Psychoanalyse und Medizin: Perspektiven, Differenzen, Kooperationen [1 ed.] 9783666402951, 9783525402955

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Psychoanalyse und Medizin: Perspektiven, Differenzen, Kooperationen [1 ed.]
 9783666402951, 9783525402955

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Helmwart Hierdeis / Martin Scherer (Hg.)

Psychoanalyse und Medizin Perspektiven, Differenzen, Kooperationen

Helmwart Hierdeis/Martin Scherer (Hg.)

Psychoanalyse und Medizin Perspektiven, Differenzen, Kooperationen

Mit 5 Abbildungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Irmgard Hierdeis, Quelle direction? Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40295-1

Inhalt

Helmwart Hierdeis und Martin Scherer Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Günther Bittner Sigmund Freud, der »Arzt der Moderne«? . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Über Psychoanalyse und Medizin bei Freud und seinen Schülern Günther Bittner und Volker Fröhlich Über den Psychomorphismus organischer Krankheiten . . . . 49 Georg Schönbächler Placebo und Psychoanalyse – eine schwierige Beziehung . . . 77 Ulrike Kadi Von innen aufgefressen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Facetten des Körperraums in Psychoanalyse und Medizin Paul L. Janssen Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . 123 Ute Auhagen-Stephanos Fruchtbarkeit als biopsychosoziales Geschehen . . . . . . . . . . . . 145 Eckhard Frick und Yvonne Petersen Lohnt sich Psychoanalyse kurz vor dem Lebensende? . . . . . . 171 Psychoanalyse im Kontext von Palliative Care

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Inhalt

Ulrich Lamparter Psychoanalyse und Medizin brauchen Geschichte . . . . . . . . . . 195 Das interdisziplinäre Projekt »Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms (1943) und ihre Familien« – Ergebnisse und Konsequenzen für die praktische Medizin im persönlichen Rückblick Anna Buchheim Psychoanalyse und Neurowissenschaften am Beispiel der Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Friedrich Stiefel, Barbara Stein und Wolfgang Söllner Psychodynamische Aspekte im Konsiliar- und Liaisondienst 243 Gerhard Schüßler Balint-Gruppen und ihre Bedeutung in der Medizin . . . . . . . 271 Andreas Hamburger Junktim oder Kooperation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Für eine forschende Psychoanalyse Martin Teising Überlegungen zur Bedeutung ärztlicher Erfahrung für die Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

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Einführung

Fallbeispiel mit Kommentar zur Thematik Die in diesem Buch versammelten Beiträge sind aus der Sicht der Psychoanalyse und der psychoanalytisch orientierten Psychosomatik bzw. Psychiatrie verfasst. Wer auf die eine oder andere Weise mit ihr vertraut ist, wird daher zu den folgenden Darstellungen und Überlegungen leichter Zugang finden als Leserinnen und Leser, die ihr ferner stehen. Dazu gehören vermutlich auch die meisten Vertreterinnen und Vertreter der Medizin. Um sie miteinzubeziehen, wollen wir das Kernthema der Psychoanalyse – das »Unbewusste« – kurz umreißen und ein paar Facetten des Verhältnisses Psychoanalyse – Medizin benennen, dessen Problematik auch unsere Zusammenarbeit als Herausgeber berührt hat. Zunächst ein Fallbeispiel aus einer hausärztlichen Praxis (Lühmann et al., 2016, S. 12–15): Morgens, kurz nach Öffnung der Praxis, stellt sich bei Dr. T. erstmalig die 43-jährige Frau B. vor, die nervös von einer etwa walnussgroßen, weichen Verdickung an der Oberschenkelinnenseite berichtet, die ihr vor einiger Zeit erstmals aufgefallen sei. Der Arzt hat nach der Schilderung der Patientin bereits die Vermutung, dass es sich bei der Veränderung um ein harmloses Lipom handelt. Und tatsächlich, nach kurzer Anamnese und Untersuchung stellt Dr. T. fest, dass diese Annahme richtig zu sein scheint. Dr. T. teilt der Patientin mit, dass er die Verdickung für eine gutartige Fettgewebegeschwulst, ein sogenanntes Lipom, hält. Weitere Maßnahmen seien nicht erforderlich, aus kosmetischen Gründen könne Frau B. sich die Verdickung entfernen lassen. Für Dr. T. ist die Konsulta­

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tion damit abgeschlossen, und er geht davon aus, der Patientin eine erleichternde Mitteilung gemacht zu haben. Die Patientin allerdings reagiert irritiert, verabschiedet sich kurz angebunden und geht. Später findet Dr. T. eine ärgerliche Rezension des Praxisbesuchs auf einer Onlineplattform, wo die Patientin für alle sichtbar angibt, nicht wieder in diese Praxis kommen zu wollen. Der Wortlaut: »Nettes Praxisteam, aber lange Wartezeit trotz Termin, dann ging alles ruckzuck, nicht viel gefragt, ein schneller Blick, und draußen war ich. Hatte keine Zeit nachzufragen, was ich habe, scheint nicht gefährlich zu sein, ich soll zum Schönheitschirurgen gehen, wenn es mich stört. Fühlte mich abgeschoben.« Kommentar Arzt: »Wie hätte ich ahnen können, dass noch Fragen bestehen? Schade, es hier im Netz zu platzieren, finde ich unfair. Ich versuche schon bis an meine Grenzen, alle Wünsche zufriedenzustellen.«

ȤȤ Dr. T. hat mit der Abfolge »Beschwerden anhören, Untersuchung, Diagnose, Auskunft und eventuell Einleitung oder Empfehlung einer Therapie« ohne Zweifel kompetent gehandelt. Es ist anzunehmen, dass dieses Vorgehen seinem ärztlichen Habitus entspricht, wie er ihn sich in seiner beruflichen Sozialisation und in einer langen Berufstätigkeit angeeignet hat. Nicht zu vergessen ist der Zeitdruck, unter dem er arbeitet und dem zum Trotz er den Bedürfnissen seiner Klientel entgegenkommen will. Er sieht keinen Grund, an seiner bisherigen Praxis etwas zu ändern, vermutlich auch, weil alles zusätzliche Reden höheren Zeitdruck nach sich zieht und nicht zuletzt die Wirtschaftlichkeit seines Betriebs mindert. ȤȤ Lühmann et al. (2016) nehmen die beiderseitige Enttäuschung zum Anlass, sich über die Arzt-Patient-Beziehung unter dem Aspekt der Kommunikation Gedanken zu machen. Sie stellen fest, dass beide Protagonisten ihre jeweilige aktuelle Situation (Praxis einerseits, Lebensumstände andererseits) in die Konsultation hineintragen, sie aber im Augenblick der Begegnung nicht reflektieren oder gar benennen. In der Pragmatik seines Handelns sieht der Arzt die Patientin als eine unter Vielen an, die tag­täglich seine Hilfe beanspruchen. Er will sowohl in diagnostischer als auch in therapeutischer Hinsicht alles richtig machen. Die Reflexion der Beziehung scheint dabei nicht im Vordergrund zu ste-

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hen. So übergeht er offenbar die eigene Befindlichkeit (Stress) ebenso wie die Befürchtungen und Erwartungen der Patientin. Insgesamt lässt er keine der Facetten von Empathie erkennen, die als unabdingbar für eine patientenzentrierte Versorgung angesehen werden, wie etwa Authentizität, Interesse am Gegenüber, Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit oder die Fähigkeit, emotionale Äußerungen des Patienten anzunehmen und dafür Verständnis zu zeigen (Lühmann et al., 2016, S. 13, nach Derksen, Bensing u. Lagro-Janssen, 2013). Für Dr. T. hätte das zumindest heißen müssen, dass er seine Verspätung erklärt, mögliche Ängste von Frau B. anspricht, darauf eingeht und sich vergewissert, dass für den Augenblick keine Fragen offengeblieben sind – und zwar ohne Anzeichen von Zeitdruck. Dass die Patientin ihrem Ärger nicht in der Situation, sondern nachträglich über das Internet Luft macht, hätte ihn zum Nachdenken darüber anregen können, ob er nicht vielleicht zu dominant aufgetreten ist. ȤȤ Kein Psychoanalytiker wird die Angemessenheit des ärztlichen Handelns von Dr. T. infrage stellen. Und Ärztinnen/Ärzte, die darüber hinaus fähig sind, Anteilnahme, Einfühlungsvermögen und Interesse an der Person des Gegenübers und nicht nur am Rollenträger Patient zu zeigen und dabei sich selbst als Dialogpartner wahrzunehmen, kämen seinem Beziehungsideal nahe. Was ihn oder den psychoanalytisch orientierten Arzt vom empathischen Kommunikator im oben beschriebenen Sinne unterscheidet, ist sein Interesse an der Einzigartigkeit der Person, mit der er es zu tun hat, an der Besonderheit ihrer Lebensgeschichte und deren Niederschlag in ihrem Unbewussten, am Bild, das sie von sich und von ihrer psychischen und/oder somatischen Erkrankung hat. Im konkreten Fall würde er zum Beispiel den Phantasien nachgehen, die das Lipom bei Frau B. vor und nach der Diagnose ausgelöst hat, danach fragen, inwieweit die Szene mit Dr. T. bei ihr frühere Szenen und Gefühle der Ohnmacht wachgerufen hat. Er würde dabei nicht nur auf ihre verbalen Äußerungen achten, sondern die Frau insgesamt als perso­nifizierte Erzählung ansehen. Wäre sie seine Patientin, würde er mit ihr im Rahmen seines speziellen Settings und in festen Zeiteinheiten an diesen Themen arbeiten. Und nähme Herr Dr. T. an einer von ihm geleiteten Balint-Gruppe

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teil, käme zumindest die Frage auf, wie der aufopferungsvolle, »wunscherfüllende« Arzt, als den er sich selbst sieht, so einschüchternd wirken kann, dass es der Patientin die Sprache verschlägt.

