mehr bedeuten sollte als den großartigen, staunenerweckenden Eindruck, den die dichtung auf den Leser – jetzt und in Zukunft – machen würde.59 horaz und alle seine nachahmer umschreiben somit das künftige Überdauern des „denkmals“. Im gegensatz dazu setzt nerukotvornyj einen völlig neuen Akzent: dieses Epitheton sagt nichts über die lange dauer in der Zeit oder über Widerstandskraft gegen zerstörerische naturgewalten. Es spricht stattdessen von der herkunft des denkmals, von der kraft, die es еntstehen ließ. und diese kraft ist ihrem Wesen nach jedem irdischen Zeitbegriff entzogen und jeder naturgewalt übergeordnet; sie ist das außerzeitliche, allschöpferische göttliche, das immer gegenwärtig sein kann. deshalb ist die einzige Bedingung seines Erscheinens eigentlich auch nicht in der Zeitdimension gegeben: solange in der Welt unter dem Monde auch nur ein Dichter lebt, wobei das hier gewählte alte Wort рiit durchaus gleichbedeutend ist etwa mit nebom izbrannyj peveс (III, 89). Auch horaz hatte ausdrücken wollen, dass sein denkmal der Zerstörung zeitlicher und „natürlicher“ gewalten eben deshalb nicht unterliege, weil es geistiger Art ist. Seine nachahmer haben sich, Shakespeare ausgenommen, zumeist nicht viel bei dem denkmal gedacht. Puškin verlegt den grund der unzerstörbarkeit des geistigen denkmals gleichsam um eine Stufe oder dimension zurück, tiefer hinab, näher zum ursprung: sein denkmal ist unerreichbar für zeitliche und materielle Abnutzung, weil nicht nur seine Existenzweise, sondern schon seine herkunft, die Voraussetzung für sein Entstehen, rein geistig ist. diese konzeption ist natürlich in einer Vorstellungswelt geboren, die weiß, dass der geist „wehet von wannen er will“. Mit dem Worte nerukotvornyj ist so die Anmaßung, die man vielleicht sonst aus der ersten Zeile herauslesen könnte, weggenommen: 58

59

FEJnBERg (1933 = 1976, S. 118f) hat auf Shakespeares Sonett nr. 55 hingewiesen, er hätte auch nr. 65 nennen können. der unterschied zu horaz liegt – bei ähnlichen Bildern der (un-)Vergänglichkeit – darin, dass Shakespeare nicht von der eigenen ewigen geltung spricht, sondern von der Verewigung des Besungenen, vgl. die couplets Sonett 55: So, till the judgement that yourself arise, you live in this, and dwell in lovers’ eyes. und Sonett 65: О! none, unless this miracle have might, that in black ink my love may still shine bright. dies ist eine leichte korrektur meiner früher geäußerten Meinung, die Wendung čudesnyj, večnyj enthielte „bei aller Prunkliebe doch auch schon einen hinweis auf die wunderbare herkunft der dichtung“. Ich habe damals (1961, s. o. S. 22) deržavin von Puškin her gelesen.

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der dichter hat zwar das denkmal errichtet, aber er war dabei nur Medium des geistes, dessen Erscheinen ja immer an Stoffliches gebunden bleibt, wie das Erscheinen des göttlichen Antlitzes an das holz, die Leinwand, die Farben des Bildes, wie das Erscheinen von dichtung an die irdische Existenz von dichtern. So leistet das Adjektiv nerukotvornyj für Puškin schon in der ersten Zeile unter anderem auch das gleiche, was horaz am Ende seiner ode ausdrückt mit dem sume superbiam, (...) Melpomene! einer Wendung, deren Religiosität wir nur schwer in uns vertrautere Vorstellungen umsetzen können.60 das Bild des denkmals dient bei horaz dazu, im Bilde der unzerstörbarkeit ewiges Andenken zu veranschaulichen, was ja die Absicht von grabdenkmälern ist. dabei ist aber dauer und Solidität nicht das einzige, was dies imaginäre von konkreten Monumenten unterscheidet. hervorgehoben wird auch die größere höhe, und zwar so stark als irgendmöglich: durch den überbietenden Vergleich mit den Pyramiden. diese waren (und wir können heute, 2.000 Jahre später, sagen: sind) ja auch äußerst langlebig, widerstandsfähig und sehr hoch. Sie sind aber darüber hinaus königsgräber (regalique situ!), also dem Andenken von Besitzern irdischer Machtfülle, ja damals sogar göttlicher Verehrung, gewidmet. dieser gedanke kommt bei den Imitatoren horazens nie so recht heraus, gerade weil sie meist die Pyramiden beibehalten, die ihnen und ihren jeweiligen Volks- und Zeitgenossen nicht das bedeuten konnten, was sie für den Römer horaz bedeuteten, der immerhin noch das fatale monstrum (carm. I, 37, v. 21), die ägyptische königin kleopatra, als tödliche Bedrohung Roms erlebte. diesen kühnen gedanken von der Überlegenheit selbst über mächtigste herrscher hat Puškin in der Schlusszeile der ersten Strophe, dem vyše (...)Alexandrijskogo stolpa, unübertrefflich aktualisiert, vor allem dadurch, dass er eben nicht (wie später, der Zensur zuliebe, sein herausgeber žukovskij) das denkmal eines fremden herrschers ansprach, sondern das des eigenen, heimischen, durch die damals höchste Säule der Welt geehrten Zaren.61 60

61

Zu diesen Schwierigkeiten bei der russischen horaz-Rezeption habe ich (1961, s. o. S. 20 und 21) Beispiele geliefert. Es hat den Anschein, als ob in der Sovetperiode in der Puškinforschung bereits ähnliche Schwierigkeiten auftreten, Vorstellungen zu verstehen, die noch vor wenigen generationen gemeingut waren. gerade die Interpretation von Puškingedichten und besonders unseres Wortes nerukotvornyj hat unter solchem horizontverlust gelitten. Allerdings ist er nicht total, wie u. a. die Arbeit von nEPoMnJAščIJ (1965, z. B. S. 139) zeigt. Aber die kritik dieser Arbeit durch BLAgoJ (1966) zeigt auch, wie solcher horizontverlust offiziell erwünscht ist. In der umfangreichen diskussion über den Alekandrijskij stolp ist meines Wissens bisher eine Quelle gar nicht berücksichtigt worden, M. P. PogodIn hat in seinem tagebuch, das er als Student führte, getreulich alles notiert, was er von Puškin gelesen, wie er es beurteilt und mit n. I. turgenev, Merzljakov und anderen darüber diskutiert hat. Außerdem fragt er alle Bekannten Puškins aus, die er erreichen kann. Eine solche gelegenheit, bei der er im hause von A. Vsevoložskij mit d. V. davydov zusammentraf, notiert er unter dem 16. oktober 1822. dort stehen zwischen anderen fragmentarisch andeutenden Sätzen über Puškin wie von Puškin geäußerten auch die Worte: Aleksandrijskie stichi – imperatorskie. der herausgeber (vgl. cJAVLoVSkIJ, 1951, S. 361) vermutet, dass es sich um einen im

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Ebenfalls noch aus dem Bilde des denkmals, vielleicht sogar aus dem der Alexandersäule62 ableitbar, aber über horaz und deržavin weit hinausgehend ist die Vorstellung von dem unbeugsamen Hauptе, die wiederum aktuelle, nationale und autobiographische Assoziationen nahe legt. nepomnjaščij hat im Zusammenhang mit der religiösen komponente von nеrukotvornyj sogar an die Spezialbedeutung von glava = Kirchenkuppel gedacht; wir können, vorsichtiger, uns erinnern an die seit der Elegie „André chénier“ belegbare Verbindung von slava und glava und auch in diesem Bilde eine Bestätigung für die geistige natur des denkmals erblicken, die ihrem Wesen und ihrer herkunft nach irdischen gewalten gegenüber nepokornaja ist. damit ist eine innere Parallelität der beiden Reimwörter gegeben, die die geistkomponente tragen, im gegensatz zu den irdisch-materiellen Reimwörtern der kürzeren Zeilen: tropa – stolpa. So kühn und neuartig die Bestimmungen und Entwicklungen des Bildes vom denkmal auch sein mögen, die bisher erörterten liegen doch irgendwie noch in der von horaz angedeuteten Richtung. nicht mehr von horaz und schon gar nicht von seinen nachahmern herzuleiten ist aber das Bild der zweiten Zeile. Zwar liegt der gedanke des nichtvergessenwerdens auch horazens Formulierungen zugrunde, aber in der positiven und auch grammatisch nur auf den dichter selbst bezogenen Form von сrescam laude recens, dum ... und dicar, quа ... demgegenüber führt das Bild vom Pfad die gedenkenden selbst mit ein und aktiviert sie. das Bild als solches entstammt der tradition der „poésie des tombeaux“ und fügt sich nur dadurch so ungezwungen an die erste Zeile an, weil раmjatnik, ebenso wie monumentum, eben grabdenkmal bedeutet. dies hat M. P. Alekseev auch für die russische Literatur zwischen 1790 und 1840 mit zahlreichen Beispielen belegt. Innerhalb dieser tradition gewinnt das Bild vom (mehr oder weniger) zuwachsenden Pfad mit der Zeit einen festen Platz. Es dient zur darstellung des Andenkens, das die Überlebenden an einen Verstorbenen – mehr oder weniger lange, oder auch gar nicht – bewahren. Bei dem Verstorbenen handelt es sich zumeist um einen Jüngling, der früh „verwelkt“ ist und in aller Regel ein dichter war – nicht selten stilisiert der Autor unter diesem Bilde sich selbst. Ausgangspunkt dieser „Elegienmode“ ist sicher, in Fortführung youngscher „nachtgedanken“ grays „Elegy Written in a country churchyard“ (1750). Ihr

62

gespräch geäußerten Satz Puškins handele. kolportiert wird er offenbar von denis davydov, der Anfang Februar 1821 noch mit Puškin in kiev zusammen gewesen war (cJAVLoVSkIJ, 1951, S. 275). Selbst wenn es sich um nicht mehr als ein Wortspiel handeln sollte, wie sie der Familie Puškin „im Blut“ (XIII, 159) lagen, ist die Assoziation von aleksandrijskij und imperator von Puškins Freunden goutiert und daher weiterverbreitet worden. Vielleicht glaubte žukovskij auch deshalb, bei der Publikation vertuschend eingreifen zu müssen. Für uns ist es schwer zu entscheiden, ob eine ägyptische deutungsmöglichkeit von Puškin als tarnung beabsichtigt war, oder ob er ganz eindeutig die Alexandersäule benennen wollte. dass er sie gemeint hat, bestätigen uns als kompetente Zeugen sowohl žukovskij als auch gogol’, (vgl. M. P. ALEkSEEV, 1967, S. 12f). Vgl. FEJnBERg (1933 = 1976, S. 117), kEIL (1961, S. 194, Anm. 26, s. o. S. 27).

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folgt in allen europäischen Literaturen mit mehr oder weniger Verspätung63 ein kometenschweif von Übersetzungen und nachahmungen, von denen einige ihrerseits wieder internationale Berühmtheit erlangen, wie die „chute des feuilles“ von charles-hubert Millevoye (1782–1816). In Russland erlebt diese gray-nachfolge ihren ersten künstlerischen höhepunkt in žukovskijs nachdichtung der berühmten Elegie (1802). Alsbald versucht sich žukovskij auch in eigenem namen in diesem genre, wenn er z. B. in der Schlussstrophe seiner Elegie „Večer“ (1806) sagt: (žuk. I, 49) tak peť est’ moj udel ... no dolgo l’? ... kak uznat’? Ach! skoro, možet byť, s Minvanoju unyloj Pridet sjuda Al’pin v čas večera mečtať nad tichoj junoši mogiloj.

hier deuten die namen Minvana und Alpin auf die gleichzeitige ossian-Mode. Auch bei ossian gab es ja reichlich grabsteine, und sie waren oft mit gras und Moos überwachsen, aber es fehlte dort noch das Bild des Pfades, das sich eher auf zivilisierteren Friedhöfen einstellen konnte. Wenn z. B. gnedič 1809 in dem gedicht „na grobe materi“64 den vernachlässigten Zustand dieses grabes beschreibt, so klingt das absolut realistisch, aber vielleicht ist doch ein gut teil literarischer Stilisierung dabei (und vielleicht beruhte ja auch Macphersons Erfolg auf der Vorstellbarkeit seiner Bilder?). Wie dem auch sei, gegen 1815 wird der Pfad zum grabmal gemeingut der russischen Elegiker. An erster Stelle stehen da die nachfolger von Millevoye, der in dem erwähnten gedicht gesungen hatte: tombe, tombe feuille éphémère! Voile aux yeux ce triste сhemin, cache au désespoir de ma mère La place où je serai demain. (...)65

In den sonst ziemlich getreuen nachbildungen von Milonov (1819) 66 und 63

64 65

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Später noch als nach Russland drang die Mode nach Italien, wo sie u. a. von Pindemonte eingeführt wurde, dessen name (in der von Sismondi verfälschten Schreibweise) Puškin 1836 zur tarnung eigener Verse diente. In diesen Versen findet man die dem „Pamjatnik“ zeitlich nächste Interpretation dessen, was Puškin 1836 unter svoboda verstand. Zu Pindemonte vgl. M. P. ALEkSEEV, 1967, S. 156. n. I. gnEdIč (1956, S. 73f). Zitiert nach MILLEVoyE (1837, S. 31). Im Zusammenhang mit der später zu erwähnenden Stilisierung von Lenskijs grab seien auch noch die Schlussverse dieser Elegie zittert: Mais ce qu’il aimait ne vint pas Visiter la pierre isolée: Et le pâtre de la vallée troubla seul du bruit de ses pas Le silence du mausolée. Abgedruckt in „Poėty načala XIX veka“ (1961, S. 546f).

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Baratynskij (1821)67 fehlt allerdings der chemin. Aber schon 1815 hatte Batjuškov eine freiere nachahmung geschrieben unter dem titel „Poslednjaja vesna“, worin er die ursprünglichen herbstblätter in Frühlingsblüten verwandelt, die aber eine ähnliche Funktion haben: Zakrojte раmjatnik unylyj, gde prach moj budet istlevať; Zakrojte put’ k nemu soboju ot vzorov družby navsegda.68

Ebenfalls 1815 schrieb žukovskij seine Elegie „Slavjanka“ – in der gleichen Strophe übrigens wie den „Večer“ von 180669 – benannt nach einem Bach in der Sommerresidenz Pavlovsk. Mittelpunkt der stimmungsvollen Beschreibung 67

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BARAtynSkIJ (1957, S. 89f) Sowohl Milonovs wie Baratynskijs Übersetzungen haben die Überschrift „Padenie list’ev“. k. n. BAtJuškoV (1964, S. 190 f) Als Puškin, vermutlich in den 30er Jahren, Batjuškovs gedichte noch einmal kritisch durchsah, vermerkte er zu dieser Elegie am Rande: čert znaet čto takoe neben den hier zitierten Zeilen und unter dem ganzen gedicht: Neudačnoe podražanie Millevoуе (XII, 263). Ju. BoJko-BLochyn (1971, S. 88) hat bedauert, dass M. P. ALEkSEEV „die Fragen der Verstechnik von ‘Pamjatnik’ nur beiläufig berührt“. Auch zur Form der Strophe findet sich nur die Feststellung, dass die gleiche Strophenform außer im „Pamjatnik“ nur einmal, in zwei Strophen des gedichts „napoleon na Ėl’be“(1815), von Puškin verwendet worden sei. (M. P. ALEkSEEV, 1967, S. 121). das ist dahingehend zu ergänzen, dass es 1815 und 1818 noch je ein einstrophiges gedicht dieser Form gibt (I, 138 – „Moja ėpitafija“ und I, 340 – Sčastliv, kto, bliz tebja, ljubovnik upoennyj). toMAšEVSkIJ, auf den sich Alekseev beruft, und der auch diese Belege bringt (1958, nr. 24 der Liste einstrophiger gedichte), hat in der gleichen Arbeit auf den elegischen charakter der Strophe aus drei Alexandrinern und einem vierfüßigen Jambus hingewiesen (1958, S. 75–76), in der die Abfolge der katalektik umgekehrt ist, wie in der Strophe des „Pamjatnik“. hierzu gehören u. a. die beiden oben zitierten Elegien žukovskijs „Večer“ und „Slavjanka“. Ein Zusammenhang mit „Pamjatnik“ ist nicht ganz ausgeschlossen, besonders im zweiten Falle (s. Anm. 70). tomaševskij schreibt weiter zur Strophe des „Pamjatnik“ (1951, S. 77): „Es ist nicht klar, ob Puškin sich auf eine russische tradition stützte. „ In der tat ist diese Strophenform selten. Es gibt aber zwei Beispiele bei Jazykov: ein gedicht an die dichterin Α. Α. Fuks (1834), bei der Puškin im Sept. 1833 auf der durchreise durch kazan’ freundlich aufgenommen worden war (L. A. čEREJSkIJ – 1975, S. 448), das zweite an BARAtynSkIJ (1836). Beide gedichte waren im „Moskovskij nabljudatel’“ abgedruckt, das erste 1835 in heft 2, das zweite im April 1836 in heft 1 (vgl. n. M. Jazykov – 1964, SS. 335, 348f, 652, 655). Puškin kannte den dichter und beide Adressaten persönlich und schätzte sie. die gedichte können ihm also nicht gleichgültig gewesen sein. Besonders das an Baratynskij gerichtete musste Puškin 1836 anrühren. Es handelt sich um eine Ermunterung Jazykovs an Baratynskij, der über ein Versiegen seiner poetischen Inspiration geklagt hatte. Jazykov rät ihm, sich aufs Land zurückzuziehen, dann werde seine Leier in Freiheit und Ruhe wieder erwachen, dann werde er mit seinem erneuerten Ruhm bewirken, dass der chor der neuen Sänger verschwindet wie Schnee vor dem Feuer. das alles sind gedanken, die Puškin sehr vertraut waren, vor allem: Svoboda i pokoj, chraniteli poėta (S. 349) was fast ein Selbstzitat aus dem ersten gedicht war, wo es hieß: Svobodu i pokoj daruet nam Parnas. (S. 335) dies war ganz im Sinne von Puškins Stoßseufzer „Роrа, moj drug, роrа! pokoja serdce prosit“ (1834?) mit der Zeile na svete sčasťja net, no est’ pokoj i volja. (III, 330) Auf die Bedeutung des auch in diesem Puškin-gedicht wiederholten Fluchtmotivs hat V. nEPoMnJAščIJ (1965, S. 136ff)

nerukotvornyj

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sind zwei im dortigen Park von dem Bildhauer Martos70 errichtete gedenkstätten für Paul I. und seine frühverstorbene tochter Alexandra. der dichter nähert sich bei seinem gang durch den Park zuerst dem tempelchen, das der Erinnerung an den Zaren gewidmet ist: (žuk. I, 261) I vdrug pustynnyj chram v diči peredo mnoj; Zaglochšaja tropa; krugom kusty sedye; Meždu bagrjanych lip černeet dub gustoj I dremljut eli grobovye.

Schon 1816 nimmt auch Puškin das Bild und die Formel auf. das Fragment „Son“ beginnt: (I, 184) Puskaj poėt s kadil’nicej naemnoj gonjaetsja za sčasťem i molvoj, Mne strašen svet, prochodit vek moj temnyj V bezvestnosti, zaglochšeju tropoj.

Wie wenig ernst das auch gemeint war, bezeichnend ist die Assoziation bezvestnost’ – zaglochšaja topa. Auf das eigene grab bezogen erscheint das Bild dann 1817 in der Lyzeums-Fassung des gedichtes „k del’vigu“71: (I, 412) čto nuždy, proživu v bezvestnoj tišine; Potomstvo groznoe ne vspomnit obo mne, I pamjatnik pevca, v pustyne mračnoj, dikoj, Zabven’ ja porastet polzučej povilikoj.

ganz deutlich wird der emblematische charakter dieses Bildes in der Anrede des Ruslan an das stumme Schlachtfeld: (IV, 42) v. 184 Začem že, pole, smolklo ty I poroslo travoj zabven’ja? ...

(vor 1820)

gleichzeitig geht die Variation von Millevoye in der Elegiendichtung weiter.

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hingewiesen. So konnte es Puškin nicht gleichgültig sein, wenn einem anderen dichter als heilmittel das angeraten wurde, was er selbst so dringend ersehnte. Übrigens ist auch das Verhältnis Puškin – Jazykov, zumal was die dichtungen beider angeht, noch kaum erforscht. Auch mit dem Bildhauer Martos war Puškin persönlich bekannt. Außerdem wurde er gerade im August 1836 an den im Vorjahr verstorbenen künstler erinnert, als er seine Anmerkung über dessen Minin-Požarskij-denkmal schrieb (vgl. o. S. 139 und Anm. 56). Er mag sich bei dieser gelegenheit auch an žukovskijs „Slavjanka“ erinnert haben. Über Martos vgl. L. A. čEREJSkIJ (1975, S. 240). Vgl. M. P. ALEkSEEV (1967, S. 150).

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Allein im heft der „Poljarnaja Zvezda“ auf das Jahr 1824 sind zwei Varianten von Autoren vertreten, mit denen Puškin persönlich bekannt war. Sein Freund Pletnev wendet Batjuškovs Blumenversion ins Positive in der Elegie „Pervye cvety“, an deren Ende es heißt: no dolgo sled k ee grobnice Gustoj travoj ne zarostal.72

dagegen beschließt S. d. nečaev seine „Sirota“ verzweifelt: no ne mogla v trave vysokoj Sledov mogily otyskat’.73

Alle diese gängigen Vorstellungen74 hat Puškin dann zusammenfassend und leicht parodistisch wiederaufgegriffen in den beiden Beschreibungen von Lenskijs grabmal, indem er dort sogar den einzigen Besucher des grabes, den russifizierten Millevoyeschen hirten, auftreten lässt. uns interessiert vor allem die zweite Stelle, im VII. kapitel, Strophe 7 (VI, 142): no nyne ... рamjatnik unylyj Zabyt. K nemu privyčnyj sled Zagloch. Venka na vetvi net.

(1827)

Mit Lenskij ist der stilisierte elegische dichterjüngling in sein ebenfalls stilisiertes grab gesunken. Später scheint Puškin, bei zunehmender Intensität der todesgedanken (nicht mehr als ėlegičeskaja zateja – VI, 136), die wuchernde Vegetation in der umgebung eines (seines) grabes eher als beruhigendes Element empfunden zu haben, wie schon 1829 die letzte Strophe des gedichts „Brožu li ja ...“ zeigt: (III, 195) I pusť u grobovogo vchoda Mladaja budet žizn’ igrať, I ravnodušnaja рriroda krasoju večnoju sijať.

In dem Fragment „Vnov’ ja posetil ...“ (1835) sollen die Bäume sogar die Erinnerung an den Verstorbenen wecken (III, 400), und ganz ähnlich klingt der Vergleich zwischen dem engen, überladenen Stadtfriedhof und dem geräumigen, schmucklosen dorffriedhof aus: (III, 422f) na mesto prazdnych urn i melkich piramid, Beznosych geniev, rastrepannych charit 72 73 74

„Poljarnaja Zvezda“ (neudruck 1960, S. 303). Ibid. S. 437. Von den Beispielen, die M. P. ALEkSEEV im 9. Abschnitt seines Buches bei gelegenheit von раmjatnik erwähnt, ist besonders nah an Puškins späterer Wendung die Formulierung von Vl. VLAdISLAVLEV von 1827. (M. P. ALEkSEEV, S. 148).

nerukotvornyj Stoit široko dub nad važnymi grobami, kolebljas’ i šumja ...

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(1836)

die Stilisierung im geschmack der „poésie des tombeaux“ ist nüchternstem Realismus gewichen. um so überraschender kommt, nur tage nach diesem Friedhofsvergleich75 das feierliche Pathos des „Pamjatnik“ und vor allem der Rückgriff auf das Elegienmotiv – aber was hat Puškin daraus gemacht! k nemu ne zarastet narodnaja tropa!

genau wie in der ersten Zeile die uralte horazische tradition durch ein einziges Epitheton erfrischt, vertieft, erweitert und in das heimische geistige klima verpflanzt wurde, geschieht all das mit der viel jüngeren elegischen tradition durch ein einziges Epitheton: narodnaja tropa! Wieder sind die dimensionen räumlich und zeitlich unendlich ausgedehnt gegenüber dem intim-melancholischen horizont der Elegiker: anstelle von Wochen oder Monaten reicht der Blick in eine (später mit dolgo nur sehr undeutlich benannte) Zukunft; an die Stelle der Mutter, des geliebten oder bestenfalls einiger Freunde, die das Andenken des Verstorbenen noch ehren, tritt das Volk, dessen Pilgerfahrt zu dem geistigen denkmal nicht langsam versiegt, sondern zu einem immer größeren Strome anschwillt. So ist mit den beiden in traditionelle Bilder eingeführten neuen Adjektiven nerukotvornyj und narodnyj das Wesen der großen dichtung benannt in ihrem ursprung aus göttlichem geist und ihrer Wirkung durch das Fortleben im Bewusstsein der Menschen. Von diesen beiden Existenzbedingungen der dichtung aus ist alles, was sonst in dem gedicht zur Sprache kommt, zu verstehen, auch die vierte Strophe mit ihrer moralischen dimension, deren notwendigkeit sich aus der Läuterung des Ruhmesbegriffs zur slava čistaja ergibt; auch die fünfte Strophe, in der der dichter sich selbst angesichts der schier erdrückenden gemeinheit und torheit seiner umgebung zur gelassenheit rät, nachdem er sich des überzeitlichen Wertes seines Werkes (muza) gewiss geworden ist. und wenn wir oben die geistbestimmten Reimwörter nerukotvornyj und nepokornyj den materiellen tropa und stolpa gegenübergestellt hatten, so können wir nun erkennen, dass selbst die tropa hier nicht materiell ist, einmal wegen des Bildes, in dem sie erscheint, zum andern durch das Epitheton narodnaja, in dem sich, im Sinne des romantischen Volksbegriffs, weit mehr eine geistige größe als irgend etwas Materielles oder Quantitatives ausdrückt. Somit bleibt als einziger Vertreter der stumpfen und vergänglichen Materie in der ersten Strophe der Aleksandrijskij stolp zurück, durch das metrische Muster der Zeile und den Reim in spürbarer Parallele zu dem glupec der Schlusszeile.76 damit 75

76

„kogda za gorodom zadumčiv ja brožu“ (III, 422f) ist im MS datiert: 14. August 1836 (III, 1270), eine Woche vor der Reinschrift von „Pamjatnik“, wenige tage vor dem Entwurf. Auf die metrische Parallele hat schon W. LEdnIckI (1956, S. 95) hingewiesen. dieser hinweis zumindest ist nicht „reine Fantasie“, wie ALEkSEEV (1967, S. 76) meint.

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wird deutlich, dass jene abschließende Aufforderung, nicht mit toren zu rechten, eben auch aus der anfänglichen Beschwörung der unendlichen Überlegenheit des geistig Ewigen über das Materiell-Zeitliche resultiert, welch erdrückende Übermacht dieses auch im konkreten Augenblick zu haben scheint. Erst die letzte Strophe, die den stärksten Reflex der bedrückenden Lebensumstände des dichters im Sommer 1836 darstellt, gibt den tragischen hintergrund ab für die großartigkeit der vorangehenden Selbstaussagen und Prophezeiungen. Erst die letzte Strophe, hervorgehoben noch durch ihre unerwartete Stellung als Antiklimax, lässt die ganze Ernsthaftigkeit dieses trotzigen dennoch spüren. dabei liegt die Verbindung zwischen der strahlenden Eröffnung und dem tragischen Finale in den Worten nerukotvornyj und velen’e Božie,77 die die Begnadung und die Bürde des dichterlebens umschreiben, weder in klassizistischen noch in sentimentalen Formeln, sondern in der dem Russen der ersten hälfte des XIX. Jahrhunderts, und das heißt auch: dem orthodoxen Russen, vertrauten und angemessenen Sprache.

12 Es bleiben zwei Fragenkreise zu besprechen: erstens, die oft erörterte und umstrittene Frage nach der Religiosität Puškins oder zumindest nach Vorhandensein und Rolle der Religiosität im „Pamjatnik“, und zweitens die Frage nach dem weiteren Schicksal unseres Wortes. Überraschenderweise hängen beide Fragen eng zusammen. Von der geschichte des Wortes her gesehen wird deutlich, dass sein Auftauchen in nichtkultischen texten erstmals im letzten drittel des XVIII. und zu Anfang des XIX. Jahrhunderts stattfindet. dies ist kein Zufall. Es ist nur ein kleiner Beleg für eine umfassende tendenz der (zumindest verbalen) Sakralisierung der kunst und vor allem der dichtung im gefolge von Sturm und drang, klassik und Romantik und deren Reflexen außerhalb deutschlands. diese tendenz wird gegenläufig begleitet von der Säkularisierung weiter Bereiche des öffentlichen und gerade auch des geistigen Lebens. Vermutlich muss diese Säkularisation kausal und chronologisch vorausgegangen sein. „Jede Säkularisation hat ihre Sakralisation“ heißt es in einer neueren untersuchung „zum Verhältnis von theologie und dichtung nach der Aufklärung“78. dem gleichen Buch möchte ich noch zwei thesen entnehmen, die auch ein gewisses Licht auf die Verwendung religiöser Bilder und termini bei Puškin werfen könnten. dorothee Sölle stellt fest: (1.) „das Sprachmaterial der Bibel spielt in der abendländischen Literatur bis in die gegenwart eine bedeutende Rolle, die gänzlich unabhängig ist von der weltanschaulichen konfession des dichters.“ 77 78

Vgl. nEPoMnJAščIJ (1965, S. 143f). dorothee SöLLE (1973, S. 78).

nerukotvornyj

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(2.) „Zitat, Anspielung, Motiv und Figuration, Symbolik und vor allem Stil, der von der Bibel in Wortschatz, Syntax und Rhythmus geprägt ist, stellen einen Reichtum der Bezüge her, der sich kaum auf einlinige Interpretationsformeln bringen lassen kann.“ (S. 93f) diese für die untersuchten deutschen Autoren des XVIII. bis XX. Jahrhunderts sicher zutreffenden Feststellungen können nur mit einigen Einschränkungen und korrekturen auf russische Verhältnisse übertragen werden. So ist die geistige Präsenz der Bibel im orthodoxen Bereich sehr lange Zeit auf die Psalmen beschränkt, dagegen spielen außerbiblische kultische texte eine bisher noch nicht untersuchte Rolle (s. u. Anm. 27–29). die Bibel in ihrer gesamtheit und vor allem das neue testament gewinnen erst in der nachfolge des deutschen Pietismus, d. h. seit dem letzten Viertel des XVIII. Jahrhunderts, langsam an Bedeutung. All das ist kaum oder gar nicht untersucht und von der Literaturgeschichtsschreibung im XIX. und im XX. Jahrhundert aus wechselnden Motiven ignoriert worden. diese fehlenden Vorarbeiten können nicht im Rahmen eines Aufsatzes nachgeholt werden. Immerhin wird man aber auch für russische Verhältnisse (die oft westeuropäische spiegeln) der these vom Zusammenhang von Säkularisation und Sakralisation ebenso zustimmen können wie einer anderen these von d. Sölle: „Emanzipation von geistlicher herrschaft bedeutet ästhetisch Autonomie der kunst“ (S. 77)79 und ebenso wie „Säkularisation als wortbildende kraft (...) epochal begrenzt“ ist – „man wird nicht fehlgehen, wenn man sie der frühbürgerlichen Epoche und ihrem Emanzipationskampf zuweist“ (Sölle, S. 77) – gilt diese epochale Begrenzung auch für die Sakralisation als wortumdeutende kraft. Auf russische Verhältnisse bezogen (wo allerdings nicht von frühbürgerlicher als vielmehr von aristokratischer Epoche die Rede sein müsste), heißt das, dass das Auftauchen z. B. unseres Wortes nerukotvornyj in nicht kultgebundenen texten zwischen 1770 und 1840 ein durchaus den geistigen Zeittendenzen entsprechender Vorgang ist. Wie viel wahre Religiosität damit bei jedem einzelnen Autor verbunden ist, muss von Fall zu Fall untersucht werden. Sehr viel hängt dabei auch davon ab, was man unter Religiosität versteht.80 töricht ist es jedenfalls, Religiosität gleich79

80

Zum kausalzusammenhang von Emanzipation der kunst (nicht nur von geistlicher herrschaft sondern auch von einer fest umrissenen Rolle innerhalb einer relativ geschlossenen gesellschaft) mit der Entwicklung des l’art pour l’art vgl. meinen Aufsatz „der Fürst und der Sänger“ in diesem Band, besonders S. 63f. der amerikanische Psychoanalytiker Erich FRoMM gibt z. B. folgende definition: „Wie ich den Begriff ‘religiös’ hier verwende, bezeichnet er weder ein System, das notwendiger weise mit einem gottesbegriff oder mit Idolen operiert noch gar ein System, das den Anspruch erhebt, eine Religion zu sein, sondern jedes von einer Gruppe geteilte System des Denkens und Handelns, das dem einzelnen einen Rahmen der Orientierung und ein Objekt der Verehrung bietet. In diesem weit gefassten Sinn ist in der tat keine gesellschaft der Vergangenheit, der gegenwart und selbst der Zukunft vorstellbar, die nicht „religiös“ wäre (1977, S. 133). In diesem Sinne spricht Fromm dann auch von der „industriellen“ Religion: „Sie reduziert die Menschen zu dienern der Wirtschaft und der Maschinen, die sie mit ihren eigenen Händen gebaut haben (hervorhebung von mir – R.-d. k.) und a. a. o. von der

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zusetzen mit dem expliziten Bekenntnis zu einer bestimmten „positiven“ Religion oder gar mit Zustimmung zur gleichzeitigen staatskirchlichen Praxis, was in sovetischen Arbeiten immer wieder geschieht und in unserem Fall zu den geradezu lächerlichen Anstrengungen führt, die kultgebundene Herkunft des Wortes nerukotvornyj hinwegzuinterpretieren. Andererseits heißt religiös, selbst wenn man es nicht so eng fasst, noch nicht unbedingt christlich.81 und auch wenn man erkennt und anerkennt, dass Puškins authentische äußerungen zu christlichen grundhaltungen und zum neuen testament von tiefer Einsicht und hoher Achtung zeugen,82 selbst wenn man berücksichtigt, wie viele seiner Arbeiten gerade im Jahre 1836 christlichen themen gewidmet sind, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die primäre religiöse Erfahrung für ihn in seinem dichtertum lag, in dem, was er zuweilen salopp ėta dur’ (XV, 83) bzw. drjan’(VIII, 264), stilisiert božestvennyj glagol (III, 64) oder ähnlich nannte. Es ist – gerade bei seinem überaus feinen sprachlichen gewissen – sehr wahrscheinlich, dass ihm die sakralen Worte, die in seiner Zeit (beginnend mit karamzins „Poėzija“, neu rezipiert im Sinne Schellings in den 20er Jahren von den Ljubomudry) in allgemeinem gebrauch waren, persönlich, zumindest ab etwa 1825, wirklich sehr viel und subjektiv „heiliges“ bedeuteten.83 der entscheidende gegensatz zu seinem verehrten Lehrer žukovskij lag offenbar gerade darin, dass Puškin die Erfahrung des heiligen der kunst verdankte, während žukovskij die kunst erst durch den dienst am heiligen (der positiven Religion) gerechtfertigt sah, wiewohl beide in ihrer poetischen Praxis nicht ohne Inkonsequenzen auskamen. gilt das bisher zum thema Sakralisation gesagte grundsätzlich für jeden dichtungs-metaphorischen gebrauch ursprünglich sakralen Vokabulars, so nimmt das Wort nerukotvornyj innerhalb dieses Vokabulars wiederum eine Sonderstellung ein, und zwar in mehrfacher hinsicht. Erstens ist es zum unterschied von der gängigen Metaphorik (z. B. izbrannik, veščun, prorok, žrec u. ä. für den dichter,

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„kybernetischen“ Religion, an der am auffallendsten sei, „dass sich der Mensch selbst zum gott gemacht hat, da er inzwischen die technischen Fähigkeiten zu einer ‘zweiten Erschaffung’ der Welt besitzt, die an die Stelle der ersten Schöpfung des gottes der traditionellen Religion getreten ist.“ (o. c., S. 143 und 149). Eine so allgemeine Religiosität ist natürlich in der debatte um den Sinn des „Pamjatnik“ von niemand gemeint. Bemerkenswert scheint mir aber, dass der Begriff des mit den eigenen Händen Gemachten gerade in einer so grundsätzlichen modernen kritik unseres Weltzustandes auftaucht. die Verbindung zu der sovetischen neubelebung von rukotvornyj, diesmal mit positivem Vorzeichen, gehört genau in diesen Zusammenhang (s. u. S. 152f). dies scheint Budich anzunehmen, der meine Formulierung über „die tiefe Religiosität, den letzten Ernst vor dem tode“ (kEIL, 1961, s. o. S. 50) entkräften will mit der Bemerkung: „schließlich soll ihn seine Lyra bzw. Muse davor bewahren, ganz zu sterben, nicht das kreuz“ (1974, S. 39). unter den Prosaschriften ist vor allem zu denken an „Putešestvie v Arzrum“ (1829/35) mit dem gedanken der Mission als besserem Weg zur Befriedung der tscherkessen (VIII, 449), sowie an die Einleitung zur Rezension von Pellicos „I miei prigioni“ (XII, 99) – 1836. In diesem Zusammenhang sind manche der gedanken von S. L. FRAnk über Puškins Religiosität (1933 = 1957) genauerer Überprüfung wert.

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реsnopenie, dar/reč’/glagol/ /jazyk bogov, proročestvo, molitva u. ä. für die dichtung) ein sehr viel eindeutiger christlich gefärbtes Wort; zweitens ist es im gegensatz zu den Sakralwörtern der antiken, klassizistischen und romantischen tradition westlicher Provenienz ein typisch orthodoxes und damit national-russisches Wort; drittens ist es durchaus selten, ja für das Bewusstsein der gebildeten praktisch einmalig geblieben und damit für immer mit Puškins namen verknüpft. diese Einmaligkeit ist gewiss auch nicht zufällig. Wie wir gesehen haben nimmt dies Wort in der tat eine geistesgeschichtliche Sonderstellung ein. Seine griechischen Ahnen markierten bereits einen zentralen Bereich alttestamentlicher theologie, an ihnen wurde der entscheidende Bruch deutlich, der das neue testament vom Alten absetzt, an ihnen spiegelt sich ein wesentliches Element des Schismas zwischen westlichem und östlichem christentum. Im slavischen Bereich wurde nerukotvornyj ein Zentralbegriff für die mit der Ikonenverehrung verbundene Volksfrömmigkeit. Schließlich reflektiert dies Wort – als einziges, das der bodenständigen Religiosität entstammt – die Zeittendenz der nach der Aufklärung einsetzenden Sakralisierung der kunst. diese allgemeine Zeittendenz wird in der außergewöhnlichen Wortverwendung durch Puškin (nach dem Vorgang žukovskijs) bedeutsamer als in der weithin klischeehaften Verwendung sakralen Vokabulars durch die Zeitgenossen, insofern Puškin eben jedes Wort in der ganzen Fülle seiner Bedeutung ernst nimmt. Seine Wahl von nerukotvornyj dokumentiert die im Wesen religiöse Ehrfurcht, die er seiner eigenen dichtergabe gegenüber, zumindest in den 30er Jahren, empfand, und die es ihm erlaubte, sein dichtertum auch im Angesicht des todes als unsterbliches Vermächtnis (zavetnaja lira) zu empfinden und als dem tages- und torengezänk enthoben zu preisen. dass dies alles gerade mit hilfe des Epithetons nerukotvornyj eingeleitet wird, zeigt, dass er das Verdienst daran nicht sich selbst zuschrieb, sondern einer außer ihm gelegenen Macht, einem subjektiv heiligen oder wie immer man das umschreiben will. die Zeittendenz der sprachlichen Sakralisation ist – sofern sie ernst gemeint war – auf die erwähnte Epoche zwischen etwa 1770 und 1840 beschränkt. danach ist sakrales Vokabular zur Bezeichnung von dichter und dichtung nur noch als Zitat möglich und selbst dann suspekt, was z. B. nekrasov deutlich gespürt und auch gesagt hat. Im Symbolismus wird die mythisch-religiöse dimension des Schöpferischen neu entdeckt, aber selbst dort handelt es sich oft um Angelesenes, selten um ursprünglich religiöse Empfindung.84 das Fortschreiten der Säkularisation aller Lebensbereiche wird durch die kurze neoromantische Episode des „Silbernen Zeitalters der russischen dichtung“ nicht aufgehalten. Seither ist sie kein Prozess mehr, sondern ein allgegenwärtiges Faktum, dessen gegenbild heute vielen unvorstellbar ist. 84

dazu dürfte auch Brjusovs schon erwähntes gedicht „habet illa in alvo“ (1902) gehören (BRJuSoV, 1973, I, 295ff – vgl. den kommentar zu der Widmung an Beardsley, ibid. S. 610).

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Bezeichnenderweise spiegelt sich auch dies noch im Schicksal unseres Wortes nach Puškin. Er hatte es dem untergang der alt-orthodoxen Vorstellungswelt entrissen, aber damit war es auch in eine ihm ursprünglich fremde umgebung versetzt worden, und zudem – wie jedes dichterwort – zitierbar, und das heißt leider nicht selten: missbrauchbar. die Beispiele, die šustov (1969) aus unserem Jahrhundert anführt, belegen das mit aller deutlichkeit. Brjusov und Prišvin85 benutzen nerukotvornyj, wenn auch mit unterschiedlichem geschmack, so doch für echte, menschlicher Einwirkung entzogene naturvorgänge. Lenin benutzt die erste Zeile von Puškins gedicht als Zitat, um den Autor der „Internationale“, Eugène Pottier, zu loben, und so findet sich neben Puškins Worten, im gleichen Satz, die charakteristik „odin iz samych velikich propangandistov posredtsvom pesni“... Solcher nachbarschaft und Verwendung entgeht kein einmal geprägtes Wort. nach dem Siege der Revolution geschieht nun aber etwas Seltsames. Es kommt zu einer neuen gegenbildung, diesmal durch Weglassung des negationspräfixes.86 šustov führt zwei Beispiele aus der Sovetpoesie an. Im ersten Falle, bei dem so wortgewandten wie jeweils linientreuen A. Bezymenskij scheint es sich nur um eine geschmacklosigkeit zu handeln, wenn er in Puškins Zeile zwei Silben verändert, um den Erbauern des dneprkraftwerks zuzurufen: Vу pamjatnik sebe vozdvigli rukotvornyj, Brigady pokoritelej dnepra!

(Bezym. 1958, Bd. II, S. 122)

Welche Ausmaße diese geschmacklosigkeit annimmt, bemerkt man erst, wenn man mehr aus diesem Poem („tragedijnaja noč“, 1944–47) liest. In dem Abschnitt 20 z. B., dem šustovs Zitat entstammt, wird Puškins „Pamjatnik“ sozusagen Zeile für Zeile ausgeschlachtet und „umfunktioniert“, so z. B. auf S. 123: I slaven budet on, dokol’ v podlunnom mire ostanutsja v živych zemlja i čelovek.

Wer wohl? nun – sovetskij čelovek, von dem es unter Plünderung anderer Puškinverse heißt, dass er ne trebuet nagrad za podvig blagorodnyj. 85 86

Vgl. šuStoV (1969, S. 25). Es ergibt sich die geistesgeschichtliche Abfolge cheiropoiētos (negativ) – acheiropoiētos/ nerukotvornyj (positiv) – rukotvornyj (positiv). Man könnte diese Entwicklung als einen hegelschen dreischritt interpretieren, was sicher falsch wäre. Rückblickend erscheinen die ersten beiden glieder einander näher als beide dem dritten, insofern als es sowohl den heiden wie den Juden und christen um die rechte Verehrung gottes ging, im dritten Schritt aber gott ganz durch den Menschen verdrängt ist, etwa im Sinne des Zitats in Anm. 80. Wie allgemein diese Entwicklung ist, zeigt nicht nur der amerikanische Psychoanalytiker, sondern z. B. schon vor dem Ersten Weltkrieg der deutsche dichter Stefan george: „die ihr die wilden dunklen Zeiten nennt / in eurer lughaft freien milden klugen: / sie wollten doch durch grausen marter mord / durch fratze wann und irrtum hin zum gott / ihr frevler als die ersten tilgt den gott ... (St. george, 1958, S. 360).

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So dichtet sichs natürlich leicht und imposant, zumal Bezymenskij nicht nur Puškin als Steinbruch benutzt. trotzdem belegen diese Beispiele nicht nur das traurige Schicksal von zitierfähigen dichterworten. Mit der Veränderung von nerukotvornyj zu rukotvornyj ist nicht nur unbewusst, sondern bewusst eine trennung vollzogen, eine grundsätzlich andere, gegensätzliche haltung zu Mensch und Welt eingenommen worden. das spürt man, wenn man ähnliches bei einem durchaus aufrichtigen und echten dichter wie tvardovskij findet: (tv. III, 82) no, ljudi, sčasťe naše v tom, čto sčasťja my chotim uporno, čto na veka svoj stroim dom, Svoj mir živoj i rukotvornyj.

offenbar bemerken diese Autoren gar nicht, dass sie mit solchen Anleihen und kontrafakturen entweder Puškin oder sich selbst desavouieren – denn entweder liegt der tiefere Wert und das unterpfand für ewiges gedenken im transzendenten, nicht von Menschenhand gemachten, dann hat Puškin recht, und die Sovetpoeten entlarven selbst ihr kümmerliches Format, oder aber es gilt und währt nur das von Menschenhand geschaffene, dann ist Puškin widerlegt, und sein Platz gebührte Bezymenskij oder doch tvardovskij. šustov, der beide als Beispiele zitiert, scheint nichts ungewöhnliches dabei zu finden, obgleich er fortfährt: nicht selten gebrauchen diese Wörter auch Journalisten, indem sie ihnen eine etwas vereinfachte Bedeutung beilegen: rukotvornyj – ‘von Menschenhänden geschaffen’ (in der Regel ist das irgendetwas grandioses) – nerukotvornyj – ‘geschaffen nicht vom Menschen, sondern von der natur’. das Wort nerukotvornyj trifft man erheblich seltener an als rukotvornyj. dabei hat sich das zweite in letzter Zeit in eine verbale Schablone, ein klischee verwandelt. Immer wieder tauchen in den Spalten von Zeitungen und Zeitschriften rukotvornye dinge auf (Meere, Sterne, Inseln, Flüsse, kometen, Asbest, Vulkan, Sonne usw.).

šustov scheint dies zu missbilligen, ebenso wie er anschließend Zusammenstellungen wie nerukotvornaja maska (gesichtsähnliche Bildungen aus Baumrinde) und nerukotvornyj fars (für abstrakte Plastik aus gepresstem Autoschrott) für stilistisch missglückt hält.87 Plähn hat diese relativ neue journalistische Mode auch bemerkt und einige Beispiele zusammengestellt, wobei er vorsichtig darauf hinweist, dass die Begeisterung für das Selbstgemachte durchaus im Sinne der heute offiziell gültigen Weltanschauung liege.88 Im grunde ist auch der grad87

88

šuStoV (1969, S. 26). Bevor ich von šustov Abschied nehme, möchte ich erwähnen, dass seine Beiträge zu unserem thema viel Wertvolles beigesteuert haben. trotz mancher sachlicher differenzen drängt es mich, zu betonen, dass ich in der Ablehnung der allzu kühnen deutung von huntley (Puškin – christus) durchaus mit ihm einig gehe. (huntLEy (1970, S. 362) – šuStoV, 1973, S. 171f). PLähn (1975, S. 371f).

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unterschied zwischen den angeführten Stellen von tvardovskij und Bezymenskij einerseits und den „handgemachten Flüssen,89 Sternen etc. „andererseits minimal. unser Wort, bzw. sein Antonym, spiegelt wieder einmal eine geisteshaltung in ihrem zentralen Weltverständnis: Wo das von Menschenhand geschaffene die oberste Stelle in der Wertskala einnimmt, ist die transzendenz grundsätzlich entwertet. dass der Satz „Wert hat nur das Machbare“ auch moralische Implikationen hat, beschäftigte dostoevskij sein Leben lang, denn die moralische Seite dieses Satzes war sein thema („Was aber, wenn alles erlaubt ist?“) in „Schuld und Sühne“, in den „dämonen“, in den „Brüdern karamazov“. An rukotvornyj oder nerukotvornyj als charakteristik des obersten Wertes scheiden sich die geister – noch heute.

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Auch die „handgemachten Flüsse“ sind älter als der sovetische Journalismus. In diesem Zusammenhang bedürfen die Angaben von šuStoV (1969, S. 23) wieder einiger kleiner korrekturen. Er schreibt: „die weltlichen Schriftsteller gingen allmählich von den normen der kirchenslavischen Sprache ab. So hat z. B. dERžAVIn das Wort rukotvornyj durch das Wort rukodel’nyj ersetzt (1790): dochneš’ v vetrila korabel’ny, Pošleš’ izbytki rukodel’ny, I reki zlata i srebra ot orma do nevy prol’jutsja. In der Prosa finden wir einen derartigen Wortgebrauch bei A. n. RAdIščEV. In seiner „Reise“ (kapitel ‘Vyšnij Voločok’) lesen wir: ‘der erste, dem es in den Sinn kam, sich der natur in ihren Wohltaten zu vergleichen und einen handgearbeiteten Fluss zu machen, auf dass die grenzen eines einzigen gebietes in desto stärkere Verbindung kämen, der ist würdig eines denkmals für die fernere nachkommenschaft’.“ Anschließend vermerkt šustov noch, dass Puškin gerade diese Stelle in seinen Radiščev-Artikel übernommen und das Wort rukodel’nyj dort hervorgehoben habe, wobei er zurecht die deutung dieses Wortes durch das Puškin-Wörterbuch kritisiert. Worum geht es hier? ganz gewiss nicht um ein bewusstes Abgehen vom kirchenslavischen, denn rukodel’nyj ist genauso kirchenslavisch wie (ne)rukotvor(en)nyj. das Wort ist schon bei SREZnEVSkIJ belegt als Entsprechung von cheirergastos und bedeutet seit eh und je handwerklich bzw. das Handwerk betreffend, in neuerer Zeit dann mehr eingeengt auf das, was man deutsch handarbeiten nennt. Im Sinne des handwerks bzw. seiner Erzeugnisse ist es in deržavins ode „na švedskij mir“ gemeint. (dERžAVIn, 1868, I, 220) nicht so gemeint ist es bei Radiščev (1790 = 1935, S. 268), weshalb das Wort Puškin auch auffiel. Meine Übersetzung (handgearbeiteter Fluss) versucht anzudeuten, in welcher Richtung Radiščevs Wortwahl hier Assoziationen weckt. Vermutlich daher rührt wohl auch Puškins hervorhebung. das, was Radiščev ausdrücken wollte – und insofern passt sein Zeugnis in den geistesgeschichtlichen Zusammenhang – haben später die sovetischen Journalisten, vielleicht in Erinnerung an den berühmten Reisebericht, bestimmt aber in Anlehnung an Puškins Wortgewalt, besser gesagt, wenn sie sich auch damit, wohl unbewusst, in Widerspruch zu Puškin setzten.

nerukotvornyj

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Puškins „akvilon“ i Wie soll man Gedichte datieren und einordnen, die erheblich später überarbeitet und gedruckt wurden als ihre erste niederschrift, z. B. den ‘akvilon’, der von Puškin selbst auf 1824 datiert, tatsächlich wohl 1826 geschrieben, 1830 in Reinschrift übertragen und 1837 gedruckt wurde?1

in dem gleichen aufsatz, in dem der „akvilon“ so als ein Muster editionstechnischer Problematik angeführt wird, heißt es zuvor: Die Chronologisierung der Werke ist eine der schwierigsten, verworrensten und strittigsten Fragen der Puškin-Forschung, und dabei hängt von ihren Lösungen, von der Datierung dieses oder jenes Werkes, oft auch dessen verständnis, sein Zusammenhang mit benachbarten Werken, seine Deutung und die Lösung vieler weltanschaulicher und stilistischer Fragen ab.

Zu einem ganz ähnlichen ergebnis kommt B. Tomaševskij in seiner Besprechung des „akvilon“: „Somit bekommt dieses Gedicht diesen oder jenen Sinn, je nachdem, wann es geschrieben ist. Wenn man das von Puškin gesetzte Datum annimmt, d. h. es dem Herbst 1824 zuzählt, bleibt es rätselhaft“2. Dieselbe ansicht war ja auch der soeben zitierten Passage aus „Puškin – itogi i problemy izučenija“ zu entnehmen, und im gleichen Sinne äußert sich T. Cjavlovskaja im kommentar zum 1. Band der 1974 begonnenen 10bändigen ausgabe der akademie: Puškin datierte das Gedicht in der einzigen erhaltenen Handschrift (1830) und im Druck (1837) auf 1824. es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass hinter den naturbildern, ähnlich wie in dem Gedicht ,arion’, zeitgenössische ereignisse stehen, und das Gedicht kaum vor dem aufstand vom 14. Dezember geschrieben sein kann3.

Bisher war in den kommentaren der akademie-ausgaben derartiges nicht zu lesen. Sollte es sich um neue erkenntnisse der Forschung handeln? Dann kann man nur dem bereits zweimal zitierten Textologie-aufsatz von 1966 beipflichten, der forderte: „Die vollständige argumentation jeder Datierung muss selbstverständlich in den kommentar des jeweiligen Werkes eingehen“4. Leider findet man im Falle des „akvilon“5 nirgends eine vollständige argumentation, die Puškins eigene Datierung schlüssig widerlegte. Das ist umso sonderbarer, 1 2 3 4 5

Puškin – itogi i problemy izučenija, M. 1966, S. 598. B. ToMaševSkij: Puškin Bd. 2, M-L. 1961, S. 51. a. S. Puškin, Sobranie sočinenij v 10 tomach, M. 1974f, i, 682. Puškin – itogi. M. 1966, S. 599. Puškin, Polnoe sobranie sočinenij v 16 tomach, M. 1949, ii, 365. alle weiteren PuškinZitate mit Band- und Seitenzahl dieser ausgabe.

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Puškin

als gerade bei diesem Gedicht die abhängigkeit des verständnisses von der richtigen Datierung durch Tomaševskij eigens betont wurde. Die Frage, die das Gedicht „akvilon“ aufgibt, ist demnach die, ob der Text mit Puškins eigener Datierung vereinbar ist oder nicht. 1893 hatte L. n. Majkov6 eine Deutung der allegorischen Bilder des „akvilon“ vorgeschlagen, die später keinen anklang mehr fand. 1929 ließ Tynjanov in anderem Zusammenhang die kurze Bemerkung fallen, „der semantische Zusammenhang“ des Gedichtes „mit der Revolution der Dekabristen unterliegt keinem Zweifel“7. 1941 stellte dann G. S. Glebov in einer Fußnote, unter Hinweis auf eine äußerst fragmentarische notiz Puškins, die Suggestivfrage: „Sollte nicht ein innerer Zusammenhang zwischen den beiden Gedichten (d. h. „akvilon“ und „arion“ – R-D. k.) bestanden haben, und hatte der vermerk, 1824, Mich.’ unter dem Text des ,akvilon’ nicht eine Tarnfunktion, d. h. war er (d. h. der „akvilon“ – R-D. k.) nicht nach dem 14. Dezember geschrieben“8? Diese Suggestion greift Tomaševskij auf, indem er schreibt: „in der Tat, nimmt man einen Zusammenhang von ,akvilon’ mit ,arion’ an, so bekommt das Gedicht einen völlig eindeutigen Sinn (vpolne opredelennyj smysl). Dann muss man vermuten, das Datum 1824 beruhe auf Überlegungen, den politischen Sinn des Gedichts zu tarnen, was verständlich macht, weshalb Puškin mit der veröffentlichung des ,akvilon’ so zögerte. Die Wahl des Datums ,1824’ (ein jahr vor dem 14. Dezember) ist offenbar von derartigen Überlegungen diktiert“9. Weder Tynjanov noch Glebov noch auch Tomaševskij haben sich die Mühe gemacht, ihre These durch eine Demonstration am Text des Gedichtes zu erhärten. Dennoch ist ihre auffassung – wiederum ohne Beweis – in den oben zitierten monumentalen Lagebericht der Puškin-Forschung von 1966 und in den Werkkommentar von 1974 übernommen worden. Da die erhaltene Handschrift zeigt10, dass Puškin bei seinen Änderungen die Grundstruktur der allegorie unberührt gelassen hat, ist allein der Sinn dieser allegorie für die Datierung entscheidend. Die Frage: bleibt das Gedicht rätselhaft, wenn Puškins Datierung stimmt, jene Frage die Tomaševskij aufgeworfen hatte, muss ihm zunächst zurückgegeben werden in der Form: Welches ist jener „vpolne opredelennyj smysl“, den das Gedicht bekommt, wenn man es auf die ereignisse des 14. Dezember 1825 und die Folgezeit (bis wann?) bezieht? 6

7 8

9 10

L. n. Majkov: iz zametok o Puškine – o stichotvorenijach „Tuča” i „akvilon“, Russkij vestnik, 1893, Bd. 2, S. 3–9. ju. n. Tynjanov: archaisty i novatory. L. 1929, S. 241. G. S. GLeBov: ob „arione“, Puškin – vremennik Puškinskoj kommissii, 6, 1941; anm. auf S. 304. ToMaševSkij, o. c., S. 51. ii, 910f. Die abweichungen zwischen der Reinschrift, den darin ausgeführten Änderungen und dem erstdruck betreffen in den ersten drei Strophen nur adjektive und adverbien: Z l burnyj / groznyj (akvilon) Z 2 bolotnyj / pribrežnyj (trostnik) Z 3 čuždyj / dal’nij (nebosklon)

Puškins „akvilon“

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ii Da sowohl Glebov wie Tomaševskij und Cjavlovskaja das Gedicht „arion“ (iii, 58) heranziehen, scheinen sie anzunehmen, der im „akvilon“ beschriebene Sturm sei vergleichbar oder gar identisch mit dem, der das Boot der Dekabristen versenkte. aus dieser Parallelsetzung ergeben sich weitere: wenn das, was vom Sturm vernichtet wird, für die Dekabristen steht, dann nimmt diese Stelle im „akvilon“ die Eiche ein; und wenn das, was vom Sturm verschont wird, für Puškin steht, so entspricht dem „geheimnisvollen Sänger“ das Schilfrohr, das allerdings im „akvilon“ weniger als gerettet denn als ungerecht verfolgt erscheint. Hier enden etwa denkbare Parallelen. im „arion“ sind keine weiteren allegoreme enthalten, ja das Gedicht ist insgesamt weit weniger allegorisch, insofern sowohl die dem Sturm zum opfer Gefallenen wie der entkommene ja als Menschen auftreten, der Dichter sogar mit gängigen Metaphern als solcher genannt ist. Der verfremdungseffekt liegt bei diesem Gedicht fast allein in der Überschrift, höchstens noch in der abweichung von der antiken Sage11. Demgegenüber ist die verschlüsselung im „akvilon“ viel weiter getrieben. es tritt keine menschliche Gestalt auf, vielmehr nur Pflanzen (eiche, Schilfrohr) und meteorologische Phänomene (verschiedene Winde, Wolken, Sonnenschein). Mit ausnahme des Titelhelden akvilon selbst ist kein vergleich mit „arion“ möglich. Die verwendeten Bilder müssten sich aber, wenn der Sturmvergleich richtig ist, in das Grundmuster Sturm = Staatsmacht bzw. nikolaus i., eiche = Dekabristen, Schilfrohr = Puškin eingliedern lassen. Wenn wir das versuchen, müssen wir natürlich auch die sonstigen aussagen des Textes berücksichtigen. außer dem aquilo, der eiche und dem Schilfrohr gibt es da die weiteren Wetterphänomene: den Zephyr und den Sonnenschein, die beide offenbar nur Stimmungswerte einer allgemeinüblichen Wettermetaphorik bezeichnen. Dann gibt es verschiedene arten von Wolken: „tuči“, die bald als „černye“, bald als „burnye“ charakterisiert werden und sicher als Bilder für drohende Gefahr stehen; dagegen bezeichnet das „Wölkchen“ (oblačko), das ohne epitheton auftritt, sicher nichts Bedrohliches. Sowohl die schwarzen Sturmeswolken wie das Wölkchen sind objekte der Winde: der aquilo verjagt die Sturmwolken, d. h. die mit dem auftreten der eiche verbundene Gefahr, aber er jagt auch das harmlose Wölkchen „an den fernen Horizont“, während mit diesem doch der Zephyr spielen könnte.

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Z 4 tak burno / stol’ bystro / stol’ gnevno (goniš’) Z 5 burnych / černych (tuč) Z 6 mračno / glucho (oblekalsja) Z 9 černy / burny (tuči) etwas weiter gehen die veränderungen in der vierten Strophe, die aber ebenfalls die alle gorien nicht betreffen. Das gilt auch von der Zwischenfassung der Zeile 12 Ty dolam solnce daroval wobei die erwähnung der „Täler“ eine Reminiszenz an krylovs version der Fabel (s. u.) sein könnte. Zur Deutung von „arion“ vgl. u. BuSCH: Zu Puškins Gedicht „arion“: Selbstanklage des Sprechers, in: Festschrift für Margarete Woltner, Heidelberg, 1967, S. 39–45.

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versuchen wir eine dem erwähnten Grundmuster entsprechende Deutung für diese Bilder einzusetzen, so hieße das: der Dekrabristenaufstand war für die Staatsmacht eine allumfassende, riesige Gefahr (nedavno černych tuč grjadoj / Svod neba glucho oblekalsja), doch der Staat oder der Zar hat sich aufgerafft, seine kräfte spielen lassen und diese Gefahr zerstreut. Mit der gleichen Zornesgewalt (groznyj; gnevno) stürzt er sich aber auch auf ein kleines Wölkchen, die minimale Gefahr, die der Dichter darstellt, und jagt es an den fernen Horizont. eine solche Deutung mag akzeptabel sein, wenn man annimmt, dass Puškin subjektiv den Dezemberputsch für eine Riesengefahr und seinen eigenen Zustand nach dem Putsch für ein Gejagtwerden gehalten habe. Beides ist möglich, wenn auch wenig wahrscheinlich. objektiv wäre beides falsch gewesen: weder war der spontane unorganisierte Putsch eine ernsthafte Gefahr, noch wurde Puškin nach dem Putsch irgendwohin gejagt, im Gegenteil, der neue kaiser ließ ihn zunächst unbeachtet und holte ihn dann 1826 nach Moskau. Trotzdem, nehmen wir an, Puškin wusste beides noch nicht und brachte seine subjektiven urteile und Befürchtungen zum ausdruck. Würde er dann die vernichtung der aufständischen als „ruhmreich“ bezeichnet haben (Ty prošumel grozoj i slavoj)? Würde er dann die Dekabristen, unter denen er viele Freunde hatte, so charakterisiert haben, wie er es mit der eiche tut, dass sie sich nämlich „über der Höhe in überheblicher Schönheit großgetan“ hätte (nad vysotoj / v krase nadmennoj veličalsja)? Wohl kaum. und ganz gewiss hätte er ein solches negatives urteil über seine gescheiterten Freunde nicht in einem Zusammenhang geäußert, in dem er sich direkt an den urheber ihres unglücks wendet. Denn das ganze Gedicht ist ja in direkter Rede an den „akvilon“ gerichtet, und sei es auch nur in einer fiktiven anrede, die ihren adressaten nie erreichen sollte. aber selbst in dieser Form ist es einfach nicht vorstellbar, dass Puškin nach dem Dezemberaufstand einerseits dem Zaren Lob spendet für die ruhmreiche niederschlagung des Putsches seiner Freunde, die er dabei als überheblich abqualifiziert, und dass er dem gleichen Zaren andererseits vorwirft, er jage ihn an den fernen Horizont, das möge er doch lieber lassen (letzte Strophe). nur wenn man Puškin das zutrauen will, lässt sich eine einigermaßen geschlossene interpretation konstruieren. ich glaube nicht, dass die kommentatoren, die das Gedicht um jeden Preis mit den Dekabristen zusammenbringen wollten, das bedacht oder gar beabsichtigt haben.

iii es bleibt die Gegenprobe: Was bedeutet der „akvilon“, wenn er 1824 in Michajlovskoe geschrieben ist? Dazu hatte L. n. Majkov, der Puškins eigene Datierung nicht in Zweifel zog, bereits 1893 eine Deutung vorgelegt, die nun überprüft und, wenn möglich, ergänzt werden soll. er hatte geschrieben:

Puškins „akvilon“

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„es unterliegt keinem Zweifel, daß das Grundmotiv des ‚akvilon’ wie auch der ,Tuča’12 in persönlichen Lebensumständen des Dichters zu suchen ist. Man weiß, wie heftig er aufbegehrte gegen seine verbannung von odessa aufs Dorf, die auf anordnung aus Petersburg erfolgt war; das Gedicht stellt gewissermaßen eine ansprache (obraščenie) an den kaiser alexander dar, wobei unter dem zu Boden gebeugten Schilfrohr der Dichter sich selbst versteht und unter der eiche den vom russischen Zaren besiegten napoleon. Die Ruhe, die in der letzten Strophe herbeigerufen wird, ist bisher weder in der natur noch in der Seele des Dichters eingekehrt: beide sind noch aufgewühlt (polny trevogi)“13. Die einwände, die Tomaševskij gegen diese Deutung vorbringt, sind mehr als schwach. er bezeichnet die vermutung, dass „das Grundmotiv des Gedichts in persönlichen Lebensumständen des Dichters zu suchen“ sei als „noch weniger glücklich“ denn Stojunins14 in der Tat „in sich selbst rätselhafte Deutung“, gibt aber nicht die geringste erklärung für dieses negative urteil. Zur eigentlichen Deutung wendet er ein: „Majkov läßt sich nicht von dem umstand aufhalten, daß es keinen derartigen Sturm gegeben hat, der gleichzeitig Puškin und napoleon bedroht hätte“15. Dazu lässt sich nur sagen, dass das zweifach wiederholte nedavno der zweiten Strophe und das damit kontrastierende otnyne der vierten den Gedanken an Gleichzeitigkeit eindeutig ausschließen. nicht von gleichzeitigen aktionen des aquilo ist die Rede, sondern von gleichartigen, deren eine in der vergangenheit stattgefunden hat (ty podnjalsja, vzygral, prošumel, razognal, nizvergnul) und gutgeheißen wird (grozoj i slavoj), und deren andere, in ihrem Sinn in Frage gestellte (Začem ..., začem ...) in der Gegenwart stattfindet (kloniš’, goniš’). Schließlich wird, in der letzten Strophe, vorgeschlagen, derartige aktionen „von nun an“ (otnyne) einzustellen und das Feld dem Zephyr und dem Sonnenschein zu überlassen. Majkovs Deutung erlaubt, auch die Wolkenmetaphern sinnvoll einzuordnen: die Bedrohung Russlands durch den einfall napoleons war tatsächlich so groß, dass man von der „Staffel schwarzer Gewitterwolken“ sprechen konnte, die „das Himmelszelt lückenlos bezogen“ hatten; und alexander hat sie tatsächlich „auseinandergejagt“. und der gleiche alexander stürzt sich auch, und gerade im Sommer 1824 wieder einmal, auf das „Wölkchen“, die eingebildete Gefahr Puškin, und „jagt ihn an den fernen Horizont“, 1820 durch die Strafversetzung in den Süden, 1824 durch die verbannung in die kulturell entlegene Provinz. in der früheren Fassung hieß das epitheton zu Horizont übrigens nicht „fern“ sondern „fremd“ (čuždyj)16, was wohl mit den Fluchtplänen des Sommers und Herbstes 1824 zusammenhängen dürfte17. 12 13 14 15 16 17

iii, 381. L. n. Majkov, o. c. S. 7. v. ja. STojunin: istoričeskie sočinenija, ii, 219f; zitiert nach ToMaševSkij, o. c. S. 50. ToMaševSkij, o. c. S. 50. vgl. anm. 10. vgl. die andeutungen in „k morju“ (ii, 331ff).

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Die letzte Strophe zeichnet ein Wunschbild idyllischer Ruhe, die der Dichter ersehnt18, und die zu gewähren von alexander i. abhing. Somit ist sowohl die ansprache an den kaiser wie die einschätzung seiner aktionen in vergangenheit und Gegenwart in sich begründet und durch die „persönlichen Lebensumstände des Dichters“ im Herbst 1824 wahrscheinlich.

iv Die von Majkov vorgeschlagene, in sich schlüssige Deutung kann durch einige Beobachtungen noch wahrscheinlicher gemacht werden: Der Wortgebrauch trostnik für „Schilfrohr“ bestätigt die vermutung Majkovs, dass der „Dichter darunter sich selbst versteht“, auf zweierlei Weise. einmal innerhalb von Puškins Werk dadurch, dass dieses Wort, das vor 1824 nur viermal vorkommt (davon zweimal in seiner konkreten Bedeutung), zweimal allegorisch für Dichtung in der Selbstreflexion von 1821 „Muza“ (ii, 164) steht. Desgleichen gibt es die ableitung trostnikovyj nur einmal (ii, 54) als epitheton zu cevnica. von dieser Hirtenflöte her ergibt sich eine verbindung zu der zweiten vergleichskette, der literarischen ahnenreihe der verwendeten allegorien. Bekanntlich gehen sowohl Schilfrohr wie eiche (sowie aquilo und Zephyr) auf La Fontaines Fabel „Le Chêne et le Roseau“19 zurück. Tomaševskij erwähnt die russischen nachdichtungen dieser Fabel von Sumarokov, Dmitriev und krylov20; außer ihnen haben auch nikolev, knjažnin und neledinskijMeleckij21 nachdichtungen verfasst. keine dieser nachdichtungen verwendet anstelle des französischen le Roseau (bzw. einmal l’arbuste) das Wort trostnik; es heißt vielmehr in der Überschrift durchweg „Dub i Trost’“, im Text daneben manchmal trostočka oder trostinka. Die von der russischen Tradition abweichende Wortwahl und die verwendung von trostnik in Puškins eigenem Werk als Dichtungsmetapher machen Majkovs Deutung auch von der Wortsemantik her wahrscheinlich22. 18

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ToMaševSkij schreibt in der Besprechung von „Čedaevu“ (ii, 364): „nastroenie umirotvorenija i prosvetlenija, otrazivšeesja v zaključitel’nych stichach ėtogo poslanija, charakterno imenno dlja oseni v Michajlovskom“ (o. c. S. 49). La FonTaine: Fables, Livre premier. Fable XXii. a. P. SuMaRokov: Polnoe sobranie vsech sočinenij v stichach i proze, čast’ vii, M. 1787, S. 11f; (die kenntnis dieser Quelle verdanke ich der Hilfsbereitschaft des inzwischen unter mysteriösen umständen zu Tode gekommenen k. P. Bogatyrev); i. i. DMiTRiev: Polnoe sobranie sočinenij (Bibl. Poėta, BS, 2 izd.) L. 1967, S. 186f; i. a. kRyLov: Basni (Lit. Pam.), M.-L. 1956, S. 318–320 (gedruckte varianten vor 1825). n. P. nikolevs Fassung ist nachgedruckt in: Poėty Xviii veka, tom 2, L. 1972, S. 101ff; ja. B. knjažnin: izbrannye proizvedenija (Bibl. Poėta, BS, 2 izd.) L. 1961, S. 703; Sočinenija neledinskogo-Meleckogo, izd. a. SMiRDina, SPb. 1850, S. 174f. Zufällig kommt bei Puškin auch das Wort trost’ – allerdings im Sinne von „Spazierstock“ – in einem kontext, vor, der der Thematik des „akvilon“ verwandt ist. Der Dichter schreibt

Puškins „akvilon“

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Die gedankliche verbindung vom Schilfrohr zur Hirtenflöte hatte übrigens schon knjažnin hergestellt, in dessen sehr freier umdichtung der Fabel die eiche dem Schilfrohr unter anderem vorhält, es sei nur zu Spiel und Scherz für Hirten, eben als Flöte, zu gebrauchen; aus ihren, der eiche, Zweigen hingegen würden Siegeskränze für Halbgötter gewunden23. auch die eiche hat knjanin als einziger russischer nachdichter gegenüber seinem vorbild erheblich verändert, während sie sonst als gutmütig herablassend, ja besorgt um das von der natur so schlecht behandelte Schilfrohr erscheint, ihm ihre Protektion anbietet und durch die Überschätzung der eigenen kraft bestenfalls etwas dümmlich wirkt, ist sie bei knjažnin überheblich, zeigt statt Mitleid verachtung und hat ihren Sturz auch moralisch verdient. von dieser Charakteristik ist es wirklich nicht mehr weit zu napoleon, jedenfalls näher als von La Fontaines eiche. Durch die Wortwahl wird die Deutung der eiche als allegorie für napoleon gleichfalls voll bestätigt. Die beiden epitheta, die vorkommen, sind (von anfang an und nie korrigiert) nadmennyj und veličavyj. abgesehen davon, dass beide auf napoleon passen, sind sie auch in dieser verwendung in Puškins Werk mehrfach belegt. Nadmennyj sogar schon bei Puškins Lehrmeister žukovskij, der den Franzosenkaiser bereits 1812 mit Nadmennyj! anredete und dessen Truppen nadmennye znamena nannte24. Seinem vorbild folgt Puškin 1814 in den „vospominanija v Carskom Sele“ (i, 78ff) mit nadmennyj gall und nadmennye vyi; 1815, als er den heimkehrenden Zaren mit einem Panegyrikon begrüßt (i, 145ff), heißen die Franzosen nadmennye; 1821, nach dem Tode napoleons, schreibt er eine ode auf jenen nadmennyj geroj, dessen Pläne er im entwurf nadmennye dumy hatte nennen wollen (ii, 213ff und 851); im entwurf zu „k morju“ (ii, 331–1824!) war dann von veličavye dumy die Rede gewesen, und im endgültigen Text stehen veličavye vospominanija. Was schließlich den aquilo angeht, wird die verwendung dieses mythologischen namens für alexander i. aus mehreren Gründen wahrscheinlich. aquilo ist der nordwind – diese geographische Bedeutung war, wenn nicht für La Fontaine25, so doch für seine nachdichter ganz unwesentlich; Puškin aktiviert sie

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24 25

seinem Bruder aus odessa gegen ende januar – anfang Februar 1824: „ostalos’ odno – pisat’ prjamo na ego imja – takomu-to, v Zimnem dvorce, čto protiv Petropavlovskoj kreposti, ne to vzjat’ trost’ i šljapu i poechat’ posmotret’ na konstantinopol’“ (Xiii, 85). kakaja, – govoril on ej, – v tebe potreba? Pastušej prostoty igra i šutka, Byvaet iz tebja liš’ tol’ko dudka; iz vetvij že moich – polubogam vency Spletajutsja, pobedy ich v nagradu. v. a. žukovSkij: Sobranie sočinenij v četyrech tomach, M.-L. 1959, i, 168 und 204. erst in jüngster Zeit hat die La Fontaine-Forschung sich erfolgreich um die aufhellung politisch-biographischer Bezüge der Fabeln bemüht (vgl. jürgen GRiMM: interpretationsmodelle zu La Fontaines Fabel „Le Chêne et le Roseau“ in Die neueren Sprachen, Bd. 73 (1974) S. 144–156). René jasinski hat nachgewiesen, dass diese Fabel den Sturz von

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Puškin

und bezieht damit das Wort akvilon auf den norden26, der seit Lomonosov als poetische Metapher für Russland, Petersburg vor allem, gang und gäbe war. auch Puškin hatte den Zaren schon als vladyka severa bzw. polunošči apostrophiert, und zwar 1824 in dem entwurf „nedvižnyj straž dremal ...“ (ii, 310ff), der dem Thema alexander i. – napoleon gewidmet ist. Den anstoß zur Übertragung aquilo – alexander könnte wiederum knjažnin gegeben haben. Bei ihm ist auch der Sturm (er nennt ihn übrigens Borej) sehr anthropomorph gestaltet, er ergreift sogar selbst das Wort und schreit: vse vlasti liš’ moej, vse byt’ dolžny pokorny!

und wird konsequenterweise als tiran bezeichnet. Für Puškin war von hier aus der Schritt zu alexander i. gewiss nicht weit. insgesamt bestätigt sowohl die Wortwahl wie die literarische ahnenreihe der zentralen allegoreme Schilfrohr, eiche und aquilo die Wahrscheinlichkeit von Majkovs Deutung, wobei als anreger für die neue Sinngebung dieser Wörter knjažnins version der La Fontaineschen Fabel angenommen werden kann. nicht uninteressant ist, dass das Thema napoleon, auf das Puškin immer wieder zurückkommt, ihn gerade im jahre 1824 stärker als in irgendeinem anderen jahr beschäftigte. ende 1823 war der name schon in der 14. Strophe des 2. kapitels von „evgenij onegin“ eingeflossen; im ersten Halbjahr 1824 entstehen die entwürfe „nedvižnyj straž dremal ...“ (ii, 310) und „Začem ty poslan byl ...“ (ii, 314); in odessa noch im juli begonnen, in Michajlovskoe beendet wird „k morju“ (ii, 331), in dem der Schatten napoleons neben dem Byrons beschworen wird. im ersten der beiden genannten entwürfe werden in einer fiktiven Begegnung der napoleon von 1805–07 und der alexander von 1823– 24 aneinander gemessen. all das deutet darauf hin, dass das Thema napoleon für Puškin 1824 so aktuell war, dass er das jahr 1812 durchaus als nedavno ansprechen konnte. Die verbindung von napoleon zu alexander i. war historisch gegeben, andererseits hatte Puškin sein eigenes problematisches verhältnis zum Zaren, das im Sommer 1824 durch die verbannung in eine neue krise getreten war. Puškin hat versucht, dies hoffnungslos verfahrene verhältnis darzustellen, und zwar in einem

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La Fontaines Mäzen, Foucquet, durch Colbert reflektiert, welch letzterer den Spitznamen le nord bekommen hatte. Durch diese konstellation von eiche und aquilon gerät La Fontaine von selbst in die Position des Schilfrohrs, und jaSinSki schließt denn auch: „Ce roseau fragile, comme ce miel bien a lui, sont authentiquement sa poésie. ainsi achèvent de se fondre les thèmes essentiels, en apparence dépouillés de toute allusion, en fait étonnement proches de la realité, mais universalisés par une haute poésie, élevés a l’éternel.” (René jaSinSki: La Fontaine et le premier recueil des „Fables”, Paris, 1966, i. 300–209). Puškin verfährt in genau der gleichen Weise mit dem überlieferten allegorischen inventar. Demgegenüber sind die übrigen russischen nachbildungen, wo sie mehr sein wollen als Übersetzungen – nikolev und knjažnin – unbeholfene Räsonnements. er mag sich vielleicht an die 2. Strophe des l. kapitels von „evgenij onegin“ erinnert haben: „no vreden sever dlja menja“.

Puškins „akvilon“

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fiktiven Gespräch mit alexander i. (Xi, 23), das ebenfalls auf den Herbst 1824 datiert wird. Genau das gleiche ist das Thema des „akvilon“: Puškin fühlt sich ungerecht verfolgt, ja genötigt, aus Russland zu fliehen. er versucht, dem kaiser Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem er dessen verdienst bei der vertreibung napoleons in erinnerung bringt, und er will vor diesem Hintergrund des Zaren Zorn auf das harmlose Wölkchen erst recht als unsinnig erscheinen lassen. noch deutlicher als in der endgültigen Fassung war dies in den vorstufen der letzten Strophe, die dort begann: S tebja dovol’no – pust’ blistaet ... bzw. Spokojsja ž, pust’ teper’ blistaet ... Dafür ist dann das weniger persönliche Puskaj že ... eingetreten. Gleichzeitig hat die Zeilenumstellung zum umfassenden Reim die letzte, irreale, Strophe deutlich von den ersten drei, realen (und kreuzgereimten), Strophen abgehoben, und durch die größere entfernung vom Reimpartner ist das letzte Wort des Gedichts, trostnik, zusätzlich betont worden: es bildet den eigentlichen kontrapunkt zur Überschrift und zum letzten Wort der ersten Zeile: akvilon. Das entspricht der inneren Spannung des verhältnisses Puškins zum Zaren. Spannung ist das Thema des Gedichts und das kennzeichen seiner Struktur: es besteht aus einem höchst kunstvollen Geflecht sich überlagernder antithesen. Zunächst sind die Strophen einander antithetisch zugeordnet, und zwar symmetrisch von außen nach innen, die erste der vierten als Gegenwart und Zukunft sowie als Frage und vorschlag, beides im Gegensatz zu den mittleren Strophen, die in der vergangenheit stehen und einen Bericht enthalten. Über diese Symmetrie hinaus, die sich in der antithese der beiden mittleren Strophen wiederholt (als vor- und nachzeitigkeit innerhalb der vergangenheit), gibt es asymmetrische antithesen zwischen den ersten drei Strophen, die Realität berichten und der vierten, die einen Wunsch ausspricht, und zwischen den Strophen 2 und 3 (nedavno) und Strophe 4 (otnyne). Wieder symmetrisch, was die Strophen angeht (1 und 2 gegen 3 und 4) sind die anaphern angeordnet (Začem ..., Nedavno ... und I ..., I ...), asymmetrisch, was ihren Platz in der Strophe angeht. Hinzukommen die antithesen innerhalb der allegorie; symmetrisch akvilon: zefir; dub: trostnik; tuči: oblačko; aber die Symmetrie täuscht, denn einmal sind dub und tuči sowie trostnik und oblačko unter sich parallel, zum andern tritt akvilon zu allen anderen aktiver in antithese als zum zefir, und schließlich erweisen sich dub und trostnik (schon von der Fabeltradition her) und ebenso tuči und oblačko als eigentlich nicht vergleichbare Größen. Der wahre Gegensatz besteht letztlich zwischen dem angeredeten akvilon und dem den Sprecher vertretenden trostnik27; diese beiden stehen schon in der ersten Strophe, durch das Zeilenende unauffällig getrennt, nebeneinander, und sie rah27

Damit hat Puškin die Relation der drei Strukturelemente der Fabel (Baum – Rohr – Wind) entscheidend verändert: an die Stelle des Dialogs Baum – Rohr tritt der Dialog Rohr – Wind. Damit wechselt das Thema vom verhalten verschiedener Pflanzen gegenüber dem Wind zur infragestellung des verhaltens des Windes selbst. Dies ist der innere Grund dafür, dass die Form der Fabel ganz fallengelassen wurde: aus dem infragestellen lässt sich keine Moral gewinnen.

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Puškin

men, wie oben gezeigt, als Schlusswörter der ersten und der letzten Zeile das ganze Gedicht ein. Durch den metrischen kunstgriff der geänderten Reimanordnung in der letzten Strophe kommt darüber hinaus die rhythmische Wechselbewegung der meist verbalen weiblichen Reime zur Ruhe – und der trostnik ist (und behält wohl auch) das letzte Wort.

v Das Gedicht „akvilon“ passt bei der vorgeschlagenen Deutung der allegorischen elemente in die „persönlichen Lebensumstände des Dichters“ im Herbst 1824; die Deutung wird untermauert durch die Wortwahl, die Fortführung der literarischen ahnenreihe von La Fontaine vermutlich über knjažnin28, sowie durch die Querverbindung zu zeitlich unmittelbar benachbarten Themenkomplexen. in einem anderen Zusammenhang scheint es sinnvoll, von 1824 her nicht nur rückwärts zu schauen: der „akvilon“ ist vielleicht das erste Gedicht, in dem Puškin seine eigene prekäre, durch äußere Bedrohung gekennzeichnete Situation zum alleinigen Thema machte. verständlicherweise hat er in diesen, wie in späteren, vergleichbaren Fällen eine allegorische ausdrucksweise gewählt – und er ist dabei immer auf die uralten Bilder vom unheilbringenden Sturm und seinen vorboten, den bedrohlichen Wolken, zurückgekehrt. in diesem Sinne hat natürlich auch Glebov recht, wenn er einen inneren Zusammenhang zwischen „akvilon“ und „arion“ spürt, nur ist es nicht der gleiche anlass, der die Ähnlichkeit der Bilder begründet. eine derartige affinität hatte ja auch Majkov zurecht zwischen dem „akvilon“ von 1824 und der „Tuča“ von 1835 bemerkt. in die gleiche Reihe gehören 1828 „Predčuvstvie“ (Snova tuči nado mnoju ... iii, 116) und wohl auch 1829 die „Besy” (iii, 226f). und diese Motivähnlichkeit genügt auch vollkommen, um die höchst fragmentarische notiz zu erklären, die Glebov zu seiner Dekabristenhypothese verführt hatte. es handelt sich29 um die abgekürzt untereinander geschriebenen anfänge von „ akvilon“ und „arion“. Datiert wird diese notiz auf 1830 oder 1833. in drei anderen „Werklisten“, die ebenfalls den „akvilon“ aufführen, steht er jeweils in unmittelbarer nachbarschaft motivverwandter Gedichte, und zwar in „Rukoju Puškina“ auf S. 256 in der Reihe: arion, Besy, akvilon (die Liste wird auf September 1831 datiert), und noch einmal ebendort auf S. 260 in der gleichen Reihe, nur dass Puškin diesmal jahreszahlen hinzufügt, und zwar „Besy“ 28

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Für die vermutung, dass Puškin 1824 die Fabel knjažnins präsent gewesen sei, braucht man nicht einmal Puškins phänomenales Gedächtnis zu bemühen, denn in der Gutsbibliothek von Trigorskoe waren knjažnins Werke vorhanden; vgl. B. L. MoDZaLevSkij: Poezdka v selo Trigorskoe v 1902 g. – in: Puškin i ego sovremenniki, vyp. i, SPb. 1903, S. 19. Rukoju Puškina, M.-L. 1936, S. 279. Rukoju Puškina, S. 285. Zitiert nach veReSaev: Puškin v žizni, M.-L. 1932, i, 89.

Puškins „akvilon“

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– 1829 und „akvilon“ – 1824! Lediglich das tatsächlich auf die Dekabristen anspielende „arion“ bleibt undatiert! Zum drittenmal erscheint der „akvilon“ schließlich als vorletzter Titel der kurzen Liste ungedruckter (vorwiegend autobiographischer) Gedichte, die 1836 entworfen wurde30, dort nur noch gefolgt von „Poslednjaja tuča“. in diesen vier aus verschiedenen anlässen und zu verschiedenen Zeiten aufgestellten Listen, deren keine chronologisch geordnet zu sein scheint, findet sich also der „akvilon“ stets in nachbarschaft eines oder mehrerer der oben genannten motivgleichen Gedichte (einmal mit Datierung 1824). in allen Fällen handelt es sich um Wolken- und Sturmmetaphern. Sie begleiten Puškins Lebensweg in allen kritischen Situationen. Wir wissen nicht, ob er kenntnis hatte von dem Brief karamzins an Dmitriev vom 19. april 1820: nad zdešnim poėtom Puškinym esli ne tuča, to po krajnej mere oblako, i gromonosnoe ...31

aber es hat manchmal den anschein, als ob er sich an diesen ersten bedrohlichen Sturm erinnere, wenn er wieder zu solchen Bildern greift. So auch im august 1824, gleich nach der verbannung aufs Dorf, wenn er in dem vermutlich ersten in Michajlovskoe geschriebenen Gedicht „k jazykovu“ (ii, 322) klagt: Davno bez krova ja nošus’, kuda poduet samovlast’e.

und wir gehen wohl nicht fehl, wenn wir folgende Stelle aus einem Briefentwurf an den odessitischen Bekannten D. M. Schwarz vom 9. Dezember 1824 als terminus ante quem32 für die Datierung des „akvilon“ annehmen: Burja, kažetsja, uspokoilas’, osmelivajus’ vygljanut’ iz moego gnezda i podat’ vam golos, milyj Dimitrij Maksimovič. (Xiii, 129)

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Terminus post quem ist ganz gewiss der 9. august 1824 alten Stils, die ankunft in Michajlovskoe (vgl. M. a. CjavLovSkij: Letopis’ žizni i tvorčestva a. S. Puškina, i, M. 1951, S. 504). Die für Puškin kritischste Zeit dieses Herbstes sind wohl die Wochen zwischen dem 25. oktober und dem 12. november (Streit mit dem vater, Brief an von aderkas). in dieser Zeit tobte tagelang der nordweststurm, der in Petersburg am 7. november die Flutkatastrophe hervorrief. er könnte auch in Michajlovskoe noch Bäume entwurzelt haben. es würde sehr gut zu Puškins art passen, wenn ein konkretes erlebnis die literarische Reminiszenz an die Fabel provoziert hätte, die dann durch Projektion auf die eigene Lage zu einem völlig neuen Gedicht umgestaltet worden wäre. Ähnliche Fälle gibt es in seinem Werk mehrfach, aber sie lassen sich natürlich nur ausnahmsweise einmal beweisen (wie z. B. die umsetzung der kalašnikova-affäre mit Hilfe eines verses aus andré Chénier im „evgenij onegin“ iv, Str. 38/39, verse 3 und 4; vgl. v. naBokov: eugene onegin, new york, 1964, ii, 462ff). erstaunlicherweise hat auch alexander i. sich gerade in diesen Sturmtagen des Dichters erinnert, als nämlich dessen Bruder (am 6.?, 8. november) in Petersburg eingetroffen war und daher der name Puškin dem Zaren in einem Polizeibericht vor augen kam. (vgl. LeToPiS’ žizni i tvorčestva ... unter den Daten 11., 13., 14. und 16. november 1824, S. 533ff).

Commentationes philologicae. Fünf kleine Puškin-Studien mit einem Vorwort Wenn es für die folgenden fünf kleinen Studien ein gemeinsames Motto zu finden gälte, so käme am ehesten Puškins briefliche Äußerung über seine Lektüre in Odessa im Frühjahr 1824 infrage: „čitaja šekspira i Bibliju, svjatyj duch inogda mne po serdcu, no predpočitaju Gete i šekspira.“ Von Shakespeare soll allerdings nicht die Rede sein, aber einige Reflexe der Bibel- wie besonders der Goethe-Lektüre kommen zur Sprache, ohne dass die Themen „Puškin und die Bibel“ oder „Puškin und Goethe“ insgesamt abgehandelt würden – das erste ist noch nie ernsthaft, das zweite noch nie gründlich bearbeitet worden. Die hier vereinigten kleinen Studien sollen nicht mehr als philologische Vorarbeiten für Teilbereiche dieser Themen sein. Die Puškin-Zitate mit Band- und Seitenzahl beziehen sich auf die Ausgabe A. S. Puškin, Polnoe sobranie sočinenij, tt. I–XVI (Moskau-Leningrad: AN SSSR, 1937–49) (Registerband, 1959 = XVII).

1. „Изыде сеятель сеяти семена своя“ (II, 302) Die angeführte Zeile wird in den Puškin-Ausgaben als Motto des Gedichtes Svobody sejatel’ pustynnyj ... gedruckt. In Puškins Brief an A. I. Turgenev vom l. Dezember 1823, der einzigen authentischen Quelle,1 ist diese Mottofunktion nicht ganz eindeutig, denn die Zeile steht in klammern nach dem Satz „ ... ja zakajalsja i napisal na dnjach podražanie basne umerennogo demokrata Iisusa Christa“ und vor dem Text des Gedichtes2, kann also sowohl vor- wie zurückbezogen werden. Soweit die kommentare sich überhaupt zu dieser Zeile äußern,3 geben sie als Quelle das Evangelium nach Matthäus, kap. XIII, Vers 3, an. Dies ist zwar, 1 2

3

XIII, 79. Das Gedicht ist in diesem Brief ohne Absatz geschrieben; Zeile 9 fehlt. Da diese Zeile in allen Abschriften vorhanden ist, nehmen die Herausgeber einen Flüchtigkeitsfehler Puškins an. Es könnte sich aber auch um eine bewusste Auslassung handeln, da česti klič zu den übrigen, eher landwirtschaftlichen Bildern am wenigsten passt und dem A. I. Turgenev gegenüber behaupteten Charakter einer Nachbildung des Sämann-Gleichnisses am stärksten zuwiderläuft. Dies tun z. B. die Ausgaben: A. S. PuškIN, Polnoe sobranoe sočinenij v 10i tomach (Moskau: AN SSSR, 1956–58), II, 416, und A. S. PuškIN, Sobranie sočinenij v 10i tomach (Moskau: Chudožestvennaja literatura, 1974–77), I, 673. In der hier zitierten großen Akademieausgabe von 1937–49 steht eine entsprechende Angabe nur sehr versteckt im Registerband (XVII, 113) s. v. Biblija in der untergruppe Evangelie ot Matfeja, wobei ein Sternchen sogar andeutet, dass das Zitat auch bei anderen Evangelisten vorkommt.

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Puškin

der Reihenfolge nach, die erste Stelle im Neuen Testament, die das Gleichnis vom Sämann einleitet, aber nicht die einzige. Die synoptischen Parallelen stehen bei Markus (4.3) und Lukas (8.5). um zu entscheiden, welcher Text Puškins „Motto“ zugrunde liegt, seien hier die Varianten in den Bibelausgaben angeführt, die Puškin 1823 zugänglich waren: Mt: Mk: Lk:

russ-ksl.4

russ.5

franz.6

се изыде сеяй, да сеет се изыде сеяй сеяти изыде сеяй сеяти семене своего

вот, вышел сеятель сеять вот, вышел сеятель сеять вышел сеятель сеять семя свое

Celui qui sème, s’en alla semer Celui qui sème, s’en alla semer Celui qui sème, s’en alla semer son grain

Puškins Version stimmt mit keiner der kanonischen Textvarianten überein, steht aber zweifellos der Fassung des Lukas-Evangeliums am nächsten. Wie sind die Abweichungen zu erklären? Sie könnten beabsichtigt sein, z. B. im Sinne einer Annäherung an das Russische. Dies ist jedoch wenig wahrscheinlich, denn erstens lag eine modernisierte russische Übersetzung, en regard neben der kirchenslavischen gedruckt, vor; zweitens war der Adressat des Briefes, A. I. Turgenev, Direktor des Departements für Andersgläubige und Sekretär der Russischen Bibelgesellschaft,7 weshalb Puškin in Briefen an ihn öfter kirchenslavische Zitate verwendet. unser Zitat geht offenbar auf die kirchenslavische Lukas-Version zurück, und die Abweichungen erklären sich am einfachsten daraus, dass Puškin aus dem Gedächtnis zitiert. Wieso aber sollte sich ihm gerade die Lukas-Version des Sämann-Gleichnisses eingeprägt haben? Nun, diese Frage ist, glaube ich, leicht zu beantworten: er hatte sie erst vor kurzem gehört (und, dadurch angeregt, vielleicht auch nachgelesen). Hören konnte er diesen Text am Sonntag, dem 4. November 1823 (alten Stils) als 4

5

6

7

Der russ.-ksl. Text ist der für den Gottesdienst verbindliche. Ich zitiere ihn nach einer Bibel-Ausgabe der Moskauer Synodaldruckerei von 1894. Der Text ist aber seit der sog. Elisabeth-Bibel von 1751 nicht mehr verändert worden. Er wurde auch in den ersten Ausgaben, die (en regard) einen neurussischen Text boten, 1819–22, nachgedruckt. Die Rechtschreibung ist von mir vereinfacht. Der russ. Text erschien erstmals, zusammen mit dem ksl., 1819 (nur die vier Evangelien), 1820 (nur die Apostelgeschichte) und 1822 (das ganze Neue Testament) in Ausgaben der Russischen Bibelgesellschaft. 1823 erschien dann das NT erstmals nur in russischer Sprache. Vgl. Historical Catalogue of the Printed Editions of Holy Scripture in the Library of the British and Foreign Bible Society, compiled by T. H. DARLOW M. A. and H. F. MOuLE M. A., 2 Bände (New York: kraus Reprint, 1963), II, 3, Nr. 7784–93 und Nr. 8373. Die russ. Rechtschreibung ist von mir modernisiert. Die Russische Bibelgesellschaft druckte 1817 in Petersburg die französische Übersetzung von Le Maistre de Saci nach. Die Rechtschreibung ist von mir modernisiert. Vgl. die Enzyklopädien BROkGAuZ-EFRON, Bd. 6, s. v. „Biblejskie obščestva v Rossii“ (S. 696), sowie L. A. ČEREjSkIj, Puškin i ego okruženie (Leningrad: Nauka, 1975) s. v. TuRGENEV, A. I.

Commentationes philologicae

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Evangelien-Lesung in der Liturgie, denn dies war der 21. Sonntag nach Pfingsten, für den zu diesem Zweck die Perikope Lukas 8.5–15 vorgeschrieben ist8; Puškin aber war als Staatsbeamter verpflichtet, den sonntäglichen Gottesdienst regelmäßig zu besuchen. Erstaunlich bleibt die Verbindung, die Puškin vom biblischen Sämann zu sich als „Sämann der Freiheit“ schafft. Da das Gedicht zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht wurde, ist nicht sicher auszumachen, ob der Dichter es überhaupt als fertig angesehen hat. Mit dem Bild vom Sämann ist ja nur der erste Teil verknüpft, und es ist einigermaßen schwierig, dieses Bild mit den Metaphern des zweiten Teils zusammenzubringen. Dieser zweite Teil (ab Zeile 8) ist sicher früher als der erste entstanden; er ist fast wörtlich aus dem Entwurf Byvalo, v sladkom osleplen’e ... (II, 294) übernommen, von dem wiederum einzelne Formulierungen auf die Onegin-Strophen kap. I, LVII–LVIII und kap. II, VII–VIII (die Charakteristik Lenskijs) und das wohl auch im November 1823 geschriebene Gedicht „Demon’“ (II, 299) verweisen. Die erwähnten Onegin-Strophen aus dem zweiten kapitel sind im Oktober entstanden, zu einer Zeit also, da Puškin u. a. auch kontakt mit dem früher von ihm verspotteten A. S. Sturdza9 hatte. Er selbst berichtet darüber am 14. Oktober brieflich an Vjazemskij; „Zdes’ Sturdza monarchičeskij; ja s nim ne tol’ko prijatel’, no koj o čem i myslim odinakovo, ne lukavja drug pered drugom.“10 Sturdza seinerseits erinnerte sich später an seine Begegnungen mit Puškin in Odessa so: „Mne dovelos’ často vstrečat’sja s Puškinym v Odesse. Neukrotimyj duch ego, v tu ėpochu ešče ne dozrevšij, vidimo, čuždalsja menja, kak čeloveka, gordivšegosja okovami sobstvennoj mysli. Odnako, nesmotrja na takoe predubeždenie ja s udovol’stviem pripominaju, čto odnaždy, za obedom u moej sestry, grafini R. S. Edling, sidja drug podle druga, ja uspel ovladet’ polnym vnimaniem i sočuvstviem Puškina.“ Govorja o zižditel’noj sile christianskoj very, Sturdza skazal: „Teper’ to i delo govorjat o mečtatel’noj političeskoj svobode; a znaete li, čto v Evangelii, v kotorom zaključeny vse vysšie istiny, my obretaem opredelenie istinnoj svobody? Gospod’ skazal: ‘Poznajte istinu, i istina sdelaet vas svobodnymi’. Zaključite že iz sego božestvennogo izrečenija, čto gde net vnutrennej svobody. tam net i vnešnej.“ Sobesednik moj pri ėtich slovach iz“javil prostodušnoe udivlenie i serdečnoe učastie.”11 In diesem Gespräch mit Sturdza, das von M. A. Cjavlovskij auf die Zeit zwischen dem l. und 14. Oktober 1823 datiert wird,12 möglicherweise aber, als eines von mehreren, auch später stattgefunden haben 8

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Vgl. ukazatel’ novozavetnych čtenij in jeder kirchenamtlichen russ.-orthodoxen Bibelausgabe. Vgl. das Epigramm von 1819 (II, 94), auf das Puškin im nachfolgend zitierten Brief durch das Epitheton monarchičeskij anspielt. Die von Puškin erwähnte Übereinstimmung scheint sich vor allem auf die Beurteilung der Lage in Griechenland bezogen zu haben. Zitiert nach V. VERESAEV, Sputniki Puškina, 2 Bände (Moskau: Sovetskij pisatel’, 1936), I, 339. M. A. CjAVLOVSkIj, Letopis’ žizni i tvorčestva A. S. Puškina, I (Moskau: AN SSSR, 1951), S. 440.

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kann, wird die Freiheits-Thematik expressis verbis angesprochen und von Sturdza mit seinem neutestamentlichen Freiheitsbegriff (nach joh. 8.32) verknüpft. Erstaunlicherweise ergibt sich eine weitere Verknüpfung, wenn man annimmt, dass Puškin auch die Samstags-Vesper am 3. November gehört haben könnte. Für sie war nämlich die Lesung 2. korinther 3.12–18 vorgeschrieben, deren vorletzter Vers lautet: „Gospod’ že duch est’: a iděže duch Gospoden’, tu svoboda.“ Wie dem auch sei, feststeht, dass Puškin im Herbst 1823, als er sich ohnehin in einer tiefgreifenden geistigen krise befand, auf die Bibel auch von außen hingewiesen wurde. Sein Motto aus der Lukas-Version des Sämann-Gleichnisses scheint zwar das erste nicht offensichtlich ironisch gemeinte Bibelzitat Puškins zu sein, doch kann man dessen nicht so sicher sein. Man muss bedenken, dass es in einem Brief an A. I. Turgenev steht, und daß es sich bei dem Gedicht ja keineswegs um ein podražanie des Gleichnisses vom Sämann handelt, sondern eher um eine doch beinahe blasphemische kontrafaktur, indem der Dichter sich an die Stelle Christi setzt, und das, was er aussät, eben jene von Sturdza erwähnte mečtatel’naja političeskaja svoboda ist. Allerdings wird die Blasphemie überdeckt durch die Verzweiflung über die Sinnlosigkeit solchen Tuns, eine Verzweiflung, die sich im zweiten Teil zu Abscheu und Verachtung steigert für die mirnye (im ersten Entwurf: mudrye) narody. Auch dieses Gedicht könnte von dem „Demon“ eingegeben sein und zeigt die gleiche psychologische Entwicklung wie später die Scena iz Fausta, in der ebenfalls Frustration, wie wir heute sagen würden, zu tödlicher Menschenverachtung umschlägt.

2. The „polu“-device Diese Überschrift hat nichts mit demi-vierge zu tun; das hybride russisch-englische kompositum stammt vielmehr aus einem Aufsatz von William B. Edgerton: „Puškin, Mickiewicz, and a Migratory Epigram“.13 Edgerton untersucht dort die verschiedenen überlieferten Fassungen von Puškins Epigramm auf seinen Dienstvorgesetzten in Odessa, Graf Voroncov, die Nachahmung dieser Epigrammstruktur durch Mickiewicz und die (geringe) Wahrscheinlichkeit der Autorschaft Puškins im Falle des Epigramms „Na Fotija.“ Alle diese Epigramme und ihre Lesarten stimmen in eben jenem Strukturelement des „polu“device überein, wobei jeweils mehrere Charakteristika des Angegriffenen als zur Hälfte vorhanden genannt werden, eine weitere, höchst negative Eigenschaft dagegen als vollständig vorhanden oder zu erwarten (letzteres gilt nicht für das Photius-Epigramm). 13

The Slavic and East European journal, 10, Nr. l (1966), S. 1–8.

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Ich habe den Ergebnissen von Edgerton nichts hinzuzufügen, was die umformungen bzw. Nachahmungen von Puškins Voroncov-Epigramm betrifft; vielmehr möchte ich das „polu“-device in einer Form vorstellen, die zeitlich vor Puškins Epigramm liegt und ihn möglicherweise erst auf den Einfall gebracht hat, diese Gedankenstruktur für ein Epigramm zu verwenden. Es handelt sich um eine literarische Quelle, die in die für seine odessitische Periode belegte Beschäftigung Puškins mit Goethe14 gut hineinpasst. Mme de Staël gibt in ihrem Buch De l’Allemagne ein recht ausführliches Résumée von Goethes Faust. Vor der Schülerszene heißt es dort: „Il [Mephistophélès] revêt la robe de docteur, et pendant qu’il attend l’écolier, il exprime seul son dédain pour Faust. ‘Cet homme, dit-il, ne sera jamais qu’a demi pervers, et c’est en vain qu’il se flatte de parvenir a l’être entièrement’.“15 Man wird bei Goethe an der bezeichneten Stelle vergeblich nach einem auch nur entfernt ähnlichen Gedanken suchen; und auch der kommentar im 3. Band der kritischen Ausgabe des Buches fragt befremdet: „Mme de Staël a-t-elle cru résumer par cette phrase banale le drame de la condition humaine dont Faust est le symbole et que Méphisto décrit dans les vers suivants Verachte nur Vernunft und Wissenschaft ... ?“ (Hier folgen die Verse 1850–67). Wie auch immer Mme de Staël auf diese „phrase banale“ gekommen sein mag, Puškin musste sie für ein Goethe-Zitat halten, und zwar für eine typische Äußerung Mephistos. Mit wahrhaft mephistophelischer Freude greift er sie auf und gewinnt ihr durch Steigerung und umkehr epigrammatische Würze ab: ... полу-подлец, но есть надежда, что будет полным наконец.

(II, 317)

Ging dieses Epigramm, und sei es auch nur nach Puškins gutem Glauben, mittelbar auf Goethe zurück, so hat das zweite, das er gegen Voroncov schleuderte, einen biblischen Hintergrund:16 Певец Давид был ростом мал, Но повалил же Голиафа, Который был и генерал, И, положусь, не проще графа.

14 15

16

(II, 318)

Vgl. den im Vorwort zitierten Brief aus Odessa (XIII, 92, Nr. 82). Mme de STAëL, De l’Allemagne, Nouvelle edition publiée d’après les manuscrits et les éditions originales ..., 2 Bände (Paris: Hachette, 1950), II, 80. Hervorhebung von mir (R.-D. k.). und zwar neben dem allgemein bekannten Bericht vom kampf mit Goliath auch den letzten Psalm des orthodoxen Psalters, der nur griechisch überliefert ist, daher keine Nummer hat und in westlichen Bibeln fehlt. Seine Überschrift lautet: „Sej psalom osob’ pisan Davidov, i vne čisla 150 psalmov, vnedga edinoborstvovaše na Goliatha“, und er beginnt: „Mal bech v bratii moej, i junšij v domu otca moego.“ Im ersten Heft der „Mnemozina“ für 1824 veröffentlichte Griboedov eine Nachdichtung dieses Psalms (vgl. A. S. GRIBOEDOV, Sočinenija [Moskau: Chudožestvennaja literatura, 1953], S. 336 und 680).

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3. Die apokalyptische Stimme Anna Petrovna kern berichtet in ihren Erinnerungen an Puškin, wie dieser im Sommer 1825 ihr und den Damen von Trigorskoe seine „Cygany“ vorgelesen habe: ja byla v upoenii kak ot tekučich stichov ėtoj čudnoj poėmy, tak i ot ego čtenija, v kotorom bylo stol’ko muzykal’nosti, čto ja istaivala ot naslaždenija; on imel golos pevučij, melodičeskij i, kak on govorit pro Ovidija v svoich Cyganach: И голос шуму вод подобный.17

Dieser Vers hat sich der Memoirenschreiberin nicht umsonst eingeprägt. Die Einheit von klangstruktur und Aussagegehalt ist unübertrefflich gelungen, und niemand käme auf den Gedanken, dass Puškin auch hier, wie so oft, schon einmal Gesagtes auf russisch neu – und um eine ästhetische Dimension reicher – gesagt hat. I golos šumu vod podobnyj, das wird in der Offenbarung johannis von der Christuserscheinung gesagt (1.15): I glas Ego, jako glas vod mnog hieß das auf kirchenslavisch, I golos Ego, kak šum vod mnogich hieß es auf russisch, aber das ist immer noch weiter weg von Puškins Vers als die französische Fassung von Le Maistre de Saci: Et sa voix égalait le bruit des grandes eaux. Denn dieser Satz war bereits ein Vers, 12 Silben, Zäsur nach der 6., ein vorschriftsmäßiger, wenn auch zufälliger, Alexandriner, der Puškin schon deshalb im Ohr bleiben mußte,18 um später, bei irgendeiner Gelegenheit „zum Besten zu dienen“, wie der Apostel sagt. Die „Cygany“ sind 1824 in Odessa begonnen und in Michajlovskoe beendet worden. Wenn meine an anderer Stelle veröffentlichte Vermutung19 zutrifft, dass nämlich der Liedeinschub (IV, 183f, v. 1044) Ptička Božija ne znaet ... durch eine Passage in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“ angeregt sein könnte,20 17

18

19

20

A. P. kERN: Vospominamja, dnevniki, zapiski (Moskau: Chudožestvennaja literatura, 1974), p. 35. Der zitierte Vers der „Cygany“ ist v. 189 (IV, 186). Der Gründer der Russischen Bibelgesellschaft, john PATERSON (The Book for Every Land: Reminiscenses of Labour and Adventure in the Work of Bible Circulation in the North of Europe and Russia [London: j. Snow, 1858]) bezeugt für Zar Alexander I. und viele russische Adlige, dass sie die Bibel gewöhnlich auf französisch lasen. Dasselbe ist für Puškin anzunehmen, vgl. seine Briefe an den Bruder (Nr. 117, 120 und 125–XIII, 123, 127, 131), die beweisen, dass der Dichter zur Zeit der Niederschrift unseres Verses (vgl. IV, 472) keine Bibel zur Hand hatte. „Der Fürst und der Sänger – Varianten eines Balladenmotivs von Goethe bis Puškin,“ in: Studien zu Literatur und Aufklärung in Osteuropa, hrsg. von H. B. HARDER und H. ROTHE (Gießen: W. Schmitz Verlag, 1978), 219–68, s. o. S. 105ff. Im 2. kapitel des 2. Buches; vgl. in diesem Band S. 105, 106. In einer ausgezeichneten Studie hat S. kARLINSkY die Vermutung geäußert, der Liedeinschub könne durch Chateaubriands Darstellung der Zugvögel im „Génie du Christianisme, Teil I, Buch V ab kapitel 7, nahegelegt sein. Ich finde mehr Übereinstimmung mit der wesentlich kürzeren WilhelmMeister-Stelle, die zudem eine Verbindung zum Dichterthema das in den –„Cygany“– trotz Mandel’štams Zweifeln, vgl. meine zitierte Arbeit, S. 106 – eine wichtige Rolle spielt, dagegen in der Pseudo-Zoologie Chateaubriands nicht vorkommt (vgl. S. kARLINSkY, „Pushkin, Chateaubriand, and the Romantic Pose,“ in California Slavic Studies, 2 [1963], S. 96–107).

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so gäbe es also auch in dem letzen der sogenannten südlichen Poeme Spuren der gleichzeitigen Beschäftigung mit der Bibel und mit Goethe, wie Puškin sie in dem für ihn so verhängnisvollen Brief erwähnt.21

4. Die „Scena iz Fausta“ und Mme de Staël Die bisher fundierteste Zusammenfassung über Puškins Verhältnis zu Goethes Werk hat im Goethe-jubiläumsjahr 1932 V. Žirmunskij gegeben22 und dabei auch zur „Scena iz Fausta“ Stellung genommen: sie sei der bedeutendste Widerhall, den Goethes Tragödie bei Puškin gefunden habe. Wie die Forschung jedoch gezeigt habe, gebe Puškin auch hier, trotz einer Ähnlichkeit von Namen und Sujetzügen, eine durchaus eigenständige konzeption des Faust-Problems, die sich wesentlich von Goethes Idee unterscheide. Faust als Träger romantischer Sehnsucht, als Sucher unendlichen Wissens und grenzenlosen Glücks, versenkt in mystische Naturbetrachtung und „sinnlich-übersinnliches“ Liebeserleben, kurz der romantische Faust eines Venevitinov, Tjutčev, Aksakov, bleibe außerhalb von Puškins Gesichtskreis. „Seine Scena iz Fausta steht überhaupt unter dem Zeichen Mephistos als Hauptperson der Handlung: in ihm verstärkt Puškin noch die dieser Figur eigenen Züge verstandesmäßiger kritik an den Werten des Lebens, im Geiste der französischen „Freidenker“ des XVIII. jahrhunderts, eines skeptischen „Voltairianertums“, das den naiven und verträumten Idealismus entlarven will. Dieser, in der geistigen Tradition des französischen bürgerlichen Denkens des XVIII. jahrhunderts aufgewachsene Faust gehört zur gleichen Gattung (pereklikaetsja) wie die enttäuschten byronistischen Helden des jungen Puškin, der gelangweilte Onegin und andere.“23 Eine sehr ähnliche Auffassung vertritt V. Setschkareff in seiner ebenso klaren wie tiefen Abhandlung „Über die Langeweile bei Puschkin“24, wo es u. a. heißt: „Die ‘Szene’ ist die präzise Zusammenfassung der in den Verserzählungen, Gedichten und im ‘Onegin’ verstreuten Äußerungen über die Langeweile, der gelungene Versuch, die Langeweile als metaphysisches Problem in größter kürze und Deutlichkeit zu behandeln. Nur von diesem Gesichtspunkt aus kann sie (die Scena iz Fausta – R.-D. k.) befriedigend interpretiert werden.“ Setschkareff hat das in dem erwähnten Aufsatz überzeugend getan, und ich möchte hier weder seine Interpretation wiederholen noch auf die meines Erachtens weniger geglückten Interpretationsversuche einiger anderer Forscher eingehen, 21

22

23 24

Nr. 82–XIII, 92, vgl. das Zitat im Vorwort zu diesen Skizzen. Dieser Brief war – wegen des dort erwähnten Atheismus – Anlaß zur Entlassung Puškins aus dem Staatsdienst und zu seiner Verbannung nach Michajlovskoe im Sommer 1824. V. ŽIRMuNSkIj: „Gete v russkoj poezii,“ in: Literaturnoe nasledstvo, 4–6 (1932), S. 505–650, darin über Puškin speziell S. 557–65. ŽIRMuNSkIj, o. c., S. 561. In: Solange Dichter leben, hrsg. von A. LuTHER (krefeld: Scherpe Verlag, 1949), S. 129–47; die hier zitierten Sätze: S. 144.

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sondern nur zur möglichen Genesis der „Szene“ etwas beitragen. In ähnlichem Zusammenhang hat André von Gronicka,25 unter Berufung auf einen Artikel von john G. Frank,26 auch auf „Mme. de Staël’s Interpretation of Faust in her De l’Allemagne“ hingewiesen. Da ich auch an einen solchen Zusammenhang glaube, Franks Einlassungen aber keineswegs „convincingly demonstrated“ finde, möchte ich den Nachweis anhand des französischen Textes führen.27 Bereits im ersten Absatz des „Faust“ überschriebenen XXIII. kapitels des zweiten Teils von De l’Allemagne kommt das Schlüsselwort ennui vor. Die Verfasserin berichtet dort ganz knapp über den vorgoetheschen Faust im Puppenspiel, bei Lessing und einigen englischen Autoren28 und stellt dies ur- und Vorbild des goetheschen Titelhelden wie folgt dar: Son savoir très-profond ne le préserva pas de l’ennui de la vie; il essaya pour y échapper de faire un pacte avec le diable, et le diable finit par l’emporter.29 Voilà le premier mot qui a fourni a Goethe l’étonnant ouvrage dont je vais essayer de donner l’idée. (S. 70)

Mme de Staël sieht also bereits bei den Vorformen des Faust die ursache für den Teufelspakt und alles, was daraus folgt, im ennui de la vie. Dies habe Goethe vorgefunden und in seinem Werk entwickelt, nach Résumées der Szenen „Nacht“, „Hexenküche“ und (in dieser Reigenfolge!) „Studierzimmer“ folgt die Behauptung: „Faust s’ennuie, et Mephistophélès lui conseille de devenir amoureux“ (S. 95) Es folgt, mit Zitaten, die Szene „Marthens Garten“ mit dem wiederum nicht aus dem Text zu belegenden Schluss: „Faust se lasse de l’amour de Marguerite comme de toutes les jouissances de la vie; rien n’est plus beau, en allemand, que les vers dans lesquels il exprime tout à la fois l’enthousiasme de la science et la satiété du bonheur.“ Mme de Staël übersetzt diese Verse, die im Original die vorangehende Szene „Wald und Höhle“ eröffnen (v. 3217–50),30 wobei für die letzten beiden Verse: So tauml ich von Begierde zu Genuß, und im Genuß verschmacht ich nach Begierde 25

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27 28

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André von GRONICkA. The Russian Image of Goethe (Philadelphia: univ. of Pennsylvania Press, 1968), S. 70. john G. FRANk, „Pushkin and Goethe,“ in: The Slavonic [and East European] Review, 26 (1947–48), S. 146–51. Dieser Artikel ist philo- und chronologisch recht unzuverlässig. Alle Zitate nach der bereits genannten kritischen Ausgabe von De l’Allemagne, t. II. „... et quelques-uns même lui attribuent l’invention de l’imprimerie“. Bekanntlich sollte Faust in dieser Rolle in den sogenannten Sceny iz rycarskich vremen auftreten. Man braucht also dazu nicht einmal eine Bekanntschaft Puškins mit „Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt“ von F. klinger anzunehmen, wie G. GLEBOV (Zven’ja, 2 [1933] S. 51), A. LuTHER (Solange Dichter leben, S. 66) und G. P. MAkOGONENkO (Russkaja literatura X VIII veka i ee meždunarodnye svjazi, = XVIII vek, 10 (1975), 284–91). Dies letzte Detail kann zusammen mit der Szene „Hexenküche“ den Anstoß zu den übrigen Faust-Entwürfen Puškins gegeben haben. Die mehrfach veränderte Reihenfolge der Szenen wird im kommentar auf S. 105, Anm. l, darauf zurückgeführt, daß Mme de Staël den urfaust und das Faustfragment von 1790 benutzt habe, zumal der vollständige Faust I erst 1808, wenige Monate vor De l’Allemagne erschienen ist. Für eine solche Annahme spricht auch die fehlende Erwähnung der Zueignung

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zu lesen ist: je passe avec ivresse du désir au bonheur; mais au sein du bonheur même, beintôt un vague ennui me fait regretter le désir.“ (S. 105) D. h., die (falsche) Grundkonzeption vom ennui31 ist auch an dieser hervorgehobenen Stelle eingearbeitet, zudem in ein der Intention nach wörtliches Zitat. Aber Puškin hat nicht nur die psychologische Grundkonzeption bei Mme. de Staël vorgefunden und übernommen, sondern auch die dramaturgische konzeption von der Rolle Mephistos. Wie wir in dem obigen Zitat aus Žirmunskij sahen, steht Puškins Faust-Szene „überhaupt unter dem Zeichen Mephistos als Hauptperson der Handlung“. Bei Mme. de Staël lesen wir expressis verbis: „Le diable est le héros de cette pièce“ (S. 71), und im Anschluss an diese Feststellung folgt eine durchaus zutreffende Charakteristik Mephistos, die 63 Zeilen umfasst, während Faust, der anschließend charakterisiert wird, nur 9 Zeilen bekommt (S. 75f), in denen man den goetheschen Faust kaum wiedererkennt. Schließlich ist möglicherweise auch die künstlerische Formgebung der Scena iz Fausta mit von dem urteil beeinflusst worden, das Mme. de Staël über den Faust (es geht immer nur um den ersten Teil!) als kunstwerk fällte: Certes, il ne faut y chercher ni le goût, ni la mesure, ni l’art qui choisit et termine; mais si l’imagination pouvait se figurer un chaos intellectuel tel que l’on a souvent décrit le chaos matériel, le Faust de Goethe devroit avoir été composé a cette époque. (S. 70f)

Ähnlich vernichtend fällt ihr urteil über die „Hexenküche“ aus: ... il faut, pour se plaire à ce comique, n’y point appliquer le raisonnement, et regarder les plaisirs de l’imagination comme un jeu libre et sans but.32 (S. 82f)

Der Schluss des Faust-kapitels resümiert: La pièce de Faust cependant n’est certes pas un bon modèle. Soit qu’elle puisse être considerée comme l’œuvre du délire ou de la satiété de la raison, il est a désirer que de telles productions ne se renouvellent pas; mais quand un génie tel que celui de Goethe s’affranchit de toutes les entraves, la foule de ses pensées est si grande, que de toutes parts elles dépassent et renversent les bornes de l’art. (S. 127)

31

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und der beiden Vorspiele durch Mme. de Staël. Die Szene „Wald und Höhle“ wird häufig in der Sekundärliteratur als Grundlage der Scena iz Fausta herangezogen, so von A. BEM („Faust v tvorčestve Puškina,“ in: Slavia, 13 [1934], S. 378–99) und A. LuTHER (o. c., S. 68); john G. FRANk hält sie, „also very well translated by Mme de Staël“, dagegen für die Grundlage von Puškins Gedicht „Demon“ (o. e., S. 146). In der Szene „Wald und Höhle“ steht auch (v. 3265) das Wort, das Mme. de Staël eventuell zu ihrer Fehlinterpretation verleitet oder sie zumindest darin bestärkt hat: Faust sagt da nämlich ärgerlich: „Er will noch Dank, daß er mich ennuyiert!“ – was nur heißt, dass Mephisto Fausten auf die Nerven geht, und nichts mit ennui de la vie zu tun hat. Vielleicht hat diese negative Beurteilung der „Hexenküche“‘ Puškin dazu bewogen, seine Versuche in diesem Genre nicht weiterzuführen. Deren Entstehungsgeschichte scheint nicht restlos geklärt zu sein: Während GLEBOV und nach ihm A. LuTHER das erste Fragment (Skaži, kakie zaklinan’ja) noch auf 1819/20 datieren, schreibt CjAVLOVSkIj in der Letopis’ (S. 778) 1822–25, während er die beiden anderen ins jahr 1825 setzt, unter welchem sie alle drei in den Ausgaben erscheinen (II, 380–81).

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Puškins künstlerischer konzeption und Methode musste daran gelegen sein, zu „wählen und zu vollenden“ und „die Grenzen der kunst“ nicht zu überschreiten. Seine Scena iz Fausta ist das erste ausgeführte Beispiel jener extremen komprimierung, die das unverwechselbare kennzeichen seiner „kleinen Tragödien“ ist. Ist somit die Affinität der puškinschen Faust-Szene zu der psychologischen, dramaturgischen und artistisch-formalen konzeption im Faust-kapitel der Mme. de Staël offensichtlich, so heißt das doch nicht, dass Puškin das deutsche Original des Faust nicht gekannt, und noch weniger, dass er in seiner „Szene“ nichts Eigenes gegeben hätte. Dafür, dass er auch das deutsche Original gesehen hat, spricht zumindest der lateinische Albumspruch. Mme. de Staël hatte zwar am Ende der Schülerszene den dortigen Albumspruch auch zitiert, jedoch auf französisch und ohne jeden Vermerk, dass er im Original lateinisch stand.33 Ein weiterer Hinweis auf Puškins kenntnis des deutschen Originals ist das schon vor der Scena iz Fausta geschriebene „Gespräch des Buchhändlers mit dem Dichter“, das durch Goethes „Vorspiel auf dem Theater“ angeregt ist34 – einen Bestandteil der FaustDichtung, den Mme. de Staël ebensowenig erwähnt wie die „Zueignung“ oder das „Vorspiel im Himmel“. Ausgehend von der ennui-konzeption der Mme. de Staël, die ihm vertraut war aus Chateaubriands „vague des passions“, aus Senancours „Obermann“, aus Byron und aus eigener Erfahrung und Beobachtung (vgl. Onegin, kap. I, Str. XXXVIII), hat Puškin im Schluss seiner „Szene“ eine psychologische konsequenz aufgezeigt, wie sie sonst erst in den sechziger jahren des XIX jahrhunderts von einzelnen künstlern wie Victor Hugo35 und Baudelaire36 oder in Russland von Dostoevskij erkannt und gestaltet wurde. 33

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Diesen umstand übersieht j. G. FRANk, wenn er schreibt: „Much ado is made by Pushkin about the autograph album, just as by Mme. de Staël. ... In both cases a Latin verse is inscribed in the album“ (o. c., S. 149). Interessant ist, dass GRIBOEDOV zu gleicher Zeit eine Übersetzung bzw. Nachdichtung des „Vorspiels auf dem Theater“ fertiggestellt hatte, die Ende 1824 in der Poljarnaja zvezda na 1825 god erschien. Puškin konnte durch Tumanskij oder küchelbecker evtl. schon früher von dieser Arbeit Griboedovs erfahren, doch ist das nicht nachweisbar. Victor HuGO in William Shakespeare (1864) „Néron est la plus formidable figure de l’ennui qui ait jamais paru parmi les hommes. ... Néron cherche tout simplement une distraction ... incendiaire par curiosité et parricide par désœuvrement.“ Zitiert nach Madeleine BOuCHEZ, L’ennui de Sénèque à Moravia (Paris-Bruxelles-Montréal: Bordas, 1973), S. 26. Schon 20 jahre vor Hugo hatte kierkegaard das Phänomen der existentiellen Langeweile am Beispiel Neros dargestellt. (Søren kIERkEGAARD. Samlede Værker II 207ff [københavn: Gyldendalske Boghandel, 1920] Deutsch in: Entweder-Oder München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1975, S. 738ff). Baudelaire. „Au lecteur“ Dans la menagerie infâme de nos vices, Il en est un plus laid, plus méchant, plus immonde! Quoiqu’ il ne pousse ni grands gestes, ni grands cris, II ferait volontiers de la terre un débris Et dans un baillement avalerait le monde;

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5. Faust und Onegin Nach der vorangegangenen Skizze über Puškins Scena iz Fausta und Mme. de Staël dürfte klar sein, dass es zwar eine Affinität zwischen dem existenziell gelangweilten Onegin und dem Faust der Scena gibt, dass dieser aber nichts mit dem goetheschen Faust gemein hat. Ziel dieser Skizze ist es, zu zeigen, dass dennoch auch vom goetheschen Faust her Beziehungen zu Puškins Roman in Versen vorhanden sind. Eine gewisse Parallele zwischen Goethes Faust und Puškins Evgenij Onegin besteht ja schon darin, dass beide Werke für ihre Autoren insofern eine Sonderstellung in ihrem Schaffen einnahmen, als sie besonders lange an ihnen gearbeitet haben und daher viel von ihrer persönlichen Erfahrung und Entwicklung in die nahezu ungeplant, aber organisch wachsenden großen Werke eingegangen ist. Diese Parallele ist sozusagen privater, biographisch-schaffenstypologischer Art und impliziert noch keinerlei Beziehung zwischen den Werken als solchen, keinerlei Zusammenhang zwischen den jeweiligen Sujets oder Formen, sondern eine Art Rangäquivalenz, die natürlich nur von dem später schreibenden Puškin eventuell wahrgenommen werden konnte. Dagegen ist eine Beeinflussung von Puškins Sujet-konzeption durch Goethes Faust nicht beweisbar, aber auch nicht auszuschließen. Es ist auffällig, dass die Personenanordnung des Onegin im ersten, noch in kišinev konzipierten kapitel (die auf der fiktiven Freundschaft des Autors mit seinem einzigen Helden beruhte) in Odessa, vom zweiten kapitel ab, völlig geändert wird. Der Autor tritt aus der Rolle des Mitspielers zurück in die des kommentators, während er nun zwei Helden einführt, die beide Ausformungen von Wesenszügen darstellen, welche in Puškin selbst widerstreitend vorhanden waren. Die Parallele zu Faust und Mephisto drängt sich auf, lässt sich aber, wie gesagt, nicht beweisen. Beweisbar scheint mir etwas anderes zu sein. Puškin war sich über den Rang seines Versromans von Anfang an im klaren. Wir besitzen mehrere briefliche Zeugnisse dafür aus den jahren 1823 bis 182637, die davon berichten, dass er schreibe, wie lange nicht mehr, dass er mit dem Geschriebenen zufrieden sei, was ihm selten widerfahre. In einem Brief an A. Bestužev vom 24. März 1825 heißt es dann eindeutig: „... ty smotriš’ na ‘Onegina’ ne s toj točki, vse-taki on lučšee proizvedenie moe“. Als er dies schrieb, waren die ersten drei kapitel ganz, das vierte etwa halb fertig, große Teile der später eliminierten „Reise Onegins“

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C’est l’ennui! – l’œil charge d’un pleur involontaire, II rêve d’échafauds en fumant son houka. desgleichen an vielen anderen Stellen der „Fleurs du mal“, z. B. in Nr. XXV: Femme impure! l’ennui rend ton âme cruelle. Vgl. Madeleine BOuCHEZ, o. c., S. 84–91. Zum Thema Ennui in der Zeit Puškins vgl. in diesem materialreichen Bändchen das kapitel V. Le mal romantique (S. 57–77). Übersichtlich zusammengestellt bei V. NABOkOV, Eugene Onegin: A Novel in Verse by Aleksandr Pushkin, 4 Bände (New York: Bolingen Foundation), I, 68–73.

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ebenfalls geschrieben, das erste kapitel war bereits (seit dem 16. Februar 1825) publiziert. und für diese Erstpublikation hatte Puškin anstelle eines Vorworts den Dialog Razgovor knigoprodavca s poėtom eingesetzt, der vermutlich zu eben diesem Zweck im September 1824 in Michajlovskoe geschrieben worden war. Die Parallele zum „Vorspiel auf dem Theater“ ist unübersehbar, und sie wurde denn auch sogleich von den gebildeten Zeitgenossen bemerkt: Bestužev sprach in seinem Literaturüberblick für 1824 in der Poljarnaja Zvezda begeistert über ėto sčastlivoe podražanie Gete.38 Entscheidend ist hier nicht die nur teilweise Parallelität der Personen, nicht der naturgemäß verschiedene Aussagegehalt, sondern die Funktion des Ganzen als Einleitung zum eigenen Hauptwerk.39 Diesen Platz behält der Razgovor auch in der zweiten Separatausgabe des ersten kapitels vom März 1829 noch. Danach erscheint er nicht mehr als Vorspann des Onegin, wofür es sicher eine Reihe von sehr verschiedenen Gründen gibt, u. a. den, dass Puškin zeitweilig seinen Boris Godunov für sein bedeutendstes Werk hielt, und wohl auch den, dass er einen Vergleich mit dem „Riesen der romantischen Dichtung“, wie er Goethe nannte,40 nicht herausfordern wollte. Dies alles ist seit langem bekannt, wiewohl es selten erwähnt wird. Nicht bekannt ist, dass Puškin noch einmal an Goethes „Faust“ erinnert wurde, als er 1830 in Boldino den jetzigen Schluss seines Versromanes konzipierte. Dieser Schluss ist ja zugleich, vom Sujet her gesehen, eine tour de force, und von der formalen Durchführung her gesehen, eine kompositorische Glanzleistung bis hin zu den Reimwiederholungen innerhalb der letzten beiden Strophen und zwischen ihnen, und solchen Parallelen wie der Zeile 8 in beiden Strophen: (L) Promčalos’ mnogo, mnogo dnej und (LI) O mnogo, mnogo rok ot“ jal! Die letzten drei Strophen sind Abschiedsgrüße, XLIX noch munter scherzend und ein wenig sogar an Zeilen aus dem Razgovor knigoprodavca s poėtom (und dem „Vorspiel auf dem Theater“)41 erinnernd, verabschiedet sich vom Leser; L enthält den schon etwas schwermütigeren Abschied vom Werk und seinen Personen, wobei der Dichter sich der langsamen Entstehung und seiner Freude während der Arbeit erinnert. Höchst bemerkenswert ist in der Rück38 39

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Poljarnaja zvezda na 1825 god, im Nachdruck Moskau-Leningrad: 1960 S. 494. Nähere kenntnis Goethes durch den umgang mit den Ljubomudry in Moskau, 1826–27, mag Puškin später dazu bewogen haben, die Parallele nicht mehr zu ziehen. Vgl. auch Anm. 40). Im Entwurf sogar „Engel der romantischen Dichtung“, was sich aus der im kontext angezogenen alttestamentlichen Erzählung vom kampfe jakobs mit dem Engel erklärt. Der zwischen 1830 und 1837 entstandene Text (XII, 163 bzw. 400 f) lautet: „Gëte imel bol’šoe vlijane na Bajrona. Faust trevožil voobraženie Čal’d Garol’da. Dva raza Bajron pytalsja borot’sja s Velikanom romantičeskoj poėzii-i ostalsja chrom, kak Iakov.“ Vgl. auch 1827 „O dramach Bajrona“ die parallele Äußerung, in der die beiden hier gemeinten Versuche Byrons benannt sind: „Manfred“ und „The Deformed Transformed“ (XI, 51 u. 321). Vgl. „Vorspiel auf dem Theater“ vv. 112–16. Näher noch Griboedovs Variante dieser Stelle: Inoj nebrežnyj lovit stich, – Sotrudnik glupych on žurnalov Im „Razgovor“ vgl. die letzten 8 Verse des Buchhändlers II, 330).

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schau der Verse 8–14 die gewiss unbewusste Parallele zu Goethes Versen von den schwankenden Gestalten, Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt: Промчалось много, много дней С тех пор, как юная Татьяна И с ней Онегин в смутном сне Явилися впервые мне –

Hier liegt keine literarische Nachzeichnung vor, sondern eine parallele Erfahrung beider Dichter. Anders dagegen in der letzten Strophe. Hier kommen gleich eine ganze Reihe literarischer Reminiszenzen zusammen, voran das selbst als SaadiZitat eingekleidete Selbstzitat, mit dem Puškin sein Motto zum „Bachčisarajskij fontan“ wiederaufnimmt.42 Die Bedeutung dieser Zeile ist nun vertieft und mit tragischem Sinn erfüllt. Puškin wird gewiss dabei auch an seine Freunde unter den Dekabristen gedacht haben. Nabokov konnte nur einen Dekabristen mit Sicherheit ausmachen, dem Puškin frühe Onegin-Strophen vorgelesen hat, Fürst Sergej Volkonskij43, aber erstens wissen wir zu wenig, zweitens können ja NichtDekabristen wie Tumanskij, N. N. Raevskij, Raič, von denen man weiß, dass Puškin ihnen in Odessa aus dem Onegin vorlas, ebenso gut gemeint sein; drittens schließlich kann hinter all dem eben nicht nur die Erinnerung an die alten Freunde stehen, sondern auch eine literarische Bearbeitung des gleichen Themas, womöglich noch aus ähnlichem Anlass. und das ist eben die schon erwähnte „Zueignung“ zum Faust, und zwar in der Übersetzung Žukovskijs. Dies Gedicht war Puškin ganz zweifellos sehr gut bekannt und zudem im Herbst 1830 aus mehreren Gründen gewärtig. Es war von Žukovskij 1817 übersetzt worden, zu einer Zeit, da er Puškin fast täglich sah. Marcelle Ehrhard kennzeichnet die Übersetzung treffend wie folgt: C’est encore l’adaptation à ses propres sentiments d’un thème etranger que l’imitation de la Dédicace de Faust, qui parut d’abord dans le Fils de la Patrie en 1817, sous le titre de Rêve [Mečta – R.-D. k.44], puis la même année comme introduction aux Douze Vierges endormies. Elle s’y adaptait très bien, à cause du long espace de temps qui sépare les deux ballades qui composent ce poème45, et encore, ce faisant, joukovski songeait42 43 44

45

Vgl. NABOkOV, o. c., S. 245 und 249–50 im 3. Band. NABOkOV, o. c., III, 248. Im Syn otečestva, čast’ 39, Nr. 32, otdel 4 war auf S. 230 ff u. a. auch vermerkt, daß Žukovskij in der „Mečta“ podražal slavnomu Nemeckomu Poėtu Gete. Es handelt sich um die schon 1810 geschriebene Ballade „Gromoboj“ und die 1814–17 entstandene Ballade „Vadim“, die, thematisch an die Geistergeschichte „Die zwölf schlafenden jungfrauen“ von H. G. SPIESS anschließend, unter Voranstellung der Nachbildung von Goethes Faust-Zueignung, zu der Starinnaja povest’ v dvuch balladach zusammengefasst und publiziert wurden. Michael R. kATZ (The Literary Ballad in Early Nineteenth-Century Russian Literature [London: Oxford univ. Press, 1976], S. 67) teilt ein interessantes Ergebnis einer mir nicht zugänglichen neueren untersuchung mit: A. L. Yashchenko convincingly argues that Gromoboi is nothing less than Zhukovsky’s own reworking of Goethe’s Faust“ (A. L. jAšČENkO, „Faust Gete. Rannie otkliki v Rossii. V. A. Žukovskij i A. S. Puškin,“ in: učenye. zapiski Gor’kovskogo universiteta, 65 [1964], S. 189–204).

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Puškin

il propablement, plutôt qu’à la ballade de Gromboi, à sa nouvelle en prose Vadim qui était restée inachevée en 1803; le „cercle“, où il avait d’abord chanté, c’était celui des Tourguénev. Les vers de Goethe ne sont pas très exactement traduits, les variantes sont nombreuses, mais il est une fidélité plus frappante que celle des mots, c’est celle de l’état d’âme: joukovski, se remettant à l’œuvre, comme jadis Goethe reprenant son Faust, se souvient des amis, maintenat disparus, morts ou loin de lui, qui l’entouraient jadis. Que de fois n’a-t-il pas cité dans sa correspondance (et toujours en allemand, quoique sa propre traduction soit parfaite) le vers de Goethe: und manche liebe Schatten steigen auf!46

und nicht nur in seiner korrespondenz nimmt er das Thema wieder auf, sondern auch in zwei Gedichten des jahres 1819, der Elegie „Na končinu Ee Veličestva korolevy Virtembergskoj“47 und im gleichen jahr in dem aus dem gleichen Seelenzustand geborenen Gedicht „Cvet zaveta.“48 All das wusste Puškin natürlich, aber es war nicht nur der gleiche état d’âme, der ihn beim Abschluss des „Onegin“ an diese ihm bekannten Vorformungen des Erinnerungsthemas gemahnte. Vermutlich interessierten ihn dabei auch die Formen selbst, in denen Žukovskij seine Gefühle ausgedrückt hatte. Alle drei genannten Gedichte waren nämlich in Oktaven (Stanzen) geschrieben, die genau dem goetheschen Muster [in Reimanordnung und Zeilenausgang] folgten. und kurz nach der Beendigung des „Onegin“ greift Puškin denn auch zu dieser Form: Ja chotel/Davnym-davno prinjat’sja za oktavu (V, 83). Hier beginnt ein neues kapitel innerhalb des Themas „Puškin und Goethe“, ein formgeschichtliches, was übrigens auch V. Žirmunskij schon kurz angedeutet hatte.49 Aber zurück zur Schlussstrophe des Onegin. Was in Žukovskijs Goethe-Version zwei Strophen eingenommen hatte, ist bei Puškin in acht Zeilen zusammengefasst: Žukovskij: Ты50 образы веселых лет примчала – И много милых теней восстает; И то, чем жизнь столь некогда пленяла, Что Рок, отняв, назад не отдает, То все опять душа моя узнала; Проснулась Скорбь, и Жалоба зовет Сопутников, с пути ушедших прежде И здесь вотще поверивших надежде. К ним не дойдут последней песни звуки; Рассеян круг, где первую я пел; 46 47

48 49

50

Marcelle EHRHARD: V. A. Joukovski et le préromantisme russe (Paris: 1938), S. 300. V. A. ŽukOVSkIj, Sobranoe sočinenij v 4ch tomach (Moskau-Leningrad: Chudožestvennaja literatura, 1959), I, 315ff. Obgleich es ein Auftragsgedicht war. ŽukOVSkIj, o. c., I, 322ff. V. ŽIRMuNSkIj, o. c., S. 562f. Ebenfalls eine goethesche Oktave enthielt Griboedovs Nachbildung des „Vorspiels auf dem Theater“ in der Entsprechung zu Goethes Versen 69–76. Angeredet ist die von Žukovskij in der Überschrift genannte „Mečta“.

Commentationes philologicae

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Не всретят их простертые к ним руки; Прекрасный сон их жизни улетел. Других умчал могучий Дух разлуки; Счастливый край, их знавший, опустел; Разбросаны по всем дорогам мира – не им поет задумчивая лира.51

Dagegen bei Puškin: Но те, которым в дружной встрече Я строфы первые читал ... Иных уж нет, а те далече, Как Сади некогда сказал. Без них Онегин дорисован. А та, с которой образован Татьяны милый идеал ... О много, много рок отъял!

Aufschlusreich ist die Entwurfsvariante (VI, 636): О много, много Рок умчал,

in der noch die Erinnerung an Žukovskijs mogučij Duch razluki sich mischt mit der an čto Rok, otnjav, nazad ne otdaet. Die endgültige Fassung stellt die richtige Zuordnung wieder her und verstärkt die tragische Gewalt dieses Verses nicht nur durch vollkommenste Vokalharmonie, sondern auch durch die unnahbare Feierlichkeit der kirchenslavischen Wortform ot“jal! Puškin hat sich wiederum das Überlieferte umprägend anverwandelt. Für mich bleibt aber das Erstaunlichste, dass die gleiche Erlebnislage in der vorletzten Strophe eine größere Nähe zu Goethe hervorgebracht hat, als sie Žukovskij in seiner Übersetzung erreichen konnte: Goethes trüber Blick und Puškins smutnyj son, in dem er das künftige Werk ešče ne jasno različal – von dieser Erfahrung der Großen mit ihrem größten Werk konnte Žukovskij nichts wissen. Ihn tröstete statt dessen sein blagodatnyj Genij, seine Mečta

??

ŽukOVSkIj, o. c., II, 84.

Warum ich Puschkin übersetze Nicht ohne eine gewisse Beklemmung richte ich das Wort an Sie. Es ist schon ein eigenartiges Gefühl, nach soviel überschwänglichem Lob auch selbst noch etwas sagen zu müssen. Andererseits fühle ich mich aber auch zutiefst verpflichtet, meinen Dank öffentlich zu bekunden. Er gilt zuerst der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, sodann allen, die meine Onegin-Übersetzung von Anfang an, das heißt seit 1959, durch Anteilnahme und Kritik gefördert haben, bis zu ihrem Erscheinen 1980 und darüber hinaus. Unter ihnen möchte ich namentlich Herrn Professor Rothe aus Bonn danken, der sich nicht nur für die Drucklegung eingesetzt, sondern meine Arbeit auch in die „Schriften des Komitees der Bundesrepublik Deutschland zur Förderung der Slawischen Studien“ aufgenommen hat und damit eine um Kommentar und Bibliographie erweiterte editio maior ermöglichte, die – ebenso wie die Taschenbuchausgabe – vom Wilhelm Schmitz Verlag in Gießen publiziert wurde (mit einem Mut zum Risiko, den damals kein renommierter Literatur-Verlag aufbringen mochte). Besonderer Dank gebührt Herrn Professor Ėtkind aus Paris, der seine ganze Sachkompetenz und Eloquenz aufgeboten hat, um meine Bemühungen in ein günstiges Licht zu rücken. Nicht zuletzt habe ich ihm auch dafür zu danken, dass ich die ewige Problematik der dichterischen Übersetzung, die Frage nämlich, ob es sie denn überhaupt geben dürfe, nicht ein weiteres Mal zu diskutieren brauche. Erlauben Sie mir stattdessen ein paar Anmerkungen zum Thema: Warum ich Puschkin übersetze, oder besser: zu übersetzen versuche. Dahinter verbirgt sich natürlich die allgemeinere Frage nach der Motivation dichterischer Übersetzung. Ich glaube, dass dabei ein gewisses histrionisches Bedürfnis im Spiel ist, das Bedürfnis nämlich, eigenes Kunsterleben aktiv nachzuvollziehen und weiterzuvermitteln, wie es auch der ausübende Musiker oder der Schauspieler empfinden mag. Wer für Derartiges anfällig ist, den drängt es bisweilen eben nicht nur, „den Urtext aufzuschlagen“ – das tut der Philologe auch –, sondern ihn „in sein geliebtes Deutsch zu übertragen“, wobei dieser Drang als solcher durchaus problematisch sein kann. Gerade Faustens Übersetzungsvarianten des johanneischen Textes – „Im Anfang war die Kraft; im Anfang war der Sinn; im Anfang war die Tat“ – führen ja offensichtlich in die Irre. Nicht zufällig hat einer der größten Übersetzer-Dichter, Wassili Schukowski (1783–1852), zu dieser Szene angemerkt, Faust habe durch seinen Zweifel – „Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen“ – bereits vor dem Teufelspakt den Abfall von Gott vollzogen und sein Seelenheil verwirkt. Schukowski sagte das gewiss als orthodoxer Christ. Aber er hätte es als Dichter und Übersetzer ebenso sagen können. Von ihm, der Goethes und Schillers berühmteste Balladen nach Russland verpflanzte, der Puschkins einziger Lehrmeister in der Dicht-

186

Puškin

kunst war, stammt die Formulierung: „Des Dichters Taten sind seine Worte“. Und für jeden, der sich lesend, deutend, übersetzend mit nichtbanaler Sprache befasst, muss gelten: Im Anfang war und ist und bleibt das Wort – auch wenn Wort hier nicht als Hypostase der Gottheit verstanden wird, sondern nur als pars pro toto für den jeweiligen Text. Dass solche Wort-Treue nicht äußerlich-oberflächlich begriffen werden, dass sie gerade nicht zu der von Nabokov als Übersetzungsideal propagierten Buchstäblichkeit (literalness) führen dürfe, war von jeher meine tiefe Überzeugung. Ihr entsprang, unbewusst, schon meine früheste einschlägige Erfahrung – noch während der Schulzeit: Als Primaner des „Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster“ hatten wir einmal in einer griechischen Klassenarbeit ein Dutzend Verse aus der „Ilias“ zu übersetzen – in Prosa, versteht sich. Als ich das pflichtgemäß hinter mich gebracht hatte, empfand ich zum ersten Mal ein lebhaftes Ungenügen an der vielleicht buchstäblich richtigen, aber nüchtern-holprigen Wiedergabe solch eines klangvoll strömenden, rhythmisch gegliederten Textes, und, da noch Zeit war, übertrug ich das Nur-Übersetzte gleich noch einmal – in deutsche Hexameter. Und ich schätze mich glücklich, gerade heute bekennen zu dürfen, dass meine erste Versuchung und mein erster Versuch auf dem Felde der künstlerischen Übersetzung im Zeichen von Johann Heinrich Voss stand, ohne dessen Vorbild ich Derartiges weder gewagt noch zustande gebracht hätte. Goethe hat in seinen wiederholten Würdigungen der Leistung von Voss zwei Charakteristika hervorgehoben: die Versatilität seiner Sprache und die Tenazität seines Charakters; Wendigkeit und Beharrlichkeit – scheinbare Widersprüche, aber unentbehrliche Voraussetzungen jeder größeren Übersetzung. Hören wir in diesem Zusammenhang noch einmal, was Goethe in den „Noten und Abhandlungen zum West-Östlichen Divan“ im Kapitel „Übersetzungen“ zu sagen hat: Der nie genug zu schätzende Voß konnte das Publikum zuerst nicht befriedigen, bis man sich nach und nach in die neue Art hinein hörte, hinein bequemte. Wer nun aber jetzt übersieht, was geschehen ist, welche Versatilität unter die Deutschen gekommen, welche rhetorische, rhythmische, metrische Vorteile dem geistreich-talentvollen Jüngling zur Hand sind, wie nun Ariost und Tasso, Shakespeare und Calderon als eingedeutschte Fremde uns doppelt und dreifach vorgeführt werden, der darf hoffen, dass die Literaturgeschichte unbewunden aussprechen werde, wer diesen Weg unter mancherlei Hindernissen zuerst einschlug.

Als diese Worte geschrieben wurden, drückte Puschkin noch die Schulbank, ließ sich von den poésies fugitives eines Gresset oder Parny anregen und imitierte französische Ossian-Imitationen. Heute steht er – als einziger Repräsentant der russischen Poesie (nicht der Prosa!) – ranggleich neben den von Goethe genannten größten Dichtern des Abendlandes. Auch das war ein Grund, Puschkin zu übersetzen. Ein weiterer war für mich – zugegeben paradoxerweise – die außergewöhnliche Schwierigkeit eines solchen Unterfangens. Sie rührt zu einem wesentlichen Teil wohl daher, dass Puschkin nicht, wie Ariost und Tasso, vorwiegend Epiker, nicht, wie Shakespeare und Calderon, vorwiegend Dramatiker, sondern dass er – obgleich er in allen Gattungen Meister- und Musterhaftes geschaffen hat – ganz

Warum ich Puschkin übersetze

187

vorwiegend Lyriker ist. Lyrik aber, oder, wie er selbst im „Onegin“ sagt, der „Bund von Zauberklang, Gefühl und Sinn“, ist von aller Dichtung das am allerwenigsten Übersetzbare. Ohne Zweifel hat aber Puschkins umfangreichstes episches Werk, eben der „Onegin“ – wie sein Untertitel „Roman in Versen“ andeutet – auf weite Strecken lyrischen Charakter, nicht selten in selbstironisierender Brechung. Die naive Freude am Nachbilden wurde somit durch die ihr entgegenstehenden Schwierigkeiten einerseits stets aufs neue in Frage gestellt, andererseits aber auch ständig herausgefordert und wach gehalten. Hinzu kam das Bewusstsein von Puschkins Weltrang und das Bedauern, um nicht zu sagen: die Verzweiflung darüber, dass dieser Rang bei uns so gänzlich unbekannt geblieben war. Trotzdem hätten all diese Beweggründe vermutlich nicht ausgereicht, angesichts von zehn schon vorliegenden Versuchen, noch ein weiteres Mal eine Übersetzung des »Onegin« zu unternehmen und auch zu Ende zu bringen. Dazu bedurfte es einer zusätzlichen, noch stärkeren Motivation. Sie lag für mich in einem Spezifikum, das Puschkin als Gegenstand einer heutigen Neuübersetzung wesentlich von Tasso, Shakespeare oder jedem anderen westeuropäischen oder auch antiken Autor unterscheidet: Puschkin ist nämlich nicht nur der unumstritten größte Dichter russischer Zunge, den man wegen seiner absoluten Geschmackssicherheit und wegen der ebenso unnachahmlichen wie eingängigen Harmonie seiner Verse immer wieder mit Mozart verglichen hat, – er ist darüber hinaus ein bis heute machtvoll fortwirkendes Grundelement russischer Geistigkeit und Humanität, ohne dessen Kenntnis unser Bild von Russland sehr unvollständig und daher falsch bleiben muss. Schon zu Puschkins Lebzeiten schrieb sein zehn Jahre jüngerer Bewunderer Gogol: „Puschkin ist ein außerordentliches Phänomen, möglicherweise das einzige Phänomen des russischen Geistes: es ist der russische Mensch in seiner Entfaltung, so wie er vielleicht in zweihundert Jahren erscheinen wird.“ An diese Definition Gogols aus dem Jahre 1832 knüpfte Dostojewski in seiner berühmten Puschkin-Rede von 1880 ausdrücklich an, als er, anhand von Gestalten aus dem Werk Puschkins, darunter aus dem „Onegin“, seine Idee von der im Russen angelegten „Allmenschlichkeit“ entwickelte. Weitere vier Jahrzehnte später, 1921, sagte der Dichter Alexander Blok: Unser Gedächtnis bewahrt von Kindheit an einen heiteren Namen: Puschkin. Dieser Name, dieser Klang erfüllt viele Tage unseres Lebens. Da gibt es die zwielichtigfinsteren Namen von Kaisern, Feldherren, Mordwaffenerfindern, Folterknechten und von Märtyrern des Lebens. Und daneben dieser leichte Name: Puschkin. – Puschkin verstand es, seine Schöpferbürde so leicht und heiter zu tragen, obwohl die Rolle des Dichters weder leicht noch heiter ist, sondern tragisch. Puschkin spielte seine Rolle majestätisch, sicher und frei, als großer Meister, und dennoch krampft sich uns, beim Gedanken an ihn, manchmal das Herz zusammen: der festtägliche Triumphzug des Dichters, der doch dem Äußeren gegenüber wehrlos war, denn es ging ihm um ein Inneres, um Kultur, – dieser Zug wurde allzu oft durchkreuzt von Leuten, denen „ein Topf im Ofen mehr galt als ein Gott“. So kennen wir Puschkin, den Menschen, Puschkin, den Freund der Monarchie, Puschkin, den Freund der Dekabristen, aber all das verblasst vor dem Einen: Puschkin, dem Dichter.

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Puškin

Als Blok diese Puschkin-Rede hielt, die er überschrieben hatte: „Von der Bestimmung des Dichters“, war er schon vom Tode gezeichnet. Er starb bald darauf, nicht nur an materiellem Mangel und physischer Krankheit, sondern, wie er sagte, an fehlender Luft zum Atmen. Inzwischen sind weitere sechs Jahrzehnte vergangen, ohne dass seine Worte über Puschkin etwas von ihrer Bedeutung eingebüßt hätten. Freilich wurde das bisher fast nur in Russland und von Russen empfunden. Der Ruhm des Dichters Puschkin schien an den Grenzen seiner Sprache halt zu machen. Außerhalb dieser Grenzen wurde die Kunde von seiner Größe und Einmaligkeit staunend vernommen, aber nicht eigentlich geglaubt. Was immer die Gründe dafür sein mochten, die Folgen sind, meiner Überzeugung nach, nicht nur bedauerlich, sondern vielleicht sogar verhängnisvoll: ohne die Kenntnis jener Komponente des Russischen, die Puschkin heißt, fehlt uns ein Wesentliches zum Verständnis Russlands und seiner inneren Kultur, kennen wir eben vor allem jene zwielichtig-finsteren Namen, von denen Blok sprach, und deren Kette seither nicht abgerissen ist. Dass es daneben und darüber den leichten und heiteren (und dennoch tragischen) Namen Puschkin gibt, der für Russen der Größte ihrer Sprache ist und bleibt, – dies bewusst und glaubhaft zu machen, war für mich als Übersetzer die stärkste Motivation. Und kaum ein anderes Werk dürfte geeigneter sein, den Dichter und den Menschen Puschkin kennen zu lernen, als sein Versroman „Jewgenij Onegin“ – sein umfangreichstes, vielleicht bedeutendstes, jedenfalls aber, neben der eigentlichen Lyrik, persönlichstes Werk. Die hohe Anerkennung, die meiner Übersetzung dieses Werkes durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung zuteil geworden ist, lässt mich hoffen. Vor zwei Jahren hatte Lew Kopelew, der Träger Ihres Friedrich-Gundolf-Preises von 1980, meiner Übersetzung eine Rezension gewidmet, die er überschrieb: „Puschkin erreicht Deutschland“. Ich kann nur wünschen, dass er Recht behält.

„Der Gefangene der Übersetzer“ Was man auch von der Unzulänglichkeit des Übersetzens sagen mag, so ist und bleibt es doch eins der wichtigsten und würdigsten Geschäfte im allgemeinen Weltwesen. (Goethe an Carlyle, 20. Juli 1827)

Wie wir aus Alfred Blumenfelds Erinnerungen1 erfahren, hat Henry Troyat, Verfasser einer über 800 Seiten starken Biographie Puschkins (und Mitglied der Académie Française), Puschkin als zweifachen Gefangenen bezeichnet: Den Gefangenen der Grenzen, was wohl auf den Umstand hindeutet, dass Puschkin Russland nie hat verlassen dürfen, und als Gefangenen der Übersetzer. Diese zweite Formel möchte ich aufgreifen. Im Grunde gilt sie für jeden Dichter, insofern sein Werk die Grenzen seiner Sprache nie vollständig wird überschreiten oder hinter sich lassen können und das relative Maß, in dem ihm dies möglich wird, von der Qualität der Übersetzungen, von der Kunst der Übersetzer abhängig bleibt. Das ist altbekannt und allzu oft erörtert worden. Man kennt die unvereinbaren Positionen der Maximalisten – Gedichte zu übersetzen sei grundsätzlich unmöglich; traduttore = traditore, usw., usf. – und daneben oder dagegen die engagierte Hoffnung der Unbelehrbaren, die es immer wieder versuchen. Zu den vielen Aphorismen, Metaphern und Bonmots über die Kunst bzw. Unmöglichkeit des Übersetzens hat übrigens auch Puschkin sein Scherflein beigesteuert – er hatte da Erfahrung. So nennt er einmal „das Mittel der Übersetzung ebenso glänzend wie unzureichend“ und ein andermal die „Übersetzer die Postpferde der Kultur“. Beides ist natürlich richtig, und beides gilt für beliebige Dichtungen und Übersetzungen aus beliebigen Sprachen, und wir sollten uns hin und wieder ins Bewusstsein rufen, was wir denn ohne Übersetzungen wüssten von Homer, von Dante, von Shakespeare und unzähligen anderen Dichtern. Übersetzungen sind unentbehrlich in jenem Ganzen, das Goethe „Weltliteratur“ getauft hat. Innerhalb dieser zentralen Aufgabenstellung jedes Kulturaustauschs und innerhalb ihrer bekannten Problematik nimmt Puschkin aber noch einmal eine Sonderstellung ein. Das hängt einmal damit zusammen, dass er selbst sich in der Lage fand, der heimischen den Anschluss an und den Eintritt in die Weltliteratur zu eröffnen, die dort bereitliegenden Formen und zum Teil auch Inhalte zu erschließen und zu übernehmen. Für die Puschkin-Übersetzung bedeutet dies, dass die Gefahr besteht, bei der Wiedergabe nicht das Typisch-Neue, sondern das mitzugrundeliegende Alte zu reproduzieren. Ein eklatantes Beispiel sind Puschkins sogenannte Kunstmärchen, etwa das „Märchen vom Fischer und Fischlein“, das selbst eine (glänzend gelungene) Russifizierung von Ph. O. Runges plattdeutschem Märchen „Von 1

Vgl. Zeitschrift für Kulturaustausch 1987/1, S. 80.

190

Puškin

dem Fischer un syner Fru“ ist. Die „Rück“-Übersetzung droht hier nahezu sinnlos zu werden, weil das, was Puschkin dazugetan hat, eben das typisch Russische in Sprache und Bildern, notwendig wieder verloren gehen muss. Aber zum Glück ergeben sich solche Unmöglichkeiten nicht sehr oft, ja sogar nur verhältnismäßig selten. Es gibt häufig Fälle, wo die westlichen Vorbilder inzwischen in ihrer Heimat selbst in Vergessenheit geraten sind oder wo Puschkins Bearbeitung eine unvergleichlich höhere Stufe der Vollkommenheit erreicht hat. Häufiger noch ist der Fall, dass er so viel Eigenes dazugetan hat, dass man das fremde Vorbild nicht mehr herausspürt (und die Forschung oft erst nach vielen Jahrzehnten dahintergekommen ist). Und natürlich gibt es auch sehr viele absolut eigenständige Gedichte, die keinem fremden Vorbild verpflichtet sind. Halten wir uns an solche. Hier ist die Schwierigkeit der Übersetzung, das heißt der künstlerisch adäquaten Wiedergabe – wiederum gerade bei Puschkin – nochmals besonderer Art. Puschkin ist nicht nur ein unerreichter Meister der metrischen und prosodischen Form, er ist auch ein Fanatiker des „mot juste“. Seine Manuskripte zeigen, wie er um jedes Wort, um jede Silbe gerungen hat. Und selbst seine nicht zu Ende geführten Fragmente haben die Vollkommenheit, wie sie sonst nur bei (den ganz anders entstandenen, nämlich durch bruchstückhaftes Zitieren zufällig erhaltenen) Fragmenten Sapphos empfunden wird: Selbst ein Entwurf von nur drei Wörtern Länge, eine zufällig erhaltene Zeile atmet Vollkommenheit, Harmonie und Endgültigkeit. Da gibt es – auch für den Übersetzer – kein Ausweichen. Jede Abweichung ist Abschwächung, ja Verfälschung. Und wenn dies schon bei Entwürfen und Fragmenten so ist, um wie viel mehr bei fertigen, vom Dichter selbst als druckreif, als „vollendet“ angesehenen Gedichten. Gerade ein solches, von Puschkin selbst publiziertes Gedicht habe ich hier als ein Beispiel für die Demonstration der unerhörten Schwierigkeiten adäquater Puschkin-Übersetzung herausgegriffen. Es ist eines der zu Recht berühmtesten Gedichte Puschkins. Um die ganze Breite und Tiefe der Problematik seiner (Un-)Übersetzbarkeit aufzuzeigen, sollte, glaube ich, sowohl eine interlineare Übersetzung des „Inhalts“ als auch eine Analyse der „Form“ vorausgehen. Für den sogenannten Inhalt folge hier eine möglichst wortgetreue deutsche Paraphrasierung der Wörter und Sätze, aus denen das Gedicht besteht (wobei die Wortfolge oft nicht genau eingehalten werden kann und zu berücksichtigen ist, dass es im Russischen keinen Artikel gibt, weder bestimmten noch unbestimmten). An * * * Ich erinnere (mich an einen) wundervollen Augenblick: vor mir erschienest du als (wie) vorüberfliegende Vision, als (wie) Genius der reinen Schönheit. In den Ermattungen hoffnungsloser Trauer, in den Erregungen lärmender Eitelkeit,

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„Der Gefangene der Übersetzer“ klang mir lange die liebliche Stimme, und träumten mir die lieben Züge. Hingingen Jahre. Der Stürme aufrührerischer Ausbruch zerstreute frühere Träume(reien), und ich vergaß deine liebliche Stimme, deine himmlischen Züge. In der Einöde, im Finster der Einkerkerung zogen sich still meine Tage (dahin) ohne Gottheit, ohne Inspiration, ohne Tränen, ohne Leben, ohne Liebe. Der Seele erstand eine Erweckung: Und da erschienest wieder du, als (wie) vorüberfliegende Vision, als (wie) Genius der reinen Schönheit. Und (es) schlägt das Herz in Berauschtheit, und für es sind auferstanden aufs neue sowohl Gottheit, als auch Inspiration, und Leben, und Tränen, und Liebe.

Schon aus dieser holprigen Prosaübersetzung (die immer noch nicht hundertprozentig „wörtlich“ sein kann) wird deutlich, dass es sich hier unter anderem um eine ganze Reihe bedeutungsschwerer Wiederholungen handelt. Das wird noch deutlicher, wenn wir die klangliche Realisierung dieser semantischen Wiederholungen in die Betrachtung einbeziehen: Das Gedicht hat 6 vierzeilige Strophen (vierfüßige Jamben) mit Kreuzreim: weiblich/männlich; das heißt, es gibt theoretisch 12 Reimpaare. Tatsächlich sind aber nur 5 Reimpaare vorhanden, und wenn man von den Vokalphonemen der tontragenden Reimsilbe ausgeht, sogar nur 3: 12 mal /e/, 10 mal /i/ und 2 mal /o/. Stellt man die Semantik des jeweiligen Reimworts und seine (positive oder negative) Bewertung dazu so ergibt sich folgendes Schema: Phonem

Reimsilben

Bedeutung des Reimworts

Bewertung

/e/ /i/ /e/ /i/

–énje ty –énje –ty

Augenblick du Vision Schönheit

+ + + +

/e/ /i/ /e/ /i/

–éžnoj –ty –éžnyj –ty

hoffnungslos Eitelkeit lieblich Züge

– – + +

/e/ /i/

éžnyj –ty

aufrührerisch Träumereien

– –

192

Puškin

/e/ /i/

éžnyj –ty

lieblich Züge

(–)* (–)*

/e/ /i/ /e/ /i/

–énja –i –énja –i

Einkerkerung meine Inspiration Liebe

– – (–)** (–)**

/e/ /i/ /e/ /i/

–énje ty –énje –ty

Erweckung du Vision Schönheit

+ + + +

/e/ /o/ /e/ /o/

–énje –ov’ –énje –ov’

Berauschtheit aufs neue Inspiration Liebe

+ + + +

* negativ, da „vergessen“ ** negativ, da abwesend („ohne“) Solche klangliche Ausgewogenheit der Reime wird dadurch möglich, dass es einerseits ein Suffix -énje zur Bildung von Verbalabstrakta gibt, andererseits ein Nominalsuffix -tá, das in mehreren obliquen Kasus in der form -tý erscheint. Und diese Fallendung ist lautlich identisch mit dem Personalpronomen ty (= du), das diese ganze Reimreihe beziehungsvoll eröffnet und selbst – in der ersten und fünften Strophe – mit krasotý (= Schönheit) reimt. Während also die Silbe, die isoliert DU bedeutet, immer wieder aufklingt wird deutlich, dass das konkrete, angeredete DU als Inbegriff der Schönheit vor allem anderen Auslösung ist für die beglükkende Erfahrung schöpferischer „Inspiration“. Andererseits beginnt das Gedicht mit dem Wort ja (= ich) und endet durch den einzigen Reim auf /o/ hervorgehoben (aufs neue: Liebe), mit dem Wort ljubóv’ (= Liebe). – Soviel nur zur Andeutung der unglaublichen Dichte und Harmonie von Laut- und Sinnstruktur dieses Gedichts, wobei ich mich nur auf die Reimsilben und -wörter beschränkt habe. Jede Übersetzung ist bekanntlich auch eine Interpretation, aber bevor überhaupt daran gedacht werden kann, ob der Übersetzer eher das Persönlich-Private eines „Liebesgedichts“ betonen will oder das geistige Epiphanie-Erlebnis, das der Dichter hier gestaltet hat – vor alledem muss er erkennen, dass die einzusetzenden Mittel der deutschen Sprache fast notwendig zu einer Minderung der Intensität des Klangerlebnisses führen müssen und darüber hinaus auch noch zu einer Verschiebung der Sinnkomponenten, die im Original ja zugleich mit dem Klang (und dem Rhythmus) gegeben sind. Trotzdem bleibt das Ringen um eine deutsche Gestalt „eins der wichtigsten und würdigsten Geschäfte“ nach Goethes Wort. Und dass dabei bedeutende Erfolge, „Errungen“-schaften möglich sind, mögen die nachfolgenden vier Über-

„Der Gefangene der Übersetzer“

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setzungen belegen, von denen eine noch zu Puschkins Lebzeiten entstanden ist, die anderen während der letzten zehn Jahre. So beträchtlich die Unterschiede sind, so zeichnet doch diese vier Übertragungen eins aus, dass sie, jede für sich, ein deutsches Gedicht eigener Dignität ergeben haben, was sich bei weitem nicht von allen bisher bekannt gewordenen Versuchen sagen lässt. Zugleich scheint mir auch bemerkenswert, wie wenig hier von einem „Fortschritt“, etwa von 1833 bis 1986, gesprochen werden kann, was bei anderen, besonders umfangreicheren Dichtungen durchaus zu beobachten ist. Zweifellos liegt das daran, dass der älteste Versuch in diesem Falle von einer wirklichen Dichterin stammt. Lied Ein Augenblick ist mein gewesen: Du stand’st vor mir mit einem Mal, Ein raschentfliegend Wunderwesen, Der reinen Schönheit Ideal. Im schmerzlich hoffnungslosen Sehnen, Im ew’gen Lärm der Menschenschar, Hört’ ich die süße Stimme tönen, Träumt’ ich das milde Augenpaar. Allein im Kampf mit dem Geschicke Und in der Jahre düsterm Gang Vergaß ich deine Engelsblicke Und deiner süßen Stimme Klang. Und lange Kerkertage kannt’ ich, Es war die Brust mir stumm und leer, Für keine Gottheit mehr entbrannt’ ich, Nicht weint’ ich, lebt’ ich, liebt’ ich mehr. Es darf die Seele nun genesen, Und du erscheinst zum zweiten Mal, Ein raschentfliegend Wunderwesen, Der reinen Schönheit Ideal. Und wieder schlägt das Herz voll Weihe, Sein Todesschlummer ist vorbei; Für eine Gottheit glüht’s aufs neue, Es lebt, es weint, es liebt aufs neu’!

aus: Das Nordlicht. Dresden/Leipzig 1833 An * * * Ich schwieg in seligem Entzücken, Als ich zum ersten Mal dich sah. Du standst, das Herz mir zu beglücken, In reiner Schönheit vor mir da.

(Karoline von Jänisch)

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Puškin

In hoffnungslosen, schweren Tagen, Wie ich so oft sie damals sah, War, wie vom Zauber hergetragen, Dein Wort, dein Blick mir manchmal nah. Dann wurde ich vom Sturm verschlagen, Und andres, Fremdes, kam mir nah, Und ich vergaß nach dir zu fragen, Der Traum verflog, den einst ich sah. Wie Lasten schwer das Herz bedrücken, Floß träge im Exil die Zeit: Kein Gott, kein schöpferisch Entzücken, Kein Liebesglück, nur dumpfes Leid. Doch jetzt, erneut mich zu beglücken, Kam neu das Himmelsbild mir nah: Du stehst vor den beglückten Blicken In reiner Schönheit wieder da. Nun schlägt das Herz mir in Entzücken, Der Geist vergißt den kalten Spott. Neu sind erstanden, neu beglücken Mich Liebe, Schöpfertum und Gott.

(Ludolf Müller)

aus: Russische Gedichte über Gott und Welt, Leben und Tod, Liebe und Dichtertum. Ins Deutsche übertragen von Ludolf Müller. München: Wilhelm Fink 1979 An * * * Ich denk des Augenblicks, des einen: Du tratst vor mich, ein Traumgebild, Als wäre mir durch dein Erscheinen Der Schönheit Genius rein enthüllt. In hoffnungslosem Schmerzensgrimme, Im wilden Drang des lauten Nichts, Erschien mir lang, mit süßer Stimme, Die Milde deines Angesichts. Die Zeit verging. Im Sturmestoben Versank mein früher Traum in nichts, Und mit der Stimme war zerstoben Der Himmel deines Angesichts. Im fremden Land sind mir versunken In träger, dunkler Zeitenflut Die Gottheit, der Begeistrung Funken Und Tränen, Leben, Liebesglut.

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„Der Gefangene der Übersetzer“ Mein Herz erwacht aus der Verneinung: Du kehrtest wieder, Traumgebild, Als wäre in deiner Lichterscheinung Der Schönheit Geist mir rein enthüllt. Und wieder schlägt das Herz mir trunken, Und neu erglühn in meinem Blut Die Gottheit, der Begeistrung Funken Und Leben, Tränen, Liebesglut.

(Michael Engelhard)

bisher nicht publiziert (1978)

2

*** Ich denk der wundervollen Stunde, Als du mir im Vorübergehn Von reiner Schönheit brachtest Kunde Und ich Vollkommenheit gesehn. Mit hoffnungsloser Trauer ringend Im Lärme der Vergänglichkeit, Hört deine Stimme zart ich klingen, War mir dein lieber Blick Geleit. Die Jahre gingen. Sturmeswinde Vertrieben meinen frühen Traum, Und ich vergaß der zarten Stimme, Des holden Blicks gedacht ich kaum. Im Dunkel zogen, still und trübe, Die Erdentage nun dahin, Ich lebte ohne Gott und Liebe, Und ohne Tränen, ohne Sinn. Doch schlug mir wiederum die Stunde, Als nochmals im Vorübergehn Du mir von Schönheit brachtest Kunde Und ich Vollkommenheit gesehn. Das Herz, es schlägt im Rausche wieder, Von neuem ich erstanden bin, Mit mir das Göttliche, die Liebe, Begeistrung, Tränen, Leben, Sinn.

(Christoph Ferber)

bisher nicht publiziert (1986)

2

1999 gedruckt in Alexander Puschkin: Die Gedichte. Aus dem Russischen übertragen von Michael Engelhard, Zweisprachige Ausgabe, herausgegeben von Rolf-Dietrich Keil, Frankfurt a. M. und Leipzig, Insel Verlag.

Pouchkine et Florian La relation entre Jean-Pierre claris de Florian et Pouchkine est-elle vraiment digne d’intérêt, si toutefois il en existe une? Le doute que suscite cette question semble d’autant plus légitime que l’œuvre littéraire de Pouchkine ne contient apparemment aucune mention de Florian, et il ne s’en trouve qu’une seule dans sa correspondance ainsi que trois autres dans ses articles, resp. esquisses, dont une dans la traduction du Discours de l’Académie d’eugène Scribe1. cette ultime mention est aussi la seule qui constitue un éloge à Florian, et ce pour sa izjaščnaja i gracioznaja čuvstvitel’nost’2. Les trois autres prises de position, de la main de Pouchkine lui-même, sont quant à elles toutes négatives. La première, chronologiquement, se trouve dans une lettre à Gnedič datée du 27 juin 1822 à kišinev. on y lit: Английская словесность начинает иметь влияние на русскую. Думаю, что оно будет полезнее влияния французской поэзии, робкой и жеманной. Тогда некоторые люди упадут, и посмотрим, где очутится Ив. Ив. Дмитриев с своими чувствами и мыслями, взятыми из Флориана и Легуве.3

Dans cette première remarque déjà, l’intérêt de Pouchkine pour l’évolution de la littérature russe conditionne son jugement; il ne s’agit donc pas d’une valorisation pour ainsi dire abstraite des auteurs français Florian et (Gabriel-MarieJean-Baptiste) Legouvé (1764–1812), mais bien de leur influence néfaste sur i. i. Dmitriev qui ne figure ici que pour représenter les poètes de sa génération. Le nom de Florian joue un rôle identique dans le plan (rédigé en 1834) d’un article intitulé O ničtožestve literatury russkoj4. L’évolution de la littérature française esquissée ici n’est en fait que le générique et la toile de fond pour une histoire de la littérature russe qui ne s’est pas réalisée. Pour Pouchkine, le XViiie siècle c’est avant tout Voltaire: Voltaire et les géants – à savoir du XViie – n’ont pas un seul successeur en Russie; но бездарные пигмеи, грибы, выросшие у корня дубов, Дорат, Флориан, Мармонтель, Гизар, М-ме Жанлис овладевают русской словесностию, Sterne нам чужд, за исключением Карамзина.5

La classification de Florian comme auteur d’influence négative sur la formation de la littérature russe apparaît le plus clairement dans l’unique déclaration que Pouchkine ait publié sur lui. c’est-à-dire dans le compte rendu des Sočinenija 1

2 3 4 5

Pouchkine, ПСС в 16-и т., t. Xii, p. 50. on ne donnera par la suite que les numéros des tomes et des pages pour les citations d’après cette édition. Xii, 50. Xii, 40. Xi, 495 sq. Xi, 496.

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i perevody v stixax Pavla Katenina6, imprimé en 1833 et qui constitue d’une part un témoignage de reconnaissance très personnel envers katenin, le maître et le «régent» d’antan7, d’autre part un des documents les plus importants pour l’esthétique du Pouchkine de la maturité, démontrée de manière exemplaire à partir de l’evolution du poète katenin: Первым замечательным произведением г-на Катенина был перевод славной Биргеровой Леноры. Она была уже известна у нас по неверному и прелестному подражанию Жуковского, который сделал из нее то же, что Байрон в своем Манфреде сделал из Фауста: ослабил дух и форму своего образца. Катенин это почувствовал и вздумал показать нам Ленору в энергической красоте ее первобытного создания; он написал Ольгу. Но сия простота и даже грубость выражений, сия сволочь, заменившая воздушную цепь теней, сия виселица вместо сельских картин, озаренных летнею луною, неприятно поразили непривычных читателей, и Гнедич взялся высказать их мнения в статье, коей несправедливость обличена была Грибоедовым. После Ольги явился Убийца, лучшая, может быть, из баллад Катенина. Впечатление, им произведенное, было и того хуже: убийца, в припадке сумасшествия, бранил месяц, свидетеля его злодеяния, плешивым! Читатели, воспитанные на Флориане и Парни, расхохотались и почли балладу ниже всякой критики.8

Pouchkine évoque ce qui fut appelé la querelle des ballades de 1816–1817 et décrit la pratique de katenin avec une sympathie prononcée pour la ėnergičeskaja krasota pervobytnogo sozdanija et la prostota i daže grubost’ vyraženij; et il soutient que la ballade Ubijca, jugée «indigne de toute critique» par le public, pourrait bien être la meilleure de katenin. on voit qu’il n’a pas du tout été du même avis pour le passé, puisqu’aux côtés de Florian apparaît le nom de Parny, à qui il ne fit ses adieux qu’au troisième chapitre de Evgenij Onegin (1825), et non sans quelque regret9. L’adieu à Florian lui a été plus facile et il s’est effectué un peu plus tôt, sous la forme particulière de la confrontation créative qui fut déterminante pour tant de ses poèmes: l’imitation (podražanie), ce qui voulait dire en même temps appropriation et dépassement, mais surtout russification du texte étranger. Ses russifications sont parfois si parfaitement réussies que la recherche a mis des décennies pour découvrir les modèles qui les ont inspirées – comme par exemple dans le cas des contes de fée en vers. Quant à Florian, le modèle ne fut jamais découvert, car il a lui aussi été imité par Pouchkine et devenu, après appropriation et dépassement, tellement russe que personne n’a jamais soupçonné 6 7

8 9

Xi, 220 sq. cf. l’anecdote transmise par P. V. AnnenkoV: «в 1818г. Пушкин пришел к П. А. Катенину и, подавая ему свою трость, сказал: ’я пришел к вам, как Диоген к Антисфену: побей, но выучи!’» (AnnenkoV, А. С. Пушкин: материалы для его биографии и оценки произведений, SPb., 1873, p. 50). Xi, 220. R.-D. keiL, «Parny-Anklänge im Evgenij Onegin», in Festschrift für Margarete Woltner zum 70. Geburtstag, heidelberg, 1967, s. o. S. 51ff.

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une quelconque origine étrangère. Mais la difficulté de cette découverte se trouvait peut-être accrue par le fait qu’il s’agissait d’un sujet largement répandu, d’une métaphore courante: représentation de la vie humaine par l’image d’un voyage, utilisée depuis les temps les plus anciens aussi bien dans la poésie occidentale qu’orientale. Voici ce que cela donnait chez Florian: Le Voyage Partir avant le jour, à tâtons, sans voir goutte. Sans songer seulement à demander sa route, Aller de chute en chute, et, se traînant ainsi, Faire un tiers du chemin jusqu’à près de midi; Voir sur sa tête alors amasser les nuages, Dans un sable mouvant précipiter ses pas, courir, en essuyant orages sur orages, Vers un but incertain où l’on n’arrive pas; Détrempé vers le soir, chercher une retraite, Arriver haletant, se coucher, s’endormir: on appelle cela naître, vivre et mourir; La volonté de Dieu soit faite!10

Qu’en a donc fait Pouchkine? Les connaisseurs auront certainement noté qu’il ne peut s’agir que du poème habituellement daté de 1823 qui s’intitule Telega žizni: Телега Жизни Хоть тяжело подчас в ней бремя, Телега на ходу легка; Ямщик лихой, седое время, Везет, не слезет с облучка. С утра садимся мы в телегу; Мы рады голову сломать И, презирая лень и негу, Кричим: пошел! .... Но в полдень нет уж той отваги; Порастрясло нас, нам страшней И косогоры и овраги; Кричим: полегче, дуралей! Катит по-прежнему телега; Под вечер мы привыкли к ней И, дремля, едем до ночлега – А время гонит лошадей.

A première vue, le fait que nous avons ici affaire à un podražanie pourrait soulever quelques doutes. Aussi je pense que l’on n’a encore attaché que bien trop 10

Fable XXi du Livre iV des Fables, Œuvres de Florian, nouvelle édition, Leipzig, Fleischer, 1826, tome second, p. 239–240.

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peu d’importance à cet exercice artistique d’appropriation et de familiarisation pourtant très courant dans la littérature russe du XViiie et du début du XiXe siècle. Pour la plupart, le podražanie est considéré soit comme une forme de vol spirituel, et ce sous un aspect plutôt juridique, soit comme le signe d’une originalité peu développée et donc de qualité et de valeur moindres. Ainsi, on oublie non seulement que le podražanie fut pendant longtemps propagé et même exigé comme préparation et condition à toute œuvre personnelle – pour témoignages, les nombreux canons d’auteurs exemplaires (étrangers)11 –, mais aussi qu’il y eut, à l’intérieur du genre, des styles et des tendances très divers – comme le prouve entre autres, la «querelle des ballades» de 1816–1817, déjà mentionnée, qui tournait autour de différents podražanija de la Lenore de Bürger. notre poème constitue une exécution du podražanie caractéristique pour Pouchkine. il ne se préoccupe plus du problème technique consistant à rendre un modèle étranger en vers russes impeccables, comme ce fut le cas dans certains essais datant de l’époque du lycée. en revanche, il choisit, de plus en plus, le modèle en fonction de ce qu’il exprime, du message avec lequel il s’identifie, tout en forgeant très librement à partir de l’esprit de la langue russe en ce qui concerne la structure formelle. Je crois que l’on pourrait même retracer de manière relativement complète l’évolution poétique de Pouchkine à l’aide des nombreux exemples de podražanija que présente son œuvre lyrique (mais aussi sa dramaturgie et sa prose). Avec la Telega žizni nous situons au stade correspondant à l’orientation nouvelle qui suit la crise de 1823 (cf. Svobody sejatel’ pustynnyj, Demon). La tonalité fondamentale du poème est faite de scepticisme et d`abandon face à l’inévitable, déjoués par un certain humour macabre. De façon moins radicale, ce fut là également le point de départ de Florian. Toujours est-il que l’on peut supposer qu’à cette époque, à odessa, Pouchkine connaissait une autre version du thème du voyage de la vie, plus provoquante et sûre d’elle-même, celle de Goethe: An Schwager Kronos12. on en trouve une trace évidente dans le premier quatrain qui ne possède pas de correspondance thématique chez Florian. en effet, le passage «Jamščik lixoj, sedoe vremja» est une traduction quasi littérale de Schwager Kronos, mail il est devenu si définitivement russe par les deux épithètes lixoj et sedoe, que l’on ne décèle plus la présence du postillon de Goethe à l’archaïque nom grec. Le déroulement des trois strophes suivantes, consacrées au matin, au midi et au soir, suit très précisément le schéma de Florian. Mais quelle force 11

12

cf. R.-D. keiL, «ergänzungen zu russischen Dichterkommentaren, 3. Trediakovskij», Zeitschrift für slavische Philologie, XXXii, 2, 1965, p. 263. Pouchkine aurait pu prendre connaissance de textes de Goethe à odessa en 1823 par l’intermédiaire de S. e. Raič, V. i. Tumanskij, la comtesse edling et d’autres (cf. les notes correspondantes chez M. A. cJAVLoVSkiJ, Летопись жизни и творчества А. С. Пушкина, t. i, M., 1951), ainsi que la confession épistolaire de Pouchkine dans la fameuse lettre qui eut son exil à Mixailovskoje pour conséquence: «святый дух иногда мне по сердцу, но предпочитаю Гете и Шекспира» (avril-mai 1824), Xiii, 92).

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d’expression tout en conservant la forme du nous! Aussi les accents sont-ils répartis de manière plus convaincante. Dans la description de l’état de petit enfance, Florian s’autorise à l’approche maximale de la langue populaire («sans voir goutte»), alors que Pouchkine voit plutôt l’adolescent impatient – et pousse l’audace linguistique beaucoup plus loin, si loin que le passage en question, le juron russe bien connu, semble aujourd’hui encore résister à la publication. Après la dernière strophe – par la rime telega:nočlega – , Pouchkine a finalement même été à l’origine d’une tradition qui va jusqu’à Mandel’štam13. La chose la plus étonnante dans ce podražanie est, me semble-t-il, qu’il rend justice à l’auteur imité, car tout en empruntant pour le style et la forme des chemins nouveaux, le choix s’est porté, parmi les nombreux écrits de Florian, précisément sur ce poème-ci: une des «fables» (et Florian ne survécut que grâce à ses fables), et, qui, plus est, la «fable» dont Sainte-Beuve disait14: il [Florian] avait terminé l’un des livres de ses Fables par ces vers, qui pourraient être plus forts d’expression, mais qui sont pleins de sentiment et de philosophie, et qu’il a intitulés le Voyage: Partir avant le jour, à tâtons, sans voir goutte, … c’est là la véritable épitaphe de Florian, de cet homme heureux, de ce talent facile et riant, que tout favorisa à souhait dès son entrée dans le monde et dans la vie, mais qui ne put empêcher un jour l’inévitable douleur, l’antique douleur de Job, qui se renouvelle sans cesse sur la terre, de se faire sentir à lui, et de lui noyer tout le cœur dans une seule goutte d’amertume.

Voilà exactement l’état d’âme de Pouchkine lors de la crise de l’année 1823, et l’amertume qui engendra Demon ainsi que Svobody sejatel’ pustynnyj. Le podražanie de Pouchkine, n’est plus – depuis 1823 au plus tard – simplement un exercice de style, mais aussi et surtout un moyen d’expression des problèmes qui le préoccupaient. Dès lors, l’imitation de modèles étrangers et l’expression d’expériences propres ne s’excluaient plus.

13

14

cf. la dernière strophe du no 49 du «Камень», in osip MAnDeL’šTAM, Собрание сочинений в двух томах, Washington, 1964, i, 30. ch.-A. SAinTe-BeuVe, Causeries du lundi, Paris, 1852, iii, 194.

Alexander Puschkin und die Romantik in Russland1 Das Thema meines Beitrags ist nicht willkürlich gewählt und nicht für die Trierer Tagung erfunden. Nein, Puschkin und die Romantik in Russland haben tatsächlich viel miteinander zu tun. Soviel, dass es unmöglich wäre, dies Thema in gebotener Kürze abzuhandeln, ohne in eine Aufzählung von Namen und Werktiteln zu verfallen, die weniger erhellend als vielmehr verwirrend wirken müsste. Ich will daher anders verfahren und mich auf Puschkin konzentrieren, indem ich zunächst einige Äußerungen des Dichters zum Thema Romantik vorstelle und sodann ein für die Romantik in ganz Europa typisches Thema durch Puschkins Werk verfolge – das Thema des (mehr oder weniger edlen) Räubers, von wo aus sich überraschende Ausblicke auf zentrale Aspekte des Puschkinschen Werkes, seines Dichtungs-, Welt- und Selbstverständnisses eröffnen. Zunächst aber eine kleine Vorbesinnung: Wenn wir in Deutschland von ‘Romantik’ und ‘romantisch’ im literarischen Sinne sprechen, verstehen wir diese Bezeichnungen fast automatisch als Antonyme zu ‘Klassik’ bzw. ‘klassisch’. Dabei übersehen wir nur zu leicht, daß ‘klassisch’ (zumindest außerhalb Deutschlands) eine sprach- und kulturspezifisch ‘relative’ Qualität ist, die, je nach Land und Sprache, durchaus verschiedene historische Epochen der Literatur (oder anderer Künste) auszeichnet. ‘Romantik’ dagegen ist eine für fast ganz Europa ziemlich festumrissene historische Epoche, grob gesagt zwischen 1790 und 1830, in Russland um etwa eine Generation verschoben, etwa vom Beginn der Byron-Rezeption (1818/19) bis zum Tode Lermontovs (1841)2. Nur diese zeitliche Festlegung erlaubt es ja, von „Romantik in Europa“ und erst recht von „Europa in der Romantik“ zu sprechen. Wollte man in diesen Tagungstitel versuchsweise statt „Romantik“ etwa „Klassik“ einsetzen, so würde sofort klar, dass dies unsinnig wäre. Nun ist aber die ursprünglich deutsche Abfolge (oder besser: Antinomie) und der daraus entstandene Disput wenig reflektiert in die französische Literaturkritik übernommen worden, und alsbald stritt man in ganz Europa – Russland nicht ausgenommen – über ‘klassisch’ und ‘romantisch’, ohne recht zu bemerken, dass dies eigentlich inkommensurable Größen waren. Damit komme ich zu Puschkin. Auch ihm, der die französische Literatur und Presse aufmerksam verfolgte, fiel auf, dass in dieser Diskussion etwas nicht stimmte. Aber er vermutete, dass die Unklarheit von dem damals neuen Begriff ‘Romantik’ herrühre, zumal es in Frankreich, wie van Tieghem gezeigt hat3, keine rechte Theorie der romantischen Dichtung gab. Da Puschkin stets nach 1

2 3

Geringfügig überarbeiteter Text eines Vortrags auf der Trierer Herbsttagung der Eichendorff-Gesellschaft 1992 Romantik in Europa – Europa in der Romantik. Im gleichen Jahr beendete Gogol den ersten Teil der Toten Seelen, der 1842 erschien. Philippe van TIEGHEm: Les grandes doctrines littéraires. Paris 1963. S. 176ff.

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Klarheit strebte, versuchte er, diese mittels einer streng formalen Definition zu gewinnen. So entwarf er 1825 einen Aufsatz Über klassische und romantische Dichtung, worin es unter anderem heißt: Unsere Kritiker haben sich noch nicht auf eine klare Unterscheidung zwischen klassischer und romantischer Dichtungsart einigen können. Die undeutliche Vorstellung von diesem Gegenstande verdanken wir den französischen Journalisten, die zur Romantik gewöhnlich alles rechnen, was ihnen geprägt zu sein scheint von Verträumtheit und von deutscher Philosophie, oder aber von dem, was auf Vorurteilen und Überlieferungen des einfachen Volkes beruht: eine äußerst unpräzise Definition. Wollte man anstelle der Form eines Dichtwerkes nur den Geist zugrundelegen, in dem es geschrieben ist, so käme man mit dem Definieren nie zu Ende. Eine Hymne von J[ean] B[aptiste] Rousseau ist in ihrem Geist sicher verschieden von einer Ode Pindars, eine Satire Juvenals von einer Satire Horazens, das Befreite Jerusalem von der Äneïs, und dennoch gehören sie alle zur klassischen Dichtungsart. Dazu sind alle Dichtungen zu zählen, deren Formen den Griechen und Römern bekannt waren oder deren muster sie uns hinterlassen haben; infolgedessen gehören dazu: Epos, Lehrgedicht, Tragödie, Komödie, Ode, Satire, Epistel, Heroïde, Ekloge, Elegie, Epigramm und Fabel. Und welche Genera sind zur romantischen Dichtung zu zählen? Nun – diejenigen, die den Alten nicht bekannt waren, und die, deren frühere Formen sich gewandelt haben oder durch andere ersetzt wurden4.

Bezeichnenderweise folgt darauf nicht etwa eine neue Aufzählung von Genera oder mustern, sondern eine Übersicht über die historische Entwicklung der französischen, italienischen und spanischen Literatur seit der Einführung des Reims durch die Troubadoure, was schließlich zur manieriertheit verleitet habe, als deren Korrektiv dann Boileaus klassizistisches Regelwerk entwickelt worden sei. Allerdings habe es auch im Zeitalter des Klassizismus „rein romantische Dichtungen“ gegeben. Ein Postscriptum nennt zwei Beispiele: Lafontaines Fabeln und Voltaires Pucelle. Wie man sieht, führt dieser Versuch einer formalen Definition für ‘Klassik’ zu zweifelhaften, für ‘Romantik’ zu gar keinen brauchbaren Ergebnissen. Puschkin hat den Aufsatz denn auch gar nicht abgeschlossen, geschweige denn veröffentlicht. Er ist nicht mehr als ein interessantes Zeugnis für eine bestimmte Phase seiner Entwicklung, jene Phase (es geht um das Jahr 1825), in die auch die Abfassung des 6. Kapitels des Versromans Jewgeni Onegin fällt. Und dort schreibt der junge Dichter Lenski am Vorabend des Duells eine Elegie, die Tschaikowski zu einer berühmten Tenorarie umgeformt hat: 4

5

Die Übersetzungen aus dem Russischen sind, soweit nicht anders angegeben, von mir (R.-D. K.). Veröffentlicht ist davon Puschkins Versroman Jewgeni Onegin als Taschenbuch in der Serie Piper (Nr. 690). münchen/Zürich 1987, sowie die ‘kleine Tragödie’ Mozart und Salieri in der Puschkin gewidmeten Nummer 1/87 der Zeitschrift für Kulturaustausch. Stuttgart 1987. S. 97–103. So in der Fassung des deutschen Librettos (Übertragung von August BERNHARD) anstelle der Puschkin-Verse: „Wohin, wohin bist du entschwunden, / Du meines Frühlings güldne Zeit?“.

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Wohin, wohin seid ihr entschwunden, O Jugendzeit, o Liebesglück. [...]5

Was der Opernbesucher nicht erfährt, ist der unmittelbar an diese (im Roman bereits sehr parodistisch klingende) Elegie anschließende Kommentar des Autors: So schrieb er dunkel und gebrochen (man sagt, daß das romantisch sei, Ich finde daran ausgesprochen Romantisch nichts – doch einerlei!) Und kurz vorm Frührot sank am Ende Das müde Haupt ihm auf die Hände; Beim Stichwort Ideal du mein Schlief Lenski still und leise ein.6

man sieht: Tschaikowskis Onegin ist nicht Puschkins Onegin. Vor allem fehlt ihm, was eine Oper, zumal im Zeitalter Verdis und Wagners, nicht bieten konnte: das Salz der distanzierenden Ironie. So ist Lenski gezeichnet als Typ des romantischen, ebenso schwärmerischen wie verträumten Dichterjünglings. mit Ironie, aber nicht ohne verständnisvolle Sympathie. Denn Lenski ist in gewisser Weise genauso ein retrospektives Selbstporträt des Dichters Puschkin, wie sein Gegenspieler Onegin ein solches des Dandys Puschkin ist. Beide Attitüden aber lagen im Jahre 1825, aus dem die bisherigen Zitate stammen, längst hinter ihm. Puschkin gehört, nach einer Formulierung von marina Zwetajewa7, ebenso wie Goethe, zu den „Dichtern mit Geschichte“, was heißen soll, zu den Genies, die unaufhörlich voranschreiten und dabei ihre eigenen Entwicklungsstadien ständig hinter sich lassen. Das unerhörte Tempo allein seiner dichterischen Entwicklung war schon den Zeitgenossen aufgefallen, und in eben jenem Jahr 1825 bescheinigten ihm die Herausgeber der romantisch-liberalen Zeitschrift Polarstern, Bestužev und Rylejev, dass er „mit Riesenschritten voranschreite“. Was unter anderem auch bedeutete, dass sie – Romantiker reinsten Wassers und führende Köpfe der später als Dekabristen bezeichneten Adelsfronde – eben nicht Schritt halten konnten und daher zurückblieben. Dies ist ein wichtiger Aspekt des Themas „Puschkin und die russische Romantik“. Und nur unter dem Aspekt der Romantik oder romantischer Elemente und Themen möchte ich nun kurz den Weg andeuten, den Puschkin als Dichter von seinem Debüt als frühreifer 14jähriger bis zu seinem unzeitigen Tod als 37jähriger zurückgelegt hat. Dieser erstaunliche Weg führt von verspielten poésies fugitives über Ossianisch-Elegisches plötzlich zu Byron und dann weiter über Shakespeare und Goethe zu Walter Scott und Prosper mérimée, spannt also in nur zwei Jahrzehnten den Bogen vom späten Rokoko zum frühen Realismus. Dass der Übergang von Voltaire und solchen Kleinmeistern wie Gresset und Parny, ja von Piron 6 7

Hervorhebungen von mir (R.-D. K.). marina ZWETAJEWA: Ein gefangener Geist. Essays. (Bibliothek Suhrkamp Bd. 1009). Frankfurt am main 1989. S. 117.

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zu „Birón“, das heißt zu Byron und damit zur Romantik, abrupt erfolgt, hat nicht nur biographische Gründe, sondern hängt wohl auch damit zusammen, dass es in Russland nie einen ‘Sturm und Drang’ gegeben hatte, der ja die Existenz eines Bürgertums voraussetzte, das einfach nicht vorhanden war. Witzigerweise wurde das erste größere veröffentlichte Werk Puschkins, das an Ariost und Wieland erinnernde und eher dem Rokoko zugehörige Epyllion Ruslan und Ljudmila (1820), von der Kritik, die es nicht einzuordnen vermochte, als „romantisches Poem“ bezeichnet, was nur beweist, dass ‘romantisch’ damals in Russland nichts weiter bedeutete als ‘neuartig’ und ‘ungewohnt’. Als dies Werk erschien, befand sich sein Autor, eben 21 geworden und wegen regimekritischer Verse strafversetzt, auf dem Weg in die neuerworbenen südlichen Provinzen des Reiches, jene Gebiete – Kaukasus, Krim und Bessarabien –, in denen Russland an den Orient grenzt. Und er wurde just dort erstmals mit den Oriental tales des elf Jahre älteren Lord Byron bekannt. Wie alle seine Zeitgenossen, Goethe nicht ausgenommen, erlag er der Faszination Byrons und begann seinerseits, „Oriental tales“ zu schreiben, die in der Forschung bisweilen die „byronistischen“, manchmal auch die „romantischen“, meist aber einfach die „südlichen Poeme“ genannt werden, wobei ‘Poem(a)’ der russische Terminus für ‘Verserzählung’ ist. Insgesamt entstanden in den Jahren 1820–24 vier solcher Poeme: Der Gefangene im Kaukasus (1821), Die Räuberbrüder (1822), Der Springbrunnen von Bachtschissarai (1823) und Die Zigeuner (1824). Diese Verserzählungen begründeten Puschkins Ruhm, verhalfen der Romantik in Russland zum Durchbruch und fanden eine Anerkennung bei der Kritik und vor allem beim lesenden Publikum wie außer dem Onegin kaum noch ein anderes Werk – auch keines seiner reiferen Jahre. Als 1825 Die Zigeuner erschienen, rief Bestužev aus: „Was ist ihm jetzt noch unmöglich!“, und Rylejev, mit dem sich Puschkin noch 1820 duellieren wollte, bot ihm brieflich das Du an, was Puschkin auch annahm, obgleich er in Fragen der Kunst wie der Politik mit den beiden Romantikern schon längst nicht mehr einer meinung war. Den künftigen Dekabristen ging es um die Instrumentalisierung der Dichtung zur Förderung ihrer Reformoder Umsturzpläne. Puschkin, der als 18–20jähriger Petersburger Salonlöwe ähnlich gedacht und gedichtet hatte, war inzwischen sehr ernüchtert, vor allem durch die unmittelbare Anschauung der griechischen Ereignisse von 1821–24: Er hatte in Kischinjow den Beginn des Aufstandes aus nächster Nähe beobachtet und war mit den Brüdern Ypsilanti und anderen Akteuren persönlich bekannt, übrigens lange bevor sich Byron aktiv engagierte. Aber er hatte auch das Scheitern Ypsilantis und die inneren Zwistigkeiten unter den Clans der Insurgenten erlebt, die Goethe einmal treffend als „grimmige Anarchie“ kennzeichnete. Als ihn nach dem Tode Byrons in missolunghi (April 1824) sein ebenfalls dichtender älterer Freund, Fürst Vjazemski, theoretischer Vorkämpfer der Romantik in Russland, aufforderte, dies Ereignis zu besingen, antwortete er, dies sei zwar ein großes Thema, aber von Griechenland habe er derzeit die

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Nase voll ... Gewiss sei den Griechen, ebenso wie seinen Verwandten, den Negern8, jedes Freiheitsrecht zu gönnen, aber dass ganz Europa im Griechenfieber liege, sei eine unverzeihliche Kinderei. – Wir werden noch sehen, dass er Byron dennoch ein poetisches Denkmal gesetzt hat; zunächst aber ist festzuhalten, dass er 1824 in Odessa dem romantischen Philhellenismus vorerst abgeschworen hat. Von alledem erfuhr das Publikum natürlich nichts. Es begeisterte sich an den „südlichen Poemen“, die der Dichter selbst schon bald sehr kritisch betrachtete. Gleich nach Abschluss des ersten, des Gefangenen im Kaukasus, war er unzufrieden: Die Schlichtheit des Planes grenzt an Armseligkeit der Phantasie, die Beschreibung der kaukasischen Sitten (das beste Stück meines Poems) hat keinen Zusammenhang mit der Handlung und ist eher [...] eine Reisebeschreibung. Der Charakter der Hauptpersonen (und es gibt ja nur zwei) würde sich besser für einen Roman schicken als für ein Poem. Wen fesselt schon die Darstellung eines jungen mannes, der unter irgendwelchen unglücklichen Umständen, die der Leser nicht kennt, die Fühlsamkeit seines Herzens eingebüßt hat?

Der Charakter des Helden sei „verfehlt, was beweist, dass ich nicht zum Helden eines romantischen Poems tauge.“ In den beiden folgenden Poemen, den Räuberbrüdern und dem Springbrunnen von Bachtschissarai, verzichtete er denn auch auf Autobiographisches und Aktuelles, und erst in den Zigeunern gibt es wieder Anklänge an den Gefangenen. Dabei sind die Zigeuner aber eine Art Abschied von Rousseauschen Idealvorstellungen vom natürlichen Leben: auch bei ihnen herrschen, wie im Harem von Bachtschissarai, die Leidenschaften als unentrinnbare Schicksalsmächte. Gleichzeitig mit diesem letzten „südlichen Poem“ entstehen aber auch schon die ersten Kapitel des Versromans Jewgeni Onegin, in denen es bereits deutliche Distanzierungen von Byron gibt. Wir wissen, dass Puschkin 1823–24 in Odessa eine Krise tiefer Skepsis durchmachte und gleichzeitig seine Lektüre erheblich erweiterte. Im mai 1824 schreibt er an einen Freund: Indem ich Shakespeare und die Bibel lese, will mir manchmal der Heilige Geist gefallen, den Vorzug gebe ich aber doch Goethe und Shakespeare – und ich nehme Unterricht in reinem Atheismus. [...] Ein System, das nicht so tröstlich ist, wie man gewöhnlich meint, aber unglücklicherweise höchst wahrscheinlich.

Ausgerechnet dieser vertrauliche Brief wird von der Polizei abgefangen und liefert die Begründung für Puschkins Entfernung aus dem Staatsdienst und seine Verbannung auf das Gut seiner mutter, michailowskoje, im Gouvernement Pskow. Uns interessiert hier nicht der Atheismus, den Puschkin bald überwand, als vielmehr eine andere Passage des gleichen Briefes: „Du willst wissen, was ich mache – ich schreibe bunte Strophen eines romantischen Poems.“ 8

Puschkin spielt hier auf seinen Urgroßvater mütterlicherseits, den aus Afrika stammenden „mohren Peters des Großen“ an.

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Damit sind die ersten Kapitel des Versromans Jewgeni Onegin gemeint. Das Wort „romantisch“ bedeutet auch hier nur ‘neuartig’. Aber Puschkin kennt auch die Auffassung der französischen Journalisten und warnt daher zur gleichen Zeit seinen Bruder: „Glaub nicht, was N. Rajewski sagt, der auf ihn [das ist Onegin] schimpft – er hatte von mir Romantik erwartet, fand Satire und Zynismus und ist überhaupt nicht so recht dahinter gekommen.“ Der hier erwähnte Nikolai Rajewski und seine Geschwister waren es gewesen, die Puschkin vier Jahre zuvor auf Byron aufmerksam gemacht hatten. Aber schon im ersten Kapitel des Onegin (um das es hier geht) hieß es von Byron, dass er immer nur sich selbst porträtiere (l. Kap. Strophe 56). Das war 1823 geschrieben. Ein Jahr später, im dritten Kapitel, liefert Puschkin eine Liste der Werke, die zu Beginn der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts en vogue waren (2. Kap. Strophe 12): Heut schreibt man neblicht und verschwommen, moral regt uns zum Gähnen an, Das Laster aber ist willkommen, Schon triumphiert’s – auch im Roman. Den Schlaf der Jünglingin betören Der Britenmuse Schauermären Und zu Idolen wurden ihr Der melancholische Vampir, melmoth, der finstere Gehetzte, Der Ewige Jude, der Korsar, Der rätselschwangere Sbogar. mit Trüb-Romantischem versetzte Lord Byron recht erfolgreich doch Selbst hoffnungslose Ichsucht noch.

In dieser romantischen Bestsellerliste haben wir Byrons The Corsaire – in französischer Übersetzung 1822 erschienen, Charles Nodiers Jean Sbogar (1818), den von Byrons Arzt Polidori verfassten The Vampyre, a Tale (1819) und das, wie Puschkin sagt, „geniale Werk“ von mathurin, Melmoth, the Wanderer (1820). Bei allen Titeln ist, sofern sie ursprünglich englisch erschienen waren, an französische Übersetzungen zu denken. Somit handelt es sich um brandneue Publikationen der Jahre 1818–22 – und geschrieben ist die Strophe in der russischen Provinz Anfang 1824. So reizvoll es wäre, die Literaturzitate im Jewgeni Onegin weiterzuverfolgen, will ich bei dem ausdrücklich als „romantisch“ bezeichneten Kanon von 1824 verweilen. Es fällt auf, dass der unvermeidliche Byron gerade mit dem Korsaren vertreten ist (übrigens im vierten Kapitel noch einmal als „Sänger der Gülnar“) – also mit einer Seeräubergeschichte. Das Thema des edlen, gerechten Räubers finden wir auch in Charles Nodiers Jean Sbogar, und es ist damit unter den typisch romantischen Themen dieses Kanons ebenso oft vertreten wie der Schauerroman. Und die Formel

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moral regt uns zum Gähnen an, Das Laster aber ist willkommen, Schon triumphiert’s – auch im Roman.

deutet bereits die Problematik an, die das selbstherrliche Individuum notwendigerweise in Konflikt bringen muss mit allgemeingültigen Normen. Von hier aus ergibt sich sozusagen von selbst die Verbindung zum Räuberthema. Wenn wir nun nach dem Räuberthema bei Puschkin fragen, so finden wir es in einer Reihe von Werken vor, dabei in manchen Zügen abweichend von anderen zeitüblichen Bearbeitungen. Wie schon der Titel sagt, ist bereits das zweite der erwähnten „südlichen Poeme“ – Die Räuberbrüder – dieser Thematik gewidmet, offenbar aber weitgehend unabhängig von literarischen Vorbildern, dafür aber auf einem konkreten Ereignis beruhend. Bei seinem Aufenthalt in Jekaterinoslaw erfuhr Puschkin Ende mai 1820 von zwei Räuberbrüdern, die aus dem Gefängnis entflohen und trotz Fußfesseln schwimmend durch den Dnjepr entkommen waren. Eine um diesen Kern entworfene romantische Liebesgeschichte befriedigte Puschkin nicht, und nach mehreren Ansätzen blieb nur der Bericht des älteren Räubers übrig, der erzählt, wie sein jüngerer Bruder nach der Flucht erkrankt und gestorben sei9 und wie er ihn im Fieber um Gnade für einen Greis gebeten habe, den beide einst ermordet hatten. Seither könne er, der ältere, Greise nicht mehr umbringen. Puschkins eigenes Urteil: „Als Sujet c’est un tour de force – das ist kein Lob, im Gegenteil. Aber was den Stil betrifft, habe ich nichts besseres geschrieben.“ So in einem Brief von 1822. Tatsächlich beginnt er hier erstmals Elemente der Volkssprache einzuführen. Eindrucksvoll ist vor allem die psychologische Wirkung, die der Anblick des Opfers auf den Täter macht. Dies motiv findet dann metaphorische Verwendung in der kurzen Szene aus Faust, in der mephisto Fausten daran erinnert, was dieser im Augenblick seiner liebenden Vereinigung mit Gretchen gedacht habe: Aufs Opfer meiner Sinnenglut Schau ich, gesättigt vom Genusse, mit übermächtigem Überdrusse: So sieht ein junger Tunichtgut, Der eben einen mord verbrochen, Auf des beraubten Bettlers Blut Und flucht dem Leib, den er erstochen10.

Das hier etwas harmlos klingende Wort „Tunichtgut“ steht für ein originales „zlodej“ = ‘Übeltäter, missetäter’, Verbrecher also, besonders Gewaltverbrecher. Und in dem viel später, 1830, geschriebenen kleinen Drama, Mozart und Salieri, lässt Puschkin seinen mozart sagen: 9

10

Das Thema der Räuberbrüder plante auch Eichendorff zu behandeln, wie aus einem Entwurf hervorgeht, in dem er Puschkin namentlich erwähnt. In: Berliner Nachlaß. Deutsche Staatsbibliothek Berlin. Preußischer Kulturbesitz. Bl. 28v. Übersetzung von michael ENGELHARDT (bisher unveröffentlicht).

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Genius und Verbrechen [zlodejstvo] Das ist doch unvereinbar. Stimmt das nicht? (Salieri): Glaubst du?

Eine höchst bemerkenswerte Variante unter Puschkins Aussagen zum Ausnahmecharakter des Künstlers, gewissermaßen eine humane Einschränkung dieser Postulate, die, wie man inzwischen herausgefunden hat, durchaus in der Tradition romantischer Kunst-“Religion“ – von Wackenroder bis Schelling – stehen, einer Tradition, mit der Puschkin spätestens im Herbst 1826, nach seiner Rückkehr aus der Verbannung, im Kreis der jungen moskauer „ljubomudry“ (eine Übersetzung von „philosophoi“) näher bekannt wurde. Er nahm davon auf, was ihm für die Verteidigung seiner Unabhängigkeit als Dichter brauchbar erschien. Dabei bestätigte ihm manches seine eigenen Überzeugungen. So hatte er schon 1822 mit dem Lied vom weisen Oleg ein muster der romantischen Ballade geschaffen, und dort trat ein altslawischer Zauberpriester auf, der dem Fürsten Oleg erklärte, dass seinesgleichen keiner Fürstengeschenke bedürften, dass ihre seherische Sprache im Bunde sei mit den mächten des Himmels. Damit erklärte bereits der junge Dichter, wenn auch verschlüsselt, seine Unabhängigkeit von der weltlichen macht und seine quasi-religiöse Berufung11. Dasselbe geschieht dann zwei Jahre später (1824) unter dem Bilde des Propheten mohammed in den Nachahmungen des Korans, wo es unter anderem heißt: Frischauf, verachte Trug und Wahn, Tritt mutig ein fürs Wahre, Rechte, Hab Waisen lieb, und den Koran Verkünd dem schlotternden Geschlechte!

Und abermals zwei Jahre später, in dem berühmten Der Prophet (1826), das an die Berufungsszene aus Jesaja 6 anknüpft, ergeht der Anruf Gottes schon direkt an das lyrische Ich: Wie tot lag in der Wüste ich, Und Gottes Ruf erreichte mich: „Steh auf, Prophet, und sieh und höre! mein Wille fülle dich hinfort, Und wandelnd über Land und meere Brenn menschenherzen mit dem Wort!“

Dieses gewaltige Gedicht, in dem Prophetenamt und Dichtertum im moment der schmerzlichen Berufung des eigentlich Unwürdigen zusammenfließen, dies Gedicht bringt Puschkin bereits mit, als er in moskau zu den jungen Schellingianern stößt. Und in ihrer Zeitschrift, dem Moskauer Boten, publiziert er in den folgenden zwei Jahren seine programmatischen Gedichte Der Dichter, An den Dichter und Der Dichter und die Menge, die alle die priesterliche Ausnahme 11

Zu dieser Thematik vgl. Rolf-Dietrich KEIL: Der Fürst und der Sänger. Varianten eines Balladenmotivs von Goethe bis Puškin. In diesem Band S. 63-109.

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stellung des „vom Himmel erwählten Sängers“ betonen. Die menge, die dies gern anerkennen will, wenn der Dichter sie nur belehren und bessern wollte, wird schroff zurückgewiesen: „Procul este, profani!“ lautet schon das motto über diesem ungleichen Dialog, und der Schluss fasst zusammen: Nicht für der Tageszwiste meistrung, Wo es um Sieg und Vorteil geht – Wir sind geboren zur Begeistrung, Zum süßen Klang und zum Gebet.

Was hat das alles mit dem Räuberthema zu tun? Ich denke, nicht wenig. Ist dieser Dichter-Prophet oder Dichter-Priester, der als Künstler von sich selbst sagt: „Du bist ein Zar“, der allein imstande ist, sein Werk angemessen zu beurteilen (vgl. das Sonett An den Dichter – 1830), und der sagt „Vom Zaren oder vom Volke abzuhängen, ist das nicht einerlei?“ (Aus Pindemonti – 1836), ist er nicht ebenso wie der Räuber, der Rebell, der Usurpator ein Outlaw, der sich über die Schranken verbindlicher Regeln hinwegsetzt, ja erhaben glaubt? Die Frage ist nur, aus welcher Vollmacht und zu welchem Zweck. Der Dichter kann berufen sein (auch gegen seinen Willen), wie es das Prophetengedicht mit grausamer Deutlichkeit schildert, dagegen erkennt er keine Zwecke an. Der Räuber handelt aus eigener Entscheidung und verfolgt gemeinhin eigennützige Zwecke, es sei denn, er greift zur Gewalt um eines höheren, gerechten Zieles willen. Puschkin hat auch diesen Typ des edlen Räubers zu gestalten versucht, allerdings erst spät (1835) in dem unvollendet gebliebenen Roman Dubrowski. Von Anfang an aber hat ihn der Räuber als Typ des Outlaw interessiert. So bezeichnet er 1825 einmal den Kosakenführer Stenka Rasin, der im 17. Jahrhundert die Wolgaregion unsicher machte, als „die einzige poetische Gestalt der russischen Geschichte“. Und im gleichen Jahr wendet er sich mit dem Drama Boris Godunow dem Thema des Usurpators zu, wobei im Grunde sowohl der Zar Boris als auch der Pseudo-Demetrius kein Anrecht auf den Thron haben. Bezeichnenderweise hat Puschkin den Pseudo-Demetrius, den entlaufenen Novizen, auch zum Dichter gemacht und lässt ihn sagen: Ich glaube ans Prophetentum der Dichter hundertfach geheiligt Nenn ich den Bund der Leier mit dem Schwert: Der gleiche Lorbeer windet sich um beide12.