Kernthema der Psychoanalyse: Das Unbewusste Wenn wir vom Unbewussten sprechen, so greifen wir damit ein Phänomen auf, das der Arzt zwar dem Begriff nach kennt, zu dem er, falls er es überhaupt für relevant hält, auch seine Alltagstheorien haben mag, dem er aber im Rahmen seiner Berufsausübung kaum Aufmerksamkeit schenkt – auch weil es in seiner Professionalisierung nicht von Bedeutung ist. Die Psychoanalyse sieht sich hingegen als die Wissenschaft vom Unbewussten schlechthin. Dabei geht es ihr nicht in erster Linie um die auch von anderen Wissenschaften (z. B. Verhaltensphysiologie, Kognitive Psychologie, Gehirnforschung) experimentell erforschten Sedimente vorbewusster und subliminaler Wahrnehmungen oder um Inhalte des prozeduralen und deklarativen Gedächtnisses, die »in Vergessenheit geraten« sind (vgl. Roth, 2003, S. 228 ff.). Vielmehr stehen im Zentrum ihrer Praxis, Forschung und Theoriebildung jene Bereiche/Felder/Dimensionen des Unbewussten, ȤȤ deren Inhalte einmal bewusst waren, aber durch psychische Energien (»Widerstand«) davon abgehalten werden, wieder ins Bewusstsein aufzusteigen – nach Freud das »Verdrängte« (Freud, 1923b, S. 327 ff.); ȤȤ die als weiterwirkende archaische Erbschaft der Menschheitsgeschichte anzusehen sind – Freud hat sie unter dem Begriff »Es« subsumiert (Freud, 1923b, S. 237 ff.; vgl. Bittner, 2016), und schließlich ȤȤ die in Form von frühesten, durch die Interaktion des vorgeburtlichen und frühkindlichen Subjekts und seines Körpers mit der sozialen Umwelt verursachten »Einschreibungen« (Quindeau, 2008, S. 17 ff.) seine psychische Struktur mitbedingen, nichtsprachliche Erinnerungsspuren also, die daher sprachlich auch nicht fassbar sind und »allenfalls in poetisch-metaphorischen Bildern umkreist oder aus neuronalen und endokrinologischen Korrelaten erschlossen werden« können (Bittner, 2018; vgl. Buchholz u. Gödde, 2005 ff.).

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In diesem Sinne ist das Unbewusste eine Art Gedächtnis. Es ist allerdings nicht mit einem geordneten Speicher zu verwechseln, sondern gleicht eher einem »Schwarm« von Inhalten, die dauernd »umgeschrieben« und damit neu kodiert und umstrukturiert werden. Dieses in Dauerbewegung befindliche Unbewusste hat Folgen für das Subjekt: »Die unbenannten, verdrängten, niemals mit Sprache verbundenen Interaktionsformen wirken im Unbewussten in einem dynamischen Sinne weiter, das heißt, sie beeinflussen das menschliche Erleben und Verhalten grundlegend« (Quindeau, 2008, S. 20) und gehen allen bewussten Prozessen voraus. Ein solches Konzept bedingt ein eigenes Menschenbild, das den Menschen auf einer nur hypothetisch erschließbaren Antriebsbasis fühlen, denken und handeln sieht (vgl. Roth, 2003). Aus ihm folgt ein besonderes Erkenntnisinteresse: »Die Psychoanalyse zielt in erster Linie auf die Aufdeckung unbewusster seelischer Handlungen und Erlebnisformen. Sie versucht, ein Erklären und Verstehen von Handlungszusammenhängen vorzunehmen, deren Gründe nicht bewusstseins- und argumentationszugänglich sind, die nicht oder nur unzureichend aus sich selbst heraus verstanden werden können, weil sie auf unbewussten Handlungsintentionen und Sinnzusammenhängen beruhen« (Mertens u. Haubl, 1996, S. 7). Die Medizin hat demgegenüber zunächst ausschließlich Bewusstes als Ansatzpunkt: das geäußerte oder sichtbare Leiden, den Beratungsanlass, die zur Verfügung stehenden Therapien. Sie sieht sich dem bewusst wahrnehmbaren Wohlbefinden der Patienten verpflichtet und orientiert sich eher an einem Bild vom Menschen als System von nomothetisch fassbaren Beziehungen, das dementsprechend empirisch überprüfbares Handeln nach sich zieht (vgl. Zepf, 2003/2013, S. 83 ff.).

Facetten des Verhältnisses Psychoanalyse – Medizin Wir Herausgeber, ein Psychoanalytiker und ein Arzt für Allgemeinmedizin, ersterer ein ehemaliger, aus der geisteswissenschaftlichen Tradition seiner Disziplin kommender Erziehungswissenschaftler, letzterer in leitender Funktion an einer Universitätsklinik tätig, haben uns zusammengetan, um uns von Kolleginnen und Kollegen, die von Berufs wegen entweder in beiden Feldern arbeiten oder

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zumindest fachliche und praktische Berührungspunkte haben, etwas über ihre aktuellen Erfahrungen, Forschungen und Erkenntnisse berichten zu lassen. Wir verstehen die hier versammelten Beiträge als Partikel eines Praxis-, Forschungs- und Diskussionsfeldes, das nur sehr allgemein einzugrenzen ist. Denn ob von persönlichen Befindlichkeiten und Erfahrungen oder von objektivierbaren Gegebenheiten die Rede ist, von der psychotherapeutischen bzw. ärztlichen Praxis oder von wissenschaftlichen Untersuchungen, von Plausibilitäten oder von kausalen Zusammenhängen – immer stehen die Fragen im Raum: Wie wirken Psyche und Soma zusammen? Wie verstehen Psychoanalytiker und psychoanalytisch orientierte Psychosomatiker und Psychiater diese Zusammenhänge? Welche Folgen haben ihre jeweiligen Sichtweisen und Theorien für die praktische Ausübung ihrer Berufe? Wie und auf welchen Arbeitsgebieten finden sie einen Modus der Verständigung und Kooperationsmöglichkeiten mit einer Medizin, die (Psychosomatik und Psychiatrie ausgenommen) vom Zusammenspiel Psyche – Soma und gar von der Psychoanalyse wenig weiß, ohne unter ihrer Unkenntnis allzu sehr zu leiden? Zumindest im Hinblick auf die Arzt-Patient-Beziehung ist ein Wandel erkennbar: Die Forderung nach einer »sprechenden Medizin« hat über die Psychosomatik hinaus Geltung erlangt. Das Desiderat einer verbesserten Kommunikation (Abbau paternalistischer Umgangsformen, Annäherung an personorientierte, symmetrische Beziehungen) geht nicht nur aus den »Leitlinien« und Positionen der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) hervor (www.degam.de), sondern schlägt sich auch in Kommunikationsübungen im Rahmen des Medizinstudiums nieder (vgl. Reformstudiengang i-Med, www.uke.de). Schließlich geben die DEGAM-Leitlinien seit vielen Jahren Hinweise darauf, wie unterschiedliche Symptome als mögliche Ausdrucksformen biologischer, psychischer oder sozialer Problemlagen entlang dem biopsycho­ sozialen Modell differenzialdiagnostisch eingegrenzt werden können (DEGAM, 2008/2014). Die von einigen Autorinnen und Autoren dieses Bandes erwünschte und teilweise praktizierte Kooperation ist »Arbeit an Bruchlinien und Widersprüchen des Gesundheitssystems« (Lamparter in diesem Buch). Damit ist sie aber auch Arbeit an den voneinander abweichenden Vorannahmen, Menschenbildern,