Und der Held seines letzten vollendeten Werkes, des historischen Romans Die Hauptmannstochter ist, sieht man vom Ich-Erzähler ab, der historische Anführer des großen Bauernaufstandes von 1773–74, Pugatschow, der sich für den ermordeten Peter III. ausgab – wieder ein Räuber, ein Rebell, ein Usurpator. Das russische Wort für Usurpator macht die Sache noch klarer: „samozvanec“ = „Selbsternannter“. Und darin liegt ja, zumindest von außen betrachtet, die 12

Übersetzung von Henry von HEISELER.

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Gemeinsamkeit von Räuber und Dichter, sofern man die Berufung des letzteren als objektiv nicht nachweisbar ansieht. Die Frage der Vollmacht hat Puschkin oft beschäftigt, und er greift immer wieder auf den Vergleich mit der Elementargewalt von Naturereignissen zurück. Hier ist es nun an der Zeit, das Gedicht zu erwähnen, in dem Byron ein Denkmal gesetzt wird. Es ist das große Gedicht An das Meer, das 1824 zu Beginn der nördlichen Verbannung seine endgültige Form erhielt13. Es ist ein Abschiedsgedicht an das meer, „das freie Element“, an den Süden (die romantische Kulisse), an die zwei Gestalten, die Puschkin die „Beherrscher unserer Gedanken“ nennt: Napoleon und Byron, von dem es heißt: [...] Er war dein Sänger, meer! Er war von deinem Wesen trächtig, Er war aus deinem Geist gezeugt: Wie du umschattet, tief und nächtig, Wie du von keiner macht gebeugt14.

Hier wird das meer, das „freie Element“, zum Sinnbild der Freiheit überhaupt, der Freiheit, deren Sänger Puschkin immer und vor allem anderen war. Konnte er doch in seiner Summa poetica, dem 1836 unter dem horazischen motto „Exegi monumentum“ stehenden Gedicht, zu Recht von sich behaupten: Und lange wird vom Volk mir Liebe noch erwiesen, Weil mein Gesang erweckt Gefühle echt und tief, Weil ich in grauser Zeit die Freiheit hoch gepriesen Und Gnade für Gestürzte rief.

Freiheit ist den Elementen eigen, besonders Wind und Wasser, den Geschöpfen der Natur, der Liebesleidenschaft und, so fordert Puschkin, dem Dichter. Sie alle kennen kein über ihnen stehendes Gesetz, keine sie einengenden Bedingungen. So heißt es in dem 1832/33 entstandenen Fragment Jeserski: Warum dreht Laub und Staub im Kreise Der Wind, der durch den Hohlweg fährt, Wo doch das Schiff für seine Reise So sehnlich seinen Hauch entbehrt? Warum fliegt schwer vom Berg herüber Der Aar am hohen Turm vorüber Zu einem Baumstumpf? Frag doch ihn! Warum zieht zu dem mohren hin Der jungen Desdemona Sehnen,

13

14

Zu diesem Gedicht, das übrigens das Lieblingsgedicht von marina Zwetajewa war, wie das Propheten-Gedicht das von Dostojewski, vgl. die Übersetzung und Interpretation von michael ENGELHARD in: Arion. Jahrbuch der Deutschen Puschkin-Gesellschaft. Bd. l. Bonn 1989. S. 100–136, sowie die philologischen Überlegungen von Hans ROTHE in: Arion. Bd. 2. Bonn 1992. S. 160–166. Übersetzung von michael ENGELHARD.

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Wie mondlicht sich der Nacht erfreut? Darum, weil kein Gesetz gebeut Dem Wind, dem Aar, dem Herz der Schönen. Stolz darfst auch du, o Dichter sein: Bedingtheit engt auch dich nicht ein.

Diese Unabhängigkeitserklärung des Dichters diente im Kontext des Entwurfs dazu, die Wahl eines alltäglichen, unbedeutenden menschen zum Helden eines epischen Gedichts zu rechtfertigen. Puschkin ließ das Fragment liegen, als er sich entschloss, den Ehernen Reiter zu schreiben, jenes letzte und größte in der Reihe seiner Poeme, in dem der „kleine mann“ wieder auftaucht, nun aber konfrontiert mit dem Giganten Peter dem Großen und zugleich mit der Gewalt der Elemente in Gestalt der verheerenden Überschwemmung Petersburgs vom November 1824. In jenem Jahr Sah Rußland herrschen noch den alten Ruhmreichen Zaren, der hinaus Auf den Balkon trat und voll Graus Bekannte: „Gottes Urgewalten Bezwingt kein Zar.“

Während der Zar auch hinter dem Wüten der Elemente noch Gott erkennt, was gut zu dem historischen Alexander I. passt, fragt sich der von der Flut überraschte „kleine mann“, ob nicht das, was er sieht, ein Traum sei: Wär alles Leben Hienieden nur ein Traum am End, Womit der Himmel uns verhöhnt?

Hier nicht zum erstenmal, aber hier mit voller Stärke, wird die ganze Fragwürdigkeit einer optimistischen Konzeption von elementarer Freiheit deutlich. Und da ist es nur bezeichnend, dass Puschkin zum Vergleich mit der zerstörerischen Gewalt des Wassers das Bild einer flüchtenden Räuberbande wählt. Der zweite Teil des Ehernen Reiters beginnt mit den Versen: Doch, überdrüssig der Zerstörung Und ihres frechen Frevels müd, Die Newa wieder seewärts zieht, Genießt die eigene Empörung Und läßt die Spuren der Verheerung Achtlos zurück. So überfällt Als Bandenchef ein messerheld Ein Dorf, schlägt alles dort in Trümmer, Raubt, schändet, mordet; Wut, Gewimmer, Geschimpfe, Flüche, Hilfeschrei’n! ... Und ächzend von des Raubes Lasten, müd, doch Verfolgung fürchtend, hasten Die Räuber heimwärts und verstreun Am Wege Stück für Stück die Beute.

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Hier ist von Räuberromantik nichts mehr zu spüren. Die Schilderung des Überfalls einer Räuberbande auf ein Dorf aber stimmt teilweise wörtlich überein mit dem, was Puschkin in einer wenig bekannten kurzen Erzählung von dem Räuberhauptmann Kirdjali berichtet, den er in Kischinjow 1821 selbst gesehen hatte. Diese Erzählung (1836 veröffentlicht), in die ein Bericht über die Vernichtung der griechischen Aufständischen durch eine türkische Übermacht bei Skuljany eingefügt ist, zeigt Puschkin nicht nur als genialen Erzähler, sondern auch als sachlich urteilenden Historiker, und so liest sich die Erzählung Kirdjali neben dem etwa gleichzeitig entstehenden Romanfragment Dubrowski ähnlich wie später die Geschichte des Pugatschow-Aufstandes neben der poetischen Verarbeitung der gleichen Ereignisse in dem Roman Die Hauptmannstochter. Das Räuberthema bei Puschkin ist mit diesen Andeutungen keineswegs erschöpft. Aber ungeachtet der Tatsache, daß dies Thema zu einem der beliebtesten der europäischen Romantik gehörte, scheint es für Puschkin zuerst aufgrund eigener Anschauung interessant geworden zu sein. Das gilt nicht nur für die Räuberbrüder, das heißt die echten Räuberbrüder von Jekaterinoslaw 1820, sondern vor allem für das Jahr 1821 in Kischinjow, wo er die aus enthusiastischen Patrioten und höchst zweifelhaften Elementen à la Kirdjali zusammengewürfelte Streitmacht des Fürsten Ypsilanti kennen lernte, aber auch die Tochter des Serbenführers Karadjordje, der den eigenen Vater erschossen hatte, als dieser den Sohn an die Türken ausliefern wollte. Dies war das erste Beispiel eines menschen, der zugleich gepriesener Freiheitsheld und verabscheuungswürdiger Verbrecher war. Hiermit und im bessarabischen Kischinjow beginnt Puschkins Interesse für historische Prozesse – und unter anderem auch sein neues und positives Verhältnis zum Phänomen Napoleon – immer parallel zu seiner ersten und begeisterten Byron-Rezeption. Das Thema „Puschkin und die Romantik in Russland“ ist mit dem, was ich hier kurz skizziert habe, natürlich nicht erschöpft. Ein ganzes Kapitel über E. T. A. Hoffmann wäre nachzutragen, ohne den die nach André Gide „beste Novelle der Weltliteratur“ – Pique Dame (1833) – nicht denkbar wäre. Weiter wären die aus mérimées La guzla herausentwickelten Lieder der westlichen Slaven zu erwähnen oder die wunderbaren Kunstmärchen, die so russisch sind, dass sie noch heute jedes Kind im Vorschulalter kennen lernt und auswendig behält bis an sein Lebensende, und die doch keineswegs auf den Erzählungen von Puschkins Kinderfrau Arina Rodionowna fußen, sondern durchaus literarische Quellen und Vorbilder haben, darunter die Brüder Grimm, Philipp Otto Runge und Washington Irving. Diese märchen – einschlägige Anthologien ignorieren sie bei uns bis heute – sind einerseits typische Erzeugnisse der europäischen Romantik und andererseits so vollständig gelungene Russifizierungen, dass sie ihrerseits wieder in die Folklore mündlicher Dorfüberlieferungen eingegangen sind. Ich hoffe, aus diesen notwendigerweise bruchstückhaften Andeutungen ist klar geworden, dass Alexander Puschkin, der in der Zeit der europäischen Romantik gelebt hat, als Autor mit einem wesentlichen Teil seines Werks dieser

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gesamteuropäischen Literaturepoche angehört, dass er aber andererseits über die Romantik hinausgewachsen ist und im Rahmen der russischen Literatur als ihr größter Klassiker gilt. Nicht nur heute, aber besonders wieder heute könnte Puschkin wegen dieses hohen Ansehens vielleicht als Integrationsfigur wirken in dem von törichten Chauvinismen gekennzeichneten Zustand der Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion – in dem Sinne, in dem er in seiner bereits zitierten Summa poetica (1836) sagte: mein Ruf dringt bis ans End’ der russischen Gefilde Und hallt von jedem Stamm, der sie bewohnt, zurück: mich nennt der Slave stolz und auch der heut noch wilde Tunguse, Finne und Kalmück.

Aber selbst abgesehen von dieser Ausstrahlung über die Schranken der Nationalitäten hinweg hat Puschkin seine Integrationswirkung schon erwiesen dadurch, dass er nicht nur zeitlich vor, sondern vor allem in seiner Größe über der Parteiung steht, die seit den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts bis heute und gerade heute wieder das russische Bewusstsein spaltet, die Dichotomie in Slawophile und Westler. Auf Puschkin können sich beide zu Recht berufen und tun es auch. Dabei sind die eigentlichen Erben der Romantik die Slawophilen, während die Westler eher als Erben der Aufklärung angesehen werden können. Bezeichnend für Puschkin ist, dass die beiden ersten Gelehrten bzw. Publizisten, die die Wissenschaft der Puschkinistik begründeten, und das geschah in den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, beide Tendenzen vertraten: Annenkow, der 1855 die erste kritische Werkausgabe Puschkins herausbrachte, war dezidierter Westler; Bartenew, der wenig später die wichtigsten Daten zur Biographie des Dichters publizierte (1861), war dezidierter Slawophile. Und so bleibt uns heute die Hoffnung, die immer noch virulente, ja heute neubelebte Spaltung könne schließlich im Namen Puschkins überwunden werden. mit dieser vielleicht unerwartet aktuellen Wendung möchte ich meine fragmentarischen Anmerkungen beenden und der Deutschen Eichendorff-Gesellschaft dafür danken, dass sie mit der Einbeziehung Puschkins und damit Russlands in die geistige Landschaft Europas Gelegenheit gegeben hat, der dort vorhandenen, aber bei uns weitgehend unbeachteten geistigen Potenzen zu gedenken.

Was heißt ljubonačalie? Zu einer neueren Interpretation von Puškins „Fastengebet“

1991 ist im Lenizdat in der reihe „Vydajuščiesja dejateli nauki i kul’tury v Peterburge – Petrograde – Leningrade“ ein broschiertes Büchlein erschienen, das auf 350 Seiten kenntnisreich und interessant über „Puškin v Peterburge“ erzählt und von r. V. Iezuitova und Ja. L. Levkovič verfaßt wurde, also von zwei seit langem bestens ausgewiesenen kennerinnen der Puškin-Zeit. als rezensentin zeichnet (neben V. I. kuznecov) die Herausgeberin der künftigen Puškin-Enzyklopädie I. S. Čistova. Man darf also eine zwar populär geschriebene, aber wissenschaftlich fundierte und zuverlässige Darstellung erwarten. Und das Buch rechtfertigt diese Erwartung durchaus. Es ist auch nicht meine absicht, hier eine rezension zu liefern – sie käme einer warmen Empfehlung gleich. Vielmehr möchte ich mich nur in einem einzigen Detail kritisch mit seinem Inhalt auseinandersetzen. Es geht tatsächlich nur um eine einzige Zeile eines einzigen Gedichts, ja genaugenommen um ein einziges Wort – eben das in der Überschrift genannte – und die allerdings weitreichenden Folgerungen, die die Verfasserinnen aus ihrem Verständnis dieses Wortes ziehen. auf Seite 296 beginnt die auseinandersetzung mit dem sogenannten „kamenno-ostrovskij cikl“ Puškins aus dem Sommer 1836. Nach auffassung der Verfasserinnen ist „das Grundthema des Zyklus die Suche nach einem sittlichen Ideal, das Verhältnis eines freisinnigen, unabhängigen Menschen zur weltlichen Macht.“ ausgehend von der Hypothese von V. P. Stark, dass die Gedichte des Zyklus den Ereignissen der karwoche zugeordnet seien1, beginnen Iezuitova und Levkovič mit der Betrachtung des zeitlich frühesten Gedichts, der um eine Einleitung erweiterten Nachdichtung des Fastengebets Ephräms des Syrers „Otcy pustynniki i ženy neporočny“. Dies Gebet wurde (und wird) in der orthodoxen kirche während der ganzen vorösterlichen Fastenzeit gelesen. Nach Meinung der beiden autorinnen „enthält das Gebet die Bitte um die Bewahrung der menschlichen Würde.“ Schon diese Interpretation weckt Zweifel, zumal wenn man (auch ohne kenntnis Ephräms des Syrers) den traditionellen Namen dieses Gebets als pokajannaja molitva bedenkt, dessen sich (auf S. 297) auch die Verfasserinnen bedienen. Sie sehen durchaus autobiographische Bezüge in diesem text, allerdings nur im Bereich des unynie, das hervorgerufen sei durch Puškins Ärger mit der Zensur, die Lucullus-Uvarov-affäre und die Duell-Geschichten mit dem Grafen Sollogub und repnin. Eine meines Erachtens recht oberflächliche Deutung, die Begriffe wie Demut oder gar Zerknirschung nicht zu kennen scheint. 1

V. P. Stark: Stichotvorenie „Otcy pustynniki i ženy neporočny ...” i cikl Puškina 1836 g. – In: Puškin. Issledovanija i materialy X, (L. 1982), S. 193–203.

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aus einer derartigen Grundhaltung – und mangelhafter kenntnis des kirchenslavischen – entspringt dann wohl auch die Interpretation der Zeile, um die es mir in dieser anmerkung eigentlich geht. Hier muss ich den text auf russisch zitieren: Na osobom meste v ėtoj „pokajannoj“ molitve stoit grech ljubonačalija („zmei sokrytoj sej“). Ego Puškin vydeljaet kak tjaželejšij. Zavisimost’ čeloveka postojanno tolkaet ego na preklonenie pered vlast’ imuščimi. klonit’ golovu pered carem, vystupat’ v roli prositelja, my videli, ne raz prichodilos’ i Puškinu, – i videli, kak vsemi dostupnymi silami on staralsja sochranit’ pri ėtom čest’ i dostoinstvo nezavisimogo čeloveka. (S. 297)

In dieser Wiedergabe wird „ljubonačalie“ offenbar verstanden als „Liebe zur Obrigkeit“, wenn nicht gar als Liebedienerei vor derselben. Die Verfasserinnen folgen hierin auch der erwähnten auslegung von V. P. Stark, der in seinem artikel auf S. 199 ausführte: Puškin vydeljaet ėtot grech kak važnejšij – grech stremlenija k mirskoj vlasti, želanija povelevat’ i v to že vremja grech preklonenija pered vlastjami.

Stark entfernt sich damit bereits von der korrekten Erklärung des Puškin-Wörterbuchs der akademie2, wo auf S. 525 des 2. Bandes zu lesen ist: Ljubonačalie Vlastoljubie, stremlenie vlastvovat’ nad drugimi, (worauf als einziger Beleg im Werk Puškins unsere Stelle folgt).3

Stark erweitert die korrekte Erklärung um eine eigene Interpretation, und die Verfasserinnen der zitierten Broschüre übernehmen nur noch diese Erweiterung. Dies scheint mir ein Beispiel zu sein für zwei einander ergänzende Unzulänglichkeiten, die sich heute mehr und mehr bemerkbar machen. Zum einen fehlt selbst bei seriösen Forschern nicht selten eine gründliche kenntnis des kirchenslavischen und noch mehr des dahinterstehenden Griechischen, zum andern besteht die tendenz zu christlichen Interpretationen, ohne dass eine Vertrautheit mit christlichem Weltverständnis vorhanden wäre. Was den ersten Punkt betrifft, so handelt es sich bei unserem Beispiel schlicht um das Faktum, dass die Wortkomposition im älteren Griechisch sozusagen umgekehrt funktioniert wie im modernen Deutschen und russischen (und in kunstwörtern auf griechischer Basis). Besonders bei Zusammensetzungen mit φιλ(ο), von denen etwa das griechisch-deutsche Wörterbuch von Jacobitz und Seiler (Leipzig 1897) 12 Spalten enthält, ist das zu bemerken. Eine reihe dieser Bildungen ist durch Lehnübersetzung auch ins moderne russische gelangt4 oder 2 3

4

Slovar’ jazyka Puškina, M. 1957. Die Definition des Puškin-Wörterbuchs wiederholt fast wörtlich die angabe des Slovar’ akademii rossijskoj, SPb 1814, čast’ III. Dort steht auf S. 651: Ljubonačalie (...) Vlastoljubie, želanie vlasti nadъ drugimi, worauf als Beleg der Ephräm-text folgt. Ähnlich die Erklärung im Cerkovnyj slovar’ von P. aLEkSEEV, M. 1815, čast’ II, wo auf S. 285 steht: ljubonačalie, želanie byt’ načal’nikomъ, vlastoljubie. Puškin kennt z. B. noch ljubostrastnyj, bei PaWLOWSky (russisch-Deutsches Wörterbuch, 3. aufl., riga 1923) findet man ljubodružnyj, ljuboznanie, ljuboznatel’nost’, ljubomilostivyj, ljubomolčanie, ljubomolčannyj, ljubomudr, ljubomudrennyj, ljubomudrost’, ljubomudrstvo-

Was heißt ljubonačalie?

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sogar neugebildet worden wie die ljubomudry nach dem griechischen φιλόσοφοι – Puškins Moskauer Bekannte der späten 20er Jahre. Daß die umgekehrte reihenfolge für das russische die normale ist5, zeigt die Erklärung von ljubonačalie durch vlastoljubie im Puškin-Wörterbuch. Sie zeigt noch ein weiteres: dass nämlich -načalie nichts mit neurussisch načal’stvo zu tun hat, sondern vlast’ bedeutet (nicht etwa vlasti). Ljubonačalie ist die genaue Lehnübersetzung von φιλαρχία, welches Wort denn auch im griechischen liturgischen text des Fastengebets von Ephräm dem Syrer steht.6 Soweit die philologische Seite des Problems. Mehrfach aufgefallen ist schon die von Puškin zugefügte textergänzung zmei sokrytoj sej, womit die Herrschsucht als besonders verabscheuungswürdige Sünde gekennzeichnet wird. Das passt durchaus zu dem Gesamtthema des Zyklus: „mirskaja vlast’“; es paßt zudem zu mehreren früheren Stellungnahmen Puškins wie etwa im „ančar“; es passt auch zu der anwendung der Schlangenmetapher auf die herrschsüchtige Marina Mnišek (in „Boris Godunov“) oder auf Mazepa (in „Poltava“). Es passt aber kaum auf ein opportunistisches Verhalten gegenüber den Mächtigen dieser Welt – sofern derartiges überhaupt in einen Sündenkatalog im Sinne der „Wüstenväter“ hätte geraten können.

5

6

vat’, ljubomudryj, ljubonačalie (= Herrschsucht), ljuboprazdnyj, ljuboslavie, ljuboslavnyj, ljuboslastie, ljuboslastec, ljuboslastnyj, ljuboslov, ljuboslovec, ljuboslovie, ljuboslovnyj, ljubosmirenie, ljubosmirennyj, ljubostradalec, ljubostranstvie, ljubostrastie, ljubostrastnyj, ljubostjažanie, ljubostjažatel’, ljubostjažatel’nost’, ljubostjažatel’nyj, ljuboučenie, ljubočestivyj, ljubočestie, ljubočestnyj, ljubočtitel’nyj, ljuboščedryj (sämtlich auf S. 647). Diese „normale“ reihenfolge Bestimmungswort – Grundwort findet sich auch schon in frühen slavischen Übersetzungen aus dem Griechischen, vgl. φιλάνθρωπος, čelovekoljubec, oder später z. B. φιλοκαλία – dobrotoljubie (was eine wesentlich korrektere Übersetzung ist als die, die der neueste Brockhaus anbietet: „Liebe zum Schönen“!) Zur reihenfolge der Glieder im Griechischen und altserbischen vgl. die ausführungen von r. ZEtt: Beiträge zur Geschichte der Nominalkomposita im Serbokroatischen, köln, Wien 1970, besonders auf S. 117. Zett führt sowohl ljubonačelije (S. 213) als auch načeloljubije (S. 232) an. Hier der griechische text nach dem „Τριῷδιον κατανυκτικόν“ des athener Verlages Φώς; (o. J.) unter dem Montag der karwoche, morgens (S. 401f): Κύριε καὶ Δέσποτα τῆς ζωῆς μου, πνεῦμα ἀργίας, περιεργείας, φιλαρχίας, καὶ ἀργολογίας, μή μοι δῷς. Πνεῦμα δὲ σωφροσύνης, ταπεινοφροσύνης, ὑπομονῆς καὶ ἀγάπης, χαρισαί μοι τῷ σῷ δούλῳ. Ναί, Κύριε Βασιλεῦ, δώρησαί μοι τοῦ δρᾶν τὰ ἐμὰ πταίσματα καὶ μὴ κατακρίνειν τὸν ἀδελφόν μου, ὁτι εὐλογητὸς εἶ εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων. Ἀμήν.

Florenz und Petersburg oder: Puškin und Foscolo Oft schon ist St. Petersburg das Venedig des Nordens genannt worden, aber welcher Zusammenhang soll mit Florenz bestehen? Und auch von einem wie auch immer gearteten Verhältnis Puškins zu dem italienischen Dichter Ugo Foscolo (1778–1827) ist meines Wissens noch nie die Rede gewesen. Nun gibt es ja bisweilen, wie Puškin einmal schrieb, «странные сближения». In diesem Fall war dem Dichter nach der Lektüre von Shakespeares Lukrezia, eines wie er sagte „ziemlich schwachen Poems“, der Gedanke gekommen, „gleichzeitig die Geschichte und Shakespeare zu parodieren“, und dieser „doppelten Versuchung“ habe er nicht widerstehen können. Das Ergebnis war bekanntlich Graf Nulin – geschrieben am 13. und 14. Dezember 1825 in Michajlovskoe, während in Petersburg die Dekabristen putschten. Weniger schicksalsträchtig sind andere „sonderbare Näherungen“, die manchmal einen Puškin-Text als Reflex eines anderen Textes erscheinen lassen. Sonderbar ist das vor allem dann, wenn feststeht, dass Puškin diesen anderen Text gar nicht gekannt haben kann. Das ist etwa der Fall bei seinem Gedicht Vospominanie von 1828, das erstaunliche Parallelen aufweist zu einem Petrarca-Sonett, das erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts aufgefunden wurde: „Nel tempo, lasse! della notte, quando ...“ (Petrarca 1958, S. 712). Dies Gedicht fehlt in den gängigen Petrarca-Ausgaben. Über einen anderen Fall, eine Parallele zwischen einem im 20. Jahrhundert gefundenen griechischen Papyrustext und der 35. Strophe des l. Kapitels von Evgenij Onegin, berichtet unter der Überschrift „Schwerlich Zufall“ Rudolf Führer (1995 S. 45f). In beiden Fällen geht es thematisch um so allgemeine Erfahrungen der Nachtgedanken bzw. der Morgenaktivitäten, die mutatis mutandis in selbst so entfernten Jahrhunderten und so verschiedenen Gegenden möglich sind (bei vergleichbarem Kulturniveau), so dass die Annahme einer Abhängigkeit nicht nötig ist. Wenn es sich aber um einen Text handelt, den Puškin gekannt haben kann, so darf wohl angenommen werden, dass die „Näherung“ oder Ähnlichkeit nicht auf purem Zufall beruhen dürfte. Von einem solchen Fall soll hier berichtet werden. Es geht um die auffällige Parallelität in der gedanklichen Struktur zweier Gedichte, die jeweils einer Stadt gewidmet sind, eben Florenz bzw. St. Petersburg. Das Puškin-Gedicht gehört zu seinen bekanntesten überhaupt. Es ist 1828 geschrieben und könnte auf Deutsch etwa so wiedergegeben werden: Город пышный, город бедный, Дух неволи, стройный вид, Свод небес зелено-бледный, Скука, холод и гранит –

Stadt des Reichtums, Stadt der Armen, Knechtsinn, Glanz, wohin man sieht, Himmel, blassgrün zum Erbarmen, Trübsal, Kälte und Granit –

222 Все же мне вас жаль немножко, Потому что там порой Ходит маленкая ножка, Вьется локон золотой.

Puškin Trotzdem tut ihr mir ein bißchen Leid, weil dort bisweilen gehn Zwei entzückend kleine Füßchen, Ein paar goldne Locken wehn.

Das andere, italienische, Gedicht ist ein Sonett von Ugo Foscolo, auf das ich zufällig in einem antiquarisch erworbenen Band Poesie e prose (Florenz 1937) stieß. Es lautet: A Firenze E tu ne’ carmi avrai perenne vita, Sponda che Arno saluta in suo cammino, Partendo1 la città che del latino Nome accogliea finor l’ombra fuggita.2 Già dal tuo ponte3 all’ onda impaurita Il papale furore e il ghibellino Mescean gran sangue, ove oggi al pellegrino Del fero vate4 la magion s’addita. Per me cara, felice, inclita riva, Ove sovente i piè leggiadri mosse Colei5 che, vera al portamento Diva, In me volgeva sue luci beate, Mentr’io sentia del crin d’oro commosse Spirar ambrosia l’aure innamorate.

(1801)

Soweit der Text mit den Anmerkungen der von mir benutzten Ausgabe (S. 44). Damit auch dies Gedicht in einer deutschen Fassung vorliege, sei an die Übertragung von Paul Heyse, dem ersten deutschen Literatur-Nobelpreisträger (1910), erinnert: An Florenz Ja, du wirst allezeit in Liedern leben, Strand, den der Arno grüßt auf seinem Pfad, Die Stadt durchströmend, der den Namen hat Verliehen Latiums Flor noch im Entschweben. Einst rauschte Blut aus deinem Bett, mit Beben Verspritzt durch Ghibellinen-Gräuelthat Und Pabsteswuth, wo heut man am Gestad Des finstern Dichters Haus sich sieht erheben. 1 2 3

4 5

Dividendo. Firenze fu, per così dire, l’erede della civiltà di Roma. II Ponte di S. Trinità, presso il quale fu ucciso il Buondelmonti, dando origine alle lotte tra guelfi e ghibellini. Dante. Isabella Roncioni.

Florenz und Petersburg

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Ruhmreicher Strand, mir bist du hold und theuer, An dem die schlanken Füßchen oft sich regten Der Schönsten, die, wie eine Göttin hehr, Mich angestrahlt mit ihrer Blicke Feuer, Indeß von ihrem goldnen, windbewegten Gelock Ambrosia hauchte ringsumher.

Jedes der beiden Gedichte ist einer berühmten Stadt gewidmet, die eine bedeutende historische Rolle gespielt hat oder noch spielt. Dabei ist aber das Bild dieser Stadt keineswegs eindeutig positiv gezeichnet, vielmehr kommen positive und negative Züge zusammen, wobei die negativen schließlich überwiegen. So wird zwar Florenz ewig in Liedern gepriesen werden, in seinem Namen spürt man noch die Herkunft aus dem lateinischen ,florens‘ – ,die Blühende‘; andererseits sind aber die Wasser des Arno blutgetränkt von den mittelalterlichen Fraktionskämpfen der Welfen und Ghibellinen; und dem heutigen Besucher zeigt man das Haus des „finstern Dichters“ – „del fero vate“. Dabei denkt man an Puškins Formel „surovyj Dant“, wenn auch einige italienische Kommentatoren glauben, hier sei nicht Dante sondern Alfieri gemeint. In der Beschreibung der russischen Stadt treten die positiven und negativen Züge noch stärker hervor durch die unvermittelte Parallelität in scharfen Antithesen: schon in der ersten Zeile „Gorod pyšnyj“: „gorod bednyj“, was sich in der zweiten Zeile chiastisch wiederholt: „Duch nevoli“: „strojnyj vid“, worauf nur noch negative Definitionen folgen, die eine Art Klimax bilden, die auch das abschließende, eigentlich neutrale Wort „granit“ ganz negativ klingen lässt. Der Granit steht dabei an der Stelle, die bei Foscolo das Haus des finstern Dichters einnimmt. Vielleicht sind diese Parallelitäten noch nicht allzu überzeugend, doch nun – nach den beiden italienischen Quartetten ebenso wie nach den ersten vier Zeilen des russischen Achtzeilers – folgt eine scharfe Wendung in der Gedankenführung, ein Wechsel von mehr oder weniger objektiver Beschreibung der Stadt zu einem rein subjektiven Bekenntnis, dass diese Stadt trotz aller Negativa dem Dichter lieb und teuer sei (oder ihm wenigstens leid tue), weil dort die geliebte Frau wohnt, heiße sie nun Isabella Roncioni in Florenz oder Anna Alekseevna Olenina in Petersburg. Und die Parallelität der Gedankenführung wird noch unterstrichen durch die Art der Anwesenheit der jeweiligen Geliebten in beiden Texten. Bei Foscolo wie bei Puškin werden Details ihrer physischen Erscheinung genannt, bei Foscolo drei (Füße, Augen, Locken), bei Puškin, der wie immer und in allem ökonomischer ist, sind es nur zwei (vielleicht auch deshalb, weil er gerade vor ein paar Tagen ein Gedicht auf die Augen der Olenina geschrieben hatte – „Ee glaza“. Aber diese beiden sind nun wirklich nahezu identisch: „i piè leggiadri“ – „malen’kaja nožka“ und „crin d’oro“ – „lokon zolotoj“, die kleinen oder schlanken Füßchen und das goldene Haar (was ja eher bei der Italienerin überrascht).

224

Puškin

Interessant ist in diesem Zusammenhang der Vergleich zweier moderner Kommentare zu diesen Gedichten. Der italienische Herausgeber Guido Bezzola schreibt 1976: Foscolo hat die originelle Gabe, rein persönliche Erlebnisse und Gefühle mit Erinnerungen und Urteilen ganz anderer Art zu verknüpfen: In diesem Sonett gibt es den Lobpreis von Florenz, Anspielungen auf die mittelalterlichen Parteienkämpfe und den Alfieri-Mythos, was schließlich mündet in einen Preis von Schönheit, Jugend und Liebe, die gemeinsam anwesend sind in Isabella Roncioni. Also Liebesgedicht und politisches Gedicht in einem. (in: Foscolo 1976, S. 72)

Die russische Forscherin O. S. Murav’eva schreibt 1989: In dem Gedicht ,Gorod pyšnyj, gorod bednyj‘ sind wiederum zwei Bilder verschiedener Größenordnungen aufeinander bezogen: das Bild der Stadt, das aus einzelnen scharf kontrastierten Definitionen erwächst, und das Bild eines reizenden Mädchens, geformt aus zwei Details ihrer Erscheinung. Die Stadt ist dem Mädchen gegenübergestellt, der ,Geist der Unfreiheit‘, das ,Himmelsgewölbe‘, der ,Granit‘ – einer ,Locke‘, einem ,Füßchen‘. Diese Gleichsetzung inkommensurabler Erscheinungen tilgt die realen Größenordnungen, und innerhalb des Gedichtes wird die ,Stadt‘ [,gorod‘] beinahe verdunkelt von der ,Locke‘ [,lokon‘]. Alles, was über die Stadt gesagt wird, bleibt zwar in Kraft, verliert aber beträchtlich an Gewicht. Das Gedicht verliert seine entlarvend-pessimistische Tönung. Das tief verborgene Thema des Abschieds, angedeutet durch die Zeile ,Trotzdem tut ihr mir ein bisschen leid‘, verleiht ihm eine etwas elegische Stimmung. (Murav’eva 1989, S. 31)

Und in dem ersten in deutscher Sprache geschriebenen Puškin-Buch findet der Verfasser, mein verehrter Doktorvater Vsevolod Setschkareff, auf den nur 36 der Lyrik gewidmeten Seiten Platz für dies Gedicht und die Kurzcharakteristik: „Ein scharfer, wirkungsvoller Kontrast bestimmt das folgende kurze, melodievolle Gedicht, das der kalten Strenge der Zarenstadt die zarte Liebessehnsucht entgegensetzt“ (Setschkareff 1963, S. 74). Sprechen diese Kommentare, die völlig unabhängig voneinander entstanden sind, schon von einer beachtlichen Ähnlichkeit der inneren Struktur der beiden Gedichte, so müssen doch zwei Fragen gestellt werden: l. gibt es thematisch verwandte Texte, die Puškin gekannt haben könnte, und 2. wie wahrscheinlich ist es, dass Puškin den Foscolo-Text gekannt hat? Die erste Frage ist positiv zu beantworten. Es gibt in der Tat einen Text, der sowohl von einer Stadt als auch von einem Mädchen handelt, und er lag sogar auf Russisch vor. Er ist aber ursprünglich deutsch und stammt von dem Barockdichter Paul Fleming, der 1636 Moskau besuchte (vgl. Lohmeier 1985, S. 341–370; Schneider 1995, S. 104f). Es ist ein Sonett, überschrieben: Er redet die Stadt Moskau an, als er ihre vergoldeten Türme von ferne sahe. Du edle Kaiserin der Städte der Ruthenen, groß, herrlich, schöne, reich; seh’ ich auf dich dorthin, auf dein vergüldtes Haupt, so kömmt mir in den Sinn, was Güldners noch als Gold, nach dem ich mich muss sehnen.

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Es ist das hohe Haar der schönen Basilenen durch welcher Trefflichkeit ich eingenommen bin. Sie, ganz ich, sie mein All, sie meine Herrscherin, hat bei mir allen Preis der Schönsten unter Schönen. Ich rühme billig dich, du Hauptstadt deiner Welt, weil deiner Göttlichkeit hier nichts die Waage hält und du der Auszug bist von Tausenden der Reussen. Mehr aber rühm ich dich, weil, was dich himmlisch preist, mich an ein göttlichs Mensch bei dir gedenken heißt, in welcher alles ist, was trefflich wird geheißen. (Aus: Lohmeier 1985, S. 358)

Daraus macht Sumarokov 1755 folgendes: Град, русских городов владычица прехвальна Великолепием, богатством, широтой! Я башен злато зрю, но злато предо мной Дешевле, нежель то, чем мысль моя печальна. Мной зришься ты еще в своем прекрасней цвете; В тебе оставил я, что мне миляй всего, Кто мне любезнее и сердца моего, В тебе осталася прекраснейшая в свете. Избранные места России главных чад, Достойно я хвалю тебя, великий град, Тебе примера нет в премногом сем народе! Но хвален больше ты еще причиной сей, Что ты жилище, град, возлюбленной моей, В которой все то есть, что лучшее в природе. (Sumarokov 1957, S. 474; hier mit der Überschrift «Москве».)

Zu dem Flemingschen Sonett bemerkt Dieter Lohmeier zu Recht: Dies Gedicht ist noch ganz vom Geist des Petrarkismus geprägt. [...] So räumt Fleming dem Lob Moskaus und dem Lob der Geliebten jeweils ein Quartett und ein Terzett ein, verschränkt sie aber so ineinander, dass die Schönheit Moskaus nur dazu dient, die Vollkommenheit der Geliebten über alles menschliche Maß hinauszuheben. (Lohmeier 1985, S. 341ff)

Damit gehört das Sonett seiner Tendenz nach zum Typ der rhetorischen Hyperoché oder ,Überbietung‘ (vgl. Curtius 1954, S. 171–175), wodurch es sich ebenso wie durch die Verschränkung der beiden Themen grundsätzlich von Foscolos wie von Puškins Gedicht unterscheidet, was eine Einwirkung auch der Fassung von Sumarokov auf Puškin höchst unwahrscheinlich erscheinen lässt. Die zweite Frage betrifft die Bekanntschaft Puškins mit Foscolo-Texten überhaupt. Ich will versuchen sie zu beantworten, obwohl ich keine dokumentarischen Beweise beibringen kann. In Modzalevskijs Auflistung von Puškins Bibliothek findet sich keine Ausgabe von Werken Foscolos. Der Name des italienischen

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Puškin

Dichters (und älteren Zeitgenossen) wird im gesamten Corpus von Puškins Werken und Briefen nur ein einziges Mal erwähnt, in einer Aufzählung italienischer Autoren. Und obgleich diese Erwähnung unbedeutend zu sein scheint, lohnt es sich, die Stelle doch einmal genauer anzusehen. Der fragliche Text erscheint erst seit der Academia-Ausgabe von 1936 in Puškins Werken, und zwar unter der Überschrift „Entgegnung auf den Artikel A. Bestuževs ,Blick auf die russische Literatur im Laufe der Jahre 1824 und Anfang 1825‘“ (Puškin 1949, Bd. 11, S. 25f). Dabei handelt es sich um einen unvollendeten Entwurf, der zur Polemik Puškins mit den Herausgebern der Poljarnaja zvezda gehört. Puškin widerspricht der Theorie Bestuževs, wonach „jegliche Literatur ihre allmähliche Entwicklung und ihren Verfall“ habe, welcher Behauptung Puškin ein energisches „Nein“ entgegensetzt. Bestužev hatte geschrieben: „Die Liederdichter folgten auf die Lyriker, die Komödie entstand nach der Tragödie, aber Geschichte, Kritik und Satire waren immer die jüngsten Zweige des Schrifttums. So war es überall.“ Wieder repliziert Puškin „Nein“. Zum Beweis führt er zunächst die griechische und lateinische Literatur an, sodann die neueren, speziell die englische und italienische. Jede von beiden wird durch drei Autorennamen vertreten, die Italiener durch Alfieri, Monti und Foscolo, die Briten durch Byron, Moore und Southey – sämtlich zeitgenössische Autoren, die zudem miteinander bekannt waren, zum Teil freundschaftliche Beziehungen unterhielten. Bemerkenswert ist nun, dass der Dreierparallelismus nicht von Anfang an da war. Bei den Italienern standen zunächst nur zwei Namen: Alfieri und Foscolo (also der Lehrer und sein Schüler, hier wohl zum Beweis, dass der Dramatiker und Kritiker dem Lyriker vorauf ging). Der dritte Name – Monti – ist nachträglich hinzugefügt. Diese Ergänzung scheint darauf hinzudeuten, dass Puškin von den engen persönlichen Beziehungen zwischen diesen dreien wusste, vielleicht sogar von dem Bruch zwischen Foscolo und Monti im Jahre 1810, nachdem Foscolo ein Epigramm auf den Ilias-Übersetzer Monti geschrieben hatte (Monti [1754–1827] sandte 1813 seine Ilias-Übersetzung an Goethe; vgl. Artemis-Goethe, Bd. 11, S. 860). Foscolo, ein halber Grieche aus Zakynthos/Zante, wusste, dass Monti nicht aus dem Griechischen sondern nach einer lateinischen Übersetzung von Shelleys Freund Alexander Mavrokordatos übersetzt hatte. Daher dies Epigramm (in: Foscolo 1976, S. 403): Questo e Vincenzo Monti cavaliero, Gran traduttor del traduttor d’Omero.

Dabei denkt man unwillkürlich an Puškins Epigramm auf den russischen IliasÜbersetzer Gnedič: Крив был Гнедич поэт, преложитель слепого Гомера ...

Allerdings betrifft die Ähnlichkeit hier nur das Thema (und die böse Zunge der Epigrammatiker). Aber unter den Epigrammen Foscolos gibt es eines, das einem Puškinschen noch weit ähnlicher ist. Es richtet sich gegen einen litera-

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rischen Gegner namens Luigi Lamberti. Der Witz des Epigramms ist leicht zu verstehen, wenn man weiß, dass italienisch ‹mezzo› soviel heißt wie ,halb‘: Dimmi tu, che pur sei mezzo algebrista: Come avvien questo? Tu sei mezzo critico, Mezzo sacro dottor, mezzo ellenista. Mezzo spartano, mezzo sibaritico, Mezzo poeta, mezzo freddurista, Mezzo frate, mezz’ uom, mezzo politico.– Come, in tante metà nulla è d’intero? Come, tutte sommate fanno zero?

(in: Foscolo 1976, S. 402)

Natürlich denkt man dabei an Puškins Epigramm auf Voroncov: Полумилорд, полукупец, Полумудрец, полуневежда, Полуподлец, но есть надежда, что будет полным наконец.

Puškin ist auch hier wieder kürzer und schlagkräftiger, und er endet bei der Aufzählung der Halbheiten nicht mit der Endsumme Null, sondern gibt der Hoffnung Ausdruck, dass wenigstens der halbe Schurke am Ende noch ein ganzer werden könne. Dieser letzte Gedanke mag durch eine Stelle im Faust-Kapitel von Mme. de Staëls De l’Allemagne angeregt sein, wie ich früher einmal vorgeschlagen habe (s. o. S. 173) – im Anschluss an einen Artikel von W. Edgerton (1966), der dieses epigrammatische Wandermotiv bei Puškin und Mickiewicz gefunden hatte. Offenbar ist aber ein noch früherer Vertreter, wenn nicht gar der Erfinder der Halbheitsformel, Ugo Foscolo. Die hier angeführten Foscolo-Texte stammen aus der Zeit zwischen 1801 und 1810, die Puškin-Texte, die an sie erinnern, aus der Zeit zwischen 1824 und 1830. Somit ist rein chronologisch die Möglichkeit gegeben, dass Puškin die italienischen Texte gekannt hat. In diesem Zusammenhang ist es nicht uninteressant, dass er bereits 1821 von einem anderen italienischen Dichter (der mit Foscolo befreundet war) wusste, nämlich von Ippolito Pindemonte. Ich denke dabei nicht an das späte programmatische Gedicht Iz Pindemonti von 1836, dem der italienische Name nur zur Tarnung dient. Vielmehr steht über dem ersten der südlichen Poeme, dem Kavkazskij plennik, in der handschriftlichen Reinschrift ein Motto in italienischer Sprache (Puškin 1937, Bd. 4, S. 353; Puškin schreibt immer Pindemonti): Oh felice chi mai non pose il piede Fuori della natìa sua dolce terra; Egli il cor non lascio fitto in oggetti Che di più riveder non ha speranza E cio, che vive ancor, morto non piange. Pindemonti

– was etwa heißt:

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Oh glücklich, wer niemals setzte den Fuß Außerhalb des süßen Landes seiner Geburt; Er lässt das Herz nicht geheftet an Gegenstände, Die er wiederzusehen nicht hoffen kann, und, was noch lebt, beweint er nicht als tot.

Und unmittelbar anschließend folgt als zweites Motto ein Zitat aus Goethes „Vorspiel auf dem Theater“, und zwar auf Deutsch: „Gieb meine Jugend mir zurück!“ (ebda). Keines der beiden Motti wurde in die gedruckte Fassung übernommen. Das italienische Zitat spricht wohl dafür, dass Puškin vermutlich schon am Ende seiner Petersburger Zeit zumindest mit einigen Proben der zeitgenössischen italienischen Dichtung bekannt war, wie übrigens auch mit solchen Faust-Texten, die Mme. de Staël nicht zitiert hatte. Das heißt, dass er Italienisch und Deutsch zumindest lesen konnte. Beim Deutschen ist das nicht verwunderlich. Es war Schulfach im Lyzeum gewesen, und Puškin kannte viele Leute, die es sprachen. Es fragt sich, woher er Kenntnisse (wenn auch nur passive) des Italienischen und der italienischen Literatur haben konnte. Sollte er es, wie Goethe, während des Klavierunterrichts der Schwester aufgeschnappt haben, und das Literarische etwa von Batjuškov? Man könnte auch an seinen Kišinever Bekannten Liprandi denken, der italienischer Abstammung war, und dessen umfangreiche Bibliothek Puškin oft benutzt hat. Dagegen spricht aber, dass Liprandi kaum literarische Interessen gehabt zu haben scheint. Eine andere interessante Möglichkeit der Literaturvermittlung wäre vielleicht sogar Puškins Dienstvorgesetzter im Außenministerium (1817–20), Graf Kapodistria (Capo d’Istria), immerhin Ehrenmitglied des „Arzamas“ und häufiger Gast im Hause Karamzin, wo auch der junge Puškin verkehrte. Gerade bei Texten von Foscolo (und dessen Freund Pindemonte) ist eine solche Vermittlung naheliegend: Kapodistria war, wie Foscolo, von den Ionischen Inseln gebürtig, halb italienischer, halb griechischer Abstammung. Beide hatten zusammen in Padua studiert, und 1819 hat Kapodistria seinen Landsmann in dessen englischem Asyl aufgesucht, um ihn für die Unterstützung seiner philhellenischen Bildungsbemühungen in der Gesellschaft „Philómousos Hetairía“ zu gewinnen und einzuspannen (Kairophylla 1929). Die Rolle, die Kapodistria bei der Milderung der Repressalien Alexanders I. gegen den aufmüpfigen Puškin gespielt hat, ist bekannt (vgl. den von Kapodistria entworfenen, von Nesselrode unterschriebenen und von Alexander I. genehmigten Brief an den General Inzov, veröffentlicht erstmals in Troyat 1953, S. 180ff). Sie wird verständlicher, wenn man annimmt, dass der Vorgesetzte mit seinem Untergebenen auch außerdienstliche Gespräche geführt hat, wobei denn Namen wie Foscolo oder Pindemonte gefallen sein könnten. Und, nebenbei, auch der Name Goethe, mit dem Kapodistria im Sommer 1818 mehrere Wochen im gleichen Karlsbader Hotel gewohnt hatte. Auch Goethe taucht in Puškins Schriften (und Zeichnungen) erst 1821 auf. Aber das ist schon eine andere Geschichte.

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Literatur CURTIUS, E. R. Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 21954. EDGERTON, W. B. « Puškin, Mickiewicz, and a migratory epigram», in: The Slavic and East European Journal, 10, Nr. 1 (1966), S. 1–8. FOSCOLO, U. Poesie. Introduzione e note di Guido Bezzola, Milano 1976. FÜHRER, R. «Schwerlich Zufall», in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik, Nr. 189 (1995), S. 45f. GOETHE, J. W. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hg. v. E. Beutler, Zürich 1949. Καιροφύλλα Κ. Καποδίστριας.καί Φώσκολος. – Ἡμερολόγιον τής Μεγάλης Έλλάδος, Αθήναι 1929. KEIL, R.-D. «Fünf kleine Puškin-Studien mit einem Vorwort», in: Canadian American Slavic Studies, vol. 14, fasc. 2, Summer 1980, S. 241, s. o. S. 169 ff. LOHMEIER, D.: «Paul Flemings poetische Bekenntnisse zu Moskau und Russland», in: L. KOPELEW (Hg.), Westöstliche Spiegelungen. Russen und Russland aus deutscher Sicht. Bd. I: 9.–17. Jahrhundert, München 1985, S. 341–370. MURAV’EVA, O. S. «Ob osobennostjach poėtiki puškinskoj liriki», in: Puškin. Issledovanija i materialy, XIII, Leningrad 1989. PETRARCA, F. Das lyrische Werk. Deutsch von Benno Geiger, Darmstadt 1958. PETRARCA, F. Poesie e prose, Florenz 1937. PUšKIN, A. S. Polnoe sobranie sočinenij, tom 11, Leningrad 1949. PUšKIN, A. S. Polnoe sobranie sočinenij, tom 4, Leningrad 1937. SCHNEIDER, M. «Zaren und Kosaken, Kuppeln und Ikonen – Facetten des Russlandbildes in der deutschen Lyrik», in: K. Lindemann (Hg.), Modellanalysen: Literatur, Paderborn 1995, S. 101–125. SETSCHKAREFF, V. Alexander Puschkin. Sein Leben und sein Werk, Wiesbaden 1963. SUMAROKOV, A. P. Izbrannye proizvedenija, Leningrad 1957 (= Biblioteka poėta, bol’šaja serija). TROyAT, H. Pouchkine. Biographie, Paris 1953.

Uvida vestimenta poetae Eine horaz-Reminiszenz in ovidischer Umgebung (Zu Puškins Gedicht „Arion“)

quod mare non novit, quae nescit Ariona tellus? (Ovid, Fasti II, 83) Und da ich nie horaz vergaß ... (Rilke)

1 Die verbreiteten Deutungen von Puškins Gedicht „Arion“ (1827) hat Ulrich Busch 1967 in der Festschrift für Margarete Woltner1 referiert. Er faßt zusammen: „Wie sehr die Meinungen (...) voneinander abweichen, da die einen in dem Ich des sprechers den revolutionären Dekabristen Puškin, die anderen den auserwählten Dichter Puškin entdecken: sie stimmen doch darin überein, dass es Puškin ist, der sich in diesem Gedicht ausspricht – sei es zum Lob der Vorsehung, die ihn, den auserwählten Dichter, gerettet habe, sei es zum Gedenken der Revolte, die er, ihr geretteter sänger, weiter in hymnen besinge.“2 Die letztgenannte Variante ist heute – als sowjetische Umdeutung entlarvt – bei einem 1827 geschriebenen Gedicht nicht mehr ernsthaft vertretbar. Die vom auserwählten Dichter scheint durch den ovidischen Kontext (Fasti II, 83-92) gestützt, in dem die Wirkung von Arions Gesängen so wunderbar ist wie die von Orpheus’ Liedern, ja sogar von Artemis mit den Liedern ihres Bruders Apoll verwechselt wird – Grund genug, Arion als „geheimnisvollen sänger“ zu bezeichnen. Busch schließt sich keiner dieser Deutungen an. Er möchte in dem Gedicht, dessen sprecher auch er mit Puškin gleichsetzt, eine selbstanklage des Dichters sehen, die vor allem durch ironische Wort- und Bildwahl zum Ausdruck komme. hauptsächlich beruft er sich dabei auf die letzten drei Zeilen: Ja gimny prežnie poju I rizu vlažnuju moju sušu na solnce pod skaloju.

Nur schwer nachvollziehbar scheint mir Buschs Annahme, das Wort gimny stehe hier ironisch für „Liedchen“3. Gleichzeitig beklagt er, dass die letzten

1

2 3

Ulrich BUsch: Zu Puškins Gedicht „Arion“: selbstanklage des sprechers. In: Festschrift für Margarete Woltner zum 70. Geburtstag. heidelberg 1967, s. 39–45. Ibid. s. 40. Ibid. s. 42.

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beiden Zeilen „von den meisten verschwiegen“ würden. Er hält auch sie für ironisch und polemisiert mit G. s. Glebov, der sie nicht verschwiegen, sondern geschrieben hatte: Das feuchte Gewand / Trockne ich an der Sonne unter einem Felsen – das ist so konkret, so deutlich, dass das Bild fast physisch fassbar erscheint. In diesen Worten ist mit ungeheurer Kraft das leibliche Daseinsgefühl ausgedrückt

–, was Busch „schwer glaubhaft zu machen“ scheint.4 Er kommt vielmehr im weiteren Verlauf seiner Argumentation, in die er Kirchenslavismen (wie riza) und Klangwiederholungen (wie sušu na s olnce pod skaloju) einbezieht, zu dem schluss: all diese Klänge geben vor, der sprecher vollziehe hier eine weihevolle handlung und nicht etwa die prosaische, die er tatsächlich nennt.5

hier scheint mir Glebov zu konkret und Busch zu skeptisch zu sein. Denn mit der „weihevollen handlung“ hat er durchaus etwas Richtiges erspürt. Doch davon später.

2 Zunächst schauen wir einmal nach, wie sich Puškins „Arion“ von der antiken sage (wohl in der Fassung Ovids)6 unterscheidet. Insgesamt weicht das Gedicht ja erheblich von der Legende ab. Der Dichter selbst hat den Delphin – für Ovid Anlass, die Geschichte Arions zu erzählen – und damit das einzige Detail, das aus der antiken Überlieferung stammte, bei der endgültigen Bearbeitung getilgt. Als tertium comparationis bleibt einzig die wunderbare Errettung des sängers aus seenot. Völlig anders aber ist seine Rolle vor dem Unglück und sein Verhältnis zu den schiffsleuten: Weder erregt er durch seinen Reichtum ihren Neid, noch trachten sie ihm nach dem Leben. Im Gegenteil: er singt für sie, die selbst mit Nützlich-Notwendigerem beschäftigt sind. Wie sie auf seinen Gesang reagieren, bleibt unerwähnt. Und er singt „bespečnoj very poln“ (sorglosen Glaubens voll), was ungefähr soviel heißt wie lat. credulus, (z. B. bei horaz – carm. I,5 v.9). Die tragische Wende kommt (wie Busch zu Recht betont, genau in der Mitte des Gedichts) von außen durch den plötzlichen sturm, und sie trifft die schiffsleute ebenso wie den eher zufällig im gleichen Boot sitzenden sänger. Alle gehen unter, nur er wird gerettet – ebenfalls durch das Unwetter (grozoju), und darin liegt das Geheimnisvolle des Vorgangs, das den sänger berechtigt, sich selbst als „tainstvennyj pevec“ zu sehen – vielleicht verkürzt für „tainstvenno spasennyj pevec“. 4

5 6

Ibid. s. 41 mit Zitat aus G. s. GLEBOV: Ob „Arione“. In: Puškin. Vremennik Puškinskoj komissii 6, M.-L. 1941, s. 296–304; hier s. 303. Ibid. s. 43. OVID: Fasti II, 83–118.

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3 Wenn man von der Überschrift „Arion“ einmal absieht, wird hier eine Errettung aus einem schiffbruch beschrieben. Nun ist aber schiffbruch (scheitern) eine uralte Metapher für Unglück und Misslingen. sowohl die Metapher wie auch tatsächliche schiffskatastrophen gab es natürlich auch in der Antike. Und jemand, der aus solcher Gefahr gerettet wurde, pflegte zum Dank dafür in einem tempel (z. B. des Meeresgottes) eine Votivtafel aufzuhängen. „Votivbilder mit Darstellung überstandener Gefahr fanden sich zahlreich in antiken Weihestätten“ – heißt es in einem modernen horaz-Kommentar.7 Anlass dazu ist die letzte (4.) strophe der 5. Ode des l. Buches, wo es heißt: ... me tabula sacer votiva paries indicat uvida suspendisse potenti vestimenta maris deo. ... von mir berichtet die heilige Wand mit der Votivtafel, daß ich die feuchten Gewänder dem mächtigen Gotte des Meeres aufgehängt habe.8

Die fünfte Ode des ersten Buches, die sogenannte Pyrrha-Ode gehört zu den am häufigsten übersetzten horaz-Gedichten.9 Wolfgang Busch weist allein 10 russische Nach- oder Umdichtungen nach10, davon sind vier Puškin bestimmt bekannt gewesen, nämlich die von Deržavin, Kapnist, Merzljakov und die seines Onkels Vasilij L’vovič Puškin; ganz abgesehen davon, daß er das lateinische Original und die eine oder andere französische Nachdichtung gekannt haben wird. Von den russischen Bearbeitungen weichen die älteren Deržavins und Merzljakovs so erheblich vom Original ab, dass sie für Puškins „Arion“ nichts hergeben. Anders die jüngeren von Puškins Onkel 1808) und von Kapnist (1819). Kapnist hält sich nahe am lateinischen text. Die fraglichen Zeilen lauten bei ihm: O mne ž vnesenna v chram svjaščennyj Obetna na stene doska svidetel’, čto, ot zlostradan’ja sred’ burnych izbežav zybej, Odeždy mokry v dar priznan’ja carju ja posvjatil morej.11 7 8 9

10

11

Die Gedichte des Horaz, Lateinisch und Deutsch (heimeran), München 1949, s. 277. Übersetzung aus Viktor PöschL: horazische Lyrik, (c. Winter), heidelberg 1970, s. 19. Ein Engländer hat 451 Übersetzungen dieser Ode zusammengetragen: R. stOBBs: Ad Pyrrham, A polyglot collection of translations of horace’s Ode to Pyrrha (Book I, Ode 5) assembled with an introduction, London 1959. Wolfgang BUsch: horaz in Rußland – studien und Materialien (Forum slavicum, Bd. 2), München 1964. V. V. KAPNIst: sobranie sočinenij v dvuch tomach, M.-L. 1960, 11, 89. Erstdruck 1819 in: trudy Obščestva ljubitelej rossijskoj slovesnosti pri Moskovskom universitete.

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Vasilij L’vovič Puškin ist kürzer, scheint aber dem Neffen zumindest ein stichwort geliefert zu haben: Ot gibeli spasennyj, Bogam kovarnych voln Ja rizu omočennu V vostorge posvjatil.12

Das Bild, das Glebov durch seine Konkretheit so beeindruckte, entstammt also selbst einer uralten literarischen tradition. Dies ist eines der zahlreichen Beispiele für Puškins Kraft der Anverwandlung und Neubelebung europäischer Überlieferung. Natürlich hat Glebov recht, wenn er sagt, dass „in diesen Worten“ (d. h. den letzten beiden Zeilen von „Arion“) „mit ungeheurer Kraft das leibliche Daseinsgefühl ausgedrückt“ sei. Natürlich hat auch Ulrich Busch recht, wenn er in den gleichen Zeilen „eine weihevolle handlung“ angedeutet (er meint: vorgespiegelt) findet. Nur greifen beide auf subjektivem Empfinden beruhenden Deutungen meines Erachtens zu kurz, weil ihnen die Dimension der europäischen tradition fehlt, die bei Puškin immer mit zu berücksichtigen ist.13

4 In welcher Weise Puškin diese tradition verarbeitet, sie einem aggiornamento – einer „Russifizierung“ – unterwirft, das lässt sich gerade auch an seiner Adaption des Arion-themas aufzeigen. Er übernimmt voll und ganz die Metapher vom schiffbruch – und natürlich hat er dabei an das scheitern der Dekabristen gedacht und an sein Glück, nicht mit hineingeraten zu sein14 – aber er vermeidet die Über12

13

14

sočinenija V. L. Puškina, izd. pod red. V. I. sAItOVA, sPb. 1893, s. 66. Erstdruck 1808 im Vestnik Evropy. Erst lange, nachdem diese Miszelle geschrieben war, erfuhr ich von einer Publikation, in der der Zusammenhang mit horazens Pyrrha-Ode ebenfalls erwähnt war! A. A. sMIRNOV – Lirika Puškina, principy analiza poėtičeskogo ideala. Izd-vo Moskovskogo universiteta 1988. Dort demonstriert der Verfasser an dem Gedicht „Arion“ seine Interpretationsmethode (s. 63–72) und führt zu den beiden schlusszeilen u. a. aus: „Puškin wendet sich mittelbar der horazischen tradition der Danksagung an den herrscher der Meereselemente zu. In der horaz-Ode „An Pyrrha“ vergleicht der held, der den Gefahren der Liebe entronnen ist, sich mit einem gescheiterten und erretteten seefahrer (plovec): ,die feuchten Gewänder des seefahrers sind gemäß dem Gelübde von mir vor dem Gott der Meere aufgehängt.’ Puškin erweitert die situation des Danksagungsmotivs und entfernt jegliche Ironie.“ (o. c. s. 70) Interessanterweise sieht A. A. sMIRNOV gerade dort keine Ironie, wo U. BUsch sie zu bemerken meinte. Dies passt zu der allgemeinen tendenz smirnovs, im „Arion“ ein Musterbeispiel für die romantische Auffassung vom Dichter als Ausnahmeerscheinung zu sehen, die „geheimnisvollerweise“ den sonst gültigen Gesetzen irdischen Geschehens nicht unterworfen sei. Dafür spricht u. a. die tatsache, daß das Gedicht fast genau ein Jahr nach der hinrichtung der fünf führenden Dekabristen geschrieben und von Puškin anonym in Del’vigs Almanach „severnye cvety“ veröffentlicht wurde, also unter Umgehung der Zensur durch den Zaren bzw. Benckendorff.

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nahme antiker Gebräuche wie des Aufhängens von Votivtafeln und erwähnt die „feuchten Gewänder“ nur in einem auch für die Zeitgenossen nachvollziehbaren Bild, eben dem des trocknens an der sonne.15 Wenn man will, mag man darin eine Art Ironie sehen, eher jedoch eine Art Melancholie, da ein anrufbarer „mächtiger Gott des Meeres“ nicht mehr als reale Macht empfunden wird. In ähnlicher Weise verfährt Puškin ja auch bei der berühmten horaz-Umsetzung nach der Ode III, 30 (Exegi monumentum), indem er die Königsgräber der Pyramiden wegläßt und die aus dem orthodoxen Bereich stammende Formel „nerukotvornyj“ einführt16 – auch dies eine Art aggiornamento.

15

16

Der Felsen, der hier an die stelle der horazischen tempelwand tritt, kann als mediterranes Requisit bzw. Relikt aufgefaßt werden – der Delphin soll Arion im süden der Peloponnes an Land gesetzt haben. Neuerdings will man wissen, die stelle auf der Insel Golodaj, wo die fünf Gehenkten verscharrrt wurden, habe „skala“ geheißen, obwohl es sich um eine flache Böschung handelte. Vgl. meinen Aufsatz: Nerukotvornyj – Beobachtungen zur geistigen Geschichte eines Wortes. In: Studien zu Literatur und Aufklärung in Osteuropa (Bausteine zur Geschichte der Literatur bei den slawen, Bd. 13), Gießen 1978, s. o. s. 111–156.

Puschkin und Goethe oder „Was ist Wahrheit?“ Dass in einem Katalog zu einer Puschkin-Ausstellung auch von Goethe die Rede sein soll, ist nahe liegend bei einer Veranstaltung, die in Deutschland stattfindet. Wie verschieden die beiden auch sonst sein mögen, sie sind unbestritten in ihrer jeweiligen Sprache die größten Dichter. Und es wird zu zeigen sein, dass dies nicht ihre einzige Gemeinsamkeit ist. Vorausschauende werden zudem daran denken, dass beide im nächsten Jahr ein großes Jubiläum haben werden: Goethe den 250., Puschkin den 200. Geburtstag. Und beider wird in Deutschland wie in Russland in einer Reihe von Veranstaltungen gemeinsam gedacht werden. Was aber verbindet sie außer dem 50jährigen Abstand der Geburtsjahre? Obwohl beide 33 Jahre lang lebende Zeitgenossen waren – Puschkin hat Goethe nur um fünf Jahre überlebt – sind sie sich doch nie begegnet, da Puschkin Russland nie hat verlassen dürfen. Auch konnte Puschkin schlecht deutsch und Goethe gar nicht russisch. Sie haben auch niemals Briefe gewechselt. Und wenn auch Goethes Schwiegertochter Ottilie die erste deutsche Übersetzung von Puschkins Poem „Der Berggefangene“ besaß und schätzte, so ist doch für Goethe selbst keinerlei Kenntnis von Werken Puschkins direkt belegt. Gewiss, es hat Spekulationen gegeben, dass Puschkins 1825 geschriebene „Szene aus Faust“ ihm bekannt geworden sei und den so genannten „irdischen Schluss“ des Faust II beeinflusst habe, wie sowjetische und französische Forscher vermuteten. Aber außer der Platzierung dieser Szene ans Meeresufer scheint wenig dafür zu sprechen. Was andererseits Puschkins Kenntnis von Werken Goethes betrifft, so könnte man auf einen Vers verweisen, der in einem Entwurf des Versromans „Jewgéni Onégin“ steht. Dort heißt es über den Titelhelden: Er kannte, was die Deutschen schrieben Aus Büchern der Madame de Staël,

das heißt aus deren Bericht „De l’Allemagne“. Grosso modo gilt das wohl auch für den jungen Puschkin. Aber eben nur grosso modo. Denn es gibt Beweise dafür, dass er Goethe-Texte kannte, die bei Madame de Staël nicht erwähnt sind, gerade auch aus dem Ersten Teil des Faust. Dazu gehört z. B. das „Vorspiel auf dem Theater“, ohne dessen Vorbild Puschkins „Gespräch des Verlegers mit dem Dichter“ (1824) nicht zu denken ist. Daraus zitiert er übrigens schon 1821 auf deutsch den Ausruf des Dichters: „Gieb meine Jugend mir zurück!“ Deutsche Zitate sind äußerst selten bei Puschkin, und die wenigen, die es gibt, stammen fast alle von Goethe. Viel verdankte Puschkin dabei seinem älteren Freund und Lehrmeister in der Poesie, Wassíli Shukowski, der Goethe zweimal besuchte (1822 und 1827), und in dessen Übersetzungen die Russen noch heute zum ersten Mal Goethe begegnen, sei es in den Balladen „Der Fischer“ oder „Erlkönig“, sei es in „Mignons Lied“ oder den Versen des Harfners aus dem „Wilhelm

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Puškin

Meister“. Das alles kannte und schätzte Puschkin natürlich. Und man darf nicht vergessen, dass viele seiner Bekannten und Freunde gut deutsch konnten, ja deutscher Abstammung waren oder in Deutschland studiert hatten, mit Vorliebe in Göttingen. Nicht umsonst heißt es ja von dem romantischen Dichterjüngling Lenski im „Jewgéni Onégin“: Wladímir Lenski hieß der Mensch, An Seele wahrhaft göttingensch,

oder, ein paar Verse weiter: Er zog hinaus als ein Poete Ins Land von Schiller und von Goethe.

Und das ist schon 1823 geschrieben, als Puschkin gerade begann, sich der Faszination Byrons zu entziehen, der ja auch Goethe zeitweilig erlegen war. Ein paar Jahre später, 1827/28, unterhält Puschkin enge Beziehungen zu den Moskauer „Weisheitsfreunden“, begeisterten jungen Verehrern Schellings und Goethes. In ihrer Zeitschrift, dem „Moskauer Boten“, veröffentlicht er einige programmatische Gedichte über Wesen und Rolle des Dichters, ganz im Sinne romantischer Kunstreligion. Dort stehen unter dem Motto „Procul este, profani!“ unter anderen auch diese Verse: Nicht für der Tageszwiste Meistrung, Wo es um Sieg und Vorteil geht – Wir sind geboren zur Begeistrung, Zum süßen Klang und zum Gebet.

Und in der gleichen Zeitschrift erschien die erste russische Übersetzung der Helena-Szene aus dem entstehenden Faust II. Goethe bedankte sich höflich, und Puschkin nennt ihn in diesem Zusammenhang „unseren Patriarchen“, den „Riesen der romantischen Dichtung“ und vergleicht den „Faust“ mit der „Ilias“ – was diese für die Antike gewesen sei, sei der „Faust“ für die Neuzeit. Unter den Dichtern, die 1829 ins Russische übersetzt wurden, steht Goethe an erster Stelle, und all diese Übersetzungen hat Puschkin natürlich gekannt. Außer den bereits genannten Werken Goethes erwähnt er mehrfach den „Werther“, aber auch „Reineke Fuchs“, „Egmont“ und Elegien, vermutlich die römischen; ja er zitiert 1834 aus dem eben erschienenen Briefwechsel Goethes mit Zelter. – Was aber hat dies alles zu tun mit dem seltsamen Untertitel dieses Aufsatzes: „Was ist Wahrheit?“ Was soll die Pilatus-Frage im Zusammenhang mit Goethe und Puschkin? Nun, man könnte an zwei Überlieferungen denken, die beide als historisch nicht gesichert gelten, deren Wahrheitsgehalt also fraglich ist. Die erste betrifft einen goetheschen Vierzeiler, der in manchen Ausgaben unter der Überschrift „Mit einer Feder an Puschkin“ abgedruckt ist, in anderen nur „Mit einer Feder an ...“ Die Verse lauten:

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Puschkin und Goethe oder „Was ist Wahrheit?“ Was ich mich auch sonst erkühnt, Jeder würde froh mich lieben, Hätt ich frei und treu geschrieben All das Lob, das du verdient.

Ich glaube, dass die Zuschreibung an Puschkin berechtigt ist: das Faktum der Feder-Schenkung selbst ist zweifach beglaubigt, und ein anderer Adressat ist nicht auszumachen. Aber die Widerlegung der Legenden-Theorie würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Der zweite Fall, der Veranlassung geben könnte, nach der Wahrheit zu fragen, betrifft die erste russische Faust-Übersetzung. Sie wurde Anfang der 1830er Jahre von einem Russlanddeutschen namens Huber unternommen. Seine Übersetzung (des Ersten Teils) wurde von der kirchlichen Zensur verboten, woraufhin Huber sie vernichtete. Puschkin erfuhr davon und überredete den Übersetzer, die Arbeit nochmals zu unternehmen. Huber tat es und sagte später, dass Puschkin in einigen Fällen aktiv an dieser Neufassung mitgewirkt habe. Diese Fassung passierte – nach umfangreichen Streichungen – die Zensur erst, als Puschkin schon tot war. Hubers Behauptung wurde von einigen Forschem als Legende abgetan. In diesem Falle ist sogar der Versuch eines Gegenbeweises nicht möglich, da Huber die fraglichen Stellen nicht genauer bezeichnet hat. Aber die Pilatus-Frage nach der Wahrheit ist doch wohl zu gewichtig, als dass man sie für textologische Bagatellprobleme bemühen sollte. Es geht mir auch um etwas Anderes, Wichtigeres. Puschkin-Kenner erinnern sich, dass eben diese Frage des Pilatus an Jesus (Joh. 18.38) von Puschkin selbst zitiert wird. Sie steht in ihrer kirchenslavischen Form „Tschto jesť ístina?“ als Motto über einem der großen Gedichte Puschkins „Gerój“ („Der Held“), das er in dem unglaublich produktiven Herbst 1830 geschrieben hatte. Puschkin selbst hat dies Gedicht „mein apokalyptisches Lied“ genannt. Damit spielt er darauf an, dass er in diesem Herbst 1830 durch eine Cholera-Quarantäne in dem abgelegenen Dorf Bóldino festgehalten und an der Rückkehr nach Moskau gehindert wurde. Zudem war in dem Gedicht selbst nicht von der Cholera, sondern von der Pest die Rede, im Zusammenhang mit Napoleons ägyptischem Feldzug. Und die tödliche Seuche ist ja in einem der vier apokalyptischen Reiter (Hunger, Krieg, Pest und Tod) symbolisiert. Bevor aber weiteres zur Wahrheitsfrage bei Puschkin und Goethe gesagt wird, sollten wir uns diesen ungewöhnlichen Text als ganzen ansehen. Das Gedicht (im Original gereimte vierfüßige Jamben) ist angelegt als Dialog zwischen zwei Personen, die benannt sind Der Freund und Der Dichter. Der Text lautet in möglichst wörtlicher Wiedergabe: Der Held Der Freund:

Was ist Wahrheit?(Аus dem Evangelium)

Ja, frei in seinen Launen ist der Ruhm. Wie eine Feuerzunge fliegt Er über auserwählte Häupter; Verschwindet von dem einen heute

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Puškin Und ist auf einem andern schon zu sehn. Das Volk ist demütig gewohnt, Sinnlos dem Neusten nachzulaufen, Doch uns ist schon die Stirne heilig, Auf welcher diese Zunge aufgeflammt. Wer ist es, auf dem Schlachtfeld, auf dem Thron, Als Bürger andren Rangs, Von all den Auserwählten, der am meisten Dich, deine Seele schlägt in Bann?

Der Dichter:

Er, immer Er, der kam als Kämpfer, Vor dem sich Könige gebeugt, Der Streiter, den die Freiheit krönte, Der wie des Frührots Schatten schwand.

Der Freund:

Und wann beeindruckt deinen Geist Sein wundersamer Stern zutiefst? Ist’s, als er von der Alpenhöhe Hinab auf’s heilige Italien schaut, Ist’s, als er greift die Fahne oder Das Szepter des Diktators? Ist es, Als er ringsum und fernhin lenkt Des Kriegs gefräßig rasche Flamme, Indes dahinfliegt über ihm Der Siege Reihe, einer nach dem andern? Ist’s, als das Heer dem Helden Beifall zollt Vor den gewaltigen Pyramiden, Oder als Moskau leer nur leuchtet, Da’s ihn empfängt, und schweigt?

Der Dichter:

Nein, nicht im Schoß des Glückes Erblick ich ihn, und nicht im Kampf, Nicht als des Kaisers Schwager auf dem Thron, Nicht, wie er sitzt auf seinem Fels, Verdammt zur Todesqual der Ruhe, Verspottet mit dem Namen Held, Und wo er regungslos erlischt, Gehüllt in den Soldatenmantel! Ein andres Bild steht mir vor Augen Ich seh der Krankenlager lange Reihe, Auf jedem liegt ein Leichnam, der noch lebt, Gezeichnet von der Königin der Seuchen, Der mächtigen Pest. Und Er, Umgeben nicht vom Schlachtentod, Schreitet mit düstrer Miene durch die Reihen, Reicht kühl der Pest die Hand Und weckt in dem schon fast erstorbnen Sinn Ein frisches Hoffen. Ja, ich schwöre Beim Himmel, wer mit seinem Leben So spielte angesichts der finstren Seuche,

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Um schon erloschne Blicke aufzumuntern, Ich schwör’s, der wird zum Freund des Himmels, Wie auch der blinden Erde Urteil Lauten möge! Der Freund:

Dichterträume! Streng jagt euch der Historiker davon! О weh! Schon ließ er sich vernehmen, Und wo bleibt die Verzauberung der Welt?

Der Dichter:

Verfluchet sei der Wahrheit Licht, Wenn es der kalten Mittelmäßigkeit, Der neidischen, verführungssüchtigen, Umsonst entgegenkommt! О nein, Teurer als Unzahl niedrer Wahrheiten Ist mir ein Trug der uns erhebt. So lass dem Helden doch das Herz! Was wär’ Er ohne es? Nur ein Tyrann!

Der Freund:

Beruhige dich ...

Natürlich sind weder der Freund noch der Dichter historisch konkrete Personen, aber man wird annehmen dürfen, dass Puschkins Ansichten denen des hier auftretenden Dichters zumindest nahe sind. Der Freund fragt also den Dichter, wer von allen, die jemals des launischen Ruhmes teilhaftig geworden sind, den größten Eindruck auf ihn mache. Die Antwort lautet „Er, immer Er ...“ Gemeint ist Napoleon, obwohl sein Name nicht genannt wird. Aber aus den Fragen des Freundes können wir auch heute noch leicht erkennen, von wem die Rede ist. Der Freund bezieht sich bei seinen Andeutungen durchweg auf damals verbreitete Bilder, Gemälde, wie das von David, das den jungen General auf der Brücke von Ascole zeigt. Puschkin lässt den Dichter auf ein anderes Bild hinweisen. Und in der Tat gab es ein solches Bild von einem Maler namens Gros, das die Szene im Lazarett von Jaffa (1799) darstellt, wo Napoleon die Pestkranken besucht, ja einem von ihnen die Hand gereicht haben soll. Dies rührt den Dichter als Zeichen wahren, menschlichen Heldentums, eines Heldentums des Herzens. Der Freund zerstört nun aber dies schöne Bild vom edlen Helden durch den Hinweis auf den strengen Historiker, der bereits seine Stimme erhoben habe. Dazu macht Puschkin die kurze Anmerkung: „Mémoires de Bourrienne“. Dieser Fauvelet de Bourrienne, der Napoleon seit der gemeinsamen Schulzeit kannte und während des ägyptischen Feldzuges sein Geheimsekretär war, später aber zu den Bourbonen überging, hatte 1829/30 in zehn Oktavbänden seine Erinnerungen an Napoleon veröffentlicht. Darin heißt es (im zweiten Band) zu der fraglichen Szene: „J’affirme ne l’avoir vu toucher un pestiféré“ (Ich versichere, dass ich ihn keinen Pestkranken habe berühren sehen).

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Auf diese Konfrontation von „Dichterträumen“ und historischer Wahrheit bezieht sich das Motto des Gedichts, die Pilatus-Frage, um dieser Konfrontation, um dieser Frage willen ist das Gedicht vor allem geschrieben. Der Dichter reagiert auf den ernüchternden Hinweis seines Freundes ungewöhnlich heftig: Verfluchtet sei das Licht der Wahrheit, wenn es der kalten Mittelmäßigkeit (...) nach dem Munde redet!

Einen ganz ähnlichen Gedanken hatte Puschkin schon früher in einem Brief an seinen Freund Fürst Wjásemski geäußert, als dieser den Verlust von Byrons autobiographischen Notizen bedauert hatte: Gott sei Dank, dass sie verloren sind! (...) Die Menge hätte doch nur gerufen: Er war so klein und so gemein wie wir!

Hierin zeigt sich eine typisch romantische Heldenverehrung, die besonders dem von der Menge verkannten Dichter gilt. So hatte Puschkin 1828 sein Gedicht „Der Dichter und die Menge“ unter das vergilische Motto gestellt „Procul este, profani!“ und es im „Moskauer Boten“, der Zeitschrift der Moskauer Schellingianer veröffentlicht. Und im gleichen Sinne schrieb schon dreißig Jahre früher Friedrich Schlegel in seinen Kritischen Fragmenten (Nr. 25): Die beiden Hauptgrundsätze der sogenannten historischen Kritik sind das Postulat der Gemeinheit und das Axiom der Gewöhnlichkeit. Роstulat der Gemeinheit: Alles recht Große, Gute und Schöne ist unwahrscheinlich, denn еs ist außerordentlich und zum mindesten verdächtig. Axiom der Gewöhnlichkeit: Wie es bei uns und um uns ist, muss es überall gewesen sein; denn das ist ja alles so natürlich.

Interessant an Schlegels Fragment ist in unserem Zusammenhang, dass er von der historischen Kritik ausgeht, genau so wie Puschkins Dichter im Gedicht „Der Held“. Und gerade in diesem Punkte begegnen sich, ohne dass einer vom andern gewusst hätte, Puschkin und Schlegel mit ihrem Zeitgenossen Goethe, drei Romantiker also? Schauen wir näher zu: In einem von Eckermann auf den 15. Oktober 1825 datierten Gespräch mit Goethe geht dieser zwar zunächst von der literarischen Kritik aus, kommt aber sofort auf die historische zu sprechen, von der dann die Beispiele genommen werden. Goethe äußert da: Мangel an Charakter der einzelnen forschenden und schreibenden Individuen ist die Quelle alles Übels unserer neuesten Literatur. Besonders in der Kritik zeigt dieser Mangel sich zum Nachteile der Welt, indem er entweder Falsches für Wahres verbreitet, oder durch ein ärmliches Wahre uns um ein Großes bringt, das uns besser wäre.

Für diesen Fall führt Goethe als Beispiel an: Bisher glaubte die Welt an den Heldensinn einer Lukretia, eines Mucius Scävola, und ließ sich dadurch erwärmen und begeistern. Jetzt aber kommt die historische Kritik und sagt, dass jene Personen nie gelebt haben, sondern als Fiktionen und Fabeln anzusehen sind, die der große Sinn der Römer erdichtete. Was sollen wir aber mit einer so ärmlichen

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Wahrheit! und wenn die Römer groß genug waren, so etwas zu erdichten, so sollten wir wenigstens groß genug sein, daran zu glauben.

Dem lässt Goethe dann noch ein Beispiel aus der deutschen Geschichte folgen: So hatte ich immer meine Freude an einem großen Faktum des dreizehnten Jahrhunderts, wo Kaiser Friedrich II mit dem Papste zu tun hatte und das nördliche Deutschland allen feindlichen Einfällen offen stand. Asiatische Horden kamen аuch wirklich herein und waren sсhоn bis Schlesien vorgedrungen; aber der Herzog von Liegnitz setzte sie durch eine große Niederlage in Schrecken. Dann wendeten sie sich nach Mähren, aber hier wurden sie vom Grafen Sternberg geschlagen. Diese Tapfern lebten daher bis jetzt in mir als große Retter der deutschen Nation. Nun aber kommt die historische Kritik und sagt, dass jene Helden sich ganz unnütz aufgeopfert hätten, indem das аsiatische Heer bereits zurückgerufen gewesen und von selbst zurückgegangen sein würde. Dadurch ist nun ein großes vaterländisches Faktum gelähmt und zernichtet, und еs wird einem ganz аbscheulich zumute.

Im letzten Satz hat Eckermann, gegen seine sonstige Gewohnheit, nicht geglättet, sondern offenbar Goethes Originalton stehengelassen. Und der erinnert doch sehr stark an die heftige Reaktion von Puschkins Dichter. Ebenso übrigens wie Goethes ärmliche Wahrheit, von der er zweimal spricht, an Puschkins Unzahl niederer Wahrheiten erinnert. Aber die Parallele gilt nicht nur im Negativen, sondern auch im Positiven, das durch die historische Kritik gelähmt und zernichtet werde. Dieser Verlust betrifft bei beiden Dichtem nicht nur diese selbst, sondern ein „wir“, eine Gemeinschaft, die Menschen, die Welt insgesamt. Bei Puschkin hatte es geheißen: Teurer als Unzahl niedrer Wahrheiten Ist mir ein Trug, der uns erhebt.

Goethe sprach von einem „Mangel zum Nachteile der Welt“, der „durch ein ärmliches Wahre uns um etwas Großes bringt, das uns besser wäre“, und er sagt: „Was sollen wir aber mit einer so ärmlichen Wahrheit!“ So wie es Puschkin darum geht, dass wir erhoben werden, und sei es durch ein Truggebilde, ist Goethes Blick auf „ein Großes“ gerichtet, „das uns besser wäre“. Und es ist nur folgerichtig, dass er sich in dem gleichen Gespräch negativ über die französische Aufklärung äußert mit den Worten: Die Frau von Gеnlis hat daher vollkommen Recht, wenn sie sich gegen die Freiheiten und Frechheiten von Voltaire аuflegte. Denn im Grunde, sо geistreich аlles sein mag, ist der Welt doch nichts damit gedient; еs lässt sich nichts darauf gründen.

Puschkins Gedicht stammt aus dem Herbst 1830. Eckermanns Aufzeichnungen wurden erst nach Goethes Tod veröffentlicht. Von Einfluss kann daher keine Rede sein. Es geht um etwas viel Wesentlicheres als Einfluss – um die Parallelität, die innere Verwandtschaft der Weltsicht des größten deutschen und des größten russischen Dichters. Sicher ist diese Parallelität zu einem guten Teil dem so genannten Zeitgeist zu verdanken, will sagen: der Romantik. Dazu passt die partielle Parallele zu Friedrich Schlegel wie manche andere Plädoyers der

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Romantiker für den „schönen Schein“ – Puschkins „Trug“ – man denke etwa an die „bella illusione“ des Giacomo Leopardi, dessen Lebensdaten (1798–1837) mit denen Puschkins fast identisch sind. Nicht umsonst lässt Dostojewski seinen „Jüngling“ auf die ihm spöttisch vorgehaltenen Zeilen Teurer als Unzahl niedrer Wahrheiten Ist mir ein Trug, der uns erhebt

mit dem Ausruf antworten: Aber das ist doch wahr. Diese zwei Zeilen sind doch ein heiliges Axiom!

Ja, das ist Jünglingsweisheit, das ist ein romantisches Axiom. Und das beim alten Goethe? Hier könnte man daran erinnern, dass nicht nur Puschkin Goethe den „Riesen der romantischen Роеsie“ genannt hat, sondern dass Goethe und Schiller, trotz aller innerdeutschen Querelen um Klassik und Romantik, im Ausland allgemein als romantische Dichter gelten, was vielleicht doch nicht ganz abwegig ist. Nun, vier Jahre nach dem von Eckermann überlieferten Gespräch, 1829, bekommt auch Goethe die Memoiren von Bourrienne in die Hand. Eckermann berichtet auch darüber am 5., 6. und 7. April 1829: Er erzählte mir sodann von einem neu erschienenen Buch über Napoleon, das von einem Jugendbekannten des Helden verfasst sei. Das Buch, sagte er, ist ganz nüchtern, оhne Enthusiasmus geschrieben, aber man sieht dabei, welchen großartigen Charakter das Wahre hat, wenn еs einer zu sagen wagt.

Am nächsten Tag heißt es: Aller Nimbus, alle Illusion, die Journalisten, Geschichtsschreiber und Poeten über Napoleon gebracht haben, verschwindet vor der еntsetzlichen Realität dieses Buches: aber der Held wird dadurch nicht kleiner, vielmehr wächst er, so wie er аn Wahrheit zunimmt.

Und wieder einen Tag später sagt Goethe: Man sieht aber an diesem Вuch, wie viele Märchen uns von seinem ägyptischen Feldzuge erzählet worden.

Er führt einige Beispiele an und fährt dann fort: Die Pestkranken aber hat er wirklich besucht, und zwar um ein Beispiel zu geben, dass man die Pest überwinden könne, wenn man die Furcht zu überwinden fähig sei ... Und er hat Recht!

Mit dieser Einschätzung kann sich Goethe sogar auf Bourrienne stützen, der einen Ausspruch Napoleons über einen seiner Generale mitteilt: S’il a peur de la peste, il en mourra! (Wenn er Angst hat vor der Pest, wird er daran sterben!). Interessant beim Vergleich der Reaktionen auf Bourriennes Buch ist nicht nur, dass Puschkin wie Goethe statt des Namens Napoleon einfach sagen der Held, interessant ist auch, dass Goethe gerade den Besuch des Pestlazaretts in

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Jaffa herausgreift, den Bourrienne gar nicht leugnet. Er leugnet nur die Berührung der Kranken, und dazu sagt Goethe nichts, während Puschkin gerade dies Detail herausgreift. Goethe erscheint somit eher als Realist, der allerdings – aus eigener Erfahrung – an die unglaubliche Macht des moralischen Willens glaubt; Puschkins Dichter ist demgegenüber eher der Romantiker, der dem Helden das Herz nicht absprechen mag. Hier ist nun zum Thema Wahrheit noch etwas nachzutragen. Puschkin hat nämlich unter das Gedicht geschrieben Moskau, 29. September 1830 Dies ist nun gewiss nicht der Ort und nicht der Tag der Entstehung des Gedichtes. Es ist Mitte Oktober in dem Dorf Bóldino geschrieben. Was soll diese Umdatierung? Damals, in jenem Cholera-Jahr, verstand das jeder. Der 29. September war der Tag, an dem der Zar, Nikolaus I., in das choleraverseuchte Moskau kam, um ein Beispiel zu geben, dass man die Cholera überwinden könne, wenn man die Furcht zu überwinden fähig sei – um es mit Goethes Worten zu sagen. Das Gedicht Der Held ist also neben allem anderen auch eine Reverenz an den Zaren, weshalb es Puschkin auch diesem nicht zur Zensur vorlegte, sondern es anonym drucken ließ. Natürlich hat die Puschkinforschung das längst bemerkt. Aber in sowjetischer Zeit tat man sich schwer damit, diese Wahrheit zu akzeptieren, umzudeuten oder hinwegzuinterpretieren. Dabei ging meist völlig verloren, wie genial Puschkin mit seiner Antithese Held: Tyrann die zeitgenössische innerfranzösische Diskussion über Napoleon auf den Punkt gebracht hatte. Die Antithese entspricht den diametral entgegengesetzten Positionen von Mme. De Staël und Chateaubriand auf der einen (antinapoleonischen) und Lamartine, Victor Hugo, Balzac, de Vigny auf der anderen (bonapartistischen) Seite, die sich schließlich im öffentlichen Bewusstsein Frankreichs durchgesetzt hat. In einem bemerkenswerten aber leider wenig bekannten Buch über Napoleon von Dmitri Mereshkowski (Napoleon. 1929) werden übrigens Goethe und Puschkin mehrfach als Zeugen bemüht. So heißt es etwa von Goethe: Es scheint, dass nur ein einziger Mensch Napoleon von gleich zu gleich beurteilen konnte – Goethe. Was Napoleon in der Aktion ist Goethe in der Kontemplation.

Und von Puschkin heißt es: Es scheint, dass das, was Puschkin über ihn sagt, das Tiefste ist, was gesagt werden kann: Der verhängnisvolle Vollender eines unbekannten Auftrags.

Ich bin mir bewusst, dass die Art von Zusammenstellung und Vergleich, die ich hier unternommen habe, ungewöhnlich ist. Ungewöhnlich und höchst unvollkommen. Aber vielleicht könnte auf diesem oder einem ähnlichen Wege doch manche Erkenntnis gewonnen werden, die, um Goethe zu zitieren, uns besser wäre als die philologisch oftmals nur ermittelte Unzahl niederer Wahrheiten, wie Puschkin es genannt hat.

Слава, Свобода, Гордость ... Überlegungen zu Puškins letztem großen Gedicht

Die folgenden Anmerkungen sind Beobachtungen eines Übersetzers. Was man auch gegen die Übersetzung von Gedichten einwenden mag, eines ist sicher: selten sieht ein Philologe seine Texte so genau und intensiv an, wie der Übersetzer es tun muss. und natürlich ist wahr, was schon oft gesagt wurde: jede Übersetzung ist auch eine interpretation. Auf die Gefahr hin, den Gegnern der dichterischen Übersetzung Argumente zu liefern, möchte ich an einem kleinen Beispiel zeigen, wie konkret bei Puškin selbst hochgradig abstrakte Verallgemeinerungen begründet zu sein pflegen, und wie außerdem sich Texte seiner Gedichte gegenseitig erhellen können. Das Beispiel stammt aus dem letzten großen Gedicht Puškins, das im Herbst 1836 geschrieben wurde und überschrieben ist 19. Oktober.1 Es ist somit auch das letzte in der Reihe der Gedichte, die diesem Datum als dem Gründungstag des Lyzeums (1811) gewidmet sind, der sich 1836 zum 25. Mal jährte. Es knüpft in der Strophenform an die gleichnamigen Gedichte von 1825 und 18312 an, die mit ihren Achtzeilern der Odenstrophe verpflichtet sind, am stärksten 1831 durch den vierfüßigen Jambus, an dessen Stelle 1825 und wieder 1836 der geräumigere fünffüßige tritt. in allen drei Fällen liegt vom Anlass her die Anrede an die ehemaligen klassenkameraden und der historische Rückblick auf die seither verflossene Zeit nahe. Wie zu erwarten, stellt sich beides in dem reifsten der drei Gedichte am eindrucksvollsten dar. Vom Vergleich der früheren mit der nun zu begehenden Feier, der die ersten drei Strophen einnimmt, wendet sich der Blick des Dichters zurück auf die herausragenden Ereignisse der Regierungszeit des Gründers des Lyzeums, Alexanders i. Dem sind die nächsten vier Strophen gewidmet. Die achte Strophe, die sich der Gegenwart und damit nikolaus i. zuwenden sollte, bleibt unvollendet, vielleicht auch, weil die tiefe Zäsur des 14. Dezembers 1825 nicht erwähnt werden durfte. Der große Atem, der das Gedicht durchweht, ist deutlich spürbar in den anaphorisch aufeinander bezogenen Anfängen der Strophen, den jeweils ersten vier Silben der ersten Zeile, bis zur Zäsur: 1. Была пора: 2. Теперь не то: 3. Всему пора:

1 2

Rückblick umschau Deutung

bezogen auf den kameradenkreis

A. S. Puškin: Polnoe sobranie sočinenij. L. 1939–49, Bd. iii/1, S. 431 f. ibid, Bd. ii/1, S. 424–428 (1825) bzw. Bd. iii/1, S. 277 f. und Bd. iii/2, S. 879 (1831 mit Variante).

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Puškin

4. Припомните, 5. Вы помните: 6. Вы помните: 7. Вы помните:

Deutung Rückblick (1811) Rückblick (1812) Rückblick (1815)

bezogen auf Alexander i.

8. И нет его –

(1821–1825) –

Verstummen

Es ist von tragischer notwendigkeit, dass das Gedicht bei der Darstellung der Gegenwart abbricht, dass Puškin, der hier, wie nur selten zuvor, positiv über Alexander i. spricht, für dessen nachfolger, über den er doch früher Lobendes zu sagen wusste, nun keine Worte mehr findet. Annenkov überliefert, dass der Dichter an dem Abend, als die ehemaligen klassenkameraden versammelt waren, auch die fertigen Strophen nicht alle hat vorlesen können, sondern von Tränen übermannt wurde.3 Auch dies bestätigt, dass er hier seine geheimsten Gedanken über Zeit und Welt zum Ausdruck gebracht hatte, und dass sie so beschaffen waren, dass er weinen musste. Dies betrifft vor allem die beiden zentralen Strophen, die ich oben versucht hatte durch das Wort „Deutung“ zu kennzeichnen. Sie umfassen ja weit mehr als die mit den Jahreszahlen 1811–1825 angedeuteten Ereignisse: Всему пора: уж двадцать пятый раз Мы празднуем Лицея день заветный. Прошли года чредою незаметной, И как они переменили нас! Недаром – нет! – промчалась четверть века! Не сетуйте: таков Судьбы закон; Вращается весь мир вкруг человека, – Ужель один недвижим будет он? Припомните, о други, с той поры, Когда наш круг судьбы соединили, Чему, чему свидетели мы были! Игралища таинственной игры, Металися смущенные народы; И высились и падали цари; И кровь людей то Славы, то Свободы, То Гордости багрила алтари.

ich möchte diese beiden Strophen in zwei deutschen Übersetzungen vorstellen, die beide noch unveröffentlicht sind. Meines Wissens gibt es seltsamerweise bisher keine gedruckte deutsche Übersetzung dieses großen und wichtigen Gedichts. Die erste Übersetzung ist von Michael Engelhard, der die gesamte Lyrik Puškins übersetzt hat, aber bislang nur wenig davon hat veröffentlichen können: Hat alles seine Zeit: so haben wir Schon fünfundzwanzig Mal das Fest genossen,

3

Zitat nach VERESAEV: Puškin v žizni. M.-L. 1932, S. 205

Слава, Свобода, Гордость ...

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unmerklich ist die lange Zeit verflossen, und wie verändert stehn wir heute hier! nicht spurlos – nein! – kann solche Zeit vergehen! Beklagt euch nicht: das ist uns auferlegt: Soll alle Welt sich um den Menschen drehen, – und er alleine bliebe unbewegt? Erinnert, Freunde, nun der Zeiten euch, Da uns das Los zu unserm kreis verbunden, Was alles ist vor uns dahingeschwunden! Es stieg und fiel so manches Volk und Reich, Ein Spielball nur geheimnisvoller Mächte; und mancher Thron sank in die Zeitenflut; und der Altar des Ruhms, der Bürgerrechte, Des Übermuts ward rot von Menschenblut.

Eine Übersetzung von hohem dichterischem Schwung, der ich kaum wage, meine eigene, vielleicht etwas wörtlichere, gegenüberzustellen. Aber sei’s drum: ‘s hat alles seine Zeit: heut sei gedacht Des Gründungstags vor fünfundzwanzig Jahren, Die, kaum bemerkt, so rasch vorüber waren, und doch: was haben sie aus uns gemacht! So muss ein Viertel-Säkulum ja walten! Beklagt euch nicht; des Schicksals Satz besteht: Wie könnt’ der Mensch sich unbewegt erhalten, Wenn sich ringsum die ganze Welt doch dreht? Denkt nur zurück, о Freunde, denkt, wie viel, Seit das Geschick ließ unsern kreis entstehen, Was alles wir seitdem mit angesehen! Spielbälle im geheimnisvollen Spiel Stoben verstört die Völker durch die Leere, und hoch stieg auf, tief stürzte manch Despot, und Blut von Menschen färbte die Altäre Von Ruhm und Stolz und Freiheit purpurrot.

Den Gesamteindruck und die Einzelheiten dieser beiden Übersetzungsversuche mag jeder beurteilen, wie er will. ich möchte nur auf die zweite der zitierten Strophen, ja eigentlich nur auf die letzten beiden Zeilen näher eingehen. Die drittletzte Zeile И высились и падали цари ist durch das russische Wort цари, das jeden weltlichen Herrscher bezeichnen kann und doch eine gewisse sakrale Würde ausdrückt, nicht adäquat wiederzugeben. Worauf hier angespielt wird, lässt sich aus einem Vergleich mit dem Lyzeumsgedicht von 1831 erschließen. Dort hatte der Dichter in einer später unterdrückten Strophe 4 die Ereignisse aufgezählt, die ihm für die 20 Jahre von 1811 bis 1831 am wichtigsten schienen:

4

Puškin, op. cit. Bd. iii/2, S. 879 f.

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den Brand Moskaus (1812), den Einzug Alexanders i. in Paris (1814), den Tod napoleons (1821), die Auferstehung Griechenlands (1829), die französische Julirevolution (1830) und den polnischen Aufstand (1830/31), und das alles in fünf kurzen Zeilen: Мы жгли Москву; был плен Парижу; Угас в тюрьме Наполеон; Воскресла греков древних слава; С престола пал другой Бурбон; Отбунтовала вновь Варшава.

1836 ist Puškin noch kürzer: das Schicksal napoleons und karls X. wie wohl auch mancher anderer Potentaten (z. B. der Brüder napoleons) nimmt nur noch eine Zeile ein: И высились и падали цари.

Die ungeheuren Blutopfer der durcheinander gewirbelten, erschreckten Völker werden dargebracht an den Altären des Ruhms, der Freiheit und des Stolzes. Wenn wir uns an die Aufzählung von 1831 erinnern, erkennen wir erneut eine Verkürzung, aber die gleichen dort erwähnten Ereignisse: der Altar des Ruhms bezieht sich auf die napoleonischen kriege im namen der gloire de la grande nation, der Altar der Freiheit vertritt den griechischen Befreiungskampf 1821–1829, dessen Anfang Puškin in kišinev, dessen militärisches Ende er bei Arzrum miterlebt hatte. Der Altar des Stolzes steht für den polnischen Aufstand, wie Puškin ihn empfunden hat. und in diesem Zusammenhang wäre an Lednickis Vermutung zu erinnern, dass in Puškins so genanntem Памятник mit гордый внук Славян der Pole gemeint sei.5 Wenden wir unseren Blick zurück auf die beiden Übersetzungen, so bemerken wir, dass Michael Engelhard die Reihenfolge der Altäre, wenn er auch nur von Altar im Singular spricht, beibehalten hat, dabei aber für Freiheit eingesetzt hat Bürgerrechte, was eher an innerrussische Probleme denken lässt, obwohl auch da der Begriff Bürger nicht passen würde. Für Stolz sagt er Übermut, was sich aus russischer Sicht für den Polenaufstand vielleicht vertreten ließe. in meiner Version sind die drei Abstrakta und der Plural der Altäre gewahrt, aber die Reihenfolge ist aus metrischen Gründen verändert. korrekt wäre Ruhm, Freiheit, Stolz. Sind die Übersetzungen deshalb falsch? ich glaube nicht. Es sind interpretationen, die der Text gerade wegen seiner hohen Abstraktionsebene zulässt. Tatsächlich sind ja Ruhmsucht, Streben nach unabhängigkeit, d. h. Befreiung von innerer oder äußerer unterdrückung und nationalstolz oder sonstiger Übermut immer wieder treibende kräfte beim Ausbruch von kriegen und Bürgerkriegen gewesen. Puškin hat diese Erfahrung an napoleon, Griechenland und 5

W. LEDnicki: Bits of Table Talk on Pushkin, Goethe, Тurgenev and Sienkiewicz. The Hague 1956, S. 107 f.

Слава, Свобода, Гордость ...

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Polen gemacht, sie aber ins Allgemeine gehoben. Dies wird dem Leser, der das Original nicht versteht, durchaus vermittelt, und zwar in einer sprachlichen Form, die spüren lässt, dass es sich um ein kunstwerk handelt. Mehr kann eine Übersetzung nicht leisten. Trotzdem scheinen mir die hier sichtbar gewordenen zeitgeschichtlichen Anlässe fruchtbar zu sein für das Verständnis des Originals. ich möchte diese Betrachtungen nicht abschließen, ohne darauf hinzuweisen, dass die beiden zitierten Übersetzungen entstanden, bevor die neueste russische Forschung noch einen anderen Bezug des Puškinschen Textes aufdeckte. Wie irina Jur’eva zeigte, lehnen sich die Zeilen Металися смущенные народы И высились и падали цари

an den 2. Psalm an, dessen russische Übersetzung (von 1821) bietet: Зачем мятутся народы ... Восстают цари земли ... (Пс. 2: 1–2).6 Ein weiterer Beweis für die Tiefendimension der Texte des reifen Puškin.

6

i. Ju. JuR’EVA: „Bibliju, Bibliju!“ Svjaščennoe Pisanie v tvorčestve Puškina. in: Moskovskij puškinist, Moskva: „nasledie“ 1997, S. 119–143, hier S. 141 in Anmerkung nr. 4.

Der Versroman „Jewgeni Onegin“ (1823–1832) Weithin bekannt ist P. Tschaikowskys Oper „Eugen Onegin“. Und wenn von ihr die Rede ist, mag auch der Name Puschkin fallen, nicht gerade als der des Librettisten, aber doch als der des Lieferanten des Sujets und einiger Arien-Texte. Dazu sei kurz Folgendes bedacht: nach Tschaikowskys Oper über Puschkins Versroman zu urteilten ist ebenso sinnvoll, als wollte man Goethes „Faust“ nach Gounods Oper „Margarethe“ beurteilen. Um jede Verwechslung zu vermeiden, werde ich den Titelhelden des Romans und den Roman selber „Jewgeni Onegin“ nennen, den der Oper und die Oper selbst dagegen „Eugen Onegin“. Obwohl über die Oper hier eigentlich nicht gehandelt werden soll. Höchstens noch dies: die Hauptrollen der Oper: Onegin, Lenski, Olga und Tatjana sind den gleichnamigen Hauptfiguren der Romanhandlung nachgebildet. Tschaikowsky brauchte aber noch eine Bassrolle, und so bekam Tatjanas Mann, der bei Puschkin ein namenloser General blieb, den Namen Gremin und eine berühmte Arie. Dagegen fehlen zwei Hauptfiguren des Versromans, nämlich der Erzähler-Autor und seine Muse, wodurch die ironische Distanz zur erzählten Handlung getilgt wird und vor allem der Erzähler-Autor als interessanteste Person, die mehr als die Hälfte des Textes liefert, überhaupt entfällt. Was bleibt, ist als Libretto einer bedeutenden Oper nur für Musikfreunde von Interesse. Doch lassen wir die Oper beiseite und wenden uns dem Roman zu. Zunächst müssen aber zwei Thesen überprüft werden, die fast unvermeidlich bei jeder Würdigung des, Jewgeni Onegin“ angeführt werden: 1. der Roman sei Puschkins Hauptwerk, und 2. er sei eine „Enzyklopädie des russischen Lebens“. Was die erste These betrifft, so ist sie weder zu beweisen noch zu widerlegen. Feststeht, dass Puschkin an diesem Werk – mit großen Unterbrechungen – mehr als acht Jahre gearbeitet hat (9. Mai 1823 bis 5. Oktober 1831), und dass er, als die ersten drei Kapitel fertig waren (1824), es als das Beste bezeichnete, was er je geschrieben habe. Für wie bedeutend er es hielt, zeigt die Tatsache, dass er den Separatveröffentlichungen der ersten Kapitel einen Text voranstellte, den die Zeitgenossen sogleich als Parallele zu Goethes „Vorspiel auf dem Theater“, den Vorspann zu „Faust I“, erkannten, nämlich das „Gespräch des Buchhändlers mit dem Dichter“ (Разговор книгопродавца с поэтом). Und auch in der vorletzten Strophe des Romans gibt es Anklänge an Goethes „Zueignung“ zum „Faust“. Andererseits wissen wir, dass Puschkin 1825/26 das Shakespeare verpflichtete Drama „Boris Godunow“ wichtiger war, und dass er nach 1829 das „Gespräch des Buchhändlers mit dem Dichter“ nicht mehr als Vorspann des Romans, sondern unter den lyrischen Gedichten drucken ließ. Nach dem Urteil späterer Kunstrichter haben auch andere Werke des Dichters begründeten Anspruch auf gleichen Rang wie der „Onegin“. Als Kandidaten wurden genannt das letzte

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Poem „Der eherne Reiter“ (Медный всадник), die kleine Tragödie „Der steinerne Gast“ (Каменный гость), ja sogar das „Märchen vom Zaren Saltan“ (Сказка о царе Салтане). Immerhin ist aber der „Jewgeni Onegin“ dasjenige Werk Puschkins, an dem er am längsten gearbeitet hat und das seine Entwicklung als Dichter und als Person bis zum Jahre 1831, d. h. bis zu seiner Heirat und zu seiner verstärkten Hinwendung zur Prosa am vollständigsten spiegelt. Was die zweite These betrifft, die von der „Enzyklopädie des russischen Lebens“, so stammt sie bekanntlich von dem außerordentlich einflussreichen Kritiker Wissarion Belinski (1811–1848). Belinski hat zwischen 1843 und 1846 elf umfangreiche „Briefe“ zu Puschkins Gesamtwerk veröffentlicht, von denen zwei, der achte und der neunte, dem „Jewgeni Onegin“ gewidmet sind. Sie füllen etwa 70 Druckseiten, und auf der vorletzten findet sich der Satz von der „Enzyklopädie des russischen Lebens“. Der gern zitierte Begriff Enzyklopädie stammt übrigens aus Friedrich Schlegels Romantheorie, ist also keineswegs überraschend oder einmalig. Es lohnt sich, den seltener zitierten Kontext Belinskis etwas genauer anzuschauen. Da heißt es: „Onegin“ wurde im Laufe einiger Jahre geschrieben, – und deshalb wuchs der Dichter selbst zusammen mit ihm, und jedes neue Kapitel war interessanter und reifer. Aber die letzten beiden Kapitel sind scharf abgesetzt von den ersten sechs: Sie gehören deutlich bereits zur höchsten, reifsten Epoche der künstlerischen Entwicklung des Dichters. Über die Schönheit einzelner Stellen lässt sich nie genug sagen, und ihrer sind doch so viele! Zu den besten gehören: die nächtliche Szene Tatjanas mit ihrer Njanja [im 3. Kapitel], das Duell Onegins mit Lenski [im 6. Kapitel] und der ganze Schluss des siebenten Kapitels. In den letzten beiden Kapiteln wüssten wir nicht, was besonders zu loben wäre, weil dort alles hervorragend ist; aber die erste Hälfte des siebenten Kapitels (die Beschreibung des Frühlings, die Erinnerung an Lenski, Tatjanas Besuch in Onegins Haus) hebt sich doch besonders aus allem heraus durch die Tiefe der Traurigkeit und die wundersam herrlichen Verse. [...] Die Abschweifungen, die der Dichter sich von der Erzählung erlaubt, die Ansprachen an sich selbst, sind von ungewöhnlicher Anmut, Herzlichkeit, Empfindung, Geist und Witz erfüllt, die Persönlichkeit des Dichters erscheint darin so liebenswert, so menschlich. Er hat es verstanden, in seinem Poem so vieles zu berühren, was ausschließlich der Welt der russischen Landschaft, der Welt der russischen Gesellschaft angehört! So kann man den „Onegin“ eine Enzyklopädie des russischen Lebens nennen und ein im höchsten Maße nationales Werk. Und ist es denn da verwunderlich, dass dies Poem vom Publikum mit solcher Begeisterung aufgenommen wurde und solchen gewaltigen Einfluss auf die gleichzeitige wie auch auf die nachfolgende russische Literatur hatte? Und sein Einfluss auf die Sitten der Gesellschaft? Es war ein Erkenntnisakt der russischen Gesellschaft, beinahe der erste überhaupt, aber dafür auch welch riesiger Schritt voran für sie! ... Dieser Schritt war von reckenhafter Großartigkeit, und danach war ein Verharren auf dem gleichen Fleck schon nicht mehr möglich.

Soweit Belinski, der zuvor im gleichen Brief noch betont hatte, man bemerke in allem den Autor „als Vertreter seiner Klasse, als russischen Gutsbesitzer“. Das war nicht ganz zehn Jahre nach Puschkins Tod geschrieben und wird, was die Enzyklopädie betrifft, bis heute immer wieder gern zitiert. Eine der wenigen

Der Versroman „Jewgeni Onegin“

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Stimmen, die sich dagegen erhoben, ist die von Vladimir Nabokov. Er veröffentlichte 1964 ein vierbändiges Opus unter dem Titel: „Eugene Onegin, A Novel in Verse by Aleksandr Pushkin, Translated from the Russian, with a Commentary by Vladimir Nabokov, New York, Bollingen Foundation“. Dort kann man im ersten Band (S. 7) lesen: Puschkins Schöpfung ist zuerst und vor allem ein stilistisches Phänomen. [...] Es ist kein „Bild des russischen Lebens“ – es ist bestenfalls das Bild einer kleinen Gruppe von Russen, in der zweiten Dekade des vorigen Jahrhunderts, gekreuzt mit all den bekannteren Figuren der westeuropäischen Romantik und platziert in ein stilisiertes Russland, das sich sofort verflüchtigen würde, wenn die französischen Versatzstücke entfernt würden, und die französischen Darsteller englischer und deutscher Autoren aufhören würden, den russisch-sprechenden Helden und Heldinnen ihre Stichwörter zu soufflieren. Das Paradoxe dabei ist, vom Standpunkt des Übersetzers aus, dass das einzige russische Element von Bedeutung diese Sprache ist, Puschkins Sprache, die durch Versmelodien wogt und blitzt, wie derartiges in Russland noch nie dagewesen war.

Anfang der 1920er Jahre schrieb der Formalist Wiktor Schklowski einen Essay, in dem er die These vertrat, der „Jewgeni Onegin“ sei eine an Lawrence Sterne’s „Tristram Shandy“ anknüpfende spielerische Parodierung der Romanform als solcher, also nicht nur keine „Enzyklopädie des russischen Lebens“, sondern auch gar kein Roman. Und 50 Jahre später meint der englische Slawist John Bayley in seinem Puschkin-Buch (Cambridge 1971): „Jewgenij Onegin“ ist eine glänzend gelungene Kreuzung (a triumphant hybrid): das poetisch glitzerndste Poem, und dennoch so voll von erlebtem Leben wie ein überreich konzipiertes fiktionales Werk.

Bayley lobt die „elegante Balance von Parodie und Sentiment“ und sagt von Puschkins Technik, ihre „Wirkung [sei] natürlicher als die Natur“. Zugleich betont er, dass „der lokale Hintergrund ebenso wichtig [sei] wie der literarische“. In diesem letzten Punkt, der ja auch bei Nabokov angesprochen war, trifft er sich mit Setschkareffs Feststellung von der, „Literarizität des Romans“, der eben ein absolut „unrealistischer Roman“ sei. Dafür spricht die Tatsache, dass im Text des „Onegin“ nicht weniger als 82 Autoren erwähnt oder zitiert werden, 26 französische, 21 russische, zehn englische, sechs deutsche, sechs lateinische, fünf italienische, drei griechische sowie je ein persischer, niederländischer und schweizerischer, überwiegend Dichter und Schriftsteller aber auch Philosophen, Nationalökonomen, Maler, Musiker und ein Traumbuchautor. Auch einer der letzten Kommentatoren, Ulrich Busch, spricht von der „Spannung zwischen ironischer Methode und ernster Thematik“. All diese Äußerungen machen wohl eines deutlich: Puschkins Versroman, Jewgeni Onegin’“ scheint in der Weltliteratur eine einzigartige Stellung einzunehmen, so wie ja auch seine äußere Form, eben die eines Romans in Versen, ohne nennenswerte Konkurrenz dasteht.

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Gewiss sind die Byronschen in Versen geschriebenen Erzählungen, von „Childe Harold’s Pilgrimage“ bis zum unvollendeten „Don Juan“ nicht ohne Einfluss auf Puschkins Versroman gewesen. Er kannte auch die in Oktaven geschriebenen italienischen Epen Ariostos, Tassos und Forteguerris, er kannte die um eine Zeile längeren Strophen Byrons, aber er erfand für seinen Roman eine eigene Strophenform, die seither so genannte „Onegin-Strophe“. Sie hat 14 Zeilen wie das italienische Sonett, aber jede Zeile ist kürzer, denn Puschkin verwendet statt fünffüßiger Jamben vierfüßige. In den ersten zwölf Zeilen spielt er alle denkbaren Reimanordnungen durch: die ersten vier Zeilen haben Kreuzreim, die zweiten vier Paarreim, die dritten vier umfassenden Reim, und die letzten beiden Zeilen, ein männlich endender Paarreim, ähneln dem Couplet des englischen Sonetts und ermöglichen damit eine epigrammatische Zuspitzung am Strophen-Schluss. Bei allen Reimen und von Strophe zu Strophe wird der regelmäßige Wechsel zwischen weiblichem und männlichem Zeilenausgang eingehalten. Mehr als 500 solcher komplizierten Strophen zählt der Roman – schon das eine artistische Glanzleistung! Und allein von daher verstehen wir die erste Mitteilung, in der Puschkin von seinem entstehenden Werk spricht. Sie steht in einem Brief an seinen ebenfalls dichtenden Freund Fürst Pjotr Wjasemski vom 4. November 1823. Dort heißt es: Was meine Beschäftigungen betrifft, so schreibe ich jetzt nicht etwa einen Roman, sondern einen Roman in Versen – ein verteufelter Unterschied!

Ich meine, man sollte diese allererste Äußerung Puschkins über sein entstehendes Werk ernst nehmen. Und deshalb halte ich alle Übersetzungsversuche, die auf die Vers- und Strophenform ganz oder teilweise verzichten, von vornherein für inadäquat, was auch Nabokov oder Maximilian Braun dagegen vorbringen mögen. Inadäquat deshalb, weil dabei die Grundkonzeption des Werkes, seine ästhetische Information verloren geht, und auch ein gut Teil der Ironie, die es durchzieht und sozusagen würzt. Die Wirkung des Romans in Versen auf den Leser ist nämlich, wie die ungewöhnliche Gattungsbezeichnung selbst, die Puschkin bewusst als Untertitel verwendet, das Ergebnis einer ganzen Reihe von Paradoxa. Noch nie hatte Puschkin eine so hochkomplizierte Reimanordnung und Strophenform benutzt, und noch nie war seine Sprache so ungekünstelt und dem natürlichen Plauderton so nahe. So schreibt er selbst im November 1823 seinem Freund Baron Anton Delwig: „Ich schreibe jetzt ein neues Poem, in dem ich hemmungslos drauflosschwätze.“ Dieser Effekt wäre in Prosa – falls Puschkin damals schon eine brauchbare Prosa vorgefunden hätte – gar nicht möglich gewesen, da die Natürlichkeit der Sprache dann gar nicht bewusst geworden wäre. Erst die strenge Form macht ihre siegreiche Überwindung spürbar. Zudem dient die Gleichmäßigkeit der Form wiederum paradoxerweise der Ermöglichung von sprunghaften Übergängen: von der Schilderung zur Reflexion, zu autobiographischen, literarisch-polemischen und lyrischen Digressionen. Die Vielfalt von

Der Versroman „Jewgeni Onegin“

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Stil und Thematik ist durch die künstliche Unterteilung des Erzählprozesses in abgeschlossene, oft epigrammartig endende Strophen erleichtert. In fortlaufender Prosa würde ein so häufiger Wechsel des Tons und der Standpunkte gekünstelt wirken. Deshalb spricht Bayley zu Recht davon, dass Puschkins „Technik natürlicher als die Natur“ wirke. Das gleiche Paradoxon wiederholt sich auf der Ebene des Sujets: zum ersten Mal sind die Helden ganz reale Personen aus dem Lebensumkreis des Autors und seiner Leser, was bisher nur in der Satire als erlaubt galt. Und sie sind zwar ironisch, aber liebevoll gezeichnet und trotz ihrer Alltäglichkeit (die die Romantiker kritisierten) voller Poesie. Zugleich aber lässt der Erzähler-Autor immer wieder bewusst werden, dass es sich um Produkte künstlerischer Phantasie handelt. Der ständige Wechsel der Standpunkte und Sichtweisen, auch innerhalb der Person des Erzählers selbst, erzeugt den Eindruck vielschichtiger Realität, ohne doch dabei das Bewusstsein der künstlerischen Geschlossenheit und des Fiktionscharakters zu verdrängen. Gerade das äußerst strenge System der künstlerischen Form erlaubt die Illusion, dass man es mit dem offenen System der Wirklichkeit zu tun habe. Und schließlich führt gerade die Fixierung auf die konkrete Wirklichkeit der Jahre 1819 bis 1824 zu einer Geschichte, die selbst heute noch als zeitlos-gültiger erscheint als die in der Zeit nicht oder kaum verankerten „Südlichen Poeme“ (Южные поэмы) der vorhergehenden Jahre, vom „Gefangenen im Kaukasus“ (Кавказский пленник) über den „Springbrunnen von Bachtschissarai“ (Бахчисарайский фонтан) bis zu den „Zigeunern“ (Цыганы). Dies mag ein Grund sein, weshalb man den „Onegin“, im Gegensatz zu den frühen romantischen Poemen als realistisch abgestempelt hat. Und ein letztes Paradoxon: Puschkin hat, als er den Roman im Mai 1823 im bessarabischen Kischinjow beginnt, tatsächlich noch keinen Plan, keine einigermaßen klare Vorstellung von dem, was noch kommen, was daraus werden soll, ganz im Gegensatz zu den meisten anderen seiner größeren Werke, zu denen es oft Vorentwürfe, meist in französischen Stichworten, gibt. So konnte ihm selbst das erste Kapitel zunächst tatsächlich als ein satirisches Sittengemälde erscheinen, was er in einem geplanten Vorwort anfangs behauptet und später widerrufen hat. Erst im zweiten Kapitel erscheinen Lenski und Olga und zuletzt noch, vermutlich auch für Puschkin überraschend, Tatjana. Und so wird es auch mit der weiteren Arbeit gehen. Immer wieder kommen Änderungen grundsätzlicher Art vor. Im vierten Kapitel lässt Puschkin seinen Helden Onegin genau das Leben führen, das er selbst, als Verbannter gezwungenermaßen, in Michajlowskoje führt. Und das Scheitern des Dekabristenputsches Ende 1825 zwingt zu grundsätzlichen Änderungen im Gesamtaufbau des Romans und schließlich 1830 in Boldino zur Vernichtung des so genannten 10. Kapitels. Die eigenartige Entstehungsgeschichte des Romans, der kapitelweise veröffentlicht wurde, spiegelt sich auch in Puschkins eigenen Auslassungen, in denen er bald von Roman, bald von Poem spricht, bald von einem „langen Gedicht, das wahrscheinlich nicht vollendet werden wird“. Und wo Freunde Romantik

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Puškin

erwartet hätten, gebe es nur Satire und Zynismus. Und dann verwahrt er sich wieder gegen die Vermutung, es handele sich um Satire. All diese widersprüchlichen Äußerungen stammen aus der ersten intensiven Arbeitsphase 1823 und 1824. Dann heißt es Ende 1825 in einem Brief an den Dichter Pawel Katenin: „Onegin ist mir zuwider und schläft, ich habe ihn aber nicht aufgegeben.“ Zwei Jahre später, nach Vollendung des 6. Kapitels, schreibt er auf die letzte Seite „Ende des ersten Teils“, woraus man hat schließen wollen, dass der Roman 12 Kapitel umfassen sollte. Geschrieben wurden höchstens zehn. In einem 1830 entworfenen Schema gibt es dann folgende Gliederung: Onegin Erster Teil. Vorwort I Gesang II III Zweiter Teil IV Gesang V VI Dritter Teil VII Gesang VIII IX

Der Überdruss Der Dichter Das Fräulein

Kischinjow, Odessa. Odessa 1824. Odessa. Mich[ailowskoje]. 1824.

Das Dorf Der Namenstag Das Duell

Michailow. 1825. Mich. 1825. 1826, Mich. 1826.

Moskau Die Reisen Die große Welt

Mich. P. B. Malin[niki] 1827. 8. Mosk[au], Pawl[owsk]. 1829 Bold[ino]. Bold.

Darunter schreibt Puschkin: „1823 9. Mai Kischinjow – 1830 25. Sept. Boldino – 7 Jahre, 4 Monate, 17 Tage.“ Es sollte noch ein weiteres Jahr vergehen, bevor die endgültige Fassung fertig gestellt war, die 1832 erstmals und wenige Wochen vor Puschkins Tod zum zweitenmal im Druck erschien. In dieser Fassung hat der Roman nur acht Kapitel, denen 44 Anmerkungen und „Fragmente aus Onegins Reise“ folgen, insgesamt 18 Strophen. Dazu schreibt Puschkin erläuternd: Der Autor bekennt freimütig, dass er ein ganzes Kapitel seines Romans ausgelassen hat, in dem Onegins Reise durch Russland beschrieben war. [...] P. A. Katenin (welchen ein schönes poetisches Talent nicht hindert, auch ein subtiler Kritiker zu sein) hat uns angemerkt, dass jene Ausschließung, obzwar vielleicht von Vorteil für den Leser, dennoch dem Plan des ganzen Werkes schade, denn dadurch werde der Übergang von Tatjana, dem Provinzfräulein, zu Tatjana, der Dame von Stande, allzu unerwartet und unerklärt – eine Bemerkung, die den erfahrenen Künstler verrät. Der Autor fühlt selbst ihre Berechtigung, aber er entschloss sich, dieses Kapitel auszulassen aus Gründen, die wichtig sind für ihn und nicht fürs Publikum. Einige Fragmente sind bereits gedruckt gewesen, wir rücken sie hier ein, vermehrt um einige weitere Strophen.

Diese Einleitung zu den „Fragmenten“ ist voll versteckter Ironie, da in dem ausgelassenen Kapitel von Tatjana überhaupt nicht die Rede war, gewiss einer der Gründe, die Puschkin zum Verzicht auf dies Kapitel bewegten.

Der Versroman „Jewgeni Onegin“

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Ein weiteres Kapitel, Puschkin nennt es das zehnte, wurde 1830 verbrannt. Davon haben sich in verschlüsselter Anordnung die ersten Vierzeiler von 14 Strophen und der vollständige Text von zwei weiteren Strophen erhalten, aus denen hervorgeht, dass es sich um einen historischen Rückblick auf die politischen Ereignisse der Jahre 1820 bis 1825 handelte, vor allem um die Vorgeschichte des Dekabristenaufstandes. Das hätte natürlich niemals die Zensur passiert. So schön symmetrisch das Schema von 1830 auch war, der Roman bekam seine eher an den goldenen Schnitt erinnernde Gliederung gerade durch die Auslassung dieser beiden Kapitel und durch die abschießende Einfügung von Onegins Brief an Tatjana ins achte Kapitel, der nun, samt seiner Folge, der Zurückweisung des Helden durch Tatjana, ein spiegelbildliches Korrelat bildet zu Tatjanas Brief an Onegin im dritten und ihre Zurückweisung durch Onegin im vierten Kapitel. Damit ist unter Vermeidung allzu absoluter Symmetrie eine strenge Struktur geschaffen, die den Roman trotz aller Digressionen nicht in enzyklopädische Breite zerfließen lässt. Nach der Vorstellung des Helden und des Erzählers im ersten Kapitel, das in St. Petersburg spielt, wechselt der Schauplatz im zweiten Kapitel aufs Land, wo die weiteren Personen Lenski, Olga und Tatjana Larina vorgestellt werden. Im dritten Kapitel schreibt Tatjana ihren berühmten Brief an Onegin, der ohne Antwort bleibt. als Onegin danach unvermutet bei den Larins auftaucht, flieht Tatjana so überstürzt in den Garten, dass die Schilderung sogar die Strophengrenze überspringt: XXXVII Die Seele schmerzte sie und harrte, Ihr Sehnsuchtsblick war tränenfeucht, Da: Pferdetrappeln! sie erstarrte. Ganz nah! schon hat’s den Hof erreicht Jewgenij! – „Ach“ – in Blitzesschnelle Ist Tanja draußen an der Schwelle, Am Treppchen, in den Garten rein, Sie läuft und läuft, nicht umschaun, nein, Nur fort, sie ist in Augenblicken Vorbei an Beeten, Brückchen, See, Dem Wald, der Wiese, der Allee, Im Flieder, dessen Zweige knicken, Und fliegt durch Blumen hin zum Bach, Und sinkt erschöpft mit einem „Ach“ XXXIX Dort auf die Bank ... „Er ist gekommen! Mein Gott, was er wohl von mir denkt!“

Während Tatjana auf der Bank sitzt und Puschkin zur weiteren Verzögerung ein Volkslied einfügt, das in der Nähe Beeren pflückende Bauernmädchen

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singen, kommt es schließlich in der übernächsten Strophe zum Kapitelschluss: XLI Doch schließlich seufzt sie still ergeben, Steht auf von ihrer Bank und geht: Will zur Allee einbiegen eben, Als unvermutet vor ihr steht, Als Schatten drohend aus dem Dunkeln, Jewgenij, dessen Blicke funkeln. Als hätte Feuer sie gebrannt, Blieb sie dort stehen, wo sie stand. Doch von des Treffens Weiterungen Zu geben pünktlichen Bericht, Vermag ich, Freunde, heute nicht; Es ziemt, wenn man so lang gesungen, Dass man sich Luft und Ruhe gönnt: Führ’s später irgendwie zuend.

Damit schließt das dritte Kapitel. Das vierte berichtet von diesem Treffen, bei dem Onegin Tatjana belehrend zurückweist. Es folgen witzige Reflexionen über Freunde, Verwandte, Geliebte und den Vorzug der Eigenliebe. Am Ende überbringt Lenski eine fingierte Einladung an Onegin zu Tatjanas Namenstagsfeier. Das fünfte Kapitel hat zwei Schwerpunkte, erstens Tatjanas Traum, der in genialer Vorwegnahme Freudscher Erkenntnisse die Ängste der jungfräulichen Tatjana ebenso schildert wie die künftige Entwicklung des Verhältnisses von Onegin zu Lenski und eine schauerliche Karikatur der Namenstagsgesellschaft. Als diese tatsächlich stattfindet, provoziert Onegin den romantisch verliebten Lenski, indem er mit Olga flirtet. Sie lässt es sich gern gefallen, aber Lenski ist empört und fordert Onegin zum Duell. Das Duell ist der Hauptinhalt des sechsten Kapitels, wobei die Einzelheiten mit trockenem Realismus geschildert werden. Im siebenten Kapitel ist Onegin, der Lenski erschossen hat, gewissermaßen zur Strafe dafür, gar nicht anwesend. Tatjana besucht sein Haus und macht sich anhand seiner Bibliothek Gedanken über ihn, ob er vielleicht nur eine Parodie sei. Puschkin lässt die Frage offen und beschreibt die Bemühungen, Tatjana zu verheiraten. Ein General zeigt Interesse, und der Autor nutzt die Gelegenheit, hier, am Ende des vorletzten Kapitels, die für Epen obligatorische Anrufung der Muse unterzubringen. Die letzte Strophe des siebenten Kapitels lautet: Lasst hier zum Sieg uns gratulieren Tatjana, die mir so gefällt, Und seitwärts unsern Weg dann führen, Nicht zu vergessen, wer mein Held Ja, übrigens, dass ich’s gleich sage: „Ich sing des jungen Freundes Tage Und seine vielen Kauzerein:

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So segne denn die Mühe mein, Epische Muse, dass dein Sänger, Dank dem von dir verliehnen Stab, Nicht irr’ vom rechten Wege ab. „ Genug, das drückt mich nun nicht länger! Gewahrt ist die Klassizität, Kommt auch der Anruf ziemlich spät.

Wie Sie schon aus den wenigen zitierten Strophen sehen, ist ein ganz wesentliches Element des Versromans neben der Ironie auch die Parodierung literarischer Klischees. Puschkin beginnt seinen Roman mit einem inneren Monolog des Titelhelden, noch bevor dieser überhaupt vorgestellt wurde. Die Vorstellung in der zweiten Strophe beginnt damit, dass er den Helden als Galgenstrick bezeichnet, russ. „повеса“, was reimt mit „Зевеса“ (Gen. von Zeus), ein ebenso ironisches Reimspiel wie in dem nachgelieferten Musenanruf am Ende des siebenten Kapitels das Wort „муза“ reimt mit „обуза“, was soviel heißt wie lästige Pflicht. Die Schluss-Strophen der Kapitel sind von besonderer Raffinesse, wobei der Leser bald spöttisch überrascht, bald zum Mitwisser der tiefsten Erfahrungen des Autors gemacht wird, wie etwa am Ende des sechsten Kapitels, wo es heißt: XLIV Ich lernte andre Wünschbarkeiten, Ich lernte neue Traurigkeit, Die frühren spür ich mir entgleiten, Die alte Trauer tut mir leid. Wo seid ihr, Träume, Täuschungstugend? Wo bist du, ewiger Reim drauf: Jugend? Ist denn am Ende wirklich ganz Verwelkt, verwelkt dein Blütenkranz? Ist – nicht elegisch übertrieben, Vielmehr in voller Wirklichkeit – Vorüber meine Frühlingszeit (Was ich sonst oft im Scherz geschrieben)? Kommt nie sie wieder, ist das wahr? Bin ich im Ernst bald dreißig Jahr? XLV Jawohl, der Mittag naht, bequemen Muss ich mich wohl, das einzusehn. So will als Freund ich Abschied nehmen Von dir, о Jugend, leicht und schön! So sag ich Dank denn für Genüsse, Für Wehmut, liebliche Verdrüsse, Lärm, Stürme, manches reiche Mahl, Für deiner Gaben ganze Zahl Sag ich dir Dank. Zur Zeit der Nöte Zur Zeit der Stille hab ich dich

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Genossen ... und zwar ordentlich, Genug! Mit klarer Seele trete Ich an zu neuen Wegen nun, Vom frühren Leben auszuruhn. XLVI Ein Blick zurück. Lebt wohl, ihr Räume, Wo lange Jahre auf dem Land Die Seele aussann tiefe Träume, Ich Leidenschaft und Muße fand. Du, junge Eingebung vor allem, Lass noch die Phantasie mir wallen, Beleb des Herzens Schläfrigkeit, Flieg oft in meine Einsamkeit, Dass mir die Seele nicht vereise, Verbittert werde, spröd und hart, Und schließlich ganz zu Stein erstarrt im Taumelgift mondäner Kreise, In diesem trüben Pfuhl, wo ich Mit euch, ihr Freunde, suhle mich!

Mit diesen sehr persönlichen Reflexionen über die fruchtbare Zeit der Verbannung und die Gefahren, die dem Dichter nach der Rückkehr in den trüben Pfuhl mondäner Kreise drohen, schließt das sechste Kapitel! Vom siebenten war schon die Rede. Das achte beginnt mit einer Reihe von Strophen, die die ganze Entwicklung von Puschkins Dichtung seit seiner Schulzeit unter dem ständig wechselnden Erscheinungsbild seiner Muse repetieren, bis diese zuletzt zusammen mit dem Autor auf einer Party der vornehmsten Petersburger Gesellschaft auftaucht. Dort erscheint auch Onegin wieder, verliebt sich in die völlig verwandelte Tatjana, die Frau des Generals, die „Gesetzgeberin der Säle“, schreibt ihr einen Liebesbrief, nur um von ihr genauso zurückgewiesen zu werden, wie er einst sie zurückgewiesen hatte. Berühmt sind Tatjanas Worte: XLVII „Und dabei war das Glück so möglich, So nah! Doch ist mein Schicksal nun Entschieden schon. Ich war womöglich Zu unbedacht in meinem Tun: Die arme Tanja war verloren, Als Mutters Tränen sie beschworen, Galt jedes Los ja gleich. Und ich Willigte ein. Sie dürfen mich, Ich bitte Sie, nicht länger quälen. Gehn Sie! Ich weiß: Ihr Herz bewahrt Noch Stolz und Ehre echter Art. Ich liebe Sie (wozu’s verhehlen), Doch gab man einem andern mich; Ihm werd ich treu sein ewiglich.“

Der Versroman „Jewgeni Onegin“

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XLVIII Sie geht hinaus. Er bleibt noch stehen, Gleichsam vom Donnerschlag gerührt. Welcher Gefühle Sturmesböen Er tief im Herzen tosen spürt! Doch plötzlich hallen Sporentöne, Tatjanas Mann betritt die Szene, Und hier wird nun mein Held am End, Für ihn im peinlichsten Moment, Von uns verlassen werden müssen, Für lang, für immer. Allzu weit Durchstreiften wir schon Seit an Seit Mit ihm die Welt. Und froh begrüßen Wir uns im Hafen nun. Hurrah! Längst fällig (stimmt’s nicht?) war das ja!

Ja, so lässt der Erzähler seinen Helden „im peinlichsten Moment“ für ihn allein zurück, um sich in drei weiteren Strophen vom Leser, von seinen Helden und schließlich von denen zu verabschieden, deren Freundschaft gerne Ihr Ohr den ersten Strophen lieh – „Die sind nicht mehr, und die sind ferne“, Wie Saadi sagte. Ohne sie Ward mein Onegin nun entfaltet. Und die, nach deren Bild gestattet Tatjanas liebes Ideal? Oh, Opfer, Opfer ohne Zahl Glückselig, wer, solang noch dauert Das Fest des Lebens, es verlässt, Den Kelch nicht austrinkt bis zum Rest, Aufs Ende des Romans nicht lauert, Und Abschied nehmen kann im Nu, Wie ich es von Onegin tu.

Mit diesen Worten schließt der Roman – ohne Lösung des Handlungknotens und ohne jede Andeutung über das weitere Schicksal der Helden. Puschkins Freunde haben ihn in den folgenden Jahren mehrfach darauf hingewiesen und eine Fortsetzung angemahnt. Er ist schließlich nicht darauf eingegangen. Seine innere und künstlerische Entwicklung war weiter vorangeschritten, seine Lebensumstände waren andere geworden, sein Interesse wandte sich mehr und mehr der Prosa und der Geschichtsschreibung zu. Aber viereinhalb Jahre nach dem Abschluss des Versromans wurde wahr, was im sechsten Kapitel geschildert war: der Salonlöwe erschoss den Dichter, nachdem zuvor dessen Frau die Rolle der Tatjana gespielt hatte.

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Nachahmung als Selbstdarstellung in der späten Lyrik Puškins Vsevolod Setschkareff schreibt über Puškin in seiner kleinen „Geschichte der russischen Literatur im Überblick“ (1949) u. a. folgendes: Die Bildung und Belesenheit Puschkins waren tatsächlich ungeheuer. [...] Er dachte offensichtlich über jede literarische Erscheinung nach und bemühte sich als großer Meister, sie der russischen Literatur anzueignen. Begegnete er diesem oder jenem literarischen Denkmal, so scheint er sich gefragt zu haben: Lässt sich das auch im Russischen machen? Diese Frage war ohne Zweifel der Ausgangspunkt vieler seiner Werke. In Puschkin war alles Schaffen. Andere lesen, verarbeiten, überdenken. Puschkin schuf dasselbe noch einmal. machte den schöpferischen Prozess zum zweiten Mal durch. Dies war seine Art, sich mit einem Kunstwerk auseinander zu setzen. (Setschkareff 1949: 77)

An dieser Schilderung ist sicher sehr viel Richtiges. Und wenn man mit Goethe (und vielen anderen) annimmt, dass jeder Künstler sich gewollt oder ungewollt in seinen Werken selbst darstellt, so träfe das eben auch auf den nachschaffenden Puškin zu, und nicht nur auf ihn als Autor der späten Lyrik. Dass ich in meinem Thema diese Einschränkung gemacht habe, deutet darauf hin, dass ich das Phänomen des Nachschaffens differenzierter sehen möchte, als das in einem Buch möglich war, in dem Puškin ganze 10 von insgesamt nur 134 Seiten gewidmet waren. Ich beschränke mich auf einige wenige Beispiele aus der späten Lyrik, möchte aber dennoch ein paar Worte über die literarische Methode der imitatio1 im historischen Kontext vorausschicken. Die römischen Dichter ahmten die griechischen nach, die Italiener die Römer, die Franzosen Römer und Italiener. Anakreontik und Petrarkismus herrschten Jahrhunderte lang immer wieder in der europäischen Dichtung. Es sei auch daran erinnert, dass Horaz im Schlussgedicht des dritten Buches seiner Oden als sein Hauptverdienst rühmte, princeps Aeolium carmen ad Italos deduxisse modos,2

d. h. als erster das griechische Lied in lateinische Weisen überführt zu haben. Eben damit habe er sein monumentum aere perennius, sein erzüberdauerndes Denkmal, errichtet. Und noch 17 Jahrhunderte danach rät Boileau („французских рифмачей суровый судия“, wie Puškin ihn 1833 nennt) in seiner Horaz nachgebildeten „Art poétique“: 1

2

Imitatio, Nachahmung als vorbildlich geltender Autoren, Werke, Stoffe, Formen war seit der Antike eine legitime, ja als notwendig angesehene Form der literarischen Tradition in Europa. Hor. carm. III, 30.

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Suivez [...] Théocrite et Virgile. Que leurs tendres Escrits par les Graces dictez Ne quittent point vos mains, jour et nuit feuilletez.3

Puškins Debüt steht noch ganz im Zeichen der klassischen Theorie, wie sie Boileau vertrat, und wie sie im Lyzeum anhand des französischen Lehrbuchs von Jean-François La Harpe gelehrt wurde. In Russland, dessen neuere Literatur sich der petrinischen Öffnung nach Westen verdankt, war Nachahmung darüber hinaus im ganzen 18. und auch noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts ganz unentbehrlich, und zwar nicht nur Nachahmung antiker Muster, sondern Nachahmung von allem, was damals im Westen existierte. Solche imitatio ist damals die Voraussetzung für die Entstehung einer eigenen Literatur gewesen und somit eine ebenso notwendige wie lobenswerte Leistung. So geht es denn auch in dem Sprach- und Stil-Streit zwischen Karamzinisten und Šiškovisten, d. h. zwischen ‘Arzamas’ und ‘Beseda’, nicht um das Prinzip der Nachahmung, sondern darum, was nachahmenswert sei. Puškins Onkel drückt das 1811 in einer Epistel an Žukovskij so aus: Талант нам Феб дает, а вкус дает ученье. Что просвещает ум? питает душу? – чтенье. В чем уверяют нас Паскал и Боссюет, В Синосписе того, в Степенной книге нет.4

Noch 1821 definiert N. F. Ostolopov in seinem „Wörterbuch der alten und neuen Dichtkunst“ s. v. podražanie, imitatio: Подражание оратору или поэту не значит переводить его, или рабски списывать; это значит, в тесном смысле, взять мысль его и представить ее с вольностью, по своему; это значит, в смысле обширнейшем, образовать свой ум, язык, учиться оборотам, изображениям, гармонии подлинника, и обогатив память, красотами его воображением, упражняться в том же самом роде [...]. у нас весьма искуссно подражали: Княжнин трагикам французским, Державин Горацию, Дмитриев и Крылов Лафонтену. (Ostolopov 1821/1971, Bd. II: 387, 389)

Darauf folgt eine lange Aufzählung von „Nachahmungen“ Deržavins (aus Horaz, Pindar und den Psalmen) sowie der Hinweis auf den imitatorischen Charakter jedweder Anakreontik, und Ostolopov fährt fort: Сих образцов достаточно, кажется, для того, чтобы оставить без всякого внимания упреки тех строгих людей, которые называют подражания или слабостию собственных дарований, или рабством, уничтожающим собственные дарования. (Ostolopov 1821/1971, Bd. II: 392 f.)

Diese Passage zeigt, dass das Prinzip der imitatio um 1821 bereits grundsätzlicher Kritik ausgesetzt war. 3 4

Art poétique, Chant II, vers 26–28, zitiert nach: BOILEAU (1876). Aus einem Gedicht an V. A. Žukovskij von 1810, zitiert nach B. Пушкин (1893: 70).

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Dahinter steht die europäische Entwicklung im 18. Jahrhundert. Spätestens um die Mitte dieses Jahrhunderts nämlich hat sich, von England und Deutschland ausgehend, der Bruch mit der klassischen Tradition angekündigt. Genuine poetry, Sturm und Drang heißen die Stichworte, der Kult des Original-Genies kommt auf, und damit gerät das Prinzip der imitatio in Misskredit. Zugleich verändert sich die Rangordnung der literarischen Gattungen: Das Epos verliert seine Spitzenposition, an seine Stelle tritt schließlich der Roman und damit die Prosa. Goethes „Hermann und Dorothea“ – ein verbürgerlichtes Epos wie Vossens „Luise“ – ist bereits ein Rückzugsgefecht. Der Dichter sieht sich ja selbst als letzter Homeride, während der „Wilhelm Meister“ von den Schlegels als epochemachend gepriesen wird, von gleichem Range wie Fichtes (individualistische) Philosophie und die (bürgerliche) Französische Revolution. Dabei ist aber die Dichtung keineswegs abgemeldet. Herder und McPherson entdecken den Reiz der Folklore, die Ballade wird literaturfähig. Lessing entthront die klassizistische Tragödie, Goethe rehabilitiert die Gotik, Voltaire entdeckt die englische Literatur, M-me de Staël die deutsche, Shakespeare wird neu entdeckt. All das spielt sich außerhalb der durch Nachahmung antiker Muster geprägten Tradition ab. Dieser Paradigmenwechsel bekommt schließlich den Namen Romantik. Und in der Tat definiert ja Friedrich Schlegel den Begriff romantisch so, dass darunter jede Art von Literatur fällt, die es formal oder thematisch in der Antike nicht gegeben hat. Damit wird der Beginn der romantischen Dichtung in das Mittelalter zurückverlegt, und der Begriff umfasst zugleich die gerade entdeckte Volksdichtung oder was man dafür hielt. Puškin hielt sich in seinen Äußerungen zur Romantik weitgehend an diese Definition, weshalb er in seinem Entwurf „Über klassische und romantische Dichtung“ von 1825 u. a. Lafontaines „Contes“ und Voltaires „Pucelle“ als „Muster rein romantischer Dichtung“ anführt5. Noch 1830 wehrt er sich vehement gegen den Versuch französischer Kritiker, André Chénier als Romantiker zu vereinnahmen: Франц.‹узские› критики имеют свое понятие об романтизме. Они относят к нему произведения, носящие на себе печать уныния или мечтательности. [...] Таким образом Андр. шенье, поэт, напитанный древностью, коего даже недостатки от желания дать французскому языку формы греческ.‹ого› стихосложения, – попал у них в романтики. (Puškin XII: 179)

Hier wird deutlich, dass das Prinzip der Nachahmung in Puškins Vorstellung der romantischen Originalität entgegengesetzt ist, und dass er es keineswegs negativ beurteilt oder ablehnt. So nimmt es nicht wunder, wenn er sich noch 1836 in einer Rezension positiv zum Phänomen der imitatio äußert. Aus Anlaß von Tepljakovs „Thrakischen Elegien“ schreibt er:

5

Vgl. PUŠKIN (XI; 36–38).

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В наше время молодому человеку, который готовится посетить великолепный Восток, мудрено, садясь на корабль, не вспомнить лорда Байрона [...] Ежели паче чаяния молодой человек еще и поэт и захочет выразить свои чувствования, то как избежать ему подражания?

Und er fährt fort: Можно ли за то его укорять? Талант неволен, и его подражание не есть постыдное похищение – признак умственной скудости, но благодарная надежда на свои собственные силы, надежда открыть новые миры, стремясь по следам гения, – или чувство, в смирении своем еще более возвышенное: желание изучить свой образец и дать ему вторичную жизнь. (Puškin XII: 82)

Puškin spricht hier ganz offenbar aus Erfahrung und nicht nur polemisch – mit fast den gleichen Worten wie Ostolopov – gegen die Plagiatsvorwürfe, die auch er immer häufiger von der nachfolgenden Generation der Romantiker zu hören bekam. Gewiss verteidigt er in diesem Text zugleich mit dem Debütanten TepIjakov auch sich selbst. Und diejenigen, die ihn der Nachahmung bezichtigten, hatten zu dieser Zeit hinreichend Anlass dazu, wenn man bedenkt, wie viele der Gedichte allein der Jahre 1835 und 1836, wie man heute sagen würde, auf Prätexte in fremden Sprachen zurückverweisen. Zwar gibt es auch seit 1832 schon eine ganze Reihe von „Nachahmungen“, sei es in Form von Übersetzungen oder auch Parodien6. Unter den lyrischen Gedichten des Jahres 1835 überwiegen tatsächlich die „Nachahmungen“. Zwei von ihnen («Что белеется на горе зеленой?» und «He видала ль, девица, коня моегo?») gehören noch in den Umkreis der „Lieder der westlichen Slaven“ aus dem Vorjahr, eines (Подражание арабскому) steht ganz isoliert und weist wohl auf Eindrücke des armenischen Feldzuges von 1829 zurück. Dagegen ist die angefangene Übersetzung der Horaz-Ode «кто из богов мне возвратил...»“, wie L. M. Arinštejn gezeigt hat, an Küchelbecker gerichtet als Reaktion auf die Nachricht, dass dieser – wie andere Dekabristen – aus der Haft entlassen worden war, freilich mit der Auflage, in Sibirien zu verbleiben. Dies konnte nur verschlüsselt mitgeteilt werden.7 Drei Anakreon-Oden (des originalen Anakreon, nicht der hellenistischen Anakreontea!) werden gewöhnlich als Versatzstücke für die geplante Erzählung „Aus dem römischen Leben“ angesehen, obwohl zumindest die Ode Nr. 56 «Поредели, побелили...», in welcher der Dichter, dessen Haar schon ergraut, an den Tod denkt, durchaus in Puškins Stimmungslage des Jahres 1835 passt. 6

7

Hier sei an die zwei Dante-Parodien und die Übersetzungen aus Catull (1832), aus Horaz, Ion von Chios, Athenaios und Xenophanes dem Kolophonier (1833) erinnert sowie an die „Lieder der westlichen Slaven“ nach Prosper Merimée und Vuk Karadžić (1834). Dennoch scheinen mir die Imitationen der beiden letzten Jahre – seien es Übersetzungen oder andere Formen der Nachahmung – eine neue und wesentlich andere Qualität zu haben. „О первый из друзей моих“ (непрочитанное послание Пушкина кюхельбекеру); in: ARINŠTEJN (1998: 168–177).

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Neben dem Gefühl des Alterns – auch Puškin beginnt schon zu ergrauen – gibt es anderes, was ihn damals bedrückt. Dazu gehört, wie man weiß, seine finanzielle Lage angesichts der wachsenden Familie und verlegerischer Misserfolge. Er spricht davon in den Briefen – und er übersetzt einen Abschnitt aus Barry Cornwall: О бедность! затвердил я конец урок твой горький! Чем я заслужил Твое гоненье, властелин враждебный, Довольства враг, суровый сна мучитель? ... Что сделал я, когда я был богат, О том упоминать я не намерен: В молчании добро должно твориться, но нечего об этом толковать. Здесь пищу я найду для дум моих, Я чувствую, что не совсем погибнул Я с участью моей. – (Puškin III: 402)

Hier bricht die Übersetzung ab – sehr typisch für Puškins Übersetzungen, die fast nie zu Ende geführt wurden. Dies scheint mir ein Hinweis darauf zu sein, dass Puškin immer nur das und nur soviel von einer Vorlage übersetzte, wie ihm für den Ausdruck seiner eigenen Empfindungen und Gedanken wichtig war. Das gilt in besonderem Maße für die подражания der letzten Jahre. Manchmal genügten wenige Zeilen, um Puškins eigene Kreativität in Gang zu setzen. So gibt es 1835 zwei Entwürfe, die einen bei Byron (im „Mazeppa“) bzw. bei Coleridge (in „Complaint“) gefundenen Gedanken festhalten. Byron:

Puškin:

The power and glory of the war, Faithless as their vain votary, men8

Власть и Слава как их поклонник, род людской9

Coleridge:

Puškin:

How seldom, friend! A good great man inherits Honour or wealth, with all his worth and pains! (Coleridge 1951: 271)

как редко плату получает Bеликий добрый человек. (Puškin III: 470)10

Beide Gedanken entwickelt Puškin dann in dem großen eigenen Gedicht «Полководец», das mit dem verzweifelten und vernichtenden Urteil endet: О люди, жалкий род, достойный слез и смеха! Жрецы минутного, поклонники успеха! как часто мимо вас проходит человек, над кем ругается слепой и буйный век. (Puškin III: 380)

8 9 10

„Mazeppa“, stanza I (ByRON 1959: 341). PUŠKIN (III: 1064). Variante des Fragments «To было вскоре после боя» (III: 470). Dort genauer: «как редко плату получает B‹еликий› д‹обрый› чел‹овек›.»

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Puškin

Und in eben diesem Gedicht «Полководец» wird das zweite große Thema des Jahres 1835 angeschlagen, das Thema der Todessehnsucht des großen Menschen, der gescheitert ist und gedemütigt wurde. Der Held des Gedichts, General Barclay de Tolly, sucht, nachdem man ihm den Oberbefehl abgenommen hatte, in der Schlacht bei Borodino den Tod, aber vergeblich: Бросался ты в огонь, ища желанной смерти, – Вотще! (Puškin III: 379)

Dass wir es hier mit einer Identifikation des Dichters mit seinem Helden zu tun haben, so wie er sich 1821 mit Ovid und 1825 mit Chénier identifiziert hatte, wird zur Gewissheit, wenn wir sehen, dass er im gleichen Jahr das Thema der unerfüllten Todessehnsucht eines Gescheiterten in einem fremden Text vorfindet und nachgestaltet. Es handelt sich um Teile von Robert Southeys Tragic poem „Roderick, the last of the Goths“ (1814). Diese aus 25 Cantos bestehende, über 3.500 Verse lange Erzählung komprimiert Puškin auf drei Abschnitte von zusammen 28 Vierzeilern, wobei jede Zeile statt fünf Jamben vier Trochäen enthält, die weitgehend auf den Reim verzichten und damit dem Charakter spanischer Romanzen nahe kommen. Erzählt wird das Schicksal des letzten Westgotenkönigs Roderich, der in der verlorenen Schlacht mit den Arabern nicht fällt. Southey schreibt am Ende seines Epos: The arrows pass’ed him by to right and left, The spear-point pierced him not, the scymitar Glanced from his helmet; he, when he beheld The rout complete, saw that the shield of Heaven Had been extendet over him once more, And bowed before its will. (Southey 1909: 341 f.) Puškin macht daraus: но Родрик в живых остался, Бился он все восемь дней – Он сперва хотел победы, Там уж смерти лишь искал. (Puškin III: 379)

Puškin sieht die Situation Roderichs sehr viel negativer als sein Vorbild, und er befasst sich in seinem Gedicht auch mit dem weiteren Schicksal des geschlagenen Roderich. Unter den Entwürfen zur Fortsetzung des unvollendeten Poems befindet sich ein im gleichen Versmaß geschriebenes Fragment, in dem der Dichter zur Ich-Erzählung überwechselt und von einem Traum berichtet: Чудный сон мне Бог послал – С длинной белой бородою В белой ризе предо мною Старец некой предстоял и меня благословлял. Он сказал мне: «Будь покоен, Скоро, скоро удостоен Будешь царствия небес.

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[Скоро странствию земному] Твоему придет конец. уж готов‹ит› ангел смерти Для тебя святой венец ... (Puškin III: 445)

Der Entwurf endet: Сон отрадный, благовещный – Сердце жадное не смеет и поверить и не верить. Ах, ужели в самом деле Близок я к [моей кон‹чине›]? и страшуся и надеюсь: упокой меня, творец. но твоя да будет воля, не моя. – (Puškin III: 446)11

Mit der Begründung, daß dieser Traum nicht in der Reinschrift des „Родрик“ erscheint, wurde er in sowjetischen Ausgaben bestenfalls in den Lesarten abgedruckt und wird (wohl daher) auch in den neueren Auseinandersetzungen über die Religiosität Puškins nur selten zitiert, obgleich er unübersehbar in Parallele gesetzt ist zu Jesu Gebet im Garten Gethsemane. Wahrscheinlich durch Southey, der mit seinem „Roderick“ den Anstoß zu der eben besprochenen Selbstaussage gegeben hatte, wurde auch Puškin auf John Bunyan aufmerksam, dessen Biographie Southey verfasst hat. Und es entsteht eine der umfangreichsten „Nachahmungen“ Puškins, das Gedicht «Странник», dem der Anfang von John Bunyans „The Pilgrim’s Progress“ von 1678 zugrunde liegt. Nur etwa drei Seiten dieses Erbauungsbuches hat Puškin bearbeitet. Aber wie! Er hat nicht nur aus der Prosa Bunyans russische Verse gemacht (paargereimte Alexandriner), er hat vor allem die allegorische Erzählung aus der dritten in die erste Person, also in die Ich-Form, umgesetzt, aus der Allegorie eine Schilderung inneren Erlebens gemacht. Schon Dostoevskij hatte in seiner PuškinRede gefragt: „Ist es wirklich nur eine Übersetzung?“ um dann zu behaupten: Читая эти странные стихи, вам как бы слышится дух веков Реформации, вам понятен становится этот воинственный огонь начинавшегося протестантизма. (Dostoevskij 10: 456)

Damit hat er das Gedicht in sein Schema der angeblichen всеотзывчивость12 Puškins eingereiht – und dabei übersehen, dass es viel mehr über Puškin aussagt als dieses Schema. 11

12

Der Traum wird in der zitierten großen Akademie-Ausgabe unter der Überschrift «Родрик» und bei den Gedichten von 1826–1836 geführt, also sorgfältig getrennt von dem eigentlichen Roderich-Gedicht von 1835, das dort ohne Überschrift (erste Zeile «на испанию родную»; III: 383–386) erscheint. Die Fähigkeit, alles Fremde adäquat aufzunehmen und wiederzugeben.

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Puškin

Entschiedener als im «Родрик» ist hier von Anfang an die Ich-Form gewählt, ebenso wie dort fühlt der Held bzw. das Ich sich nicht genügend vorbereitet auf das Gericht, das ihn nach dem Tode erwartet. Anders als im «Родрик» erscheint hier am Ende ein Licht als Hoffnung, so dass Ogarev zu Recht von einer Halbverzweiflung, Halbprophetie sprechen konnte.13 Von der klassischen Funktion der imitatio her ließe sich vielleicht noch Puškins Hinwendung zu Anakreon und Horaz erklären. Die Ausrichtung nach Barry Cornwall kann mit dem Ansatz Lässt sich das auch im Russischen machen? allenfalls bei den „kleinen Tragödien“ von 1830 erklärt werden, aber sicher nicht mehr bei den Versen über die Armut und auch nicht bei Southey. Und vollends bei dem Puritaner Bunyan versagen diese Erklärungen der Traditionspflege bzw. der Einbürgerung neuer Themen oder Formen. Hier fühlte sich Puškin durch Texte angesprochen, die seiner Erfahrung und Stimmungslage entsprachen und die Möglichkeit boten, Eigenstes auszusagen, ohne sich dadurch vor dem Publikum bloßzustellen. In einigen Fällen hat Puškin zu diesem Zweck ja sogar eine „Nachahmung“ vorgetäuscht, wie etwa in «Выздоровление Лукулла» mit dem Untertitel «из латинского» (1835) oder im folgenden Jahr in dem berühmten Bekenntnis zur Freiheit des Künstlers unter der fingierten Überschrift «из Пиндемонти». Eine Sonderstellung nimmt m. E. unter den Gedichten des Jahres 1835 das mit «из А. шенье» (Puškin III: 382) überschriebene ein. Hier handelt es sich in der Tat um eine Anknüpfung an Chéniers Gedicht „La mort d’Hercule“. Puškin hält sich so weitgehend an den Text der Vorlage, dass Efim Ėtkind dies Gedicht als Musterbeispiel für Puškins Übersetzungskunst ansehen konnte. Bei näherer Betrachtung sind die Differenzen jedoch erheblich. Schon 1825, als Puškin sich in einer großangelegten Elegie mit André Chénier identifizierte, hatte er daran gedacht, dies Gedicht über den Tod des Herkules zu übersetzen, brach dies aber nach wenigen Versen ab. Nun, 1835, fühlt er sich von diesem Thema erneut angesprochen. Der Held, der durch die törichte Gabe seiner eifersüchtigen Frau, das Nessus-Hemd, unerträgliche Schmerzen leidet, sucht und findet den Tod auf dem selbsterrichteten Scheiterhaufen, indes sein unsterblicher Geist in den Himmel entrückt wird. Diese Verknüpfung der Klage und der Todessehnsucht mit dem stolzen Bewusstsein der Unsterblichkeit, was alles bei Puškin noch gewaltiger klingt als bei Chénier, scheint vorauszudeuten auf die großartige Horaz-Imitation des nächsten Jahres (1836) mit der wörtlichen Wiederholung des „Non omnis moriar“ als «нет, весь я не умру» – (Nein, gänzlich sterb ich nicht!). Auch diese seine ‘Summa poetica’ kleidet Puškin in die Form der Nachahmung ebensowohl Horazens wie Deržavins, indem er zugleich seine Verdienste anders versteht als beide Vorgänger: Sie sind weder formaler Art wie Horazens

13

Zu Bunyan vgl. UDOLPH (1987: 151).

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Übernahme äolischer Lieder in italische Weisen, noch gefällig selbstgefällig wie Deržavins Stolz, den Zaren die Wahrheit mit Lächeln gesagt zu haben14 (was auch auf eine horazische Formel zurückgeht – ridentem dicere verum), sondern von tiefem Ernst geprägt: Puškin rühmt sich, и в свой жестокий век восславлил я свободу и милость к падшим призывал. (Puškin III: 424)

Wieder bedient sich Puškin der traditionellen Form, um Eigenstes auszusagen, und setzt damit der romantischen Verherrlichung des Individuell-Einmaligen seine klassische Normstiftung entgegen. Darüber hinaus erhält aber die klassische Norm ihre spezifisch russisch-orthodoxe Ausprägung durch die Einfügung des Epithetons, нерукотворный, womit der Dichter sein Werk als nicht von Menschenhand geschaffen, als göttlicher Gnade entsprungen, versteht und darstellt.

Literaturverzeichnis ARINŠTEJN, L. M. (1998): Пушкин – непричесанная биография. Москва. BOILEAU-DESPRéAUX, Nicolas (1876): Œuvres poétiques. Paris. ByRON, George Gordon, Lord (1959): The Poetical Works of Lord Byron. London/New york/Toronto. COLERIDGE, Samuel Taylor (1951): The Poems of Samuel Taylor Coleridge. London (et al.). DERŽAVIN, G. R.: Стихотворения (Библиотека поэта, Большая серия). Ленинград 21957. DOSTOEVSKIJ, F. M.: Собрание сочинений в десяти томах. Москва 1958. HORAZ. Die Gedichte des Horaz. Lateinisch und deutsch. München 31949. OSTOLOPOV, N. F. (1821/1971): Словарь древней и новой поэзии. München 1971. ND der Ausgabe Petersburg 1821. PUŠKIN, A. S.: Полное собрание сочинений (в шестнадцати томах). Москвa 1937–1949. PUŠKIN, Vasilij L’vovic (1893): Сочинения В. Л. Пушкина, изданные под редакциею В. и. Саитова. С. Петербург. SETSCHKAREFF, Vsevolod (1949): Geschichte der russischen Literatur im Überblick. Bonn. SOUTHEy, Robert (1909): Poems of Robert Southey. Ed. by Maurice H. Fitzgerald. London/New york/Toronto/Melbourne. UDOLPH, Ludger: Puškins „Strannik“ als religiöse Dichtung. In: Zeitschrift für Kulturaustausch 1/1987 (Stuttgart). 151–158. 14

«истину царям с улыбкой говорить» aus: «Памятник», zitiert nach DERŽAVIN (1957: 233).

«Как Сади некогда сказал …» (Из наблюдений над «ориентализмом» А. С. Пушкина)

Когда в связи с Пушкиным звучит имя персидского поэта Саади, оно сразу же ассоциируется с эпиграфом к поэме «Бахчисарайский фонтан»: «Многие, так же как и я, посещали сей фонтан: но иных уже нет, другие странствуют далече. Саади». Как известно, Пушкин еще несколько раз возвращался к этой цитате. Так, она фигурирует в черновом варианте известного стихотворения «На холмах Грузии лежит ночная мгла…» 1829 г. – «Иные далеко, иных уж в мире нет» (между прочим, без указания на Саади). Через год, в болдинскую осень, цитата принимает самую краткую, сжатую форму в последней строфе «Онегина»: Иных уж нет, а те далече –

с указанием источника: «Как Сади некогда сказал». Кроме того, Пушкин несколько раз упоминал эту же цитату в письмах и прозаических текстах, всегда в той же форме и функции, что и эпиграф к «Бахчисарайскому фонтану». Первое такое упоминание встречается в письме Вяземскому, написанном 14 октября 1823 г. из Одессы. Там читаем: «“Бахчисарайский фонтан“, между нами, дрянь, но эпиграф его прелесть» (XIII, 70). Тот же эпиграф вскользь упоминается в письме Бестужеву от 8 февраля 1824 г. Шестью годами позже, в Болдине, Пушкин начал писать обзор критических отзывов о своих произведениях на протяжении всей литературной деятельности. Обзор этот не закончен и только частично опубликован. В новых изданиях он печатается под заглавием «‹Опровержение на критики›».Там Пушкин сообщает, между прочим, что «‹Бахчисарайский фонтан› в рукописи назван был „Гаремом“, но меланхолический эпиграф (который, конечно, лучше всей поэмы) соблазнил меня» (XI, 159). И это сообщение дословно повторяется в напечатанной в 1831 г. статье «Возражение критикам „Полтавы“». Таким образом, одна-eдинственная цитата из Саади в произведениях Пушкина с 1822 по 1831 г. упоминается прямо или косвенно семь раз, причем еще два раза – в черновых набросках цитируемых текстов. А в указателе имен – большого академического издания Саади представлен 15 раз. Где же еще шесть упоминаний? Это одно опубликованное и одно незаконченное стихотворение, оба с черновыми вариантами, и одно письмо. Опубликованное стихотворение – «В прохладе сладостной фонтанов...». Оно написано в 1828 г. и тематически связано если не прямо с Бахчисараем, то по крайней мере с Крымом. В окончательном тексте стоит:

276 [Любили] Крым сыны Саади

Puškin (III (1), 129)

вместо первоначальных вариантов Крым любил Саади

(III (2), 676)

поэт Шираза милый

(III (2), 677)

то есть Пушкин сперва говорит о самом Саади, как будто побывавшем в Крыму, а потом употребляет имя персидского поэта только еще в генеалогической метафоре «сыны Саади», обозначающей вообще восточных поэтов, или «краснобаев». В 1829 г. на пути в Арзрум Пушкин встречает персидского поэта Фазиль Хана, который отправляется на север в Россию. Пушкин набрасывает несколько строк, в которых он уверяет, что и на суровом севере … Гафиза и Саади знакомы имена.

(III (1), 160)

Самое интересное упоминание Саади, опять вместе с его земляком Гафизом – и даже с Магометом, находим в письме Вяземскому от конца марта – начала апреля 1825 г. из Михайловского. И в этом письме речь идет о «Бахчисарайском фонтане». Пушкин объясняет: «Слог восточный был для меня образцом, сколько возможно нам, благорaзумным, холодным европейцам. Кстати еще – знаешь почему не люблю я Мура? – потому что он чересчур уже восточен. Он подражает ребячески и уродливо – ребячеству и уродливости Саади, Гафиза и Магомета. – Европеец, и в упоении восточной роскоши, должен сохранить вкус и взор европейца. Вот почему Байрон так и прелестен ‹…›» (XIII, 160). К этому тексту я еще вернусь. Пока же хочется подчеркнуть, что этим – воспоминания Саади у Пушкина исчерпаны. Все они так или иначе связаны с «Бахчисарайским фонтаном» и его эпиграфoм. Не думаю, чтобы это было достаточным основанием для подтверждения высказывания одного востоковеда, будто Саади был любимым поэтом Пушкина. А другой востоковед уверяет даже, что Пушкин «охотно изучал персидский, турецкий и древнееврейский языки». Все это невероятные преувеличения. Между тем мало изучен пока вопрос, откуда Пушкин знал восточную литературу, на чем основаны его суждения о ее ребячестве и уродливости. Скорее всего из Сисмонди, прежде всего из главы «Литература арабов», содержащейся в первой из четырех книг «de la Littérature du midi de l’Europe», вышедших в 1813 г.1 Там можно было прочитать такие упреки, как, например: рискованные метафоры, изобилие искуственности, злоупотребление фантазии и тому подобное.

1

SISmondI L. Ch. de la Littérature du midi de l’Europe. [En 4 t.]. Paris; Strasbourg, 1813.

«Как Сади некогда сказал …»

277

Но как бы то ни было, несмотря на «ребячество и уродливость», Пушкин все-таки восхищался эпиграфом, взятом из Саади, все-таки трудился, по собственному выражению, «во славу Корана», все-таки поставил над одним из стихотворений 1829 г. заглавие «Из Гафиза», хотя это и была мистификация. И совершенно так же непринужденно он цитировал прямо и косвенно того же Томаса Мура, которого ругал за слишком уж восточный слог его поэмы «Лалла Рук». Напомню в этой связи первое упоминание о Муре в письме Вяземскому от 2 января 1822 г.: «Жуковский меня бесит – что ему понравилось в этом Муре? чопорном подражателе безобразному восточному воображению? Вся «Лалла Рук» не стоит десяти строчек „Тристрама Шанди“ ‹…›». (XIII, 34). Поэма «Лалла Рук» появилась в 1817 г. и сразу же была воспринята с восторгом всей Европой. Пушкин познакомился с этим произведением по французскому переводу Пишо, опубликованному в 1820 г. Отрицательная оценка, однако, не помешала ему цитировать отдельные места, прежде всего как раз те приписываемые Саади строки, которые ему пригодились как эпиграф к «Бахчисарайскому фонтану». Так что тут, возможно, обошлось и без всякой причастности персидского автора. Несколько позже появилось стихотворение Жуковского «Лалла Рук», навеянное выступлением супруги великого князя Николая Павловича в роли принцессы Лалла Рук во время придворного празднества в Берлине в 1821. Жуковский, который тогда присутствовал на этом празднестве, был тайным поклонником великой княгини и пользовался именем «Лалла Рук» для прикрытия настоящего адресата своих стихов. В этих стихах встречается строка «Гений чистой красоты», использованная потом Пушкиным в его шедевре «Я помню чудное мгновенье...». А в одном наброске к восьмой главе «Евгения Онегина» выступает та же Александра Федоровна – теперь уже императрица – опять под именем Лалла Рук. Почти в то же время, в 1829 г., в записках о кавказском походе, позже опубликованных под названием «Путешествие в Арзрум», Пушкин в описании Тифлиса еще раз цитирует из «Лалла рук» (теперь даже по-английски) строки о грузинских девушках. Все это, как мне кажется, говорит о каком-то неоднозначном отношении Пушкина к восточному слогу, к восточной поэзии. Что касается Саади, названного Байроном «морализирующим поэтом», нельзя утaить еще одно обстоятельство. Почти единодушно все исследователи, занимавшиеся стихотворением 1835 г. «Подражание арабскому», признали, что встречающаяся там метафора «двойной орешек / под одною скорлупой» восходит к «Гулистану» Саади. Там персидский поэт описывает свое отношение к одному ученику и близкому другу именно при помощи метафоры «двойного миндального орешка под одною скорлупой».

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Puškin

Это место находится в «Гулистане» в главе «Любовь и юность», где речь идет почти исключительно об отношениях старших и младших лиц мужского пола. Интересно, что Гете в своих комментариях к «Западно-восточному дивану» цитирует ту же главу «Гулистана», чтобы объяснить основание «книги виночерпия». Тут, естественно намечается какая-то внутренняя связь с пушкинским стихотворением «Из Гафиза», обращенным к «красавцу молодому», – но это уже другая история, как Киплинг некогда сказал...

Tjutschew und Puschkin Es ist schwer, in Deutschland über das Verhältnis zweier russischer Dichter zueinander zu sprechen, von denen einer – Puschkin – gerade dem Namen nach, der andere – Tjutschew – nicht einmal dem Namen nach bekannt ist. Zwar ist dankbar anzuerkennen, dass und wie sich Frau Lukina und MIR engagiert haben, um dieser Unkenntnis entgegenzuwirken, aber es bleibt doch immer noch schwer genug, über diese beiden wenig bekannten aber wahrhaft großen Lyriker und ihr Verhältnis zueinander zu berichten. Die Schwierigkeit wird dadurch nicht geringer, dass es sogar in Russland selbst durchaus widersprüchliche Ansichten über dies Verhältnis gegeben hat und teilweise noch heute gibt. In Anbetracht dieser Ausgangslage möchte ich mich ausschließlich an belegbare Fakten halten. Darum schauen wir zunächst einmal, was unbestritten ist. Tjutschew ist, ebenso wie Puschkin, Spross eines alten russischen Adelsgeschlechts. Er ist vier Jahre jünger als Puschkin, aber seine Lebenszeit ist fast doppelt so lang. Es ist nicht bekannt, dass oder ob sie sich jemals persönlich begegnet sind. Fest steht, dass Tjutschew sich seit 1822, d. h. seit seinem 19. Lebensjahr, und bis nach Puschkins Tod 1837 überwiegend im Ausland – darunter am längsten in München – aufgehalten hat. Puschkin dagegen hat Russland nie verlassen dürfen und durfte sich von 1820–1826 sogar innerhalb Russlands nicht frei bewegen. Unter diesen Umständen war es für ihn schwierig, etwas über Tjutschew zu erfahren, während Tjutschew immerhin die Möglichkeit hatte und auch nutzte, das, was von Puschkin veröffentlicht wurde, kennen zu lernen. Aber nicht nur das. Tjutschew war gerade 17 Jahre alt, als er Puschkins damals in illegalen Abschriften kursierende Ode „Freiheit“ kennen lernte und darauf mit einem Gedicht reagierte, das natürlich gleichfalls unveröffentlicht blieb. Ich erlaube mir, Ihnen diese erste Reaktion Tjutschews auf Puschkin in einer wörtlichen Übersetzung vorzustellen, die auf Metrum und Reim verzichtet. Das Gedicht, das ebenfalls den Odenstil nachahmt, besteht aus drei Strophen. In der ersten Strophe begrüßt der 17jährige mit schwungvoller Rhetorik die Puschkinsche Ode. Das hört sich so an: Vom Feuer der Freiheit lodernd Und das Klirren der Ketten übertönend Ist in der Leier der Geist des Alkaios erwacht, Und der Staub der Sklaverei ist fortgeweht. Von der Leier sind Funken gestoben Und mit zerschmetterndem Strahl Wie Gottes Flamme niedergefahren Auf die bleichen Stirnen der Zaren.

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Also volle, lobende Zustimmung zum Tenor der Puschkinschen Freiheitsode, jenem Gedicht, dem Puschkin seine Entfernung aus Petersburg und die Strafversetzung nach Bessarabien verdankte. In der zweiten Strophe wird das Lob wiederholt, nunmehr auf den Dichter Puschkin bezogen: Glücklich, wer dazu geboren ist, Mit fester, kühner Stimme Eingefleischten Tyrannen Ohne Rücksicht auf Rang und Thron Heilige Wahrheiten zu verkünden! Auch du, о Zögling der Musen, Bist durch solches Los geehrt.

Darauf folgt in der dritten Strophe die Anrede an den Dichter, verbunden mit Vorschlägen und Mahnungen. Das klingt so: So singe denn, und mit der Macht der süßen Klänge Mildre, rühre, verwandle Die kalten Freunde der Autokratie In Freunde des Guten und der Schönheit! Aber erschrecke nicht die Ruhe der Bürger Und verfinstre nicht den Glanz der Krone, Sänger! Unter dem königlichen Brokat Sollst du mit deinem zauberstarken Saitenspiel Erweichen und nicht beunruhigen die Herzen!

In dieser letzten Strophe distanziert sich Tjutschew vom revolutionären Pathos Puschkins und fordert ihn auf, die Ruhe der Bürger nicht zu erschrecken, den Glanz der Krone nicht zu verfinstern und die Herzen zu erweichen, statt sie aufzuwühlen – ein ganzes Programm konservativer Beschwichtigung des 17jährigen an die Adresse des 21jährigen Feuerkopfs, den er gleichzeitig als Klangzauberer anerkennt. Es ist nicht bekannt, ob Puschkin dies Gedicht jemals zu Gesicht bekommen hat. Veröffentlicht wurde es erst aus dem Nachlass Tjutschews 1887, d. h. 50 Jahre nach Puschkins Tod – und auch da noch mit zensurbedingten Auslassungen. Im Jahre 1826 nimmt Tjutschew Stellung zum Aufstand der Dekabristen. Anlass war die Verkündung der Urteile im Prozess gegen die Aufrührer, von denen bekanntlich fünf zum Tode und 120 zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt wurden. In den zwei natürlich ebenfalls unveröffentlichten Strophen, mit denen Tjutschew auf diese Nachricht reagiert, kommt die gleiche konservative Grundhaltung zum Ausdruck wie in der schon erwähnten Replik auf Puschkins Freiheits-Ode. In dem Gedicht von 1826 werden die Verurteilten als „Opfer eines unvernünftigen Denkens“, als „von der Autokratie verdorben“ und als „zu Recht vom Gesetz bestraft“ apostrophiert. Andererseits wird in der zweiten Strophe die Staatsgewalt einem „eisernen Winter“ und seinem „vernichtenden Hauch“ verglichen Das Gedicht hat keinen direkten Bezug zu Puschkin, zeigt aber die völlig andere Sichtweise

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Tjutschews, der allerdings unter den Dekabristen keine persönlichen Freunde hatte wie Puschkin, und der zudem die Situation vom Ausland her beurteilte und dabei auf die offiziellen Informationen seiner vorgesetzten Behörde angewiesen war. In gewisser Weise spielt diese Ausgangslage auch in dem zweiten Gedicht Tjutschews eine Rolle, das sich direkt auf Puschkin bezieht. Es ist überschrieben: „29. Januar 1837“. Das ist der Todestag Puschkins. Auch dies Gedicht blieb bis 1875 ungedruckt. Es würdigt den Verstorbenen in drei Odenstrophen, die ich wiederum in möglichst wörtlicher Prosa-Übersetzung mitteilen möchte, weil es mir hier nicht um das Kunstgebilde, sondern um die genaue Aussage geht. Hier der Wortlaut: Aus wessen Hand hat das tödliche Blei Dem Dichter das Herz zerrissen? Wer hat dies göttliche Gefäß Zerstört wie ein irdenes Geschirr? Mag er im Recht oder schuldig sein Vor unserer irdischen Gerechtigkeit, Für ewig ist er von einer höheren Hand Gebrandmarkt als „Zarenmörder“.

In dieser ersten Strophe spürt man noch die Unsicherheit in der Beurteilung des Duellgegners d’Anthès – kein Wunder, da Tjutschew auf Gerüchte oder amtliche Verlautbarungen angewiesen war, und die kamen aus dem Außenministerium, dem Graf Nesselrode vorstand, dessen Frau eine Intimfeindin Puschkins war. Gegen Ende der Strophe löst sich Tjutschew aber von Fremdurteilen und bezeichnet d’Anthès in einem höheren Sinne als „Zarenmörder“ d. h. er erkennt Puschkin den Rang eines Zaren zu, wobei dieses Wort immer auch eine sakrale Würde bezeichnet. Die zweite Strophe wendet sich an den Schatten des Dichters: Doch du, der in unzeitige Finsternis Plötzlich der Welt entrückte, Friede, Friede sei dir, о Schatten des Dichters, Trotz dem Geschwätz der Menschen War dein Los groß und heilig! ... Du warst der Götter lebendige Orgel, Aber mit Blut in den Adern ... heißem Blute.

Und die letzte Strophe fährt fort: Und mit diesem edlen Blute Hast du den Durst der Ehre gelöscht – Und bist entschlafen, überschattet Vom Banner der Trauer des Volkes. Deine Feindschaft mag Der beurteilen, Der das vergossene Blut empfindet ... Dich aber wird, wie die erste Liebe, Russlands Herz nicht vergessen.

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Puškin

In dieser Strophe findet Tjutschew zu einer großartigen Würdigung Puschkins, die seine menschlichen Schwächen nicht übersieht – das sagt der Hinweis auf das „heiße Blut“ – aber dem toten Dichter über den königlichen oder ZarenRang hinaus bestätigt, er sei die „Orgel der Götter“ gewesen und werde „überschattet vom Banner der Trauer des Volkes“ Das alles mündet in die beiden Schlusszeilen in die bis heute gültige und gern zitierte Formel: Tebja ž, kаk pervuju ljubov’ Rossii serdce ne zabudet.

Ich habe diese Zeilen absichtlich auf russisch zitiert, da sie verschiedene Übersetzungen zulassen. So könnte es heißen: Dich aber wird, wie die erste Liebe, Russlands Herz nicht vergessen

oder: Dich aber wird, als seine erste Liebe, Russlands Herz nicht vergessen.

Damit ist alles gesagt, was Tjutschew über Puschkin sagen konnte. Und wie oft werden diese Zeilen zitiert, ohne dass man weiß, dass sie von Tjutschew stammen! Und wenn man es weiß, so ist es oft das Einzige, was man von Tjutschew im Gedächtnis behalten hat. Und in diesem Vergleich mit der ersten Liebe ist zugleich gesagt, was Gogol’ wenige Jahre später mit den Worten ausdrückte: „Puschkin kann man nicht wiederholen“. Schauen wir nun die andere Seite des Verhältnisses Tjutschew – Puschkin an, die Seite Puschkins Ich hatte schon gesagt, dass Puschkin über Tjutschew wenig erfahren konnte, da dieser im Ausland lebte. Hinzu kommt, dass er äußerst wenig veröffentlichte, sodass Puschkin auch seine Dichtung kaum kannte und beurteilen konnte. Daher ist es nicht verwunderlich, dass es keine direkten Stellungnahmen gibt. Vielleicht mit einer einzigen Ausnahme: Hier muss ich ein wenig ausholen. Im Sommer 1830 schreibt Puschkin, der vergeblich auf die Zustimmung der Mutter seiner angebeteten Natalie Gontscharowa wartet und zudem hässlichen Presse-Angriffen ausgesetzt ist, an seinen Freund Pletnjow: Ich reise jetzt aufs Land. Gott weiß, ob ich dort werde arbeiten können und die moralische Ausgeglichenheit wieder finde, ohne die man nichts zustande bringt als giftige Epigramme.

Puschkin war öfter in solcher Stimmung und hat so manche giftigen Epigramme geschrieben, darunter auch eins über das Epigrammschreiben. Es ist überschrieben „Die Insektensammlung“. Michael Engelhard hat es wie folgt übersetzt:

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Hier meinen Schatz von Käfertieren Wünsch ich den Freunden vorzuführen: Seht her, ich habe jede Art! Wo hab ich sie nicht ausgescharrt! Doch dafür: welch ein Kollektiönchen! Seht hier das goldene Glinka-Dröhnchen, Und hier die Katschenowski-Spinne, Und das hier ist Swinjin, der dünne, Und Olin hier, das schwarze Tierchen, Hier Raïtschs kleines Kerbfigürchen. Hier sieht man jedes seltne Biest! In Reihen, hinter Glas und Rähmchen Steht jedes, reinlich aufgespießt Auf einem spitzen Epigrämmchen.

So amüsant das sein mag, Sie fragen zu Recht, was hat das mit Tjutschew zu tun? Nun, Herr Engelhard hat nur eine der überlieferten Versionen übersetzt und nur die Namen damaliger Literaten verwendet, die als gesichert gelten Denn natürlich waren die Namen in den beiden gedruckten Fassungen durch Sternchen ersetzt. Dadurch kam es zu einem Rätselraten, wer gemeint sei und zu einem ziemlichen Wirbel. Das Rätselraten setzte sich später in der Puschkin-Forschung fort, und man griff auf Handschriften zurück. Und darunter gab es eine, in der ein Name angedeutet war, und zwar durch den Anfangs- und den Endbuchstaben: T und w. Es wird vermutet, dass dies auf Tjutschew hindeute. Das ist nicht unmöglich, aber auch nicht sehr wahrscheinlich. Warum? Das giftige Epigramm ist im Sommer 1829 geschrieben. Zu dieser Zeit waren ganze acht Gedichte Tjutschews erschienen, sowie ein paar Übersetzungen aus Horaz, Lamartine, Schiller und Heine, über acht Jahre verteilt und in sechs verschiedenen kleinen Almanachen. Puschkin dürfte sie kaum alle gekannt haben. Und selbst wenn, wäre das zu wenig für ein fundiertes Urteil. Zudem hat er nie ein Epigramm auf Tjutschew geschrieben. Eindeutig und voll ausgeschrieben taucht der Name Tjutschew ein Jahr später, 1830, auf, in einer Rezension des Almanachs „Dennica“ Dort war ein Literaturüberblick über das Jahr 1829 von Iwan Kirejewski erschienen, zu dem Puschkin u. a. bemerkt: Von den jungen Dichtern der deutschen Schule erwähnt Herr Kirejewski Schewyrjow, Chomjakow und Tjutschew. Das wirkliche Talent der beiden ersten ist unbestritten.

Daraus hat man schließen wollen, dass Puschkin Tjutschew kein wirkliches Talent zuerkannte. Man hätte lieber nachlesen sollen, was bei Kirejewski stand. Der hatte nämlich folgendes geschrieben: Unter den Dichtern der deutschen Schule zeichnen sich die Namen von Schewyrjow, Chomjakow und Tjutschew aus. Letzterer hat jedoch im vergangenen Jahr nur ein Gedicht drucken lassen.

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Puschkin konnte demnach gar kein Urteil über Tjutschew fallen, einfach mangels Masse, während ihm Schewyrjow und Chomjakow sowohl persönlich als auch in ihren Gedichten gut bekannt waren. Hier noch ein interessantes Detail: sowohl Kirejewski als auch Puschkin sprachen von Dichtern „der deutschen Schule“. Damit sind die Moskauer Schellingianer und Goethe-Verehrer gemeint, die sich selbst Ljubomudry nannten, Liebhaber der Weisheit – eine Übersetzung des griechischen Wortes Philosophen. Zu ihnen gehörte außer den genannten Schewyrjow und Chomjakow auch der Rezensent Kirejewski. Ihnen hatte auch Tjutschews Mentor Raïtsch eine Zeit lang nahe gestanden, hatte sich dann aber von ihnen getrennt und eine eigene Zeitschrift „Galathea“ herausgebracht. Das Interessante ist nun, dass offenbar weder Kirejewski noch Puschkin diese Zeitschrift eines Blickes gewürdigt haben, denn dort waren 1829 immerhin sieben Gedichte Tjutschews erschienen. Auch 1830 hat Tjutschew nochmals acht Gedichte veröffentlicht. Danach nimmt die Anzahl wieder ab: 1831 erscheinen drei Gedichte und eine Übersetzung, 1832 drei Gedichte, 1833 ein Gedicht und eine Übersetzung, 1834 zwei Gedichte und 1835 gar nichts. Das Bild ändert sich vollkommen im Jahre 1836. Und das hat mit einigen Personen zu tun, die damals in der russischen Gesandtschaft in München einund ausgingen. Es handelt sich um die Frau von Tjutschews älterem Kollegen Baron von Krüdener, Amalie, die Tjutschew einst geliebt und in Gedichten besungen hatte und um einen jüngeren Kollegen, den damals 21jährigen Fürsten Iwan Gagarin. Gagarin war Ende 1835 nach Russland gekommen und hatte erfahren müssen, dass niemand von den dortigen führenden Literaten, Shukowski, Baratynski und eben auch Puschkin etwas von Tjutschews Gedichten wusste, die er selbst sehr schätzte. Er drängte daraufhin Tjutschew brieflich, möglichst viele Proben seiner Kunst nach Russland zu schicken. Eine beträchtliche Anzahl brachte dann 1836 Amalie von Krüdener aus München mit, als ihr Mann nach Petersburg versetzt wurde. Gagarin erfuhr auch, dass eine Reihe von Gedichten sich bei Raïtsch befand, dessen Zeitschrift inzwischen eingegangen war. Die Abschrift und die Weitergabe an Puschkin, der gerade eine neue Literaturzeitschrift gestartet hatte, erfolgte durch Gagarin. Dieser hatte insgesamt 52 Tjutschew-Gedichte abgeschrieben, von denen er Puschkin zunächst 29 zukommen ließ. Am 12. Juli 1836 schreibt Gagarin an Tjutschew, dass, Puschkin [die Gedichte] schätzt, wie es ihnen zukommt, und mit sehr viel Sympathie auf sie reagiert“ habe. Tatsächlich lässt er 24 von den 29 in seiner Zeitschrift Sowremennik (der Zeitgenosse) abdrucken, und zwar an hervorgehobener Stelle. So wird das dritte Неft der Zeitschrift mit 16 Tjutschew-Gedichten eröffnet. Sie erscheinen unter der Überschrift „Gedichte, die aus Deutschland zugesandt wurden“, und unter dem letzten Gedicht der Gruppe stehen die Initialen F. T. sowie der Ortsname München. Allein diese Platzierung spricht für die hohe Wertschätzung Puschkins. Sie wird noch unterstrichen durch die Tatsache, dass Puschkin sich wegen

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eines der Gedichte mit der Zensur anlegte, indem er darauf bestand, dass die zwei vom Zensor gestrichenen Strophen durch jeweils vier Zeilen Punkte gekennzeichnet werden sollten, was dann auch geschah. Im nächsten Неft der Zeitschrift erschienen dann die übrigen acht Tjutschew-Gedichte als zweiter Text nach einem Prosastück des damals berühmten Denis Dawydow und vor Puschkins Hauptmannstochter. Überschrift und Unterschrift waren die gleichen wie im vorigen Неft, ja es wurde auf die schon vorher abgedruckten Gedichte durch eine eigene Fußnote hingewiesen. Das vierte Неft des „Zeitgenossen“ war das letzte, das Puschkin noch selbst redigieren konnte. Es erschien wenige Wochen vor seinem Tode. Auch in den folgenden vier Jahren wurden insgesamt 15 Tjutschew-Gedichte im „Zeitgenossen“ abgedruckt. Damit ist eigentlich alles berichtet, was man sicher über das Verhältnis Tjutschew-Puschkin weiß. Erstaunlich ist aber, dass trotz der offenbar großen Wertschätzung der Tjutschewschen Dichtung durch Puschkin der Bekanntheitsgrad des jüngeren Dichters beinahe bis heute hinter seinem wahren Rang als Lyriker zurückblieb. Im allgemeinen Bewusstsein galt als zweiter Lyriker nach Puschkin immer Lermontow, dessen Name оft in einem Atemzug mit dem Puschkins genannt wurde und wird, so wie man bei uns sagt Goethe und Schiller. Allerdings urteilten die großen russischen Autoren anders. Dostojewski hielt Tjutschew für den größten Lyriker Russlands außer Puschkin, und Tolstoi äußerte gar, dass man ohne Tjutschew nicht leben könne. Zwar sei Puschkin breiter angelegt, dafür Tjutschew tiefer. Das mag ein etwas überspitztes Urteil sein, aber da es von Tolstoi stammt, ist es vielleicht doch bedenkenswert. Ich persönlich halte es da eher mit Dostojewski. Aber ich bin froh, dass man hier in München sich gern an Tjutschew erinnert hat und er vielleicht dadurch der unverdienten Vergessenheit entrissen wird. Gestatten Sie, dass ich zum Abschluss hier beide Dichter selbst zu Wort kommen lasse. Ich habe dafür zwei Texte ausgewählt, die beide den Herbst zum Gegenstand haben. Keiner der beiden Dichter hat den jeweils anderen Text gekannt, als er seinen schrieb. Ich habe beide Texte übersetzt, möchte sie aber jeweils zuvor auf russisch vorlesen. Von Puschkin weiß man, wie sehr er den Herbst liebte, und dass er im Herbst seine fruchtbarste Arbeitszeit hatte. Der Text, den wir gleich hören werden, ist eine Strophe aus seinem großen Herbstgedicht von 1833: Унылая пора, oчей очарованьe, Приятна мне твоя прощальная краса. Люблю я пышное природы увяданье, В багрец и золото одетые леса. В их сенях ветра шум и свежее дыханье, И мглой волнистою покрыты небеса. И редкий солнца луч, и первые морозы, И отдаленные седой зимы угрозы.

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Auf deutsch. О schwermutreiche Zeit, vom Augenrausch geblendet, Ist mir dein Abschiedsprunk so lieblich und so hold. Ich liebe die Natur, die welkend sich verschwendet, Die Wälder im Gewand von Purpur und von Gold, Den Wind, der frischen Hauch durch Kronen rauschend spendet, Den Nebel, der sich schwer vor helle Himmel rollt, Den seltnen Sonnestrahl, und erster Fröste Lohen, Und ganz von Ferne schon eisgrauen Winters Drohen.

Tjutschews Gedicht ist 1830 entstanden und überschrieben „Herbstabend“ Осенний вечер Есть в светлости осенних вечеров Умильная, таинственная прелесть: Зловещий блеск и пестрота дерёв, Багряных листьев томный, легкий шелест, Туманная и тихая лазурь Над грустно-сиротеющей землёю, И, как предчувствие сходящих бурь, Порывистый, холодный ветр порою, Ущерб, изнеможенье – и на всём Та кроткая улыбка увяданья, Что в существе разумном мы зовём Божественной стыдливостью страданья.

Auf deutsch: Herbstabend Es liegt im Licht der Herbstesabendstund Ein rührendes, geheimnisvolles Locken: Der unheilschwangre Glanz, der Bäume Bunt, Der Purpurblätter Rascheln müd und trocken, Das Himmelsblau so neblig still und kühl Über den traurigen, verwaisten Weiten Und, wie als künftiger Stürme Vorgefühl, Ein abgerissner, kalter Wind zuzeiten; Der Schwund, das Siechtum – all das übergleißt Vom stummergebnen Lächeln des Verscheidens, Was man bei sinnbegabten Wesen heißt Die göttliche Verhaltenheit des Leidens.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Puschkin und Plutarch Wenn man den Erinnerungen von Puschkins Schwester ol’ga glauben darf, war Plutarch der erste Autor, den ihr Bruder überhaupt gelesen hat. Sie schreibt:1 Beim Lernen war Aleksandr Sergeevič faul, aber er zeigte schon früh Lust zum Lesen und las schon mit neun Jahren gern Plutarch oder die ilias und die odyssee in der Übersetzung von Bitaubé.2

Annenkov wiederholt das fast wörtlich, allerdings mit einem kleinen Zusatz: ... seit seinem neunten Lebensjahr begann sich bei ihm eine Leidenschaft für das Lesen zu entwickeln, die ihn sein ganzes Leben nicht verließ. Er las, wie es üblich ist, zuerst Plutarch, dann die ilias und die odyssee in der Übersetzung von Bitaubé.3

Der Zusatz wie es üblich ist unterrichtet uns darüber, dass es in russischen Adelsfamilien im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts (Annenkov ist 12 Jahre jünger als Puschkin) normal war, die ersten Schritte der Söhne in selbständiger Lektüre mit Plutarch beginnen zu lassen – sicher mit seinen Parallelbiographien berühmter Griechen und Römer, und natürlich auf französisch (in der Übersetzung von Amyot).4 Wie viel die kleinen Plutarch-Leser damals von ihrer Lektüre verstanden haben, bleibe dahingestellt. Wichtiger wird der griechische Biograph und Moralist wohl für diejenigen geworden sein, die sich als junge Männer und offiziere erneut seinen Schriften zuwandten. Darüber berichtet z. B. der Dekabrist i. D. Jakuschkin in seinen Aufzeichnungen:5 Zu jener Zeit [d. i. 1817/18] liebten wir leidenschaftlich die Alten: Plutarch, Livius, Cicero, tacitus und andere waren für jeden von uns fast schon ständige Begleiter (nastol’nymi knigami).

und das in eben den kreisen, in denen sich damals auch der junge Puschkin bewegte. Bemerkenswert ist, dass sowohl in der kinderlektüre wie auch in der Präsenzbibliothek der potentiellen Revolutionäre die Liste der Autoren mit Plutarch beginnt. Bei dieser Lage der Dinge überrascht es, dass sein name in Puschkins Schriften überhaupt nicht vorkommt. Zwar wird Plutarch in dem dickleibigen 1 2 3

4

5

A. S. Puškin v vospominanijach sovremennikov v dvuch tomach, M. 1985, 1, 31. Paul Jérémi BitAuBé (1732–1808). Es handelt sich um Prosaübersetzungen. P. V. AnnEnkoV: A. S. Puškin. Materialy dlja ego biografii i ocenki proizvedenij, SPb. 1873, S. 12. Jacques AMyot (1513–1593), übersetzte von Plutarch „Vies des hommes illustres“ und „Œuvres morales“. Zapiski, stat’i, pis’ma dekabrista i. D. Jakuškina. Redakcija i kommentarij S. Ja. Štrajcha, M. 1951, S. 20.

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19. Band der großen Akademie-Ausgabe, dem 1997 neu herausgegebenen Registerband, zweimal erwähnt, aber das eine Mal verweist auf einen Brief Vjazemskijs an Puschkin, das andere bezieht sich auf ein vermutetes Plutarch-Zitat in einem Brief Puschkins an Frau Chitrovo. in beiden Fällen wird der name Plutarch nicht genannt. Vjazemskij ergeht sich in Anspielungen, wovon noch zu sprechen sein wird, und das vermeintliche Zitat in dem Brief an die tochter kutuzovs ist 1. lateinisch, 2. verändert und stammt ursprünglich vom älteren Cato. Zudem gibt es eine andere Abwandlung des gleichen Cato-Zitats in einem Brief Puschkins an Gnedič, und in diesem Fall haben die herausgeber des Registerbandes keine Beziehung zu Plutarch vermerkt. Abgewandelt hat Puschkin zweimal Catos berühmtes Ceterum censeo Carthaginem esse delendam – 1823 (in dem Brief an Gnedič) in delenda est censura6 und 1831 (in dem Brief an Frau Chitrovo) in: delenda est Varsovia.7 Dafür brauchte man Plutarch nicht zu bemühen. und somit wird er tatsächlich in keinem von Puschkin verfassten text erwähnt. oder doch? natürlich haben Puschkinisten trotzdem mit indirekten Erwähnungen oder Zitaten gerechnet. Dabei beziehen sich ihre Feststellungen oder Vermutungen fast ausschließlich auf die Auffassung des Caesarmörders Brutus bei Puschkin. die auf Plutarchs Darstellung des Römers beruhe.8 Lediglich n. i. Michajlova glaubt, auch in der berühmten Regieanweisung vom Schweigen des Volkes im Schluss des „Boris Godunov“ eine bis auf Plutarch zurückgehende tradition ausmachen zu können.9 Dagegen ist in der Sekundärliteratur, soweit sie mir zugänglich war, nirgends von einem Gedicht die Rede, das deutlich auf Plutarch anspielt. Es handelt sich um die 1822 an F. n. Glinka (1786–1880) gerichteten Verse: kogda sred’ orgij žizni šumnoj Menja postignul ostrakizm, uvidel ja tolpy bezumnoj Prezrennyj, robkij egoizm. Bez slez ostavil ja s dosadoj Venki pirov i blesk Afin, no golos tvoj mne byl otradoj, Velikodušnyj Graždanin! Puskaj Sud’ba opredelila Gonen’ja groznye mne vnov’, Puskaj mne družba izmenila,

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7 8

9

Puškin. Polnoe sobranie sočinenij. L. 1937–1949, Xiii, 63. Diese Ausgabe wird im weiteren zitiert als PSS mit Band- und Seitenzahl. PSS, XiV, 150. Z. B. M. P. ALEkSEEV: Puškin. Sravnitel’no-istoričeskoe issledovanie, L. 1972, S. 36 und 43, oder B. V. toMAŠEVSkiJ: Puškin, kniga vtoraja. M., L. 1961, S. 60 f. n. i. MiChAJLoVA: k istočnikam remarki „narod bezmolvstvuet“ v „Borise Godunove“, in: Vremennik Puškinskoj komissii, L. 1986, vyp. 20, S. 151 f.

Puschkin und Plutarch

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kak izmenjala mne ljubov’, V moem izgnan’i pozabudu nespravedlivost’ ich obid: oni ničtožny – esli budu toboj opravdan, Aristid.10

Diese Verse schickt Puschkin Anfang Januar 1823 nach Petersburg an seinen Bruder [Lev], der sie Glinka zeigen soll. und er setzt hinzu: umarme ihn für mich und sag ihm, dass er trotz allem der ehrenwerteste Mensch der hiesigen Welt ist.

Das Gedicht ist oft kommentiert worden. noch jüngst hat S. A. kibal’nik es in eine Reihe gestellt mit anderen Gedichten aus kišinev wie dem an Čaadaev11 und der Widmung des „kavkazskij plennik“ an n. n. Raevskij12 und darauf hingewiesen, dass das gemeinsame thema dieser Danksagungen für unterstützung in schwieriger Lage schon im untertitel einer französischen ovid-Übersetzung von 1799 benannt gewesen sei: „L’ami constant“.13 Dies ist natürlich richtig. und Puschkin hatte allen Grund, F. n. Glinka dankbar zu sein. Die Bekanntschaft der beiden rührte schon aus dem Jahre 1817 her, als sie sich im hause Vsevoložskijs bei den Sitzungen der „Grünen Lampe“ trafen. 1820 hatte Glinka sich in seiner Eigenschaft als Gardeoberst z. b. V. beim Petersburger Generalgouverneur Miloradovič für Puschkin verwendet und zumindest mittelbar dazu beigetragen, dass die von Alexander i. vorgesehene Verbannung des aufmüpfigen Dichters (nach Sibirien oder Solovki) umgewandelt wurde in eine dienstliche Versetzung in die südlichen Provinzen.14 Aber damit nicht genug, nachdem Puschkin im Mai Petersburg verlassen hatte, veröffentlichte Glinka im September 1820 im „Syn otečestva“ ein Gedicht unter der Überschrift „An Puschkin“, worin er dem in ungnade gefallenen Verfasser des soeben erschienenen Poems „Ruslan i Ljudmila“ die unsterblichkeit voraussagte.15 Als Dank für diese ungewöhnliche Zivilcourage und Freundestreue widmet ihm Puschkin das uns interessierende Gedicht, in dem er ihn – am Ende der ersten acht Zeilen – einen „großmütigen Bürger“ nennt und am Ende der zweiten acht Zeilen „mein Aristid“. Dazu ist zu vermerken, dass das Reimwort „Bürger“ (Graždanin) mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben ist, was den damals revolutionär klingenden unterton von „citoyen“ noch unterstreicht, und dass der athenische Staatsmann Aristeides (nach 550 – um 467 v. Chr.) in der antiken Überlieferung den Beinamen „der Gerechte“ bekam. 10 11 12 13

14 15

PSS, Xiii, 54 = ii, 273. PSS, ii, 187 ff. PSS, iV, 91 f. S. A. kiBAL’nik: tema izgnanija v poėzii Puškina, in: Puškin. issledovanija i materialy, tom XiV, L. 1991, S. 33–50, hier S. 43. Vgl. u. a. L. A. ČEREJSkiJ: Puškin i ego okruženie, izd. 2-e, L. 1988 s. v. Glinka, F. n. Vgl. u. a. PSS XiX, 978.

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Puškin

im ganzen ist das Gedicht stilisiert auf das antike Athen zur Zeit der Perserkriege. Dazu gehören die „Gelage und kränze“ und der „Glanz Athens“ ebenso wie der ostrakismós (das Scherbengericht), dem der Autor angeblich zum opfer gefallen sei. Gerade dieses griechische Wort (ostrakizm – unübertrefflich reimend mit dem ėgoizm der törichten Menge) weist, ebenso wie der name Aristid auf Plutarch hin, und zwar auf dessen „Leben des themistokles“. Der name Aristid ist bei Puschkin ein hapaxlegomenon, das Wort ostrakizm beinahe auch.16 Sowohl der name wie das athenische Scherbengericht kommen bei Plutarch im „Leben des themistokles“ vor, wo auf Seiten des titelhelden durchaus „Gelage und kränze“ auszumachen sind, während Aristides – auf Betreiben des themistokles – dem ostrakismós zum opfer fällt. Allerdings ist themistokles angesichts der akuten Bedrohung durch die Perser klug genug, Aristides kurz vor der Schlacht bei Salamis nach Athen zurückzurufen. All das steht bei Plutarch, und darauf Spielt Vjazemskij 1825 in einem Brief an Puschkin an.17 Es geht darum, dass Puschkin eine Strophe aus Vjazemskijs Gedicht „Der Wasserfall“ kritisiert und verworfen hatte, was Vjazemskij mit dem Wort ostrakizm andeutet. nun macht der Fürst einige Vorschläge, mit denen man dies urteil abmildern könnte, und erfindet das Verbum poaristidit’. Den schlagendsten Beweis für den Bezug auf Plutarchs „Leben des themistokles“ liefert aber Puschkin selbst in dem nächsten Brief an seinen Bruder (vom 30.1.1823).18 Dort heißt es: ich bin froh, dass Glinka meine Verse gefallen haben – das war meine Absicht. im Verhältnis zu ihm bin ich kein themistokles, wir sind einfach befreundet, und wir haben uns noch nicht wegen eines Jungen gestritten.

Die letzte, spöttische Bemerkung macht den Bezug zu Plutarch eindeutig. Dort hatte es im dritten kapitel des „themistokles“ geheißen: Diese Ehrliebe trieb ihn [d. i. den themistokles] von Anfang an, immer der Erste zu sein. Deshalb suchte er absichtlich die Feindschaft aller Leute in der Stadt, die angesehene Stellungen bekleideten; vornehmlich war es Aristeides, ein Sohn des Lysimachos, der bei allen Gelegenheiten den gerade entgegengesetzten Weg ging. Diese Feindschaft scheint schon aus ihren Jugendjahren zu stammen, da beide nach dem Zeugnis des Philosophen Ariston den schönen Stesileos von keos liebten.19

Damit scheint mir der Bezug zu Plutarch eindeutig belegt zu sein.

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17 18 19

ostrakizm kommt nur noch einmal vor, in dem Artikel über „John tenner“ von 1836 (PSS, Xii, 104), in einer Paraphrase von tocquevilles Darstellung der amerikanischen Demokratie. PSS, Xiii, 221–224, hier 223. PSS, Xiil, 56. Zitiert in der Übersetzung von Wilhelm Ax in: „Plutarch, Griechische heldenleben“. Alfred kröner Verlag, Stuttgart 1933, S. 3.

«Я слишком с Библией знаком», или ветхозаветная Троица у а. С. Пушкина Предлагаемые вашему вниманию наблюдения над одним пушкинским текстом являются как бы дополнением к книге Ирины Юрьевой «Пушкин и христианство», а именно к главе «Безумные шалости»1. вместо предисловия к этой главе исследовательница цитирует статью С. Л. Франка «религиозность Пушкина» (1933). в ней идет речь о каком-то чисто русском задоре цинизма, упоминается выражение Бартенева юродствo поэта, указывается на самую буйную эпоху жизни Пушкина (Кишинев) и на многочисленные кощунства, которые после 1825 г. прекращаются. все пушкинские тексты, приводимые Юрьевой в этой главе, относятся именно к этой эпохе: это одно стихотворение 1817 г., два стихотворения 1821 г., «Гавриилиада» (также 1821 г.), одно стихотворение 1823 г. и одно стихотворение 1824 г. Строчка, служащая заглавием моего доклада, «Я слишком с библией знаком» – взята из стихотворения, написанного в Одессе осенью 1823 г. (ii, 291–292). И эта строчка рифмуется с названием древнего города Содом: знаком – Coдом. Это, между прочим, единственное упоминание Парижа Beтхого завета у Пушкина. И оно как нельзя лучше к месту – письмо и стихотворение обращены к Ф. Ф. вигелю, известному педерасту. американский переводчик и издатель писем Пушкина (Томас Шоу) замечает в своем комментарии: «Стихотворение Пушкина (Проклятый город Кишинев) изобилует аллюзиями на то, что вигель был а sodomite»2. аллюзии эти были, конечно, давно замечены и отмечены в литературе. Несмотря на это, некоторые детали, на мой взгляд, ускользнули от внимания комментаторов, может быть, потому, что они не хотели слишком подробно заниматься темой, которая считалась запретной, или же потому, что они учли слова Пушкина, следующие непосредственно после стихотворения в этом письме: «Не сердитесь, любезный вигель, это стихи – следственно шутка» (Xiii, 71). Но шутка шуткой, а так как это стихотворение уже сто лет печатается во всех серьезных изданиях Пушкина – между прочим, отдельно от остального текста письма, – кажется оправданным исследовать текст его так же, как все другие тексты поэта, опубликованные им и неопубликованные. При таком подходе бросаются в глаза некоторые места, требующие объяснения. Упоминание ветхозаветного Содома так же как и последняя 1 2

Юрьева И. Ю. Пушкин и христианство. M., 1998. С. 51–59. Pushkin A. The Letters / Transl., with Preface, introd. and notes by J. T. shaw. Madison, Milwaukee, London, 1967, p. 169.

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строчка объяснения не требуют. Столь же ясным кажется и сообщение, что Содом «известен вежливым грехом». Тут всякому понятно, о чем речь. Однако что же значит в этом контексте прилагательное вежливым? Скорее всего, это калька, перевод или с французского, или с итальянского, где подобные вкусы вполне могли быть названы то ли péché galant, то ли peccato gentile. русско-французские словари пушкинского времени дают соответствие слову вежливый – galant и наоборот. Но как бы то ни было, на мой взгляд, интереснее другой пассаж из этого стихотворения. Там есть, уже почти в конце, такие две строки: Не знаю, придут ли к тебе Под вечер милых три красавца.

И это, разумеется, еще один намек на известные наклонности вигеля. Но чем объяснить такие детали, как под вечер и три красавца? Хотя под вечер в таких делах скорее ожидаемое время дня; но почему именно три красавца? Неужели вигель устраивал на самом деле подобные оргии? вряд ли. Значит, число «три» как-то само собой не объясняется. Невероятно также, чтобы Пушкин его просто назвал наугад. Скорее всего, тут кроется какая-то реминисценция, какой-то литературный источник. Кто немного разбирается в восточной литературе, вспомнит, может быть, «рассказ об абу Нувасе с тремя отроками и калифом», встречающийся в сборнике «1001 ночь». Эта история была бы вполне кстати в послании к вигелю, ибо абу Нувас чуть ли не единственньй крупный арабский (не персидский!) поэт, воспевавший любовь к отрокам. Однако не тут-то было! Упомянутый рассказ в вариантах «1001 ночи», известных на Западе во времена Пушкина, т. е. прежде всего, во французском переводе Галланда (1704–1714), не встречается. Он впервые появляется в арабском подлиннике, опубликованном в Калькутте в 1839 г. Следовательно, трех милых красавцев надо искать в другом месте, т. е. в другом тексте. И тут как раз Библия окажется подходящим источником. Дело в том, что Пушкин, заявивший, что он слишком с Библией знакoм, и здесь, как во всем стихотворении и во всем письме, ссылается на библейское повествование о Содоме, в этом случае, так сказать, на его предысторию. а эта предыстория сообщается в книге Бытия. Там речь идет об аврааме, и мы читаем, между прочим, следующее: «И явился ему Господь у дубравы Мамре, когда он сидел при входе в шатер свой, во время зноя дневного. Он возвел очи свои, и взглянул, и вот, три мужа стоят против него» (Быт. 18: 1–2). авраам приглашает посетителей, щедро угощает их и разговаривает с тем из них, который в тексте назван Господом. Тот предсказывает престарелой Сарре, что у нее родится сын, а также гибель Содома. в ст. 22 говорится: «И обратились мужи оттуда, и пошли в Содом; авраам же еще стоял перед лицем Господа». в следующем разговоре авраам спорит с Гос-

«Я слишком с Библией знаком»

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подом о том, сколько праведников должно жить в Содоме для того, чтобы город избегнул страшной кары. «И пошел Господь, перестав говорить с авраамом. авраам же возвратился в свое место» (Быт. 18: 33). Этим сообщением кончается 18-я глава книги Бытия. После этого ни Господь, ни авраам не появляются в дальнейшем изложении событий. рассказ продолжается в 19-й главе, которая начинается сообщением: «И пришли те два ангела в Содом вечером. Лот увидел и встал, чтобы встретить их, и поклонился лицем до земли». Значит, третьего «мужа» больше не было с ними. На основании этого рассказа еще в первые века христианства встреча авраама с тремя мужами, из которых один был Господь, толковалась как предвосхищение Троицы в ветхом Завете. И еще в iV в. встречаются изображения сцены угощения трех «мужей» у дубравы Мамре в римских катакомбах. Позже угощение (теленком) принималось как предвосхищение евхаристии. в течение веков было создано множество изображений и икон на эту тему. Самая известная, можно сказать всемирно известная, икона на эту тему – «Троица» андрея рублева, написанная в первой четверти XV столетия. Сходное расположение трех фигур в россии встречается уже двумястами годами раньше, на бронзовых воротах собора рождества Богоматери в Суздале (около 1230 г.). а после этого следовало несчетное множество икон такого же типа. На всех этих иконах три ветхозаветных мужа изображены так, как в византийской живописи изображаются ангелы, т. е. без бород, значит, юнoшами и, можно сказать, красавцами, отличающимися первой младости красой женоподобной, как Пушкин выразился в другом месте (ii, 277). Очевидно, эта часто виденная Пушкиным икона оставила такое сильное впечатление, что она вытеснила из его сознания библейский текст, где в 18-й главе речь идет о трех мужах в дубраве Мамре, и только в 19-й – о двух ангелах, прибывших в Содом вечером. Такое смешение представляется вполне вероятным, так как уже веками художники изображали посетителей авраама не как мужей, а именно как юношей. Интересно в этой связи, что даже маститые искусствоведы также смешивают исходный текст с позднейшим изображением. Так, у в. Н. Лазарева можно прочитать следующее: «Библейская легенда рассказывает, как к старцу аврааму явилось трое прекрасных юношей»3. Что же касается наружности ангелов-красавцев, то М. в. алпатов описывает их как «стройных, женственно прекрасных юношей»4. а Пушкин, быть может, вспомнил и посвященные им стихи из «проповеди в стихах» любимого автора своей молодости Парни «Les galanteries de la Bible», где имеется такой пассаж:

3 4

ТрОИца андрея рублева: антология. М., 1989. С. 105. Tам же. С. 117.

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Les anges parcouraient ta terre, Chargés de messages divins, Et leur présence toujours chère servait de spectacle aux humains. Grace à leur charmantes figures Chez des gens sans mœurs et sans loi il leur arrivait quelquefois D’assez fâcheuses aventures5. (Ангелы проходили землю, Выполняя божественные поручения, И их всегда дорогое присутствие Служило зрелищем для смертных. Благодаря их прелестным фигурам У людей без нравственности и без законов Они испытывали иногда Довольно неприятные приключения.)

После чего следует заключительная строчка: sodome paya cher l’affront. (Содом заплатил дорого за обиду.)

в общем, ссылка на ветхозаветную Троицу в лице милых трех красaвцев, по-моему, хорошо вписывается как в контекст этого стихотворения и этого письма, так и в кощунственные тенденции молодого Пушкина в южный период его жизни – в безумные шалости, как это называется в упомянутой книге И. Юрьевой. Это еще одно свидетельство того, что сам поэт позже осуждает словами грешный мой язык, и празднословный и лукавый.

5

PArny E. Les galanteries de la Biblie: sermon en vers. Paris, 1808. Vol. 3. 180f.