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Bedürfnissen, Erwartungen, beruflichen Selbstverständnissen und Professionalisierungsformen von Psychotherapeuten und Ärzten. Das betrifft allerdings nicht die Psychoanalyse allein, sondern auch die anderen psychodynamischen oder verhaltenstheoretisch begründeten therapeutischen Richtungen. Die Schwierigkeiten waren auch bei unserer Zusammenarbeit zu spüren. Wir haben bei der Konzeption des Bandes, bei der Beurteilung der eingegangenen Texte und erst recht bei unseren Diskussionen zur Metaebene erfahren, was es bedeutet, als Psychoanalytiker nicht auch Arzt und als Arzt nicht auch Psychoanalytiker zu sein, völlig unterschiedliche Wege zu unseren Berufen absolviert zu haben, auf unterschiedliche wissenschaftliche Paradigmen und Standards eingeschworen zu sein, in der Praxis unterschiedlichen Erkenntnisinteressen, Therapievorstellungen und Evaluierungsformen zu folgen und im Rahmen ganz unterschiedlicher Settings tätig zu sein. Wir sind beide davon überzeugt, dass es notwendig ist, in biopsychosozialen Zusammenhängen zu denken und vermehrt Formen der Zusammenarbeit zwischen Psychoanalyse und Medizin in Forschung und Praxis zu finden. Wir gehen beide in unseren Diagnosen davon aus, dass »zwischen Ursache und Wirkung immer Bedeutungs­erteilung stattfindet« (Hontschik, 2006, S. 42), und wir halten beide einen Methoden­monismus für überholt und sehen multimethodische Zugänge als fruchtbar an. Dennoch sind wir bei unseren gegenseitigen Verständigungsversuchen schnell auf Probleme gestoßen, wenn es etwa um die Wirkung des allen kognitiven Prozessen voraus­gehenden und sie unterschwellig begleitenden »Unbewussten« ging, um die Einbeziehung der Selbstdeutung und der subjektiven Krankheitsbilder des Patienten bzw. der Patientin in den therapeutischen Prozess, um die Bedeutung des Einzelfalls gegenüber Stichproben und Grundgesamtheiten, um die Relevanz »weicher«, das heißt phäno­menologischer und hermeneutischer Methoden bei der Wissens­gewinnung, um die Verallgemeinerbarkeit von Erkenntnissen, um die Funktion und Schärfe von Begriffen oder um die Sprache, in der Wissen ausgedrückt und kommuniziert werden kann und soll. Wir haben unsere Sichtweisen angenähert, aber nicht zur Deckung gebracht. Wie eingangs gesagt, richtet sich in allen Beiträgen der Blick von »der Psychoanalyse« (Psychoanalytikern, psychoanalytisch orientierten Psychosomatikern und Psychiatern) auf »die Medizin«. Das hat

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einerseits historische Gründe; denn schon Freud hatte sein Leben lang große Mühe, sein eigenes Arzt- und Psychologesein miteinander zu versöhnen, und verwandte viel Energie darauf, sich mit der Skepsis und dem Widerstand der Ärzteschaft auseinanderzusetzen. Andererseits befindet sich die Psychoanalyse im heutigen Gesundheitssystem personell und hinsichtlich ihrer Ressourcen in einer marginalen Lage und steht daher unter einem ganz anderen Legitimationsdruck als die Medizin, deren Existenzberechtigung allenfalls Gesundbeter und Schamanen bestreiten würden. Die Medizin wiederum hält den von vielen als unwissenschaftlich geltenden Störenfried gern auf Distanz, und etliche ihrer Vertreter sehen unter Verweis auf die von ihnen hochgehaltenen Standards und die knappen Ressourcen im Verschwinden der Psychoanalyse aus Klinik und Universität einen Erfolg »der Wissenschaft«. Neben dem Zwang, sich zu rechtfertigen oder zu verteidigen, hat die Psychoanalyse gegenüber der Medizin in unseren Augen insbesondere vier Aufgaben: ȤȤ Die erste hat mit ihrem Wissenschaftsverständnis und ihren Methoden zu tun: Sie muss dem Ideal einer empirischen Einheitswissenschaft, dem die Medizin sich weitestgehend verpflichtet sieht, ihre »Vielsprachigkeit« und damit ihre spezielle (Tiefen-) Hermeneutik entgegenhalten. ȤȤ Die zweite Aufgabe sehen wir in der dauernden Prüfung ihres eigenen Wissenschaftsverständnisses (vgl. Leuzinger-Bohleber, Deserno u. Hau, 2004; Leuzinger-Bohleber, Benecke u. Hau, 2015; Hierdeis, 2016). Es entwertet weder das »Junktim zwischen Heilen und Forschen« (Freud, 1927a, S. 293) noch die Bedeutung der Intuition in der analytischen Situation noch den Reichtum ihrer Hermeneutik, wenn sie sich etwa für linguistische Zugänge (vgl. Buchholz, 2016, S. 252 ff.; Reich, 2016, 291 ff.), Steinert u. Leichsenring, 2017, S. 28 ff.; Mikroanalysen der analytischen Situation (vgl. Andreas Hamburger in diesem Buch) oder für die Überprüfung ihrer Wirksamkeit mit quantitativen Methoden öffnet (vgl. Rüger, 2015, S. 52 ff.; Steinert u. Leichsenring, 2017, S. 28 ff.; Anna Buchheim in diesem Buch). Um eine Stimme aus der Psychoanalyse zu zitieren: »Keine Wissenschaft kann ihren Fortschritt ganz aus sich selbst schöpfen« (Körner, 2007, S. 30).

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ȤȤ Eine dritte Aufgabe der Psychoanalyse besteht darin, dass sie gegenüber der Medizin das ins Spiel bringt, was ihre Besonderheit im Gesundheitssystem ausmacht: ihr psychodynamisches Beziehungswissen und ihre praktische Beziehungskompetenz. ȤȤ Die vierte Aufgabe – die Wahrnehmung ihrer gesellschafts-, kultur- und ideologiekritischen Funktion – weist über die klinischen Aufgaben hinaus: Ihr vielschichtiges, weit über eine Ökonomiekritik hinausgehendes »Unbehagen in der Kultur« zu äußern, ist ein zeitloses und gerade angesichts der aktuellen Phantasien über den »Neuen Menschen« höchst dringliches Projekt (vgl. Hierdeis, 2014, S. 32 ff.). Bundesgenossen findet sie heute in der Sozialmedizin und Medizinethik.

Zur Abfolge der Beiträge Nachdem wir von vorneherein weder eine resümierende noch eine systematisierende Absicht verfolgt haben, hatten auch unsere Autorin­nen und Autoren die Freiheit, etwas zur Sprache zu bringen, das sie für unseren Zusammenhang für wichtig hielten. Der Verdacht der Beliebigkeit, der angesichts der Themenvielfalt zunächst aufkommen könnte, verliert sich bei der Lektüre schnell und macht dem Eindruck Platz, dass sich jeder Beitrag für einen Einstieg in die Gesamtthematik eignet. Einen Überblick gestatten die folgenden Beitragsskizzen. Wir haben deren Abfolge so angeordnet, dass sie mit einer historischen Anbindung der Thematik beginnt (Bittner) und mit Überlegungen fortfährt, ob in den psychoanalytischen Leib-Seele-­Konzepten nach Freud mit ihrer Betonung des Unbewussten als offene Frage nicht etwas für die heutige Medizin, insbesondere für die Psychosomatik, Bewahrenswertes enthalten ist (Bittner, Fröhlich). Ihnen schließt sich eine Abhandlung zur Geschichte der Placebos und zu den psychischen Voraussetzungen ihrer Wirksamkeit an (Schönbächler). Beiträge zur psychoanalytischen Körpertheorie (Kadi) und zum Verständnis einer psychoanalytischen Psychosomatik (Janssen) leiten zu psychoanalytischen Interventionen in Extremsituationen über: bei unerfüllten Schwangerschaftswünschen (Auhagen-­Stephanos) und am Ende des Lebens (Frick, Petersen). Höchst unterschiedliche methodische Zugänge werden bei

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der Erforschung transgenerationaler Folgen von Traumatisierungen (Lamparter) und der Wirksamkeit psychoanalytischer Therapie bei Depressionen (Buchheim) sichtbar. Wie sich psychoanalytische Orientierungen in der klinischen Fallreflexion bewähren, zeigen die Arbeiten zu den Konsiliar-/Liaisondiensten (Stiefel, Stein, Söllner) und zur Balint-Gruppenarbeit (Schüßler). Den Abschluss bilden zwei Beiträge, von denen einer danach fragt, ob sich die multidisziplinäre Erforschung der Mikrostruktur analytischer Sitzungen auf therapeutische Beziehungen insgesamt übertragen lässt (Hamburger), und der zweite mögliche gegenseitige Bereicherungen von Psychoanalyse und Medizin im Hinblick auf das Arzt-Patient-Verhältnis, auf Diagnostik und Berufsethik in den Fokus rückt (Teising).