Traduttore – Traditore? Zum Schicksal eines Puškin-Zitats in deutschen DostoevskijÜbersetzungen

Übersetzungskritik ist selten objektiv begründbar, zumal wenn es um literarische Texte geht. Gewiss, einfache „Vokabelfehler“ lassen sich feststellen, aber welches Gewicht haben sie schon in einem Text von mehreren hundert Seiten? Fehler auf der Ebene der Syntax können schon eher einmal wichtig werden – und werden seltener bemerkt. Auf höheren Ebenen etwa des Stils oder gar der Weltsicht urteilt zumeist der eigene Geschmack, die subjektive Interpretation. Handelt es sich gar um Poesie, wird schon allein die Möglichkeit der Übersetzung in Frage gestellt und ist heiß umstritten. Nun gibt es aber Fälle, in denen mitten in einem literarischen Prosatext ein Vers oder ein paar Verse zitiert werden. Einen solchen Fall möchte ich hier besprechen. Man weiß – spätestens seit seiner berühmten Puškin-Rede von 1880 –, welch überragende Bedeutung Dostoevskij Puškin beimaß. Daher sind PuškinZitate oder -Anspielungen in Dostoevskij-Texten sehr ernst zu nehmen. Es ist zu vermuten, dass Dostoevskij, wenn er Puškin zitierte, seiner Argumentation (oder der seiner Personen) besonderen Nachdruck verleihen wollte. Ein solcher Fall liegt, meiner Meinung nach, vor im 10. Kapitel des ersten Teils des Romans Подросток, und zwar im Abschnitt I. Dort geht es um ein Gespräch des Ich-Erzählers Dolgorukij mit dem nüchtern urteilenden Vasin. Der Erzähler ist begeistert von der Großtat (подвиг) seines Vaters Versilov, der auf eine juristisch bereits erstrittene Erbschaft verzichtet, weil ein ihm vom Erzähler übergebener, sonst niemand bekannter Brief eine andere Rechtslage wahrscheinlich machte. Vasin hat gewisse Bedenken, ob Versilovs Verhalten wirklich allein seiner Großmütigkeit zu verdanken sei. Er sagt deshalb: Sie meinen wohl: [hier folgen die zwei Puškin-Zeilen],

worauf der Ich-Erzähler erwidert: Aber das ist doch wahr – rief ich – in diesen zwei Versen [ist] doch ein heiliges Axiom!

Darauf wieder Vasin: Ich weiß nicht: Ich wage nicht zu urteilen, ob diese zwei Verse wahr sind oder nicht. Die Wahrheit wird wohl, wie immer, irgendwo in der Mitte liegen: Das heißt, in einem Falle ist es heilige Wahrheit, in einem andern ist es Lüge. Ich weiß nur eines sicher: dass dieser Gedanke noch für lange Zeit einer der wichtigsten Streitpunkte unter Menschen sein wird.

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Puškin

Der umgebende Text macht meiner Meinung nach deutlich, dass es sich bei den zitierten Versen um eine eminent wichtige Aussage handeln muss. Und nur deshalb ist es auch sinnvoll nachzufragen, wie diese Verse sich in den vorhandenen Übersetzungen darstellen. Bei dem Gewicht, das die darin enthaltene Aussage offenbar hat („heiliges Axiom“, „Wahrheit oder Lüge“, „einer der wichtigsten Streitpunkte unter Menschen“), sollte ein Übersetzer sehr sorgfältig vorgehen, sollte sich womöglich vergewissern, woher das Zitat stammt. Heute würde ihn da jede seriöse Dostoevskij-Ausgabe belehren, dass es sich um ein Zitat aus einem Puškin-Gedicht handelt, und zwar aus dem 1830 entstandenen Gedicht Der Held (Герой). Vasin, der die Zeilen zitiert, kennt das Gedicht offenbar genau, denn er spricht anschließend von der Wahrheit und benutzt dafür das Wort истина. Über Puškins Gedicht aber steht als Motto die Pilatus-Frage „Что есть истина?“ mit dem Zusatz „Из Евангелия.“ Das Gedicht ist als Dialog eines Dichters mit seinem Freund angelegt. Die zitierten Zeilen sind das emphatische Bekenntnis des Dichters, das der skeptische Freund als „Dichterträume“ abqualifiziert. Bei Dostoevskij vertritt der Ich-Erzähler den Standpunkt des Dichters, Vasin den des Freundes. All das sollte der Übersetzer wissen. Wenn er es nicht weiß, so sollte er die Gedankenführung des Dialogs berücksichtigen. Aber, so berechtigt diese Forderungen sein mögen, im vorliegenden Fall genügt eigentlich die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten der russischen Syntax, um eine inhaltlich korrekte Wiedergabe des von Puškin Gemeinten zu garantieren. Hier die fraglichen Zeilen: Тьмы низких истин мне дороже Нас возвышающий обман.

Das ist ein Satz, der einen Vergleich enthält. Nun gibt es aber im Russischen zum Ausdruck eines Vergleichs vom Typ x ist größer als y (wobei größer für einen beliebigen Komparativ steht) zwei Möglichkeiten. Das kann entweder, ähnlich wie im Deutschen, mit Hilfe der Konjunktion чем (= als) ausgedrückt werden, wobei beide verglichenen Substantive im Nominativ stehen: x (nom.) больше чем y (nom.). Oder es kann ohne Konjunktion mit Hilfe des genitivus comparationis ausgedrückt werden: x (nom.) больше y (gen.). Beide Konstruktionen können in der Reihenfolge der Glieder umgestellt werden: Больше чем y – x bzw. Больше y (gen.) – x (nom.). Vgl. deutsch: Größer als y ist x. Eine solche Inversion unterstreicht die Höherwertigkeit von x noch zusätzlich und eignet sich daher für emphatische Aussagen. In dem uns interessierenden Vergleich gibt es das Wort чем nicht, entsprechend gibt es auch keine zwei Nominative. Wir haben es also mit der Variante zu tun, die den genitivus comparationis benutzt. Das einzige Wort, das für diesen Genitiv in Frage kommt, ist тьмы. Der Kernvergleich lautet somit: тьмы дороже обман als emphatische Inversion von обман дороже тьмы.

Traduttore – Traditore?

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Alle drei Glieder dieser Aussage sind durch Ergänzungen präzisiert: Der Komparativ дороже wird durch den Dativ мне als subjektive Aussage des Sprechers gekennzeichnet, тьмы wird ergänzt durch den Mengen-Genitiv низких истин, обман durch Beschreibung seiner Wirkung: нас возвышающий. Deutsch hieße das, da der Komparativ nur vor dem als stehen kann, im Ansatz: Teurer als (тьмы...) ist mir (...обман).

Soweit die Syntax, die absolut eindeutig erkennen lässt, was hier dem lyrischen Ich „teurer“ ist, nämlich der обман. Dies verdient als Kernaussage festgehalten zu werden, da es aufgrund der dargelegten grammatischen Gesetzmäßigkeiten nicht Gegenstand irgendwelcher „Interpretation“ sein kann. Etwas schwieriger sind für die Übersetzung die beiden verglichenen Substantiva. Das Wort тьма mit einem nachfolgenden (Mengen-)Genitiv kann hier schwerlich die von der Etymologie nahegelegte Bedeutung „Dunkel, Finsternis“ o. ä. haben. Viel wahrscheinlicher ist die in jedem Wörterbuch verzeichnete übertragene Bedeutung „große Menge, Unzahl“ wie in dem Phraseologismus тьма тьмущая народу – übrigens eine sehr alte Verwendung: Im Ksl. steht тьма für griechisch μύριοι, d. h. 10.000 oder eben auch eine sehr große Menge. Was nun das Wort обман betrifft, so kann es sich hier nicht um „Betrug“ im juristischen Sinne handeln. Hier ist in der Tat Interpretation gefragt. Hilfreich ist ein Blick auf die (für Puškin) zeitgenössische Weltsicht der Romantik. Und da entspricht Puškins обман dem „schönen Schein“ oder „Wahn“ der deutschen Romantiker und der „bella illusione“ des Giacomo Leopardi, dessen Lebensdaten (1798–1837) mit denen Puškins fast identisch sind. Aufgrund der benannten Überlegungen schlage ich – unter annähernder Bewahrung des rhythmischen Musters – folgende Übersetzung vor: Teurer als Unzahl niedrer Wahrheit(en) Ist mir ein Trug,1 der uns erhebt.

Schauen wir nun, was die bisher im Druck vorliegenden deutschen Übersetzungen stattdessen bieten. Soweit mir bekannt ist, erschien der Подросток bisher in sechs verschiedenen deutschen Übersetzungen. Dabei bereitete schon der Titel des Romans den Übersetzern erhebliche Schwierigkeiten. Infolgedessen gibt es auch davon mehrere deutsche Varianten. Sie werden im Folgenden mitgeteilt, aber nicht kommentiert. Wichtig sind mir allein die Wiedergaben der zwei PuškinZeilen. Die erste deutsche Übersetzung des Romans erschien 1886 unter dem Titel Junger Nachwuchs in Leipzig im Verlag von Wilhelm Friedrich, K. R. Hofbuchhändler, in zwei Bänden. Als Übersetzer zeichnet dort W. Stein. Die fragliche Stelle steht im 2. Band auf Seite 10: 1

Lieber wäre mir „Schein“, was aber ohne das Epitheton „schöner“ missverständlich ist.

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Ihrer Meinung nach also ist: „Das Düster niedrer Wahrheit teurer Als uns erhebender Betrug?“

Fast zwei Jahrzehnte später, 1905, erscheint die nächste Übersetzung bei Albert Langen in München mit der Überschrift Ein Werdender. Übersetzer ist Korfiz Holm. Er schreibt auf Seite 355: Die niedre Wahrheit ist mir lieber Als Trug, der mich zu Wolken hebt.

Diese Fassung erscheint unverändert auch in der zweiten Auflage 1924. 1927 bringt der Weltbund-Verlag, Hamburg, unter dem Titel Ein Werdender eine „gekürzte Ausgabe“ heraus, bearbeitet von C. Hartz. Sie beruht auf der Übersetzung von Korfiz Holm. Das Puškin-Zitat und seine Einbettung in den Dialog sucht man dort vergeblich. 1906–1919 erscheint dann im Piper Verlag in München die erste Gesamtausgabe von Dostoevskijs Werken, darin 1915 als Band 7–8 Der Jüngling, übersetzt von E. K. Rahsin. Dort steht zu lesen: Teurer als uns erhöhender Trug Ist mir die Finsternis niederer Wahrheit.

Ebenso heißt es auch noch in der revidierten Ausgabe von 1957 und in den zahlreichen Nachdrucken wie z. B. der Fischer Bibliothek der 100 Bücher, Band 6 der Exempla classica, Frankfurt a. M. 1960 (S. 189). Bald nach Piper veröffentlichte auch der Insel Verlag eine Gesamtausgabe (1921), darin erscheint der Подросток zunächst unter der Überschrift Werdejahre, die in späteren Auflagen ersetzt wird durch Der Jüngling. Der Übersetzer Hermann Röhl schreibt: Den Irrtum, der zum Himmel mich entrückt, Zieh ich der Wahrheit vor, die mich zu Boden drückt.

D. h. er hat den Sinn des Vergleichs richtig verstanden und nicht, wie alle seine Vorgänger, in sein Gegenteil verkehrt. Leider fällt die nächste Übersetzung – von Marion Gras-Racić – im Winkler Verlag o. J. (1965?) wieder in den alten Fehler zurück, S. 240: Der niedren Wahrheit Dunkel lieb ich Mehr als den Trug, der uns erhöht.

Und erst in der bisher letzten Übersetzung (im Aufbau Verlag 1994) bringt Günter Dalitz wieder den wahren Sinn des Zitats (auf S. 253): Hoch ob der niedrig starren Wahrheit Steht der erhebend schöne Wahn.

Man darf gespannt sein, was die nächste Übersetzung bieten wird. Von den sechs bisher vorliegenden Versionen hatten ja nur zwei – Röhl 1921 und Dalitz 1994 – den Vergleich überhaupt richtig verstanden, während vier ihn in sein

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Traduttore – Traditore?

Gegenteil verkehrten, was nicht nur grammatisch unmöglich ist, sondern auch dem Sinn des Gesprächs zuwiderläuft. Abgesehen von diesem Kardinalfehler ist auch die Wiedergabe der verglichenen Komponenten aufschlussreich: Das Wort тьма ist in keiner der sechs Übersetzungen korrekt wiedergegeben, das Wort обман am besten in der Variante von Günter Dalitz (1994), wie die nachfolgende Übersicht zeigt: Übersetzer: Stein Holm Rahsin Röhl Gras-Racić Dalitz

тьма Düster – Finsternis – Dunkel –

обман Betrug Trug Trug Irrtum Trug schöner Wahn

Was тьма betrifft, erstaunt die offenbare Unkenntnis der Bedeutung „Unzahl, große Menge“, die ja nicht nur umgangssprachlich häufig ist. Es gab doch den lange Puškin zugeschriebenen Vierzeiler Всегда так будет, как бывало, Таков издревле белый свет: Ученых много, умных мало, Знакомых тьма, а друга нет.

Und jeder, der an russischer Literatur interessiert war, kannte seit 1918 Bloks Skythen-Gedicht, das da beginnt: Милионы – вас, нас – тьмы, и тьмы, и тьмы ...

Was обман angeht, ist „Trug“ – gewissermaßen als Kürzel für „Trugbild“ – eine akzeptable Lösung. Den eigentlichen (romantischen) Sinn trifft Günter Dalitz am besten mit seinem „schönen Wahn“. Wie soll man aber erklären, wieso vier von sechs Übersetzern den Grundgedanken des Puškin-Zitats in sein Gegenteil verkehrt haben – obwohl sie doch vermutlich gut genug Russisch konnten, um die syntaktisch eindeutige Konstruktion zu verstehen? Leider ist es schwer, etwas Genaueres über Übersetzer zu erfahren. Auch mit der freundlichen und fachkundigen Unterstützung des Hamburger Diplom-Bibliothekars Clemens Heithus, dem ich herzlich danke, gelang es nur wenig Zuverlässiges und Erhellendes zu ermitteln. Nur die bei Piper erschienene Übersetzung von „E. K. Rahsin“, d. i. Elisabeth (Less) Kaerrick, ist Gegenstand einer eigenen Untersuchung geworden.2 W. Stein könnte für Walfriede Stein stehen, die Vladimir Sollogub übersetzt hat, von der aber sonst nichts bekannt ist. 2

GARSTKA, Christoph: Arthur Moeller van den Bruck und die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs im Piper-Verlag 1906–1919, Frankfurt a. M. 1998 (Heidelberger Publikationen zur Slavistik, Literaturwissenschaftliche Reihe, Band 9).

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Fest steht, dass mindestens zwei der Übersetzer deutsch-baltischer Herkunft sind: E. K. Rahsin = Elisabeth (Less) Kaerrick, *1886 in Pernau (Estland), † 1966 in München, und Korfiz Holm = Diederich Heinrich Corfitz, *1872 in Riga (Lettland), † 1942 in München. Beide haben Russisch vermutlich in frühester Jugend als lingua franca in deutsch-, estnisch- bzw. lettischsprachiger Umgebung gelernt und etwa seit ihrem 18., 19. Lebensjahr in Deutschland gelebt. Da von den anderen Übersetzern nichts Genaueres bekannt ist, kann über die Ursache der gravierenden Fehlleistung nur gerätselt werden. Der an sich richtige Satz, dass jede Übersetzung eine Interpretation sei, verliert allerdings seine Gültigkeit in solchen Fällen, wo die grammatischen Fakten keinen Spielraum für eine Interpretation lassen. In unserem konkreten Fall hat das auch nichts mit dem poetischen Charakter des Textes zu tun. Die Versuche der Übersetzer, das „Poetische“ des Zitats deutlich zu machen, zeigen nur, wie weit sie sich dadurch von der Prägnanz der Puškinschen Formulierung entfernen, in der weder von „Himmel“ oder „Wolken“ noch von „zu Boden drücken“ die Rede war. Andererseits hätte die Kenntnis des zitierten Gedichts die Übersetzer vor ihrer Fehlinterpretation bewahren können, hieß es doch dort in den voraufgehenden Zeilen: Да будет проклят правды свет, Когда посредственности хладной, Завистливой, к соблазну жадной, Он угождает праздно! – Нет, Тьмы низких истин мне дороже Нас возвышающий обман ...

Пушкин о «Девственнице» Вольтера – этапы одной переоценки Предлагаемый в моем сообщении обзор является как бы продольным разрезом или сечением, проложенным через всë творчество Пушкина, буквально с начала до конца, с 1813го по 1837ой год. За всë это время прослеживается отношение Пушкина к вольтеровской «Девственнице». Выбор такого подхода было подсказано малоизвестным фактом, что единственное произведение Пушкина, начатое после получения анонимных писем (4го ноября 1836 г.) и законченное только в январе 1837 года, было связано именно с Орлеанской девой и Вольтером. Неизвестно, когда молодой Пушкин познакомился с остроумной поэмой Вольтера, может быть, еще до поступления в Лицей. Вполне возможно, что во французской библиотеке отца имелось издание этой поэмы или, что дядя Василий Львович упомянул ее в беседе с любопытным племянником. Во всяком случае, уже первый эпический опыт 14-летнего лицеиста, «Монах» написан явно в духе фривольной поэмы Вольтера, в чем Пушкин признается тем, что вместо традиционного обращения к Музе он начинает свою поэму следющими стихами: Певец любви, фернейский старичок, К тебе, Вольтер, я ныне обращаюсь, Куда, скажи, девался твой смычок, Которым я в Жан д´Арке восхищаюсь.1

(I, 9)

Через год юный поэт начинает новую поэму, «Бова», во вступлении к которой он отмежевывается от классических образцов, от Гомера до Клопштока, заявляя: Но вчера, в архивах рояся, Отыскал я книжку славную, Катехизис остроумия, Словом: Жанну Орлеанскую. Прочитал, – и в восхищении Про Бову пою царевича.

(I, 64),

после чего вместо Музы опять призывается Вольтер. А в написанном в следующем, 1815ом году послании «Городок» он же восхваляется словами: Он всë, везде велик, Единственный старик! 1

(I, 97)

Пушкинские тексты цитируются по большому академическому изданию (М 1937–1949) с указанием тома и страницы.

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Уже после Лицея, в 1818 году, Пушкин посылает молодому дипломату Н.И. Кривцову в Лондон экземпляр La Pucelle, прославляя ее как Святую Библию харит. (II, 57) В 1825ом году, уже в Михайловской ссылке, Пушкин начинает даже перевод «Девственницы», но уже на 17ом стихе бросает эту затею, обосновав свой отказ стихами: Седой певец, чьи хриплые напевы, Нестройный ум и бестолковый вкус В былые дни бесили нежных муз, Хотел бы ты, о стихотворец хилый, Почтить меня скрыпицею своей, Да не хочу. Отдай ее, мой милый, Кому-нибудь из модных рифмачей.

(II, 451)

Следует отметить, что все пушкинские поэмы, как-то связанные с традицией, духом и стилем «Девственницы», т.е. Монах, Бова, Руслан и Людмила, Гавриилиада, Царь Никита и сорок его дочерей, написаны раньше, до этого текста, отмежевывающегося от Вольтера, как автора «Девственницы». Правда, Пушкин и после 1825го года еще упоминает и даже цитирует «Девственницу». Так он приводит еще в 1827ом году, в романе о своем прадеде несколько французских стихов из 13. песни «Девственницы», чтобы иллюстрировать эпоху Филиппа II, Орлеанского, что, между прочим, является легким анахронизмом. После этого уже не встречаются некритические или хотя бы нейтральные упоминания «Девственницы», и сам Вольтер подвергается всë более критической и даже отрицательной оценке. В доказательство привожу текст, написанный в 1834ем году и известным теперь под заглавием О ничтожестве русской литературы (XI, 271 сл.): Ничто не могло быть противуположнее поэзии, как та философия, которой XVIII век дал свое имя. Она была направлена противу господствующей религии, вечного источника поэзии у всех народов, а любимым орудием ее была ирония холодная и осторожная и насмешка бешеная и площадная. Вольтер, великан этой эпохи, овладел и стихами, как важной отраслию умственной деятельности человека. Он написал эпопею, с намерением очернить кафолицизм. [т.е.Генриаду] Он 60 лет наполнял театр трагедиями, в которых, не заботясь ни о правдоподобии характеров, ни о законности средств, заставил он свои лица к стати и не к стати выражать правила своей философии. Он наводнил Париж прелестными безделками, в которых философия говорила общепонятным языком, одною рифмою и метром отличавшимися от прозы – и эта легкость казалась верхом поэзии; наконец, и он однажды в своей жизни становится поэтом, когда весь его разрушительный гений со всею свободою излился в цинической поэме, где все высокие чувства, драгоценные человечеству, принесены в жертву Демону смеха и иронии, греческая древность осмеяна, святыня обоих Заветов обругана ...

Пушкин о «Девственнице» Вольтера

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В 1836ом году Пушкин еше раз возвращается к Вольтеру в короткой статье, из которой часто цитируется одна из первых фраз:«Всякая строчка великого писателя становится драгоценной для потомства.» Это воспринимается обыкновенно как выражение преклонения перед гением Вольтера. На самом деле это чуть ли не извинение, так как статья эта, несмотря на заглавие Вольтер является всего лишь рецензией на опубликованную в 1836ом году корреспонденцию Вольтера с президентом де Брос (de Brosses) о покупке писателем кусочка земли и «прегадкого замка» президента. Признавая остроумие обоих корреспондентов, Пушкин всё-же приходит к заключению, что Вольтер во всё течение долгой своей жизни никогда не умел сохранить своего собственного достоинства. (XII, 80)

Такой упрек, в устах дворянина Пушкина, релятивирует все неоспоримые заслуги «великого писателя», «великана своей эпохи». И как раз на этом уровне личного, морального поведения Вольтера происходит последнее обращение Пушкина к теме «Девственницы» и ее автора. В самом конце 1836го и в начале 1837го года Пушкин набрасывает статью, предназначенную для «Современника» под довольно загадочным заглавием Последний из свойственников Иоанны д´ Арк (XII, 153–155). Это, с одной стороны, единственный художественный текст, начатый и законченный после получения анонимных писем (4-го ноября 1836-го года), и, с другой стороны, последнее высказывание Пушкина о вольтеровской «Девственнице». И это кроме того – литературная мистификация. В ней рассказывается, что некий г. Дюлис (du Lys), потомок брата Орлеанской девы, в начале Французской революции переселился в Англию, где он и умер. Среди оставшихся после его смерти бумаг сохранилось будто бы письмо Вольтера. Пушкин объясняет, что Дюлис около 1767 года узнал, что некий г. Вольтер написал книгу о его родственнице, достал эту книгу, прочитал и был возмущен до такой степени, что сразу же послал Вольтеру вызов на дуэль. Далее, под выдуманной датой 22-го мая 1767-го года Пушкин приводит мнимое письмо Вольтера, в котором тот отказывается от авторства «Девственницы» и тем самым и от дуэли. Пушкин заканчивает свою мистификацию тем, что цитирует статью одного английского журналиста, якобы появившуюся в газете Morning chronicle. Позвольте мне прочитать этот текст полностью: Судьба Иоанны д´Арк в отношении к ее отечеству по истине достойна изумления. Мы конечно должны разделить с французами стыд ее суда и казни. Но варварство англичан может еще быть извинено предрассудками века, ожесточением оскорбленной народной гордости, которая искренно приписала действию нечистой силы подвиги юной пастушки. Спрашивается, чем извинить малодушную неблагодарность французов? Конечно, не страхом диявола, которого исстари они не боялись.

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По крайней мере мы хоть что-нибудь сделали для памяти славной девы; наш лауреат посвятил ей первые девственные порывы своего (еще не купленного) вдохновения. Англия дала пристанище последнему из ее сродников. Как же Франция постаралась загладить кровавое пятно, замаравшее самую меланхолическую страницу ее хроники? Правда, дворянство дано было родственникам Иоанны д´Арк; но их потомство пресмыкалось в неизвестности. Ни одного д´Арка или Дюлиса не видно при дворе французских королей от Карла VII до самого Карла Х-го. Новейшая история не представляет предмета более трогательного, более поэтического жизни и смерти Орлеанской героини; что же сделал из того Вольтер, сей достойный представитель своего народа? раз в жизни случилось ему быть истинно поэтом, и вот на что употребляет он вдохновение! Он сатаническим дыханием раздувает искры, тлевшие в пепле мученического костра, и как пьяный дикарь пляшет около своего потешного огня. Он как римский палач присовокупляет поругание к смертным мучениям девы. Поэма лауреата не стоит конечно поэмы Вольтера в отношении силы вымысла, но творение Соуте есть подвиг честного человека и плод благородного восторга. Заметим, что Вольтер, окруженный во Франции врагами и завистниками, на каждом шагу подвергавшийся самым ядовитым порицаниям, почти не нашел обвинителей, когда появилась его преступная поэма. Самые ожесточенные враги его были обезоружены. Все с восторгом приняли книгу, в которой презрение ко всему, что почитается священным для человека и гражданина, доведено до последней степени кинизма. Никто не вздумал заступиться за честь своего отечества; и вызов доброго и честного Дюлиса, если бы тогда стал известен, возбудил бы неистощимый хохот не только в философических гостиных барона д´Oльбаха и M-me Joffrin, но и в старинных залах потомков Лагира и Латримулья. Жалкий век! Жалкий народ!

Первый крупный пушкинист, занимавшийся этим текстом, Н. О. Лернер2, еще в 1929-ом году показал, что все претензии к Вольтеру в связи с его «Девственницей», выраженные будто бы английским журналистом, уже раньше были сформулированы как упреки самого Пушкина, т.е.представляют суждения поэта. Лернер видел в этом отражение «поворота Пушкина вправо» Против такого толкования выступил Д.Д.Благой в длинной статье «Главою непокорной» с подзаголовком «Ключ к последнему произведению Пушкина».3 В этой статье он пытается выдвинуть и доказать сразу несколько построений или вернее догадок. Так, он полагает, что в тексте отражается сиюминутная ситуация Пушкина, что приводит к маловероятному предположению, будто бы в образе Вольтера представлены одновременно и Геккерн и Дантес. А это никак не вяжется со стремлением Благого спасти Вольтера от уничтожающей критики пушкинского текста. Для этой цели Благой привлекает высказывания Пушкина двадцатилетней давности и старается объяснить критическое отношение зрелого Пушкина к Вольтеру переходом поэта к реализму. 2

3

Н. О. ЛЕрНЕр : «Замаскированный Пушкин» в сборнике «рассказы о Пушкине», Прибой, Л. 1929, стр. 190–198. Д. Д. БЛАГОй: Душа в заветной лире, М 1979, стр. 477– 498.

Пушкин о «Девственнице» Вольтера

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По-моему гораздо важнее в процессе этой переоценки изменившееся отношение Пушкина к религии. Характерно, что в юношеские годы он восхваляет «Девственницу» при помощи метафор взятых из области религии: «катехизис остроумия» и даже «святая Библия харит», а позже он осуждает ее как раз за «обругание святыни обоих Заветов» и за «презрение ко всему, что почитается священным для человека и гражданина». Примечательно, что Пушкин приближается к религии как художник, как поэт, т.е. по линии немецкого романтизма, называя религию «вечным источником поэзии у всех народов». Поскольку настоящая конференция посвящена Пушкину и мировой культуре, позвольте мне в заключение моего выступления указать на одно параллельное высказывание Шиллера по поводу вольтеровской Девственницы. В стихотворении,посвященном этой теме, есть два стиха, ставшие крылатым словом в XIX-ом веке: Es liebt die Welt, das Strahlende zu schwärzen Und das Erhabne in den Staub zu ziehn.

что я попытался перевести следующими строчками: Ведь любит свет блестящее чернить И то, что высоко, низвергнуть в прах.

Это было написано в 1803ем году. Любопытно, что старик Гëте в разговоре с Эккерманом высказался в таком же духе. Цитирую из записи, датированной 13-ым октября 1825-го года: Мадам Жанли поэтому совершенно права, когда она восстала против вольностей и дерзостей Вольтера. Ведь, как бы остроумно все это может быть, но, по сути дела, миру это не впрок, так как на таком основании ничего не построишь. Оно может быть даже весьма вредно тем, что сбивает людей с толку, лишая их нужной опоры.4

4

Перевод мой. р.-Д. К.

Gogol’s „Krovavyj Bandurist“ Versuch einer Deutung Der nachfolgende Versuch über einen bisher kaum beachteten Text des frühen Gogol’ geht von zwei Prämissen aus: l. Alle Werke Gogol’s sind in hohem Maße autobiographisch, und zwar in einem nicht-oberflächlichen Sinne, das heißt, dass sie sowohl in ihrer Gestimmtheit wie in einzelnen Figuren oder Zügen Details der inneren erlebnisse ihres Autors spiegeln. 2. Bei der hervorragenden rolle, die Gogol’s ästhetischen Grundüberzeugungen zukommt, muss man berücksichtigen, dass diese in den letzten Schuljahren in Nežin unter dem prägenden einfluss des Internatsinspektors Belousov entstanden sind, eines Mannes, der selbst durch seinen Lehrer Schade mit deutscher Philosophie, vor allem Kant und Fichte, vertraut war. Aus diesen Jahren ist für Gogol’ eine große Schillerbegeisterung belegt,1 mit der Kenntnis anderen „klassischen“ Bildungsgutes ist zu rechnen, und zwar in deutscher Brechung. Gogol’ erwähnt in seinen Werken neben Schiller und Goethe, Tieck und Hoffmann auch Lessing und Winckelmann.2 Zum „Krovavyj bandurist“ gibt es meines Wissens keine nennenswerte Literatur. Sinjavskij erwähnt eine Stelle wegen der Todessymbolik,3 Gippius geht in seinem ersten Gogol’-Buch mit zwei Zeilen auf die Figur des Titelhelden ein.4 Das ist alles. Meine Vermutung ist, dass wir es auch bei dem blutüberströmten Banduraspieler mit einem Psychogramm, einer verschlüsselten Selbstdarstellung Gogol’s zu tun haben. Der „Krovavyj bandurist“ ist zu Gogol’s Lebzeiten nie vollständig und nie unter dieser (gleichwohl von Gogol’ stammenden) Überschrift gedruckt worden. erschienen sind nur die ersten zwei Drittel der kurzen erzählung oder episode, die irgendwie mit dem geplanten historischen roman „Get’man“ zusammenhängt, und zwar 1835 in den „Arabesken“ unter der Überschrift „Plennik“. Der dort fehlende Schluss, in dem der Banduraspieler erscheint, war schon Anfang 1834 vom Zensor Nikitenko verboten worden mit der Begründung, es handle sich um „ein Bild von Leiden und Herabwürdigung des Menschen, das ganz im Geiste der neuesten französischen Schule geschrieben ist, grässlich, nicht Mitleid und nicht einmal ästhetisches entsetzen erweckend, 1

2

3 4

Gogoľ lässt sich 1827 aus Lemberg eine deutsche Schillerausgabe schicken (X 91) – Zitate aus der 14bändigen Akademieausgabe N. V. Gogol’, Polnoe sobranie sočinenij, M.-L. 1939–52, werden hier und im Text nur mit Band- und Seitenzahl belegt. Goethe, Schiller, Tieck und Hoffmann u. a. im Autorenkatalog des „Ganc Kjuchel’garten“ (I, 84); Winckelmann exzerpierte Gogol’ bereits in NežIN (vgl. IX, 654); Schiller ist am häufigsten erwähnt, z. B. XI, 229, 294f; Lessing in „Peterburgskie zapiski 1836 goda“ (VIII, 182). Abram Terc: V teni Gogolja, London, 1975, S. 9. Vasilij GIPPIuS: Gogol’, Leningrad, 1924, S. 71.

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sondern einfach nur Abscheu (omerzenie).“5 Das Petersburger Zensurkommitee beschloss daraufhin, „diesen Text beim Vorgang zu belassen und die übrigen Zensurkomitees von seinem Verbot zu unterrichten“. Beim Vorgang wurde der Text zu Beginn unseres Jahrhunderts wiederaufgefunden und in der l. Nummer der „Niva“ von 1917 durch Oksman publiziert. Seither wird der „Krovavyj bandurist“ unter den erhaltenen Kapiteln und Fragmenten des historischen romans „Get’man“ gedruckt.6 Von diesem Text gehe ich aus. Da die darin erzählte episode mit keinem der anderen romanfragmente handlungsmäßig verknüpft ist, scheint eine isolierte Interpretation erlaubt. Die Feststellung des Zensors, unser Text sei „ganz im Geiste der neuesten französischen Schule geschrieben“, d. h. der sogenannten école frénétique, könnte zu dem Schluss verleiten, es handele sich um einen Versuch Gogol’s, eine literarische Mode zu nutzen, so wie er in den „Abenden auf dem Weiler bei Dikan’ka“ die Vorliebe des Publikums für ukrainische Folklore genutzt hatte, so wie er mit dem Plan des „Get’man“-romans und später mit dem „Taras Bul’ba“ der Walter-Scott-Mode folgte. Aber ebenso wie seine Beziehung zum Volkstümlichukrainischen und sein engagement für Geschichte nicht nur zeitbedingte, sondern auch tief persönliche Wurzeln hatte, dürfte auch seine zeitweilige Affinität zu Thematik und Darstellungsweise der école frénétique durchaus persönliche ursachen gehabt haben. In diesem Zusammenhang erinnert man sich des urteils von Goethe über jene „neueste französische Schule“. er nennt sie eine „Literatur der Verzweiflung“7 und schreibt unter dem 18. Juni 1831 an Zelter u. a.: „Das Hässliche, das Abscheuliche, das Nichtswürdige, mit der ganzen Sippschaft des Verworfenen ins unmögliche zu überbieten ist ihr satanisches Geschäft“, wobei er zugibt, dass es sich bei den – meist geschichtskundigen – Autoren um durchaus „entschiedene Talente“ handele, „die sich durch eine Lebensfolge verdammt fühlen, sich mit diesen Abominationen zu beschäftigen“. Goethe sieht also in der Wahl der Thematik der neuesten französischen Autoren eine Folge von deren Lebenserfahrungen, d. h. ihrer psychischen Biographie. eben das möchte ich für Gogol’ auch in Anspruch nehmen. Damit stellt sich die Frage nach den biographischen Voraussetzungen, und das heißt auch nach der Datierung des Textes. Den in den „Arabesken“ (1835) gedruckten „Plennik“ datiert Gogol’ dort auf 1830, wohl im Bewusstsein der unvollständigkeit des Textes, die er durch diese falsche Frühdatierung als Mangel eines Jugendwerkes zu entschuldigen gehofft haben mag. Der vollständige 5 6

7

III, 714. III, 301–310. Der zu Gogol’s Lebzeiten unter der Überschrift „Plennik“ gedruckte Teil dieses Textes endet auf S. 307, 2. Abs., mit den Worten „kto im byl nužen“. Diese Kennzeichnung wurde 1836 von Puškin in seinem Akademie-Vortrag „Mnenie M. e. Lobanova o duche slovesnosti, kak inostrannoj, tak i otečestvennoj“ unter Berufung auf Goethe übernommen. Möglicherweise unter dem einfluss von Puškins urteil hat Gogol’ sich später in ähnlichen Formulierungen von der école frénétique distanziert, z. B. in „rim“ (III, 226f).

Gogol’s „Krovavyj Bandurist“

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Text, der 1834 der Zensur vorlag, war dagegen auf 1832 datiert, was der Wahrheit näher kommen dürfte. Da dieser Text schon im Frühjahr 1834 von der Zensur beanstandet wurde, ist seine entstehung mit großer Wahrscheinlichkeit im Jahre 1833 zu vermuten.8 Dazu ein paar Briefstellen: Im Juli 1833 schreibt Gogol’ an Maksimovič: „Vot skoro budet god, kak ja ni stročki“ (X, 273). Das mag eine der üblichen Übertreibungen sein. Aber im September 1833 heißt es (an Pogodin): „Kakoj užasnyj dlja menja ėtot 1833-j god! Bože, skol’ko krizisov! nastanet li dlja menja blagodetel’naja restavracija posle ėtich razrušitel’nych revoljucij? – Skol’ko ja ponačinal, skol’ko perežëg, skol’ko brosil! Ponimaeš’ li ty užasnoe čuvstvo: byt’ nedovol’nu samim soboju. (...) Čelovek, v kotorogo vselilos’ ėto ad-čuvstvo, ves’ prevraščaetsja v zlost’, on odin sostavljaet oppoziciju protiv vsego, on užasno izdevaetsja nad sobstvennym bessiliem“ (X, 277). – Typisch für Gogol’s innere Verfassung ist, im selben Brief, der Vorwurf an Pogodin, der angefragt hatte, was Gogol’ zur Zeit schreibe: „Ty pochož na chirurga, kotoryj zapuskaet adskoj svoj ščupal v pylajuščuju ranu“. und schließlich heißt es im November 1833, wieder an Maksimovič: „esli by vy znali, kakie so mnoju proischodili strašnye perevoroty, kak sil’no rasterzano vsë vnutri menja“ (X, 284). Alle diese Krisen und umwälzungen betreffen Gogol’s literarische Arbeiten: „ja stoju v bezdejstvii, v nepodvižnosti. Melkogo ne chočetsja! velikoe ne vydumyvaetsja!“ (1.2.33 – X, 256) – „Ja tak teper’ ostyl, očerstvel, sdelalsja takoj prozoj, čto ne uznaju sebja (...) Kak ni prinuždaju sebja, net da i tol’ko” (2.7.33 – X, 273) „V pročem vrjad li budet čto-nibud’ u menja v ėtom ili daže v sledujuščem godu. Pošlët li vsemoguščij Bog mne vdochnovenie – ne znaju“ (9.8.33 – X, 275). „u menja est’ sto raznych načal i ni odnoj povesti, i ni odnogo daže otryvka polnogo, godnogo dlja al’manacha” (9.11.33 – X, 283). Meine nächste Annahme besagt nun, dass Gogol’ in der fraglichen Periode besonders darunter gelitten hat, dass es mit seinem historischen roman „Get’man“, an dem er schon das dritte Jahr laborierte, nicht vorangehen wollte. es sei daran erinnert, dass er ende 1834, als er Fragmente bzw. Kapitel daraus in den „Arabesken“ drucken ließ, dazu anmerkte: „Iz romana pod zaglaviem ,Get’man’; pervaja čast’ ego byla napisana i sožžena, potomu čto sam avtor ne byl eju dovolen“ (III, 712). Ich möchte meine Annahme dahin präzisieren, dass Gogol’ vor allem mit der zentralen Gestalt des romans, dem Zaporoger Hetman Ostranica,9 unzufrieden war, dass ihm diese nicht so gelang, wie er sie sich wünschte, nämlich als eine ideale Vatergestalt, deren er aus Gründen seiner 8

9

ebenfalls auf 1833 deuten Parallelen zu anderen Schriften, die in diesem oder dem folgenden Jahr entstanden: die (negative) Beurteilung der byzantinischen Architektur wiederholt sich im Aufsatz der „Arabesken“: „Ob architekture nynešnego vremeni“ (VIII, 58); die Gnomen, in der slavischen Folklore unbekannt, wurden bisher nur im Zusammenhang mit der Quellenfrage des „Vij“ beachtet. Sie kommen auch in unserem Text vor, mit dem damals bei Gogol’ häufigen Attribut adskie (vgl. die oben angeführten Briefstellen). Der Name wird in den Formen Ostranin, Ostrjanin, Ostranica, Ostrjanica überliefert. Gogol’ lässt ihn im Munde des polnischen Anführers zu Ostrjanica werden.

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psychischen Biographie dringend bedurfte, und die er schließlich – als Gegenbild seiner eigenen Schwächen und unvollkommenheiten – in Taras Bul’ba schuf, bezeichnenderweise erst, nachdem er sich von allen historischen Fakten gelöst hatte. Nun ist von Vasilij Gippius (s. Anm. 4) die Vermutung geäußert worden, der Titelheld unserer episode sei eben jener Ostranica. Das scheint mir aus mehreren Gründen nicht haltbar zu sein. Dagegen spricht die interne Logik des Textes: Der Satz mit dem der „Plennik“ schloss – „Otrjad koronnych vojsk (...) piroval ot radosti, čto nakonec schvatil togo, kto im byl nužen“ – kann nur bedeuten, dass die Polen meinen, Ostranica gefangen zu haben. Nachdem sich herausgestellt hat, dass das ein Irrtum war, versuchen sie aus der an seiner Stelle gefangenen Galja durch Folterung eine Auskunft über Ostranicas Aufenthalt herauszupressen. Offenbar kennt Galja seinen Aufenthaltsort, denn die erscheinung des Banduraspielers fordert sie auf, ihn nicht zu verraten, und verhilft ihr schließlich zur Flucht. Das wäre unsinnig, sowohl wenn Ostranica als der Banduraspieler und noch lebend gedacht am Ort der Handlung anwesend wäre, als auch wenn der Banduraspieler als Geist oder erscheinung (fantom, pojavlenie heißt es im Text) des bereits anderswo von anderen Polen hingerichteten Ostranica gedacht wäre – in beiden Fällen könnte der Verrat seines Aufenthaltsortes (wenn Galja ihn wüsste) ihm nicht mehr gefährlich sein. Weiterhin spricht gegen Gippius’ Vermutung, dass Gogol’s großzügiger umgang mit historischen und folkloristischen Details sicher nicht so weit gehen konnte, dass er einen Kosakenhetman als Banduraspieler auftreten ließ.10 und schließlich, aber das ist das schwächste Argument, passt diese Version von Ostranicas Tod zu keiner der bekannten Überlieferungen.11 Wer also ist der blutüberströmte Banduraspieler, bzw. wen stellt er dar, wen vertritt er? – Meine These lautet, wie gesagt: er ist eine Selbstdarstellung Gogol’s, möglicherweise die aufschlussreichste, die wir besitzen. Ich will versuchen, diese These zum einen vom Inhalt der fraglichen Textstelle her, zum andern von ihrer Funktion am Schluss der episode zu begründen. 10

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Nachdem Gogol’ schon in der Kritik der „Večera“ vorgehalten wurde, dass ukrainische Dorfburschen nicht Bandura, sondern bestenfalls Balalajka spielen, dürfte er sich vor einem noch schwereren Fehler gehütet haben. (Vgl. Paul DeBrecZeNy: Nikolay Gogol and his contemporary critics; Transactions of the American Philosophical Society, New Series, vol. 56, part 3, Philadelphia, 1966, S. 6). Mit historischen Fakten hat es Gogol’ nie genau genommen. unser Text ist ins Frühjahr 1543 versetzt, während der Ostranica-Aufstand 1638 stattgefunden hat. Der Anführer dieses Aufstandes war, nach Auskunft der Großen und der ukrainischen Sovet-enzyklopädien Jakov (Jakiv, Jacko) Ostrjanica, der nach dem Scheitern des Aufstandes in russisches Gebiet auswich und dort, in Čuguev, 1641 von seinen eigenen Kosaken erschlagen wurde. BrOcKHAuSeFrON (Bd. XXII, 1897) hält nicht diesen, sondern einen Stefan Ostranica für den Hetman. Dieser habe nach seiner Niederlage bei Goltva mit Potocki einen ewigen Frieden geschlossen und sich zum Gebet nach Kanev zurückgezogen, wo er unter Vertragsbruch von den Polen ergriffen, nach Warschau gebracht und dort (durch das rad) 1638 hingerichtet worden sei.

Gogol’s „Krovavyj Bandurist“

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Was den Inhalt angeht, so ist natürlich die Frage, inwieweit es sich hier um eine bewusste oder um eine weitgehend unbewusste Identifizierung handelt, nicht eindeutig zu beantworten. Die angeführten Briefstellen aus dem Jahr 1833 (von der brennenden Wunde und dem ganz zermarterten Innern als Metaphern der eigenen Seelenlage) lassen es denkbar erscheinen, dass das Bild des geschundenen Sängers, und das heißt: Dichters, sich gewissermaßen als unkontrollierte Assoziation eingestellt hat. Das würde an allen bisher vorgebrachten Annahmen oder Thesen übrigens nichts ändern. Ich glaube aber, dass hier noch eine andere, vielleicht sogar bewusste Assoziationskette beteiligt gewesen sein könnte. Dabei kommt chronikberichten über das Schinden als exekutionsart, was in den von beiden Seiten mit äußerster Grausamkeit geführten ukrainisch-polnischen Auseinandersetzungen vom XV. bis zum XVIII. Jahrhundert vorgekommen sein mag, nur eine auslösende Funktion zu, die Gogol’s Phantasietätigkeit in Bewegung setzte. Wenn die Prämisse von der Kenntnis „klassischen“ Bildungsgutes richtig ist, musste sich bei der Vorstellung vom Schinden die reminiszenz an den Mythos von Marsyas einstellen.12 Der Satyr Marsyas ist auch in der antiken Überlieferung eine durchaus ambivalente Gestalt. einerseits gilt er nämlich als erfinder des Flötenspiels (nachdem die eigentliche erfinderin der Flöte, Athene, das Instrument weggeworfen hatte, weil das Blasen das Gesicht entstelle), und er gilt als Lehrer des halb noch mythischen, halb schon historischen Musikers Olympos. Andererseits gilt derselbe Marsyas als frevelnder Herausforderer Apolls und seines Kitharaspiels, wobei er unterlag und zur Strafe, sei es von Apoll selbst, sei es von bereitwilligen Skythen (!) auf Apolls Geheiß, an einem Baum aufgehängt und geschunden wurde. eine Variante dieser Version liegt Ovids Darstellung in den Metamorphosen zugrunde.13 Sie hat seit Myron unzählige Male als Sujet für Darstellungen der bildenden Kunst gedient, besonders häufig in der Malerei des Manierismus und des Barock.14 12

13

14

Dass dieser Mythos in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts in russischen Literatenkreisen bekannt war, wird durch ein 1830 in dem Almanach „Ėcho“ veröffentlichtes Spottgedicht belegt, in dem die Zeilen vorkommen: Bog poėtov, Apollon, / S Marsiasa sodral kožu. Aufgrund einer Zuweisung von M. K. Azadovskij ist dies anonyme Gedicht (Proč’ s prezrennoju tolpoju) als Dubium abgedruckt in N. M. JAZyKOV: Polnoe sobranie stichotvorenij (Bibl. poëta, bol’ðaja serija, M.-L. 1964), S. 427. Buch VI, Verse 383–390: satyri reminiscitur alter, quem Tritoniaca Latous harundine victum adfecit poena. „quid me mihi detrahis?“ inquit: „a! piget, a! non est“ clamabat „tibia tanti!“ clamanti cutis est summos direpta par artus, nec quicquam nisi vulnus erat; cruor undique manat, detectique patent nervi, trepidae sine ulla pelle micant venae; salientia viscera posses et perlucentes numerare in pectore fibras. Vgl. A. PIGLer: Barockthemen, Budapest, 1956, 11, 30 f.

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Die andere, positive Variante des Marsyas-Mythos hat ihren berühmtesten Kolporteur in Platon gefunden. Im „Gastmahl“ (215 c) vergleicht Alkibiades den Sokrates mit Marsyas, und zwar nicht nur mit dem Satyr, dem er äußerlich gleiche, sondern auch mit dem großen Musiker, den er noch dadurch übertreffe, dass er seine bezaubernde Wirkung auf die Menschen ohne jedes Instrument, allein durch seine reden, erreiche. Weiter wird Sokrates verglichen mit „jenen sitzenden Silenen, welche die Bildhauer mit Syrinx und Flöte in der Hand darstellen; wenn man sie aber aufklappt, zeigt sich, dass sie Götterbilder enthalten“. Diesen Vergleich überträgt Alkibiades dann noch einmal auf Sokrates’ reden: Wie aber dieser Mensch zu solch einem rätsel geworden ist, er selbst ebenso wie seine Worte, dazu lässt sich weder bei den Heutigen noch bei den Alten eine Parallele finden, es sei denn, man vergliche ihn nicht mit Menschen, sondern, wie ich, mit Silenen und Satyrn. Denn das vergaß ich vorhin zu sagen, dass seine reden jenen aufklappbaren Satyrn ganz ähnlich sind! Wenn nämlich jemand den reden des Sokrates zuhörte, so kämen sie ihm zunächst wohl komisch vor, mit solcherlei Worten und Bezeichnungen sind sie von außen umhüllt wie mit dem Fell eines übermütigen Satyrs. Denn er spricht da über Lastesel und Schmiede, Schuster und Gerber ... Aber wenn man sie aufmacht und in sie eindringt, so findet man, dass diese Worte innen voller Geist sind, ja dass sie ganz göttlich sind und die schönsten Götterbilder der Tugend in sich bergen.

Wenn Gogol’ diesen Text gekannt hat, musste er sich Wort für Wort darin wiedererkennen. Die Metapher vom rauhen Satyrfell und dem schönen Innern zumal lässt an eine Selbstaussage Gogol’s denken, die er schon 1829 in einem Brief an die Mutter (aus Lübeck) formuliert hatte: Často ja dumaju o sebe, začem Bog, sozdav serdce, možet, edinstvennoe, po krajnej mere redkoe v mire, čistuju, plamenejuščuju žarkoju ljubov’ju ko vsemu vysokomu i prekrasnomu dušu, začem on dal vsemu ėtomu takuju grubuju oboločku ... (X, 151)

Die Parallele zu Platons Marsyas-Vergleich drängt sich geradezu auf, und was Alkibiades über die reden des Sokrates sagt, konnte Gogol’ sogar als tröstliche Bestätigung seiner schriftstellerischen Praxis empfinden, deren banale Gegenstände hier durch ihren geheimen, inneren Wert ästhetisch gerechtfertigt wurden. Sogar der Vergleich der sokratischen reden und ihrer Wirkung mit der Musik des Marsyas musste Gogol’s romantischer Synästhesie der Künste ebenso entgegenkommen wie die rätselhaftigkeit des Wortkünstlers und die oberflächlich komische Wirkung seiner reden ... Die Frage ist nur: hat Gogol’ diesen Text überhaupt gekannt? Obwohl ich das nicht beweisen kann, nehme ich es als sicher an. Für meine Annahme scheinen mir folgende Fakten zu sprechen: 1. Schon im „Ganc Kjuchel’garten“ (1828/29) gibt es einen Autorenkatalog, der folgende Namen – in dieser reihenfolge – enthält: Platon, Schiller, Tieck, Petrarca, Aristophanes und Winckelmann (I, 84). Abgesehen davon, dass Platon die Liste eröffnet, könnten auch die Namen Petrarca und Aristophanes auf Platonisches hindeuten, der erste als berühmter Vertreter der

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(im landläufigen Sinne) „platonischen Liebe“, der zweite vielleicht auf den Aristophanes im „Gastmahl“. 2. An eben diesen platonischen Aristophanes erinnert eine Stelle in dem Prosastück „Boris Godunov“ von 1830: „Vsemoguščij! začem dal ty mne nepolnuju dušu? ili popolni eë, ili voz’mi k sebe i ostal’nuju polovinu“ (VIII, 152) – steht dahinter nicht das Gleichnis von den getrennten Seelenhälften, mit dem Aristophanes im „Gastmahl“ das Wesen des eros zu beschreiben sucht? 3. In dem ersten Text, den Gogol’ mit seinem Autornamen drucken lässt, und der wohl ebenfalls ende 1830 entstanden ist, tritt Platon selbst auf. Ich meine den als platonischen Dialog gestalteten kunstphilosophischen Traktat „ženščina“, der in einer von Platon vorgetragenen Definition der Liebe eine (sehr romantische) Variante der Lehre von der Anamnesis enthält, was sowohl auf das „Gastmahl“ wie auf den „Phaidros“ zurückgehen kann. Wichtig scheint mir, dass die erwähnungen Platons und Anklänge an platonisches Bild- und Gedankengut in „Boris Godunov“ und „ženščina“ um 1830/31 aufs engste mit Gogol’s zentralen Anliegen jener Jahre verknüpft sind: mit seiner Ästhetik einerseits und seiner existentiellen einsamkeit andererseits. In diese Zusammenhänge würde sich auch eine Identifizierung Gogol’s mit Sokrates-Marsyas gut einfügen. Mag auch die Verbindung unseres Textes mit Platon unsicher bleiben, so ist es doch sehr wahrscheinlich, dass Gogol’ die ovidische Version der Marsyas-Sage gekannt hat. Offen ist, ob er sie schon in der Schulzeit kennen gelernt hat (sie steht bei Ovid gleich hinter den lykischen Bauern, die in Frösche verwandelt werden – einem Lieblingstext des Lateinunterrichts), ob aus dem urtext, einer russischen oder gar einer deutschen Übersetzung (z. B. der von Voß,15 dessen „Luise“ er ja ganz gewiss kannte), oder bei seinen Malstudien in der Petersburger Kunstakademie, wo er mindestens zwei Bilder zu diesem Thema sehen konnte, eines von Bronzino, das andere von Jan Lys.16 Aber seine Schil15

16

„Verwandlungen nach Publius Ovidius Naso von Johann Heinrich Voß. erster Theil.“ reutlingen, im comptoir der deutschen classiker. 1824. Nr. XXIX, S. 120. Im Gegensatz zu Ovid nennt Voß den Marsyas mit Namen, ja setzt den Namen als Überschrift über die von ihm isolierte Geschichte, deren hier interessierende erste Hälfte bei ihm lautet: Kläglich war, sehr kläglich, das Satyrs Marsyas Schicksal, Der, von Apollo besiegt im Getön des tritonischen rohres, Jezo die Strafe bestand. Was entziehst du mich selber mich? rief er. Ah, mich gereuts! ah! schrie er, so viel nicht gilt mir das Schallrohr! Doch wie er schrie, zog jener die Haut ihm über die Glieder; und nichts war, als Wunde, zu schaun. Blut rieselte ringsum; Aufgedeckt lag Muskel und Sehn’, auch die zitternden Adern Schlugen, der Hülle beraubt; aufzuckende eingeweide Konnte man zählen sogar, und der Brust durchscheinende Fibern. Das Bild von Bronzino befindet sich heute in der eremitage in Leningrad, das von Jan Lys im Moskauer Puškin-Museum.

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derung des Geschundenen in unserem Text knüpft nicht an diese Bilder an, die gewissermaßen harmloser sind, dagegen steht sie der ovidischen erstaunlich nahe, ist nur etwas kürzer und durch die Verlagerung des Blickpunktes aus der Handlung auf den Beobachter emotional aufgeladen. Ich glaube, dass sich Gogol’ sowohl in der platonischen Version vom hohen inneren Wert des äußerlich hässlichen Satyrs als auch in der ovidischen Version vom geschundenen Künstler wiedererkannte, wobei die letztere seiner inneren Situation zur entstehungszeit des Textes erheblich näher war und deshalb auch allein erkennbare Spuren hinterlassen hat. – Soviel zum Inhalt. Nun zur Funktion unserer Textstelle: Die Vermutung, dass es sich bei dem blutüberströmten Banduraspieler um eine Selbstdarstellung Gogol’s handelt, wird meines erachtens auch durch die Funktion dieses „Phantoms“, dieser „erscheinung“ als Auslöser des sentenzartigen erzählschlusses bestätigt. Hier ergeben sich nämlich Parallelen zu den von außerhalb des Sujets auftauchenden „Musikern“ in anderen erzählschlüssen: dem geigespielenden Zigeuner in der „Soročinskaja jarmarka“, der den marionettenhaften Tanz auslöst und den elegischen Schluss (ot avtora) vorbereitet, sowie besonders dem blinden Banduraspieler in der „Strašnaja mest’“, der durch sein Lied erst den inneren Zusammenhang der voraufgegangenen 16 lyrischen Fragmente aufklärt. entferntere Parallelen sind der rätselhafte „Dämon“ im Nevskij Prospekt“, der alles in unwirklichem Licht erscheinen lässt und den abschließenden Autorkommentar provoziert, sowie – in den erzählungen des sogenannten „realistischen“ Stils – der erzähler selbst, wie schon in den „Starosvetskie pomeščiki“, wie in dem berühmten Schluss des Streits der beiden Ivane: „Skučno na ėtom svete, gospoda“! eine versteckte Variante ist die Sphragis, das Namenssiegel am ende des „Taras Bul’ba“ in Gestalt der sonst völlig unmotivierten „stolzen Schellente“ (gordyj gogol’) – und schließlich ist es im Bewusstsein des Lesers am ende der „Toten Seelen“ (I) ja auch nicht so sehr Čičikov, der in der berühmten Trojka dahinfliegt, sondern Gogol’ selbst. Am Schluss einer erzählung müssen wir also gewöhnlich mit einer einmischung oder einbeziehung des Autors in dieser oder jener Form rechnen. eine ganz ähnliche Funktion hat in unserer erzählung die erscheinung des geschundenen Banduraspielers. Auch sie leitet über zu einer sentenzartigen Zuspitzung: „No, k udivleniju, ėto pojavlenie, otnjavši silu u sil’nych, vozvratilo eë slabomu“, und die zuvor den Folterknechten hilflos ausgelieferte Gefangene kann entfliehen. es würde den rahmen dieser Skizze sprengen, wenn ich alle anderen in unserem Text vertretenen Motive detailliert untersuchen wollte. Ich beschränke mich auf die Andeutung der wichtigsten: am bedeutsamsten ist gewiss das Thema des Todes: „est’ čto-to mogil’no-strašnoe vo vnutrennosti zemli. Tam carstvuet v ocepenelom veličii smert’, raspustivšaja svoi kostistye členy pod vsemi cvetuščimi gorodami, pod vsem veseljaščimsja, živuščim mirom“. In

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diesen Zusammenhang gehört auch die schwarze Stimme, die der Mensch vor dem Tode hört – eine Parallele zu der Kindheitserinnerung des erzählers in den „Starosvetskie pomeščiki“ (II, 37). An der Gestalt der Galja sind zwei Dinge hervorzuheben: die anfängliche Verborgenheit ihres Geschlechts, wozu in dem Fragment „Mne nužno videt’ polkovnika“ (III, 321ff) eine Parallele vermutet worden ist (vgl. III, 713), und die von Gogol’s Platon (vgl. „ženščina“) verkündete Gleichsetzung der Frau mit der Idee des Künstlers. Auch daher ist Galja diejenige, die weiß, wo Ostranica ist. So gesehen gehört es zu den Qualen des Geschundenen, dass er sie davon abhalten muss, es zu verraten, obwohl er – als Künstler – nichts sehnlicher wünscht, als seine Idealgestalt zu finden. Bemerkenswert sind ferner treffende physiologische („Soveršennogo mraka net dlja glaza“) und psychologische Bestimmungen (die Definition des Sadismus: „voevoda, kotoromu muki slabogo dostavljali kakoe-to sladostrastnoe naslaždenie, kotoroe on mog tol’ko sravnit’ s dorogo dostavšejusja rjumkoju vodki“). So scheint sich hinter all diesen vordergründig schlecht verknüpften Ideen, Handlungsfäden und einsichten ein Seelengemälde aufzutun, das vor dem Hintergrund entsetzlicher Todesangst vor allem das Leiden des Künstlers um die von entmenschter Gewalt bedrohte Schönheit auszudrücken versucht. Gewiss kein Beweis für meine Annahme, aber interessant genug, ist die bis in die Metaphern hineinreichende Übereinstimmung zwischen der von mir vermuteten Selbstdarstellung Gogol’s im „Krovavyj bandurist“ und charakteristiken, die von so verschiedenen Autoren stammen wie Aleksandr Blok und Andrej Sinjavskij. In Bloks Artikel „Ditja Gogolja“ von 1909 lesen wir: „ne suščestvo, ne čelovek počti, a kak by obnažennyi sluch, otverstyj liš’ dlja togo, čtoby slyšat’ medlennye dviženija, potjagivanija rebenka.“17 Sinjavskij schreibt: „Ličnost’ Gogolja – čut’ vy približites’ k nej – zijaet splošnoj, nezaživajuščej ranoj ...“18 Mit den Worten Ovids: Nec quicquam nisi vulnus erat.

17 18

Aleksandr BLOK: Sobranie sočinenij v vos’mi tomach, M.-L., 1960–63, V. 376. Abram Terc, o. c., S. 13.

Doch noch neues zu Gogol’s „Mantel“? t. s. eliot hat den „hamlet“ einmal „die Mona Lisa der Literatur“ genannt. Mindestens ebensoviel anspruch auf diesen fragwürdigen ruhmestitel hat sich inzwischen Gogol’s zweieinhalb Jahrhunderte jüngerer „Mantel“ erworben. zwar bemängelte kürzlich ein rezensent, Bodo zelinski „lege sich ein übriges Mal mit Gogol’s vielstrapaziertem ‚Mantel’ an“1, aber dann hat ihn die angeblich überflüssige Deutung doch nicht befriedigt, und stein des anstoßes war wieder einmal die berühmte humane stelle. tatsächlich scheint sie bis heute die hauptschwierigkeit jeder Deutung zu bilden, obgleich doch genügend andere, größere und kleinere textabschnitte sich einer schlüssigen Deutung ebenso erfolgreich widersetzen. In den seit der erstpublikation vergangenen gut 140 Jahren hat es in der rezeption mehrfach einen Wechsel der Perspektive gegeben nachdem fast das ganze 19. Jahrhundert den „Mantel“ und vor allem die „humane stelle“ als aufruf zum Mitleid mit den „erniedrigten und Beleidigten“ aufgefasst hatte, leitete rozanov um die Jahrhundertwende einen umschwung ein2, indem er darauf hinwies, wie Gogol’ den aus annenkovs Bericht bekannten Prototyp3 akakij akakievičs systematisch „entmenschlicht“ habe, was nicht zu der Botschaft der „humanen stelle“ passe. Diese nahm er dennoch ernst und meinte, Gogol’ hätte auf dem dort eingeschlagenen Wege fortschreiten sollen, um schließlich ein menschlicher, moralisch „positiver“ autor zu werden; nur sei ihm dies leider nicht mehr gelungen. anfang der 20er Jahre unseres Jahrhunderts kam dann mit dem formalistischen ansatz Ėjchenbaums4 eine auffassung zum tragen die in der „humanen stelle“ nicht mehr sehen wollte als einen stilistischen kunstgriff (priëm). sie hat vor allem in der westlichen Gogol’-rezeption nachfolge gefunden, während die sowjetischen Interpreten – mit wenigen ausnahmen bis heute – an der sozialkritischen Deutung festhalten, gewöhnlich ohne die christliche komponente der „humanen stelle“ auch nur zu erwähnen. eine neue Dimension wurde eröffnet durch tschižewskijs hinweis auf die rolle des teufels im „Mantel“5, womit das religiöse – in der gleichsam negativen 1

2 3 4

5

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G. Wytrzens in der Besprechung des Bandes Die russische novelle (Düsseldorf 1982), in: Wiener slavistisches Jahrbuch. 29/1983, s. 161. V. rozanoV: Legenda o Velikom inkvizitore. erstmals im russkij vestnik 1891. P. V. annenkoV: Literaturnye vospominanija, Moskva, 1960, s. 76f. B. ĖJchenBauM: kak sdelana „Šinel’“ Gogolja. In: skvoz’ literaturu. sbornik statej. Leningrad, 1924. D. tschIžeWskIJ in mehreren aufsätzen, zuletzt in: Gogoľ-studien, in dem sammelband Gogol’, turgenev, Dostoevskij, tolstoj, München, 1966, s. 57ff. In Fortführung der Linie tschižewskijs z. B. toby W. cLyMan: the hidden Demons in Gogol’s „overcoat“ In: russian Literature 7, 1979, s. 601ff.

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Variante des aberglaubens – wieder ernstgenommen wurde6. Der streit der ausleger verlagerte sich nun auf die Frage: Ist die „ewige Idee des künftigen Mantels“ (III, 154)7 eine teuflische Versuchung, an der a. a. schließlich zugrundegeht, oder ist der Mantel im Gegenteil gerade das, was ihn aus seiner unnatürlichen Isolation zu wahrem Leben befreit, wenn auch nur für einen tag (vgl. III, 169)? Im zweiten Falle wäre der teufel eher peripher. In beiden Fällen aber bleibt die „humane stelle“ ebenso unerklärt wie a. a.s Wiederkehr8 im „phantastischen schluss“. einige neue Gedanken hat dann F. Driessen9 in die Diskussion eingebracht, weniger durch die einbeziehung psychoanalytischer Gesichtspunkte, als vielmehr dadurch, dass er auf die existenz von zwei „humanen stellen“10 hinwies, zum andern dadurch, dass er auf mehrere Parallelen zwischen dem schneider und der „bedeutenden Person“ aufmerksam machte. aber auch bei der an sich interessanten Fragestellung, ob etwa beide – Petrovič und der General – Widersacher a. a.s sind, verliert man die „humanen stellen“ leicht aus dem Blick. Was allerdings den „phantastischen schluss“ betrifft, so hat Driessen einen möglichen subtext entdeckt: die von Johannes climacus überlieferte seltsame Vita des acacius sinaiticus11. Damit war nicht nur ein weiteres „religiöses“ element gegeben, sondern auch ein Vorbild für die „bedeutende Person“, ihr Verhalten vor und nach dem tode a. a.s und sogar für dessen postumes auftreten. aber an kohärenz im hinblick auf die „humanen stellen“ fehlte es noch immer. nur selten ist in der sekundärliteratur der Gedanke angeklungen, konzeption und struktur des „Mantels“ könnten auch mit Gogol’s innerer entwicklung während der entstehungszeit (1839–41) zusammenhängen, besonders mit dem im sommer 1840 in Wien zu vermutenden „umbruch“ während einer lebensgefährlichen erkrankung. Ich halte einen solchen zusammenhang für sehr wahrscheinlich und nehme deshalb an, dass die (erst in der letzten Fassung voll 7 8

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10 11

Mit Band- und seitenzahl wird die 14bändige akademie-ausgabe, 1940–52 zitiert. zweifel an der Identität des Gespenstes mit a. a. hegt B. zeLInskI, m. e. gegen Gogol’s text. Vgl.: Die russische novelle, Düsseldorf, 1982, s. 61. F. c. DrIessen: Gogol’ als novellist, Baarn, 1955; engl. the hague, 1965. – Wie leicht derartige ansätze in die Irre führen können, zeigt das jüngste Gogol’-Buch von James WooDWarD: the symbolic art of Gogol, columbus, 1982, wo nicht nur behauptet wird, a. a. sei mit seiner chozjajka verheiratet und stünde unter ihrem Pantoffel (pod ee bašmakom), sondern auch die erzählung „Koljaska“ aus der heutigen Bedeutung von koljaska = Kinderwagen gedeutet ist – ein schlichter anachronismus. III, 143–144 und III, 169. hieran schließen an die arbeiten von k. D. seeMann: eine heiligenlegende als Vorbild von Gogol’s „Mantel“. In: zeitschrift für slavische Philologie 33, 1967, s. 7ff sowie J. schILLInGer: „the overcoat“ as a travesty of hagiography. In: slavic and east european Journal 16/1, 1972, s. 36ff. ohne kenntnis dieser arbeiten wurde der hl. akakius neuentdeckt von erkki Peuranen: akakij akakievič i svjatoj akakij. In: studia slavica Finlandensia 1, 1984, s. 122ff, wo sogar noch ein zweiter acacius für die Wetter- und temperaturmetaphern angeboten wird, die Woodward aus dem kampf der Geschlechter deutet.

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ausgeformten) „humanen stellen“ sehr ernstgemeint sind. Das impliziert aber auch, dass Gogol’s kritik an den bestehenden Verhältnissen wesentlich nicht sozialer, sondern moralisch-religiöser natur war. Die Frage ist, ob sich das – auch außerhalb der „humanen stellen“ – aus dem text des „Mantels“ selbst belegen lässt. Ich glaube, ja. unter den ergänzungen, die erst in der letzten Fassung auftauchen, gibt es ganz am anfang (III, 141) die „Digression“ über jenen kapitan-ispravnik, der sich angeblich „erst kürzlich“ darüber beschwert habe dass „die rechtsnormen des staates zugrundegingen und sein geheiligter name entschieden unnützlich im Munde geführt“ werde. Meine hier vorgeschlagene Übersetzung versucht deutlich zu machen, dass es sich um ein – auf den ersten Blick ironisch verfremdetes – Bibelzitat handelt, nämlich um das zweite Gebot (2. Mos. 20.7)12. Das ist bisher nicht erkannt worden. Die erwähnung des kapitan-ispravnik wird gewöhnlich als eine Digression à la sterne, als „verbal arabesque“13 o. ä. abgetan. aber Gogol’ arbeitet vornehmlich mit solchen unauffälligen, versteckten Mitteln. nehmen wir ihn auch hier beim Wort, so ergibt sich vielleicht doch Wesentliches über die konzeption, die hinter der erzählung als ganzer oder zumindest hinter der sie tragenden „Welt“ der Beamtenschaft steht. Dieser „Welt“ hat McFarlin eine eigene studie gewidmet14 und herausgefunden, dass die Mehrzahl der im „Mantel“ erwähnten Beamten dem „mittleren gehobenen Dienst“ angehört, dessen obersten rang (die 9. klasse der tabel’ o rangach Peters des Großen) a. a. ebenso innehat wie der kapitan-ispravnik unserer Digression und vielleicht auch der Mann von a. a.s taufpatin Belobrjuškova als kvartal’nyj oficer15. höhere ränge haben nur der častnyj pristav (7. klasse) und natürlich die „bedeutende Person“ im Generalsrang (4. klasse). Was den als taufpaten a. a.s fungierenden referatsleiter (stolonačal’nik) im senat betrifft16, so ist sein rang schwer auszumachen – immerhin war Gogol’ selbst 1830–31 stellvertretender referatsleiter (pomoščnik stolonačal’nika) im hofministerium, in der 14. klasse, aber mit 750 rubeln Jahresgehalt, also fast doppelt soviel wie der fünf rangklassen über ihm stehende a. a. es scheint, dass schon in den Details der meist für bare Münze genommenen realienschil12 13

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ksl.: ne vozmeši imene Gospoda Boga tvoego vsue. so r. Peace in seinem aufsatz: Gogol’ and Psychological realism: Šinel’. In: russian and slavic Literature, ed. by r. Freeborn et al., ann arbor, 1967, s. 87. harold a. McFarLIn: „the overcoat“ as a civil service episode. In: canadian-american slavic studies, 13, nr. 3, 1978, s. 235ff. hier schwankt McFarlin zwischen der 12. rangklasse und der 8., die den eintritt in den höheren Dienst bedeutete und mit dem erwerb des persönlichen (nicht des erblichen) adels verbunden war. Da der senat eine den Ministerien übergeordnete Dienststelle war, ist eine relativ hohe einstufung denkbar. Gogol’ scheint das anzudeuten, wenn er eroškin einen prevoschodnejšij čelovek nennt (III, 142) in anspielung auf die anrede prevoschoditel’stvo (exzellenz), die allerdings erst der 4. rangklasse zustand. Wahrscheinlich ist das ironisch: ein exzellenter Mensch, wiewohl keine Exzellenz!

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derungen des „Mantels“ so manches nicht stimmt17. Ganz gewiss aber ist a. a. nicht der typische „kleine“ Beamte. und seine Lebensweise ist ja auch nach dem text selbst keineswegs typisch für seine soziale Gruppe, was Gogol’ in dem satzungetüm klarmacht (III, 146), in dem die Freizeitbeschäftigungen der kollegen dem Leben des an keinerlei ablenkung interessierten a. a. gegenübergestellt werden. obwohl ich nicht glaube, dass Gogol’s erste Leser, wie McFarlin meint, die Verhältnisse im Öffentlichen Dienst sehr genau kannten, sollte man doch die hier mitgeteilten Details bei der Interpretation mehr berücksichtigen als das gemeinhin geschieht. Dabei ist auch McFarlins Feststellung wichtig, dass die 14. rangklasse keineswegs das untere ende der skala des Öffentlichen Dienstes darstellte, sondern dass es noch eine ganze reihe niedrigerer stufen gab, die allerdings nicht mehr als činy, deren Inhaber also auch nicht mehr als činovniki galten, z. B. die am ende der erzählung auftretenden budočniki. Im Lichte dieser Information über die hierarchie bekommt z. B. die Mitteilung einen sinn, dass die Portiers a. a. gar nicht beachteten (III, 143), obwohl er sicher 6 bis 7 ränge über ihnen stand. Bedeutsam an alledem ist die hierarchische struktur der Beamtenwelt, in der a. a. – als ewiger Titularrat – eine eher untypische sonderstellung einnimmt, typisch höchstens für jene Beamten, die aufgrund mangelnder bildungsmäßiger Voraussetzungen den aufstieg in den „höheren Dienst“ (ab der 8. rangklasse mit dem persönlichen adel verbunden) nicht schafften und, wie man früher im militärischen Bereich sagte, „an der Majorsecke scheiterten“, also ewig amtmann bzw. hauptmann blieben. erst in diesem zusammenhang lässt sich verstehen, weshalb der anfangs erwähnte kapitan-ispravnik zu denen zählt, die nicht wiederbeißen können (III, 142), obgleich er in seinem Provinznest eine wichtige Figur ist und höher steht als zahlreiche Polizei- und Justizbeamte bis hinab zum budočnik. er ist ja (laut Pawlowski) „kreisrichter“, wörtlich etwa „hauptmann der exekutive“, also eine art sheriff. und als solcher nimmt er für seinen „geheiligten namen“, d. h. natürlich für seinen rang, die Formel des zweiten Gebots in anspruch: „Du sollst den namen des herrn, deines Gottes, nicht unnützlich im Munde führen.“ Das heißt für Gogol’: er (wie jeder andere Vorgesetzte) hält sich für gottgleich, maßt sich kraft seines amtes und ranges göttliche ehren an. Genau an diesem Punkte setzt Gogol’s kritik an. Von hier aus führt eine gerade Linie zum verabscheuungswürdigen Verhalten der „bedeutenden Person“ (die in einem der entwürfe – III, 460 – noch mit Jupiter verglichen wurde), eine gerade Linie auch zur zweiten „humanen stelle“: „Wie viel unmenschlichkeit im Menschen ist, wie viel verheerende Grobheit in der verfeinerten Weltläufigkeit steckt, und, o Gott!, sogar in einem Men17

so wenig wie im „revisor“, wo der kollegienregistrator (14. rangklasse oder, wie osip sagt: elistratiška prostoj; 2. akt, l. auftr.) chlestakov von altgedienten Beamten für einen „General“ gehalten wird.

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schen, den die Welt für nobel und ehrlich erachtet!“ (III, 144). all das wird am Verhalten des neugebackenen „Generals“ exemplifiziert. Das Fehlverhalten – christlich gesprochen: die sünde – der „bedeutenden Person“ wie jedes anderen ranghöheren in der Beamtenhierarchie ist ein Verstoß gegen das „vornehmste Gebot“ (Mt. 22.37–39 bzw. Mk. 12.30–31), und zwar gegen dessen beide teile, die Gottesliebe und die nächstenliebe. Die Gottesliebe ist dem unmöglich, der sich selbst an die stelle Gottes setzt, und die nächstenliebe fehlt ihm aus dem gleichen Grunde. sie fehlt aber auch den Gleichrangigen, die a. a. ärgern und verspotten. Deshalb wirkt ihr treiben so erschütternd auf den eben eingestellten jungen Mann, in dem man wohl den Interpreten von Gogol’s empfindungen sehen darf, wenn nicht sogar eine Verkörperung der erfahrungen aus Gogol’s eigener Beamtenzeit. Die von einer „nicht-natürlichen Macht“ bewirkte erschütterung dieses jungen Mannes wird ausgelöst durch das Wort „ich bin dein Bruder“, das er durch a. a.s abwehrende reden hindurchzuhören meint. Mit dem Worte „Bruder“ ist nicht rousseauscher sentimentalismus angesprochen, nicht nur das vornehmste Gebot der nächstenliebe, sondern wohl auch – immer noch biblisch – eine schreckliche strafandrohung. In der Bergpredigt (Mt. 5.22) heißt es nämlich: „Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber seinem Bruder sagt: du nichtsnutz! der ist des hohen rats schuldig; wer aber sagt: Du gottloser narr! der ist des höllischen Feuers schuldig.“ – erst vor diesem hintergrund wird, wie ich glaube, die plötzliche erschütterung des jungen Mannes ganz verständlich. selbst wenn man die hier vorgeschlagene Deutung der Digression über den kapitan-ispravnik und der ersten „humanen stelle“ annimmt, was dem Gogol’kenner nicht schwer fallen dürfte, bleiben natürlich noch genügend ungelöste Fragen im „Mantel“ zurück, vor allem in Verbindung mit der positiven Wandlung des jungen Mannes und des Generals18 einerseits und der entgegengesetzten Wandlung des wiederkehrenden a. a. andererseits. aber das führt schon über den rahmen dieser abhandlung hinaus.

18

Vgl. den hinweis auf Gogol’s Idee der perfectibility bei elizabeth c. shePerD: Pavlovs „Demon” and Gogol’s „overcoat”. In: slavic review, 33, 1974, s. 299. Diese Idee liegt sicher der konzeption des 2. und 3. teils der „toten seelen“ zugrunde, und sie wird im „Mantel“ gleichsam erstmals erprobt, wobei die Wandlung selbst bei a. a. noch negative Vorzeichen hat, ähnlich wie Gogol’ früher beim entwurf einer omnipotenten Vatergestalt zunächst den „negativen“ zauberer der „schrecklichen rache“ schafft und später erst den (zumindest positiv gemeinten) supervater taras Bul’ba – ganz abgesehen davon, daß beide ihre kinder umbringen.

Gogol’ und Paulus Das Thema „Gogol’ und Paulus“ mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen. Was hat der Autor der ukrainischen Dorfgeschichten, der Petersburger Novellen, des Kosakenromans „Taras Bul’ba“, des „Revisors“ und der „Toten Seelen“ mit dem Apostel Paulus zu tun? Wo kann es da überhaupt Beziehungen, Berührungspunkte, gar Gemeinsamkeiten geben? Nun ja, man weiß, dass Gogol’ gegen Ende seines lebens, spätestens seit den „Ausgewählten Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden“ (1846) betont religiös gewesen ist. Man hat ihn deshalb schon damals und bis heute teils bedauert und entschuldigt, teils verdammt. Kaum jemand hat sich um echtes Verständnis bemüht, und einzelne positivere Stellungnahmen, wie z. B. die von Apollon Grigor’ev oder die des alten Tolstoj, fallen gegenüber der allgemeinen Einschätzung, um nicht zu sagen Verurteilung, kaum ins Gewicht. Macht man sich einmal die oft frustrierende Mühe, die zahl- und umfangreichen Briefe Gogol’s aus den 40er Jahren durchzulesen, so trifft man dort natürlich auf Nennungen des Apostels und auf Zitate aus den paulinischen Briefen. Darunter etwa auch auf diese Passage aus einem Brief an die jüngste Schwester ol’ga (damals 22) vom 20. Januar 1847 aus Neapel: „lies jeglichen Tag das Neue Testament, und dies soll Deine einzige lektüre sein. Dort wirst Du alles finden, wie mit den leuten umzugehen ist und wie man ihnen helfen kann. Besonders gut sind dafür die Briefe des Apostels Paulus. Er belehrt alle und führt sie auf den rechten Weg, angefangen von den Geistlichen und Kirchenhirten bis hin zu den einfachen leuten belehrt er einen jeglichen, wie er sich zu verhalten hat an seinem Platz und wie er seine Pflichten in der Welt erfüllen muss vor den Höhergestellten wie den Niederen gegenüber. lies nicht zuviel auf einmal: ein Kapitel am Tag ist reichlich genug, vielleicht sogar weniger. Aber nach der lektüre widme Dich der Überlegung und bedenke das Gelesene gut, um nicht im buchstäblichen Sinne zu verstehen, was im geistlichen Sinne verstanden sein will. Bedenke, wie das Gelesene in die Tat umzusetzen sei zur jetzigen Zeit, bei den heutigen Umständen, die in vielem anders geworden sind als die, die damals, zur Zeit des Apostels Paulus herrschten, wenn auch der Kern der Sache (sila dela) der gleiche geblieben ist.“ (XIII, 183f)1 Gogol’ gefällt sich hier, wie so oft, in der Rolle des geistlichen Ermahners, und man könnte sagen, das stammt eben aus der Zeit seines Abgleitens in „Mystizismus“ oder religiöse Wahnvorstellungen. Fast gleichzeitig mit diesem Brief erschienen ja die „Ausgewählten Stellen“, jenes „unselige Buch“, und zudem ist 1

Zitate mit Band- und Seitenzahl beziehen sich auf die Akademie-Ausgabe: N. V. GoGol’, Polnoe sobranie sočinenij, Izd-vo AN SSSR, leningrad, 1940–1952.

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Gogol’

das ein Privatbrief. Wenn es von daher Verbindungen zum Werk Gogol’s geben sollte, dann allenfalls eben zu den „Ausgewählten Stellen“ oder zu den Entwürfen des zweiten Teils der „Toten Seelen“ – also Schriften oder zufällig erhaltenen Fragmenten, die, selbst nach Gogol’s eigenem Verständnis, nicht eigentlich zu seinem literarischen Werk gehören. Und dieser Einwand hat natürlich seine Berechtigung. Die meisten Parallelen finden sich tatsächlich dort und in den privaten Briefen der 40er und 50er Jahre. Andererseits ist aber vielleicht auch folgendes zu bedenken: Allein in dem eben zitierten Brief vom Januar 1847 gibt es, außer dem Hinweis auf Paulus, Zitate aus allen vier Evangelien2, Erwähnungen des Buches Hiob und der Schriften Ephräms des Syrers. All das beweist zumindest eine große Vertrautheit mit diesen Texten, darunter eben auch den paulinischen, die nur durch langandauerndes Studium erworben sein kann. Dass Gogol’ solche Studien über Jahre betrieben hat, ist bekannt und wird hin und wieder auch in neueren sowjetischen Arbeiten – so in der Biographie von Zolotusskij3 – ausdrücklich, wenn auch kommentarlos erwähnt. Es scheint sich aber noch niemand die Frage vorgelegt zu haben, nicht nur, seit wann und aus welchen Motiven das geschah, sondern auch, ob und gegebenenfalls wie sich solches Studium auf Gehalt und Gestalt der gleichzeitig entstehenden Werke ausgewirkt hat. Damit eine solche Frage sinnvoll gestellt werden kann, muss der zeitliche Rahmen, vor allem der Beginn dieses, sagen wir, Bibelstudiums ermittelt werden. Die schlichte Behauptung, Gogol’ sei von Kindheit an, durch Erziehung und Umgebung schon, ein religiöser Mensch gewesen, besagt noch wenig. Das, worauf sich solches pauschale Urteil gründet, ist weithin Konvention, rituelle Tradition, nicht weniges auch Aberglaube, und nichts davon setzt ein Studium der Bibel oder gar der theologisch bekanntlich schwierigen Paulus-Briefe voraus. Zudem lief solche private oder individuelle Auseinandersetzung mit den Quellenschriften des Christentums der Tradition im orthodoxen (wie übrigens auch im römischkatholischen) Verständnis sogar zuwider. Derartiges kam aus protestantischen Quellen, genauer aus der pietistischen Erweckungsbewegung, die um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, parallel zur Freimaurerei, einen erheblichen Einfluss auf jenen Teil der russischen Gebildeten ausübte, dessen geistliche Bedürfnisse von der im Rituellen erstarrten orthodoxen Kirche nicht mehr befriedigt wurden. Zu diesen geistigen Kontakten und Entwicklungen im Spannungsfeld von Aufklärung und Sentimentalismus wäre viel zu sagen, was den Rahmen unseres Themas sprengen müsste; deshalb nur die Stichworte „Heilige Allianz“ (die Idee der baltischen – also protestantischen – Baronin von Krüdener), Russische Bibelgesellschaft (die Gründung des schottischen Kongregationalisten – also Protestanten – Paterson), und „Mystizismus“ (russ.: misticizm), womit einerseits die Bigotterie bezeichnet zu werden pflegt, die seit etwa 1816 am Hofe Alexanders I. herrschte, als auch die Geisteshaltung des späten Gogol’, und was von einer 2 3

Im Einzelnen werden zitiert Mk. 10.29, Joh. 16.17, luk. 15.7 und Mt. 11.7. ZoloTUSSKIJ, Igor’: Gogol’ (in der Reihe Žizn’ zamečatel’nych ljudej), Moskva, 1979.

Gogol’ und Paulus

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Kennerin der Verhältnisse und ihrer theologischen Voraussetzungen, Fairy von lilienfeld, erklärt wird als „das, was bei uns Neupietismus heißt“4. Auch die naheliegende Frage, wie denn Gogol’ solche Strömungen erreicht haben mögen, ist, meines Wissens, noch nie ernsthaft gestellt worden. Dabei scheint die Antwort darauf gar nicht so schwer zu sein. Der erste und womöglich einzige Vermittler kann kaum jemand anders gewesen sein als der Erzieher des Kronprinzen, Vasilij Andreevič Žukovskij (1788–1852), der erste lehrmeister Puškins in der Poesie, der begnadete Übersetzer und Balladendichter, von dessen odyssee-Übersetzung Gogol’ eine moralische Erneuerung Russlands erwartete. Žukovskij war seit 1830 mit Gogol’ befreundet, und diese Freundschaft war die einzige, die fast ungetrübt bis zu Gogol’s Tod (1852) gehalten hat. Unter den mehrfachen Perioden gemeinsamen lebens unter einem Dach war die erste wahrscheinlich die glücklichste. Es war der Winter 1838/39 in Rom, wo Žukovskij sich mit dem Thronfolger während einer Bildungsreise aufhielt. Žukovskij war ein Genie der Vermittlung und der Konzilianz, dessen Bedeutung für die russische Geistes- und literaturgeschichte noch längst nicht genügend erforscht und gewürdigt ist – vermochte er es doch, Puškins primär ästhetisches Kunstverständnis genauso zu würdigen wie Gogol’s moralische Anforderungen an die Kunst. Sicher ist es Žukovskijs Verdienst, dass Gogol’ den Übergang von einer quasi-puškinschen Ästhetik zu seiner eigenen Kunstauffassung fand, und zwar um das Jahr 1839, aus dem u. a. die erste Skizze zum künftigen „Mantel“ datiert. Žukovskijs Rolle war vor allem wichtig bei der Überwindung des scheinbar unersetzlichen Verlusts, den der Tod Puškins für Gogol’ bedeutete. Zugleich aber wirkte 1839 noch ein anderes Erlebnis in der gleichen Richtung, nämlich der Tod des 23jährigen Grafen Josef Wielgórski in Gogol’s Armen am 21.5.1839. Die Erschütterung durch dieses Ereignis war tief und schmerzlich; sie rüttelte an den Grundfesten von Gogol’s Welt- und Kunstverständnis. Seine Briefe vom Frühsommer 1839 spiegeln eine tiefe Verzweiflung: „Ich glaube jetzt an gar nichts mehr, und wenn ich etwas Schönes sehe, kneife ich die Augen zu und versuche, nicht hinzuschauen“ (XI, 228) heißt es da etwa, oder „es gibt in Russland kein leben für schöne Menschen. Einzig die Schweine sind dort zählebig“ (XI, 224). Es hat lange gedauert, bis Gogol’ diese Verzweiflung über die Hinfälligkeit des ästhetisch Schönen überwunden hat. Er hat sein ästhetisches Ideal schließlich doch nicht verlorengegeben, sondern zu retten versucht, indem er ihm eine das Sinnliche transzendierende ethische Funktion zuschrieb, und zwar unter Berufung auf die Bibel. Dabei mag der Umstand von Bedeutung gewesen sein, den die Fürstin Repnina in ihren Memoiren mitteilt: 4

lIlIENFElD, Fairy von: Gogol als Verfasser der „Betrachtungen über die Göttliche liturgie“. In: Wegzeichen – Festgabe zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. Hermenegild M. Biedermann, Würzburg, 1971, S. 377–404.

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Gogol’

Eines Tages, nach dem Tode des jungen Grafen Wielgórski, traf ich Gogol’ in der Villa Falconieri (...) mit einem Buch in der Hand an und fragte, was für ein Buch das sei. Er reichte es mir. Es war eine Bibel. Auf der ersten Seite stand in der zittrigen Handschrift des verstorbenen Wielgórski: Meinem Freunde Nikolaj, Villa Volkonskaja. – Gogol’ sagte zu mir: Dies Buch ist mir nun doppelt heilig5

Nach dieser Erzählung wie auch nach Ausweis der Bibel-Zitate und -Anspielungen in Werken und Briefen ist der Beginn einer ernsthaften Beschäftigung Gogol’s mit Bibeltexten ab dem Sommer 1839 anzunehmen, d. h., dass Reflexe dieser Beschäftigung nur in den nach diesem Zeitpunkt geschriebenen oder abgeschlossenen Werken zu vermuten sind. Unter den vielen Kompliziertheiten, die Gogol’s innere und künstlerische Biographie kennzeichnen, ist das Zusammentreffen einer schweren Krise seiner ästhetischen Wertvorstellungen mit der Hinwendung zur Bibel eine der bedeutungsvollsten. Nicht, dass die ästhetischen Wertvorstellungen nicht auch vorher schon krisenhafte Stadien durchlaufen hätten. Es ist ein faszinierendes und verwirrendes Schauspiel, dies zu verfolgen, daher hier ein kurzer Exkurs: Fast noch vor jedem nennenswerten Werk („Hans Küchelgarten“ einmal ausgenommen) gibt es in Gogol’s leben die merkwürdige Episode seiner Flucht nach lübeck und dazu den Rechtfertigungsbrief an die Mutter vom 24.7.1829. In diesem Brief spielt eine geheimnisvolle Frauengestalt die Rolle des Verhängnisses: „das Wesen, das Er mir gesandt hat, meine schwankend-errichtete Welt zum Einsturz zu bringen, war keine Frau. Es war eine Gottheit, von Ihm geschaffen, Teil Seiner selbst! Aber, um Gottes willen, fragen Sie nicht nach ihrem Namen. Sie ist allzu, allzu erhaben“ (X, 147). Was immer an Erlebtem dahinterstehen mag, schon hier begegnet das Bild einer (vermutlich jungen und schönen) Frau als Symbol, und es wirkt zugleich erhaben und bedrohlich. Die gleiche Ambivalenz wiederholt sich 1830 in dem platonischen Dialog, der sogar „Die Frau“ überschrieben ist. Hier belehrt Plato den an der Treue seiner Alkinoë verzweifelten Telekles über das Wesen der Frau, sie sei „die Sprache der Götter, die Poesie, das entstehende Bild im Haupte des Künstlers, überhaupt das immaterielle Ideal vor aller männlichen Gestaltung im Grobstofflichen“ (VIII, 145f); Telekles selber aber wird von der sinnlichen Schönheit der später hinzukommenden Alkinoë bezaubert. Eine entschieden dem Negativen zuneigende Interpretation erfährt die weibliche Schönheit dann nach 1833 in „Mirgorod“, wo sie sowohl dem Scholaren Foma Brut (im „Vij“) als Hexe wie auch Taras Bul’bas Sohn Andrij in der Gestalt der schönen Polin den Tod bringt. Ähnliches wiederholt sich in der tödlichen Selbsttäuschung des Malers Piskarëv (im „Nevskij prospekt“) über die schöne Prostituierte. Trotz alledem gibt Gogol’ das Symbol der schönen jungen Frau für den höchsten ästhetischen Wert nicht auf. sondern versucht deren bezaubernd verwandelnder Wirkung einen neuen ethischen Wert zuzuweisen. Am bekanntesten ist die momentane Verzauberung Čičikovs durch das plötzliche Auftauchen der 5

VERESAEV, V. V.: Gogol’ v žizni. Moskva-leningrad, 1933, S. 205.

Gogol’ und Paulus

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16jährigen Gouverneurstochter (im 5. Kapitel der „Toten Seelen“), eine Verzauberung, die nach Gogol’s Worten noch wirksamer gewesen wäre, wenn an Čičikovs Stelle ein zwanzigjähriger Jüngling gestanden hätte. In dem Fragment „Rom“ ist ein solcher oder doch nur wenig älterer vorhanden, der junge Fürst, der im Mittelpunkt der Schilderung steht. Er wird von Annunziata, der Schönen aus Albano, bezaubert, und dies wird unter Berufung auf ein Bibelwort positiv bewertet. Die durchaus sinnlich beschriebene Schönheit der Annunziata (eine genaue Wiederholung des Typs der Alkinoë, der Hexe, der Polin, der Prostituierten) wird von dem Fürsten überraschenderweise auf einmal nicht mehr als Frau von Fleisch und Blut angesehen und begehrt, sondern aufgrund ihrer ungewöhnlichen Schönheit zu einem Wert an sich erklärt, der der ganzen Welt gehöre. „Die volle Schönheit ist dazu in die Welt gegeben, dass jeder sie sähe, dass er ihre Idee auf ewig in seinem Herzen bewahre. (...) Wird denn ein leuchter dazu entzündet, sagte der göttliche lehrer, dass man ihn versteckt und unter den Tisch stellt? Nein, der leuchter wird dazu entzündet, auf dem Tisch zu stehen, dass alle ihn sehen und sich in seinem lichte bewegen“ (III, 250). Die biblische Begründung (nach Mt. 5.15) rettet die ästhetische Schönheit aus der sinnlichen und damit vergänglichen Welt in die der Ideen, wobei sie gewissermaßen dem (bei Matthäus unmittelbar vorangehenden) „licht der Welt“ gleichgestellt wird. Fürwahr eine kühne Hilfskonstruktion, aber bezeichnend für Gogol’s Methode, in der Bibel nach Rechtfertigung für seine Überzeugungen und Vorlieben zu suchen. Die letzte Stufe dieser moralischen Nobilitierung des ästhetisch Schönen bildet dann im zweiten Teil der „Toten Seelen“ die Ulinka. Soweit dieser Exkurs. Was hat das alles mit Paulus zu tun? Ich glaube, sehr viel. Das Muster der Annunziata-Umdeutung mit Hilfe des Jesuswortes vom licht, das man nicht unter den Scheffel stellt, wiederholt sich mehrfach auch und gerade unter Berufung auf Paulus-Stellen. So begründet Gogol’ die Herausgabe der „Ausgewählten Stellen“ mit der Behauptung, Gott „hat geboten, dass wir einander jeden Augenblick belehren sollen“ (VIII, 282), was eine Kontamination mehrerer Paulusstellen ist (Kol. 3.16, l. Thess. 5.11, evtl. Hebr. 10.25). So weist er die Kritiker seines Briefbandes, die ihm Verlogenheit vorwarfen, mit der Entgegnung zurück, dies könne nur in dem Sinne gelten, in dem Paulus gesagt habe, „Der ganze Mensch ist eine lüge“ (Ves’ čelovek est’ lož’), ein entstelltes Zitat aus Röm. 3.4 (VIII, 433 u. 437)6. So findet er sogar für seine Gewohnheit, ihn nicht befriedigende Manuskripte zu verbrennen, eine Begründung bei Paulus: „Es wird nicht leben, es stürbe denn“ (VIII, 297), was im originalzusammenhang (1. Kor. 15.36) in die Diskussion um den sogenannten Auferstehungsleib gehört. Der Beispiele sind noch mehr. Ich habe sie an anderer Stelle7 zusammenzustellen versucht. 6

7

Gogol’ verwechselt u. a. das ksl. Adjektiv mit dem russ. Substantiv ložь – näheres in der Arbeit unter Anm. 7. Gogol’ im Spiegel seiner Bibelzitate. In: Festschrift für Herbert Bräuer, Köln, Wien 1986, S. 193–220, in diesem Band S. 333-354.

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Gogol’

Aber die Bedeutung des Paulus geht für Gogol’ offenbar über das hinaus, was ich bisher über die Rechtfertigungsfunktion solcher Zitate oder Fast-Zitate gesagt habe. Es sind vor allem zwei Komponenten, die die Gestalt des Paulus für Gogol’ so bedeutsam machen: einmal die Möglichkeit, in dem Apostel eine machtvolle Vaterfigur zu sehen, mit der er sich identifizieren konnte, zum andern die Möglichkeit, in Paulus ein hoffnungweckendes Vorbild dafür zu sehen, dass der Mensch grundsätzlich zur Umkehr und zur Wandlung fähig ist – die Hoffnung auf solche Wandlung begleitet Gogol’ sein leben lang; schon im lübecker Rechtfertigungsbrief hatte er davon gesprochen, dass er neugeboren werden wolle (pererodit’sja bzw. peredelat’sja hieß es da), und auch das licht der Schönheit sollte ja solche Wandlung bewirken. Paulus zeigt den glaubhafteren Weg durch Schwachheit und leiden. Die Möglichkeit zur Identifizierung ergibt sich aus der Ähnlichkeit, die Gogol’ empfinden konnte: einerseits eine ständige Bedrohtheit durch Krankheit und physische Schwäche, andererseits die Gewissheit, zu außergewöhnlichen, viele Menschen betreffenden leistungen geistiger Art berufen zu sein. Die Identifizierung mit Paulus als guida spirituale oder, tiefenpsychologisch gesprochen, als Vaterfigur, scheint für Gogol’ ebenfalls einem ständigen Bedürfnis entsprochen zu haben. Der leibliche Vater hat diese Rolle nur kurz und unvollkommen ausfüllen können, er starb schon 1825, und da war Gogol’ bereits sieben Jahre aus dem Haus. In Nežin hat diese Rolle dann für kurze Zeit der geliebte lehrer Belousov innegehabt, der Propagandist Schillerscher Ideen. Ihm folgte in der ersten Hälfte der 30er Jahre Puškin, nach dessen Tod 1837 eine Vakanz eintrat, die sich unter anderem auch als schöpferische lähmung auswirkte. Dass hier nun Paulus – wie bewusst oder unbewusst auch immer – eingesetzt wurde, zeigt sich, meiner Meinung nach, an einer Reihe von Zitaten und Anspielungen. Die erste eindeutige Erwähnung Pauli liegt zwar noch lange vor dem ernsthaften Bibelstudium Gogol’s. Sie findet sich in der „Schrecklichen Rache“ (erschienen März 1832). Dort beruft sich der Zauberer seiner Tochter Katerina gegenüber darauf, dass ja auch Paulus sich vom Verfolger zum Apostel gewandelt habe. Der Fortgang der Erzählung entlarvt das als Trick, mit dem der (absolut negativ gezeichnete) Vater sich aus der Gefangenschaft befreit. Immerhin kommen schon hier die Komponenten der Identifizierung und der Wandlung vor. Aber die „Wandlung vom Saulus zum Paulus“ gehört zu jenen gängigen Biblizismen, die in jeder christlich geprägten Gesellschaft in Umlauf sind, und die Gogol’ bei anderer Gelegenheit „pogovorki“ (I, 106) genannt hat. Wenn wir nach aussagekräftigeren Belegen Ausschau halten, müssen wir in Werken und Briefen suchen, die nach 1839 geschrieben sind. Das erste und wohl auch deutlichste Zeugnis dieser Art, durch das ich übrigens auf die hier vorgetragene Problematik aufmerksam geworden bin, findet sich in einem Brief aus Rom an S. T. Aksakov vom 5. März 1841. Dort heißt es u. a.:

Gogol’ und Paulus

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Ungeachtet meines krankhaften Zustandes, der wieder etwas schlimmer geworden ist, empfinde und erfahre ich wunderbare Augenblicke. Eine wundersame Schöpfung vollzieht und ereignet sich in meiner Seele (...) Hier ist für mich deutlich der heilige Wille Gottes erkennbar: eine solche Inspiration ist nicht vom Menschen; nie ließe sich solch ein Sujet erfinden! (XI, 330)

Das kann sich nur auf die „Toten Seelen“ beziehen, deren ersten Teil Gogol’ gerade abzuschließen im Begriff ist. Die göttliche Inspiration muss also die Fortsetzung seines großen Poems betreffen. Insofern steht der zitierte Brief in der Mitte zwischen den mehrfachen Äußerungen von August bis oktober 1840 (vgl. XI, 342, 343, 347, 349), mit denen Gogol’ seine Briefpartner anhält, von nun an seinem Wort blind zu vertrauen, da dieses jetzt mit höherer Macht begabt sei, und den Andeutungen, die er im Sommer 1842, nach der Drucklegung des Ersten Teils macht, dieser sei „nur die eilig von einem Provinzarchitekten hingebaute Vortreppe zu einem Palast von kolossalen Ausmaßen“ (XII, 70). Im März 1841, als der hier interessierende Brief an Aksakov geschrieben wird, steht aber, wie gesagt, erst einmal der Erste Teil kurz vor dem Abschluss. Gogol’ sieht Schwierigkeiten bei Zensur und Druck voraus und möchte deshalb in Moskau selbst die Aufsicht führen. Er scheut aber die Strapazen des Alleinreisens und bittet deshalb, Konstantin Aksakov und der Schauspieler Ščepkin möchten doch nach Rom kommen und ihn begleiten: „Sie werden kein unnütz Ding tun. Sie werden eine tönerne Vase abholen. Die Vase ist jetzt natürlich voller Sprünge und hält kaum noch; aber in dieser Vase ist jetzt ein Schatz beschlossen, also muss man sie wohl in Acht nehmen“ (XI, 331). Diese zwischen bitterer Selbstironie und tieferer Bedeutung schillernde Metapher ist aus folgendem paulinischen Text übernommen: Gott hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, dass durch uns entstünde die Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi. Wir haben aber solchen Schatz in irdenen Gefäßen, auf dass die überschwängliche Kraft sei Gottes und nicht von uns. (2. Kor. 4, 6–7)

Wo luther, den ich eben zitierte, von „irdenen Gefäßen“ spricht, stand griechisch ἐν ὀστρακίνοις σκεύεσιν, ksl. vo skudel’nychъ sosuděchъ, lat. in vasis fictilibus und frz. dans des vases de terre bzw. des vases d’argile, woher höchstwahrscheinlich Gogol’s „Vase“ (vaza) stammt8. Das Wort und das Bild wird aber nicht nur von Paulus gebraucht, sondern auch für ihn selbst verwendet, und zwar in dem Bericht über Pauli Berufung vor Damaskus (Apg. 9.15), dem zentralen Text der pietistischen Erweckungsbewegung. Dort wird der in Damaskus lebende Christ Ananias von Gott angewiesen, Saulus bei sich aufzunehmen, und zwar mit der Begründung vas electionis est mihi iste – ich zitiere die Fassung der Vulgata, weil auf ihr jenes 8

Über die Verbreitung französischer Bibelübersetzungen, besonders der von der Russischen Bibelgesellschaft nachgedruckten von lE MAISTRE DE SACI (SPb. 1815 u. 1817) vgl. die Arbeit unter Anm. 7.

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Gogol’

Vas d’elezïone beruht, mit dem Dante (Inf. II, 28) den Paulus einführt als einen seiner Vorgänger, die als lebende Menschen die Hölle besuchten und zurückkehrten. (Eine derartige legende war im Mittelalter verbreitet.) Sieht man Gogol’s Vasenmetapher und seine vorangehende Aussage über das göttlicher Inspiration zu dankende Sujet in diesem Zusammenhang, so öffnen sich weite Perspektiven. Er konnte ja in dem 1841 erreichten Stadium der Arbeit an den „Toten Seelen“ mit Sujet unmöglich das meinen, was Puškin ihm sechs Jahre zuvor abgetreten hatte. Es ging vielmehr um die Fortsetzung, um die gewaltige Konzeption der drei Teile (die er schon im 11. Kapitel erwähnt – VI, 246), eine Konzeption, die sich, wie oft bemerkt, an Dantes dreiteiligem Weltgedicht orientiert. Womöglich sah er sich sogar selbst als ein neues Vas d’elezïone, als Nachfolger Pauli und Dantes, der sich zu einer neuen Höllenfahrt (ins eigene Innere) und anschließendem Aufstieg zu läuterung und Himmelshöhen anschickt – dazu würde sein beliebtes Bild von der Leiter (auch in dem eben zitierten Brief von 1842, XII, 70) ebenso passen wie die hochpathetische Ankündigung im poetologischen Proömium zum 7. Kapitel der „Toten Seelen“: Und fern ist noch die Zeit, wo sich in einer anderen Tonart9 der Wirbel der Inspiration erheben wird aus dem in heiligen Schauder und Glanz gekleideten Haupte und man in verwirrtem Zittern vernehmen wird den majestätischen Donner anderer Worte. (VI, 135)

Wie dem auch sei – die Herkunft der Gogol’schen Vasenmetapher aus 2. Kor. 4.7 ist wohl unbestreitbar. Und auch hier zeigt sich wieder eine typische Akzentverschiebung durch Gogol’. Paulus spricht von der physischen Hinfälligkeit der Menschen überhaupt oder zumindest der Christen (Gefäße steht im Plural!) und deutet sie ad maiorem Dei gloriam: dass wir uns nicht überheben sollen. Gogol’ leitet, umgekehrt, aus der Gewissheit seiner gottgewollten Inspiration im Verein mit seiner physischen Hinfälligkeit (Vase steht im Singular!) den Anspruch ab, dass Andere ihm seine Alltagssorgen abnehmen müssten. Jedenfalls findet er seine eigene physische (von Krankheitsanfällen heimgesuchte) und psychische (von hoher Inspiration erleuchtete) Existenz mit all ihrer paradoxen Spannung in der Erfahrung des Paulus vorgezeichnet. Dadurch wird sie für ihn sinnvoll, ja als besonders begnadet erfahrbar, und er zögert offenbar nicht, sich mit Paulus zu identifizieren. Gerade der 2. Korintherbrief bot dazu vielfache Gelegenheit, vor allem das 12. Kapitel, das zu dem im theologischen Fachjargon so genannten „Schmerzensbrief“ gehört. So ist es kein Zufall, wenn Gogol’ Gottes Trost für den vom „Pfahl im Fleische“ geplagten Paulus, jenes „meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2. Kor. 12.9)

9

Gegen die meisten Übersetzungen verstehe ich ključ in der Wendung inym ključom wegen des Kontextes nicht als Quelle, sondern als musikalische Metapher, entsprechend dem heute üblichen Ausdruck v drugom ključe, was m. E. zu dem angekündigten Wechsel im Stil besser passt. Vgl. hier S. 409-415.