Zu den Texten Wie der Wiener Nervenarzt Sigmund Freud zum Begründer der Psychoanalyse wurde und wie es aktuell um deren »Selbstpositionierung« steht, diesen Fragen geht Günther Bittner nach. Er verfolgt Freuds Weg vom Humanbiologen und Mediziner zum Psychologen, der die Psychoanalyse neben der Medizin – aus theoretischen wie aus wissenschaftspolitischen Gründen – als eigenes System installieren möchte, dem es aber selbst schwerfällt, die behauptete Trennung in nichtmedizinischen Begriffen und Modellen deutlich zu machen. Auch wenn sich nach dem Ersten Weltkrieg eine Annäherung anbahnt (»Kriegsneurosen«), bleibt Freud gegen alle Widerstände auch vonseiten seiner Schüler bei einem »Dualismus«. Für den unleugbaren Einfluss des Psychischen auf den Körper entwickelt er das Konzept der Affektverschiebung (»Konversion«). Die mit den 1920er Jahren sich entwickelnde Psychosomatik verwischt die Grenzen endgültig. Bittner plädiert dafür, die Eigenständigkeit der Psychoanalyse gegenüber der Medizin so zu verstehen, dass sie gegen die fehlende Falsifizierbarkeit ihrer Theorien auf die Plau­sibilität ihrer somatischen Korrelate setzt. Ausgehend von eigenen Erkrankungen, die sie nach einer möglichen psychischen Bedingtheit fragen lassen, schlagen Günther Bittner und Volker Fröhlich einen Bogen von Freuds Skepsis gegenüber solchen Annahmen über die biomorphistischen und psycho­

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morphistischen Spekulationen der Freud-Schüler Groddeck und Ferenczi bis hin zur heutigen Psychosomatik. Die Entwicklung sehen sie als ambivalent an. Denn einerseits habe die somatische medizinische Forschung große Fortschritte gemacht und damit einen schär­ feren Blick auf die biochemischen Mechanismen ermöglicht. Andererseits sei zu beobachten, dass die biopsychosozialen Theoriemodelle der aktuellen Psychosomatik dem Unbewussten keinen Raum mehr ließen. Auch die Auflösung des früheren Katalogs psychosomatischer Krankheiten zu einem alle Krankheiten einschließenden integra­ tiven Prinzip beurteilen sie skeptisch, weil ihrer Einschätzung nach die Gefahr droht, dass das Psychische als empirisch vergleichsweise schwer zu fassendes Moment (und darin das Unbewusste als das nur über seine Wirkungen zu erschließende) dem Druck der Evidenz­ basierung nicht standhalten könne. Die Folgen für die Psychoanalyse könnten in ihrer Selbstaufgabe durch Anpassung bestehen. Um dem zu entgehen, plädieren sie für eine psychoanalytisch orientierte Psychosomatik. Georg Schönbächler verweist zu Beginn seines Beitrags auf die Verwandtschaft zwischen Psychotherapie und Placebo, die beide über psychische Mechanismen wirken. Nach einem historischen Abriss zur Herkunft des Placebobegriffs nimmt er eine Differenzierung von Placeboeffekt und Placeboreaktion vor und beschreibt die beiden wichtigsten Störfaktoren, die einen Placeboeffekt vortäuschen können: den Spontanverlauf (»natural history«) und das Regression-to-the-mean-Phänomen. Die Placeboreaktion ist für ihn das Resultat einer Bedeutungserteilung, die in einer therapeutischen Intervention aufgrund verschiedenster Kontextvariablen vollzogen wird. Auf diese Weise trägt sie zur Wirkung einer jeden therapeu­ tischen Intervention bei. Der klinische Einsatz von Placebos erfolgt auf der Basis von kontrollierten, randomisierten Doppelblindstudien. Im Zusammenhang mit möglichen Wirkungsmechanismen diskutiert Schönbächler die Konditionierungstheorie, die Erwartungstheorie und die Bedeutungstheorie. Unter psychoanalytischen Aspekten versteht er Placebos als Projektionsobjekte mit wunscherfüllender Bedeutung. Ihre Wirkung setzt unbedingtes Vertrauen in das Einfühlungsvermögen und das angemessene Handeln des Therapeuten voraus.

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Der Raum im Körper und der Körper im Raum bilden das Zentrum der Überlegungen im Beitrag von Ulrike Kadi. Am Beispiel des Zeichentrickfilms »Birth« über eine junge schwangere, später gebärende Frau werden Phantasien und Ängste zum Innenraum des (mütterlichen) Körpers mit dem Erleben des Außenraums in Verbindung gebracht. Psychoanalytische und medizinische, im Speziellen geburtshilfliche Perspektiven umfassen sowohl Lebenswie Todesaspekte des Körpers. In der Spannung zwischen diesen beiden Polen haben sich historische Vorstellungen über das poli­ tische Funktionieren eines Staatswesens geformt, die in der Folge umgekehrt auf medizinische Körperkonzepte rückgewirkt haben. Politisch, aber auch medizinisch und psychoanalytisch wird auf einen im Inneren des Körpers verorteten Tod reagiert. Es zeigt sich, dass das gegenwärtig vorherrschende Paradigma einer biopolitischen Regulierung des medizinischen Gattungskörpers mit individuellen Phantasien und Ängsten, den Körper(raum) betreffend, zusammenhängt, weshalb es wenig Sinn macht, den Körper der Biopolitik in psychoanalytischen Zugängen zum Körper außer Acht zu lassen. Paul L. Janssen sieht in der Psychosomatik eine Lehre von der Bedeutung psychosozialer Vorgänge für Entstehung und Verlauf körperlicher Erkrankungen und von den psychisch-somatischen und somato-psychischen Wechselwirkungen. Sie schließt psychoanalytische, neurobiologische, verhaltensmedizinische und salutogenetische Positionen ein. Psychoanalytische Konzepte (z. B. vom Unbewussten, von der inneren Realität, von den Triebabwehrkonflikten) machen es möglich, somatoforme und funktionelle Störungen sowie Ich-Funktionsstörungen zu erkennen und zu bearbeiten. Als besonders fruchtbar für das psychoanalytische Verständnis von Psychosomatik sieht der Autor bindungs- und mentalitätstheoretische Ansätze und die Selbstpsychologie Kohuts an, weil sie plausibel machen können, wie frustrierende frühe Bindungserfahrungen und dauerhafte Kränkungen des Selbst somatisch wirksame Traumatisierungen nach sich ziehen können. Den Schwerpunkt der psychoanalytischen Behandlungsstrategie sieht Janssen darin, das Krankheitsbild des Patienten zu explorieren und ihn für eine Beziehung zum Therapeuten zu gewinnen. Er selbst vertritt eine multimodale, psy-

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choanalytisch begründete Komplextherapie, die somatisch-pflegerische Aktivitäten mit Musik- und Maltherapie sowie mit Einzel- und Gruppentherapie verbindet. Die Umsetzung des Konzepts demonstriert er am Beispiel einer somato-psychisch gestörten Patientin mit struktureller Ich-Störung. Die anthropologische Basis ihrer Überlegungen zum Mutter-­ Embryo-­Dialog besteht für Ute Auhagen-Stephanos in der Fortpflanzung als biologischem Grundprinzip. Sie ist beim Menschen psychisch gesteuert – was eine oft dualistisch denkende Medizin noch nicht zur Gänze realisiert hat. Die Autorin sieht die Fruchtbarkeit in einem biopsychosozialen Kontext. In der Gegenwart sei sie ein »zerbrechliches Gut« geworden, erkennbar an Fertilitätsstörungen, kulturell bedingten Unsicherheiten über den richtigen Zeitpunkt für eine Schwangerschaft und, besonders auf weiblicher Seite, am Unwissen über den eigenen Körper. Diese Probleme treten bei der medizinisch assistierten Schwangerschaft offen zutage. Zur theoretischen Grundlegung ihrer therapeutischen Interventionen bei Frauen mit unerfülltem Schwangerschaftswunsch zieht Auhagen-­Stephanos die Forschungen zur Bindungsanalyse und zum Placebo heran. An Fallbeispielen aus ihrer Praxis demonstriert sie, wie die Patientinnen durch Psychotherapie und den Mutter-Embryo-Dialog Vertrauen in den eigenen Körper gewinnen und in einen Dialog mit ihren imaginierten oder bereits realen Embryos eintreten. Eckhard Frick und Yvonne Petersen entwickeln in Dialogform und gestützt auf Fallvignetten Überlegungen zur Sinnhaftigkeit einer psychoanalytisch orientierten Sterbebegleitung. Die Therapeutin/der Therapeut weiß, dass sich die Begegnung mit dem sterbenden Menschen auf der Ebene des Lebens wie auf der des Sterbens abspielt. Sie wird erkennbar von dem nach oben drängenden biografischen Material und von Ängsten vor dem Kommenden bestimmt. Die analytische Antwort besteht darin, Präsenz zu bieten, den eigenen Resonanzraum zu öffnen, herauszufinden, wie viel Selbstbestimmung dem Sterbenden im Hinblick auf Setting und Erzählen möglich ist, ein Gespür für dessen innere Zeit und Vulnerabilität zu entwickeln, auf die Übergänge von der Inhalts- und Beziehungsebene zum somatischen Befinden (z. B. Atemnot) zu achten und besonders wachsam zu sein im Hinblick auf die eigenen Gegen­übertragungsgefühle. In

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der Todesnähe sehen die Dialogpartner eine Brücke zu Psychotherapie und Spiritual Care. Gestützt auf eigene Erfahrungen als Psychoanalytiker und Psychosomatiker an einer Universitätsklinik reflektiert Ulrich Lamparter wissenschaftstheoretische und institutionelle Schwierigkeiten im Verhältnis von Medizin und Psychoanalyse. Ein Defizit teilen für ihn beide: die Blindheit für Sedimente der Zeitgeschichte in den Biografien ihrer Patientinnen und Patienten mit ihren pathogenen psychischen und somatischen Nachwirkungen. Diesen widmete sich unter Lamparters wesentlicher Mitwirkung ein interdisziplinäres Forschungsprojekt an Überlebenden des »Hamburger Feuersturms« von 1943. Bei über zwei Drittel der mit aufwändigen lebensgeschichtlichen Interviews Untersuchten bestehen bis heute psychische Folgen der damaligen Kriegserfahrung, die mit charakteristischen Bewältigungsstrategien und Einstellungen einhergehen und in einer soziokulturellen Gedächtnisbildung gerahmt sind. Auch die Suche nach Auswirkungen in der Folgegeneration über ein eigenes Interviewsample zeigt Fortwirkungen des »Feuersturms«. Besonders werden relevante Ängstlichkeitsparameter und Abgrenzungsbedürfnisse gegenüber den Älteren bei den Jüngeren sichtbar. Die Ergebnisse lassen es für Lamparter nicht zu, dass Psychoanalyse und Medizin Personen allzu leicht von ihren lebensgeschichtlichen Schicksalen abstrahieren. Nach dem Aufruf des Nobelpreisträgers Eric Kandel, den wissenschaftlichen Dialog zwischen Psychoanalyse und Neurowissenschaften zu intensivieren, hat sich nach Anna Buchheim der interdisziplinäre Dialog zunehmend verstärkt. Untersuchungen der neuronalen Korrelate von Patienten während einer Psychotherapie wurden in der Vergangenheit überwiegend für kognitiv-behaviorale und interpersonelle Kurzzeittherapien durchgeführt. Studien zum Effekt von psychoanalytischen Therapien lagen bis dato nicht vor. Die Hanse-Neuro-Psychoanalyse-Studie griff erstmals dieses Forschungsdesiderat auf, indem sie chronisch depressive Patienten in psychoanalytischer Behandlung mit der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) und dem Elektroenzephalogramm (EEG) untersuchte. Dazu wurden individualisierte Paradigmen entwickelt, um spezifische auf den Patienten abgestimmte Aspekte im Stimulusmaterial abbilden zu

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können. In diesem Beitrag fasst Buchheim auszugsweise Ergebnisse dieser neuronalen Veränderungen zusammen. Weiterhin referiert sie Befunde zur veränderten Konnektivität bei depressiven Patienten während einer stationären Behandlung sowie Befunde einer Einzelfallstudie mit wiederholten fMRT-Messungen bei einer depressiven Patientin im Laufe einer niederfrequenten analytischen Psychotherapie. Friedrich Stiefel, Barbara Stein und Wolfgang Söllner skizzieren eingangs die Entstehung der Psychoanalyse aus der Medizin und ihren Weg über die suggestive Krankenbehandlung in der Generation nach Freud bis zu den ersten Ansätzen einer wissenschaftlichen Psychosomatik. In diesem Zusammenhang gerät die Arzt-­PatientBeziehung in den Fokus der Aufmerksamkeit. Michael Balint entwickelt in der Folge seine Theorie und Praxis der Bearbeitung von Übertragungs-/Gegenübertragungsgefühlen als Bestandteil der ärztlichen Profession (Balint-Gruppen). Auf sie wiederum bezieht sich die aus den USA stammende Konsiliar-Liaison-Psychiatrie. Deren Besonderheiten diskutieren Stiefel, Stein und Söllner unter Einbeziehung der klinischen Rahmenbedingungen anhand von Fallbeispielen aus der Onkologie. Ihre Begleitforschung – orientiert an Lorenzers Konzept des »szenischen Verstehens« – konzentriert sich auf das Interaktionsgefüge zwischen allen am Behandlungsgeschehen Beteiligten, auf die Reaktivierung unbewusster Konflikte auf der Seite des Patienten und auf dessen Körpererleben, besonders in Situationen existenzieller Bedrohung. Sie machen auch auf Probleme der Konsiliar-Liaison-Arbeit im Organisationsgefüge der Klinik aufmerksam und informieren abschließend über die Schulung von Konsiliar-­ Liaison-Therapeuten. Literaturrecherchen zur Verbindung von Psychoanalyse und klinischer Medizin führen Gerhard Schüßler zu dem Ergebnis, dass die Psychoanalyse dort nur in Gestalt von Balint-Gruppen weiterexistiert. Nach einem Blick auf Michael Balints Leben und Wirken zeichnet er die Entwicklung der Balint-Arbeit international und im deutschsprachigen Raum nach und verweist insbesondere auf deren Institutionalisierung in der Regelausbildung der Ärzte und in der klinischen Praxis. Hinter der Teilnahmeverpflichtung steht die Absicht, möglichst alle Ärzte in die regelmäßige Reflexion ihrer Beziehung zu

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den Patientinnen und Patienten einzubinden, sie für die dabei aufkommenden Gefühle zu sensibilisieren (Übertragung/Gegenübertragung) und bei ihnen auf diese Weise eine partnerschaftliche und interaktive Einstellung zu erzeugen. Wie Schüßler belegt, sind die positiven Effekte der Balint-Gruppenarbeit nachweisbar. Eine Fallvignette demonstriert die Dynamik der Arzt-Patient/Arzt-Gruppenbeziehung. Sie macht sowohl die klärende und stützende Funktion der Gruppe sichtbar als auch die Gefahr der möglichen Isolation der Arzt-Patient-Beziehung im Klinikalltag. Wenn es zu Freuds Zeiten ein MRT gegeben hätte, so die These von Andreas Hamburger, so hätte er es sicherlich benutzt, um im Gehirn die Seele zu finden – und hätte sie ebenso wenig gefunden wie mit dem Mikroskop. Er hätte weitergehen müssen zu jener Beziehungstheorie, zu der die Psychoanalyse schließlich geworden ist. Von einem neurobiologischen Startpunkt aus, der erstaunliche Parallelen zum gegenwärtigen Stand der neurobiologischen Forschung (Singer) aufweist, entwickelte sie sich zur sozialen Subjekttheorie. Die interaktionalen Konzepte der Selbstpsychologie und der Objektbeziehungstheorie haben empirische Forschungsrichtungen wie die psychoanalytische Säuglingsforschung und das Bindungsund Mentalisierungsparadigma inspiriert, die heute im Zentrum der psychoanalytischen Entwicklungstheorie stehen. Der Beitrag zeigt den Übergang von der Junktim- oder Online-Forschung der analytischen Erfahrung zur multidisziplinären Erforschung der temporalen Mikrostruktur analytischer Sitzungen als Zukunft einer psychoanalytischen Grundlagenforschung, die auch für die unbewusste musikanaloge Koproduktion von Begegnungsmomenten im therapeutischen Dialog sensibilisiert. Martin Teising setzt mit seinen Überlegungen bei Freud an, dessen psychoanalytische Theoriebildung im Rahmen der Medizin beginnt. So hofft Freud anfangs auf eine naturwissenschaftliche Erklärung der Neurosen. Später, in seinen Aussagen zur »Laienanalyse«, zeigt er sich besorgt, dass die Psychoanalyse von der Medizin vereinnahmt werden könnte, und plädiert für einen freien Zugang auch von anderen Wissenschaften her. Auch nach der Entbindung der Psychologischen Psychotherapie von der Delegationspflicht durch Ärzte bleibt der Zugang zur Profession auf Ärzte und Psychologen beschränkt. Damit

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geht ihr einerseits das Potenzial der Humanwissenschaften verloren, andererseits sieht sie sich stärker als zuvor mit dem nomothetischen Wissenschaftsverständnis von Medizin und Psychologie konfrontiert, das einen verstehenden Zugang zum menschlichen Leiden erschwert. Unabhängig von wissenschafts- und professionstheoretischen Fragen sieht Teising die Notwendigkeit einer psychoanalytischen Reflexion der emotionalen Dimension des Arzt-Patient-Verhältnisses. Die Medizin bereichere nicht nur in diagnostischer, sondern auch in berufsethischer Hinsicht die Psychoanalyse. Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihre Mitwirkung an diesem Buch.