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– ksl. sila bo moja v nemošči soveršaetsja –, nicht nur auf sich bezieht, sondern ihn auch an seine ebenfalls kränkelnde Freundin im Geiste A. o. Smirnova weiter gibt, einmal 1844 (XII, 338) und noch einmal 1851 (XIV, 267). Und während der positive Aspekt der Vasenmetapher, der Schatz, mit dem Nachlassen der Inspiration an Bedeutung verliert, wird die Interpretation der „Schwachheit“ (nemošč’) als Korrelat, ja Vorbedingung geistiger leistung für Gogol’ immer wichtiger, nicht nur in dem Brief „Über die Bedeutung von Krankheiten“ (VIII, 228f). Er entwickelt daraus das, was Manès Sperber das Pathos der Schwäche10 genannt hat. Einmal findet sich, wieder in einem Trostbrief an die Smirnova, ein angebliches Jesuswort: „Und die leiden? (skorbi). Aber wenn der Erlöser selbst gesagt hat, dass nur durch sie die Seele geläutert wird, wie könnte man ohne sie auskommen?“ (XIV, 163). Ein solches Jesuswort ist nicht nachweisbar. Möglicherweise zitiert Gogol’ aus dem Gedächtnis aus patristischer literatur oder aus seiner geliebten „Imitatio Christi“, wo es in Kap. 2 § 12 heißt: „Gesetzt auch, du wärest mit Paulus in den dritten Himmel entrückt, so bist du deshalb noch nicht gesichert, keine Anfechtungen erdulden zu müssen. ,Ich will ihm zeigen’, sagte Jesus, ,wieviel er um meines Namens willen leiden muss’.“ Auch dieses Jesuwort betrifft nicht nur Paulus, sondern stammt auch aus der Damaskus-Geschichte (Apg. 9.16, wo es unmittelbar auf das „Gefäß (vas) der Erwählung“ folgt). Ich will nicht alle in den Briefen vorkommenden Paulus- oder sonstigen BibelZitate aufzählen. Im Rahmen unseres Themas scheint es mir angebracht, vor allem die Spuren paulinischer Gedanken in Gogol’s literarischem Werk zu sichern. Und da sind zwei Passagen zu nennen. Die erste, unauffälligere, steht an einer kompositorisch sehr bedeutsamen Stelle, nämlich am Schluss der „Abfahrt vom Theater“, jener grundsätzlichen Diskussion von Gogol’s ästhetischer und ethischer Rechtfertigung des lachens und der Komik als positiver Kraft. Und dieser Schluss bildet gleichzeitig den Beschluss der ersten (und einzigen von Gogol’ selbst betreuten) Werkausgabe in vier Bänden von 1842. Die Parallelen zwischen dem krönenden Monolog des „Autors“ und dem schon erwähnten poetologischen Proömium des 7. Kapitels der „Toten Seelen“ sind offensichtlich. Der dort formulierte (und zum Zitat gewordene) Gedanke vom sichtbaren lachen und den unsichtbaren Tränen wird im Schlussmonolog des komischen „Autors“ vertieft gedeutet durch die Berufung auf eben jene Kraft, die in den Schwachen mächtig ist. So lautet der letzte Satz dieses Monologs (und damit der ganzen Werkausgabe): Und wer weiß, vielleicht wird später einmal von allen erkannt werden, dass aufgrund der gleichen Gesetze, wodurch der stolze und starke Mensch im Unglück nichtig und schwach ist, während der Schwache groß wird wie ein Riese im Unheil, – dass aufgrund eben dieser Gesetze derjenige, der oftmals aus tiefster Seele weint, dass der, so scheint’s, am meisten lacht auf Erden. (V, 171)

10

Manes SPERBER: Alfred Adler oder das Elend der Psychologie, Frankfurt M./Berlin/Wien, 1983, S. 238

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Gogol’

Hier ist das Pathos der Schwäche in den Rang der Gesetzmäßigkeit erhoben, und sein Paradox als Muster gesehen für jenes andere Paradox, das seither als eigentliches Kennzeichen des Gogol’schen Humors gilt. Die zweite Passage ist eine der am meisten beredeten und umstrittenen in Gogol’s Werk überhaupt: Die sogenannte (erste11) „humane Stelle“ im „Mantel“. Die ganze Geschichte von dem jungen Mann und seinem plötzlichen Betroffensein, das sein ganzes künftiges leben verändert, erweist sich bei näherem Zusehen als eine Erweckungsgeschichte, d. h. als ein Damaskus-Erlebnis im Sinne des Neupietismus. Wenn man das erst einmal bemerkt hat12, drängen sich die Parallelen geradezu auf. Auch bei der ersten Erwähnung des Saulus in der Apostelgeschichte (7.57) ist dieser ein junger Mann (junoša), der der Steinigung des ersten Märtyrers Stephanus beiwohnt und sie mit Sympathie verfolgt. Akakij Akakievič wird von seinen Kollegen mit Papierschnitzeln beworfen, und der junge Mann ist zunächst bereit, mitzumachen. Saulus besorgt sich einen behördlichen Auftrag, mit dem er nach Damaskus reist (Apg. 9.2); der junge Mann ist erst vor kurzem in die Behörde eingetreten. Wichtiger als diese vielleicht winzigen Ähnlichkeiten ist natürlich das Erweckungserlebnis als solches. Die entscheidende Rolle spielt in beiden Texten eine Stimme und was sie sagt. Bei Gogol’ ist es die Stimme Akakijs, die sagt: „lasst mich doch, warum ärgert ihr mich?“ In der Apostelgeschichte „hörte (Saulus) eine Stimme, die sprach zu ihm: Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ Die Stimme bewirkt (im „Mantel“), dass der junge Mann „plötzlich“ seine Gemeinsamkeit mit den Kollegen aufgibt, „gleichsam im Innersten getroffen, und seitdem hatte sich alles vor ihm verwandelt und in anderem lichte gezeigt“, und dies hatte „irgendeine nichtnatürliche Macht“ (kakaja-to ne-estestvennaja sila) bewirkt. In der Apostelgeschichte ist es – neben der Stimme – „ein licht vom Himmel“ (9.3), während die Gefährten Sauls nur die Stimme vernehmen, aber niemand sehen. Saul wird für drei Tage blind (Apg. 9.8–9), und Gogol’s junger Mann bedeckt sein Gesicht mit der Hand (zakryval sebja rukoj) – der mediterrane Gestus des Entsetzens – als er erkennt, dass „in diesen durchdringenden Worten: lasst mich doch, warum ärgert ihr mich – die anderen Worte mitklangen: Ich bin dein Bruder!“ Die Blindheit Sauls aber wird aufgehoben, als Ananias ihn aufnimmt mit dem Wort „lieber Bruder Saul“ (9.17). Hier ist die Erweckungsgeschichte abgeschlossen, hier enden auch die Parallelen bzw. die, wie immer bei Gogol’, nach unten, ins Banale, umstilisierten Ähnlichkeiten, und von hier ab beginnt in beiden Texten die Beschreibung der Auswirkungen der Erweckung.

11

12

F. C. DRIESSEN (Gogol as a Short-Story Writer, The Hague, 1965) hat darauf hingewiesen, dass neben der gewöhnlich als „humane Stelle“ bezeichneten Passage am Anfang des „Mantels“ – III, 143f – auch auf die Beschreibung des Todes von Akakij Akakievič eine „humane“ Passage folgt – III, 169. Wertvolle Hinweise auf diese Parallelität verdanke ich meinem theologisch gebildeten Kollegen, Herrn Wolfgang Mölleken, Herford.

Gogol’ und Paulus

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Es ist schon hin und wieder die Vermutung geäußert worden, Gogol’ habe in dem Erlebnis des jungen Mannes möglicherweise eigene Erfahrungen aus seiner Beamtenzeit (1829–31) verarbeitet und sich so, gewissermaßen in HitchcockManier, in einer Nebenepisode ins Bild gebracht. Sicherlich sind seine Schreibstubenerfahrungen für Konzeption und Atmosphäre des „Mantels“ insgesamt von Bedeutung gewesen. Gerade in der „humanen Stelle“ scheint mir aber eher ein viel späteres Erlebnis mitgewirkt zu haben, nämlich die visionsartige Erfahrung während der schweren Krankheit in Wien, im Sommer 1840, eine Erfahrung, die Gogol’ durchaus als sein „Damaskus“ interpretieren konnte. Seine wenigen Andeutungen darüber sind zu vage, als dass sich daraus sichere Schlüsse ziehen ließen. Dafür sprechen allenfalls die Daten der meisten hier angeführten Zitate, die im August 1840 einsetzen und überwiegend in das Jahr 1841 und Anfang 1842 fallen. In eben dieser Zeit, wo die „Toten Seelen“ (Teil l) abgeschlossen werden, sowie „Rom“, „Die Abfahrt vom Theater“, die zweite Fassung des „Porträts“ und der „Mantel“, ist in allen diesen Werken eine Einarbeitung von Biblischem festzustellen, so in den „Toten Seelen“ eine Jesaja-Parodie im Munde Čičikovs, die ihn moralisch entlarvt (VI, 37)13, so im „Mantel“ die Episode des kapitan-ispravnik, der das 2. Gebot parodiert, wodurch die gesamte Beamtenhierarchie moralisch abgeurteilt ist14. So der junge Mann der „humanen Stelle“, dem plötzlich bewusst wird, dass auch Akakij Akakievič ein Mensch, und also sein Bruder ist – „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Mt 25.40) – dieser junge Mann bildet die einzige Ausnahme unter allen Personen, die im „Mantel“ auftreten, außer evtl. der „bedeutenden Person“, die, nachdem sie selbst ihren Mantel eingebüßt hat, ebenfalls Ansätze zu einer inneren Wandlung zeigt. Das Problem der inneren Wandlung, sowohl seiner selbst wie seiner Helden, wurde für Gogol’ nach dem Abschluss des ersten Teils der „Toten Seelen“ zum zentralen Problem überhaupt, an dem er letztlich gescheitert ist. Als wichtigster biblischer Zeuge für die Möglichkeit radikaler Umkehr stand ihm, offenbar besonders zu Anfang der 40er Jahre, als sich der Plan der Fortführung der „Toten Seelen“ abzuzeichnen begann, Paulus vor Augen. Später war ihm dann an Paulus neben der Wandlungsfähigkeit vor allem die Kraft aus der Schwäche bedeutsam und trostreich. Für die Interpretation des „Mantels“ lässt sich, wie ich glaube, aus diesen Beobachtungen mit Sicherheit nur die Einsicht gewinnen, dass die so genannte „humane Stelle“ gewiss kein artistischer Trick (priëm) zwecks Verzögerung oder stilistischer Abwechslung ist, wie Ėjchenbaum15 glauben machen wollte. Ein 13

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Dies wurde erstmals bemerkt von V. Š. KRIVoNoS in seinem Aufsatz „Pritča o Kife Mokieviče i eë rol’ v Mërtvych dušach“. Izvestija AN SSSR, Serija literatury i jazyka, tom 44, N. 1, 1985, S. 51. Vgl. meinen Beitrag „Doch noch Neues zu Gogol’s ‚Mantel’?“ in diesem Band S. 317-321. ĖJCHENBAUM, Boris: Kak sdelana „Šinel’“ Gogolja. In: Skvoz’ literaturu. Sbornik statej. leningrad, 1924.

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Gogol’

Fremdkörper bleibt sie in der Erzählung trotzdem, ebenso wie der „phantastische Schluss“, wie Gogol’ selbst ihn nennt, viele Fragen offen lässt, ja vermutlich nur wegen seines phantastischen Charakters überhaupt akzeptabel ist. In einem realistischen Plan ist die Wandlung der „bedeutenden Person“ durch Eingreifen eines Gespenstes genau so unglaubhaft wie die Wandlung Čičikovs nach seiner Befreiung aus dem Gefängnis durch die Machenschaften des Juriskonsults. Immerhin ist aber auch bei den letztlich misslungenen „Wandlungen“ erkennbar, dass sie nur durch leiden möglich werden, getreu dem Jesus-Wort an Paulus: „Ich will ihm zeigen, wieviel er leiden muss um meines Namens willen“ (Apg. 9.16).

Gogol’ im Spiegel seiner Bibelzitate lies jeden tag das Neue testament (...) besonders die Briefe des Apostels Paulus (...) Gogol’ an seine Schwester oľga am 20.1.1847 (Xiii, S. 183)1 Gogol’s ideal ist sonderbar; zugrunde liegt ihm das christentum, aber sein christentum ist kein christentum. dostoevskij im „tagebuch eines Schriftstellers“, 1877

Gogol’s religiosität, so unterschiedlich sie auch bewertet wird, ist ebenso unbestritten wie unerforscht.2 Seltsamerweise haben sich auch die Verfasser von Abhandlungen und Büchern zu diesem thema3 bisher kaum für die in Gogol’s Werken und Briefen verstreuten Bibelzitate bzw. Anspielungen auf Bibelstellen interessiert. Nur diesem teilaspekt ist die folgende Untersuchung gewidmet. dabei konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf erfassung und deutung der Fälle, die Wesentliches auszusagen scheinen. ein Verzeichnis aller bisher aufgefundenen und identifizierten Bibelstellen, die Gogol’ in seinen Werken zitiert oder auf die er anspielt,4 ist als Anhang beigegeben.

i Als Gogol’ im Herbst 1851 turgenev davon überzeugen wollte, dass er seine Ansichten nie geändert habe, las er ihm aus einem – nach turgenevs erinnerungen5 nicht eindeutig auszumachenden – Aufsatz aus den „Arabesken“ vor. er hätte damals zumindest auf eine sehr deutliche Parallele zwischen den „Arabesken“ (1835) und den „Ausgewählten Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden“ (1847) verweisen können. im Vorwort zu den „Arabesken“ hatte er nämlich geschrieben: Wenn ein Werk zwei, drei noch nie ausgesprochene Wahrheiten enthält, hat der Autor kein recht mehr, es dem leser vorzuenthalten; und um zweier, dreier richtiger Gedanken Willen ist die Unvollkommenheit des Ganzen verzeihlich. (Viii, 7) 1

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Nur mit Band- und Seitenzahl zitiert wird die 14bändige Ausgabe der Akademie der Wissenschaften N. V. GoGol’: Polnoe sobranie sočinenij, Moskau 1940–1952. Vgl. Fairy von lilieNFeld: Gogol’ als Verfasser der „Betrachtungen über die Göttliche liturgie“. [in:] Wegzeichen. Festgabe zum 60. Geburtstag von Prof. dr. Hermenegild M. Biedermann, Würzburg 1971, S. 398 mit Anm. 106. Hier ist außer den von F. v. lilieNFeld genannten Autoren (s. o.) MerežkoVSkij und Hildegund ScHreier zu erwähnen, sowie der Aufsatz von jose joHANNet: les sources des Vybrannye mesta. [in:] reS 44, 1965, S. 111–139. in dem beigefügten Verzeichnis sind die „Betrachtungen über die Göttliche liturgie“ nicht berücksichtigt. Vgl. unten Abschnitt Viii dieser Untersuchung. V. VereSAeV: Gogol’ v žizni, Moskau/leningrad 1933, S. 469.

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Zwölf jahre später heißt es in den „Ausgewählten Stellen“: durch leiden und kummer ist uns bestimmt, körnchen einer Weisheit zu gewinnen, die sich aus Büchern nicht erwerben lässt. Wer aber schon eines dieser körnchen erworben hat, der hat kein recht mehr, es Andern vorzuenthalten. Nicht dir gehört es, sondern Gott. Gott hat es in dir erarbeitet, und alle Gottesgaben sind uns dazu gegeben, dass wir unsern Mitbrüdern damit dienen: er hat geboten, dass wir einander jeden Augenblick belehren sollen. (Viii, 282)

in diesem Punkte hat sich Gogol’ wirklich nicht geändert. der drang, seinen Mitmenschen das, was er zu wissen glaubte, zu Nutz und Frommen mitzuteilen, ist 1846 der gleiche wie 1834.6 Gleichgeblieben ist auch die Begründung dieses dranges durch die Pflicht zum dienst an der Menschheit – bekanntlich ebenfalls eine konstante in Gogol’s Selbstverständnis.7 Überdies scheinen beide Stellen mehr oder weniger bewusst dem Bedürfnis zu entspringen, die Veröffentlichung nichtfiktionaler texte zu rechtfertigen. darin äußert sich das Gespür des künstlers Gogol’, sich auf etwas eingelassen zu haben, was eigentlich nicht seine Sache war. Nicht zu übersehen ist aber auch der Unterschied zwischen den beiden exculpationsformeln. entschuldigt hatte er sich ja schon für sein erstes Werk, die idylle „Ganc kjucheľgarten“ (1829): „Das vorgelegte Werk hätte nie die Welt erblickt, wenn nicht Umstände, die allein für den Autor wichtig waren, ihn dazu bewogen hätten.“ (i, 60) Aber das war eine gängige Floskel, die den Wert des Werkchens nach Bedarf steigern oder relativieren sollte. Beim Vorwort zu den „Arabesken“ (dem ersten Buch, das Gogol’ unter seinem Namen herausbrachte) geht es um eine echte entschuldigung, die allerdings auch der moralischen Aufwertung des Autors dient: er habe gewissermaßen aus Selbstlosigkeit unklug gehandelt. der text aus den „Ausgewählten Stellen“ ist dagegen keine entschuldigung mehr, sondern eine rechtfertigung durch Berufung auf die allerhöchste Autorität, auf Gott. So ist, was vordem allenfalls verzeihlich war, nun heilige Pflicht geworden. der text verweist deutlich auf die Bibel. ehe wir versuchen, die zugrundeliegende(n) Stelle(n) zu finden, sei die Funktion dieses ‘Bibelzitats’ in unserem text festgehalten: es dient der (nachträglichen) rechtfertigung von Gogol’s ‘pädagogischer leidenschaft’ und – weitgehend unbewusst – auch der Beschwichtigung des ästhetischen schlechten Gewissens durch moralischen leistungsnachweis. die frühe Parallele aus den „Arabesken“ zeigt, dass Gogol’ nicht etwa zum lehrer wird, weil die Bibel es gebietet, sondern, dass er die Bibel befragt, ob und wie sie sein lehrbedürfnis sanktioniert. 6

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Als Pletnëv 1831 Puškin auf den jungen Gogol’ aufmerksam machte, schrieb er schon von dessen ‘leidenschaft für die Pädagogik’ (VereSAeV 1933, S. 99). Und turgenev fühlt sich 20 jahre später beim Anblick Gogol’s an einen Gymnasiallehrer erinnert (VereSAeV 1933, S. 468). Vgl. z. B. den Brief vom 3.10.1827 (X, 111f) und, 20 jahre später, in der Autorenbeichte: „Der Gedanke an den Dienst ging bei mir nie verloren“ (Viii, 441). Vgl. auch das Urteil des 86jährigen V. kAtAeV: „Zugrundegerichtet hat ihn der fanatische Wunsch, unbedingt Nutzen zu stiften. [...] Nutzen und dazu noch – Dienst“, [in:] Voprosy literatury 3/1984, S. 100.

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ii das Verfahren als solches ist nicht neu. relativ neu an der Gogol’schen Praxis ist (zumindest in russland) der individuelle, sozusagen private Bezug der an den Bibeltext gerichteten Fragen. derartiges war weder von einer orthodoxen noch von einer (römisch-)katholischen Position8 aus denkbar. daher hat es eine gewisse Berechtigung, wenn Gogol’ behauptet, er sei „zu Christus auf einem eher protestantischen Wege gekommen“ (Xiii, 214).9 Gewiss protestantisch war ja die Gepflogenheit privater Bibellektüre, die sich unter erwecklich-pietistischem einfluss ende des 18. jahrhunderts und verstärkt während der regierungszeit Alexanders i. (1801–1825) in russland ausgebreitet hatte (man nannte das mysticisme).10 Solchem einfluss weit geöffnet war z. B. V. A. žukovskij (1783–1852),11 seit 1830 einer von Gogol’s vertrautesten Freunden. – übrigens wurde auch die praktische Möglichkeit privater Bi8

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die römisch-katholische Form des christentums muss aus zwei Gründen erwähnt werden: 1. weil Gogol’ während seines ersten römischen Aufenthalts (1837–1839) im Hause der konvertierten Fürstin Z. Volkonskaja verkehrte, wo zwei polnische Priester ihn ebenfalls zur konversion bewegen wollten; 2. weil einige seiner Freunde (u. a. Ševyrëv) in den „Ausgewählten Stellen“ katholische tendenzen zu entdecken meinten. Auch Vater Matvej konstantinovskij fand in dem nach seinem Vorbild gezeichneten Priester im (verlorenen) 2. teil der „toten Seelen“ католические оттeнки (Vii, 422). theologisch ist das sicher nicht korrekt, vgl. Gogol’s erläuterung zu dem zitierten Satz: „die Analyse der menschlichen Seele, so wie andere Menschen sie nicht betreiben, war der Grund dafür, dass ich christus begegnete, zunächst überwältigt von der menschlichen Weisheit in ihm und einer bis dahin unerhörten Seelenkenntnis, und danach erst mich verneigend vor seiner Gottheit“ (Xiii, 214). dazu etwa gleichzeitig in der „Autorenbeichte“: „Fast ohne zu wissen wie, bin ich zu christus gekommen, da ich sah, dass in ihm der Schlüssel zur Seele des Menschen ist, und dass noch kein Seelenkundiger auf jene Höhe der Seelenkenntnis gelangt ist, auf der er stand. durch Verstandesprüfung überprüfte ich das, was andere durch einen klaren Glauben begreifen, und was ich bis dahin nur dunkel und unklar geglaubt hatte“ (Viii, 443). eine weitere Parallele findet sich in den erhaltenen entwürfen zum 2. teil der „toten Seelen“. dort führt der Generalgouverneur aus: „Zu unserer Schande wird man bei uns wohl kaum jemand finden, der die Bibel ganz durchgelesen hat, wo dies Buch doch dazu da ist, ewig gelesen zu werden; nicht in irgendeiner religiösen Beziehung, nein, aus Neugier, als ein denkmal jenes Volkes, das in Weisheit, dichtung und Gesetzgebung alle übertroffen hat, [ein denkmal], das auch Heiden und Ungläubige als höchste Schöpfung des Geistes (ума), als lebens- und Weisheitslehrer achten“ (Vii, 279). Gogol’s Zugang zur Bibel geschah demnach auf primär rationalem Wege. das auch von Gogol’s Freunden (z. B. Aksakov) negativ verwendete Wort мистицизм geistert seither in der Gogol’-literatur herum. Für seine älteren Zeitgenossen bezeichnete es das bigotte treiben bei Hofe in den letzten lebensjahren Alexanders i. Vgl. auch F. von lilieNFeld 1971, S. 399, wo das Wort zutreffend erklärt wird als „das, was bei uns Neupietismus heißt.“ Gogol’ selbst macht sich noch im 10. kapitel der „toten Seelen“ über die „Mode des Mystizismus“ lustig (Vi, 206), in Zusammenhang mit den Berechnungen, die in Napoleons Namen die „Zahl des tieres“ (666) aus der offb. joh. wieder finden wollten. Zu žukovskij vgl. in diesem Zusammenhang etwa dietrich GerHArdt: Faust und die Folgen, [in:] Mnemozina. Festschrift für V. Setchkarev. München 1974, S. 130–152, besonders S. 137ff.

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bellektüre12 erst unter Alexander i. und von einem Protestanten geschaffen: 1813 gründete der schottische congregationalist john Paterson13 die „russische Bibelgesellschaft“, die zunächst Bibeln in den Sprachen der protestantischen Untertanen des Zaren druckte, dann, 1817, eine französische Übersetzung des Nt,14 1818 ein Nt mit kirchenslavischem und russischem Paralleltext und endlich, 1822, das erste nur russische Neue testament. Man wüsste gern, welche Ausgabe es war, von der die Fürstin repnina zu berichten weiß: „Eines Tages, nach dem Tode des jungen Grafen Wielgórski“ (d. h. nach dem 21.5.1839) traf ich Gogol’ in der Villa Falconieri [...] mit einem Buch in der Hand an und fragte ihn, was für ein Buch das sei. er reichte es mir. es war eine Bibel. Auf der ersten Seite stand in der zittrigen Handschrift des verstorbenen Wielgórski: ‘Meinem Freunde Nikolaj Villa Volkonskaja’.15 Gogol’ sagte zu mir: ‘das Buch ist mir nun doppelt heilig.’16

– Höchstwahrscheinlich war es das Nt in der erwähnten französischen Übersetzung. in späteren jahren wandte sich Gogol’ dem amtlichen, russisch-kirchenslavischen text zu, den er freilich, wie wir noch sehen werden, nicht immer so gut verstand, wie er selbst glaubte.17

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Vielleicht mit Ausnahme des Psalters, der als Fibel verwendet wurde. Vgl. john PAterSoN: the Book of every land. reminiscence of labour and Adventure in the Work of Bible circulation in the North of europe and russia. london 1858. die russische Bibelgesellschaft ließ zwei französische Ausgaben drucken: 1. le Nouveau testament traduit sur la Vulgate (1815) und 2. la Sainte Bible traduite sur la Vulgate (1817), die erste in der druckerei F. drechsler, die zweite bei N. Gretsch (Greč). die Übersetzung stammte von Pascals Freund Sylvestre de Saci. Sie wurde, nach Paterson, von Alexander i. selbst und von vielen Adligen benutzt. Vgl. auch Puškins Bücherwunsch aus Michajlovskoe vom November 1824: „Библию, библию! и французскую непременно!“ Vgl. unten Anm. 16. in der Villa Volkonskaja hatte Gogol’ im Frühjahr 1839 mehrere Wochen den todkranken Grafen josef Wielgórski gepflegt, der am 21.5.1839 in seinen Armen starb. Vgl. “Ночи на вилле“ (iii, 324–326). VereSAeV 1933, S. 205. Vgl. in diesem Zusammenhang Gogol’s ratschläge an A. M. Wielgórska vom März 1849, wie sie am besten eine wahre russin werden könne „Alles, was uns am meisten mit rußland vertraut machen kann, ist in der alten Sprache aufgehoben. es bleibt ein einziges Mittel: Sie müssen kirchenslavisch (no-cлавянски) lernen. der leichteste Weg dazu ist folgender: lesen Sie die evangelien nicht französisch und nicht russisch, sondern kirchenslavisch. Greifen Sie zum Französischen nur dann, wenn Sie nicht verstehen. die Wörter, die ihnen besonders rätselhaft vorkommen, schreiben Sie auf einen eigenen Zettel und zeigen Sie sie einem Priester. er wird sie ihnen erklären. Wenn Sie so die evangelien und episteln durchlesen und noch die fünf Bücher Mose dazunehmen, werden Sie kirchenslavisch können, und dabei wird auch die Seele nicht wenig gewinnen. Wenn wir uns wiedersehen, werde ich ihnen dann in zwei, drei lektionen alles erklären, worin unsere alte Sprache vom kirchenslavischen abweicht.“ (XiV, 111).

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iii durch den tod des jungen Wielgórski war für Gogol’ das von einer Art romantischer kunst-religion Schiller-Schellingscher Provenienz geprägte Weltbild zutiefst erschüttert worden. („Ich glaube jetzt an gar nichts mehr, und wenn ich etwas Schönes sehe, kneife ich die Augen zu und versuche, nicht hinzuschauen“ [Xi, 228] – heißt es in einem Brief vom 30.5.1839). Zwar findet dieses Weltbild auch später noch künstlerischen Ausdruck – am stärksten in „rom“, aber auch im „Porträt“ und hin und wieder in den „toten Seelen“ – jedoch immer assoziiert mit dem jünglingsalter und eben dadurch relativiert. Andererseits war der Zustand des An-gar-nichts-Glaubens für Gogol’ offenbar unerträglich, und so lässt sich – auch ohne das Zeugnis der Fürstin repnina – gerade nach Wielgórskis tod eine Hinwendung zur Bibel vermuten. die Bibelzitate in Gogol’s Werken und Briefen scheinen diese Annahme zu bestätigen. in den 30er jahren sind Zitate im eigentlichen Sinne noch selten. es handelt sich um Allgemeingut (wie die metaphorische Verwendung biblischer Namen: Herodes, judas, Salomo) oder um Sentenzen, wofür Gogol’ selbst einmal den Ausdruck noговоркa benutzt (i, 106). Gemeint ist dort die ‘redensart’ Perlen vor die Säue werfen (Mt. 7.6), die im Vorwort zum ersten teil der „Abende auf dem Weiler bei dikańka“ die Überheblichkeit jenes jungen Mannes im erbsenfarbenen Frack andeutet, in dem man wohl eine Selbstkarikatur Gogol’s sehen darf. eine ähnlich unbescheidene, aber ernster gemeinte Selbststilisierung findet sich 1836 in einem Brief an žukovskij, wo Gogol’ seine plötzliche Abreise aus russland u. a. mit dem biblischen diktum rechtfertigt, der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande (Xi, 41 nach Mt. 13.57 / Mk. 6.4 / lk. 4.24). im „taras Bul’ba“ nehmen kosakenführer zweimal die „Heilige Schrift“ zur Begründung ihrer Vorhaben in Anspruch, doch handelt es sich im ersten Fall (ii, 65) um eine äußerst vage Berufung auf Heidenschmähungen; im zweiten Fall (ii, 75), um eine falsche (eine entsprechung für vox populi – vox Dei gibt es in der Bibel nicht). es mag offen bleiben, ob diese zweifelhaften ‘Zitate’ von Gogol’ bewusst benutzt wurden, um die dürftige theologische Grundausstattung der kosakischen Glaubenskämpfer zu kennzeichnen. Bemerkenswert ist der Versuch, die in „rom“ noch einmal nachdrücklich beschworene ästhetische Weltschau nunmehr mit biblischer Spruchweisheit zu stützen. Nach langer detaillierter Schilderung der überragenden Schönheit der Annunziata lässt Gogol’ den jungen Fürsten sagen, er müsse sie unbedingt sehen, nur um sie anzuschauen, nicht, um sie zu lieben, denn die vollkommene Schönheit ist dazu in die Welt gegeben, dass jeder sie erblicke, dass er die idee von ihr auf ewig im Herzen bewahre. (...) Wird denn ein leuchter entzündet, hat der Göttliche lehrer gesagt, damit man ihn verberge und unter den tisch stelle? Nein, der leuchter wird entzündet, um auf dem tisch zu stehen, damit alle sehen, damit alle sich in seinem lichte bewegen. (iii, 250)

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die letzten beiden Sätze sind eine Paraphrase von Mt. 5.15 (eher als von den synoptischen Parallelen dazu), wo diese rede anknüpft an jesu Verkündigung Ihr seid das Licht der Welt (Mt. 5.14). Gogol’s Verfremdung des Zitats ist offensichtlich. eine eigenartige Zwischenstellung zwischen ironie und tieferer Bedeutung scheint die Anspielung auf das Zweite Gebot (2. Mos. 20.7) einzunehmen, die Gogol’ in der ersten digression des „Mantels“ dem dort auftretenden капитанисправник unterstellt, als dieser sich beklagt, dass „sein geheiligter Name entschieden unnütz ausgesprochen“ werde (iii, 141). der möglichen Bedeutung dieser Stelle bin ich in einer eigenen Studie nachgegangen.18 Mehr noch als die beiden letztgenannten Fälle sind die meisten anderen Bibelzitate der 40er jahre Stellen, die auf eigenes textstudium schließen lassen – und manchmal nicht leicht zu identifizieren. ein Beispiel dafür ist das erwähnte göttliche Gebot, „dass wir einander jeden Augenblick belehren sollen“ (Viii, 282).

iV Wo steht das in der Bibel? So, wie Gogol’ es hier sagt, nirgends. Aber es gibt eine ganze reihe ähnlicher texte: in der Apostelgeschichte (20.31) sagt Paulus, er habe „drei Jahre Tag und Nacht nicht abgelassen, einen jeglichen mit Tränen zu vermahnen”19 (три҅ лѣ҄та но́щ ́ ь и҆ де́нь не престаѧ́хъ ѹ́чѧ̀ со слеза́ми е҆ди́наго кого́́ждо ва́съ).20 Paulus rühmt von den christen in rom, sie seien „erfüllt mit aller Erkenntnis, dass ihr euch untereinander ermahnen könnt“ (röm. 15.14 – и́спо́́лнени всѧ́кагѡ ра́зума, могу́ще и҆ и́ны҄ѧ научи́ти). er weist die Galater an (6.6): „der aber unterrichtet wird im Wort, der teile mit allerlei Gutes dem, der ihn unterrichtet“. (да ѡ́бща́етсѧ же ѹ́чѧ́йсѧ словеси҅ ѹ́ча́щему во всѣ́хъ благи́хъ). er rät den kolossern (3.16): „Lehret und vermahnet euch selbst in aller Weisheit“ (во всѧ́кой прему́дрости ѹ́ча́ще и҆ вразумлѧ́юще себе҅ самѣ́хъ), und den thessalonichern (1. thess. 5.11): „Ermahnet euch untereinander und erbauet einer den andern“ (ѹ́тѣща́йте другъдру́га, и҆ созида́йте кј́йждо бли́жнѧго, я҆к ́ оже и҆ творите҅). Ähnliches findet sich auch im Hebräerbrief (3.13): „ermahnet euch selbst alle Tage“ (ѹ́тѣща́йте себе҅ на всѧ́къ де́нь), oder (10.25): „lasset uns einander ermahnen“ (другъдру́га подвиза́юще). 18 19

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doch noch Neues zu Gogol’s „Mantel“? s. o. S. 317-322. deutsche Bibelzitate folgen, wo immer es tunlich war, dem revidierten luther-text in der 1958/1964 vom rat der ekd genehmigten Fassung. Nur bei wichtigen Abweichungen wurde wörtlich aus dem kirchenslavischen übersetzt. russisch-kirchenslavische Bibelzitate folgen dem kirchenamtlichen text (d. h. der sog. elisabeth-Bibel von 1757) nach einer Ausgabe der Moskauer Synodaldruckerei von 1894. die Sprache dieser Bibel ist russisch-kirchenslavisch. Wir nennen sie der kürze halber im Folgenden nur kirchenslavisch (ksl.).

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Gogol’ beruft sich also nicht zu Unrecht auf die Bibel. er erweist sich als kenner vor allem der paulinischen texte und als ihr eigenwilliger interpret. So bringt er die in keinem der originaltexte gleichzeitig belegten drei komponenten – einander, jeden Augenblick und belehren – zusammen, erhebt die Mahnungen des Apostels zum Gebot Gottes, übersieht, dass sie sich durchweg an Gemeindeglieder richten, dass es bei dieser erinnerung, tröstung, Aufrichtung und Belehrung um den rechten Glauben geht (vgl. die als Mittel empfohlenen ‘Psalmen und lobgesänge’ in kol. 3.16 und eph. 5.19), und obwohl er kein unkritischer leser des Paulus ist,21 liest er hier – um der rechtfertigung seiner ‘pädagogischen leidenschaft’ willen – überall nur die Aufforderung zum Belehren (ѹ́чи́ти) heraus. dabei kam ihm der kirchenslavische text insofern entgegen, als er fünfmal Formen dieses Verbums verwendet, wo griechisch nur einmal διδάσκει vorkam.

V Wichtiger als solche philologischen details scheint mir die Frage, wie Gogol’ zu seiner auffälligen Vorliebe für Paulus gekommen sein mag. Soweit ich sehe, ist der früheste Beleg22 dafür ein Brief aus rom vom 5. März 1841. dort heißt es u. a.: Ungeachtet meines krankhaften Zustandes, der wieder etwas schlimmer geworden ist, empfinde und erfahre ich wunderbare Augenblicke. eine wundersame Schöpfung vollzieht und ereignet sich in meiner Seele (...) Hier ist für mich deutlich der heilige Wille Gottes erkennbar: eine solche eingebung ist nicht vom Menschen; nie ließe sich solch ein Sujet erfinden! (Xi, 330)

das kann sich nur auf die „toten Seelen“ beziehen, deren ersten teil Gogol’ gerade abschließt. Zur Beförderung des drucks will er nach Moskau, scheut aber die Anstrengungen des Alleinreisens und bittet deshalb konstantin Aksakov und M. S. Ščepkin, sie möchten ihn doch aus rom abholen: Sie werden kein unnütz ding tun. Sie werden eine tönerne Vase holen. die Vase ist jetzt natürlich voller Sprünge, ziemlich alt und hält kaum noch; aber in dieser Vase ist jetzt ein Schatz beschlossen, also muss man sie wohl in Acht nehmen. (Xi, 331)

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er empfiehlt seiner Schwester ol’ga: „lies immer nur wenig [...] Aber wenn du gelesen hast, sinne darüber nach und bedenke das Gelesene gut, damit du nicht buchstäblich nimmst, was geistlich genommen werden muss. Bedenke, wie das Gelesene in der heutigen Zeit, unter den jetzigen Verhältnissen angewandt werden kann, Verhältnissen, die in Vielem anders geworden sind als zur Zeit des Apostels Paulus, wenn auch die kraft die gleiche geblieben ist.“ (Xiii, 183f). eine frühere erwähnung des Apostels Paulus in der „Schrecklichen rache“. (i, 262) bezieht sich auf dessen sprichwörtliche Wandlung vom Saulus zum Paulus und gehört (1831–1832) wohl noch der Gruppe an, die allgemein bekanntes biblisches Gut verwendet.

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diese zwischen bitterer Selbstironie und tieferer Bedeutung schillernde Metapher enthält und verbirgt den Schlüssel zu dem, was Gogol’ andeuten, aber nicht aussprechen wollte. die gleiche Metapher findet sich nämlich bei Paulus (2. kor. 4.6–7) in folgendem kontext: Gott (...) hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, dass durch uns entstünde die erleuchtung zur erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht jesu christi. Wir haben aber solchen Schatz in irdenen Gefäßen, auf dass die überschwängliche kraft sei Gottes und nicht von uns.

das Wort, das luther hier mit Gefäß übersetzt, hieß griechisch σκευος, kirchenslavisch und russisch сосу́дъ, lateinisch dagegen vas, und im französischen text, den Gogol’ vermutlich benutzte, stand en des vases d’argile oder des vases de terre. daher also die Vase (ваза). Wort und Bild werden aber nicht nur von Paulus, sondern auch für ihn verwendet. im Bericht der Apostelgeschichte (9.15) über Pauli Berufung23 wird Ananias in damaskus von Gott angewiesen, den ehemaligen Saulus bei sich aufzunehmen, und zwar mit der Begründung: „vas electionis est mihi iste“24 – ich zitiere die Fassung der Vulgata, da auf ihr jenes Vas d’elezïone beruht, mit dem dante (inf. ii, 28) den Paulus einführt als einen seiner Vorgänger, die als lebende Menschen die Hölle besuchten und zurückkehrten.25 Sieht man Gogol’s Vasenmetapher und seine Aussage über das göttlicher eingebung zu dankende Sujet in diesem Zusammenhang, so öffnen sich weite Perspektiven. er konnte ja in dem 1841 erreichten Stadium der Arbeit an den „toten Seelen“ mit Sujet schwerlich das meinen, was ihm Puškin sechs jahre zuvor abgetreten hatte. eher ist hier an die konzeption der geplanten drei teile26 seines „Poems“ als entsprechungen zu inferno, Purgatorio und Paradiso zu denken. Womöglich sah er sich sogar selbst als ein neues Vas d’elezïone, als Nachfolger dantes, der in die Hölle hinabsteigt, diesmal in die Hölle des eigenen inneren ... Aber auch ohne eine solche, vielleicht zu kühne Hypothese, ist die Parallele der Gogol’schen Vasenmetapher von 1841 zu 2. kor. 4.7 offensichtlich. dabei gibt es auch eine typische Akzentverschiebung: Paulus interpretiert seine physische Hinfälligkeit ‘ad maiorem dei gloriam’ als Mahnung, dass wir 23

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das „damaskus-erlebnis“ ist der zentrale text der erweckungstheologie. Assoziative Verbindungen sowohl zu der Vorstellung von einer geistigen Wiedergeburt (s. u., Anm. 39 und 40) und ein Zusammenhang mit Gogol’s halluzinatorischen erlebnissen während seiner Wiener krankheit im Sommer 1840 sind nicht unwahrscheinlich. die Vorstellung, dass der erwählte – Priester oder Prophet – vom Willen Gottes gefüllt wird wie ein Gefäß, ist uralt (vgl. z. B. 2. Mos. 28.3) und wird, seit der romantik verstärkt auch auf den dichter übertragen (vgl. Puškins „Пророк“: Исполнись волею Моей). ebenso alt ist der Vergleich des Menschen mit einem tönernen Gefäß, besonders im orient (vgl. etwa ‘omar i Hayyām). dante stützt sich hier, nach den kommentatoren, auf eine apokryphe legende, die sogenannte Paulus-Apokalypse. Vgl. die erwähnung der zwei noch ausstehenden „großen teile“ am ende des 1. teils (Vi, 246).

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uns nicht überheben sollen. Gogol’ leitet, umgekehrt, aus der Gewissheit seiner gottgewollten inspiration den Anspruch ab, dass Andere ihm die irdischen Sorgen abzunehmen hätten. Wie dem auch sei, er findet jedenfalls seine eigene physische (von krankheitsanfällen heimgesuchte) und seine psychische (von hoher inspiration erleuchtete) existenz mit all ihrer paradoxen Spannung in der des Apostels vorgezeichnet. dadurch wird sie für ihn sinnvoll, ja als besonders begnadet erfahrbar, und er zögert nicht, sich mit Paulus zu identifizieren.27 Gerade der 2. korintherbrief bot dazu vielfache Gelegenheit, da Paulus dort besonders ausführlich über seine krankheit spricht, vor allem im 12. kapitel. deshalb ist es sicher kein Zufall, wenn Gogol’ den trost Gottes für den vom „Pfahl im Fleische“ geplagten Paulus, jenes „meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2. kor. 12.9)28 nicht nur auf sich bezieht, sondern ihn auch, ganz im Sinne von 2. kor. 1.4, gleich zweimal weitergibt an seine ebenfalls kränkelnde Freundin im Geiste A. o. Smirnova – 1844 (Xii, 338) und 1851 (XiV, 267). Während der positive Aspekt der Vasenmetapher (der Schatz) mit dem Nachlassen der inspiration naturgemäß an Bedeutung verliert, wird die interpretation der ‘Schwachheit’ (не́мощь) als korrelat, ja Vorbedingung geistiger leistungen für Gogol’ zunehmend wichtiger. er entwickelt jenes ‘Pathos der Schwäche’,29 das sich nicht nur im Brief „Über die Bedeutung der krankheiten“ (Viii, 228f) niederschlägt, sondern auch an vielen anderen Stellen. einmal findet sich in solchem Zusammenhang, wieder in einem trostbrief an die Smirnova, ein angebliches jesuswort: „Und die Leiden?“ (скорби) „Aber wenn der Erlöser selbst gesagt hat, dass nur durch sie die Seele geläutert wird, wie könnte man ohne sie auskommen?“ (XiV, 163). ein solches jesus-Wort ist nicht nachweisbar. Möglicherweise zitiert Gogol’ hier aus dem Gedächtnis eine der patristischen oder jüngeren erbauungsschriften, die er im letzten jahrzehnt seines lebens ständig las. in der von ihm besonders bevorzugten und propagierten 27

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ich habe a. a. o. von Gogol’s „ungestilltem Bedürfnis nach identifizierung mit einer machtvollen Vaterfigur“ gesprochen (in: Nikolai W. Gogol in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, reinbek 1985, S. 119f). die hier vorgelegte Untersuchung macht wahrscheinlich, dass außer den dort genannten Vorbildern auch Paulus – zwischen 1841 und 1849 – für Gogol’ eine ähnliche rolle gespielt hat. ksl.: си́ла бо моѧ̀ въ не́мощи соверша́етсѧ – wörtlich: meine Kraft vollzieht sich in der Schwachheit/Krankheit. Zum ersten Mal scheint Gogol’ sich auf diese Paulus-Stelle im Schlusssatz des „Театральный разъезд“ zu beziehen (also 1841 oder 1842), wo der ‘Autor’ sagt: „Und wer weiß – vielleicht wird es später einmal von Allen anerkannt werden, dass kraft eben der Gesetze, wonach der stolze und starke Mensch sich im Unglück als wertlos erweist und der Schwache groß wird wie ein riese, – dass kraft eben dieser Gesetze derjenige, der oftmals tief in der Seele tränen vergießt, dass der, scheint’s, mehr als alle in der Welt lacht.“ (iV, 175). Auch wenn dies keine kenntnis der Paulus-Stelle voraussetzt, zeigt es doch in der denkweise bereits Gogol’s Affinität zu derartigen Paradoxen und bipolaren Spannungen. Vgl. dazu auch die erst postum erschienene Abhandlung des großen Gogol’-kenners ČižeVSkij: Gogol’s ja und Nein. [in:] Archiv für das Studium der neueren Sprachen und literaturen 1978, Bd. 215, S. 347–355. diese Formel übernehme ich von Manès SPerBer: Alfred Adler oder das elend der Psychologie, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1983, S. 238.

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„imitatio christi“ des thomas von kempen käme da etwa das ende des 2. kapitels in Frage, in dem (§ 12) u. a. jesu Worte an Ananias aus der Apostelgeschichte 9.15–16 zitiert sind, in Vers 15 die Bezeichnung des Paulus als vas electionis (nicht bei thomas) und in Vers 16: „Ich will ihm zeigen, wie viel er leiden muss um meines Namens willen.“ Aber das bleibt eine Vermutung.

Vi kehren wir zu den besser gesicherten Zitaten zurück. die zeitlich offenbar am Anfang von Gogol’s eindringen in das Nt stehende identifizierung mit Paulus,30 deren kern die doppelte erfahrung von Berufung und krankheit ist, wirkt sich auch in anderen Bereichen aus. Nicht nur, dass er z. B. die paulinische doppelformel aus kol. 3.16 – ѹ́ча́ще и҆ вразумлѧ́юще – übernimmt als „всё это меня учит и вразумляет“ (Xiii, 152–1846), er greift auch bereitwillig die bekannte obrigkeitslehre des Paulus auf, die seiner Scheu vor jeder Art von ‘Politik’31 ohnehin entgegenkam. Und er zitiert deren kernsatz (rom. 13.1): „Es ist keine Obrigkeit außer von Gott“ wörtlich in einer Anleitung an seine Schwester ol’ga für den Umgang mit dem Gutsverwalter (Xiii, 59–1846). ja, er findet sogar für seine Praxis, ihn nicht befriedigende Fassungen seiner Werke zu verbrennen, eine rechtfertigung bei Paulus: der zweite Band der ‘toten Seelen’ wurde deshalb verbrannt, weil es nötig war. es wird nicht leben, es stürbe denn, sagt der Apostel. es muss erst sterben, um auferstehen zu können. (Viii, 297–1846)

Hier ist die Umdeutung mit Händen zu greifen. Abgesehen davon, dass die meisten der von Gogol’ verbrannten Werke32 durchaus keine Auferstehung erlebten (und es auch nicht sollten), geht es in dieser Paulus-Stelle (1. kor. 15.36) um die Problematik des ‘Auferstehungsleibes’. Gerade dies Beispiel zeigt, glaube ich, überzeugend die anfangs behauptete Suche Gogol’s nach biblischer rechtfertigung seines oftmals ganz anders motivierten Handelns. 30

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Wenn unsere Annahme stimmt, dass das intensive Bibelstudium im Sommer 1839 begann, und die erste ernst gemeinte Paulus-reminiszenz sich im März 1841 findet, liegt die Vermutung nahe, dass die schwere krankheit in Wien (August 1840) in der tat einen Wendepunkt in Gogol’s Selbstverständnis bedeutet hat. Sollte er sich in den damaligen halluzinatorischen erlebnissen gar in Paulus wiedererkannt haben, so wären seine brieflichen Äußerungen vom Herbst 1841 über die unfehlbare Bedeutsamkeit seines „Wortes“ (Xi, 342–349) zwar nicht weniger befremdlich, aber doch eher verständlich. diese einstellung wird besonders deutlich in der negativen Beurteilung von Paris, die nicht erst in dem Fragment „rom“ (1839–1842) belegt ist, sondern schon viel früher in Briefen an Pogodin (Xi, 78–1836) und Prokopovič (Xi, 91–1837). die Werkverbrennungen, von denen wir wissen, betrafen die „Братья Твердославичи“ um 1827 (vgl. V. GiPPiUS: Gogol’, leningrad 1924, S. 13), den „Ганц Кюхельгартен“ 1829, den 1. teil des romans „Гетман“ 1833, die tragödie „Выбритый ус“ (wohl 1841), sowie verschiedene Fassungen des 2. teils der „toten Seelen“, möglicherweise schon

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Vii Auch als die „Ausgewählten Stellen“ 1847 allenthalben auf empörte Ablehnung stoßen, besinnt er sich sogleich wieder auf Paulus. Gleich dreimal (Viii, 433 und 437; XiV, 69) zitiert er einen Halbvers aus röm. 3.4, im Wortlaut ungenau, aber auf der linie seiner Argumentation: Wenn man seinem Buche Verlogenheit vorwerfe, so könne dies höchstens im Sinne von Pauli Wort zutreffen „весь человѣкъ есть ложь“ (wörtl. „der ganze Mensch ist Lüge“); und da das so sei, könnten auch seine kritiker nicht über Wahrheit oder lüge urteilen, es sei denn, aus ihnen spräche der Heilige Geist selbst (XiV, 69). Sowohl diese Argumentation als auch die Gogol’sche Variante des Pauluswortes sind näherer Betrachtung wert, handelt es sich doch um seine reaktion auf die wohl schwerste krise seines Selbstverständnisses. Schauen wir uns zunächst das Zitat als solches an. im kirchenslavischen text stand: да бу́детъ же бг҃ъ и҆с́ тиненъ, всѧ́къ же человѣ́къ ло́жъ. dem kommt der ursprüngliche luther-text am nächsten: „Es bleibe viel mehr also / Das Gott sey wahrhafftig / vnd alle Menschen falsch“.33 – Was hat Gogol’ daraus gemacht? er hat nicht nur den zweiten teil des Satzes (im Vergleich zu Gott seien alle Menschen wenig vertrauenswürdig) aus einer relativen in eine absolute Aussage umgewandelt, sondern diese durch drei gravierende Änderungen zu einem hoffnungslosen Verdammungsurteil gesteigert. Zunächst hat er всѧ́къ (= ein jeglicher) ersetzt durch весь (= der ganze),34 sodann hat er das kirchenslavische Adjektiv ло́жъ (für griech. ψεύστης = lügnerisch, falsch) verwechselt mit dem russischen Substantiv ложь (= die lüge, die kirchenslavisch лжа̀ heißen würde), und schließlich hat er die kopula есть eingefügt, was dem Ganzen in russischen ohren einen definitionscharakter gibt. So ist sein Paulus-Zitat zu einer Ausweitung der epimenides-Formel von den kretern35 auf alle Menschen geworden. Aber er hat sich einen Ausweg offengelassen: den Heiligen Geist, der allein die allgemeine Verlogenheit durchbrechen kann ... dies abgefälschte Zitat zeigt aber auch Gogol’s Faszination durch das Phänomen der lüge,36 das er in immer neuen Abwandlungen gestaltete: in der

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1843, sicher im Sommer 1845 und schließlich im Februar 1852. Auch theoretisch forderte Gogol’ die Verbrennung unvollkommener Werke und warf deržavin, den er sehr verehrte, in diesem Punkte Unterlassungssünden vor (Viii, 230), möglicherweise anknüpfend an Puškins Urteil (in der großen Akademieausgabe Bd. Xiii, S. 182), den Hinweis auf Puškin verdanke ich Frau dr. Angela Martini, köln. Zitiert nach dem 3. Band der luther-Bibel im Nachdruck der dtv-textbibliothek, S. 2273. diese Änderung ist besonders erstaunlich, da Gogol’ eine Vorliebe für das altertümliche Wort всякъ hatte, die Belinskij in seinem berühmten Salzbrunner Brief anprangerte (vgl. Viii, 508). die bekannte trugschluss-Behauptung des kreters epimenides, alle kreter seien lügner, wird übrigens auch bei Paulus überliefert (tit. 1.12). es war offenbar ein zentrales persönliches Problem für ihn. Vgl. die von Bekannten und Freunden ebenso wie von ihm selbst immer wieder erwähnte Verschlossenheit (скрытность) und sein beinahe epimenideisches Bekenntnis von 1844: „Aufrichtig über mich

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Selbsttäuschung des Ästheten Piskarëv, in der Welttäuschung und -entlarvung durch den Aufschneider chlestakov,37 im betrogenen Betrüger icharev, in der legalen illegalität des ‘erwerblers’ Čičikov, der sie alle in sich vereinigt. Überdies wird in der verschärfenden Veränderung des Paulus-Wortes auch Gogol’s oft bemerkter Maximalismus sichtbar, der sich selbst ad absurdum führen kann (nicht umsonst ist die beliebteste redefigur des komikers Gogol’ die Hyperbel) oder aber, wenn er wie hier mit negativem Vorzeichen auftritt, sich dem nähert, was in psychologischer Sicht als ‘dekorative Selbstanklage’38 bezeichnet worden ist. ebenfalls noch in den kontext der Verteidigung der „Ausgewählten Stellen“ gehört ein Zitat aus der Bergpredigt (Mt. 5.48). denen, die ihm Geschmacklosigkeit und, wie man heute sagen würde, psychischen exhibitionismus vorwarfen, hält Gogol’ entgegen: ich denke nicht, dass es irgendjemand verführen kann, wenn aufgedeckt wird, wie ich mich bemühe, besser zu werden als ich bin. ich denke nicht, dass es eine verführerische Wirkung haben kann, wenn sich jemand abmüht und öffentlich, vor aller Augen glüht im Streben nach Vollkommenheit, wo doch der Sohn Gottes selbst eben deshalb zu uns herabgestiegen ist, um uns zu sagen: ihr sollt vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist! (Viii, 444)

Gogol’ geht auf den eigentlichen Vorwurf nicht ein (weder Geschmack noch rücksicht auf Andere war seine starke Seite), sondern transponiert ihn auf die moralische ebene, wo offenbar alles, was nicht zur Sünde verführt, nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar geboten ist. Und er beruft sich bezeichnenderweise auf jesu extremste Forderung. die Bergpredigt ist nach den Paulus-Briefen der von Gogol’ am häufigsten zitierte text des Neuen testaments. das liegt weniger am Gogol’schen Maximalismus als vielmehr daran, dass bestimmte Sätze der Bergpredigt von alters her Bestandteile der liturgie sind. daher finden sich Zitate aus der Bergpredigt vornehmlich in den „Betrachtungen über die Göttliche liturgie,39 wo sie vom text

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selbst sprechen, das habe ich nie und nimmer gekonnt“ (Xii, 394). Zudem gehört die lüge ebenso wie die Sprache, die sie erst möglich macht, und wie das lachen und Weinen zu den Fähigkeiten, die den Menschen vor allen anderen lebewesen auszeichnen. ihnen allen galt Gogol’s forschende Aufmerksamkeit. Beachtenswert ist auch die Auslassung des ‘kaltblütigen Herrn’ im „Театральный разъезд“: „Es gibt [auch] solche, die spüren, dass sie lügen, dies aber bereits als eine Notwendigkeit für die Unterhaltung erachten: красно поле рожью, а речь ложью.“ (iV, 170). dessen charakter kennzeichnet Gogol’ u. a. durch die Worte: „Indem er eine Lüge ausspricht, zeigt er sich gerade darin so, wie er wirklich ist.“ (iV, 99). Manès SPerBer 1983, S. 218. dieser text, an dem Gogol’ seit 1845 arbeitete, ist in der laut titel „Vollständigen Sammlung der Werke“, nach der hier zitiert wird, trotz einer Ankündigung im Vorwort (i, 19) nicht abgedruckt. es muss also nach einer vorrevolutionären Ausgabe zitiert werden. Benutzt wurde die 15. Auflage der Ausgabe von N. S. ticHoNrAVoV, Sankt Petersburg 1900, die außer Band- und Seitenzahl hier durch die Abkürzung tich. gekennzeichnet ist.

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vorgegeben waren. Für uns sind denn auch nicht diese texte als solche aufschlussreich, sondern ihre kommentierung, bzw. solche Bibelstellen, die nicht dem liturgischen text entstammen, sondern zu seiner erläuterung herangezogen werden. Schon beim vorbereitenden offertorium (Проскоми́дїѧ) findet Gogol’ Gelegenheit, seinen geliebten Paulus zu zitieren, und zwar röm. 8.26, wo vom Geist die rede ist, der unsrer Schwachheit aufhilft: „Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, sondern der Geist selber vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen“ (tich. Viii, 74). das war ihm, der sich oft über seine Unfähigkeit, recht zu beten, beklagte,40 aus dem Herzen gesprochen. Auch in zwei nichtpaulinischen Zitaten seines liturgiekommentars geht es um ein zentrales Anliegen Gogol’s, die geistige Wiedergeburt, jenen radikalen Neubeginn, den er für sich erhoffte und für die läuterung seiner Helden im weiteren Fortgang der „toten Seelen“ brauchte. Beide Zitate dienen zur Untermauerung seiner interpretation des Übergangs von der Лїтургј́а ѡ́глаше́нныхъ zur Лїтургј́а вѣ́рныхъ, wozu F. v. lilienfeld bemerkt: die rein historische erläuterung des Namens des Wortgottesdienstes [...] benutzt Gogol’ gar zur erweckung von Buß- und reuegedanken beim Beter – also ganz anders als seine Vorlagen.41

er tut das, indem er dem Gläubigen eindringlich vorstellt, dieser sei zwar „im Namen Christi mit Wasser getauft“, habe aber jene Wiedergeburt im Geiste nicht erlangt, ohne die sein christentum nichtig ist, nach dem Worte des erlösers selbst: Wer nicht von oben geboren wird, wird nicht eingehen ins Himmelreich (Кто не родится свыше, не внидетъ въ царствiе небесное)42 (tich. Viii, 85f)

Auch dieses jesus-Wort aus dem Nikodemus-Gespräch (jo. 3.3) ist – sinngemäß richtig – aus dem Gedächtnis zitiert, was nur dafür spricht, dass es Gogol’ wichtig und vertraut war. der Gedanke an eine derartige geistige Wende war ihm schon früh Hoffnung, trost und Ansporn – so hatte er schon 1829 geschrieben: „Ich muss mich ändern (переделаться), neugeboren werden (переродиться), von neuem Leben belebt werden (оживиться новой жизнью) ...“ (X, 149). in die gleiche richtung zielen die aus dem 1. Petrusbrief (2.5 und 9) entnommenen Beschreibungen des ersehnten Standes der Gläubigen als „heiliges Volk, Menschen der Erneuerung(!), Gestein, das sich aufbaut zum geistlichen Tempel“ (tich. Viii, 87), wobei wiederum der kirchenslavische text Gogol’s Vorstellungen entgegenkam.43 40

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dafür gibt es eine reihe von Belegen, z. B. XiV, 59. Man vergleiche dazu auch seinen Briefwechsel mit N. N. Šeremeteva (1842–1850), das ergreifendste dokument seiner Bemühung um schlichte, ‘russische’ religiosität. F. von lilieNFeld 1971, S. 388f. der originaltext ist etwas anders: а҆щ ́ е кто̀ не роди́тсѧ свы́ше, не мо́жетъ ви́дѣти ца́рствїѧ бж҃їѧ.

die ksl. Fassung weicht erheblich von den westlichen ab. Griech. περιποίησις ist mit ѡ́бновле́нїе (= erneuerung) übersetzt, dagegen lat. acquisitio bzw. luther: Eigenthum.

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iX die kommentare, die Gogol’ zu den Seligpreisungen und zum Vaterunser beisteuert, tendieren zur individualisierung, zur Substituierung seiner persönlichen desiderata, z. B.: „Selig sind die Bettler im Geiste (ду́хомъ), denn derer ist das Himmelreich“44 – dazu Gogol’: „die nicht stolz sind, die sich nicht in ihrem Geist (умомъ) überheben.“ (tich. Viii, 78) „Selig sind, die da weinen, denn sie werden getröstet werden“ – dazu Gogol’: „die da weinen, mehr noch über ihre eigenen Unvollkommenheiten und Verfehlungen als wegen der Beleidigungen und Kränkungen, die man ihnen zufügt.“ (ibid.) „Selig sind, die da hungert und dürstet nach Wahrheit,45 denn sie sollen satt werden“ – dazu Gogol’: „die da hungert nach der himmlischen Wahrheit, die da dürstet, diese zuerst in sich selbst wieder herzustellen.“ (ibid.) „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen“ – dazu Gogol’: „wie sich im reinen Spiegel beruhigter Wasser, die weder von Sand noch Schlamm getrübt sind, das Himmelsgewölbe rein widerspiegelt, so ist auch im Spiegel des von Leidenschaften ungetrübten Herzens nichts Menschliches mehr, und einzig das Bild Gottes spiegelt sich darin.“ (tich. Viii, 79) „Selig sind, die da vertrieben sind um der Wahrheit45 willen, denn derer ist das Himmelreich“ – dazu Gogol’: „die da vertrieben sind um der Verkündigung der Wahrheit willen, nicht mit den Lippen allein, sondern mit dem Wohlgeruch ihres ganzen Lebens.“ (ibid.) Hier spricht bald der introvertierte Selbstankläger, bald der „um der Verkündigung der Wahrheit willen Vertriebene“, bald der dichter (in dem Spiegelvergleich), bald der Maximalist: „nichts Menschliches mehr“, oder: „mit dem Wohlgeruch des ganzen Lebens.“ Und mit dieser Geruchsmetapher ist auch wieder ein paulinisches element vertreten. es entstammt wiederum dem 2. korintherbrief (2.14–16), und Gogol’ zieht es nochmals bei der kommentierung des cherubimhymnus heran mit den Worten „ein guter Geruch Christi“. (tich. Viii, 89) im Vaterunser-kommentar heißt es u. a.:

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kam hier der text Gogol’s tendenz entgegen, so zeigt ein von ihm frei abgewandeltes lukas-Zitat (15.7) die gleiche tendenz: Statt „also wird auch Freude sein im Himmel über einen Sünder, der Buße tut (ка́ющемусѧ), mehr als über neunundneunzig Gerechte“, schreibt er: „im Himmel freut man sich über den bekehrten (обратившемуся) Sünder mehr als über den Gerechten selbst.“ (Xiii, 182). Wegen gravierender textabweichungen sind die Seligpreisungen hier direkt aus dem kirchenslavischen übersetzt, soweit möglich aber dem vertrauten luther-text angenähert. Für δικαιοσύνη (Vulgata: justitia, luther: Gerechtigkeit) hat der kirchenslavische text grundsätzlich immer пра́вда, was ursprünglich, ebenso wie das hebräische ‫ עדק‬sowohl Wahrheit wie Gerechtigkeit bedeutet. (Vgl. noch bei Puškin Salieris klage: „Нет правды на земле, но правды нет и выше.“ Gogol’s kommentar zeigt aber, dass er an allen drei Stellen in erster linie die Bedeutung Wahrheit verstanden hat. Vgl. auch dietrich keGler:

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zu den Worten dein Wille geschehe führt den Menschen sowohl der Glaube als auch der Verstand (разумъ): Wessen Wille kann denn schöner sein als der göttliche Wille? Wer weiß besser als der Schöpfer, was seiner Schöpfung not tut? Wem soll man sich denn anvertrauen, wenn nicht dem, der da ganz ist heilbewirkendes Heil und Vollkommenheit? (tich. Viii, 103)

– diese Fragen richten sich offenbar an den Verstand (разумъ). dies Wort wird uns gleich noch beschäftigen. Zuvor noch ein Blick auf das Schlusskapitel der „Betrachtungen“. dort fasst Gogol’ den Sinn und Wert der liturgie so zusammen: indem sie alle in gleicher Weise belehrt (уча), indem sie auf alle Glieder, vom Zaren bis zum letzten Bettler, in gleicher Weise wirkt, sagt sie allen das eine Gleiche, nicht mit ein und derselben Sprache, und lehrt (научаетъ) sie die liebe, die da ist das Band der Gemeinschaft,46 die verborgene Feder alles harmonisch Bewegten, Nahrung und leben von allem. (tich. Viii, 114)

So war es auch Gogol’s Wunsch und Hoffnung, dass der häufige Besuch der Messe (vgl. schon 1845 in Paris: Xiii, 457) ihn bessern, und das heißt vor allem, ihn die rechte liebe zu den Menschen lehren werde. Natürlich kennt er den liebeshymnus des Paulus (1. kor. 13) – in Anspielung darauf nennt er in einem Brief vom August 1847 seine eigenen Werke „nur eine glänzende Schelle“ (Xiii, 370) – aber er wusste auch sehr gut, dass hier sein Hauptmangel lag: „Ich war immer (wie mir scheint) imstande, alle überhaupt zu lieben, weil ich unfähig war, gegen jemanden Hass zu hegen,“ schreibt er 1847 an S. t. Aksakov, „aber jemand besonders, vornehmlich lieben, das konnte ich nur aus Interesse. Wenn mir jemand einen wesentlichen Nutzen(!) gebracht hat und dadurch mein Kopf(!) bereichert worden ist, [...] der ist mir lieb, auch wenn er die Liebe weniger verdient.“ (Xiii, 416) Bei solcher Vorherrschaft von „Interesse“, „Nutzen“, „Kopf“, mithin des „Verstandes“ (разум) wird zwar der Mangel an liebe, theoretisch erkannt, Abhilfe aber von einer Art Unterricht oder Belehrung erwartet, die ihrerseits nur wirksam sein können, wenn die Fähigkeit des Menschen zur „Wiedergeburt“ grundsätzlich als gegeben angenommen wird. Aber – selbst wenn man sie voraussetzt, – wie vollzieht sie sich?

X Genau das war das zentrale Problem für die Fortsetzung der „toten Seelen“. das konzept der läuterung war vorhanden, ebenso das Wissen, dass sie ohne liebe und Gnade nicht gelingen konnte. Vorhanden war aber auch die erkennt-

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Untersuchungen zur Bedeutungsgeschichte von istina und Pravda im russischen. Bern/Frankfurt a. M. 1975. Auch hier paraphrasiert Gogol’ einen paulinischen Gedanken (kol. 3.14): любо́вь я҆̀же е҆́сть соу́зъ соверше́нства.

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nis, dass „trostreiche Erscheinungen und tugendhafte Helden sich nicht im Kopf ausdenken lassen“ (Viii, 297). Angesichts dieser erkenntnis ergreift Gogol’ den in der tradition der meritorischen Askese empfohlenen Weg des Zwanges, der Gewalt (сила) gegen sich selbst: „Solange du ihnen“ (d. h. den tugendhaften Helden) „selbst nicht wenigstens etwas ähnelst, solange du nicht mit eherner Stirn und Gewalt (силою) deiner Seele ein paar gute Eigenschaften zuführst und erkämpfst, solange wird alles, was deine Feder schreibt, totes Zeug sein.“ (ibid.) in etwa das gleiche rezept lässt er dann auch – durch Murazov – dem inhaftierten Čičikov empfehlen, und auch dafür findet er, wohl seinen asketischen Vorbildern folgend, die biblische rechtfertigung. die m. e. für die Gesamtkonzeption des 2. (und 3.) teils der „toten Seelen“ höchst aufschlussreiche Szene steht in der spätesten erhaltenen Fassung des Schlusskapitels von teil 2 (Vii, 112ff). Murazov sagt dort u. a. zu Čičikov: Pavel ivanovič, Sie haben soviel Willenskraft, soviel Geduld ..., ihnen fehlt die liebe zum Guten; so tun Sie das Gute doch gewaltsam (насильно), ohne es zu lieben. das wird ihnen als noch größeres Verdienst angerechnet werden als einem, der aus liebe zum Guten Gutes tut. Zwingen Sie sich nur ein paar Mal, dann wird sich auch die liebe einstellen. Glauben Sie, alles lässt sich machen. das reich erleidet Gewalt, ist uns gesagt. Nur, indem man sich gewaltsam (насильно) zu ihm durchringt, gewaltsam durchringen muss man sich, es gewaltsam nehmen. Ach, Pavel ivanovič, Sie haben doch diese kraft (сила), die den anderen abgeht, diese eiserne Geduld – und Sie sollten es nicht schaffen? (Vii, 114)

Wer ist es, der dies Programm vorschlägt? – Murazov. der Name ist durchsichtig; es ist ein Anagramm für razumov.47 die ratende instanz ist also der Verstand, bzw. das, was Gogol’ unter разум48 verstand. das Bibelzitat besteht hier nur aus zwei Wörtern: „Царство нудится“, weshalb es manchen Übersetzern auch entgangen ist. es handelt sich um Mt. 11.12: „Ѿ дне́й же І́ѡа́нна крести́телѧ досе́лѣ ца́рствїе небе́сное ну́дитсѧ, и҆ ну́ждницы восхища́ютъ е҆“ ̀ 47

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diese Auffassung wird bestätigt durch die charakteristik Murazovs im Werk selbst, expressis verbis durch cHloBUeV (Vii, 245): „Вижу, что вас Бог наградил разумьем, и вы знаете иное лучше нас, близоруких людей“ und durch koStANžoGlo (Vii, 74): „Нет, уж если хотите знать умного человека, так у нас действительно есть один, о котором точно, можно сказать: умный человек, которого я и подметки не стою.“ – Aus gegebener Veranlassung weise ich darauf hin, dass diese Auffassung des Namens Murazov von mir bereits in dem 1983 abgeschlossenen Manuskript meines Buches „Gogol“ (reinbek 1985) mitgeteilt wurde und dass dieser Aufsatz im Frühjahr 1984 fertig vorlag. in diesem Zusammenhang scheint es nicht unwichtig, wie dieses Wort im Nt verwendet wird. es kommt in den evangelien nur viermal vor, dagegen in den Briefen 52mal, davon 40mal bei Paulus. insgesamt steht ра́зумъ im Nt 27mal für γνωσις. 14mal für έπίγνωσις 7mal für σύνεσις, 3mal für νοήματα, 2mal für διάνοια und einmal für φρόνησις. es ist zu vermuten, dass die undifferenzierte Verwendung des Wortes, das im modernen russischen ‘Verstand’ bedeutet, Gogol’ zu Fehlinterpretationen verleiten konnte, nicht zuletzt, weil es in einer der Formulierungen des ‚wichtigsten Gebots’ vorkommt (Mk. 12.33): люби́ти е҆го̀ [Бо́га] всѣ́мъ се́рдцемъ, и҆ всѣ́мъ ра́зумомъ, и҆ все́ю душе́ю, и҆ все́ю крѣ́постїю. (Hier steht bei luther: mit ganzem Gemüt).

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Was heißt das? „Aber von den Tagen Johannes des Täufers bis hierher“ – soweit sind alle Bibelübersetzungen einig – „leidet das Himmelreich Gewalt, und die Gewalttätigen reißen es weg“ (so luther) – „leidet das Himmelreich Gewalt und Gewalttätige reißen es an sich“ (so die jerusalemer Bibel49), bzw. „regnum coelorum vim patitur , et violenti rapiunt illud“ (so die Vulgata). Während die westliche theologie, von dante einmal abgesehen,50 diesem jesus-Wort eher hilflos gegenübersteht, scheint sich Gogol’ auf eine im orthodoxen Bereich allgemein verbreitete Auffassung zu stützen. Sie stammt aus der asketischen tradition der ägyptischen Wüstenväter und scheint erstmals beim Hl. Markus, einem Schüler des Hl. Antonius des Großen, schriftlich fixiert zu sein. dieser Hl. Markus (slavisch mit dem Beinamen подви́жникъ) erklärt: der Mensch hält sich nach seinem Willen dort auf, wo er mag, auch wenn er getauft ist, da die eigenbestimmung keinem Zwang unterworfen ist (не приневоливается). Wenn die Schrift sagt, dass die Gewalttätigen das Himmelreich emporreißen (Mt.11.12), so ist dies vom eigenen Willen gesagt, aufdass jeder von uns sich nötige (понуждалъ себя), nach der taufe nicht dem Bösen zuzuneigen, sondern im Heil zu verbleiben.51

Ähnlich klingt es anderthalb jahrhunderte später aus einer Predigt des jerusalemitischen Presbyters Hesychius (5. jahrhundert): diejenigen, die sich mit einem gewissen Zwang (нужденiемъ) der Sünde durch die tat enthalten, sind selig vor Gott, engeln und Menschen: weil die sich selbst Zwingenden die entreißer des Himmelreiches sind (нудящiе себя суть восхитители царствiя небеснаго – Mt. 11.12).52

in dieser interpretation, die (wie dante) die historische dimension des jesusWortes schlicht ignoriert, wird daraus ein Ansporn zur meritorischen Askese, zum подви́гъ.53 dass Gogol’ die Matthäus-Stelle im Sinne dieser tradition verstanden hat, scheint eindeutig aus dem kontext und manchen parallelen Wort49 50

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Zitiert nach der deutschen Ausgabe der Herder-Bücherei, Freiburg i. Br. 1968, S. 30. Paradiso, XX, 94–99: Regnum cœlorum violenza pate da caldo amore e da viva speranza, che vince la divina volontate; non a guisa che l’uomo all ‘uom sobranza; ma vince lei perchè vuole esser vinta; e, vinta, vince con sua beninanza. Zitiert nach dem „Добротолюбiе“, 2. Aufl. der russischen Übersetzung von 1883 (eine ältere Ausgabe war mir nicht erreichbar) Bd. 1, S. 358. Zitiert nach der gleichen Ausgabe des „Добротолюбiе“, Bd. 2, S. 129. in der ksl. erstausgabe von 1793, deren kenntnis ich der Freundlichkeit von Herrn dr. Plähn, Berlin, verdanke, heißt das Zitat: ну́ждницы ца́рствїѧ небе́снаго ѡ́брѣта́ютсѧ. – den Hinweis auf die in der orthodoxie übliche deutung dieser Stelle und die zitierten texte aus dem „Добротолюбiе“ verdanke ich, durch Vermittlung von Herrn Prof. kasack, Vater Nikolaj Artjomov, München. im Übrigen gilt für meine interpretation von Mt. 11.12 bei Gogol’ das im letzten Absatz zu Anm. 47 Gesagte. eine gute Umschreibung für diesen Begriff ist „meritorische tapferkeitsleistung“ (nach carl ScHNeider: Geistesgeschichte der christlichen Antike. München 1978, S. 301). die

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verwendungen hervorzugehen: So eröffnet etwa Murazov seine Ansprache an Čičikov mit den Worten: Ach, Pavel ivanovič, Pavel ivanovič. ich denke darüber nach, was für ein Mensch aus ihnen würde, wenn Sie sich ebenso, mit Gewalt und Geduld für ein gutes Werk einsetzen würden (подвизались бы), ein besseres Ziel hätten!

(Vii, 112) Gogol’ selbst spricht schon 1842 von seinen künftigen подвиги: reiner als Schnee im Gebirge und lichter als die Himmel muss meine Seele erst sein, und dann werde ich zu kräften (силы) kommen, meine leistungen (подвиги) und mein großes Wirken (поприще)54 zu beginnen, dann erst wird sich das rätsel meiner existenz lösen. (Xii, 69)

Und wie oft spricht er nicht von dem Zwang gegen sich selbst (приневоливать себя – Xii, 239, 246, 289, 472 und öfter)! Aber selbst das ist offensichtlich nur eine asketisсh-сhristliсhe re-interpretation von Grunderfahrungen, die er schon wesentlich früher gemacht hatte. Von seinem wahren Wirkungsfeld (поприще), von dem aus man ihn erst richtig werde verstehen können, hatte er schon 1828 gesprochen (X, 123), und schon während seiner ersten ernsten schöpferischen krise, 1833, hatte er sich selbst – vergeblich – zum Schreiben gezwungen (Как ни принуждаю себя, нет да и только. – X, 273). Anderthalb jahrzehnte später geht es nicht mehr allein um das Schreiben, das erzwungen werden soll, sondern um die innere, seelische Voraussetzung dazu, jene positiven eigenschaften, ohne die alles Geschriebene „totes Zeug“ bleibt. in eben dem Zusammenhang (Viii, 297) hatte Gogol’ sich erinnert: „Die Alpträume habe ich mir ja auch nicht ausgedacht, diese Alpträume lasteten auf meiner eigenen Seele: was drin war in der Seele, das ist auch herausgekommen.“ Und in dem gleichen Brief steht auch die bekannte Mitteilung, dass er seine Helden aus den eigenen Fehlern entwickelt habe (Viii, 293f). Wie sehr dies auch auf Čičikov zutrifft, wird in der Szene mit Murazov deutlich und vor allem in Čičikovs reaktion auf dessen ermahnungen: Selbst vermag ich‘s nicht und fühle es nicht, aber ich werde alle kräfte (силы) daransetzen, damit die Andern es fühlen; selbst bin ich schlecht und kann nichts, aber ich werde alle kräfte daran setzen, um die Andern hinzulenken; selbst bin ich ein schlechter christ, aber ich werde alle kräfte daran setzen, kein Ärgernis (соблазна) zu erregen. (Vii, 115)

sagt Čičikov zu sich selbst und scheint damit ebenso Gogol’s innere kämpfe widerzuspiegeln wie das Paulus-Wort „Wollen habe ich wohl, aber vollbringen das Gute finde ich nicht“ (röm. 7.18). diesen Zwiespalt hat Gogol’ nicht mehr zu lösen vermocht.

54

Schicksale des Wortes im russischen hat V. V. ViNoGrAdoV verfolgt: istorija slova podvig v russkom jazyke. [in:] Annuaire de l’institut de Philologie et d’Histoire orientales et Slaves, Bd. XiX (1968), dédié à Boris Unbegaun. Brüssel 1968, S. 459–474. Auf eine mögliche Bedeutungsannäherung zwischen поприще und подвиг weist ViNoGrAdoV 1968, S. 468f hin.

Gogol’ im Spiegel seiner Bibelzitate

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Biblisches in Gogol’s Werken ГАНЦ КЮХЕЛЬГАРТЕН: i, 90 i, 91

mögliche Anspielung auf Mt. 11.28 erwähnung des Sündenfalls (nach 1. Mos. 3)

ВЕЧЕРА НА ХУТОРЕ БЛИЗ ДИКАНЬКИ: i, 106 i, 218 i, 241 i, 261 i, 262 i, 281 i, 281 i, 311

Zitat aus Mt. 7.6 (Perlen vor die Säue) als ‘noговорка’ Nennung des lukas-evangeliums (ohne textzitat) Mt. 6.9 als liturgie-Zitat mögliche Anspielung auf Mt. 10.16 (wie die Tauben) Hinweis auf Bekehrung des Paulus (vgl. Apg. 9), s. auch Anm. 22. metaphorische Verwendung von Sodom (nach 1. Mos. 19) metaphorische Verwendung von Judas (vgl. z. B. Mt. 13.4–7) metaphorische Verwendung von Herodes (für den teufel)

MИРГОРОД: ii, 65 ii, 75 ii, 114 ii, 122 ii, 155 ii, 197 ii, 198 ii, 201 ii, 213

mögliche Anspielung auf Heiden-Schmähungen (in Psalmen?) fälschlich als ‘Schrift-Zitat: vox populi – vox Dei metaphorische Verwendung von Judas (für jankel’) metaphorische Verwendung von Judas (für Andrij) metaphorische Verwendung von Salomo (für Mardochaj) erwähnung der ‘Heiligen Schrift’ (ohne textzitat) Fluchformel (nach 5. Mos. 28.26 / jer. 7.33; 19.7 / Hes. 29.5; 39.4) ironische erwähnung des Psalters (im Plural) Formel (mit Furcht und Zittern) z. B. Hiob 4.14 / 1. kor. 2.3; 2. kor. 7.15; eph. 6.5; Phil. 2.12 ii, 229 Herodes als Figur des Puppenspiels ii, 233 Formel пo втором пришествии (nach joh. 14), soviel wie: nie НЕВСКИЙ ПРОСПЕКТ: iii, 36

Formel (alles ist eitel) nach Pred. 1.2

ПoPtPet: iii, 96 Formel до скончания века (Mt. 28.2), soviel wie: für immer iii, 123 mögliche Anspielung auf Mt. 8.20 / luk. 9.58 (Heimatlosigkeit dantes – erst in der letzten Fassung von 1842) iii, 136 mögliche Anspielung auf Mt. 22.11ff. (das festtägliche kleid als Symbol der erwähltheit – erst in der Fassung von 1842) ШИНЕЛЬ: iii, 141 Anspielung auf das 2. Gebot (2. Mos. 20.7) ЗАПИСКИ СУМАШЕДШЕГО: iii, 193 Jüngstes Gericht formelhaft soviel wie: nie

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Gogol’

PИM: iii, 250 Paraphrase von Mt. 5.15 (vgl. oben Abschnitt iii) PeBИЗОP: iV, 53 iV, 58 iV, 84 iV, 88 iV, 94

Что на сердце, то и на языке (nach Mt. 12.34) ironische erwähnung des Turmbaus zu Babel (nach 1. Mos. 11) ironische erwähnung des Vaterunsers (nach Mt. 6.9) ironisches Zitat von Mt. 19.26 Fluch: Teufelssamen (evtl. nach Mt. 13.38f)

ЖЕНИТЬБA: V, 23

ironische Ableitung von Sodom: содомные прозвища

УТРО ДЕЛОГО ЧЕЛoBekA: V, 107 turmbau zu Babel phraseologisch für: Unordnung MePtBЫe ДУШИ (i): Vi, 12 Vi, 13 Vi, 15 Vi, 37 Vi, 47 Vi, 55 Vi, 97 Vi, 123 Vi, 127 Vi, 161 Vi, 179 Vi, 193 Vi, 217 Vi, 219 Vi, 242

ironische Floskel nach 1. kor. 2.6 (сильные мира сего) Verballhornung von Hiob 25.6 (червь мира сего) ironisches благодать Божия für: Geld, Reichtum Selbststilisierung Čičikovs mit Paraphrase von jes. 1.175 Sintflut als Hyperbel (потоп перьев) erwähnung der Witwe wie oben in Vi, 37 Schimpfwort Гога и Магога(sic!) nach offb. 20.7 Pljuškin erwähnt слово Божие in ironischem kontext Pljuškin droht mit dem Jüngsten Gericht (eher apokryph) ironische Floskel Seit Erschaffung der Welt Verballhornung von joh. 11.4: не на живот, а на смерть dto. Не на жизнь, а на самую смерть Čičikov droht mit dem Jüngsten Gericht (vgl. Vi, 127) und 238 erwähnung der Witwe (vgl. Vi, 37 und 55) Phraseologismus wie Sand am Meer (häufig in At und Nt)

MePtBЫe ДУШИ (ii): Vii, 10 Vii, 62

Sodom für: Unordnung Čičikov nennt kostanžoglos Worte Manna (z. B. 2. Mos. l6.4). in der früheren Version (Vii, 190) steht stattdessen: научите, к вам прибегаю nach Ps. 142.9f. (orthodoxe Zählung) bzw. aus der liturgie (Великое славословие) Vii, 69 kostanžoglo wandelt 1. Mos. 3.19 ab (Vorstufen: Vii, 200; 271) Vii, 69 kostanžoglo wandelt Mt. 18.7 ab Vii, 73 kostanžoglo paraphrasiert Gedanken von 1. Mos. 1.27 (= Vii, 204) Vii, 74 kostanžoglo wendet joh. 1.27 auf sein Verhältnis zu Murazov an (= Vii, 205) Vii, 79 kostanžoglo erwähnt Garten Eden (nach 1. Mos. 2.8) Vii, 82 kostanžoglo spielt auf Bergpredigt (Mt. 5.5) an Vii, 88 Čičikov nennt chlobuev verächtlich Verlorener Sohn (luk. 15) Vii, 98 kostanžoglo erwähnt ägyptische Heuschrecke (nach 2. Mos. 10) Vii, 108 Čičikov spricht zum Generalgouverneur mit den Worten jakobs (1. Mos. 32.37)

Gogol’ im Spiegel seiner Bibelzitat

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= Vii, 251 Vii, 109 Murazov besucht den Gefangenen (nach Anweisung von Mt. 25.36), Čičikov nennt ihn Mein Erlöser Vii, 115 Čičikov greift auf die gleichen Stellen (1. Mos. 3.19 und Mt. 18.7 zurück wie kostanžoglo in Vii, 69) Vii, 144 Murazov zitiert Mt. 11.12: Царство нудится (s. o. Abschnitt X) Vii, 241 Murazov spielt an auf röm. 12.6 Vii, 279 Generalgouverneur lässt Bibeln verteilen und rät zur Bibellektüre (vgl. Anmerkung 9) tAGeBUcHNotiZ VoM 8/20.10.1846: Vii, 359 Да, не смущается сердце ваше (= joh. 14.1 oder 27) AUFSÄtZe der 30er jAHre: Viii, 83 Viii, 92 Viii, 110 Viii, 150 Viii, 152 Viii, 158 Viii, 159 Viii, 205 Viii, 205

erwähnung des Jüngsten Gerichts und der (allgemeinen) Auferstehung, die angezweifelt wird. Sintflut als Hyperbel (потоп дыма и пуль) dto. (потоп света) dto. (потоп слез) evtl. Anspielung auf luk. 23.40ff, (обратившийся преступник) ironische Abwandlung von 1. Mos. 3.19 (до поту лица) metaphorische Verwendung von Eckstein (nach PS. 117.22 orthdoxer Zählung = Mt. 21.42 / Mk. 12.10 / luk. 20.17 / Apg. 4.11 / 1. Petr. 2.7) lobende erwähnung der Gleichnisse jesu alles ist eitel (nach Pred. 1.2)

ВЫБРАННЫЕ МЕСТА ИЗ ПЕРЕПИСКИ С ДРУЗЬЯМИ: Viii, 219 Formel tägliches Brot (nach Mt. 6.11) Viii, 223 Verklärung (Bild raffaels nach Mt. 17.2) Viii, 229 Anvertraute Pfunde nach luk. 19.13–26 Viii, 232 Paraphrase von Mt. 12.36 (?): Слово гнило... Viii, 237 Anspielung auf Hebr. 4.12 (Cлово живо) Viii, 240 Anspielung auf 1. Mos. 1.26f. (Gottesebenbildlichkeit) Viii, 244 dto. Viii, 246 Anspielung auf 2. kor. 2.14–16 Viii, 248 Anspielung auf luk. 4.2 (Fasten, aber keine Versuchungen) Viii, 249f. Ausführungen über das Biblische als Stiltyp Viii, 251 400 Propheten und ein Erwählter (nach 1. kön. 22.6ff) Viii, 254 erwähnung von Mose mit Gesetzestafeln (nach 2. Mos. 31f) Viii, 258 erwähnung des Alten testaments Viii, 260 als christusgebot bezeichneter paulinischer Gedanke (vgl. Gal. 6.2; kol. 3.13; 1. thess. 5.11) Viii, 261 Paraphrase von luk. 15.7 und 10 (Freude über Sünder) Viii, 265 Paraphrase von Mt. 10.6 (голубиное незлобие) Viii, 266 Salomos Abfall und ende (nach 1. kön. 11) Viii, 266 die anvertrauten Pfunde (luk. 19.13–26) Viii, 269 die ‘Welt’ (свет) kann christus nicht begegnen Viii, 277 Abwandlung von 2. Sam. 6.5 (david) Viii, 278 jazykov soll das At lesen

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Viii, 279 Hinweis auf Belsazer (Балтазар), dan. 5 Viii, 281 Hinweis auf die Propheten: Asche aufs Haupt streuen und Kleider zerreißen (2. Sam. 13.19, Hiob, dan. u. a.) Viii, 282 als Gottesgebot bezeichneter paulinischer Gedanke (vgl. röm. 15.14; Gal. 6.6; kol. 3.16; 1. thess. 5.11; Hebr. 3.13, 10.25 – s. o. Abschnitt iV) Viii, 283 abgewandeltes Zitat joh. 14.1 (oder joh. 14.27) Viii, 284 Vergleich der ost- und Westkirchen mit Maria und Martha nach luk. 10.38–42 Viii, 287 ironische Formel силой святого духа Viii, 297 Zitat aus 1. kor. 15.36 (vgl. oben Abschnitt Vi) Viii, 299 Umdeutung von Mt. 22.37–39 Nächstenliebe erzeuge Gottesliebe Viii, 301 Paraphrase von Mt. 19.21 Viii, 304 Hinweis auf Mt. 5.9 Viii, 322 Belehrung der Bauern mittels der Heiligen Schrift, Verweise auf röm. 13.1 und 1. Mos. 3.19 Viii, 323 Hinweise auf die Höllenstrafen und das Belehrungsgebot wie in Viii, 282 (vgl. oben Abschnitt iV), Zitat aus Mt. 6.33 Viii, 330 Hinweis auf joh. 1.29 als Quelle für ivanovs Gemälde und Zitat aus joh. 1.46 Viii, 337 насущное прокормление Anspielung auf Mt. 6.11 Viii, 341 Paraphrase von eph. 5.22–23 Viii, 342 Hinweis auf Mt. 5.22–24; kein Mensch ist gerecht vor Gott (Hiob 4.17; 9.2; 25.4; PS. 142.2 – orthodoxe Zählung –; röm. 3.10) Viii, 344 Ägyptische Finsternis (nach 2. Mos. 10.21–23–23) mit Bezug auf deren Schilderung durch Salomo (?) Viii, 353 Abwandlung von Mt. 6.33 Viii, 367 Anspielung auf luk. 19.13–26 und Mt. 20.1–16, gefolgt von Zitat: joh. 14.2 Viii, 368 Hinweis auf Höllenstrafen (ужас загробного наказанья) Viii, 383 Zitat aus Hohel. 4.2 (зубы красавицы) Viii, 405 библейско-исполинское величие bei deržavin, russische Bauern erinnern an Patriarchen древних библейских времен (bei custine) Viii, 409 церковно-библейский язык als eine der Quellen des russischen Viii, 411 Anspielung auf Mt. 5.22 Viii, 416 Anspielung auf röm. 2.29 oder 2. kor. 3.6 (toter Buchstabe, lebendiger Geist) teXte UNd eNtWÜrFe der SPÄteN 40er jAHre: Viii, 424 Formel учит и вразумляет nach kol. 3.16 (vgl. oben Abschnitt Vi) Viii, 431 im At wie im Nt häufige Metapher des kelches: горькая чаша Viii, 432 erneute Anspielung auf Vox populi – vox Dei, diesmal ohne Bibelnennung (vgl. taras Bul’ba, ii, 75) Viii, 433 Abgewandeltes Zitat aus röm. 3.4 (vgl. oben Abschnitt Vii) Viii, 435 Kein Mensch gerecht vor Gott (wie oben Viii, 342) Viii, 437 Zitat aus röm. 3.4 (wie oben Viii, 433) Viii, 444 Zitat Mt. 5.48 (vgl. oben Abschnitt Viii) Viii, 46 Hinweise auf joh. 14.6 (Ich bin ... das Leben), auf röm. 13.1 und Bergpredigt Viii, 463 Zitat aus Mt. 5.42: просящему дай! Viii, 465 erneuter Hinweis auf das lehrgebot wie in Viii, 260, Viii, 282 (vgl. oben Abschnitt iV) Viii, 473 Wohlgeruchsmetapher (облагоухаться), wohl nach 2. kor. 2.14–16 (vgl. oben Abschnitt iX)

Поэма und перл создания – Gogol’s ästhetisches Ideal und die Gattung der Toten Seelen 1 Bekanntlich hat Gogol’ den Umschlag für den ersten Teil seiner Toten Seelen (vgl. Abb.) selbst entworfen, und dieses Titelblatt schmückte die beiden zu seinen lebzeiten erschienenen Ausgaben: 1842 und 1846. So interessant es wäre, die zahlreichen Details seiner Zeichnung eingehend zu betrachten, in die Augen springt zunächst die Beschriftung: zuoberst steht im kleinsten Schriftgrad der von der Zensur geforderte Titel Похождения Чичикова, darunter, kaum bemerkbar, in petit und kursiv или, darauf folgt, fast doppelt so groß und doppelt so fett wie der amtliche Titel, Gogol’s eigener: МЕРТВЫЯ ДУШИ, dann aber, in nochmals nahezu verdoppelter Größe und Stärke, durch den Kontrast des Weiß-auf-Schwarz zusätzlich herausgehoben, das Wort ПОЭМА, das somit sofort die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht als offenbar wichtigstes Wort des Titelblatts, gefolgt von dem wieder etwa um das anderthalbfache kleineren, kursiv geschriebenen Verfassernamen Н. Гоголя und der Jahreszahl (1842 bzw. 1846). Diese Anordnung, die Wahl der Groß- und Kleinbuchstaben, der Typengröße und der Hell-Dunkel-Kontraste kann kein Zufall sein. Sie unterstreicht vielmehr, welche hervorragende Bedeutung Gogol’ der Charakterisierung seines Werkes als Поэма beimaß.1 Die Frage, was er damit sagen wollte, dass er sein Hauptwerk als Поэма bezeichnete, ist schon oft ventiliert worden. War es nur ein skurriler Einfall, war es eine ironische Kontrafaktur zu Puškins Роман в стихах, oder war es, im Gegenteil, eine späte Reverenz an die Adresse Puškins, der Gogol’ ja, nach dessen eigener Bekundung, das Sujet überlassen hatte, aus dem er selbst чтото вроде поэмы2 hatte machen wollen? Womöglich war es das alles auch, obgleich Puškin in diesem Zusammenhang selten erwähnt wird. Gewöhnlich versteht man das Wort поэма hier als Gattungsbezeichnung und rätselt, wie die so benannte Gattung wohl zu definieren sei. Man ist erstaunt, dass Gogol’ in seinem späteren Entwurf eines lehrbuches der literatur3 keine Gattung dieses Namens abhandelt, während Züge, die auf die Toten Seelen zutreffen, dort teils unter „Roman“, teils unter „Kleinformen des Epos“, wie auch, seltener bemerkt, unter „Повесть“ zu finden sind. Ausgangspunkt 1

2

3

Dieser Aufsatz ist aus einem (kürzeren) Vortrag auf dem IV. Deutschen Slavistentag in Hamburg (Oktober 1986) hervorgegangen. N. V. GOGOl’, Polnoe sobranie sočinenij, l. 1940–52, VIII, 440. Im Weiteren alle GogoľZitate nach dieser Ausgabe. GOGOl’, op. cit., VIII, 468ff.

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für derartige Überlegungen ist (oder sollte es doch sein) der Brief Gogol’s an Pogodin aus Paris vom 28.11.1836, wo es heißt: Вещь, над которой сижу и тружусь теперь [...], не похожа ни на повесть, ни на роман, длинная, длинная, в несколько томов, название ей ‹Мертвые души› [...] Если Бог поможет выполнить мою поэму так, как должно, то это будет первое мое порядочное творение. Вся Русь отзовется в нем.4

Hier fällt zum erstenmal das Wort поэма in Verbindung mit den Toten Seelen; hier ist zum erstenmal вся Русь ohne alle Einschränkung anvisiert (nicht mehr nur, wie noch ein Jahr zuvor, „с одного боку“)5. Ich glaube, dass eben diese umfassende Grundkonzeption des geplanten Werkes für die Wahl des Wortes (und späteren Untertitels) поэма von entscheidender Bedeutung gewesen ist. Da Gogol’ selbst, in seiner bekannten скрытность sich nicht darüber ausgelassen hat, ist Aufschluss, wenn überhaupt, nur aus einer philologischen Untersuchung zu gewinnen, die – unter Beachtung der bisher oft übersehenen Chronologie von Gogol’s Texten – zwei Fragen nachgeht: einmal, wie hat Gogol’ das Wort поэма in anderen Kontexten verwendet (und wann), zum andern, wie haben es seine Zeitgenossen verstanden? Beides läuft auf eine wortund bedeutungsgeschichtliche Skizze hinaus, die ich hiermit vorlege und dem in diesem Bande Gefeierten widme, der selbst vor einigen Jahren eine Arbeit zu einem lange vernachlässigten Gogol’-Thema gefördert hat.6

2 Das Wort поэма ist seit dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts im Russischen belegt.7 Es geht zurück auf frz. poème und wird zunächst im gleichen Sinne verwendet wie dieses, d. h. laut Encyclopédie: «Un poème est une imitation de la belle nature, exprimé par le discours mesuré.»8 Und so definiert heute noch – nur ohne die aristotelisch-batteuxsche Nachahmungsformel – der neueste larousse: „ouvrage en vers“9 Aber gerade das sind die Toten Seelen ja nicht. 4

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Ibid., XI, 77. Bereits zweieinhalb Wochen früher, am 11.11.1836, hatte Gogol’ in einem Brief an Žukovskij für sein entstehendes Werk einmal den Ausdruck poėma verwendet und auch von vsja Rus’ gesprochen, ohne allerdings Gattungsfragen zu erwähnen. GOGOl’, op. cit., X, 375. Die als Nr. 24 der „Slavica Helvetica“ erschienene Zürcher Dissertation von l. AMBERG, Kirche, Liturgie und Frömmigkeit im Schaffen von N. V. Gogol’, Bern/Frankfurt a. M./New York 1986. Vgl. Ė. Ė. BIRŽAKOVA/l. A. VOJNOVA/l. l. KUFINA, Očerki po istoričeskoj leksikologii russkogo jazyka XVIII veka, l. 1972, S. 388. L’Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, Paris 1751–62, Bd. XII, S. 812. In der Ausgabe von 1976; Bd. 8 der Encyclopédie Larousse von 1984 ist ausführlicher: l. Ouvrage en vers d’une certaine étendue; poésie. – 2. livret versifié d’un opéra, d’une pièce lyrique etc. – 3. Ouvrage en prose analogue à un poème par son inspiration, son

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Russ. поэма ist, wie frz. poème, ursprünglich keine Gattungsbezeichnung, sondern eine rein formale Bestimmung, die Ostolopovs Slovar’ drevnej i novoj poėzii noch 1821 wiederholt: «Поэмою назваться может всякое сочинение, написанное стихами [...]»10 Die einzelnen Gattungen wurden im Frz. wie im Russ. durch Epitheta gekennzeichnet wie bucolique, didactique, épique usw. – Ostolopov kennt nicht weniger als 26 Arten! Im Falle der epischen Dichtung mit ihren beiden Hauptvarianten, der ироическая bzw. героическая поэма, wird es bald üblich, die Epitheta wegzulassen, weshalb etwa das Akademische Wörterbuch (1793–1803) поэма definieren kann als „Песнопение, стихотворческое сочинение о важном или забавном каком предмете“.11 Auch diese Verengung zum Gattungsbegriff episches Gedicht/Epos läuft französisch und russisch parallel. Aber während im Frz. auch ein einzelnes (lyrisches) Gedicht durchaus ebenfalls poème genannt wird, setzt sich im Russ. dafür das Wort стихотворение durch. Das russ. поэма aber macht nun seit spätestens 1810 die Wertverschiebung beim Zerfall des klassizistischen Kanons der Genera mit. Das Wort, das ehemals das vornehmste Genus Epos bezeichnete, dient nun den „Karamzinisten“ dazu, die diversen Rossiaden- und Petriaden-Schreiber zu verspotten: «Те слогом Никона печатают поэмы» (Пушкин, 1816)12,

und es kann positiv nur noch für Dichtungen verwendet werden, die ein «забавный какой предмет» besingen, wie etwa Puškins Ruslan i Ljudmila (1820). Die Situation ändert sich erneut, als seit Anfang der 20er Jahre in Russland die Verserzählungen Byrons bekannt werden. Sie hießen zwar im Original Tales (bzw. im Falle von „Childe Harold’s Pilgrimage“ A romaunt), aber man las sie in frz. Prosaübersetzung, und da stand dann Poème (bzw. bei Child Harold sogar Poème romantique), wodurch jedermann wußte, dass es sich eigentlich um Versdichtungen handelte. In der Nachfolge Byrons wurde dann die Verserzählung auch in Russland eine äußerst beliebte Gattung, die man als поэма bezeichnete, was seitdem in der Tat ein literaturwissenschaftlicher Terminus geblieben ist. Auch mit dieser Gattungsbezeichnung haben die Toten Seelen nichts gemein. Einen gewissen Reflex der früheren Bedeutungsgeschichte von поэма kann man noch in den ersten Rezensionen der Toten Seelen (1842) erkennen. Da es sich nicht um eine Verserzählung handelte, lag die ältere Bedeutung Epos nahe, und ein solches konnte entweder als heroic oder – moderner – als mock-heroic aufgefasst werden. Das humoristische Element legte die zweite Auffassung nahe, und derartiges unterstellten alle, die das Werk ablehnten und lächerlich machen wollten. Das Gegenteil tat der junge Konstantin Aksakov, der in einer

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fond, sa structure, son style. – 4. Œuvre d’art non littéraire qui suscite une émotion ... Zur dritten Bedeutung vgl. Anm. 20. N. F. OSTOlOPOV, Slovar’ drevnej i novoj poėzii, SPb. 1821, II, S. 418. Slovar´Akademii Rossijskoj, zit. nach der 2. Aufl. 1806, II, S. 118. A. S. PUšKIN, Polnoe sobranie sočinenij, l. 1937–49, 1, S. 196.

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eigenen Broschüre die Wiederauferstehung des antiken Epos feierte: «Пред нами возникает новый характер создания, является оправдание целoй сферы поэзии, давно унижаемой: древний эпос восстает перед нами.»13 Und er erhob Gogol’ auf die gleiche Stufe wie Homer. Belinskij hat beide (Fehl)Deutungen energisch zurückgewiesen. Gegen die erste schrieb er – in seiner ersten Reaktion auf die Toten Seelen: «Мы скажем только, что не в шутку назвал Гоголь свой роман ‹поэмою›, и что не комическую поэму разумеет он под нею.»14 Das wußte er vermutlich aus persönlichen Gesprächen mit Gogol’ (Ende Mai, Anfang Juni 1842 in Petersburg). Und er nennt das Werk in der gleichen Rezension «высокая, вдохновенная поэма». Dann aber erscheint K. S. Aksakovs Broschüre mit dem Homer-Vergleich, und angesichts dieses entgegengesetzten Extrems wird Belinskij wieder sehr vorsichtig: «Мы еще не понимаем ясно, почему Гоголь назвал ‹поэмою› свое произведение, и пока видим в этом названии тот же юмор, каким растворено и проникнуто насквозь это произведение»,15 d. h. er nähert sich dem zuvor abgelehnten Standpunkt wieder an. Er begründet seine Unsicherheit damit, dass man ja noch nicht wisse, was die angekündigten zwei weiteren Teile16 bringen werden. Daran ist sicher richtig, dass Gogol’ zu seiner Charakteristik der Toten Seelen als поэма gewiss von seiner Gesamtkonzeption her gekommen war.

3 Interessant ist, dass eigentlich kein Rezensent daran Anstoß genommen hat, dass unser Wort auf ein Prosawerk angewandt wurde. Belinskij nennt einmal auch den Taras Bul’ba eine поэма, was zeigt, dass offenbar die formale Bedingung des discours mesuré nicht mehr galt. Vielmehr scheint die etymologische Verwandtschaft von поэт – поэзия – поэтический und поэма in dem gleichen Sinne gewirkt zu haben wie etwa im Deutschen die von Dichter – Dichtung – dichterisch und Gedicht, wahrscheinlich sogar unter dem Einfluss des Deutschen. Und tatsächlich traten bei Übersetzungen für diese deutschen Wörter die genannten russischen ein, wobei jedoch russ. поэма sowohl für dt. Gedicht wie auch für dt. Dichtung (im Sinne eines konkreten Werkes) stehen konnte. Im Deutschen aber wurde (und wird) ein literarisches Werk nicht notwendigerweise durch die Versgestalt zur Dichtung, sondern durch seine dichterischen Qualitäten, was weniger Formales als Konzeption, Stillage und manches andere Unwägbare meint. Parallel dazu kann der Verfasser eines solchen Werkes, auch wenn es nicht in Versen geschrieben ist, damals wie heute 13 14 15 16

Zit. nach V. O. BElINSKIJ, Polnoe sobranie sočinenij, M. 1953–59, VI, S. 253. Ibid., VI, S. 220. loc. cit. GOGOl’, op. cit., VI, 246.

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im Dt. Dichter genannt werden, aber nicht ebenso leicht im Russ. поэт, zumindest im heutigen Sprachgebrauch. Belinskij aber nennt Gogol’ in den herangezogenen Rezensionen ständig поэт, was einesteils ein ursprünglich deutscher Wortgebrauch, andernteils doch wohl so etwas wie ein positives Werturteil ist (vor allem, wenn man bedenkt, dass Belinskij damals, durchaus noch romantisch, die Inspiration für das hielt, was den Dichter ausmacht). Mir ist bei alledem wichtig, dass es ebenso wie für поэт auch für поэма damals neben der französischen auch eine deutsche Deszendenz gegeben hat, die nicht erst in Küchelbeckers Mnemozina (1824) oder dem ganz deutsch orientierten Moskovskij vestnik der ljubomudry (seit 1826) manifest wird, sondern schon früher. Ostolopov z. B. zitiert neben anderen Definitionen von Поэзия auch die folgende, auf der Ästhetik von Bouterwek (1806) beruhende: Поэзия должна называться первоначальным искусством; ибо каждое изящное произведение искусства должно первоначально быть вымыслом (Gedicht), прекрасным произведением фантазии прежде, нежели перейдет в видимую форму, во внешний свет.17

Ganz abgesehen davon, dass diese Definition an Formulierungen aus Gogol’s frühem ästhetischem Traktat Женщина (1829) erinnert, ist die hier versuchte Übersetzung von Gedicht(e) mit вымысел interessant und für uns wohl auch überraschend. Schauen wir aber einmal nach, was denn das Wort Gedicht damals im Deutschen alles bedeutet hat, so erfahren wir z. B. von Adelung (1793– 1802)18: „1. Eine Erdichtung, ein in der Einbildung zusammengesetztes Ding, welches man nicht also empfunden hat, ein Mährchen“ Und dazu als Illustration: „Diese Erzählung ist ein bloßes Gedicht.“ Also genau вымысел! Erst als 2. Bedeutung folgt darauf: „Eine vollkommen sinnliche Rede, in den schönen Künsten.“ Und als Illustration: „Ein Gedicht machen, verfertigen.“ Auch im Deutschen gab es damals also zwei Bedeutungen, von denen nur die zweite mit der ersten französischen übereinstimmt. Die Bedingung der Versform gilt allenfalls für diese zweite Bedeutung von Gedicht. Ganz parallel dazu sagt Adelung s. v. Die Dichtkunst: „1. In der weitesten Bedeutung, die Kunst zu dichten, d. i. die Kunst, die Theile eines vorher in Gedanken zergliederten Dinges willkürlich wieder zusammen zu setzen, in welchem Verstande die Dichtkunst alle schönen Künste unter sich begreift.“ Auch dies ist genau im Sinne BouterwekOstolopovs. Und wieder erst an zweiter Stelle folgt: „2. in engerer und gewöhnlicherer Bedeutung die Fertigkeit ein Gedicht zu verfertigen, d. i. seinen Gedanken den höchsten Grad der Lebhaftigkeit zu geben, die Poesie.“ Auch hier keine direkte Erwähnung der Versform, sondern, wie beim Stichwort Gedicht, eine Umschreibung jener Qualität (vollkommen sinnliche Rede; höchste Lebhaftigkeit), die wir heute vielleicht dichterisch nennen würden. 17 18

OSTOlOPOV, op. cit., II, S. 401f. J. CHR. ADElUNG, Grammatikalisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Wien 1811.