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Sigmund Freud, der »Arzt der Moderne«? Über Psychoanalyse und Medizin bei Freud und seinen Schülern

Die Freud-Biografie des Literaturwissenschaftlers Peter-André Alt (2016) trägt den Titel »Sigmund Freud. Der Arzt der Moderne«. Diese allzu griffige Formulierung vernachlässigt Freuds überaus kompliziertes Verhältnis zur Medizin (als Wissenschaft) ebenso wie zum Arzttum (als berufliche Praxis). Beide Ambi­valenzen sollen im Folgenden auf ihre persönlichen und sachlichen Hintergründe hin vergegenwärtigt und analysiert werden. Da die zu erörternden Inhalte komplexer Natur sind, stelle ich der Übersichtlichkeit halber die Thesen voran, die begründet werden sollen: 1. Freud wollte die Psychoanalyse als ein autonomes, von der Medizin unabhängiges psychologisches »System« konstituieren und abgrenzen. 2. Dabei ergab sich die Schwierigkeit, dass dieses angeblich autonome System sich an vielen Stellen als kryptobiologisch bzw. kryptomedizinisch unterlegt zeigte. 3. Indem die Psychoanalyse zur Bewegung heranwuchs, ergaben sich immer wieder punktuell Synergien (z. B. Kriegsneurosen) und Friktionen (z. B. Kurpfuschereivorwurf) zwischen Psychoanalyse und Medizinsystem. 4. Mit der sich seit den 1920er Jahren konstituierenden Psychosomatik brach die von Freud angestrebte strikte Abgrenzung von Psychoanalyse und Medizin vollends zusammen.

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Freud: Mediziner und Anti-Mediziner zugleich? In den »Studien über Hysterie« (1895d) gibt Freud seiner Verwun­ derung darüber Ausdruck, wie weit er sich anscheinend von seinen medizinischen Wurzeln entfernt habe: »Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elek­ troprognostik erzogen worden wie andere Neuropathologen, und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren« (S. 227). Ist das noch Medizin, was ich treibe?, scheint Freud sich an dieser Stelle zu fragen. Entbehrt es womöglich überhaupt des »ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit«? Ist es etwa gar »Literatur«? Dieselben Fragen hat sich später seine Mitwelt gestellt: Mehrmals war er für den Nobelpreis im Gespräch, und zwar sowohl für den der Medizin wie für den der Literatur; beide hat er nicht bekommen, er war offenbar etwas schwer Bestimmbares »dazwischen«. In der zitierten Passage bezeichnet er sich als »Psychotherapeuten«, der er nunmehr sei. Die Bezeichnung »Psychoanalytiker« war damals noch in weiter Ferne; den Begriff »Psychoanalyse« hingegen verwendet er schon 1896 zum ersten Mal, und zwar an ziemlich entlegener Stelle (Freud, 1896a, S. 416; Robert, 1986, S. 88). Ist der Psychotherapeut denn kein Arzt, kann man fragen, oder vielleicht nur eine andere Art von Arzt? Immerhin bleibt Freud dem medizinischen Sprachgebrauch lebenslang treu: Seine für ihn selbst verwunderlich literarischen Krankengeschichten bezeichnet er weiterhin als Krankengeschichten, vom »Psychotherapeuten« spricht er kaum jemals, sondern viel häufiger vom die Psychoanalyse ausübenden Arzt, z. B. »Ratschläge für den Arzt (!) bei der psychoanalytischen Behandlung« (1912e). Auch der Ausdruck »Behandlung« bezeichnet normalerweise die Tätigkeit des Arztes. Von Freud wird sie schon frühzeitig abgewandelt zu »Psychische Behandlung, Seelenbehandlung« (1890a). Die Medizinhistoriker Leibbrand (1953, S. 377 ff.) und später wesentlich ausführlicher Ellenberger (1973) haben gezeigt, wie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf breiter Front eine Abkehr von der materialistisch-technischen Medizin des späten

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19. Jahrhunderts (z. B. Virchow) einsetzte, für die der Unterschied zwischen Menschen- und Tierheilkunde »nur der Unterschied der Kundschaft« (Leibbrand, 1953, S. 378) war, hin zu einem Interesse für die psychische Seite der Medizin. Diese Emanzipationsbewegung sehen die Medizinhistoriker in den Hypnose- und Suggestionstherapien am Werk, ebenso wie etwas später in den sich ausdifferenzierenden tiefenpsychologischen Schulen. In diesem Kontext ist das Aufkommen der Begriffe »Psychotherapeut« bzw. »Psychotherapie« zu sehen, von denen noch nicht einmal ausgemacht ist, ob sich das mit ihnen Bezeichnete als Teil der Medizin oder womöglich auch als Gegenbewegung zu ihr verstehen will. Wenn also Freud sich hier als »Psychotherapeuten« bezeichnet – ein Ausdruck, den er später kaum noch verwendet –, so verweist dieser Sprachgebrauch auf den der Hypnotiseure (Forel), der (Wach-) Suggestionstherapeuten (Coué, Dubois) und vor allem auf seinen unmittelbaren Zeitgenossen Pierre Janet. Sie alle waren darauf bedacht, das Psychische als eine eigene Potenz dem Physischen gegenüberzustellen. Typisch, wenn auch überspitzt, ist ein z. B. von Forel als »Galimathias« kritisierter Satz von Dubois: »L’émotion est psychologique et non physiologique, elle est intellectuelle et non somatique« (Forel, 1889/1907, S. 188). Freuds von Anfang an ambivalentes Verhältnis zur Medizin, das sich in zahlreichen Äußerungen nachweisen lässt, ist auf zwei Ebenen zu betrachten: der persönlich biografischen und der wissenschaftsdogmatischen.

Freuds Entwicklung vom Neurologen zum Psychologen Was die biografische Ebene betrifft, liegen die Fakten ziemlich offen zutage: Freud strebte eigentlich eine wissenschaftliche Laufbahn in der Physiologie an, publizierte über weit vom Klinischen entfernte neuroanatomische und -physiologische Themen wie das Nervensystem des Aals – und musste auf den Rat seines Lehrers Brücke hin einsehen, dass eine akademische Karriere für ihn wenig aussichtsreich sei, teils wegen seiner privaten wirtschaftlichen Verhältnisse, die ihn die akademische Durststrecke bis zur Professur kaum überstehen lassen würden, teils auch wegen seiner jüdischen Abkunft, die eine

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akademische Berufung im nationalkonservativ-katholisch geprägten Wiener Universitätsmilieu stark behindern würde. Brückes Rat lautete, er solle die Niederlassung als Arzt anstreben. Nicht zuletzt weil er heiraten und eine Familie gründen wollte, folgte er dem Rat und ließ sich 1885 als Nervenarzt nieder. Aber auch hier gestaltete sich der Berufsstart schwierig: Von den rein neurologischen Patienten konnte er nicht leben, er musste etwas anderes, »Moderneres« und für eine zahlungskräftige Klientel Attraktiveres finden. Er wurde über seinen ärztlichen Mentor Josef Breuer mit der Hypnose bekannt und nahm an den Entwicklungen dieser neuen, überwiegend französisch geprägten Medizin mit Hypnose (Charcot, Forel) und Wachsuggestion (Bernheim, Liébeault) zunehmend lebhaften Anteil. Die Entwicklung Freuds vom Neurologen zum Psychologen lässt sich am detailliertesten in seinen Briefen an Wilhelm Fließ (1950a/1962) verfolgen. Am Anfang der Korrespondenz kommt er mehrfach auf eine offenbar von Fließ vermittelte Patientin Frau A. mit einer Gehstörung zu sprechen, die er nach dem ersten Kontakt eher als somatisch bedingt diagnostiziert: »keine Neurose«, vor allem weil das typische Merkmal begleitender Angstsymptome fehle. So führt er die Störung auf eine bereits vor 17 Jahren (!) durchgemachte »post­diphteritische Lähmung der Beine« zurück, die ein »punctum minimae resistentiae« hinterlassen habe. Schon nach einem Vierteljahr diagnostiziert er unbedenklich eine »gemeine zerebrale Neuras­ thenie« – aufgrund »chronischer Hyperämie des Schädelinhalts«, wie er gängige ärztliche Erklärungsmuster offenbar persi­flierend hinzufügt (S. 53). Ein weiteres Vierteljahr später ist die Störung verschwunden, die Diagnose Neurasthenie steht jetzt außer Zweifel, und Freud verordnet eine Wasserkur im Gebirge zur Rekonvaleszenz. Wenn man so will: 90 % Neurologie, 10 % Psychologie! Im Lauf der weiteren Fließ-Korrespondenz mit den diversen Beilagen bleibt als somatisches Element die Vorstellung von Neurasthenie als Folge sexueller Spannungen durchgehend erhalten, daneben aber drängt sich, gipfelnd im »Entwurf einer Psychologie« von 1895 (1950c), das psychologische Element, wenngleich auf dem Hintergrund neuronaler Verknüpfungen, immer mehr in den Vordergrund.

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Um es vorläufig und plakativ zu benennen: Unter Beibehaltung des gewohnten medizinischen Vokabulars entwickelt Freud sich gleichsam »unter der Hand« immer mehr vom Arzt zum Psychologen.

Freuds Psychologie – ein »System«? Diese Entwicklungslinie vom Neurologen zum Psychologen wird von den Freud-Biografen übereinstimmend wahrgenommen. Das Kapitel in Gays Freud-Biografie (1988), das den entscheidenden Entwicklungsschritt schildert, wie Freud sozusagen »zu Freud« wurde, ist überschrieben »A Psychology for Psychologists« (Gay, 1988, S. 117 ff.). Um eine solche war es Freud in der Tat zu tun. Das Material, woran Freud diesen seinen wissenschaftsdogmatisch zentralen Gesichtspunkt entwickelte, war der Traum; den Grundstein seines »Systems« legte er in der »Traumdeutung« (1900a). Freud ging es, wie Gay ausführt, um »a scientific theory of the mind«. »The principle of psychological determinism, the view of the mind as consisting of forces in conflict, the concept of the dynamic unconscious and the concealed power of passion in all mental activity, pervade its very texture« (S. 119). So weit, so richtig. Es ging Freud um eine Psychologie, die sozusagen auf ihren eigenen Füßen stehen konnte, die keine Anleihen bei der Physiologie mehr nötig hatte, wie die medizinisch-­ psychiatrischen Vorläufer sie brauchten, die vor ihm über den Traum geschrieben hatten. Gay ist indessen als Biograf und zudem Psychoanalytiker zu nahe an seinem »Helden«, um den notwendigen Schritt der objektivierenden Distanzierung tun zu können. Diese »reine Psychologie«, um die es Freud von der »Traumdeutung« an ging – hat er das Projekt denn auch wirklich umsetzen können? Schon 1979 (dt. 1982) hat sich der Wissenschaftshistoriker Frank J. Sulloway an einer »intellektuellen Biografie« Freuds versucht, die in der von Psychoanalytikern dominierten Freud-Biografik nur wenig Anklang gefunden hat. Gay (1988) nimmt, soweit ich sehe, keinen Bezug auf sie; Alt (2016, S. 29) bezieht sich an einigen wenigen, für die »intellektuelle Biografie« jedoch unwesentlichen Punkten darauf.

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Sulloway stellt Freud als »Kryptobiologen« in der Nachfolge Darwins vor und seine angeblich autonome, von der Physiologie unabhängige Psychologie als das Produkt der psychoanalytischen Heldenlegende. Detailliert weist er Freuds tastende Positionierungsversuche zwischen den Auffassungen der eher organisch denkenden Wiener Psychiater und Neurophysiologen und den franzö­sischen eher psychologisch konzipierten Erklärungen von Hysterie und Hypnose auf. Sulloways Konstruktion der Abhängigkeit Freuds von Darwin mag überzeichnet sein; sicherlich zutreffend indessen ist seine Demaskierung der psychoanalytischen Heldenlegende, die Freuds Schöpfung einer rein psychologischen Seelen- und Krankheitslehre als völlig unabhängig von historischen Vorläufern ebenso wie von aktuellen Trends in den Nachbarwissenschaften ausweisen wollte. Da Freuds Einführung unbewusster Variablen in das Modell des psy­chischen Apparats eng an die physiologische Vorstellung vom Reflexapparat angelehnt war (siehe seine Formulierung, der psy­ chische Apparat müsse (!) »gebaut sein wie ein Reflexapparat« (1900a, S. 540) – warum »muss« er das?, frage ich mich) und ebenso wenig wie später das Strukturmodell der Psyche mit Es, Ich und Über-Ich seine Abkunft von der Neuroanatomie des menschlichen Gehirns verleugnen kann – von Freud aber entgegen aller Evidenz geleugnet wird (verräterisch ist z. B. an seiner Seelenskizze von 1923b, S. 252 die dort eingezeichnete »Hörkappe« – die Psyche hat keine »Hörkappe«; höchstens das Gehirn mag eine haben). Freuds Orientierung in den Jahren 1880–1895, der Zeit seiner vor allem der »Hysterie« gewidmeten Zusammenarbeit mit Breuer, findet Sulloway (1982), sei »dualistisch« (S. 89 ff.) gewesen, beide hätten neben ihrer neurologischen Grundorientierung ein ausgesprochen »starkes Interesse für psychologische Prozesse« gehabt (S. 114). Im Zuge der Entfremdung von Breuer sei Freuds bedeutsamer »Entwurf einer Psychologie« entstanden. Freuds Psychologie aber sei dabei keineswegs zu jener »reinen Psychologie« geworden, wie Freud vorgab. Indessen habe er eine »Politik der wissenschaftlichen Unabhängigkeit« (S. 11) von den Nachbardisziplinen (bei Sulloway vor allem der Biologie, aber Gleiches gilt sicher von der Medizin) betrieben, die »seinen jungen und noch schwankenden Wissenschaftszweig in

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Gewahrsam zu nehmen drohte« (S. 603). Der Mythos von Freud als »reinem Psychologen« sei einer der Eckpfeiler gewesen, »an denen die traditionelle psychoanalytische Geschichtsschreibung lange ihr beeindruckendes Freud-Bild aufgerichtet« habe (S. 661 f.). Die von Freud in die Welt gesetzte Legende von der Ablehnung seiner Ideen durch die Wiener Ärzteschaft habe gleichfalls dazu gedient, die Politik der Unabhängigkeit zu untermauern. Auch Ferenczi (1933/1972) charakterisiert Freuds wissenschaftliches Weltbild als »dualistisch«: »Seine intellektuelle Redlichkeit führte ihn zur Erkenntnis der Tatsache, daß das Seelenleben nur von der subjektiven Seite durch introspektive Methoden zugänglich sei, und weiterhin zu der Feststellung, daß die psychische Rea­ lität der durch diese subjektiven Methoden erkannten Tatsachen unbezweifelbar sei. So wurde Freud zum Dualisten. Er verfolgt seine psychologischen Forschungen bis zu den menschlichen Trieben, die er als Grenzlinie zwischen dem Psychischen und dem Physischen betrachtet, eine Grenze, die seiner Meinung nach die psychologische Forschung nicht überschreiten sollte« (S. 294), eine Grenze zudem, die Ferenczi mit der von ihm postulierten »Bioanalyse« selbst soeben zu überschreiten im Begriff war – in enger Weggenossenschaft mit seinem Freund Georg Groddeck, der sich von Freud deshalb zahlreiche briefliche Rügen gefallen lassen musste (Bittner, 2016, S. 35 ff.). Freuds »intellektuelle Redlichkeit«, die ihn zu dieser Grenzziehung führte, soll nicht in Zweifel gezogen werden. Anderseits kann man darin auch ein Stück Wissenschaftspolitik erblicken: Er schuf sich auf diese Weise sein eigenes Reich. Die vielfach vorhandenen biologischen Einflüsse wurden verleugnet und unkenntlich gemacht, um die Fiktion einer rein empirisch-psychologisch begründeten Wissenschaft aufrechterhalten zu können – was ihn allerdings in eine Antiposition zu seiner medizinisch-biologischen Herkunft brachte (vgl. Sulloway, 1982, S. 372 ff.). »Es gibt zwei Methoden, eine psychologische Theorie aufzustellen«, meint Ellenberger (1973). Die eine führt induktiv von der Faktensammlung über die »Isolierung von Faktoren zu Verallgemeinerungen und Gesetzmäßigkeiten. Die zweite ist, ein theoretisches Modell aufzubauen und dann zu schauen, wie die Fakten sich hinein fügen, um dann, wenn nötig, das Modell umzubauen.