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Die Beispiele aus dem Grimmschen Wörterbuch belegen denn auch Gedicht für Prosawerke im Sinne von „Erfindung“, so gleich zweimal (bei Gellert 1784 und bei Uz 1787) für die Romane Richardsons – man denkt dabei unwillkürlich an Puškins Reim романы: обманы (и Ричардсона и Руссо)19 und bei Grimm gibt es auch Beispiele für die Verwendung von Gedicht für Schöpfungen anderer Künste, so der Malerei (bei Goethe) oder der Gartenbaukunst (bei Jean Paul).20 Und diese schon recht breite Bedeutungspalette erfährt gerade um die Jahrhundertwende eine zusätzliche, auch theoretische Ausweitung in Friedrich Schlegels allumfassenden Poesie-Begriff. Bei ihm taucht einmal sogar das im Dt. sonst recht seltene Wort Poem auf. In einem seiner Kritischen Fragmente heißt es: Es gibt so viel Poesie, und doch ist nichts seltener als ein Poem! Das macht die Menge von poetischen Skizzen, Studien, Fragmenten, Tendenzen, Ruinen und Materialien.21

Hier wird das Wort Poem als hohe Wertung für eine umfängliche, gelungene, geschlossene, ganzheitliche Kunstschöpfung verwendet. Und genau in diesem Sinne benutzt Gogol’ das Wort поэма in seinen Aufsätzen aus den Jahren 1833– 34, die 1835 in dem Band Arabesken erschienen (wobei daran zu erinnern wäre, dass die „Arabeske“ als literarische Form ihre Existenz ebenfalls Friedrich Schlegel verdankt).22

4 In dem Aufsatz Über den Unterricht in Universalgeschichte führt Gogol’ u. a. aus, diese (nach Gogol’ durch Herder, Schlözer und Johannes von Müller begründete) Disziplin müsse «собрать в одно все народы мира [...] и соединить 19 20

21 22

PUšKIN, op. cit., VI, S. 44. Es soll nicht verschwiegen werden, dass es auch im Frz. eine Bedeutung von poème gibt und gegeben hat, die – wie im Deutschen – den stilistischen Qualitäten den Vorrang einräumt. So schreibt etwa Fénelon in seinem Brief an die Akademie (1716); «le livre de Job est un Poème plein des figures les plus hardies et les plus majestueuses», so nennt etwa Cazotte (1762) sein mock-heroic Prosa-Epos Ollivier im Untertitel poème. Bezeichnend ist aber, dass sich diese Terminologie in Frankreich – dank dem Widerstand solcher Autoritäten wie Voltaire, louis Racine, Fontenelle und la Harpe – im 18. Jahrhundert nicht hat durchsetzen können. Aus der innerfrz. Auseinandersetzung zwischen klassizistischer Poetik und verschiedenen Gegenpositionen entwickelte sich schließlich, nicht ohne Einfluss von Gessner und Ossian, ein neues Verständnis für ästhetische Werte der Prosa, das im 19. Jahrhundert zu der (Klein-)Form des poème en prose führte, die ihrerseits durch Turgenev in die russ. literatur übernommen wurde. Vgl. V. ClAYTON, The Prose Poem in French Literature of The Eighteenth Century, New York 1936, und B. PETERMANN, Der Streit um Verse und Prosa in der französischen Literatur im XVIII. Jahrhundert, Halle 1913. F. SCHlEGEl, Werke in zwei Bänden, Berlin und Weimar, 1980, Bd. II, S. 165, Fragment Nr. 4. K. K. POlHEIM, Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik, München–Paderborn–Wien 1966.

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их в одно стройное целое: из них составить одну величественную поэму. Связь эта должна заключаться в одной общей мысли [...] Мир должен быть представлен в [...] колоссальном величии.» Vom Unterricht als solchem wird dabei verlangt: «Каждая лекция профессора непременно должна иметь целость и казаться законченною, чтоб в уме слушателей она представлялась стройною поэмою.»23 In den Gedanken zum Geographieunterricht kritisiert Gogol’ den Brauch, den Stoff als „нестройную массу“ darzubieten, wodurch sich in den Köpfen der Kinder niemals „одно прекрасное целое“ bilden könne. Statt dessen schlägt er vor, nicht die verschiedenen länder einzeln durchzunehmen, sondern zuerst „один великий очерк мира“ zu entwerfen, der „всю обширность“ aufzeigen solle, «чтобы мир составил яркую, живописную поэму.»24 Und in den etwas später geschriebenen Petersburger Notizen von 1836 erwägt Gogol’ eine Bereicherung des Ballett-Repertoires durch Volkstänze, wobei der Choreograph so verfahren solle, как музыкальный гений из простой, услышанной на улице песни создает целую поэму.25 Dazu ist allerdings ein гений erforderlich; und so heißt es in dem ArabeskenAufsatz Über moderne Architektur in einem Vergleich: «Таким самым образом (wie ein schlechter Architekt) поэт, не имеющий обширного гения, всегда недоволен одним простым сюжетом, и вместо того, чтобы развить его и сделать огромным, он привязывает к нему множество других; его поэма обременяется пестротою рвзных предметов, но не выражает одного целого»,26 ist also eigentlich gar keine поэма. Diese Formulierung kommt dem oben zitierten Schlegelschen Kritischen Fragment erstaunlich nahe, wenn auch notwendigerweise nur im Negativen, da Schlegel keine positive Charakteristik seines Poems gegeben hatte. Gogol’s positive Anforderungen an das, was er in diesen Texten von 1833–35 unter поэма versteht, gehen bis an die Grenze des Vorstellbaren: keine „пестротa рaзных предметов“, keine „нестройная масса“, sondern „одно целое“, eine „целость“, zusammengehalten durch „одну общую мысль“ und, bei weitestem Überblick, gekennzeichnet durch „колоссальное величие“, „обширность“, einen „великий очерк“ darstellend mit den Eigenschaften „величественный“, „оконченный“, „стройный“, „прекрасный“, „яркий“, „живописный“, dabei aber gegründet auf ein „простой сюжет“, das es gelte „развить и сделать огромным“. Fürwahr ein ästhetisches Maximalprogramm ohnegleichen. Man fühlt sich an Manilovs Belvedere erinnert, von dem aus man Moskau sehen kann,27 und an manche ähnlichen Vorstellungen, die unter Titeln wie The 23 24 25 26 27

GOGOl’, op. cit., VIII, 26 und 30; Hervorhebung von mir (R.-D. K.). Ibid., VIII, 99; Hervorhebung von mir (R.-D. K.). Ibid., VIII, 185; Hervorhebung von mir (R.-D. K.). Ibid., VIII, 60; Hervorhebung von mir (R.-D. K.). GOGOl’, op. cit., VI, 39.

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Wirling Telescope28 oder The All-Seeing Eye29 schon gesammelt und kommentiert worden sind – und es wird auch verständlich, weshalb Rezensenten, die Gogol’ näher standen, wie K. S. Aksakov und S. P. ševyrev, ihn so leicht in die Nähe der Größten der Weltliteratur rückten, als einen Genius von gleichem Range wie oder doch in direkter Nachbarschaft oder Nachfolge von Homer, Dante und Shakespeare. Und Gogol’ hat sich nicht sehr dagegen gewehrt.

5 Auch in der neueren und neuesten Gogol’-Forschung wird immer wieder an Homer und Dante gedacht (weniger an Shakespeare); zuletzt z. B. in James Woodwards Artikel The Epic as Analogue,30 der allerdings Homers Odyssee als Vorbild der Toten Seelen vermutet, was zeitlich nicht angeht, da Gogol’ 1841 in Rom, laut Annenkov,31 Gnedičs Ilias-Übersetzung las, während Žukovskijs Odyssee-Übersetzung, noch kaum begonnen war. Die Rolle Dantes ist dagegen immer schon für wahrscheinlich, ja für sicher gehalten worden, so etwa auch in Jurij Manns Поэтика Гоголя, im Kapitel „К вопросу о жанре Мертвых душ.“32 Dass aber Gogol’s Konzeption von поэма erst durch seine römische Dante-lektüre beeinflusst oder geprägt sein sollte, ist, wie wir gesehen haben, zeitlich ebenfalls nicht haltbar, da diese Konzeption schon 1833–34 in den Arabesken-Aufsätzen vorliegt und schon 1836 erstmals auf die Toten Seelen angewendet wird, in dem oben zitierten Brief an Pogodin vom 28.11.1836, zu einem Zeitpunkt also, als Gogol’ noch nicht in Rom gewesen war und Dante ganz gewiss nicht im Original lesen konnte. (Russische Übersetzungen von nennenswertem Umfang gab es auch noch nicht.) In diesem Zusammenhang ist die Feststellung von A. Elistratova beachtenswert: Мы не располагаем документальными данными о том, в какой мере сам Гоголь мог сознательно обращаться в своем воображении к плану, идеям и образам Божественной комедии, работая над Мертвыми душами.33

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H. MClEAN, Gogol and the Wirling Telescope, in: Russia. Essays in History and Literature, ed. by l. H. lEGTERS, leiden 1972, S. 79–99. l. STIlMAN, The “All-Seeing-Eye” in Gogol, in: Gogol from the Twentieth Century. Eleven Essays, ed. by R. MAGUIRE, Princeton 1974, S. 375–389. Vgl. auch W. W. ROWE, Gogol’s Looking Glass, New York 1976. J. B. WOODWARD, Gogol’s Mertvye duši: The Epic as Analogue, in: Die Welt der Slaven, 1984, l, S. l–17. P. V. ANNENKOV, Gogol’ v Rime letom 1841 goda, in: Biblioteka dlja čtenija, 1857, kn. 2 I 11, zit. nach: V. VERESAEV, Gogol’ v žizni, M.-l. 1933, S. 256. JU. MANN, Poėtika Gogolja, M. 1978, S. 354ff. A. A. ElISTRATOVA, Gogol’ i problemy zapadnoevropejskogo romana, M. 1972, S. 91.

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Das einzig Greifbare sei seine begeisterte Reaktion auf die Nachricht, dass ševyrev eine Dante-Übersetzung begonnen habe (Brief vom 10.9.1839).34 Ich glaube, diese Briefstelle ist nicht das Einzige, obwohl ich so wenig wie im Falle des Schlegelschen Gedankenguts „документальные данные“ beibringen kann. Aber es gibt durchaus Fakten, die gewissermaßen als Indizien gelten können. Und sie hängen alle mit ševyrev zusammen, dessen Name ja schon mehrfach gefallen ist, und der Gogol’ bis zu dessen Tode sehr nahe stand. Schauen wir uns diese Fakten einmal näher an: 1. Gogol’ hat ševyrev zwar erst Anfang 1839 in Rom persönlich kennen gelernt, er wußte von ihm aber nicht etwa erst seit 1832 durch die Aksakovs und Pogodin, sondern schon sehr viel länger, was der Brief vom 10.3.1835 bezeugt, mit dem er von sich aus (was für Gogol’ sehr ungewöhnlich ist) Kontakt mit ševyrev aufnimmt mit den Worten: Я к вам пишу уже слишком без церемоний. Но кажется, между нами так быть должно. Если мы не будем понимать друг друга, то я не знаю, будет ли тогда ктонибудь понимать нас. Я вас люблю почти десять лет, с того времени, когда вы стали издавать Московский вестник, который я начал читать, будучи еще в школе, и ваши мысли подымали из глубины души моей многое, которое еще доныне не совершенно развернулось.35

Wenn dies etwas überschwängliche Bekenntnis auch dem Adressaten des Briefes schmeicheln sollte, so ist doch eine gewisse geistige Parallelität z. B. darin zu erkennen, dass Gogol’, genau wie ševyrev,36 eine Entwicklung von einer deutschen zu einer italienischen Orientierung durchgemacht hat. Vor allem ist aber wichtig festzuhalten, dass dieser Brief genau in jener Zeit geschrieben ist, in der das entscheidende Gespräch mit Puškin über das Sujet der Toten Seelen stattgefunden haben dürfte (nach Jurij Mann „in den ersten vier Monaten des Jahres 1835“37 – der Brief stammt vom März). 2. ševyrev hat sich von 1829 bis 1832 in Italien aufgehalten und dort gründliche Dante-Studien betrieben. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er 1833 und 1834 in sieben Folgen der Ученые записки Императорского Московского университета eine rund 280 Druckseiten füllende Abhandlung unter dem Titel Дант и его век.38 Darin wird in fünf Abschnitten Dantes leben, der Inhalt der 34 35 36 37 38

GOGOl’, op. cit., XI, 247. Ibid., X, 354. Vgl. l. UDOlPH, Stepan Petrovič ševyrev 1820–1836, Köln–Wien 1986. Ju. MANN, V poiskach živoj duši, M. 1984, S. 11. Učenye zapiski Imperatorskogo Moskovskogo universiteta, Nrn. 5 und 6 1833, Nrn. 7, 9, 10 und 11 1834. Die Überschrift „Dant i ego vek“ ist offenbar Goethes Winckelmann und sein Jahrhundert nachgebildet. Aus dieser Schrift hatte ševyrev 1827 die Kapitel „Freundschaft“ und „Schönheit“, 1830 die Kapitel „Antikes“ und „Heidnisches“ im Moskovskij Vestnik in seiner Übersetzung veröffentlicht. Vgl. ševyrevs vollständiges Schriftenverzeichnis in dem zitierten Buch von l. UDOlPH.

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Divina comedia, Dante als Philosoph, als Künstler und als Schöpfer der italienischen Sprache ausführlich dargestellt. Dass Gogol’ (damals Geschichtslehrer und seit 1834 Adjunkt-Professor für Geschichte) diese erste russisch geschriebene und durchaus auf dem Niveau der damaligen Forschung stehende DanteMonographie gekannt hat, ist – bei seiner Begeisterung für das Mittelalter und seiner Sympathie für den Herausgeber des Moskovskij vestnik – im höchsten Grade wahrscheinlich. In dieser Dante-Darstellung konnte er sich nicht nur über Inhalt und Aufbau der Göttlichen Komödie eingehend informieren, es gab dort auch eine ganze Anzahl von Einzelzügen, die ihn ansprechen mussten, wie z. B. die Mitteilung, dass Dante Einzelheiten über Kleidung und andere Realien des häuslichen Alltagslebens in Florenz berichte (1833/6/533f)39 Ja, es lassen sich Parallelen zu Motiven aus ševyrevs Darstellung in Gogol’s beiden (1835 begonnenen) Hauptwerken finden. Da ist etwa das Bild des Spiegels, der von den großen Genies ganzen Epochen vorgehalten werde (1833/5/306), des Spiegels, den auch Dante seinem Jahrhundert vorgehalten habe (1834/8/345) – ist es nicht der gleiche Spiegel, von dem das Motto zum Revisor spricht? Da ist – auch ohne die Spiegel-Metapher – die Kritik an den heimischen Zuständen und lastern („все пороки национальные“ – 1834/8/513), die beim Referat über die Begegnung Vergils mit seinem Mantuaner landsmann Sordello als „по чувству отечественному сильнейшее место в Поэме“ bezeichnet wird und gleichzeitig als „полная политическая картина Италии, современной Данту“ (1833/6/513) – die Parallele zu „вся Pycь“ drängt sich auf. Mehrmals betont ševyrev, dass die Florentiner bzw. Toskaner, denen Dante auf seiner Wanderung durch Hölle und Fegefeuer begegnet, ihn bitten, in der Heimat, in der Oberwelt von ihnen Kunde zu geben (1833/5/349, 361 und 1833/6/512f), was an die Bitte Bobčinskijs an Chlestakov im 4. Akt des Revisors erinnert. Deutlich scheint mir auch die Parallele des landschaftsbildes im erhaltenen Beginn des 2. Teils der Toten Seelen zu dem, was ševyrev über den Beginn des Purgatorio sagt: Первые стихи второй песни: Чистилища, дышат впечатлением сладким, спокойным, освежительным [...] все это растворено какою-то отрадою. Дант вышел из Ада в минуту Воскресения Христова, – и в самом деле чувство, каким отзывается первая песнь Чистилища, можно сравнить с чувством Светлого Христова Воскресения у нас в России ... (1833/6/509)

Wichtiger noch als solche Einzelheiten sind zweifellos die Gedanken ševyrevs, die den Gesamtplan von Dantes Weltgedicht betreffen, wobei natürlich auch die Gogol’ so am Herzen liegende großartige Überschau erwähnt werden muß:

39

Die Zitate aus ševyrevs „Dant i ego vek“ sind hier angegeben mit dem Jahrgang, der Nummer des Heftes und der Seitenzahl in den Učenye zapiski Imp. Mosk. universiteta.

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«Это чувство орла, чувство души, возносящейся к Богу, есть сильнейшее человеческое чувство в Поэме Данта», wo der Dichter «в самом низу увидел нашу землю, нами обитаемую, и улыбнулся ее жалкому виду» (1833/6/537). Solche Überschau löste widersprüchliche Reaktionen aus: «Зло современного мира, которому видел Дант причину и которое внушало ему высокую песнь, располагало его к пессимизму» (1834/7/173). Andererseits ist es dieser Überschau auch zu danken, daß die Göttliche Komödie gelten darf als «полная система мироучения и наук XIII и XIV века, как особый художественный тип в Истории Поэзии, и как решительное проявление языка Италиянского» (1834/7/118, vgl. auch 1834/7/142 u. 178 „энциклопедия“). Dieser Dreiheit liegt eine andere zugrunde: in Dante «соединилось воображение художника с чувством веры Христианина и веры в свое поэтическое ясновидение» (1834/7/141). Daraus erst erwächst der vielfache „подвиг“ des Dichters. Die Göttliche Komödie ist nicht nur ein „подвиг в пользу мысли всего человечества“ und ein „подвиг в пользу народного просвещения в Италии“ (1834/7/179), sie ist vor allem ein „нравственный подвиг“ Dantes: «Он видел пороки современного человечества и полагал единственным средством к спасению его: сказать ему горькую истину в картине будущего» (1834/8/342). Dazu ermuntert ihn Cacciaguida: «Если слово твое и будет неприятно людям на первый вкус: то впоследствии даст пищу жизненную, когда переварят его» (1834/8/343). Im gleichen Sinne gebietet ihm Beatrice «писать то, что он видит во благо мира, живущего в нечестии: in prò del mondo che mal vive» (1834/8/344, d. i. Purg. 32, 103). Dies alles zeige, «что Дант почитал себя имеющим свыше звание к тому, чтобы сказать истину в лицо миру, поставить зеркало перед веком» (1834/8/345) – so wie Gogol’ (1836) von einer „неземная сила“ schreibt, die ihn leite;40 und fast am gleichen Tage, an dem er die Toten Seelen erstmals поэма nennt, schreibt er an Žukovskij: «ктото незримый пишет передо мною могущественным жезлом» – ebenfalls im Zusammenhang mit der Arbeit an den Toten Seelen ...41 Jeder, der Gogol’ etwas kennt, wird spüren, wie stark ihn die in unmittelbarer Nachbarschaft mit der Berufungsgewißheit und der Spiegelmetapher stehende Frage ševyrevs anrühren musste: «Но как Поэт мог исполнить сей нравственный подвиг?» – und noch mehr die Antwort durch den Mund Beatrices (Purg. 30): «Он так низко пал, что все средства к спасению его были пресечены, кроме одного: показать ему племена погибшие.» Diese Worte «относятся в лице Данта и к человеку, ему современному» (1834/8/346). Dies alles musste Gogol’ als ein tua res agitur empfinden, und umso mehr mußte ihn als Künstler die daran anknüpfende Passage betreffen:

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Op. cit., XI, 75. Ibid., XI, 74, vgl. oben Anm. 4.

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Но до сих пор мы видим во всем этом подвиг нравственный, подвиг ума и веры: где же будет подвиг искусства? [...] где же плоть и жизнь, без коих нет Поэзии? [...] Вспомним слова самого Данта: чувственным языком только можно говорить людям; Богу и Ангелам Его мы придаем плоть человеческую. Как же представит Поэт мир невидимый, жизнь духовную, чтобы они ясны были очам человека живого, современного? – Красками видимого мира, стихиями этой жизни, человеческою плотью, жизнию современного века, своего народа, Италии. Вот где начало подвига поэтического.42 (1834/8/352)

Hier braucht man wirklich nur „Италия“ durch„Pycь“ zu ersetzen. Und so lässt sich denn auch das meiste, was ševyrev anschließend über die formalen Charakteristika der Göttlichen Komödie ausführt, leicht auf die Toten Seelen anwenden. Dazu gehören u. a. die «многочисленные отступления и обращения, которые можно с основательностью назвать Лирическими эпизодами» (1834/9/538). Dazu gehört auch der Architektur-Vergleich «Весьма справедливо можно сравнить произведение Данта с каким-нибудь храмом древнего стиля, которого все художественные формы подчиняются высшему, таинственному значению» (1834/9/564). ševyrev beschließt seine Ausführungen zur künstlerischen Form der Göttlichen Komödie mit der Feststellung: «Из всего сказанного проистекает, что Божественная Комедия Данта имеет совершенно свой, особенный тип Поэмы лиро-символической.» (1834/9/565). Für die Einmaligkeit dieser Gattung beruft er sich auf Schellings DanteAufsatz.43 Und dies ist das dritte Indiz ... 3. Jurij Mann zitiert nämlich in seinem Kapitel über die Gattungsfrage den gleichen Aufsatz Schellings und fügt hinzu: «Гоголь вероятно не был знаком с этим утверждением.»44 Gewiß, vielleicht nicht gerade mit der Stelle, die Jurij Mann zitiert, höchstwahrscheinlich aber mit der inhaltlich sehr ähnlichen, die ševyrev so wiedergibt: что Поэма не есть ни чистый Эпос, ни чистая Лира, ни Драма, но что все стихии Поэзии, включая и дидактическую, она в себе включает. [...] Кроме известных трех чистых родов Поэзии, следует посему принять еще первоначальный род, в котором все прочие слиты, как в зародыше – род символический. Должно отличить его от дидактического рода: сей последний есть слияние Поэзии и Религии (1834/8/372f)

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44

Hervorhebung von mir (R.-D. K.). F. W. J. v. SCHEllING, Über Dante in philosophischer Beziehung!, in: Ders., Sämmtliche Werke, Stuttgart u. Augsburg 1859, I, 5, S. 152–163. MANN, Poėtika Gogolja, M. 1978, S. 351.

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Gogol’

6 Gogol’ konnte also bei Beginn seiner Arbeit an den Toten Seelen bereits sehr eingehend über Dante informiert sein und seine eigenen Vorstellungen von der besonderen Gattung seines entstehenden Werkes ebenso wie seine großartigen Vorstellungen von dem, was er unter поэма verstand, an Dantes poema sacro (Par. 25, 1–2) messen und darauf beziehen. Gewiss hat er auch eine andere Arbeit ševyrevs gekannt, zumal sie von Puškin gelobt wurde,45 mit dem er bei der Vorbereitung der ersten Nummer des Sovremennik Anfang 1836 oft zusammenkam. Ich meine die Istorija Poėzii, bzw. deren ersten Band, der 1835 erschienen war. Dort konnte er u. a. folgendes Zitat aus Jean Pauls Vorschule der Ästhetik finden: Жизни, жизни требует Поезия. Жан Поль говорит: ‹молодому человеку лучше должность в службе, чем книга; в старости обратное. Молодой человек, во цвете сил, извлекает часто природу из Поэмы, вместо того, чтоб из природы извлекать Поэму›46

Bei Jean Paul: „Dann holt der blühende junge Mensch die Natur aus dem Gedicht, anstatt das Gedicht aus der Natur“ Auch hier ist übrigens dt. Gedicht mit (großgeschriebenem) Поэма wiedergegeben. Abschließend zu diesem Wort lässt sich vielleicht sagen, dass Gogol’s Verständnis weitgehend auf dem der deutschen Romantik beruht, wie es ihm schon auf der Schule in Nežin von seinem lehrer Belousov, einem Schüler des 1804 auf Goethes Empfehlung nach Char’kov berufenen Philosophen Johann Baptist Schad (1758–1834) vermittelt wurde. Man erinnere sich nur an den Erstling Hans Küchelgarten und dessen lektürekanon: Платон и Шиллер своенравный, Петрарка, Тик, Аристофан Да позабытый Винкельман.47

Modifiziert wurde die deutsche, wohl recht bruchstückhafte Tradition einerseits durch Gogol’s eigene maximalistische Tendenzen, andererseits durch die ebenfalls der deutschen Romantik, besonders Schelling, verpflichteten Anschauungen ševyrevs, speziell seine Dante-Darstellung.

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PUšKIN, op. cit., XII, S. 65. S. P. šEVYREV, Istorija Poėzii, M. 1835, Bd. I, S. 92. Das Jean-Paul-Zitat stammt aus der Vorschule der Ästhetik, 1. Abt., 1804, zitiert nach: JEAN PAUl’S Werke, hg. v. G. HEMPEl, Berlin 1870, Theil 49–51, S. 29. GOGOl’, op. cit., I, 84. Es wäre zu prüfen, ob die in ibid., IX, 495, erwähnten, aber nicht ausgedruckten Exzerpte aus Winckelmann, die Gogol’ in seine in Nežin begonnene „Handenzyklopädie“ aufgenommen hat, tatsächlich aus Winckelmann (in welcher Sprache, in welcher Ausgabe?) stammen und nicht vielmehr aus ševyrevs Übersetzung der Goetheschen Schrift (vgl. oben, Anm. 38).

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7 Die aus alledem resultierende Konzeption Gogol’s von seinem Hauptwerk, die sich 1836 zum ersten Mal unter dem Namen поэма greifen lässt, musste nun aber gestaltet werden, d. h. zur idealen Vorstellung kam im laufe der jahrelangen Arbeit die reale Erfahrung der damit verbundenen Mühsal. Und für diesen Vorgang, während dessen sich auch der von Jean Paul im obigen Zitat schon angesprochene „Realismus“ stetig weiter herausbildete, hat Gogol’ dann, wohl erst nach seinem mystischen Krankheitserlebnis in Wien (August 1840), die Perlenmetapher gefunden, jenes „возвести в перл создания“, das seine Erfahrung und Arbeitsweise in unübertrefflicher Weise beschreibt und deutet. Nicht umsonst hat er diese Formel aus dem poetologischen Proömium des 7. Kapitels der Toten Seelen noch 1850 wieder aufgegriffen, als er N. V. Berg seine Methode des Schreibens erklärte: «Только после восьмой переписки, непременно собственной рукою, труд является вполне художественно законченным, достигает перл создания.»48 Eigentlich müsste nun für jedes Wort des Ausdrucks «возвести в перл создания» eine ähnliche Untersuchung angestellt werden, wie sie gerade für поэма vorgelegt wurde. Ich beschränke mich aber auf einige Ergebnisse. «Возвести» hatte laut Akademischem Wörterbuch (1792–1803) u. a. auch die Bedeutung «произвести в чин, достоинство, поставить на какую степень». «Создание» kann, nach der gleichen Quelle, die sich auf den von Gogol’ gern herangezogenen sogenannten Schmerzensbrief des Paulus (2. Kor. 12 und 13) beruft, u. U. «приведение в лучшее состояние; научение, польза, наставление», also so etwas wie Erbauung bedeuten; näher liegt jedoch die Bedeutung, die wir schon in dem Zitat aus K. Aksakov vorfanden und die auch bei Belinskij häufig anzutreffen ist, nämlich Schöpfung im Sinne von Kunstwerk, vgl. Gogol’s eigene Erklärung gegenüber N. V. Berg (s. o.). Die Perle als Metapher höchsten Wertes ist weit verbreitet und im christlichen Bereich zusätzlich durch Mt.13.46 gestützt. Die Konstruktion „Perle“ plus Genitiv ist im Frz. nicht unmöglich, im Dt., laut Adelung, „besonders in der höheren Schreibart“ verbreitet. Grimm liefert Beispiele aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert: Perle der Tapferkeit (Klinger), Perle der Damen (Wieland) und vor allem Schiller: Die echte Perle deines Wertes (Tell, 2.1) sowie – Zeus über Semele: sie naht, sie kommt – o Perle meiner Werke, Weib! (Semele). Und wieder erinnert man sich daran, dass Gogol’ sich in Nežin eine 4-bändige Schiller-Ausgabe aus lemberg beschaffte (und auch an das, was er in seinem ästhetischen Programm-Dialog Женщина 1829 zu Papier brachte). Auch перл создания ist also, wie поэма, eine höchste Qualitätsbezeichnung, hinter der die ganze Perlenmetaphorik und -mythologie des Morgen- und Abendlandes 48

VERESAEV, op. cit., S. 421.

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Gogol’

steht, vom Evangelium bis zu dem Himmelsstrahl, der durch den Schlamm dringt (man denke an Gogol’s „тина мелочей“),49 vom lebensgefährlichen Tauchen der Perlenfischer bis zur wissenschaftlichen Erklärung für die Entstehung der Perle aus Verletzung und Krankheit der Muschel. Auch in diesem Falle ist, wie bei поэма, wie bei so manchen anderen Schlüsselwörtern Gogol’s gültig, was er – wohl 1834 – über Puškin sagte: «В каждом слове бездна пространства, каждое слово необъятно, как поэт.»50

49 50

GOGOl’, op. cit., VI, 134. Ibid., VIII, 55.

ein locus amoenus im Revizor? oder: Gogol’ als Parodist Puškins А как странно сочиняет Пушкин! ... Ах какой пассаж! (из разных редакций Ревизора)

I Das Verhältnis Gogol’s zu Puškin ist zweifellos eine der folgenreichsten Dichter-„Freundschaften“ der Weltliteratur, und es ist zugleich eine höchst spannungsreiche und wenig erforschte Beziehung, die dadurch nicht klarer wird, dass sie von Anfang an Gegenstand mehr oder weniger tendenziöser stilisierung gewesen ist. Die Folgen sind sogar sichtbar, denn obwohl beide Dichter jeweils eine Porträtskizze vom anderen entworfen haben, zeigen alle späteren Darstellungen anderer künstler, auf denen beide zusammen auftreten, Gogol’ etwa so, wie er erst einige jahre nach Puškins tod ausgesehen hat. Am weitesten geht die stilisierung wohl in der Pose, in der beide am sockel des novgoroder Denkmals zur tausendjahrfeier Russlands zu sehen sind: Puškin, frontal dem Beschauer zugewandt, den Blick in die Ferne gehoben, streckt die linke Hand waagerecht vor, während die rechte im togaartigen Gewand verschwindet; Gogol’ – auch hier mit Haar- und Barttracht der 40er jahre – steht seitlich, dem Betrachter die linke schulter zuwendend, halb vor Puškin, dem er seine linke Hand an die schulter lehnt. Auch er ist antikisch drapiert über seiner zeitgemäßen kleidung, die, wie bei Puškin, mit Rockkragen, Hosensaum und stiefeletten unter der toga hervorlugt. Puškin erscheint ganz als der helle, prophetisch weggewisse lehrer, Gogol’ als sein anlehnungsbedürftiger, von Zweifeln gequälter schüler, um nicht zu sagen jünger1. In sowjetischer Zeit wurde dies klischee der nachfolge (preemstvennost’) – bis hin zum letzten Buch Makogonenkos2 – so verstanden, dass Gogol’ von Puškin das Vermächtnis eines gesellschaftskritischen Realismus übernommen und weiterentwickelt habe. Wie viel oder wie wenig davon einer objektiven Überprüfung standhält, soll hier nicht untersucht werden. Auch die wenigen vom allgemeinen Muster abweichenden Äußerungen zum Verhältnis der beiden Dichter sollen uns im Rahmen eines miszellenartigen Aufsatzes nicht beschäftigen. Hingewiesen sei lediglich auf die bislang gründlichste Darstellung auch der disharmonischen 1 2

Vgl. die Abbildung in Igor’ ZolotusskIj: Gogol’, M. 21984, nach s. 320. G. P. MAkoGonenko: Gogol’ i Puškin, l. 1985, vgl. meine Rezension in ZslPh, Bd. Il, Heft l, 1989, s. 173–189, besonders s. 174.

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Gogol’

seiten dieses Verhältnisses in der Gogol’-Biographie von Igor’ Zolotusskij3. Weniger gründlich, aber provokant sind die Auslassungen von Abram terc (sinjavskij), der vermutet, chlestakov sei eine Art Porträt-karikatur Puškins (nu, čem ne Puškin!)4. soweit gehe ich nicht, zumal ich bei anderer Gelegenheit die these vertreten habe, chlestakov sei „die erste berühmte Gestalt Gogol’s, die nach einem partiellen Psychogramm ihres Autors entworfen (und, wie immer, ‘nach unten’ stilisiert) ist“5. Dabei möchte ich auch bleiben und in chlestakov-Gogol’ nicht eine Parodie, sondern einen Parodisten Puškins sehen.

II Wo soll sich diese Puškin-Parodie bei chlestakov finden? nicht in der Figur und ihrem charakter als ganzem, und gewiss auch nicht in der Passage, in der der beschwipste Prahlhans sich brüstet, mit Puškin befreundet zu sein. (Diese stelle hatte sinjavskij ja als Motto für sein umstrittenes Puškin – Büchlein gewählt)6. es geht vielmehr um eine stelle aus der anschließenden „liebesszene“. eigentlich ist der einbau einer liebesszene an sich schon eine Parodie auf die von Gogol’ verabscheute Vaudeville-tradition und gehört so mit den benachbarten literarischen Parodien (mit Hilfe von textbrocken aus lomonosov und karamzin) zusammen. Insofern wäre es nicht verwunderlich, in dieser umgebung auch eine Puškin-Parodie anzutreffen ... Am ende des XIII. Auftritts des vierten Aktes entgegnet chlestakov auf den einwand von Anna Andreevna, der Frau des stadthauptmanns, dass sie doch „in gewisser Weise verheiratet“ sei, folgendes: Это ничего. Для любви нет различия, и Карамзин сказал: „Законы осуждают“. Мы удалимся под сень струй. Руки вашей, руки прошу.

ein harter Brocken für jeden Übersetzer. Wolfgang kasack setzt dafür recht geschickt: Das macht nichts. Die liebe kennt keinen unterschied. schon karamsin hat gesagt: „Die Gesetze verdammen“. ein lauschiger Bach soll uns schatten spenden. Ihre Hand, ich bitte um ihre Hand7.

es geht natürlich um die Passage „ein lauschiger Bach soll uns Schatten spenden“, die schon durch ihren Rhythmus an eine Dichtung als Quelle denken lässt und durch das epitheton „lauschig“ sogar an eine schäferdichtung oder ähnliches. 3 4 5 6 7

o. c. s. 207–215. Abram teRc: Progulki s Puškinym, london 1975, s. 152. R.-D. keIl: Gogol, Reinbek 1985, s. 71. Abram teRc, o. c., s. 5. nikolai GoGol, Gesammelte Werke, hg. von Angela MARtInI, Bd. 3, Dramen, stuttgart 1985, s. 90.

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Die weitere untersuchung wird zeigen, dass der Übersetzer damit wesentliche elemente ins Deutsche hinübergerettet hat. nicht bewahrt ist nur die (pseudo)logische Anknüpfung des „My udalimsja“, was ja etwa bedeutet: „Mag auch karamzin gesagt haben: „Die Gesetze verdammen“, w i r werden uns zurückziehen ...“. ja, aber wohin? – Pod sen’ struj! Diese drei Wörter sind im russischen original so befremdlich, dass die oben zitierte deutsche Übersetzung als ein Muster an klarheit erscheint. Gogol’ hat es verstanden, die nähe zu einer Art schäferdichtung, die die Wortwahl suggeriert, durch die rhythmische unbeholfenheit wieder aufzuheben, und der russische leser oder Hörer (damals wie heute) findet in dieser Wortfolge nur Absurdität: „Wir werden uns entfernen unter die obhut der (Wasser)strahlen“. Diese Absurdität ist natürlich beabsichtigt: Ich glaube aber nicht, dass Gogol’ damit nur chlestakov bloßstellen wollte, indem er ihn unsinniges reden ließ, sondern dass diese Worte auf ein ganz bestimmtes literarisches klischee bezogen sind: auf den in der klassizistischen Dichtung ebenso wie im Rokoko und im sentimentalismus immer wieder anzutreffenden topos vom „lustort“, vom „locus amoenus“.

III Was hat man sich unter einem „lustort“ (locus amoenus) vorzustellen? „sein Minimum an Ausstattung besteht aus einem Baum (oder mehreren Bäumen), einer Wiese und einem Quell oder Bach. Hinzutreten kann noch Vogelgesang und Blumen. Die reichste Ausführung fügt noch Windhauch hinzu“. so die Definition bei ernst Robert curtius8. und in dem von ihm angeführten ältesten Beleg – aus Petronius – heißt es denn auch nach Beschreibung verschiedener schattenspendender Bäume und eines plätschernden Baches: dignus amore locus, worauf dann noch Vögel und Blumen folgen. es scheint fast so, als hätte Gogol’ mit seinem pod sen’ struj eine aufs äußerste komprimierte kurzfassung des traditionellen lustortes geben wollen, wobei die schatten, also schutz vor der Hitze spendenden Bäume mit dem sowohl poetischen wie unscharfen Wort sen’ eingebracht sind, was ja sowohl schatten wie schutz, schutzdach, obhut u. ä. heißen kann, und der Bach oder die Quelle mit dem schattenschutz gekoppelt ist, so als ob dieser schutz selbst aus herabfließendem Wasser bestünde, was sich allenfalls bei einem künstlichen Wasserspiel vorstellen lässt. In dieser Zusammenziehung des traditionellen topos-Inventars zeigt sich die „ungewöhnliche leichtigkeit im Denken“ von chlestakov, deren er sich ja gerade im Hinblick auf seine literarischen Fähigkeiten rühmt (Revizor, 3. Akt, VI. Auftritt). nun ist es aber im höchsten Grade unwahrscheinlich, dass Gogol’ den topos des locus amoenus direkt aus den antiken Quellen oder Imitationen der 8

ernst Robert cuRtIus: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 21954, s. 202.

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Gogol’

Art, wie curtius sie anführt, kannte. Zudem ist dieser topos (als eigenständiges thema von Gedichten), wie curtius l. c. feststellt, „in seinem rhetorisch-poetischen eigendasein bisher nicht erkannt worden“, fehlt also auch in den Poetiken, die Gogol’ kennen konnte. er kann ihn demnach nur aus praktischen Beispielen, die ihm bekannt waren, kennen gelernt, ja eigentlich herausgespürt haben. und dabei ist ihm offenbar das typische, konventionelle, künstliche solcher nur scheinbar realistischen naturschilderungen bewusst geworden. und das, was er als klischee empfand, eignete sich eben deshalb zur ironischen Verwendung, zur Parodie, die gerade in der extremen Verkürzung und dadurch bedingten Verquickung der elemente „schatten“ bzw. „schutz(dach)“ – sen’ – und rieselndes Wasser – struj – sowohl die rhythmische Harmonie als auch den nachvollziehbaren sinn beeinträchtigt und zum Gesamteindruck des Absurden führt. Zusätzlich und gleichzeitig wird damit auch die erotische sinnkomponente einerseits verschleiert, andererseits lächerlich gemacht. Die Frage ist: wo konnte Gogol’ die Vorbilder finden, die ihm solches parodistische Vorgehen ermöglichten? Zweifellos hat es in der ihm bekannten russischen literatur, in Vers und Prosa, nicht an Beispielen gefehlt. es scheint aber doch naheliegend zu sein, zuerst bei Puškin nachzuschauen.

IV sicher ist der topos des locus amoenus nur ein sonderfall einer idealen landschaft, hervorgegangen aus der staffage der Hirtendichtung theokrits und Vergils, und unendlich oft wiederholt in der europäischen Dichtung bis hin zu den schäferszenen des französischen Rokoko. und von dort gelangt er selbstverständlich auch in die Produktionen des jungen Puškin, mitunter kombiniert mit der sehr viel moderneren ossianischen Modeströmung9. so erscheint bereits im ersten gedruckten Gedicht des lyzeumsschülers K drugu stichotvorcu (1814) folgende charakteristik der Poesie, von der der Autor dem Adressaten abrät: Арист, поверь ты мне, оставь перо, чернилы, Забудь ручьи, леса, унылые могилы, В холодных песенках любовью не пылай;

Im gleichen jahr wird das Fragment Kol’na gedruckt – eine freie nachbildung einer ossian-Übersetzung von kozlov –, wo sich die Heldin ihrem Geliebten an einem orte hingibt, der ebenfalls die Mindestausstattung des locus amoenus aufweist: eine Quelle und den dunklen schutz der Bäume, angereichert durch die ossianischen Ingredienzien von nebel, Moos und Mondschein und offenbar ohne jede Rücksicht auf das schottische klima. näher am antiken (und d. h. mediterranen) Vorbild ist das „setting“ des ebenfalls schon 1814 gedruckten Blaženstvo: 9

Vgl. die charakteristik der lyzeumslyrik in der Abhandlung von Hans RotHe: Puškin und Napoléon, in: ARIon, Bd. l (1989), s. 199.

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В роще сумрачной, тенистой, Где журча в траве душистой Светлый бродит ручеек, Ночью на простой свирели Пел влюбленный пастушек;

natürlich sitzt auch der „verwöhnte liebling der Grazien“, Batjuškov, (1815) Под тенью тополов ветвистых, В кругу красавиц молодых,

während die eröffnungsstrophe der berühmten Vospominanija v carskom sele aus dem gleichen jahr wieder die nächtliche, ossianische Variante bietet. Aber selbst diese einleitung zu einer heroisch-panegyrischen Hymne kann des amoenen Inventars nicht ganz entraten: Чуть слышится ручей, бегущий в сень дубравы, Чуть дышит ветерок, уснувший на листах ...

noch im gleichen jahr schreibt und publiziert Puškin das Gedicht Gorodok, in dem der zum pastoralen „lenivec“ stilisierte Autor behauptet, er lebe jetzt außerhalb Petersburgs in einer umgebung, Где мне в часы полдневны Березок своды темны Прохладну тень дают; Где ландыш белоснежный Сплелся с фиалкой нежной И быстрый ручеек, В струях неся цветок, Невидимый для взора, Лепечет у забора.

Hier verbindet sich das traditionelle Inventar erstmals mit Realien der konkreten Welt, der russischen landschaft und des Dorflebens, wenn das auch bei den Birken nicht recht überzeugt, die hier „dunkle Gewölbe“ bilden müssen. In dem Gedicht Voda i vino (ebenfalls 1815) heißt es dann: Люблю я в полдень воспаленный Прохладу черпать из ручья И в роще тихой, отдаленнoй Смотреть, как плещет в брег струя.

In den ebenfalls noch in die lyzeumszeit zu datierenden, Parnys Tableaux nachempfundenen Kartiny unter der Überschrift Favn i pastuška ist der dignus amore locus zwar eine Höhle10, aber die kulisse besteht wieder, leicht ossianisch verschleiert, aus Bach, Blumen und Windhauch: 10

les déguisemens de Vénus, tableaux imités du grec, in: Œuvres d’Évariste Parny, tome second, Paris 1808, s. 7–56.

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Для вас поток игривый Угрюмой тьмой одет, И месяц молчаливый Туманный свет лиет, Здесь розы наклонились Над вами в темный кров; И ветры притаились, Где царствует любовь ...

ende 1819 entwirft Puškin ein balladenartiges Gedicht, das mit folgender ortsbeschreibung beginnt: Там у леска, за ближнею долиной, Где весело теченье светлых струй, Младой Эдвин прощался там с Алиной; Я слышал их последний поцелуй.

Die ausführlichste Beschreibung eines locus amoenus enthält dann (1820), unter Verweis auf tasso („Armidas Gärten“), der zweite Gesang von Ruslan i Ljudmila. In dem Garten, den ljudmila dort betritt, gibt es nicht weniger als sechs verschiedene Baumarten, es weht ein kühles Mailüftchen, der Vogelgesang ist durch eine chinesische nachtigall vertreten, springbrunnen und Wasserfälle rauschen oder plätschern: И ручейки в тени лесной Чуть вьются сонною волной. Приют покоя и прохлады, ... Повсюду роз живые ветки Цветут и дышат по тропам.

nur angedeutet ist die amöne lokalität im Bachčisarajskij fontan, wo sich die Bewohnerinnen von chan Girejs Harem die langeweile mit spielen und Gesprächen vertreiben: Или при шуме вод живых, Над их прозрачными струями В прохладе яворов густых Гуляют легкими роями.

(1822)

In diesem Poem steht schon der im titel genannte springbrunnen als symbol und Zeuge von liebeslust und -leid. und noch 1825, im Boris Godunov, findet die entscheidende Begegnung zwischen dem Pseudodemetrius und Marina Mnišek „u fontana“ statt. In den frühen 20er jahren verbindet Puškin elemente des „lustortes“ in eigentümlicher Weise mit Aussagen über seine Dichtung. so heißt es etwa 1823 in dem Gedicht noč’: Мои стихи, сливаясь и журча, Текут, ручьи любви, текут полны тобою.

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und in dem Razgovor knigoprodavca s poėtom (1824), das Goethes Vorspiel auf dem Theater verpflichtet ist, heißt es – nun schon unter einbeziehung der romantischen elemente von sturmwind und Meeresbrausen: В гармонии соперник мой Был шум лесов, иль вихорь буйный, Иль иволги напев живой, Иль шепот речки тихоструйной.

spätere Dichtungs-Aussagen Puškins bevorzugen weiterhin die romantischen Bilder von sturm, Wellen und auch Waldesrauschen, während die konventionell-künstliche „Harmonie“ immer mehr verschwindet bzw. als täuschung oder selbsttäuschung entlarvt wird. Dies gilt besonders bei der kombination des locus amoenus mit dem, was Puškin an anderer stelle einmal ljubovnyj bred genannt hat11.

V Damit komme ich zu dem text, der meiner Meinung nach der chlestakovschen Formel pod sen’ struj zugrundeliegt – der Scena iz Fausta (1825): Фауст: О сон чудесный! О пламя чистое любви! Там, там – где тень, где шум древесный, Где сладко-звонкие струи – Там, на груди её прелестной Покоя томную главу, Я счастлив был ... Мефистофель: Творец небесный! Ты бредишь, Фауст, наяву!

Was Mephisto hier Fausten vorwirft: „Du phantasierst ja am hellichten tage“ – ist es nicht genau das, was chlestakov tut? Freilich auf einer anderen ebene, aber 11

In einem Brief an den Bruder lev aus odessa vom 25. August 1823. Dort bezog sich der ljubovnyj bred auf die erwähnung einer früheren liebe im text des Bachčisarajskij fontan. Dieselbe erinnerung steht hinter den Zeilen, die Puškin aus dem entwurf des Razgovor knigoprodavca s poėtom (1824) wieder gestrichen hat: Там, там, где тень, где лист чудесный, Где льются вечные струи, Я находил язык небесный, Язык поэтов и любви ... es ist nicht wahrscheinlich, daß Gogol’ diese Zeilen gekannt hat. sicher gekannt hat er das selbstzitat Puškins in der Scena iz Fausta.

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Gogol’

darin liegt ja gerade das parodistische element. und die schwärmerischen Worte Faustens könnten ja tatsächlich zur Parodie herausfordern, denn was soll man sich unter dem dreifachen tam! Für einen ort vorstellen? Gewiss keinen realen, sondern eben den so phantastischen wie konventionellen locus amoenus, den dignus amore locus, was durch den Reim ljubvi: strui noch unterstrichen wird. Diese strui sind als liebeschiffre in chlestakovs Gedächtnis hängengeblieben, ähnlich wie die Bruchstücke der lomonosov-ode und der karamzin-Ballade. sollte meine Vermutung richtig sein, so wäre die fragliche chlestakov-Formel My udalimsja pod sen’ struj ein weiteres Beispiel der schon früher bemerkten kleinen seitenhiebe des rätselhaften Humoristen Gogol’ gegen den sonst von ihm so hochgeschätzten Puškin. und auch dieses „Ironisieren“ liegt zeitlich noch vor den komplikationen, die sich im Verhältnis der beiden Dichter aus der Behandlung des Autors Gogol’ durch den Redakteur Puškin wegen Gogol’s Beitrag für den Sovremennik ergaben. All das ist von Zolotusskij behutsam aber deutlich geschildert worden12, und ich meine, die hier mitgeteilte Vermutung fügt sich ohne schwierigkeit in das dort entworfene Bild ein.

12

Igor’ ZolotusskIj: Gogol’, M. 21984, s. 211–215.

Gogol’s Deutsche. Folklore – Erfahrung – Fiktion Nikolaj Vasil’evič Gogol’ (1809–1852) ist bis heute einer der meistgelesenen Autoren Russlands, jedenfalls was seine zwischen 1831 und 1842 veröffentlichten Werke angeht, das heißt die „ukrainischen“ und die „Petersburger“ Erzählungen, den „Revisor“, die „Heirat“ und den Ersten Teil der „Toten Seelen“. Und da in manchen dieser Werke Deutsche auftreten (wenn auch nur als Nebenfiguren), vor allem aber nicht selten über „die Deutschen“ gesprochen, geurteilt und abgeurteilt wird, muss Gogol’s Anteil an dem zu seiner Zeit und noch immer weitverbreiteten russischen „Bild des Deutschen“ als beträchtlich gelten. So scheint es gerechtfertigt, diesem Gogol’schen Bild eine genauere Untersuchung zu widmen, die vor allem die Voraussetzungen seiner Entstehung und die Art seiner Ausprägung und Verwendung in den Werken des Dichters berücksichtigt. Zu den Voraussetzungen gehören sehr verschiedenartige Erfahrungen Gogol’s: einmal all das, was er an Vorstellungen und Vorurteilen seit frühester Kindheit in seiner (zunächst ukrainischen) Umgebung vorgefunden und weitgehend unreflektiert übernommen hat, sodann Erfahrungen aus persönlichen Begegnungen mit Deutschen in Russland, weiterhin der meist völlig übersehene Einfluss deutscher Geistesströmungen auf Gogol’s Welt- und Kunstauffassung während der Schulzeit in Nežin (1822–1828), in der Petersburger Periode seines Lebens (1829–1836), wie auch später noch durch Männer wie Žukovskij1, Pogodin2, Ševyrëv3 und Jazykov4, und schließlich seine persönlichen Erfahrungen aus häufigen Reisen und Aufenthalten in Deutschland – erstmals kurz 1829, dann, zwischen 1836 und 1848 fast jedes Jahr für Wochen und Monate –, wobei „Deutschland“ nicht als politischer, sondern als sprachbestimmt-geographischer Begriff zu verstehen ist, also Österreich und die deutschsprachige Schweiz 1

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Vasilij Andreevič Žukovskij (1786–1852), als präromantischer Dichter Vorläufer, später Freund Puškins, 1826–1838 Erzieher des Kronprinzen (des späteren Zar-Befreiers Alexander II.), lebte 1810–1812 in Dorpat, seit 1841 ständig in Deutschland. Gogol’ lernte ihn 1829 in Petersburg kennen und hat zwischen 1838 und 1847 in Deutschland mehrfach Wochen und Monate bei ihm gewohnt. Michail Petrovič Pogodin (1800–1875), Historiker und Publizist, Professor der Moskauer Universität, seit 1832 mit Gogol’ befreundet. Stepan Petrovič Ševyrëv (1806–1864), Literaturwissenschaftler, Professor der Moskauer Universität, seit 1827 Herausgeber des „Moskovskij vestnik“ (Moskauer Bote). Schrieb die erste wissenschaftliche Darstellung Dantes in Russland; seit 1835 mit Gogol’ befreundet, betreute die Herausgabe seines Nachlasses. Nikolaj Michajlovič Jazykov (1803–1846), Dichter, studierte in Dorpat, lebte später krankheitshalber lange in Deutschland, mehrfach zusammen mit Gogol’. Žukovskij, Pogodin, Ševyrëv und Jazykov waren – außer einigen ehemaligen Schulkameraden – die einzigen Duzfreunde Gogol’s.

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Gogol’

ebenso einschließt wie das böhmische Karlsbad oder das mährische Gräfenberg. Nun gehören persönliche Erfahrungen aber zum privatesten Besitz eines Menschen und sind daher bisweilen schwer nachweisbar, zumal wenn es sich, wie bei Gogol’, um jemanden handelt, der in dieser Hinsicht wenig mitteilsam ist. Die angekündigte Untersuchung ist also ausschließlich auf in den Werken und Briefen verstreute Äußerungen angewiesen und auf deren kontextbezogene Interpretation, wodurch dem Zitat eine wichtige Funktion zukommt. Was Gogol’ an Vorstellungen und Vorurteilen über „die Deutschen“ in seiner Umgebung von Kind auf vorfand, gehört in den Bereich der volkstümlichen Überlieferung, der Folklore. Und es deckt sich naturgemäß mit dem, was Gogol’s Landsmann und Zeitgenosse Vladimir Dal’5 in seiner berühmten Sprichwortsammlung festgehalten hat. Dort wird vor allem die intellektuelle und technische Überlegenheit „des Deutschen“ vermerkt: Der Deutsche ist schlau, er hat den Affen erfunden. Der Deutsche hat für alles ein „Strument“. Der Deutsche kommt mit dem Verstand darauf, der Russe mit den Augen. (Das heißt, der Deutsche erfindet, der Russe guckt ab.)

Aus solcher Einschätzung entstehen leicht Minderwertigkeitskomplexe und Aversionen, die sich sogar gegen Landsleute richten können: Er ist kein gebürtiger Deutscher und will doch angeben, wie’s gemacht wird!

Und die Charakteristik Ein echter Deutscher! erklärt Dal’ als „pünktlich, pedantisch, schrullig“. All das signalisiert eine allgemein angenommene Unverträglichkeit des deutschen Wesens mit dem russischen, was überspitzten Ausdruck findet in dem Sprichwort: Was für den Russen gesund ist, bringt dem Deutschen den Tod.

Damit ist eine gewisse physische Überlegenheit, eine robuste Lebenstüchtigkeit des Russen gegenüber dem klügeren, aber schwächlichen Deutschen ausgedrückt, was zu einer metaphorischen Verwendung physischer Merkmale führen kann, wie wir noch sehen werden. Allerdings muss bei all diesen Sprichwörtern bedacht werden, dass der dort apostrophierte „Deutsche“ (nemec) gar nicht unbedingt ein Deutscher in unserem heutigen Verständnis ist, das heißt jemand deutscher Nationalität oder Muttersprache. Vielmehr bezeichnet das Wort nemec im folkloristischen Kontext seit 5

Vladimir Ivanovič Dal’ (Dahl) (1802–1872), Arzt, Schriftsteller und Lexikograph. Seine Sammlung „Sprichwörter des russischen Volkes“ erschien 1861–1862 und enthält etwa 50.000 Eintragungen, sein „erklärendes Wörterbuch der großrussischen Sprache“ in vier Bänden erschien 1863–1866. Gogol’s Landsmann ist Dal’ insofern, als er – von dänischen Ahnen abstammend – in der Ukraine (Lugansk) aufgewachsen ist.

Gogol’s Deutsche.

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eh und je und bis in die neueste Zeit hinein jeden westlichen (und somit nichtorthodoxen) Fremden und Ausländer. Das wird z. B. darin deutlich, dass Dal’ ein Sprichwort wie dieses anführt: Der Deutsche (Franzose) hat ganz dünne Beine und eine ganz kurze Seele.

Die Austauschbarkeit von „Deutscher“ und „Franzose“ bestätigt, dass – gestützt auf die (Volks-)Etymologie von nemec, das heißt der Stumme, also der nicht slawisch sprechende – mit diesem Wort überhaupt jeder Mittel- oder Westeuropäer gemeint sein konnte. Nicht eingeschlossen sind nur die (slawisch sprechenden) Polen und die Juden, obgleich sie eine Art Deutsch sprechen.6 Gogol’ als Autor ist sich dieser unspezifischen Verwendung des Wortes nemec durchaus bewusst, ja erklärt sie einmal eigens in einer Fußnote. In der Erzählung „Die Nacht vor Weihnachten“ (Noč’ pered roždestvom; veröff. 1832) erscheint gleich zu Anfang am nächtlichen Himmel ein winziger Punkt, der beginnt, die Sterne einzusammeln, der Punkt wird immer größer, aber auch ein Kurzsichtiger, selbst wenn er statt einer Brille die Räder der Kommissärskutsche auf der Nase gehabt hätte, auch dann wär’ er nicht dahintergekommen, was das war. Von vorn ganz und gar ein Deutscher: das schmale, sich unentwegt drehende und alles, was ihm in den Weg kam, beschnuppernde Schnäuzchen lief, wie bei unseren Schweinen, in ein kreisrundes Fünferl aus, und die Beine waren so dünn, dass der Dorfschulze von Jareski, hätt’ er solche gehabt, sie beim ersten Kosakentanz allesamt zerbrochen hätte ...

Es stellt sich heraus, dass es sich bei dem solchermaßen beschriebenen Wesen um – einen Teufel handelt. Und hier nun lässt Gogol’ seinen fiktiven (ukrainischen) Erzähler zum Wort „Deutscher“ folgende Anmerkung machen: Einen Deutschen heißt man bei uns jedweden, der nur aus einem fremden Land stammt, er sei nun Franzose oder Kaiserlicher oder Schwede, immer ist er ein Deutscher.7 (I, 202)

Dementsprechend bleibt auch das Herkunftsland dieser Ausländer ungewiss. Niemals heißt es Germania, was korrekt wäre für Deutschland, sondern ent6

7

So heißt es im „Taras Bul’ba“ einmal: „Alle drei Juden fingen an, deutsch zu reden“ (II, 155), und im Zweiten Teil der „Toten Seelen“ gibt es einen „Schmuggler-Kaufmann jüdischer Herkunft und deutscher Aussprache“ (VII, 229). Dass Gogol’ eine Vorstellung vom Jiddischen hatte, zeigen solche Einsprengsel wie „vej mir!“ (Jankel im „Taras Bul’ba“, II, 159) oder „pfejfer“ (statt „Pfeffer“) im „Vij“ (II, 215). – Gogol’s Texte werden zitiert nach der vierzehnbändigen Ausgabe seiner Werke und Briefe durch die Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Leningrad 1949–1952, mit Band- und Seitenzahl. Die Übersetzungen stammen, falls nicht anders vermerkt, von mir (R.-D. K.). Manche Übersetzungen bieten daher für némec das Wort Welscher, was insofern eine Parallele darstellt, als auch dieses Wort nicht auf eine einzige Nationalität beschränkt ist, sondern allgemein Fremde (vor allem Franzosen und Italiener) bezeichnet. Trotzdem entsteht dadurch meines Erachtens für den deutschen Leser ein falscher Eindruck. Vgl. z. B. unsere Stelle in der neuesten und vollständigsten deutschen Gogol’-Ausgabe: Nikolai GoGoL. Gesammelte Werke, 5 Bde., hrsg. von Angela MARTINI, Stuttgart 1982, Bd. l, S. 119.

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weder nemeckaja zemlja (deutsches Land) oder, in einer nahezu ukrainischen Lautform, Nemetčina. Durch solche Ausdrucksweise erzielt Gogol’ zugleich ukrainisches Lokalkolorit, historische Patina und auch komische Effekte, wenn etwa der Jude Jankel erzählt, es seien „aus Deutschland (Nemetčina) französische Ingenieure gekommen“ (II, 152), oder wenn der alte Bul’ba sich in Warschau „als ausländischer Graf aus dem deutschen Lande (iz nemeckoj zemli) verkleidet“ (II, 157). In der (ukrainischen wie in der russischen) Folklore sind Deutsche eben Fremde, die irgendwoher aus dem fernen Westen kommen und, natürlich, keine orthodoxen Christen sind. Dies besonders lässt das Wort némec westlichen Ausländern gegenüber ebenso leicht zum Schimpfwort werden wie das Wort basurmán gegenüber östlichen (moslemischen). Schimpfwörter lösen sich bekanntlich leicht von ihren ursprünglichen Bedeutungen, und so findet sich némec (wie basurmán) auch leicht in der Nachbarschaft des (ebenfalls zu verabscheuenden) Teufels, und dieser selbst kann als verfluchter Deutscher (I, 225) beschimpft werden. Gogol’ nutzt nun die dem Schimpfwortgebrauch eigene semantische Absurdität, indem er sie in groteske Bildvorstellungen umsetzt wie in dem eingangs zitierten Teufelsporträt aus der „Nacht vor Weihnachten“ oder in der ganz ähnlichen Beschreibung mehrerer Teufel im „Verlorenen Sendschreiben“ (Propavšaja gramota): – „mit Hundeschnauzen und auf deutschen Beinchen“ (I, 188). Und das sind, wie wir inzwischen wissen, dünne Beinchen. Übrigens werden auch dem Juden Jankel „dünne, vertrocknete Waden“ (II, 114) zugeschrieben – ganz im Gegensatz zu den „frischen Waden und Wangen“ von Ivan Ivanovičs Beschließerin Hapka (II, 224). Und so ergibt sich allein aus der Erwähnung dünner Beine die seltsame Assoziationskette Jude-Antichrist-Teufel-Deutscher. Dazu gehört dann noch eine weitere jüdisch-deutsche Gemeinsamkeit, wie die mehrfache Erwähnung jüdischer Strümpfe im „Taras Bul’ba“ belegt: Angehörige beider Völkerschaften tragen nämlich – statt der „normalen“ Fußlappen – Strümpfe. So rät der Schneider Petrovič (im „Mantel“), dessen Frau Karolina „deutscher Abstammung ist“ und der es (vielleicht deshalb?) „liebt, den Deutschen bei Gelegenheit einen Stich zu versetzen“, seinem Kunden Akakij Akakievič, er solle doch aus seinem alten Mäntelchen Fußlappen für den Winter machen, „weil ein Strumpf nicht wärmt. Das haben die Deutschen erfunden, um möglichst viel Geld zu scheffeln“ (III, 151) – eine weitere Parallele von Klischees für Deutsche und Juden. Und so kann schließlich, ganz im „Geiste“ der Folklore, ein westliches Kleidungsstück wie die enganliegende Hose (pantalony)8 bzw. ihr Träger zum Schimpfwort avancieren, wie in der klassischen Schimpfkanonade die Čičikovs Kutscher Selifan gegen sein Pferd loslässt: „Du deutscher Hosenkerl, du (pantalonnik nemeckoj), Barbar, Bonaparte, verfluchter!“ (VI, 40). 8

Aus französisch pantalon, im Gegensatz zu den weiten russischen Hosen šarovary. Übrigens werden auch die Beine deutscher Frauen oder Mädchen als „Holzspäne“ (ščepki) (III, 248) und die deutschen Mädchen insgesamt als „mager“ (chuden’kie) bezeichnet (V, 40).

Gogol’s Deutsche.

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Über eine andere „deutsche“ Erfindung zieht der Dorfschulze aus der „Mainacht“ (Majskaja noč’) her, und wieder gerät der Andersgläubige in die Nähe des Teufels: Hast du gehört, was die verfluchten Deutschen sich da ausgedacht haben? [fragt er den Schnapsbrenner] Bald, so heißt es, würden sie nicht mehr mit Holz brennen, wie alle ehrlichen Christenmenschen sondern mit so einem Teufelsdampf. [...] Was für Idioten, Gott verzeih mir, sind doch diese Deutschen! Verprügeln würd’ ich sie, die Hundesöhne! (I, 165)

Mag dies noch von der (auch sonst im Text unterstrichenen) Beschränktheit des Sprechers zeugen, so rührt die Empörung des kaum gebildeteren Gutsbesitzers Sobakevič doch auch schon an jene grundsätzliche Unverträglichkeit von „deutschem“ und russischem Wesen, von der auch das Sprichwort weiß. Ach, das haben alles diese Ärzte erfunden, die Deutschen und Franzosen, aufhängen möcht’ ich sie dafür. Diät haben sie erfunden, mit Hunger wollen sie kurieren! Weil sie so eine deutsche, wässrige Natur haben, bilden sie sich ein, sie könnten auch mit einem russischen Magen zurechtkommen! (VI, 98f)

Dieses Zitat, wie auch Selifans Geschimpfe, stammt schon aus den „Toten Seelen“, die ja erst nach Gogol’s Bekanntschaft mit der deutschen Wirklichkeit entstanden sind; dennoch spiegelt sich hier, z. B. in der parallelen Nennung von Deutschen und Franzosen, deutlich eine der Folklore verpflichtete Xenophobie. Bezeichnenderweise handelt es sich in den beiden (und manchen anderen) Fällen nicht um auktoriale Rede, sondern um Reden von Personen, deren geistiger Horizont auch durch diesen Zug gekennzeichnet wird. In den frühen Erzählungen, den „Abenden auf dem Vorwerk bei Dikan’ka“ (Večera na chutore bliz Dikan’ki), und in der Sammlung „Mirgorod“ herrscht die Folklore unumschränkt, wird gerade in bezug auf die „Deutschen“ nicht zwischen Autoren- und Personenrede unterschieden, sowenig wie zwischen wirklichen Deutschen und anderen westlichen Ausländern. Das bedeutet jedoch keineswegs nur deren Ablehnung, Verspottung oder Beschimpfung, sondern auch aufrichtige Anerkennung und sogar Bewunderung ihrer Fähigkeiten und Leistungen, besonders der handwerklichen. So ist der Dorfschmied Vakula, als er nach Petersburg kommt, entzückt über eine Türklinke aus Messing: „Ach, was für eine feine Arbeit! All das haben gewiss, so mein’ ich, deutsche Schmiede gemacht“, nicht ohne hinzuzufügen: „zum allerteuersten Preis“ (I, 235). Und in der „Schrecklichen Rache“ (Strašnaja mest’) findet sich eine Kombination zweier ganz verschiedener Folklore-Traditionen in der Beschreibung der Katerina: Gogol’s Mädchen- und Frauenbildnisse folgen damals dem Schema des ukrainischen Volkslieds, und so gehören schwarze Augenbrauen unverzichtbar dazu. Die der Katerina aber sind (was als höchste Steigerung gemeint ist) „schwarz wie deutscher Sammet“ (I, 244). Und im „Taras Bul’ba“ ist von „deutschen Meistern“ die Rede (II, 109), welche ehrerbietige Benennung dort offenbar nicht nur Handwerker, sondern Ingenieure und Festungsbaumeister meint.9 9

Dort werden auch die „Breslauer Juden“ erwähnt (II, 111) – breslavskie, nicht etwa vroclavskie!

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Doch genug der Folklore, deren Klischeevorstellungen auch in späteren Erwähnungen von „Deutschen“ noch oft genug auftauchen – allerdings meist in der Rede von Personen. Man denke nur an die „dünnen Beine“ in den Worten des Kutschers Selifan, die er (im Zweiten Teil der „Toten Seelen“) an seinen Kollegen Petruška richtet, um den Gutsbesitzer Koškarev zu kennzeichnen: Seinen Bauern hat er angezogen wie einen Deutschen, heißt es; von weitem kann man’s gar nicht unterscheiden, so kranichmäßig kommt er angestelzt wie ein Deutscher. (VII, 171f)

Neben der Folklore sollten wir aber auch bedenken, was etwa an realen Begegnungen mit Deutschen oder deutschem Ideengut in Gogol’s Werk seinen Niederschlag gefunden haben könnte. Schon während der Schulzeit in der ukrainischen Provinzstadt Nežin (1822– 1828) machte der junge Gogol’ Bekanntschaft mit einigen Deutschen. Die Aufsicht über den Jungen wird von den Eltern anfangs einem gewissen Egor Ivanovič Zel’dner (wohl Georg Seldner) übertragen.10 Dieser als groß und schlaksig beschriebene Mann war Internatsaufseher und unterrichtete Deutsch. Von einem Klassenkameraden wird dem Schüler Gogol ein Spottgedicht zugeschrieben, in dem von Seldners „Ferkelschnauze“ und „Kranichbeinen“ die Rede gewesen sei.11 Unter mindestens fünf deutschen Klassenkameraden Gogol’s12 war auch ein M. A. Ritter, der als überaus leichtgläubig geschildert wird. Dies reizte Gogol’, ihm einzureden, er habe keine Menschenaugen, sondern Stieraugen, was den armen Jungen fast um den Verstand brachte.13 Im größten Gegensatz zu diesen beiden, eher lächerlichen Vertretern des Deutschtums steht nun aber die außergewöhnlich hohe Wertschätzung der deutschen Kultur im Nežiner Gymnasium. Dies war vor allem das Verdienst des seit 1825 dort wirkenden Internatsleiters N. G. Belousov, eines Schülers des 1804 von Goethe an die neugegründete Universität Char’kov empfohlenen Philosophen Johann Baptist Schad. Die Nežiner Schüler führten in ihrer Theatergruppe mehrfach Stücke von Kotzebue auf (X, 45, 83), das Schulorchester spielte Weber (X, 83) und Mozart (X, 85). Vor allem aber abonniert die Schule die Zeitschrift der Moskauer Schellingianer, den „Moskauer Boten“ (Moskovskij vestnik), seit seinem ersten Erscheinen 1827, und Gogol’, der in den letzten Schuljahren 1827/28 der schnell wachsenden Schulbibliothek vorstand, bezeugt später (X, 354), dass er diese Zeitschrift von Anfang an ständig gelesen habe. Dieses Journal, das mit der Übersetzung eines Faust-Monologs eröffnet wurde, das bereits 1827 die He10

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V. VERESAEV: Gogol’ v žizni (Gogol’ im Leben). Moskau und Leningrad 1933, S. 31 (eine systematische Sammlung authentischer Zeugnisse von Zeitgenossen). VERESAEV, S. 40. In Briefen Gogol’s genannt ist ein Baron S. K. von osten-Saken sowie nur mit Familiennamen ein Gerhard, ein Miller, ein Rot. Da die Namen kyrillisch geschrieben sind, kann die korrekte deutsche Schreibung nicht ermittelt werden. (Vgl. X, 86, 87, 93, 100, 103.) VERESAEV, S. 45.

Gogol’s Deutsche.

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lena-Szene aus Faust II brachte und 1828 einen Dankesbrief Goethes an seinen Übersetzer Ševyrëv, enthielt in seinen ersten vier Jahrgängen siebzehn Texte von oder zu Goethe, zwölf von Schiller, fünf von Jean Paul, drei von E. T. A. Hoffmann, je zwei von Herder, Tieck, Fichte und F. Schlegel, je einen von A. W. Schlegel, Schelling und Heine, dazu zahlreiche Auszüge aus deutschen historischen und geographischen Werken, voran A. L. Schlözer und A. von Humboldt, aber auch schon von Ranke. Welche deutschen Autoren in der von Gogol’ verwalteten Bibliothek vorhanden waren, ist nicht sicher bekannt, vermutlich nicht wenige, zumal Gogol’ schon 1829 über die universalgeschichtlichen Konzepte und stilistischen Eigenheiten von Herder, Schlözer und Johannes von Müller schreibt (VIII, 85–89). Bemerkenswert ist Gogol’s Mitteilung an seine Mutter von 1827: Für den Schiller, den ich aus Lemberg bestellt hatte, habe ich 40 Rubel gegeben – eine recht ansehnliche Summe für meine Verhältnisse – aber ich bin überreich belohnt und verbringe jetzt einige Stunden am Tage aufs angenehmste. (X, 91)

Das scheint darauf hinzudeuten, dass er zu jener Zeit imstande war, deutsch zu lesen. Auch die französischen und deutschen Theaterstücke wurden im Gymnasium von Nežin ja jeweils in der originalsprache aufgeführt, und im Deutschunterricht sollen Passagen aus Kants „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ übungshalber ins Russische übersetzt worden sein. Gogol’s spätere Stellungnahmen zu deutschen Autoren, in den Schriften der Jahre 1831 bis 1836, wo außer den bisher genannten und manchen heute vergessenen die Namen von Geßner, Lessing, Zschokke, Kind, Uhland, Fouqué und Hegel auftauchen, zeugen von umfassender Informiertheit und widerlegen die von Belinskij bis Troyat immer wieder aufgetischte Legende von Gogol’ als vorbildlosem, wenn nicht gar gänzlich ungebildetem literarischem „self made man“. Wie dem auch sei, die frühe Beschäftigung mit Schiller – angeregt durch den geliebten Lehrer Belousov – ist als gesichert anzusehen und hat dauerhafte, prägende Wirkung gehabt: Im Grunde beruht darauf Gogol’s Kunstverständnis, seine Auffassung von der „Schaubühne als moralischer Anstalt“ ebenso wie die von der Möglichkeit und Notwendigkeit einer „Ästhetischen Erziehung“, die erst im letzten Stadium seiner geistigen Entwicklung zurücktrat gegenüber der religiösen Selbstvervollkommnung. 1836, in den wenig bekannten „Petersburger Notizen“ aus diesem Jahr, gelten „die Deutschen“ als „jenes gründliche, jenes zu tiefem ästhetischem Genus veranlagte Volk“ (VIII, 181), ist die Rede 14

obwohl schon Aleksandr HERZEN in seinen Erinnerungen („Byloe i dumy“) die zwanziger bis vierziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts in Russland als die „Schiller-Periode“ bezeichnet hatte, ist diese Komponente des russischen Geisteslebens zwischen Puškin und Dostoevskij bisher nur unzureichend untersucht worden. Wichtige Ansätze bietet für Turgenev und Gončarov PETER THIERGEN in seinen Arbeiten Turgenevs Rudin und Schillers Philosophische Briefe, Gießen 1980, sowie Oblomov als Bruchstück-Mensch – Präliminarien zum Problem Gončarov und Schiller in: I. A. GoNČARoV, Beiträge zu Werk und Wirkung, Köln und Wien 1989, S. 163–191. Die Bedeutung Schillers für Gogol’ ist noch nicht erforscht, sie dürfte erheblich sein.

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Gogol

von dem „strengen, umsichtigen Lessing“ und dem „edelmütigen, feurigen Schiller, der die Würde des Menschen in so poetischem Lichte ausgesprochen hat“ (VIII, 382). Und auch später noch, als eben dieses „poetische Licht“ nicht mehr lobend, sondern relativierend verstanden wird (vgl. VIII, 382), bleibt der Name Schiller14 assoziiert mit jugendlicher Begeisterung, welcher allerdings bald Ernüchterung folgen muss, wie es am Ende des 6. Kapitels der „Toten Seelen“ beschrieben ist, als Čičikov, noch ganz im Banne der Begegnung mit der Gouverneurstochter, plötzlich weibliche Stimmen schimpfen hört, kurz, solche Worte, die einen verträumten, zwanzigjährigen Jüngling wohl plötzlich verbrühen können, wenn er auf dem Heimweg vom Theater an eine spanische Gasse denkt, an die Nacht, an eine zauberhafte weibliche Gestalt mit einer Gitarre und wunderschönen Locken. Was geht da nicht alles in seinem Kopfe vor? Er ist im Himmel und bei Schiller zu Gast15 – und da erschallen auf einmal wie ein Donnerschlag jene verhängnisvollen Worte über ihm, und er erkennt, dass er wieder auf der Erde ist, und sogar auf dem [Petersburger] Heumarkt, und sogar dicht neben einer Kneipe, und aufs Neue geht das alltägliche Schauspiel des Lebens los. (VI, 131)

Aber damit sind wir wieder um mehr als ein Jahrzehnt vorausgeeilt. Am Ende seiner Schulzeit in Nežin ist Gogol’ selbst solch ein verträumter (noch nicht einmal) zwanzigjähriger Jüngling, und er ist oft bei Schiller zu Gast. Von den literarischen Produktionen des Gymnasiasten ist nichts erhalten, und so wissen wir nicht, ob ein in Blankversen geschriebenes Stück „Die Räuber“ etwas mit den Schillerschen zu tun hatte. Aber die ersten beiden erhaltenen (ebenfalls in Versen verfassten) Jugendwerke sind ganz nach deutschen Vorbildern gestaltet: das Gedicht „Italien“ (IX, 9–10) ist ein schwacher Nachklang von „Mignons Lied“. Umfangreicher und anspruchsvoller ist die von Gogol’ im Selbstverlag herausgegebene „Idylle in Bildern“, die den Namen des Helden, Hanz (sic!) Küchelgarten, als Titel führt und offensichtlich von Johann Heinrich Vossens „Luise“ inspiriert ist, wenn auch manche Anleihen bei Puškins Versroman „Evgenij onegin“ hinzukommen. Bemerkenswert bleibt, dass Gogol’ seinen Erstling in einem ausschließlich aus literarischen Reminiszenzen und Wunschvorstellungen konstruierten Deutschland spielen lässt, ohne jemals dort gewesen zu sein. Und da auch die ersten Petersburger Erfahrungen mit konkreten Deutschen keinerlei Spur hinterlassen haben, klingt Gogol’s oft angezweifelte Behauptung, es handle sich um „ein Werk seiner achtzehnjährigen Jugend“ (I, 60) gar nicht so unglaubhaft. Eindeutig deutsch ist Hanz Küchelgartens philhellenischer Ausflug nach Griechenland, ebenso deutsch der Kanon seiner zurückgelassenen Lektüre: „Platon und der eigenwillige Schiller, Petrarca, Tieck, Aristophanes und ein vergessener Winckelmann“ (I, 84). Und dazu passt der Epilog des Ganzen, in dem es heißt: 15

16

offenbare Anknüpfung an Schillers „Teilung der Erde“, wo Zeus zum Dichter sagt: „Willst du in meinem Himmel mit mir leben – / Sooft du kommst, er soll dir offen sein.“ Im original Germania, es handelt sich also tatsächlich um Deutschland, nicht um ein beliebiges westliches Ausland.

Gogol’s Deutsche. И с неразгаданным волненьем Свою Германию пою. Страна высоких помышлений! Воздушных призраков страна! О как тобой душа полна! Тебя обняв, как некий Гений, Великий Гётте бережёт, И чудным строем песнопений Свевает облака забот.

389 Und mit unenträtselter Erregung Singe ich mein Deutschland.16 Land erhabener Gedanken! Du, luftiger Visionen Land! Wie ist die Seele voll von dir! Als Genius behütet dich In seinem Arm der große Goethe Und jagt mit der wundersamen Reihe Seiner Gesänge der Sorgen Wolken davon. (I, 100)

Dies ist der absolute Höhepunkt der Gogol’schen Bewunderung und Verehrung für das Deutschland der Dichter und Denker, wie es ihm auf der Schule nahegebracht worden war. Und es lohnt sich zu vermerken, dass diese Verse (im original gereimte vierfüßige Jamben) früher geschrieben sind als alle bisher zitierten, im wesentlichen auf folkloristischer Tradition beruhenden und überwiegend negativen Äußerungen über „die Deutschen“. Echte, persönliche Erfahrung lag weder der Verklärung noch der Verspottung zugrunde. Sie begann frühestens mit dem Eintreffen Gogol’s in Petersburg, Anfang 1829. Als der noch nicht ganz Zwanzigjährige mit hochgespannten Erwartungen in der nördlichen Hauptstadt ankommt, ist er enttäuscht: Petersburg hat überhaupt keinen Charakter: Die Ausländer, die sich hier niedergelassen haben, sind heimisch geworden und wirken gar nicht wie Ausländer, und die Russen ihrerseits sind verausländert und sind nun weder das eine noch das andere. (X, 139)

So schildert er der Mutter den ersten Eindruck, und später, im „Porträt“, erklärt er, um was für Ausländer es sich vornehmlich handelt. Dort heißt es, Petersburg sei „eine Stadt, wo alle entweder Beamte, Kaufleute oder deutsche Handwerker 17

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Die Außenpolitik lag in den Händen von Graf Nesselrode, für die „innere Sicherheit“ sorgten Benckendorff, von Fock und Dubelt; der Befehlshaber der russischen Flotte bei Navarino (1827) war Vizeadmiral von Heyden, die Balkanarmee im Türkenkrieg (1828/29) befehligte Feldmarschall von Diebitsch. Ja, selbst die Kaiserin, die Gogol’ 1834 mit einem Brillantring ehrte, war eine Tochter der Preußenkönigin Luise. Einer von Gogol’s Dienstvorgesetzten hieß Lieven, und ein gewisser Bradke war nicht unbeteiligt daran, dass Gogol’s Bewerbung um eine Professur in Kiev scheiterte ... In der übel beleumundeten Bol’šaja Meščanskaja ulica. Nicht zu verwechseln mit dem vornehmen Hotel Demuth, in dem einst Čaadaev, „the prince of dandies“, residierte und auch Puškin öfter abstieg. N. F. Arendt, Leibarzt des Zaren. Gogol’ hatte ihn wohl durch Žukovskij, den Erzieher des Kronprinzen, kennen gelernt. Arendt und Dal’ waren die beiden Ärzte, die 1837 Puškin nach seinem Duell behandelten. Es entspricht durchaus der Realität, wenn die in der russischen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts auftretenden Ärzte Deutsche sind, so in Puškins „Schneesturm“, in Gogol’s „Revisor“, in den „Toten Seelen“ (vgl. Zitat oben S. 385). Auch in Lermontovs „Held unserer Zeit“ gibt es einen Arzt namens Werner, der sich aber als Russe fühlt. Der berühmteste deutsche Arzt dieser Generation ist Friedrich Joseph Haas (1780–1853), vgl. LEW KoPELEW: Der heilige Doktor Fjodor Petrowitsch – die Geschichte des Friedrich Joseph Haas. Hamburg 1984.

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sind“ (III, 16). Dazu muss gesagt werden, dass natürlich auch unter den Beamten, besonders den höheren, nicht wenige Deutsche waren.17 Aber zunächst hatte Gogol’ wohl eher mit deutschen Handwerkern zu tun, die in der Umgebung seiner ersten Junggesellenbuden lebten. So wohnt er anfangs im Haus eines Wagnermeisters Jochim (X, 145)18, dann bei einem gewissen Brunst, zeitweilig bei Demuth-Malinovskij19 (X, 205ff, 247ff). Und als sich seine Mutter im Cholerajahr 1830 um seine Gesundheit sorgt, beruhigt er sie: „Mir kann nichts passieren: hier ist ja Arendt, dessen Kunst und edler Seele jeder Eigennutz fremd ist.“ (X, 166)20 Zu den vielfältigen Petersburger Eindrücken kommen sehr bald, im Sommer 1829, auch die von Gogol’s erster Auslandsreise, die ihn nach Travemünde, Lübeck und Hamburg führt. Der Seeweg von Kronstadt aus (bereits mit dem Dampfschiff „Nikolaj I.“) war damals die beliebteste, weil schnellste Möglichkeit für russische Reisende, ins „gebildete Europa“ (X, 165) zu gelangen. So rätselhaft diese erste Reise Gogol’s auch ist, so ausführlich sind doch seine Berichte über seine Eindrücke. Gogol’ hatte seinen Schwestern versprochen, ihnen „die Lebensweise und die Beschäftigungen der guten Deutschen“ (X, 150) zu beschreiben, und er tat es auch – nicht ohne belehrende Absicht: Diese ziemlich altertümliche freie Handelsstadt [Lübeck] gehörte zu den ersten, welche den berühmten Hanse-Bund bildeten, mit dem unser Vaterland (vor allem Novgorod) ständige Handelsbeziehungen unterhielt. [...] Ihr Aussehen, ihre Bauten sind so wie in allen wichtigen Städten Europas (man muss nämlich wissen, dass man von Petersburg her keineswegs über die Hauptstädte Europas urteilen darf. Die Bauten, die Petersburg schmükken, gehören alle der allerjüngsten Zeit an). Hier [in Lübeck] sind die Häuser nicht groß, aber außerordentlich hoch, was um so eindrucksvoller ist, als sie so schmal sind, dass sie an der Vorderfront nicht mehr als vier Fenster nebeneinander auf der ganzen Wand haben; aber meist gibt es fünf, sechs Stockwerke, manchmal noch mehr. [...] Alle Häuser sind eng aneinander gebaut und nirgends durch Zäune getrennt. Die Sauberkeit in den Häusern ist ungewöhnlich; es gibt in der ganzen Stadt keinen unangenehmen Geruch, wie er gewöhnlich in Petersburg herrscht, wo man an manchen Häusern gar nicht vorübergehen mag. Bauernmädchen mit hübschen Leibchen, mit einem Schirm in der Hand tummeln sich von morgens bis abends in Scharen auf den Märkten und in den sauberen Straßen. Kutschen sind hier überhaupt nicht in Gebrauch: die guten Deutschen gehen gewöhnlich zu Fuß, sogar mehrere Werst weit aus der Stadt hinaus. [...] Die orte um Lübeck herum sind nicht hässlich, kommen aber an unsere am Psjol21 nicht heran. Die Häuschen, die verstreut außerhalb der Stadt stehen, umwunden und bepflanzt mit Bäumen, Büschen und Blumen, sind reizend und ähneln sehr den Petersburger Datschen; die Luft ist ziemlich gesund, und das Klima ähnelt ein wenig dem unseren, d. h. dem von Poltava, obgleich das obst hier später reif zu werden scheint, aber doch nicht so spät wie in Petersburg, wo es bis jetzt [Mitte August] nur Himbeeren und Erdbeeren gibt. Hier sieht man doch wenigstens schon Kirschen. Die Ehrerbietigkeit und die netten Umgangsformen der hiesigen Einwohner gefallen mir. Eine einfache Bäuerin, bei der man für einen Schilling obst oder 21 22

Psjol, kleiner Fluss in Gogol’s ukrainischer Heimat. Kibincy, Gut des ehemaligen Ministers D. P. Troščinskij, wo Gogol’s Mutter aufwuchs und sein Vater Leiter einer Laienspieltruppe aus Leibeigenen war. Gogol’ ist als Kind oft in Kibincy gewesen, wo sich ständig eine große Zahl von Gästen aufhielt.

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Gemüse gekauft hat, bedankt sich mit einem so freundlichen Knicks, dass unsere Städterin nur neidisch sein könnte. Nachdem ich einige Tage auf dem Dampfer von Engländern umgeben war, deren Auftreten und Bildungsniveau nicht sehr fein und anständig war (wie es überhaupt bei Seeleuten so ist), wurde ich in Lübeck etwas entschädigt. (X, 152ff)

In einem zweiten Brief folgt eine begeisterte Schilderung des Lübecker Doms einschließlich des Zwölf-Apostel-Glockenspiels und dann diese Skizze aus Travemünde: Die hiesigen Einwohner haben keinerlei Zusammenkünfte und leben fast nur in Gasthäusern. Diese Gasthäuser gefallen mir sehr: Stellt Euch einen reichen, gastfreundlichen Gutsbesitzer vor, wie z. B. seinerzeit bei uns in Kibincy22, bei dem eine Menge Leute wohnt, die nur zum Mittag und Abendessen zusammenkommen. Genau die gleiche Rolle spielt hier der Wirt, und er hat den ersten Platz am Tisch, neben ihm seine Gattin, die das nicht hindert, während des Essens ab und zu in die Küche zu laufen. Die übrigen Plätze nehmen Gäste aus allen Nationen ein. Mit mir zusammen waren hier ein Schweizer, ein Engländer, ein indischer Nabob, ein Bürger aus den Amerikanischen Staaten und viele Deutsche aus den verschiedensten Ländern, und alle gingen wir ganz so miteinander um, als ob wir uns schon seit zehn Jahren kennten. (So etwas ist in Petersburg ganz unmöglich.) Das Abendessen wird immer mit Gesang beendet und immer ziemlich spät. Kurz, die hier verbrachte Zeit wäre für mich sehr angenehm gewesen, wenn nur meine Seele ebenso gesund gewesen wäre wie jetzt mein Leib. (X, 157)

Der erste Eindruck von Deutschland ist also, wie man sieht, durchaus positiv und von Wohlwollen gekennzeichnet. Diese Erfahrung scheint sich aber überhaupt nicht auf die unmittelbar danach entstehenden Werke auszuwirken, aus denen bereits einiges doch recht Unfreundliche zitiert wurde. Das legt den Schluss nahe, dass Gogol’ in den ukrainischen Dorfgeschichten bewusst auf das Lokalkolorit und die humoristischen Effekte der folkloristischen Tradition gesetzt hat. Weniger deutlich ist das Verhältnis von Folklore und persönlicher Erfahrung in den sogenannten Petersburger Erzählungen, die – mit Ausnahme des „Mantels“ – alle ebenfalls vor 1835 entstanden, allerdings zum Teil später, in Italien, überarbeitet werden. Das gilt vor allem für das „Porträt“, in dem aber die „deutsche“ Thematik kaum eine Rolle spielt.23 Sehr wichtig ist sie dagegen für den „Nevskij Prospekt“, der die ausführlichsten Schilderungen von (im folkloristischen Sinne) „typischen“ Deutschen enthält, die Gogol’ geschaffen hat. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die meisten Leser über der unwiderstehlichen Komik dieser Schilderung nicht nur die groteske Übertreibung übersehen, sondern auch die tragische Funktion der „deutschen Szenen“ im Aufbau der ganzen Erzählung nicht bemerken. Dabei hatte Gogol’ schon mit den Namen der deutschen Akteure einen deutlichen Hinweis gegeben: im ersten Teil, der Geschichte des Kunstmalers Piskarev wird zwar weder Schiller noch Hoffmann genannt, aber es ist ihre erhabene und phantastische Welt, in der Piskarev als Künstler lebt bis er seine Täuschung bemerkt und dadurch in den Tod getrieben wird. Im 23

Erwähnt werden lediglich deutsche Künstler und Handwerker (III, 86, 120) und russische Kaufleute in deutschen Überröcken (III, 117).

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zweiten parallel dazu angelegten Teil, der Erzählung vom Leutnant Pirogov, wird dieser von Schiller und Hoffmann persönlich verprügelt – und so von seinem (durchaus aufs Konkrete gerichteten) „Traum“ geheilt. Die Tragödie des an der Realität zerbrechenden Künstlers ist hier ins Niedere und Banale umgesetzt wie die Künstler Schiller und Hoffmann in die gleichnamigen Handwerker. Daher endet Pirogovs Geschichte auch nicht tragisch, sondern eben banal. Tragisch ist sie nur als Parallele und vom Standpunkt des Autors, der in allem den „Dämon“ am Werk sieht, der „selbst die Laternen anzündet, einzig und allein, um alles in falschem Licht erscheinen zu lassen.“ (III, 46) Aber wer lässt sich nicht lieber zum Lachen verleiten, zumal wenn es auf Kosten von Ausländern geschieht? Und so liest man mit Genuss, wie der Leutnant bei der Verfolgung einer Blondine in ein Haus gerät24, wo er Zeuge der folgenden Szene wird: Vor ihm saß Schiller, nicht der Schiller, der den „Wilhelm Tell“ und die „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“ geschrieben hat, sondern der bekannte Schiller, der Klempnermeister in der Meščanskaja-Straße. Neben Schillern stand Hoffmann, nicht der Schriftsteller Hoffmann, sondern ein recht ordentlicher Schuster. Von der oficerskaja-Straße, ein großer Freund Schillers. Schiller war betrunken und saß auf einem Stuhl, stampfte mit dem Fuß und sagte irgendetwas mit Aplomb. All das hätte Pirogov noch nicht verwundert, was ihn verwunderte, war die äußerst seltsame Stellung der Figuren. Schiller saß da, streckte seine ziemlich dicke Nase vor und hatte den Kopf angehoben, und Hoffmann hielt ihn an eben dieser Nase mit zwei Fingern und fuhrwerkte mit der Klinge seines Schuhmachermessers an ihrer oberfläche herum. Beide Personen sprachen deutsch, und deshalb konnte der Leutnant Pirogov, der auf Deutsch nur „gut Morgen“ wusste, von der ganzen Geschichte nichts verstehen. Übrigens beinhalteten Schillers Worte folgendes: „Ich will sie nicht, ich brauche keine Nase!“ sagte er und fuchtelte mit den Armen ... „Die Nase allein kostet mich drei Pfund Tabak im Monat. Und das zahl’ ich in dem miesen russischen Laden, weil der deutsche Laden keinen russischen Tabak führt, da zahl’ ich in dem miesen russischen Laden für jedes Pfund 40 Kopeken, das macht einen Rubel, zwanzig Kopeken – das macht vierzehn Rubel, vierzig Kopeken. Hörst du, mein Freund Hoffmann? Allein für die Nase vierzehn Rubel, vierzig Kopeken. Und an Feiertagen schnupf ich dann Râpé, weil ich den miesen russischen Tabak an Feiertagen nicht schnupfen mag. Pro Jahr schnupf ich zwei Pfund Râpé, zu zwei Rubeln das Pfund. Sechs und vierzehn – zwanzig Rubel, vierzig Kopeken einzig und allein für Tabak! Und nun frag’ ich dich, Hoffmann, mein Freund: ist das nicht Straßenraub?“ Hoffmann, der selbst betrunken war, antwortete bejahend. „Zwanzig Rubel, vierzig Kopeken! Ich bin ein Deutscher aus Schwaben; ich hab in Deutschland einen König. Ich will die Nase nicht! Schneid sie mir ab! Da hast du sie!“ 24

Wiederum in der Meščanskaja ulica, „der Straße der Tabak- und Gemischtwarenläden, der deutschen Handwerker und finnischen Nymphen“ (III, 36), wo auch Gogol’s erste Petersburger Bleibe gewesen war. Das hier mit „finnisch“ wiedergegebene Wort čuchonskij ist eine pejorative Benennung für alle ostseefinnischen Völkerschaften. Die Handlung des „Nevskij Prospekt“ spielt also gar nicht auf dieser Prachtstraße, sondern in den billigeren und verrufenen Quartieren der Stadt, womit nicht nur das Thema der Großstadt (und der Prostitution) in die russische Literatur eingeführt, sondern gleichsam topographisch der Ausruf Piskarevs illustriert wird: „o Gott, was ist denn unser Leben! Der ewige Widerstreit von Traum und Wirklichkeit!“ (III, 30)

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Und wenn nicht urplötzlich der Leutnant Pirogov aufgetaucht wäre, so hätte Hoffmann ohne jeden Zweifel Schillern für nichts und wieder nichts die Nase abgeschnitten, weil er sein Messer schon so in Position gebracht hatte, als wollte er eine Sohle zuschneiden. (III, 37f)

Inmitten der mancherlei Peripetien von Pirogovs vergeblichen Annäherungsversuchen an die Blondine, das ist Schillers Frau, wobei auch das Lob der handwerklichen Fertigkeiten des Klempnermeisters mit einfließt, fügt der Erzähler von sich aus ein: Ich halte es nicht für überflüssig, den Leser etwas näher mit Schillern bekannt zu machen. Schiller war ein vollkommener Deutscher im vollen Sinne dieses Wortes. Bereits seit seinem zwanzigsten Lebensjahr, jener glücklichen Zeit, in der der Russe aufs Geratewohl drauflos lebt, hatte Schiller sein ganzes Leben eingeteilt und machte in keinem Falle mehr eine Ausnahme. Er hatte sich vorgesetzt, um sieben Uhr aufzustehen, um zwei zu Mittag zu essen, in allem pünktlich, und jeden Sonntag betrunken zu sein. Er hatte sich vorgesetzt, im Laufe von zehn Jahren ein Kapital von 50.000 zu erwerben, und das war schon so gewiss und unabwendbar wie das Schicksal, weil eher ein Beamter vergisst, in die Pförtnerloge seines Chefs hineinzuschauen, als ein Deutscher sich entschließt, sein Wort zu brechen. In keinem Falle erhöhte er seine Ausgaben, und wenn die Kartoffelpreise zu sehr anstiegen, legte er nicht eine Kopeke zu, sondern beschränkte nur die Menge, und wenn er auch manchmal nicht satt wurde, so gewöhnte er sich doch daran. Seine Akkuratesse ging so weit, dass er sich vorgesetzt hatte, seine Frau pro Tag nicht öfter als zweimal zu küssen, und um sie nicht doch etwa mal zu oft zu küssen, tat er niemals mehr als einen Teelöffel Pfeffer in seine Suppe; übrigens wurde diese Regel sonntags nicht so streng befolgt, weil Schiller dann zwei Flaschen Bier trank und eine Flasche Kümmel, auf den er jedoch immer schimpfte. Er trank nicht etwa wie ein Engländer, der sich nach dem Essen einschließt und dann vollaufen lässt. Im Gegenteil, als Deutscher trank er immer im Zustand der Begeisterung, entweder gemeinsam mit dem Schuster Hoffmann oder mit dem Tischler Kunz, ebenfalls einem Deutschen und großen Trunkenbold. Von solcher Art also war der Charakter des edelmütigen25 Schiller, welcher sich schließlich in eine äußerst prekäre Lage versetzt fand. Denn obgleich er Phlegmatiker und Deutscher war, hatten doch die Auftritte Pirogovs so etwas Ähnliches wie Eifersucht bewirkt. (III, 41f)

Die anschließende Szene, in der Schiller, Hoffmann und Kunz den Leutnant Pirogov dabei ertappen, wie er Schillers Frau den Hof macht, und ihn daraufhin verprügeln, würzt Gogol’ verbal noch damit, dass er die drei betrunkenen Handwerker als „wutschnaubende Teutonen“ bezeichnet (III, 14) und damit die Summe der Klischeevorstellungen vervollständigt durch den „furor teutonicus“. Das letzte und zugleich bedeutendste Werk der Petersburger Periode Gogol’s, der „Revisor“, spielt in einer entlegenen Provinzstadt, aber selbst dorthin hat sich ein Deutscher verirrt, wieder ein Arzt, der Kreismedikus Christian Ivanovič 25

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Gogol’ gibt dem Klempnermeister das gleiche Epitheton, das er a. a. o. zur Charakteristik des Dichters benutzt (vgl. VIII, 182). In dem erwähnten Entwurf lässt Gogol’ diesen Hiebner sogar einige deutsche Sätze sprechen, die etwa so korrekt sind wie die Schreibung Hiebner für Hübner (IV, 317f). Vgl. oben.

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Gibner (oder, wie Gogol’ in einem Entwurf lateinisch schreibt: Hiebner). Er scheint eine Verkörperung des Wortes nemec (= der Stumme) zu sein: er „kann kein Wort Russisch“, und so hat er auch nichts zu sagen, sondern dort, wo er hätte zu Wort kommen müssen, steht in der Regieanweisung: „gibt einen Laut von sich, der teils dem Buchstaben i ähnelt, und etwas auch dem e.“ (IV, 13)26 Gleich nach dem „Revisor“ und kurz vor der Abreise aus Russland sind die „Petersburger Notizen von 1836“ geschrieben, in denen es hauptsächlich um Theaterkritik geht (und aus diesem Teil wurde oben schon zitiert).27 Vorangestellt ist aber ein großangelegter Vergleich zwischen Petersburg und Moskau, den beiden so ungleichen Hauptstädten des Russischen Reiches. Was Puškin kurz zuvor im Prolog zum „Ehernen Reiter“ mit wenigen Zeilen umrissen hatte, wird hier mit hintergründigem Humor ausgebreitet. Es ist zugleich die erste selbständige Thematisierung dieser bis heute spürbaren Rivalität in russischer Prosa und eine der frühesten Darstellungen des Gegensatzes zwischen den späteren „Westlern“ und „Slavophilen“. Auf Gogol’s Werk bezogen, markiert es den Beginn der bewussten völkerpsychologischen Konfrontation von Russen und Deutschen. Dabei ist diese Konfrontation kein Selbstzweck und – trotz mancher komischer Züge – nicht vorrangig zur Erzielung humoristischer Effekte gewählt. Vielmehr dient die Hervorhebung der Verschiedenheiten dazu, die typisch russischen Eigenschaften vor der Folie der Schilderung anderer Völker herauszuarbeiten, vor allem eben der Deutschen, seltener der Franzosen und Engländer.28 Ausgangspunkt für die Kontrastierung ist in den „Petersburger Notizen“ das grammatische Geschlecht der beiden Städtenamen: Petersburg ist Maskulinum, Moskva Femininum. Da Petersburg eine junge, Moskau eine alte Stadt ist, bietet sich die genealogische Metapher von Mutter (matuška) und Sohn (synok) an.29 Auf die Nationalitätsbezeichnungen Russe und Deutscher lässt sich die Geschlechterzuordnung natürlich nicht übertragen. Deshalb setzt Gogol’ für den Russen die geniale Metapher „russkaja boroda“ (russischer Vollbart), womit er zugleich ein Femininum gewinnt und ein Symbol des altertümlichen, traditionsbewussten, vorpetrinischen Russentums. Dies muss man wissen, wenn man den Text nur auf Deutsch liest: Aber welch ein Unterschied, welch ein Unterschied ist zwischen den beiden! Sie [Moskva] ist bis heute ein russischer Vollbart, und er [Petersburg] ist bereits ein akkurater Deutscher. Wie liegt das alte Moskau da, wie ist es in die Breite gegangen, wie ungekämmt ist es! Und wie hat der Stutzer Petersburg sich zusammengenommen und schnurgerade aufgereckt! Er ist ja auch ringsum von Spiegeln umgeben: hier die Neva dort der Finnische Meerbusen. Er kann sich überall betrachten. Sobald er auch nur ein Federchen, ein Fläuschen entdeckt, gleich wird es weggeschnippt. [...] 28

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Dabei werden die Franzosen im Ganzen recht negativ beurteilt, besonders krass, im Kontrast zu den Gogol’ sympathischen Italienern, in dem Fragment „Rom“ und in einigen Briefen. Die russischen Diminutiva drücken hier sehr verschiedene Affekte aus: matuška ist liebevoll-vertraut, synok eher ironisch.

Gogol’s Deutsche.

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Petersburg ist ein akkurater Mensch, ein vollkommener Deutscher, betrachtet alles berechnend, und ehe er daran denkt, eine Abendeinladung zu geben, schaut er erst mal ins Portemonnaie; Moskau ist ein russischer Edelmann, und wenn der schon mal feiert, dann feiert er bis zum Umfallen und schert sich nicht darum, dass er mehr ausgibt, als er in der Tasche hat; er mag kein Mittelmaß. (VIII, 177f)

Gogol’s Sympathien gelten unzweifelhaft Moskau, und so nutzt er die Gelegenheit, auch die Periodika der beiden Hauptstädte gegeneinander auszuspielen, und dabei bekommt das deutsche Element auf einmal wieder ein positives Vorzeichen, das heißt, soweit es um geistige Inhalte geht, während die reine Pünktlichkeit im Negativen verbleibt: Die Moskauer Journale sprechen von Kant, von Schelling und so weiter und so fort; in den Petersburger Journalen spricht man nur vom Publikum und vom Wohlverhalten ... In Moskau sind die Journale auf der Höhe der Zeit, aber erscheinen mit Verspätung; in Petersburg sind sie nicht auf der Höhe der Zeit, aber erscheinen pünktlich [akkuratno]. (VIII, 178)

Fast so verbreitet wie die Legende von Gogol’s mangelnder Bildung ist die andere: Er habe Russland aus Enttäuschung über den Misserfolg des „Revisors“ verlassen. Tatsächlich gehen die Pläne für eine Europareise schon auf das Jahr 1834 zurück. Damals rechnete er im Februar mit einer Frist von zwei Jahren bis zum Reisebeginn (X, 295). 1835 schreibt er dann der Mutter davon (X, 376), und fast gleichzeitig an Pogodin: Ich würde gern etwas hören, wie es auf Deiner Reise war, was es mit Deutschland und den Deutschen auf sich hat. (X, 378)

All das ist geschrieben, bevor der „Revisor“ überhaupt fertiggestellt, geschweige denn aufgeführt war. Ein Dreivierteljahr später, am 6. Juni 1836, bricht Gogol’ dann zu der lange geplanten Reise auf, von der er so bald nicht wieder zurückkehren will (vgl. den Brief an Žukovskij aus Hamburg, X, 49). In Aachen werde ich zwei Monate Sprachstudien betreiben, weil es mir außerordentlich schwer fällt, mich zu verständigen, und danach fahre ich an den Rhein. Für Puškins Zeitschrift werde ich etwas machen, was, wie mir scheint, komisch werden wird: aus dem deutschen Leben. (XI, 50)

Diese Pläne hat Gogol’ nicht weiterverfolgt. Aber er hat Berichte „aus dem deutschen Leben“, die nicht selten komisch sind, an seine Mutter und seine Schwestern geschrieben und bisweilen durch Zeichnungen illustriert. So heißt es über Hamburg, das er als „alten Bekannten“ bezeichnet: Das ist eine Handelsstadt, eine der riesigsten, die, kann man sagen, in Läden ertrinkt. Hier werden aus ganz Europa zusammengeholte Dinge verkauft. In welche Straße man auch hineinschaut, sie gleicht einer Reihe von Läden. Alles ist billig und schön, und gerade das ist für einen armen Reisenden am nachteiligsten, weil es ihn dazu bringt, sich zu verausgaben, ohne dass er es will. [...] Die Stadt bietet einen sehr schönen Anblick: die Häuser sind hoch, die Straßen schmal und eng, Höfe gibt es nicht, alles wird auf die Straße gegossen, aber trotzdem herrscht fast überall Sauberkeit. Es fließt alles in unterirdischen Röhren, und auf den Straßen gibt es weniger Gestank als in Petersburg. Die

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Umgebung von Hamburg ist ebenfalls schön. Es gibt reichlich Platz für Spaziergänge. Den ganzen Stadtwall nimmt ein Garten ein, der fast die ganze Stadt umgibt. Von dort gibt es viele Ausblicke auf die Stadt, deren Straßen perspektivisch vorüberziehen: ein Haus ans andere geklebt, ein Dach aufs andere, und darüber eine Menge Schornsteine in abwechslungsreichster Unordnung steht einem fast unaufhörlich vor Augen und ist von den verschiedensten Punkten zu sehen. Schiffe treffen sehr viele ein. [...] In der hiesigen Gegend ist alles gut, und man hört fast nie von der Ernte sprechen, weil die Felder so bestellt werden, dass sie jederzeit gute Frucht bringen. (XI, 50f)

So wird die Mutter informiert. An die Schwestern gehen solche Schilderungen: Hamburg ist eine schöne Stadt, und in ihr lässt sich sehr lustig leben. Es gibt dort eine Uferstraße, die Jungfernstieg heißt, auf der solch eine Unzahl von Spaziergängern ist, dass man nicht zu Boden fallen kann, dort sind überall Pavillone, wo unaufhörlich Musik spielt; auch außerhalb der Stadt gibt es viele Plätze, wo Spaziergänger zusammenkommen, um Musik zu hören und Mittag zu essen. (XI, 52) Ich war im Theater, das im Park unter freiem Himmel gegeben wird. Ihr hättet gewiss gelacht, wenn ihr dort gesessen hättet. Die Deutschen kommen in unerhörter Menge zum Zuschauen, und die deutschen Frauen und Mädchen kommen mit ihrem ganzen Haushalt, bauen ihr Arbeitstischchen vor sich auf, direkt in den Sesseln und Logen, und stricken allesamt während der ganzen Vorstellung Strümpfe. Ich war auch auf einem Ball. Damen waren wenige da, aber eine außerordentliche Menge von Männern mit und ohne Schnurrbart. Zumeist – Engländer. Der Engländer ist ziemlich groß gewachsen, setzt sich immer recht ungezwungen, indem er seiner Dame den Rücken zukehrt und ein Bein übers andere schlägt. [...] Als ich einmal außerhalb der Stadt spazieren ging, sah ich ein ziemlich großes und prachtvoll erleuchtetes Haus. Die Musik und eine große Volksmenge veranlassten mich hineinzugehen. Ein riesiger Saal, viele Lüster und Lampen, aber mich verwunderte, dass die Tanzenden gekleidet waren wie die Schuster, wie’s grad kam. Ihr hättet Euch totgelacht. Es wurde ein Walzer getanzt. Solch einen Walzer habt Ihr im Leben noch nicht gesehen: der eine dreht seine Dame rechts herum, der andere links. Manche haben sich einfach an den Händen gefasst, drehen sich überhaupt nicht, sondern starren sich gegenseitig an und hopsen wie die Ziegenböcke durchs Zimmer, ob im Takt oder nicht. Später erfuhr ich, dass das der berühmte Matrosenball war. (XI, 53)

Nicht ganz so ausführlich berichtet er über Bremen und Aachen und von unterwegs über kleine Mädchen, die so lange Blumen in die Postkutsche werfen, bis man eine Münze zurückwirft. Von Aachen geht es nach Besichtigung der Bäder weiter nach Frankfurt am Main: Frankfurt nennt man Deutschlands Paris. Es ist in der Tat laut und angefüllt mit Ausländern, die von überall anreisen, aus Paris, London, Petersburg, Italien usw. Die Stadt ist sehr schön gebaut, anheimelnd, hell und ringsum von einem ganz langen und schönen Park umgeben. Im Sommer ist es nicht so lustig wie im Winter, weil man im Winter dort wohnen bleibt und extra deshalb dorthinzieht, im Sommer reist man in die verschiedenen Bäder, wovon es in der Umgebung außergewöhnlich viele gibt ... Kreuznach, Baden-Baden, Ems, Schwalbach, Langenschwalbach, mit einem Wort: eine unzählbare Menge. In Frankfurt gibt es eine sehr gute oper. Das Frankfurter orchester ist eines der ersten in Europa. (XI, 57)

Etwas später, am 14. August 1836, lesen wir:

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Ich halte mich jetzt in Baden-Baden auf, dem berühmten Bade, wo ich nur drei Tage bleiben wollte und mich nun schon drei Wochen nicht trennen kann. [Weil er dort russische Bekannte getroffen hatte, darunter die Generalin Balabin mit ihren Töchtern.] Die Lage der Stadt ist wunderbar. Sie ist an eine Bergwand gebaut und wird von allen Seiten von Bergen eingeengt. Die Geschäfte, die Ballsäle, das Theater, alles liegt im Park. Auf dem Zimmer hält sich hier kaum jemand auf, vielmehr sitzt man den ganzen Tag an Tischchen unter Bäumen. Die Berge sind fast lila, sogar aus der Nähe. (XI, 58)

So geht es weiter, über Rastatt, Basel, Bern, Lausanne nach Genf: Die Berge der Alpen haben mich fast ständig begleitet. Nie habe ich etwas Schöneres gesehen. Hinter dunkelblauen Bergen zeigen sich in der Ferne die Eis- und Schneegipfel der Alpen. Während die Sonne untergeht, überziehen sich die Schneefelder mit einem zarten rosa- und feuerfarbenen Licht. oft, wenn die Sonne schon untergegangen und alles schon dunkel glänzt, leuchten die Alpen allein noch am Himmel, als wären sie transparent. Vor mir liegt der Genfer See, dessen Wasser türkisfarben zu sein scheinen. [...] Die Trachten der Schweizerinnen sind so schön, wie Ihr Euch gar nicht vorstellen könnt. In jedem Kanton sind sie wieder anders. Die reinsten Gemälde! Die Straßen sind fast überall malerisch. (XI, 59)

Hier ist die Ausbildung in der Petersburger Kunstakademie bei dem Nežiner Landsmann Venecianov deutlich zu spüren, dagegen keinerlei Kritik oder Animosität. Freilich, von den Menschen als solchen ist kaum die Rede, allenfalls von ihrer Kleidung, dagegen viel und begeistert von dem Eindruck der Städte und Landschaften. Erstaunlich ist nun zu sehen, wie rasch die Begeisterung nachlässt. Schon Ende September 1836 schreibt Gogol’ aus Genf an Pogodin: Ich schreibe Dir nichts über meine Reise. Meine Eindrücke sind schon vorüber, schon habe ich mich an die Umgebung gewöhnt, und deshalb bezweifle ich, dass meine Beschreibung interessant werden könnte. Zwei Gegenstände nur haben mich tief beeindruckt und zum Verweilen veranlasst: die Alpen und die alten gotischen Kirchen. (XI, 60)

Den Winter 1836/37 verbringt Gogol’ in Vevey bei Genf und in Paris, bevor er zu ostern endlich sein eigentliches Reiseziel Rom erreicht. Von nun an pflegt er in den Sommermonaten deutsche Bäder aufzusuchen, lebt aber sonst vorwiegend in Italien, vor allem in Rom. Schon beim ersten Wiedersehen mit der Schweiz und Deutschland im Sommer 1837 zeigt er sich enttäuscht: Hier ist meine Meinung: Wer in Italien gewesen ist, der sage den anderen Ländern Lebewohl. Wer im Himmel gewesen ist, der will nicht zurück auf die Erde. [...] Die Berge, die mir vor Italien blau vorgekommen waren, scheinen mir jetzt grau. Es fehlt die Luft, jene durchsichtige, transparente Luft. Die Sonne liebt hier Länder und Menschen nicht so wie in Italien. [...] Mit einem Wort, Europa ist im Vergleich zu Italien dasselbe wie ein trüber verhangener Tag im Vergleich zu einem sonnigen. (XI, 105f)

Tatsächlich im September eintretendes schlechtes Wetter tut während einer Dampferfahrt auf dem Rhein ein Übriges: Der Dampfer bereitete mir eine angenehme Überraschung – nämlich statt eines Tages zwei zu fahren. Der Regen als erster Begleiter der Rheinreise vertiefte die Annehmlich-

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keit. Alle Passagiere drängten sich in einer Kajüte zusammen, und der deutsche Geruch war so, dass man 700 Beile hätte in der Luft aufhängen können. Die runden Fenster unserer Kajüte quietschten und tränten derart, dass mir die Trübsal durch Mark und Bein ging, und die nassen Schirme, schmutzigen Stiefel und der allgemeine Schnupfen träumen mir noch bis heute. Endlich kam ich bis nach Frankfurt und genieße nun schon drei Tage das abscheulichste Wetter, das es je auf der Welt gegeben hat, sowie die edlen Physiognomien der Juden. Denn, wie Sie wohl schon wissen, riecht Frankfurt entsetzlich nach Jude, einschließlich der Deutschen. (XI, 108)

So schreibt Gogol’ an die Smirnova30, und ernsthafter an Žukovskij: Sie haben mir oft von der Schweiz und Deutschland gesprochen und sie immer mit Begeisterung erwähnt. Meine Seele hat sie auch lebhaft aufgenommen, und ich war vielleicht noch lebhafter von ihnen entzückt, ehe ich das erstemal nach Italien kam. Aber jetzt, da ich, nach Italien, wieder dort gewesen bin, kommen sie mir niedrig, banal, widerlich, grau und kalt vor mit all ihren Bergen und Landschaftsbildern, und mir ist, als wäre ich im Gouvernement olonec31 und spürte den Bärenatem des Nördlichen Eismeers. (XI, 112)

Und wieder zurück in Rom (im April 1838) rät er seinem Klassenkameraden Danilevskij: ... lass jeden Gedanken an Deutschland (Nemecija)32 fahren, wo Du Dich weiß Gott wie langweilen wirst in diesen scheußlichen Bädern [...] Setz Dich schnellstens in eine Kutsche und mach Dich auf den Weg zum Mittelmeer. Dein Blick möge nicht erschrecken vor dem Rhein mit all den Koblenzen, Biberachs und Kreuzenachs, noch möge Dein Gehör die Sprache erschrecken, in der sich die Feinde der Christenheit vernehmen lassen. (XI, 133)

Gogol’, der inzwischen das Italienische und sogar den römischen Dialekt (Lingua romanesca – XI, 143) beherrscht, schwärmt von den Römern und ärgert sich über die meisten Fremden, die er selbst in russischem Kontext forestieri nennt, darunter auch über die Russen: „Was für ein unerträgliches Volk!“ (XI, 141), und natürlich bekommen auch die Deutschen wieder etwas ab: Wie widerlich kamen mir, nachdem ich die Italiener kennen gelernt hatte, die Deutschen vor mit all ihrer kleinlichen Ehrlichkeit und mit ihrem Egoismus. (XI, 142)

Und als er Ende Juni 1838 die Notwendigkeit auf sich zukommen sieht, Rom vorübergehend zu verlassen, wünscht er, dass mich ein Geist durch das niederträchtige Deutschland und die Schweiz, die Berge und Steppen hindurchtrüge, um mich dann, in zwei, drei Monaten nach Rom zurückzubringen. (XI, 159)

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Aleksandra osipovna Smirnova, geb. Rosset (1809–1882), ehemalige Hofdame, später Frau des Gouverneurs von Kaluga. Mit Gogol’ seit 1832 bekannt, stand ihm in ihren religiösen Auffassungen nahe. Das Gouvernement olónec umfasste etwa das Gebiet der heutigen Autonomen Republik Karelien. Nemécija ist eine der spöttisch pejorativen Bezeichnungen für Deutschland, vgl. auch, im Zweiten Teil der „Toten Seelen“, das noch negativere nemčurá (VII, 140).

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Den vollständigsten Ausdruck findet diese „antideutsche“ Stimmung zunächst in einem Brief, den Gogol’ Anfang November 1838 an seine ehemalige Schülerin, die damals knapp achtzehnjährige Mar’ja Petrovna Balabina, schreibt. Dort heißt es unter anderem: Sie scheinen mir jetzt sehr an Deutschland gebunden zu sein. Gewiss, ich bestreite es nicht, es überkommt uns manchmal ein Augenblick, wo man aus dem Milieu des Tabakrauchs und der deutschen Küche auf den Mond fliegen möchte, auf dem phantastischen Mantel eines deutschen Studenten, wie Sie sich, glaube ich, ausdrückten. Aber ich zweifle, ob Deutschland jetzt das ist, was wir uns vorstellen. Erscheint es uns als solches nicht nur in den Märchen Hoffmanns? Ich habe dort jedenfalls nichts weiter gesehen als langweilige Table d’hôtes und die ewigen Kellner mit dem ständig gleichen Gesicht und die endlosen Gespräche darüber, aus welchen Gängen das Essen besteht und in welcher Stadt man am besten speist; und jene Idee, die ich im Sinne trug von jenem wundersamen und phantastischen Deutschland, verschwand, als ich Deutschland tatsächlich kennen lernte, so, wie eine reizende blassblaue Tönung verschwindet, wenn wir nahe herankommen. Ich weiß, es gibt dies Land, wo alles wundersam und ganz anders ist als hier; aber zu diesem Land weiß nicht jeder den Weg. Sie scheinen sich jetzt darum zu bemühen, diesen Weg ausfindig zu machen. Ach, Mar’ja Petrovna! was tun Sie da? (XI, 180)

Und ein halbes Jahr später, im Mai 1839, nachdem die Balabina ihm offenbar widersprochen hatte, stößt Gogol’ noch einmal nach: Sie werden es nicht glauben, wie traurig es ist, Rom für einen Monat zu verlassen ... Wieder werde ich dies niederträchtige Deutschland sehen, das widerliche, von ungeheurem Tabak befleckte und verräucherte ... Aber ich hatte ganz vergessen, dass Sie es so lieb haben, und ich hätte beinah noch ein paar passende Epitheta gebraucht. Übrigens kann ich Ihre Leidenschaft überhaupt nicht verstehen. oder muss man vielleicht in Petersburg leben, um empfinden zu können, dass Deutschland schön ist? Und schlägt Ihnen denn nicht das Gewissen? Sie, die Sie in Ihrem Brief sich so für Shakespeare begeisterten, der so tief und klar ist und in sich wie in einem getreuen Spiegel die ganze gewaltige Welt und alles, was den Menschen ausmacht, reflektiert, und da können Sie, während Sie ihn lesen, zugleich an das deutsche verqualmte Durcheinander denken? Und darf man denn sagen, jeder Deutsche sei ein Schiller? Ja, einverstanden, er ist ein Schiller, aber nur jener Schiller, über den Sie etwas erfahren können, wenn Sie einmal die Geduld aufbringen, meine Erzählung „Nevskij Prospekt“ zu lesen. Meiner Meinung nach ist Deutschland nichts anderes als ein höchst übelriechender Rülpser von widerlichstem Tabak und abscheulichstem Bier. Entschuldigen Sie die kleine Unsäuberlichkeit dieses Ausdrucks. Was soll man machen, wenn der Gegenstand selbst unsäuberlich ist, ungeachtet dessen, dass die Deutschen von alters her wegen ihrer Säuberlichkeit gerühmt werden? Aber ich glaube, Sie sind mir deshalb entsetzlich böse und haben vielleicht sogar ein bisschen den Wunsch, mich auf langsamem Feuer zu braten. Aber ich will Sie nicht weiter ärgern. [...] Alle Ihre Urteile in Ihrem letzten Brief sind so gut begründet, dass ich nicht wage, Ihnen nicht zu glauben (davon ausgeschlossen sind nur ein paar Worte über die Deutschen). (XI, 229f)

Diese briefliche Auseinandersetzung kommt zum Abschluss, als Gogol’ im September 1839 aus Wien schreibt:

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Nein, ich werde kein Wort mehr über die Deutschen sagen. Ich habe wirklich Angst. Womöglich haben Sie sich in den drei Jahren, die ich nicht das Vergnügen hatte, Sie zu sehen, völlig verändert. Denn immerhin sind Sie ja jetzt 18 Jahre alt. Ich weiß gar nicht, was mit Ihnen in der Zwischenzeit geschehen sein mag. Vielleicht sind Sie jetzt sehr groß geworden und haben eine schreckliche Kraft in den Armen. Ich aber bin ein schwachbrüstiger Mensch, klapperdürr und nach verschiedenen Mineralwässern einer Mumie sehr ähnlich geworden oder einem alten deutschen Professor, dem die Strümpfe herunterrutschen an den wie Zahnstocher ausgetrockneten Beinchen. Was brauchts da viel? Sie stoßen mich mit der Faust, und um mich ists geschehen. Sie haben wirklich sehr viel Schreckliches an sich. Ich weiß noch, als Sie 14, 15 Jahre alt waren, war Ihre liebste Redewendung: „Ich werfe Sie zum Fenster hinaus.“ Und deshalb ist es, nach den Regeln der Klugheit, besser, sich in Acht zu nehmen und kein Wort über die Deutschen zu sagen. Aber wissen Sie was? Spaß beiseite. Als ich Ihren Brief gelesen hatte und ihn zusammenfaltete, ließ ich den Kopf sinken, und mein Herz überkam ein melancholisches Gefühl. Ich erinnerte mich an meine früheren, meine wunderschönen Jahre, meine Jugend, meine unwiederbringliche Jugend, und, ich schäme mich, es zu gestehen, ich hätte beinahe geweint. Das war die Zeit der Frische der jugendlichen Kräfte und eines Elans, der so rein war wie der Ton eines wohlgestimmten Geigenbogens. Das waren Jahre der Poesie, zu jener Zeit liebte ich die Deutschen, ohne sie zu kennen, oder vielleicht verwechselte ich deutsche Gelehrsamkeit, deutsche Philosophie und Literatur mit den Deutschen, wie dem auch sei, aber die deutsche Poesie trug mich damals fort ins Weite, und mir gefiel damals ihre vollständige Ferne vom Leben und von der Existenz. Und ich schaute damals sehr viel verächtlicher auf alles Gewöhnliche und Alltägliche. Bis heute liebe ich jene Deutschen, die meine Phantasie damals geschaffen hat. Aber lassen wir das. Ich mag es nicht, es ist mir schwer, die rostenden Saiten in der Tiefe meines Herzens aufzuwecken. (XI, 244f)

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir hier eines der aufrichtigsten und erschütterndsten Zeugnisse Gogol’s über sich selbst vor uns haben. Und ich habe es deshalb so ausführlich zitiert, weil die bloße Anführung der „unsäuberlichen Äußerung“ eine völlig falsche Vorstellung vermittelt und die Tragödie der enttäuschten Liebe, die dahintersteht, nicht einmal ahnen lässt. Nicht umsonst wird in diesen Briefen wieder Hoffmann – wohl als künstlerisches Vorbild – und ganz besonders Schiller – als einst begeistert verehrte ästhetisch-ethische Idealgestalt – genannt, derselbe Schiller, bei dem der zwanzigjährige Jüngling im Himmel oft zu Gast war (vgl. oben S. 388f; VI, 131), wie dessen Dichter bei Zeus nach der „Teilung der Erde“. Erstaunlicherweise lässt sich die innere Entwicklung Gogol’s vom „Romantiker“ zum „Realisten“ gerade an seinem Verhältnis zum deutschen Geist der Klassik und Romantik einerseits und zur deutschen Wirklichkeit des Biedermeiers und des Vormärz andererseits deutlicher aufzeigen als an seinen Reaktionen auf russische Verhältnisse. Allerdings müssen dazu die nicht zur Veröffentlichung gedachten Briefe herangezogen werden, die, wie der in Auszügen zitierte Disput mit der jungen Balabina, oft auch erst mit jahrelanger Verspätung Einblicke gewähren in Seelenzustände, aus denen frühere Werke herauswuchsen, so wie es hier für den „Nevskij Prospekt“ erkennbar wurde. Der letzte der eben zitierten Briefe stammte aus Wien, wo sich Gogol’ im September 1839 auf der Durchreise nach Petersburg aufhielt. Von dort berichtet er:

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In Wien langweile ich mich. [...] Ganz Wien amüsiert sich, und die hiesigen Deutschen amüsieren sich ständig. Aber Deutsche amüsieren sich bekanntlich langweilig, sie trinken Bier und sitzen an hölzernen Tischen unter Kastanien – und das ist dann auch alles. (XI, 247)

Umso überraschender ist im gleichen Brief, an Ševyrëv, der Ausruf: Ei dies München! Du musst seinen Namen mit goldenen Lettern in die Schwelle Deines Hauses meißeln lassen. (XI, 247)

Wieso? Eine mögliche Erklärung liefert ein erst drei Jahre später geschriebener Brief nach Bad Gastein („Gastein ist unser Paradies“) an Jazykov: In München gibt es viel Bemerkenswertes. Bemerkenswert ist schon allein, dass dort ein König lebt, der einzige unter allen europäischen Königen, der sich mit Künstlerschaft und Kunst umgibt statt mit Hundezwingern, Ballettratten33, Paradedrill, Uniformschneiderei und dergleichen. In der Architektur gibt es viel Bemerkenswertes, aber auch viel Nachäfferei und überhaupt wenig originalität. Aber die mitten in der Stadt angemalten Fresken, an den Wänden, mitten in einer deutschen Stadt, mitten zwischen Kneipen und Bierfässern, das ist schon was Bemerkenswertes. (XII, 87)

Aber München und Bad Gastein bleiben vorerst die Ausnahme. Nach einem längeren Russlandaufenthalt kehrt Gogol’ im Frühsommer 1840 nach „Europa“ zurück. Von der Reise erfrischt, lässt er sich vorübergehend in Wien nieder. Von dort schreibt er im Juli 1840 an S. T. Aksakov34: So bin ich nun also zur Badekur in Wien: das ist billiger und ruhiger und amüsanter. Ich bin hier allein; niemand stört mich. Die Deutschen betrachte ich wie die unvermeidlichen Insekten in jedem russischen Bauernhaus [Kakerlaken]. Sie laufen um mich herum, kriechen umher, aber stören mich nicht; und wenn einer von ihnen mir auf die Nase steigt, genügt ein Schnips – und weg ist er! (XI, 296)

Nach einigen Wochen wird er in Wien schwer krank und durchlebt physisch wie psychisch eine lebensbedrohende Krise, „aber inmitten von Deutschen zu sterben erschien mir zu schrecklich“ (XI, 315), schreibt er rückblickend, bereits wieder in Italien und beinahe genesen. Dort entsteht in wenigen Monaten die letzte Fassung des Ersten Teils der „Toten Seelen“. Auch in diesem Werk, das Gogol’s Weltruhm begründet, finden sich nicht wenige Stellen, in denen von (den) Deutschen die Rede ist. Zumeist, wie bereits erwähnt, in der folkloristischen Tradition, und zwar konsequent nur in Reden von Personen und somit deren Charakteristik dienend. In auktorialer Rede trifft man nur ganz selten auf Spuren dieses Klischees, so z. B. gleich zu Anfang des zweiten Kapitels, wo der Erzähler erklärt, die Personen der Kutscher seien an sich nicht so wichtig,

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Das Wort Ballettratten ist nur geraten, im original stand vermutlich ein stärkerer Ausdruck, da ihn die Herausgeber der Akademieausgabe als „im Druck nicht üblich“ durch Punkte ersetzt haben. Sergej Timofeevič Aksakov (1791–1859), Gutsherr, Jäger, Angler, Theaterkritiker, Prosaist („Familienchronik“), Nestor der Slavophilen, seit 1832 mit Gogol’ befreundet.

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aber der Autor liebt es außerordentlich, in allem umständlich zu sein, und von dieser Seite her, ungeachtet dessen, dass er selbst Russe ist, möchte er akkurat sein wie ein Deutscher. (VI, 19)

Schon hier arbeitet Gogol’ mit der bewussten Konfrontation Russe-Deutscher, die für die auktoriale Rede in den „Toten Seelen“ konstitutiv sein wird. Manchmal schließt diese Konfrontation auch andere Ausländer mit ein, wie in der Bemerkung darüber, dass ein Franzose oder Deutscher die Feinheiten in der sprachlichen Differenzierung russischer Anredeformen nie kapieren wird (VI, 49), und oft geht es, wie hier, gerade um sprachliche Besonderheiten, die das Russische von anderen Sprachen unterscheiden. Die Hauptstelle dafür ist das Ende des fünften Kapitels, das Gogol’ dazu benutzt, sich im Anschluss an ein nur angedeutetes Schimpfwort über die Treffsicherheit des russischen Wortes auszulassen. Das steigert sich zu einer Art Apotheose: Wie eine unzählbare Menge von Kirchen, Klöstern mit Kuppeln und Zwiebeltürmen und Kreuzen über das heilige, gottwohlgefällige alte Russland verstreut ist, so drängt sich in buntem Hin und Her eine unzählbare Menge von Stämmen, Geschlechtern und Völkern auf dem Antlitz der Erde. Und jegliches Volk, das in sich das Unterpfand seiner Kraft trägt und voll ist von schöpferischen Fähigkeiten der Seele, von seiner ausgeprägten Besonderheit auch anderer Gottesgaben, ist auf eigene Weise ausgezeichnet durch sein spezielles Wort, durch das es, indem es irgendeinen Gegenstand damit bezeichnet, in diesem Ausdruck einen Teil seines eigenen Charakters widerspiegelt. Von Kenntnis des Herzens und weiser Lebenserfahrung klingt das Wort des Briten wider; als leichter Stutzer glänzt und zerflattert das kurzlebige Wort des Franzosen; versponnen ersinnt sein nicht jedermann zugängliches, kluges und kärgliches Wort der Deutsche; aber es gibt kein Wort, das so breit angelegt, so schlagfertig-flink, so unmittelbar aus dem Herzen selbst hervorbräche, so von Leben siedete und bebte wie das treffend gesagte russische Wort. (VI, 109)

Bei dieser großangelegten „lyrischen Digression“ (vgl. VIII, 288), die in gewisser Weise den berühmten Schluss des Ersten Teils vorwegnimmt, in dem vor der russischen Trojka die anderen Völker und Staaten zur Seite treten, ist der Übersetzer natürlich überfordert. Das gilt besonders für das Epitheton, das Gogol’ speziell für das deutsche Wort erfunden hat: umno-chudoščavoe, was oben mit klug und kärglich nur sehr annähernd wiedergegeben ist. Der zweite Teil dieser Zusammenrückung bezeichnet normalerweise eine auffallend schlanke und magere Konstitution hochgewachsener Menschen. Gogol’ denkt offensichtlich an den deutschen Professor, wie er ihn in dem zitierten Brief an die Balabina (siehe oben S. 400) skizziert hatte. Dessen Eigenschaften (klug und leptosom) werden assoziativ auf das deutsche „Wort“ übertragen, dessen sonstige Eigenschaften darauf hinweisen, dass vor allem die deutsche Philosophie gemeint ist, der Gogol’ durchaus einen bedeutenden Rang zugesteht. Das passt zu einer brieflichen Äußerung vom März 1841, in der Gogol’ seinem jungen Verehrer Konstantin S. Aksakov35 schreibt: 35

Konstantin Sergeevič Aksakov (1817–1860), Sohn des vorigen, begeisterter Verehrer Gogol’s und engagierter Slavophiler.

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Sie entschuldigen sich in Ihrem Brief unnötigerweise dafür, dass Sie die deutsche Philosophie erwähnt haben. Ich befürchtete nur, dass Sie sich ihr als Wissenschaft einseitig hingeben könnten – nebenbei freute ich mich aber innerlich bei dem Gedanken, Sie könnten sich aus eigener Kraft hindurcharbeiten auf den russischen Weg, benutzen Sie sie als Gerüst, um selbst auf eine gewisse Höhe zu gelangen, von der aus Sie ein himmelstürmendes Bauwerk beginnen können ... (XI, 338)

Und auch Schiller, der in den „Toten Seelen“ im anschließenden sechsten Kapitel erwähnt wird (wie bereits zitiert, siehe oben, S.388), ist keineswegs abgemeldet. Gogol’ schickt ihn seiner chère sœur Anette (XI, 284), angeblich im Auftrag einer Dame (Elagina)36 – damit die anderen Schwestern nicht eifersüchtig werden –, und mit der verharmlosenden Ankündigung: „Er wird Dir eine angenehme Lektüre bieten bei regnerischem und trübem Wetter“. Anette ist damals neunzehn Jahre alt, also gerade im richtigen Alter für diese Lektüre. offenbar hält Gogol’ 1840/1841 seine eigene Entwicklung und Erfahrung mit deutscher Philosophie und Dichtung für wiederholbar, wenn nicht sogar notwendig als Vorstufe zu einem eigenen, russischen Weg. Doch zurück zu den „Toten Seelen“. Im siebenten Kapitel geht Čičikov die Namen der von ihm erworbenen (verstorbenen) Leibeigenen durch. Dabei knüpft er an die Eintragung „Maksim Teljatnikov, Schuster“ folgende Überlegung: Hä, Schuster! Besoffen wie ein Schuster, sagt das Sprichwort. Ich kenn Dich, ich kenn Dich, mein Täubchen; wenn Du willst, erzähl ich Dir Deine ganze Geschichte: gelernt hast Du bei einem Deutschen, der euch alle zusammen durchgefüttert hat, der Dich mit seinem Gürtel auf den Rücken schlug, wenn Du ungenau warst, und Dich nicht rausgelassen hat auf die Straße zu dummen Streichen, und da warst Du ein wahres Wunder, nicht bloß ein Schuster, und Dein Deutscher konnte sich des Lobes nicht genug tun, wenn er mit seiner Frau oder einem Kam’raden sprach. Und wie endete Deine Lehrzeit? „Jetzt werd ich mir mein eigenes Haus anschaffen“, hast Du gesagt, „aber nicht so wie ein Deutscher, der eine Kopeke auf die andere legt, sondern ich werde auf einmal reich werden.“ Und dann hast Du Deinem Gutsherrn ein ordentliches Pachtgeld gezahlt, hast ein Lädchen aufgemacht, einen Haufen Aufträge gesammelt und angefangen zu arbeiten. Du hast irgendwo spottbillig angefaultes Leder beschafft und wirklich an jedem Stiefel doppelt verdient, aber nach vierzehn Tagen platzten alle Deine Stiefel auf, und man hat Dich aufs übelste beschimpft. Und dann blieb Dein Lädchen leer, und Du fingst an zu trinken und auf den Straßen herumzuhängen und sagtest dabei immer wieder: „Nein, es ist schlecht auf der Welt! Ein Russe hat hier kein Leben: Überall stören die Deutschen.“ (VI, 136f)

Auch in dieser Passage, die als von Čičikov gesprochen vorgestellt wird, sich in Wahrheit aber der auktorialen Rede nähert, kann man Gogol’ nicht vorwerfen, dass er die Konfrontation deutschen und russischen Wesens einseitig zugunsten des russischen verfälsche. Die handwerkliche Tüchtigkeit und Solidität des (der) Deutschen wird durchaus anerkannt, aber dennoch kann sich Gogol’ nicht zu einer uneingeschränkten Anerkennung geschweige denn Sympathie für die 36

Dies ist eine der vielen Mystifikationen, mit denen Gogol’ seine wahren Absichten zu tarnen liebte.

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Deutschen durchringen. Im elften Kapitel, in dem Gogol’ Wesensart und Entwicklung Čičikovs schildert, bescheinigt er ihm eine „Geduld, der gegenüber die hölzerne Geduld des Deutschen gar nichts ist, die schon in dessen langsamem, trägem Blutkreislauf beschlossen“ sei, während doch Čičikovs Blut nur schwer im Zaum zu halten gewesen wäre (VI, 238). Wenn man weiß, dass „hölzern“ eines der negativsten Epitheta ist, die Gogol’ zu vergeben hat, ist diese Charakteristik vernichtend. Bisweilen grenzen die Bezüge zu Deutschen in den „Toten Seelen“ ans Absurde, so etwa wenn Čičikov , der sich schon als Gutsbesitzer mit Weib und Kindern sieht, ausgerechnet Sobakevič ein „Sendschreiben in Versen von Werther an Charlotte“ vorliest (VI, 152) oder wenn alle Zuhörer des Postmeisters, der die Geschichte Kopejkins erzählt, ihn nicht nur, wie üblich, mit Vor- und Vatersnamen anreden, sondern noch ein „Schprechen Sie deitsch“ hinzufügen (VI, 156) oder wenn sich in den nur um ihrer Komik willen eingefügten Namenslisten solche Einsprengsel finden wie Adelgejda Gavrilovna, Roza Fëdorovna, Emilija Fëdorovna, ganz zu schweigen von einer Maklatura Aleksandrovna (VI, 170) oder jenem Makdonald Karlovič, von dem, nach Gogol’s eigenen Worten, „nie jemand gehört hatte“ (VI, 190). Hier ist die gleiche überschäumende Phantasie des Humoristen am Werk, die früher schon neben russischen und besonders ukrainischen Namen komischster Wirkung auch ähnliche deutsche erfunden hatte wie den Sekundmajor Sichfrid Ivanovič Fuchtel-Knabe (VI, 107) oder den Falschspieler Krugel (V, 76), der die Vermutung, er sei Deutscher, allerdings empört zurückweist, wogegen im gleichen Stück („Der Spieler“) ein Kartenspiel nicht nur mit Vor- und Vatersnamen – Adelaida Ivanovna – tituliert, sondern auch noch als nemka, das heißt als Deutsche, bezeichnet wird (V, 76). Alle diese Namenspiele und Anspielungen, wozu auch die angedeutete deutsche Abstammung der Frau des Schneiders Petrovič und erst recht die von Karolina Pavlovna, der Geliebten der „hochgestellten Person“ im „Mantel“ gehört, bezeugen einerseits die Ubiquität der Deutschen in allen Schichten zumindest der Petersburger Gesellschaft, andererseits aber auch Gogol’s Kenntnis des Deutschen, ohne die er solche Effekte nicht hätte erzielen können. Umgekehrt kann er auch auf einen ungewöhnlichen russischen Namen – Neveleščagin – mit der absurden Frage reagieren lassen: „Sind Sie Deutscher?“ (V, 119) und darf sich des Lacherfolges sicher sein. Wie zentral und tragisch Gogol’s Verhältnis zum deutschen Geist auch immer gewesen sein mag, man sollte darüber nicht den Humoristen vergessen, der Gogol’ ja auch war und zumindest bis Anfang der 1840er Jahre wohl auch sein wollte. Wegen des fragmentarischen Zustandes der Reste des Zweiten Teils der „Toten Seelen“ ist es nicht immer einfach, die Entstehungszeit der erhaltenen Entwürfe zu bestimmen. So lässt sich auch nicht mit Sicherheit sagen, ob die auch dort vorkommenden Erwähnungen von Deutschen relativ früh oder erst später entstanden sind. Im Ganzen lässt sich aber eine deutlich antiwestlerische

Gogol’s Deutsche.

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Tendenz ausmachen, die sich besonders in der Gestalt des obristen Koškarev manifestiert, eben jenes Gutsbesitzers, der „seinen Bauern deutsche Hosen anzieht“ (VII, 63). Dieser Koškarev erklärt Čičikov, wie schwer es sei, dem Bauern verständlich zu machen, dass es höhere Motive gibt, die dem Menschen durch aufgeklärten Luxus, Kunst und Künstlertum nahegebracht würden; dass er die Bauernweiber bisher noch nicht dazu habe bringen können, Korsetts zu tragen, während in Deutschland, wo er im Jahre 14 mit seinem Regiment gestanden habe, die Tochter eines Müllers sogar Klavier spielen konnte. (VII, 63)

Die Gegenposition vertritt Vasilij Platonov, nach dessen Meinung der Russe alle seine guten Eigenschaften einbüße, sobald er statt russischer Volkstracht einen „deutschen Rock“ anzöge. Dann werde er plötzlich ungelenk, träge und faul, wechsle sein Hemd nicht mehr, höre überhaupt auf, in die Sauna zu gehen, schliefe in diesem Rock, und unter diesem deutschen Rock machten sich Wanzen breit und eine außerordentliche Masse von Flöhen ...

und in beiden erhaltenen Versionen dieser Stelle schließt Gogol’: „ Und damit mag er ja vielleicht auch recht haben“ (VII, 92 und 224), denn er erhoffte sich das Heil zwar nicht von „Vollbart und Kaftan“ (XIII, 107), was er Konstantin Aksakov und anderen Slavophilen spöttisch unterstellte, lehnte aber westliche Kleidung für russische Bauern als ebenso unsinnig ab wie westliche Bildung, wie er in den „Ausgewählten Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden“ mit aller wünschenswerten Deutlichkeit darlegt (VIII, 325). In den Jahren, in denen dieses Buch entsteht (1842–1846), hält sich Gogol’ wieder abwechselnd in Italien und in Deutschland auf. Längere Besuche gelten den Freunden Žukovskij, zunächst in Düsseldorf, später in Frankfurt, und Jazykov in Hanau. Außerdem reist er von einer medizinischen Kapazität zur anderen, um Heilung seiner rätselhaften Krankheit(en) zu finden. Er sucht Kopp und Schönlein in Berlin, Carus in Dresden, Flechsel in Karlsbad auf und genießt zweimal die Kaltwasserkuren des Dr. Prießnitz im mährischen Gräfenberg bei Freiwaldau, deren abrejbungi i umšlagi ihm schließlich aber auch nicht helfen, so dass er zu Meeresbädern (in ostende) übergeht. Sein innerer Zustand in dieser Zeit wie auch sein Verhältnis zu allem Deutschen mag in einigen Kostproben aus den Briefen angedeutet werden. An die Balabina, die er in Peterburg kränkelnd angetroffen hatte, schreibt er: Es ist Zeit, dass Sie gesund werden, und ich möchte Sie nicht mit Jean-Paul Richter antreffen, sondern mit Shakespeare und Puškin, die man nur in gesundem Geisteszustande liest, aber dieses Lied hören Sie, glaube ich, auch ohne mich oft genug. Ich möchte Ihnen eine Frage stellen. Haben Sie jemals den Wunsch, den unwiderstehlich starken Wunsch verspürt, das Evangelium zu lesen? Ich meine nicht den Wunsch, der einer Pflicht ähnlich ist und den zu haben sich ein jeder vornimmt, nein, einen Drang des Herzens ... aber ich lasse meine Rede unvollendet. Es gibt Gefühle, über die man nicht sprechen soll und über die etwas zu sagen schon bedeutet, sie zu profanieren. (XII, 37–17.2.1842)

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Žukovskij schreibt er im Juni desselben Jahres: Was ist aber, wenn ich müde und erschöpft in Düsseldorf ankomme und Sie nicht vorfinde und mich statt Ihrer wieder an den schönen Landschaften des Rheins, die ich auf den Tod nicht ausstehen kann, an der Stadt Frankfurt und dem übrigen Zeug ergötzen muss? (XII, 68)

Ein Jahr später schreibt er an den alten Schulkameraden Danilevskij: [...] seit langem lebe ich gänzlich ein inneres Leben. [...] Bin ich denn schuld daran, dass ich jetzt wirklich keinerlei Eindrücke mehr habe und dass es mir völlig gleich ist, ob ich in Italien bin oder in einer lumpigen deutschen Kleinstadt oder meinetwegen in Lappland? (XII, 197)

Und so sollte man meinen, dass ihn auch das ihn umgebende Deutschland nicht mehr interessiert. Aber so ist es nicht. Er findet sogar eine deutsche Stadt ganz annehmbar, nämlich Mannheim: Mannheim gefiel mir selbst früher (als ich das erstemal durchkam) nicht mit der Regelmäßigkeit und Sauberkeit seiner Straßen, aber jetzt sehe ich, dass dies für ein vorteilhaftes Leben unumgänglich ist. Zudem ist die Lage des ortes ringsum frei und eben, man hat viel Horizont, und der Rhein ist hier prächtig. In Bingen ist er eingeklemmt. Bingens Lage ist effektvoll für den Durchreisenden, aber wer dort wohnt, wird sich langweilen. In Mannheim habe ich vom Park her zwei Punkte mit Aussicht auf die entfernten Berge gefunden, wie es sie in Frankfurt nicht gibt. (XII, 328 – Sommer 1844, Gogol’ erkundet Quartiermöglichkeiten für die Balabins.)

Er denkt auch weiterhin über den Wert der deutschen Philosophie nach: Konstantin Sergeevič [Aksakov] bemerkt nicht, dass man in dem Lebensabschnitt, in dem er sich befindet, sich überhaupt nicht um die logische Folgerichtigkeit jeder Art von Entwicklungen kümmern sollte. Dazu muss man entweder überhaupt schon ein alter Mann sein oder überhaupt schon ein Deutscher, in dessen Adern Kartoffelblut fließt und nicht jenes heiße und lebendige wie bei einem Russen. (XII, 398)

und er lobt Ševyrëvs Vorlesungsstil (im Januar 1845): Alles ist jetzt, wie es sein soll, nicht zu lang und nicht zu kurz, in strenger logischer Abfolge und ordnung und zugleich in lebendigem Wort, das dem leichenhaft trockenen Pathos der deutschen Logik so unähnlich ist. Zum erstenmal wird Wissenschaft in solcher Art gelehrt, wie sie in Russland und für Russen gelehrt werden sollte. (XII, 482)

Wie man sieht, dient das Deutsche immer wieder als Folie, vor deren Anders artigkeit sich das Russische abheben soll. Dabei zeigt sich eine eigentümliche Inkonsequenz in Gogol’s Denkweise und Argumentation, was vermutlich mit seiner religiösen Überzeugung von der Wandelbarkeit des Menschen (durch Erweckung oder Erlösung) zusammenhängt. Einesteils findet dieser Gedanke keinen Eingang in seine Vorstellungen vom sozialen Zusammenleben, wo ihm die Rolle des Leibeigenen wie des Gutsbesitzers als gottgegeben und unveränderlich erscheint; anderenteils lässt er die Möglichkeit inneren Wandels offenbar nur für den Russen zu:

Gogol’s Deutsche.

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In der russischen Natur ist wenigstens das eine gut, dass, wenn z. B. ein Deutscher ein Waschweib (čelovek-baba) ist, er es auf ewig und allezeit bleibt. Der Russe aber kann sich manchmal plötzlich in ein Nicht-Waschweib (čeloveka-nebabu) verwandeln. Er tritt aus dem Waschweibertum (babstvo) dann heraus, wenn er feierlich vor allen Leuten sagt, dass er weiter nichts ist als ein Waschweib, und nur dadurch tritt er ein in die Ritterschaft, wirft vor allen Leuten seinen Weiberrock ab und zieht sich Hosen an. (XII, 303 – an S. T. Aksakov, Mai 1844)

oder: Ja, dem Russen braucht man nur einmal ordentlich Vorhaltungen zu machen, indem man ihn ein Waschweib und einen Hamster nennt, [...] zu sagen, der Deutsche sage, der Russe tauge zu gar nichts – und im Nu wird aus ihm ein anderer Mensch. (XII, 445 – an Jazykov, Januar 1845)

Interessant ist nun Gogol’s Reaktion auf die erste Übersetzung der „Toten Seelen“, die schon 1845 erschien – auf Deutsch! Die Nachricht von der Übersetzung der T. S. ins Deutsche war mir unangenehm. Abgesehen davon, dass ich überhaupt nicht möchte, dass die Europäer irgend etwas über mich vor der Zeit erfahren, steht es diesem Werk nicht an, in einer Übersetzung zu erscheinen, und zwar keinesfalls, bevor es abgeschlossen ist, und ich möchte nicht, dass die Ausländer in den gleichen dummen Fehler verfielen, in den ein großer Teil meiner Landsleute verfallen ist, als sie die „T. S.“ für ein Porträt Russlands hielten. Wenn Dir diese Übersetzung in die Hände fällt, schreib mir wie sie ist und was da auf Deutsch herauskommt. Ich glaube einfach weder dies noch das. Solltest Du desgleichen irgendeine Rezension in deutschen Journalen lesen oder einfach eine Stimme über mich, schreib mir das auch. Ich habe schon einiges auf Französisch gelesen über die Erzählungen in der „Revue des Deux Mondes“ und im „Journal des Débats“. Das will nichts besagen. Es wird in der Lethe versinken zusammen mit den Zeitungsanzeigen über Pillen und eine neue Pomade zum Haarfärben, und niemand wird mehr davon sprechen. Aber in Deutschland sind die Urteile, die über Literatur verbreitet werden, langlebiger, und deshalb möchte ich alles verfolgen, was dort über mich gesagt wird. (XIII, 30 – Januar 1846, an Jazykov)

Jazykov erfüllt Gogol’s Bitte, und dieser schreibt im Mai 1846: Ich danke für die Abschrift des Vorworts zur deutschen Übersetzung der „T. S.“. Dieser Deutsche urteilt ziemlich gesund. Das ist die beste Ansicht, die ein Ausländer von diesen Dingen haben kann. Bei alledem ist es äußerst unangenehm, dass die „T. S.“ übersetzt sind. Übrigens, was geschehen ist, ist nicht ohne Gottes Willen geschehen. Möge Gott mir nur die Kräfte geben, den zweiten Band fertig zu stellen und herauszubringen. Dann werden die dort erfahren, dass es bei uns vieles gibt, wovon sie nichts ahnten und was wir selbst nicht wissen wollen, wenn es Gott nur gefallen wird, mir inmitten aller Gebrechen und Krankheiten die Kräfte zu geben, meine Sache ehrlich und heilig auszuführen. (XIII, 61)

Nicht die Übersetzung ins Deutsche ist es also, die ihn ärgert, sondern, dass sie „vor der Zeit“ erfolgt ist, bevor das auf drei Teile angelegte Werk abgeschlossen ist. Die Befürchtung, man werde den Ersten Teil als Porträt Russlands verstehen, ist mehr als berechtigt, wie schon das Urteil vieler Zeitgenossen und

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Landsleute Gogol’s zeigt (und die Mehrzahl der Interpretationen bis heute). Und auch der erste deutsche Übersetzer Philipp Loebenstein hatte den Untertitel gewählt: „Ein satyrisch-komisches Zeitgemälde“. Gogol’ hat ihm jedoch ein „ziemlich gesundes Urteil“ zugebilligt. Von ähnlicher Versöhnlichkeit spricht eine briefliche Anweisung an Pletnëv, der die Herausgabe eines Briefbandes in Petersburg betreute: In dem Artikel „Der russische Gutsbesitzer“ muss der Ausdruck getilgt werden: „Schimpfe ihn (den Bauern) einen Deutschen, wenn kein anderes Wort zur Hand ist.“ Das wird man wohl gar in dem Sinne nehmen, ich hätte eine persönliche Abneigung gegen die Deutschen, und das möchte ich nicht, weil ich sie tatsächlich nicht habe. Meiner Meinung nach gibt es unter uns bei weitem mehr Russen von solcher Art, dass sie Deutsche genannt werden müssten und die sich bei weitem schlechter aufgeführt haben als die Deutschen. (XIII, 123)

Es bleibt unklar, wen genau er damit im Sinne hatte, vermutlich diejenigen, die er an anderer Stelle die „Belinskijs, Kraevskijs und Senkovskijs“ (XIII, 209)37 nennt, bzw. „Leute der sogenannten europäischen Ansicht, die vom Geiste aller möglichen Umgestaltungen besessen“ seien (XIII, 222), das heißt, nach neuerer Terminologie, Westler. Bezeichnend bleibt, dass auch der späte Gogol’ noch das Wort „Deutscher“ zunächst unbedacht als Schimpfwort ansieht, ganz im Stil der Folklore. Dass er dann an jener Stelle stattdessen den Bauern eine „ungewaschene Schweineschnauze“ schimpfen lässt, macht die Sache nicht besser und ist ihm ja auch von Belinskij mit verständlicher Empörung vorgeworfen worden (VIII, 502). Die Zurücknahme des Schimpfwortes „Deutscher“ datiert vom November 1846 und ist die letzte Äußerung Gogol’s zu „den Deutschen“. Im folgenden Jahr hält sich Gogol’ nur auf der Durchreise nach ostende noch kurz in Bad Ems und in Frankfurt auf. Danach kommt er nicht mehr nach Deutschland, sondern reist von Neapel aus Anfang 1848 ins Heilige Land und von dort zurück nach Russland, das er bis zu seinem Tode (1852) nicht mehr verlässt. Sein Bild des Deutschen ist geprägt von dem völkerpsychologischen Klischee der Folklore, dessen negative Grundzüge vertieft werden durch Erfahrungen im deutschen Handwerker- und Kleinbürgermilieu zunächst Petersburgs, dann bei Reisen und Aufenthalten im vormärzlichen Deutschland. Hinter dem negativen Bild, das er in seinen Werken, vor allem im „Nevskij Prospekt“ entwirft, steht darüber hinaus eine tiefe Enttäuschung der überschwänglichen Liebe des Jünglings zum Deutschland der Dichter und Denker, dessen Verkörperung Schiller ist – und bleibt.

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Alle Genannten sind Journalisten: V. G. Belinskij (1811–1848) Literaturkritiker, A. A. Kraevskij (1810–1889) Herausgeber der „otečestvennye zapiski“ (Vaterländische Notizen), o. I. Senkovskij (1800–1858) Herausgeber der auflagenstarken „Biblioteka dlja čtenija“ (Lesebibliothek).

Was bedeutet „иным ключом“ im Proömium des 7. Kapitels der „toten Seelen“? (Nicht nur ein Übersetzungsproblem) 1. Wenn man die immerhin 16 verschiedenen zwischen 1846 und 1984 gedruckten deutschen Übersetzungen der „toten Seelen“1 befragt, so scheint es für die Übersetzer das in der Überschrift angesprochene Problem nicht gegeben zu haben. Zwar tun sie sich schwer genug mit der Wiedergabe des gemeinten Satzes2, aber ключ heißt für alle hier Quelle, und niemand scheint bemerkt zu haben, dass ein guter teil der Ausdrucksschwierigkeiten von eben dieser – falschen – Annahme herrührte. Um welchen Satz handelt es sich? Nun um den, der unmittelbar auf den wohl berühmtesten und meistzitierten des ganzen Poems folgt. Jedermann kennt den видный миру смех и незримые, неведомые ему слёзы! И далеко ещё то время, когда иным ключом грозная вьюга вдохновенья подымется из облечённой в свя1

2

Zusammen mindestens 64 Ausgaben, Vgl. meine Bibliographie in „Nikolai W. Gogol“, Reinbek, 1985. Allein an diesem Satz ließe sich demonstrieren, wie wenig Verlass auf Prosa-Übersetzungen ist (im Grunde keineswegs mehr als auf Vers-Übersetzungen), und dass eine ernstzunehmende Interpretation sich nicht auf eine Übersetzung stützen darf, was bei russischen Originalen noch lange nicht selbstverständlich zu sein scheint. – Hier ein paar Proben unseres Satzes: Philipp LöBeNSteIN, 1846: Fern ist noch die Zeit, wenn die Quelle der Begeisterung eine andere Richtung nimmt, und beladen mit heiligem Schrecken sich mit dem donnernden Getöse erhabener Reden ergießt. Alexander eLIASBeRG, 1921: Und ferne ist noch die Zeit, wo der mächtige Sturm der Begeisterung sich dem vom heiligen Schauer erschütterten und glanzgekrönten Haupte als ein anderer Quell entringen und die Welt verlegen und bebend den majestätischen Donner anderer Reden vernehmen wird. Franz Xaver ScHAFFGOtScH, 1921: Und weit ist noch die Zeit, da aus lauterer Quelle der gesegnete Strahl emporschießt, dem in heiligen Schauern erschütterten Haupt der Sturm der Begeisterung sich entringt und alle zitternd und zagend den majestätischen Donner meiner Rede vernehmen. Fred OttOW, 1949: Und fern ist nicht die Zeit, da sich mir, von heiligen Schauern der Inspiration umwittert, neue Quellen erschließen und aus meinem Munde Worte einer anderen Sphäre kommen werden, die man in bebender erschütterung vernehmen wird. Michael PFeIFFeR, 1976: Und fern ist noch die Zeit, da ein anderer Quell, ein entsetzen erregender Sturm der eingebung dem von heiligem Schrecken und Glanz umgebenen Haupt entspringen wird, da die Menschen bestürzt und mit innerem Beben dem majestätischen Donner anderer Worte lauschen werden. Mein Vorschlag, 1984: Und ferne noch ist die Zeit, da sich in einer anderen tonart der dräuende Sturmwind der Inspiration erhebt aus dem in heiliges Grauen und Glanz gehüllten Haupte und man mit erschrockenem Zittern vernimmt den hoheitsvollen Donner anderer Worte.

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тый ужас и в блистанье главы и почуют в смущенном трепете величавый гром других речей …3 (VI, 134f)

Wie immer man diesen Satz unter ästhetisch-geschmacklichen Gesichtspunkten beurteilen mag, es handelt sich zweifellos um eine Ankündigung, die Gogol’ für bedeutsam hielt – schon der Aufwand an großen Worten und feierlichen Kirchenslavismen weist darauf hin. Und so lohnt es vielleicht doch, sich um ein genaues Verständnis zu bemühen, zumal es sich um das erste Beispiel von Gogol’s Selbststilisierung zum Propheten handelt, das in seinen Werken (nicht in den Briefen)4 zu finden ist. Gerade in einer so wesentlichen Aussage wird man – bei allen eigenheiten der pathetischen Stilisierung – doch nicht annehmen dürfen, dass der „dräuende Sturm der Inspiration sich erhebt aus dem in heiliges Grauen und Glanz gehüllten Haupte“ – wie oder als eine andere Quelle (übrigens: anders als welche Quelle?) Da eine komische Wirkung hier nicht beabsichtigt sein kann, scheidet bewusste Absurdität aus. Was aber heißt dann „иным ключом“ oder da иной nicht zweifelhaft sein kann, was heißt dann ключ?

2. Das russische Wort ключ ist ein Musterbeispiel für die in allen Sprachen verbreitete erscheinung der Polysemie. Zwar lassen sich alle seine heute gängigen Bedeutungen mit einiger Anstrengung auf die auch in vielen verbalen Ableitungen belegte Grundbedeutung zurückführen: „Gerät oder Ort, das oder der auf-, zuschließt oder umschaltet“, aber die daraus entwickelten einzelbedeutungen liegen doch im heutigen – und auch in dem für Gogol’ zeitgenössischen – Verständnis der Russischsprechenden ziemlich weit auseinander. Die Wörterbücher unterscheiden bis zu vier Bedeutungen: 1. Schlüssel, 2. Flugformation der Kraniche, 3. Schlussstein im Gewölbe (der das Gewölbe abschließt), 4. Quelle (in der sich der sonst unsichtbare Wasserreichtum der erde erschließt). Während die 2. und 3. Bedeutung bereits hochspezialisierte metaphorische Verwendungen des Wortes ключ darstellen, werden die beiden anderen vom Muttersprachler als selbständige, eher zufällig gleichlautende Homonyme empfunden, die völlig verschiedene konkrete Dinge bezeichnen. Von beiden sind wieder metaphorische Ableitungen möglich. Zur Bedeutung Quelle gehört die Ableitung бить ключом im Sinne von sprudeln, in steter aktiver Bewegung sein (vgl. жизнь бьёт ключом). – Von der Bedeutung Schlüssel gibt es eine sehr große Zahl metaphorischer Verwendungen, darunter alle, die auch im Deutschen vorkommen – vom Schraubenschlüssel und ähnlichen Schließ- oder 3

4

Stellenangaben mit Band- und Seitenzahl nach der 14-bändigen Akademie-Ausgabe 1949–1952. Hervorhebung von mir (R.-D. K.). In Briefen gibt es eine frühe Andeutung in dieser Richtung schon 1836 (XI, 41), gehäuft treten derartige Äußerungen allerdings erst im Sommer und Herbst 1841 auf (vgl. XI, 325, 328, 342, 343, 347, 349), also in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft mit unserem text.

„иным ключом“

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Schaltgeräten bis zum code, dem Mittel zur Ver- und entschlüsselung, vom Lehrbuch-Schlüssel, in dem die Lösungen von Aufgaben mitgeteilt werden, bis zum Funkverkehr mittels Morsealphabet und taste (работать ключом) und zur militärischen Schlüsselstellung (ключевая позиция oder auch einfach nur ключ z. B. к местности), sowie zu den ebenfalls als codierungssignalen fungierenden Notenschlüsseln in der Musik (дискантный, скрипичный, альтовый, басовый ключ). Gerade im musikalischen, wie im militärischen und funktechnischen Bereich geht die metaphorische Verwendung von ключ noch über das im Deutschen Übliche hinaus. So kann das Wort z. B. auch das Orgelregister bezeichnen (vgl. Pawlowskys Deutsch-Russisches Wörterbuch, 4. Auflg., Riga, 1911, s. v. Register); so kann der Notenschlüssel zur Metapher für die tonart werden, und der Ausdruck это написано в …ом ключе (das ist in …er tonart geschrieben) kann, gleichsam als Metapher dritten Grades, von der Musik wieder auf Sprache und Stil übertragen werden, wie im Deutschen auch. Und genau diese letztgenannte Bedeutung, das ist meine these, liegt in der fraglichen Stelle vor. Abgesehen davon, dass nach heutigem Sprachgebrauch eher в ином ключе zu erwarten wäre (aber wie gefestigt war dieser Gebrauch um 1840 und wie sicher war Gogol’ in solchen Fällen im Russischen?)5, könnte die vorgeschlagene Interpretation des Ausdrucks „иным ключом“ in unserem textzusammenhang wohl leicht akzeptiert werden, sehr viel leichter jedenfalls als jeder Versuch, die Bedeutung Quelle glaubhaft zu machen. Die Frage ist nur, ob eine Bedeutung Tonart in die Vorstellungs- und Ausdruckswelt Gogol’s passt, ob derartiges im unmittelbaren textzusammenhang des 7. Kapitels der „toten Seelen“ oder des Proömiums dazu und, in größerem Rahmen, in seinem Gesamtwerk angenommen werden darf. Mit anderen Worten: konnte Gogol’ hier eine musikalische Metapher wählen, und wenn ja, gibt es dazu im übrigen Werk Parallelen?

3. Um mit dem Gesamtwerk zu beginnen, sei daran erinnert, welche hervorragende Rolle der junge Gogol’ – im Gefolge von Wackenroder-tieck und e. t. A. Hofmann – der Musik unter (oder vielmehr über) den anderen schönen Künsten einräumte. In dem durchgehend in hymnisch-ekstatischem Stil gehaltenen essay „Скульптура, живопись и музыка“ wird die Musik als die historisch letzte, zugleich aber höchste der drei Künste gepriesen, sie sei „ganz und gar elan“ 5

Die erst nach der erfindung des Morsealphabets entstandene Formel работать ключом lässt die grundsätzliche Möglichkeit des Instrumentals erkennen. eine gewisse Bestätigung meiner Auffassung sehe ich darin, dass Ju. Mann in seinem neuesten Gogol’-Buch „В поисках живой души“ (M. 1984) in Paraphrasen unserer Stelle zweimal тон (S. 197 u. 214) und einmal интонация (S. 108) verwendet. Übrigens braucht er in anderem Zusammenhang auch в ироническом ключе (S. 236).

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(Она вся – порыв), Gott habe „in unserer jungen und altersschwachen Zeit die machtvolle (могущественную) Musik herabgesandt, um uns im Sturme (стремительно) zu Ihm zu bekehren“ (VIII, 11–13)6 – Stil, Bilder und der Gedanke einer durch Kunst bewirkbaren religiösen Umkehr sind unserem Satz aus den „toten Seelen“ auffallend ähnlich. Und als Gogol’ im 11. und letzten Kapitel des ersten teils sich anschickt, endlich über seinen Helden Čičikov ausführlich zu berichten, flicht er einen prophetischen Ausblick ein: „Jedoch ... es kann sein, dass in dieser erzählung andere, bislang noch nicht angeschlagene Saiten (иные, еще доселе не бранные струны) erklingen.“ (VI, 223) Fünf Jahre später finden wir die Musik wieder in einem vergleichbaren Kontext, nämlich in dem „testament“, das Gogol’ seinen „Ausgewählten Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden“ vorangestellt hat. Was er 1834 der Musik zugetraut hatte, dass sie nämlich „Krämerseelen wachrüttelt, den Räuber Gewissensbisse empfinden lässt“ (VIII, 12) u. a., das hofft er nun selbst, durch seine angekündigte „Abschiedsnovelle“ (Прощальная повесть) bewirken zu können: Vielleicht wird meine Abschiedsnovelle in gewissem Maße auf jene wirken, die das Leben bisher noch für ein Spielzeug halten, und ihr Herz wird wenigstens zum teil das strenge Mysterium des Lebens vernehmen (услышит) und die tiefgeheime himmlische Musik (сокровеннeйшую небесную музыку) dieses Mysteriums. (…) Ich bitte euch, meine Abschiedsnovelle mit dem Herzen anzuhören (выслушать). Ich schwöre es: ich habe sie nicht gemacht und nicht erdacht, sie hat sich selbst aus der Seele hervorgesungen (выпелась сама собою из души). (VIII, 221)

– Auch in diesem text geht es, wie in unserem Satz aus den „toten Seelen“, um die prophetische Ankündigung eines künftigen Werkes, dessen geheimes Wesen durch eine musikalische Metapher angedeutet wird. Der wesentliche Unterschied zwischen den texten von 1834 und 1845 besteht darin, dass es sich in dem früheren text um eine Aussage über die Wirkungsmacht der Musik als eines objektiv gegebenen Phänomens handelt, während in dem späteren text eine vergleichbare Wirkungsmacht nur durch eine musikalische Metapher umschrieben ist, sie aber tatsächlich von der Dichtung ausgehen soll.

4. Der Zeitpunkt, zu dem der Übergang von der „objektiven“ zur metaphorischen Musikdarstellung bei Gogol’ sich vollzieht, ist relativ gut bestimmbar: irgendwann in der ersten Hälfte des Jahres 1841. eine wichtige Rolle hat dabei offenbar die für den orthodoxen christen neue erfahrung westlicher Kirchen-, d. h. Orgelmusik, gespielt. eine Beschreibung des eindrucks dieser Musik hat Gogol’ in die endgültige Fassung des „taras Bul’ba“ eingefügt: 6

Nach Gogol’s eigener Datierung 1831, wahrscheinlich aber im Sommer 1834 geschrieben (vgl. VIII, 751).

„иным ключом“

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Zu dieser Zeit erfüllte plötzlich das majestätische tosen (величественный рёв) der Orgel die ganze Kirche. es verdichtete sich mehr und mehr, wuchs nach allen Seiten, ging in ein schweres Donnergrollen (тяжёлые ропоты грома) über und flog dann plötzlich, verwandelt in himmlische Musik (небесную музыку), hoch oben unter den Gewölbebögen hin mit seinen singenden Klängen, die an feine Mädchenstimmen erinnerten, und dann verwandelte es sich wieder in dichtes tosen und verstummte. Und noch lange schwebte das Donnergegroll (громовые ропоты) zitternd unter den Gewölben dahin, und Andrij verwunderte sich mit halbgeöffnetem Munde über die majestätische Musik (величественной музыке). (II, 97)

Interessant ist die entwicklung der epitheta: 1834 могущественный (2 mal), 1841 taras Bul’ba: величественный (2 mal), 1841 „tote Seelen“: величавый (1 mal), 1841 und 1845: небесный. Noch wichtiger scheint die entwicklung von dem klassizistisch-konventionellen удар смычка (1834) zum tieferlebten рёв und гром der Orgel (1841), aus dem sich die Metapher für den Prophetenton entfaltet (ebenfalls 1841), und schließlich zur Zurücknahme alles donnernd Gewaltigen ins Geheimnis, in die сокровеннейшую небесную музыку (1845), was genau der entwicklung von Gogol’s ästhetischen Anschauungen vom порыв zum примирение с жизнью (XIV, 37–1848) entspricht, aber im Rahmen dieser Skizze nicht ausgeführt werden kann7. Hier bleibt festzuhalten, dass die musikalische Metapher in unserem Satz sich nicht nur in eine entwicklungsreihe des Gesamtwerkes einfügt, sondern sogar einen entscheidenden Wendepunkt in dieser Reihe bezeichnet, parallel zu den neuen „tönen“, die sich nach der Wiener Krise von 1840 zunehmend bemerkbar machen.

5. es bleibt die Frage nach dem spezielleren Kontext der „toten Seelen“. An sich ist ja die Verwendung musikalischer Metaphern für Sprache, besonders dichterische Sprache, uralt. Neubelebt wurde dieser Brauch durch die hohe Wertschätzung der Musik in der (deutschen) Romantik. Gogol’ hat dies mit der ebenfalls romantisch erneuerten Gleichsetzung von Dichter und Prophet kombiniert und schließlich auf sich selbst angewendet. In unserem Satz konvergieren die klassische Metapherntradition, die romantische Musikhochschätzung, das Prophetenthema und die psychologisch bedingte neue Selbstwertung mit der religiösen Gestimmtheit des Sommers 1841. Dabei lässt sich das entstehen eines qualitativ Neuen an den glücklicherweise erhaltenden Vorstadien noch deutlich ablesen. Die Konzeption des Proömiums zum 7. Kapitel der „toten Seelen“ beruht zunächst auf der Gegenüberstellung von glücklichem Familienvater und unglücklichem Junggesellen, die als Folie dient für die parallele Konfrontation von 7

Auch das Bild des „glücklichen“ Autors ist mit den traditionellen Metaphern ausgeschmückt: das Räucherwerk (курево), der triumphwagen, der Adlerflug (VI, 133f).

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Gogol

zwei typen von Autoren: dem Schriftsteller, der großartige, positive (traum)Bilder entwirft, und dem die Liebe der Leser zufliegt (Он–Бог. VI, 439 u. 134), und dem anderen, der, wie Gogol’, sich dem ganzen Schlamm wertloser Kleinigkeiten (VI, 440) zuwendet und daher nur Undank und Verkennung erntet. Dieses Schema ist von der ersten erhaltenen Fassung (VI, 440–441) bis zum endgültigen text (VI, 133–134) durchgehalten. Da Gogol’ (der Junggeselle) sich aber mit dem Autor des zweiten typs identifiziert, muss er versuchen, dessen wahre Verdienste herauszustellen. Das hat ihm offenbar erhebliche Schwierigkeiten bereitet. In der ersten Fassung (samt ihren Verbesserungen) ist die persönliche Betroffenheit noch deutlich zu spüren: Gogol’ spricht sich selbst in der ersten (а разве мне всегда весело … VI, 440) oder doch in der zweiten Person an (участия не будет к тебе от современников … VI, 440). Seine ganze Hoffnung ist darauf gerichtet, dass trotz allem in dieser Menge, die lärmt und sich alltäglich aufregt, ein Dichter begegnen könnte, ein Allseher und selbstherrlicher Besitzer der Welt, der als unbemerkter Pilger über die erde dahinschreitet, dessen von einer träne benetztes Adlerauge und dessen von deiner (Buch-)Seite erweckte unerwartete Gefühle vielleicht widerhallen werden … Und schon allein beim Gedanken daran umfangen dich Zittern und heilige Kälte, … es schäumt und entschwindet der betäubende Strudel der Gleichzeitigkeit und, o Gott, wie blass werden die alltäglichen tänze. (VI, 441)

Die Vision des künftigen, verstehenden Dichters ist vielleicht eine Reminiszenz an Puškins Schlussstrophe des 2. Kapitels des „evgenij Onegin“, vielleicht auch, außerdem, Gemeingut der Zeit, worin sich noch immer die klassizistische erwartung des großen Deuters spiegelt, der im epos die verbindliche Darstellung der Zeitereignisse gibt, vielleicht auch noch eine Parallele zu den erwartungen der Kosaken bezüglich ihres Nachruhmes (vgl. taras Bul’ba, II, 131f und öfter). Schließlich hat ja sogar Nekrasov noch 1855 geschrieben: „Vielleicht wird einmal ein Schriftsteller kommen, der Gogol’ deuten kann“8. Gogol’ selbst distanziert sich aber schon in der ersten Korrektur des zitierten entwurfs etwas von dieser Konzeption und verbessert: Zwei, drei könnten sich finden in dem lärmenden tümpel der Welt (Reminiszenz an Puškins Schlussstrophe des 6. Kapitels des „evgenij Onegin“), hoheitsvolle Greise im Jünglingsalter, deren hingewandtes Adlerauge und aufgewecktes9 Gefühl dein Herz mit Zittern und heiligem Beben erfüllen werden. (VI, 441)

In der nächsten Fassung ist das alles etwas unpersönlicher – in der dritten Person – ausgedrückt (VI, 774f). Gleichzeitig finden sich auf die endgültige Formulierung vorausdeutende Ausdrücke: сурово его поприще и горько … когда грозная вьюга вдохновения подымется из обымущей/окинутой блеском … (VI, 775) 8 9

Vgl. dazu die erwähnte Monographie „Nikolai W. Gogol“, Reinbek, 1985, S. 138. Für „aufgeweckt“ steht im Original встрепенувшееся, was wiederum an Puškin erinnert, ebenso wie das Adlerauge, vgl. die Gedichte „Когда не требует поэта“ und „Пророк“.

„иным ключом“

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vermutlich: главы. Der text bricht hier ab, aber er enthält bereits die späteren Bilder der ergriffenheit, die zunächst durch die Hoffnung, verstanden zu werden, ausgelöst wird. Die Formulierung vom „dräuenden Sturmwind der Inspiration“ ist nicht zu ende geführt, so dass nicht erkennbar wird, ob sie sich auf den schöpferischen Prozess überhaupt oder auf zukünftiges Schaffen bezieht. erst in der endgültigen Fassung ist dann sowohl die abschließende Formel für das begonnene und noch weiterzuführende Poem gefunden, und zwar ganz persönlich, in der ersten Person: Und noch lange ist mir von einer wundersamen Macht bestimmt, Hand in Hand mit meinen sonderbaren Helden zu gehen, das ganze gewaltig-dahinrasende Leben zu betrachten, es zu betrachten durch das für die Welt sichtbare Lachen und die ihr unsichtbaren, unbekannten tränen!

Darauf folgt dann unser Satz, ins Unpersönliche zurückgenommen, aber gleichzeitig mächtig überhöht durch den Prophetenton, in dem er gehalten ist und den er zugleich als die andere Tonart künftiger Worte ankündigt, die erst nach langer Zeit zu erwarten seien, offenbar nach dem Abschluss der „toten Seelen“. Dass auch auf diese Ankündigung, ebenso wie später auf die der „Abschiedsnovelle“, keine Realisierung folgte, steht auf einem anderen Blatt.

Namensverzeichnis Abgar V. von Osroëne 118 Abraham 292f Abu Nuwās 292 Acacius Sinaiticus 318 Adelung, J. Chr. 362, 371 Aderkas, B. A. von 167 Adler, Alfred 331, 343 Aksakov, K. S. 76, 175, 329, 341, 360f, 365, 371, 402, 405f Aksakov, S. T. 328, 337, 349, 366, 401, 407 Aleksandra Fedorovna 81, 91, 277 Aleksandra Pavlovna 145 Alekseev, M. P. 111, 120, 122-124, 129, 142-147, 155, 288 Alekseev, P. 119-121, 155, 218 Alexander I. 15, 27f, 36, 41, 82, 84, 91, 97100, 103, 109, 114, 126, 142, 161-165, 167, 174, 213, 228, 247f, 250, 289, 324, 337f Alexander II. 82, 325, 381 Alfieri, Vittorio 223f, 226 Alkaios 19, 33, 279 Alkibiades 312 Allem, Maurice 51 Alpatov, M. V. 293 Amberg, Lorenzo 359 Amyot, Jacques 287 Anakreon 61f, 266, 268, 272 Ananias 329, 332, 342, 344 Annenkov, P. V. 198, 215, 248, 287, 317, 365 Antiochus 112 Antisthenes 198 Antonius (d. Gr.) 351 Antonskij 127 Arapov, P. N. 78-80, 98, 104f, 108 Archangel’skij, A. S. 82, 125 Arendt, N. F. 389f Arinštejn, L. M. 268, 273 Ariosto, Lodovico 91, 186, 206, 256 Aristides 290 Ariston 290 Aristophanes 312f, 370, 388 Aristoteles 359 Artjomov, Nikolaj 351 Athenaios 268 Ax, Wilhelm 290 Azadovskij, M. K. 311 Bachtin, N. I. 73f

Balabina (Mutter) 397, 406 Balabina, M. P. 399f, 402, 405 Balzac, Honoré 245 Baratynskij, E. A. 42, 80f, 144, 155, 284 Barclay de Tolly 138, 270 Bartenev, P. I. 34, 215, 291 Batjuškov, K. N. 15, 35, 51, 124, 128, 144, 146, 228, 377 Batteux, Charles 359 Baudelaire, Charles 178 Bayley, John 255, 257, 264 Beardsley, A. V. 151 Belinskij, V. G. 120f, 138, 155, 254, 264, 345, 361f, 371, 387, 408 Belousov, N. G. 307, 328, 370, 386f Belsazer 66, 356 Bem, A. 177 Benckendorff, A. Chr. 101, 234, 389 Berg, N. V. 371 Berkov, P. N. 16 Bernhard, August 204 Bertin, Antoine de 51 Bestužev, A. A. 85-87, 90, 107, 155, 179f, 205f, 226, 275 Bezymenskij, A. I. 152-155 Bezzola, Guido 224, 229 Biedermann, Hermenegild 325, 335 Biržakova, Ė. Ė. 359 Bitaubé, P. J. 287 Blagoj, D. D. 90, 111, 141, 155, 304 Blok, A. A. 187f, 299, 325 Blumenfeld, Alfred 189 Bogatyrev, K. P. 162 Bogdanovič, I. F. 24 Boileau-Déspreaux, N. 36, 62, 204, 265f, 273 Bojko-Blochyn, J. 111, 144, 155 Bonnard 51 Bossuet, J.-B. 266 Botkin, V. P. 120 Bouchez, Madeleine 178f Bourrienne, Fauvelet de 241, 244f Bouterwek 362 Bradke 389 Brang, Peter 359, 429 Bräuer, Herbert 327 Braun, Maximilian 256, 264 Brecht, Bertolt 89 Brentano, Clemens 107

418 Brjusov, V. Ja. 120, 151f, 155 Bronzino, Agnolo 313 Brosses, de 303 Brunst 390 Brutus 288 Budich, W. 111f, 150, 156 Bulgakov, S. V. 118, 121, 156 Bunyan, John 271f Buondelmonti 222 Bürger, G. A. 74, 77, 84, 89, 198, 200 Busch, Ulrich 99, 159, 231f, 234, 255, 264 Busch, Wolfgang 233 Byron, G. G. N. 107, 164, 175, 178, 180, 198, 203, 205-208, 212, 214, 226, 238, 242, 256, 268f, 273, 276f, 360 Čaadaev, P. Ja. 45, 162, 289, 389 Cacciaguida 368 Čajkovskij, P. I. 204f, 253 Calderón de la Barca 186 Carus, C. 405 Cato (d. Ä.) 288 Catull 24, 268 Carl-August v. Weimar 66f Carlyle, Thomas 189 Cazotte, Jacques 363 Cejtlin, A. G. 86 Čerejskij, L. A. 144f, 156, 170, 289 Černych, P. Ja. 14, 29f, 47 Chateaubriand, F. R. 174, 178, 245 Chaulieu, A. 62 Chemnicer, I. J. 122, 155 Chénier, André 33, 107, 134, 138f, 142, 167, 267, 270, 272 Cheraskov, M. 125 Chitrovo, E. M. 15, 288 Chomjakov, A. S. 283f Christiansen, Annemarie 65 Cicero 30, 287 Čistova, L. S. 217 Cjavlovskaja, T. G. 157, 159 Cjavlovskij, M. A. 12, 84, 104, 107, 125, 141f, 156, 167, 171, 177, 200 Clayton, V. 363 Clyman, Toby W. 317 Colbert, J.-B. 164 Coleridge, S. T. 269, 273 Cornwall, Barry 269, 272 Cotta, J. F. 64, 69, 88 Crusius, S. L. 69 Curtius, E. R. 93, 123, 225, 229, 375 Custine, Marquis de 356 Cvetaeva, M. I. 205, 212

Namensverzeichnis Dal’, V. I. 47, 120, 382, 389 Dalitz, Günter 298f Daniel 66, 116 Danilevskij, A. S. 398, 406 Dante Alighieri 189, 222f, 268, 330, 342, 351, 353, 365-370, 381 d´Anthès, George 281, 304 Darlow, T. H. 170 David, J.-L. 241 Davydov, D. V. 141f, 285 Debreczeny, Paul 310 Delille, Jacques 20 Del’vig, A. A. 26, 80f, 104, 124, 132, 135, 145, 234, 256 Deržavin, G. R. 12, 14, 16, 19-26, 28-35, 38, 40, 49, 104, 122f, 130, 137, 139f, 142, 154f, 233, 266, 272f, 345, 356 Demuth-Malinovskij 390 Diderot, Denis 93 Diebitsch 389 Diogenes 198 Dirina, M. N. 120 Dmitriev, I. I. 74, 130, 162, 167, 197, 266 Dorat, C. J. 197 Dostoevskij, F. M. 154, 178, 187, 212, 244, 271, 273, 285, 295f, 298f, 317, 335, 387 Drechsler, F. 338 Driessen, F. 318, 332 Dubelt, M. L. 389 Eckermann, J. P. 242-244, 305 Edgerton, William B. 172f, 227, 229 Edling, R. S. 171, 200 Ehrhard, Маrcellе 181 Eichendorff, Joseph von 107, 203, 209, 215 Ėjchenbaum, B. M. 317, 333 Ejges, L. R. 131, 156 Elagina, A. P. 403 Eliasberg, Alexander 409 Eliot, T. S. 317 Elistratova, A. A. 365 Engelhard, Michael 195, 209, 212, 248, 250, 282f Ephräm d. Syrer 217-219, 324 Epimenides 345 Eristov, D. A. 48 Ėtkind, E. G. 185, 264, 272 Evlachov 11 Falconet, E.-M. 27 Fazil’ Chan 276 Fejnberg, I. L. 111, 122, 139f, 142, 156 Fénelon, F. 363

Namensverzeichnis Ferber, Christoph 195 Fet, A. A. 76, 120, 155 Fichte, J. G. 267, 307, 387 Flechsel 405 Fleming, Paul 224f, 279 Florian, J.-P. 197-201 Fock, M. Ja. von 389 Fontenelle, Bernard de 363 Forteguerri, Nicolò 256 Foscolo, Ugo 221-229 Foucquet, Nicolas 164 Fouquet, Friedrich de la Motte 387 Fraenkel, E. 17, 19, 30, 33 Frank, John G. 176-178 Frank, S. L. 150, 156, 291 Freeborn, R. 319 Fridman, N. F. 99 Friedrich II. (Kaiser) 243 Friedrich Wilhelm III. 97 Fromm, Erich 149, 156 Frumkina, R. M. 129, 155 Führer, Rudolf 221, 229 Fuks, A. A. 144 Gagarin, I. S. 284 Galland, Antoine 292 Gallus 60 Gannibal, A. P. 207 Garstka, Christoph 299 Geier, Svetlana 86 Geiger, Benno 229 Gellert, Ch. F. 363 Genlis, Mme. de 197, 243, 305 George, Stefan 152, 155 Gerhard 386 Gerhardt, Dietrich 91, 337 Geršenzon, M. O. 11f, 36f, 40, 43-45, 87, 97 Gessner, Salomon 363, 387 Gide, André 214 Gippius, V. V. 307, 310, 344 Glebov, G. S. 158f, 166, 176f, 232, 234 Glinka, F. N. 283, 288-290 Gnedič, N. I. 91, 143, 155, 197, 226, 288, 365 Godunov, Boris 211 Goethe, J. W. 56, 63-68, 70, 72, 74-82, 88, 90, 95, 98, 104-109, 120, 156, 169, 173183, 185f, 189, 192, 200, 205-207, 210, 226, 228f, 237-239, 241-245, 250, 253, 265, 267, 278, 283, 284f, 307f, 363, 366, 370, 379, 386f, 389 Goethe, Ottilie von 237 Gogol’, N. V. 42, 142, 187, 203, 282 Gogoľ-Janovskaja, A. N. 403

419 Gogol’-Janovskaja, M. I. 312, 326, 390, 395 Gogoľ-Janovskaja, O. V. 323, 335, 344 Gogoľ-Janovskij, V. A. 328, 390 Gončarov, I. A. 387 Gončarova, N. N. 282 Gorodeckij, B. P. 86-88 Gounod, Charles 253 Graf, H. G. 65, 88 Grammatin, A. F. 75 Gras-Racić, Marion 298f Gray, Thomas 26, 126, 129, 142f Greč, N. I. 122, 338 Grégoire, H. 23, 27f, 39f, 111, 139, 156 Gregor von Nazianz 119 Gresset, J. B. 51f, 60, 186, 205 Griboedov, A. S. 173, 178, 180, 182, 198 Grigor’ev, A. A. 76, 323 Grigor’eva, A. D. 99 Grigorovič-Barskij, V. G. 123 Grimm, Brüder 214, 363, 371 Grimm, Jürgen 163 Gronicka, André von 176 Gros, Antoine Jean 241 Grot, Ja. K. 13, 155 Guisar 197 Gundolf, Friedrich 188 Haas, Friedrich Joseph 389 Hafis 276-278 Hamartolos 112 Hallberg, P. 96 Harder, H. B. 174 Hartz, С. 298 Hatch, E. & Redpath, Η. 112, 155 Hauser, А. 100 Hebel, J. P. 82 Heeckeren, L. van 304 Hegel, G. W. F. 387 Heine, Heinrich 66, 283, 387 Heiseler, Henry von 211 Heithus, Clemens 299 Hempel, G. 370 Herder, J. G. 44, 65, 267, 363, 387 Herzen, Alexander 387 Hesychius (Presbyter) 351 Heyden, (Admiral) 389 Heyse, Paul 222 Hinck, Walter 89 Hiob 201 Hitchcock, Alfred 333 Hoffmann, E. T. A. 214, 307, 387, 391-393, 399f, 411 Holbach, Paul Henri de 304

420 Holm, Korfiz 298-300 Holthusen, Johannes 51, 60 Homer 68, 91, 189, 226, 238, 287, 301, 361, 365 Horaz 12-16, 18-24, 26-31, 33-37, 40, 44, 48f, 58, 62, 70, 103, 108, 123, 128, 132f, 139-142, 147, 204, 212, 231-235, 265f, 268, 272f, 283 Huber, E. I. 239 Hugo, Victor 178, 245 Humboldt, A. von 387 Huntley, D. G. 111f, 114, 153, 156 Iezuitova, R. V. 217 Inzov, I. N. 228 Ion von Chios 268 Irving, Washington 214 Izmajlov, N. V. 49, 86, 88 Izmajlov, V. V. 36, 78 Jakob 180 Jacobitz, K. 218 Jakobson, Roman 27, 41, 111, 122, 156 Jakovleva, A. R. 214 Jakubovič, A. I. 30 Jakuškin, I. D. 287 Jänisch, Karoline von 193 Jaščenko, A. L. 181 Jasinski, René 163f Jazykov, N. M. 29, 46, 119f, 122, 144f, 155, 167, 311, 355, 381, 401, 405, 407 Jean Paul 363, 370f, 387, 405 Jeanne d’Arc 301-304 Jesaja 210 Jesus 115-118, 123, 153, 174, 239, 327, 331, 334, 337, 339f, 342f, 346f, 351, 367 Jochim 390 Joffrin Mme. 304 Johannes Climacus 318 Johannes v. Damaskus 118, 123 Johannet, José 335 Joseph 66 Jur’eva, I. Ju. 251, 291, 294 Juvenal 204 Kačenovskij, М. Т. 283 Kaerrick, Elisabeth 299f Kalašnikova, О. М. 167 Kant, Immanuel 307, 387, 395 Kapnist, V. V. 16, 19-24, 30, 122, 155, 233 Kapodistria, I. A. 228 Karadjordje (Petrović) 214 Karadžić, Vuk 268

Namensverzeichnis Karamzin, N. M. 31, 44, 92f, 96, 99, 124, 127f, 130, 150, 167, 228, 266, 374f, 380 Karl d. Gr. 117 Karl VII. 250 Karl X. (Bourbon) 250 Karlinsky, Simon 174 Kasack, Wolfgang 351, 374 Kataev, P. A. 336 Katenin, P. A. 64f, 72-78, 80f, 87f, 98, 100105, 107, 136, 198, 258 Katharina II. 32 Katz, Michael R. 76f, 181 Kegler, Dietrich 348 Keil, R.-D. 108, 111, 142, 150, 156, 170, 195, 198, 200, 210, 229, 264, 374, 409 Kern, A. P. 174 Kibaľnik, S. A. 289 Kierkegaard, Søren 178 Kießling-Heinze 17, 29 Kind, J. F. 387 Kipling, Rudyard 278 Kirdžali 214 Kireevskij, I. V. 283f Kleopatra 141 Klinger, F. M. 176, 371 Klopstock, F. G. 16, 23, 128, 301 Knjažnin, Ja. В. 162-164, 166, 266 Koniskij, Georgij 48 Konstantin Pavlovič 82 Konstantinovskij, Matvej 337 Kopelev, L. Z. 188, 229, 389 Kopp 405 Korff, H. A. 67 Körner, C. G. 69 Košanskij, N. F. 62 Kostka, Edmund 107 Kotzebue, August 386 Kozlov, I. I. 376 Kraevskij, A. A. 408 Krivcov, N. I. 242, 302 Krivonos, V. Š. 333 Krüdener, Amalie von 284 Krüdener, Juliane von 324 Krylov, I. A. 42, 159, 162, 266 Küchelbecker, W. K. 26, 31, 106, 178, 268, 362 Kufina, L. L. 359 Kutuzov, M. I. 135, 288 Kuz’mina, N. 156 Kuznecov, V. I. 217 La Fontaine, Jean 162-164, 166, 204, 266 Laguire 304

Namensverzeichnis La Harpe, J. F. 266, 363 Lamartine, A. M. L 245, 283 Lamberti, Luigi 227 Lampe, G. W. H. 118, 155 Latrimouille 304 Lazarev, V. N. 293 Lazič, Maria 120 Lebrun, P. D. 15f, 23f Lecke, Bodo 69 Lednicki, W. 12, 14, 23, 27f, 31, 41, 111, 147, 156, 250 Legters, L. H. 365 Legouvé, E. W. 197 Le Maistre de Saci 114, 170, 174, 329, 338 Lemonté, P. E. 42 Lenin, V. I. 152 Lenz, J. M. R. 128 Leopardi, Giacomo 244, 297 Lermontov, M. Ju. 44, 203, 285, 389 Lerner, N. O. 304 Leskien, August 119 Lessing, G. E. 176, 267, 307, 387f Levkovič, Ja. L. 217 Lieven 389 Lilienfeld, Fairy von 325, 335, 337, 347 Lindemann, Κ. 229 Liprandi, I. P. 228 Livius 287 Lobanov, M. E. 45, 308 Loebenstein, Philipp 408, 409 Lohmeier, D. 224f, 229 Lomonosov, M. V. 14, 16-24, 29, 33, 47, 125, 164, 374, 380 Lot 293 Lotman, M. Ju. 264 Ludwig I. von Bayern 401 Luise von Preußen 389 Lukas 118 Lukina, Taťjana 279 Luther, Arthur 175-177 Luther, Martin 329, 340, 342, 345, 347f, 349, 351 Lys du 303f Lys, Jan 313 Lysimachos 290 Macpherson, James 143, 267 Maecenas 11, 36 Maguire, R. 365 Majkov, L. N. 158, 160-162, 164, 166 Makagonenko, G. P. 176, 373 Maksimovič, M. A. 309 Mandeľštam, O. Ė.105f, 108, 174, 201

421 Mann, Heinrich 107 Mann, Jurij 365f, 369, 411 Maria 117-120, 123 Markus (podvižnik) 351 Marmontel 197 Martial 30 Martini, Angela 345, 374, 383 Martos, I. P. 145 Matthison, Friedrich 91f Maturin, C. R. 208 Mavrokordatos, Α. 226 Mazepa, I. S. 219 McFarlin, Harold 319f McLean, H. 365 Mej, L. A. 120 Mejlach, B. S. 14 Merck, J. H. 65 Merežkovskij, D. S. 245, 335 Merimée, Prosper 205, 214, 268 Merzljakov, A. F. 141, 233 Michajlova, N. I. 288 Mickiewicz, Adam 100f, 156, 172, 227, 229 Miller 386 Millevoye, Ch. H. 84, 90, 143, 145f, 155 Milonov, M. V. 143f Miloradovič, M. A. 289 Minin, Kuz’ma 139, 145 Mirsky, D. S. 11 Modzalevskij, B. L. 15, 124, 156, 166, 225 Mohammed 210, 276 Mölleken, Wolfgang 332 Moeller van den Bruck, Arthur 299 Montferrand, Auguste 27 Monti, Vincenzo 226 Moore, Thomas 91f, 226, 276f Moravia, Alberto 178 Moule, M. A. 170 Mozart, W. A. 187, 386 Müller, Johannes von 363, 387 Müller, Ludolf 194 Murav’eva, O. S. 224, 229 Muschg, Walter 63, 66, 71 Myron 311 Nabokov, V. V. 51-53, 55, 57, 62, 167, 179, 181, 186, 255f, 264 Napoléon I. 27f, 81, 97, 104, 135f, 138, 144, 161, 163-165, 212, 214, 239-245, 250, 337, 376, 384 Nazarova, G. I. 156 Nečaev, S. D. 146 Nekrasov, N. A. 151, 414 Neledinskij-Meleckij, Ju. A. 162

422 Nelson, Horatio 135 Nemirovskaja, K. A. 92 Nepomnjaščij, V. S. 111, 121-123, 138, 141f, 144, 148, 156 Nero 178 Nesselrode, K. V. 281 Nesselrode, M. D. 228, 281, 389 Neumann, F. W. 74, 86 Nikitenko, A. V. 307 Nikon 360 Nikolaus I. 27, 81f, 101-103, 159, 234, 245, 247, 277 Nikolev, N. P. 162, 164 Nodier, Charles 208 Novikov, N. I. 127 Ogarev, N. P. 272 Oksman, Ju. G. 308 Oleg 84-99, 210 Olenina, A. A. 223 Olin, V. N. 283 Omar i Hayyām 342 Oppermann, Hans 19 Ossian 44, 51, 127, 129, 143, 186, 205, 363, 376f Osten-Saken, S. K. v. 386 Ostolopov, N. F. 122, 266, 268, 273, 360, 362 Ostranica, Ja (oder St.) 309f, 315 Otrep’ev, D. 211 Ottow, Fred 409 Ouspensky, L. 118, 156 Ovid 30, 128, 133f, 138f, 174, 231f, 270, 289, 311, 313-315 Palmer, Alan 97 Parny, Évariste de 51-62, 186, 198, 205, 294, 377 Pascal, Blaise 266, 338 Pasternak, B. L. 52, 121, 155 Paterson, John D. 114, 156, 174, 324, 338 Paul I. 82, 125, 145 Paulus 112, 128, 174, 323-335, 340-347, 349f, 352f, 371 Pavlovskij, I. Ja. 47, 218, 320, 411 Peace, R. 319 Pellico, Silvio 48, 150 Peter d. Gr. 27, 123, 207, 213, 266, 319 Peter III. 211 Petermann, B. 363 Petrarca, Francesco 36, 60, 221, 225, 229, 312, 370, 388 Petronius 375 Petrunina, N. N. 122, 138f, 156

Namensverzeichnis Peuranen, Erkki 318 Pfeiffer, Michael 409 Philippe II. (v. Orléans) 302 Photius 172 Pichot, Amédée 277 Pigler, A. 311 Pilatus 238f, 242, 296 Pindar 24, 204, 266 Pindemonte, Ippolito 143, 211, 227f, 272 Piron, Alexis 205 Plähn, J. 111f, 119, 153, 156, 351 Platon 312-315, 326, 370, 388 Pletnev, P. A. 85, 87, 146, 282, 336, 408 Plutarch 287-290 Pogodin, M. P. 141, 309, 344, 359, 365f, 381, 395, 397 Polheim, K. K. 363 Polidori, J. W. 208 Potemkin, G. A. 124 Potocki 310 Pottier, Eugène 152 Popov, Μ. I. 75 Pöschl, Viktor 233 Požarskij, D. M. 139, 145 Prießnitz, Vinzenz 405 Prišvin, M. M. 152 Prokopovič, N. J. 344 Prokopovič-Antonskij 127 Properz 30 Pugačev, E. 211, 214 Puškin, A. S. 308, 325, 328, 330, 336, 338, 342, 345, 348, 357, 360, 363, 366, 370, 372-374, 376-381, 387-389, 394f, 405, 414 Puškin, L. S. 87, 114, 163, 167, 266, 290, 379 Puškin, S. L. 301 Puškin, V. L. 125, 130, 233f, 273, 301 Puškina, O. S. 287 Pypin, A. N. 11 Racine, Louis 363 Radiščev, A. N. 14, 30, 32-34, 39, 47, 154f Raevskij, N. N. 181, 208, 289 Raevskij, V. F. 132 Rahsin, E. K. 298-300 Raič, S. E. 181, 200, 283f Ranke, Leopold 387 Rave, P. O. 97 Razin, Stepan 211 Repnin, N. G. 217 Repnina 325, 338f Rezanov, V. I. 127, 156 Richardson, Samuel 363

Namensverzeichnis Riese, Johann Jakob 66 Rilke, R. M. 231 Ritter, M. A. 386 Rjurik 92 Roderich 270f Röhl, Hermann 298f Romanos I. Lekapēnos 118 Roncioni, Isabella 222-224 Rot 386 Rothe, Hans 75, 174, 185, 212, 376 Rousseau, J. B. 204 Rousseau, J. J. 207, 321, 363 Rowe, W. W. 365 Rozanov, V. V. 317 Ruban, V. G. 27, 120, 122-124, 128-130, 156 Rublev, Andrej 293 Rudolf v. Habsburg 68-72 Runge, Ph. O. 189, 214 Ryleev, K. F. 86, 93, 107, 119f, 122, 135, 155, 205f Saadi 100, 181, 183, 263, 275-278 Sainte-Beuve, Ch. A. 201 Saitov, V. I. 234, 273 Sakulin, P. N. 139 Sappho 60, 190 Sarah 292 Ščepkin, M. S. 329, 341 Schad(e), J. B. 307, 370, 386 Schaffgotsch, F. X. 409 Schelling, F. W. J. 80, 120, 150, 210, 238, 242, 284, 339, 369f, 386f, 395 Schiller, Friedrich 66, 68-72, 75, 81-84, 8890, 92f, 95f, 98, 104, 109, 120, 128, 132, 185, 238, 244, 283, 285, 305, 307, 312, 328, 339, 370f, 387f, 391-393, 399f, 403, 408 Schillinger, J. 318 Schlegel, A. W. 267, 387 Schlegel, Fr. 242f, 254, 267, 363f, 366, 387 Schlözer, A. L. 363, 387 Schmithals, Walter 116, 156 Schmitz, Wilhelm 185 Schneider, Carl 351 Schneider, Martin 224, 229 Schnorr v. Carolsfeld 69 Schönlein 405 Schreier, Hildegund 335 Schwarz, D. M. 167 Schwarz, J. G. 127 Scott, Walter 205, 308 Scribe, Eugène 197 Seemann, K. D. 318

423 Seiler, E. E. 218 Senancour, E.-P. de 178 Seneca 178 Senkovskij, O. I. 408 Šeremeteva, N. N. 347 Setchkarev, V. M. 175, 224, 229, 255, 265, 273, 337 Seuffert, Bernhard 65 Ševyrev, S. P. 80, 283f, 337, 365-370, 381, 387, 401, 406 Seydlitz, K. K. 82 Shakespeare, William 34, 106, 140, 169, 178, 186f, 189, 200, 205, 207, 221, 253, 267, 365, 399, 405 Shaw, Thomas 291 Shelley, Percy В. 226 Shepherd, Elizabeth С. 321 Sienkiewicz 250 Sinjavskij, A. D. 86, 307, 315, 374 Sismondi 143, 276 Šiškov, A. S. 130, 266 Škljarevskij 76 Šklovskij, V. B. 255, 264 Smirdin, A. F. 162 Smirnov, A. A. 234 Smirnova, A. O. 331, 343, 398 Smirnov-Sokoľskij, N. P. 104f Sokrates 312f Sölle, Dorothee 148f, 156 Sollogub, V. A. 217, 299 Solov’ev, V. S. 11 Sordello 367 Southey, Robert 91, 226, 270-273, 304 Sperber, Manès 331, 343, 346 Spieß, H. G. 181 Sreznevskij, I. I. 112, 154 Staël, Germaine de 106, 173, 175-179, 227f, 237, 245, 267 Staiger, Emil 66 Stark, W. P. 217f Stein, W. (Walfriede?) 297, 299 Stephanus 116, 332 Sternberg 243 Sterne, Lawrence 91, 197, 255, 277, 319 Stesileos (von Keos) 290 Stilman, L. 365 Stobbs, R. 233 Stojunin, V. A. 161 Štrajch, S. Ja. 287 Strugovščikov, A. N. 76 Sturdza, A. S. 171f Suchanek, Lucian 73-76, 86f, 94 Sumarokov, A. P. 24, 162, 225, 229

424 Šustov, A. 111f, 117, 119f, 122f, 129, 152154, 156 Svin’in, P. P. 283 Tacitus 287 Tasso, Torquato 36, 66, 91, 186f, 204, 256, 378 Tenner, John 290 Tepljakov, V. G. 267 Themistokles 290 Theodotion 113 Theokrit 266, 376 Thiergen, Peter 387 Thomas von Kempen 331, 344 Thorvaldsen, Bertel 97 Tibull 127 Tichonravov, N. S. 346 Tieck, Ludwig 107, 307, 312, 370, 387, 388, 411 Tieghem, Philippe van 127, 156, 203 Tjutčev, F. I. 76, 175, 279-286 Tocqueville, Alexis de 290 Tolstoj, L. N. 285, 317, 323 Tomaševskij, B. V. 15f, 44, 77, 85f, 88-91, 93, 144, 157-159, 161f, 288 Trediakovskij, V. K. 123, 200 Troščinskij, D. P. 390 Troyat, Henri 189, 228f, 387 Tschudi 68, 71 Tumanskij, V. I. 106f, 178, 181, 200 Turgenev, A. I. 169f, 172, 182 Turgenev, I. S. 87, 156, 250, 317, 335f, 363, 387 Turgenev, N. I. 141 Tschižewskij, Dmitrij 317, 343 Tvardovskij, A. T. 153-155 Tynjanov, Ju. N. 87f, 102, 158 Udolph, Ludger 272f, 366 Uhland, Ludwig 82, 84, 90, 387 Unbegaun, Boris 352 Ušakov, D. N. 29 Uvarov, S. S. 81, 217 Uz, J. P. 363 Vaillant, A. 116, 155 Venecianov, A. G. 397 Venevitinov, D. V. 107, 175 Verdi, G. 205 Veresaev, V. V. 166, 171, 248, 326, 335f, 338, 365, 371, 386 Vergil 82, 204, 210, 242, 266, 367, 376 Vigeľ, F. F. 291f

Namensverzeichnis Vigny, A. de 245 Vinogradov, V. V. 92, 102, 352 Vjazemskij, A. A. 124 Vjazemskij, P. A. 35, 91, 100, 106, 122, 124f, 127-130, 155, 171, 206, 242, 256, 275f, 288, 290 Vladimir (Hl.) 72, 75, 100f Vladislavlev, V. 146 Vojnova, L. A. 359 Volkonskaja, Z. A. 337 Volkonskij, S. G. 181 Voltaire 175, 197, 204f, 243, 267, 301-305, 363 Voroncov, M. S. 106, 172f, 227 Voss, J. H. 68, 186, 266, 313, 388 Vsevoložskij, A. V. 141, 289 Wackenroder, W. H. 210, 411 Wagner, Richard 205 Waller, Edmund 60 Weber, C. M. von 386 Wieland, Ch. M. 206, 371 Wielgórska, A. M. 338 Wielgórski, Jozef 325f, 338f Winckelmann, J. J. 307, 312, 366, 370, 388 Woltner, Margarete 99, 159, 198, 231 Woodward, James 318, 365 Wytrzens, G. 317 Xenophanes aus Kolophon 268 Young, Edward 127, 129, 137, 142 Ypsilanti (Brüder) 206, 214 Zagoskin, M. N. 122 Zažurilo, V. K. 121, 156 Zelinski, Bodo 317f Zel’dner, E. I. 386 Zelter, C. F. 238, 308 Zett, R. 219 Žirmunskij, V. M. 76, 80, 107, 175, 177, 182 Žitomirskaja, Z. V. 65 Zolotusskij, I. P. 324, 374f, 380 Zontag, E. V. 107 Zschokke, H. D. 387 Žukovskij, V. A. 25f, 28, 31, 34f, 64f, 74-78, 81-84, 86, 88-92, 95f, 98-100, 104, 122, 124-132, 135-138, 141-145, 150f, 155f, 163, 181-183, 198, 237, 266, 277, 284, 325, 337, 339, 359, 365, 368, 381, 389, 395, 398, 405f

Buchveröffentlichungen von R.-D. Keil zu Puškin und Gogoľ als Autor: Nikolai W. Gogol mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, 1985 (3. Auflage 1998) Alexander Puschkin. Ein Dichterleben. Biographie Insel Vertag, Frankfurt a. M., Leipzig, 1999, als insel taschenbuch it 2782, 2001

als Übersetzer: Alexander Puschkin: Jewgeni Onegin. (nach Erstveröffentlichung im Wilhelm Schmitz Verlag 1980 zweisprachig, und einsprachig in der Serie Piper, Nr. 690, 1987), jetzt einsprachig und ergänzt als insel taschenbuch it 2524, 1999, 2. Auflage 2008 Alexander Puschkin: Der eherne Reiter. Александр Пушкин: Медный всадник Novi gorod Verlag, St. Petersburg, 1995 mit Illustrationen von Vladimír und Tat’jana Skrodenis (zweisprachig) Alexander Puschkin: Der eherne Reiter – mit Illustrationen von Alexander Benois Insel-Bücherei Nr. 1195, 1999

als Herausgeber: Alexander Puschkin: Die Gedichte. Aus dem Russischen von Michael Engelhard Zweisprachige Ausgabe 1999, Insel Verlag, Frankfurt a. M., Leipzig, einsprachige Ausgabe dto. 1999, 2. durchgesehene Auflage 2003 Puschkin: Der eherne Reiter. Erzählungen aus St. Petersburg, insel taschenbuch it 2872, 2003, 2. Auflage 2007 Alexander Puschkin: Liebesgedichte, insel taschenbuch it 2968, 2003 Alexander Puschkin: Die Hauptmannstochter. Deutsch von Peter Urban, Illustrationen von Cristina Rinaldi Ccilie Dressler Verlag, Hamburg, 2003

Nachweis der Erstveröffentlichungen

Zur Deutung von Puškins „Pamjatnik“ veröffentlicht in Die Welt der Slaven, Jg. VI/2, S. 174–220 (1961) Parny-Anklänge im „Evgenij Onegin“ veröffentlicht in Festschrift für Margarete Woltner, Heidelberg, S. 121–133 (1967) Der Fürst und der Sänger – Varianten eines Balladenmotivs von Goethe bis Puškin veröffentlicht in Studien zu Literatur und Aufklärung in Osteuropa (= Bd. 13 der Bausteine zur Geschichte der Literatur bei den Slawen), S. 210–268 (1978) Nerukotvornyj – Beobachtungen zur geistigen Geschichte eines Wortes veröffentlicht in Studien zu Literatur und Aufklärung in Osteuropa (= Bd. 13 der Bausteine zur Geschichte der Literatur bei den Slawen), S. 269–317 (1978) Puškins „Akvilon“ veröffentlicht in Zeitschrift für slavische Philologie, Bd. XL/1, S. 136–149 (1978) Commentationes philologicae. Fünf kleine Puškin-Studien mit einem Vorwort veröffentlicht in Canadian American Slavic Studies, Summer 1980, S. 227–234 Warum ich Puschkin übersetze veröffentlicht in Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 1983, l. Lieferung, S. 110–114 Der Gefangene der Übersetzer veröffentlicht in All das Lob, das du verdient. Eine deutsche Puschkin-Ehrung zur 150. Wiederkehr seines Todestages (Zeitschrift für Kulturaustausch, 37. Jg. 1987/1. Vj. S. 121–127 Pouchkine et Florian veröffentlicht in Revue des études slaves, LIX/1–2, S. 45–49 (1987) Puschkin und die Romantik in Russland veröffentlicht in Aurora, Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft für die klassisch-romantische Zeit, Bd. 53, S. 55–67 (1993) Was heißt „ljubonačalie“? – Zu einer neueren Interpretation von Puškins „Fastengebet“ veröffentlicht in Zeitschrift für slavische Philologie, Bd. LIV/1, S. 58–61 (1994) Florenz und Petersburg oder: Puškin und Foscolo veröffentlicht in Sprache – Text – Geschichte. Festschrift für Klaus Dieter Seemann, S. 121–130 (1997)

428

Nachweis der Erstveröffentlichungen

Uvida vestimenta poetae. Eine Horaz-Reminiszenz in ovidischer Umgebung veröffentlicht in Zeitschrift für slavische Philologie, Bd. LVI/1, S. 31–36 (1997) Слава, Свобода, Гордость ... Überlegungen zu Puškins letztem großen Gedicht veröffentlicht in Zeitschrift für slavische Philologie, Bd. 57, Heft 2, S. 409–413 (1998) Puschkin und Goethe oder „Was ist Wahrheit?“ veröffentlicht in Alexander Puschkin. (Baden-Badener Beiträge zur russischen Literatur, Bd. 4), Baden-Baden 1998, S. 22–33 Der Versroman „Jewgeni Onegin“ veröffentlicht in „Ein Denkmal schuf ich mir“ – Alexander Puschkins literarische Bedeutung, Tübingen, S. 159–173 (2000) Nachahmung als Selbstdarstellung in der späten Lyrik Puškins A. S. Puškin und die kulturelle Identität Russlands. Heidelberger Publikationen zur Slavistik, A Linguistische Reihe, Bd. 13, S. 217–226 (2001) «Как Сади некогда сказал» – Из наблюдений над ориентализмом Пушкина veröffentlicht in Пушкин и мировая культура. Материалы VI между-народной пушкинской конференции, Крым, 2002 г., Санкт Петербург, Симферополь, стр. 33–36 Tjutčev und Puškin Vortrag bei einer Tjutčev-Gedenkveranstaltung des Zentrums für russische Kultur MIR in München, 2003. Erstveröffentlichung Puškin und Plutarch veröffentlicht in Arion. Jahrbuch der deutschen Puschkin-Gesellschaft, Bd. 5, S. 237–242 (2003) «Я слишком с Библией знаком» или ветхозаветная Троица у Пушкина veröffentlicht in «Он видел Новгород великой», Материалы VII международной пушкинской конференции «Пушкин и мировая культура» 2004г. Новгород 2006, стр. 20 –24 Traduttore – Traditore? Zum Schicksal eines Puškin-Zitats in deutschen Dostoevskij-Übersetzungen veröffentlicht in Tusculum slavicum. Festschrift für Peter Thiergen. Zürich, 2005, S. 57–63

Nachweis der Erstveröffentlichungen

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Пушкин о «Девственнице» Вольтера –этапы одной переоценки Vortrag auf der VIII Internationalen Puškin-Konferenz in Arzamas, 2007 – Erstveröffentlichung Gogoľs „Krovavyj bandurist“ – Versuch einer Deutung veröffentlicht in Studien zu Literatur und Kultur in Osteuropa, Köln–Wien, 1983, S. 69–79 Doch noch Neues zu Gogoľs „Mantel“? veröffentlicht in Die Welt der Slaven, 1985, S. 66–71 Gogoľ und Paulus veröffentlicht in Die Welt der Slaven, 1986, S. 86–99 Gogoľ im Spiegel seiner Bibelzitate veröffentlicht in Festschrift für Herbert Bräuer, Köln–Wien, 1986, S. 193–220 (1986) Поэма und перл создания – Gogoľ s ästhetisches Ideal und die Gattung der „Toten Seelen“ veröffentlicht in Festschrift für Peter Brang (= Slavica Helvetica, Bd. 33), Bern et al. S. 113–128 (1989) Ein locus amoenus im „Revizor“? oder: Gogoľ als Parodist Puškins veröffentlicht in Res slavica. Festschrift für Hans Rothe, Paderborn, 1994, S. 107–115 Gogoľs Deutsche. Folklore – Erfahrung – Fiktion veröffentlicht in Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 19. Jahrhundert. Westöstliche Spiegelungen, Reihe B, Bd. 3, S. 411–443 (1998) Was bedeutet «иным ключом» im Proömium des 7. Kapitels der „Toten Seelen“? (Nicht nur ein Übersetzungsproblem). Erstveröffentlichung (2007)