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Einer zu seiner Zeit weit verbreiteten Tendenz folgend zog Freud die letztere Methode vor« (S. 655). In der Fließ-Korrespondenz kann der Leser Freud beim Modellbauen an seinem »Entwurf einer Psychologie« gleichsam über die Schulter schauen. »In einer fleißigen Nacht der verflossenen Woche […] haben sich plötzlich die Schranken gehoben, die Hüllen gesenkt, und man konnte durchschauen vom Neurosendetail bis zu den Bedingungen des Bewußtseins. Es schien alles ineinander zu greifen, das Räderwerk paßte zusammen, man bekam den Eindruck, das Ding sei jetzt wirklich eine Maschine und werde nächstens auch von selber gehen« (Freud, 1962, S. 115). Nehmen wir die Metapher beim Wort: »das Ding«, die »Maschine«. Freud hat hier eine Kunstfigur geschaffen wie die Automaten und Spielfiguren des E. T. A. Hoffmann, denen er später eine bedeutende Abhandlung gewidmet hat, oder wie moderne Roboter, wo die Maschine wie ein wirklicher Mensch zu laufen beginnt: den später im englischen Sprachraum sogenannten »psychological man« (Rieff, 1969, zit. nach Dahrendorf, 1958/2006, S. 19). Freuds Psychologie ist, so folgere ich, eine Konstruktion, ein »System«: mit allen Vor- und Nachteilen eines solchen. Der Vorteil eines solchen Systems liegt auf der Hand: Es ist ein Ordnungsprinzip, das gestattet, die chaotische Welt der Erscheinungen zu sortieren und einzuordnen. Auch die Medizin ist in diesem Sinn ein (immer wieder anderes) System: Zu Freuds Zeiten war es z. B. bestimmt von Virchows Entwurf der Zellularpathologie oder auch vom legendären »Mechanistenschwur« von Helmholtz, Brücke und Dubois-Reymond, die sich demnach verschworen haben sollen nachzuweisen, dass im Organismus keine anderen Kräfte wirksam seien als die chemisch-physikalischen. Im Fall der oben erwähnten Frau A. z. B. hatte Freud zu wählen, ob sie ins System der Psychologie (10 %) oder in das der Neurologie (90 %) einzuordnen sei. Damit ist zugleich der entscheidende Nachteil berührt: Systeme haben Systemgrenzen, Übergänge oder ein »sowohl als auch« sind nicht vorgesehen; entweder ist es bei Frau A. der Folgezustand einer Diphterie oder eine Neurasthenie. Übergänge und Mischformen sind systemwidrig und müssen daher »verdrängt« werden.

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Psychoanalyse und Medizinsystem: Synergien (»Kriegsneurosen«) und Dissonanzen (»Laienanalyse«) Schon in der Einleitung zu seinen »Vorlesungen« (1916–1917a) hatte Freud seine überwiegend medizinischen Hörer darauf vorbereitet: Was sie hier zu hören bekämen, würde etwas anderes sein als Medizin, auch etwas anderes als Psychiatrie (S. 13). Die im Folgenden zu behandelnden Ambivalenzen zwischen Psychoanalyse und Medizin in ihrer zweiten Phase waren weniger in der wissenschaftlichen Axiomatik als vielmehr in den berufspolitisch praktischen Gegebenheiten begründet. Ein explizites Interesse von Medizin und Gesundheitspolitik an der Psychoanalyse manifestierte sich in der Tatsache, dass auf dem Internationalen Budapester Kongress 1918 (Bericht von Ferenzci u. v. Freund, 1919) unmittelbar nach Kriegsende zwar nur wenige Psychoanalytiker, dafür aber Ministerialbeamte der österreichischen, ungarischen und deutschen Ressortministerien offiziell als Beobachter teilnahmen. Der Grund für dieses überraschende Interesse seien die Kriegsneurosen gewesen, denen die offizielle Psychiatrie während des Krieges relativ hilflos gegenübergestanden habe. Besondere Aufmerksamkeit hätten die Erfahrungen des deutschen Arztes und Psychoanalytikers Ernst Simmel in einem Militärhospital während des Krieges gefunden (Gay, 1988, S. 376). Auch Freuds dortiger Kongressbeitrag (1919a) kehrt (vielleicht im Blick auf die Hospitanten) die Nähe zur Medizin heraus: Gleich einleitend spricht er von »unserer ärztlichen Aufgabe« (S. 183), betont das gelegentlich notwendige Aktivwerden des analytischen Arztes bis hin zur grundsätzlichen Bereitschaft, »das reine Gold der Analyse mit dem Kupfer der direkten Suggestion zu legieren«, wo dies in der »Massenanwendung unserer Therapie« notwendig sein sollte (S. 193). Er fasst »Anstalten und Ordinationsinstitute« für die ärmeren Schichten ins Auge, »an denen psychoanalytisch ausgebildete Ärzte angestellt sind« (S. 193), und erwähnt zum Schluss auch die zurückliegenden Erfahrungen in der Behandlung der Kriegsneurotiker. »Die Erfahrungen an Kriegsneurotikern«, sagt Ferenczi in seinem Budapester Vortrag etwas süffisant, »führten allmählig (sic!) etwas weiter als zur Entdeckung der Seele« – »sie führten die Neurologen beinahe zur Entdeckung der Psychoanalyse« (S. 19).

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Auf Konfrontationskurs mit der Medizin hingegen führte der Streit um die Laienanalyse, das heißt um die Frage, ob auch andere als Ärzte die Psychoanalyse ausüben dürften, wie z. B. Oskar Pfister, der sie als Pfarrer in Zürich vor allem im Rahmen seiner Konfirmandenseelsorge, oder Hans Zulliger, der sie als »kleine Psychotherapie« bei Erziehungsschwierigkeiten in der Schule praktizierte. Der Streit spitzte sich im Jahr 1925 zu, als der nichtärztliche Psychoanalytiker Theodor Reik in Wien wegen Kurpfuscherei angeklagt wurde. In diesem Kontext entstand Freuds Abhandlung »Die Frage der Laienanalyse« (1926e). Freud geht hier auf grundsätzliche Distanz: Es sei nicht zu wünschen, dass »die Psychoanalyse von der Medizin verschluckt werde« (S. 283). Nach seiner dezidierten Meinung gab es keinen sachlichen Grund, die Zulassung zur psychoanalytischen Ausbildung und Tätigkeit auf Ärzte zu beschränken. Freuds Vorstellungen waren auch unter den Psychoanalytikern umstritten. Auf einem Symposium 1927 prallten die Meinungen hart aufeinander, selbst in Freuds Wiener Gruppe: Reik sprach sich (nicht ganz unparteiisch, wie er einräumt) dafür aus, Hitschmann, Sadger und Deutsch (sämtlich Ärzte) dagegen: mit rechtlichen oder medizinischen Begründungen. England und Ungarn waren eher laienanalysefreundlich eingestellt, am dezidiertesten war die Ablehnung in den USA (Gay, 1988, S. 495 ff.). Da das medizinische (und sicherlich einleuchtende) Hauptargument darin bestand, dass nur der Arzt eine medizinisch behandlungsbedürftige körperliche Krankheit ausschließen könne, erklärt sich daraus, wie wichtig es Freud z. B. in seinen Auseinandersetzungen mit Groddeck war, die Grenze zwischen psychischen Krankheiten, die in die Zuständigkeit der Psychoanalyse fallen sollten, und physischen, für die die Medizin zuständig sei, so strikt zu verteidigen. Freud lässt in seiner abschließenden Stellungnahme (1926a) zu dieser unendlich langen Diskussion in den Heften 1 bis 3 der »Internationalen Zeitschrift« (1927), in der sich immer wieder die gleichen Argumente wiederholten, eine gewisse Resig­nation anklingen, gibt aber doch in einigen Punkten nochmals eine dezidierte eigene Stellungnahme ab, vor allem: »daß die Psychoanalyse kein Spezialfach der Medizin ist […]. Die Psychoanalyse ist ein Stück Psychologie, auch nicht medizinische Psychologie im alten Sinne oder Psycho-

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logie der krankhaften Vorgänge, sondern Psychologie schlechtweg« (S. 289)  – ebenso wie Elektrizitäts- oder Strahlenlehre Teile der Physik seien, auch wenn sie von der Medizin in Dienst genommen werden könnten. Er schließt: »Die […] medizinische Ausbildung erscheint mir als ein beschwerlicher Umweg zum analytischen Beruf, sie gibt dem Analytiker zwar vieles, was ihm unentbehrlich ist, lädt ihm aber außerdem zu viel auf, was er nie verwerten kann« (S. 288). Für eine Übergangszeit, so gesteht Freud zu, »solange die Schulen nicht bestehen, die wir uns für eine Heranbildung von Analytikern wünschen, sind die ärztlichen Personen das beste Material für den künftigen Analytiker. Nur darf man fordern, daß sie ihre Vorbildung nicht an Stelle der Ausbildung setzen […], daß sie der Versuchung widerstehen, mit der Endokrinologie und dem autonomen Nervensystem zu liebäugeln, wo es darum geht, psychologische Tatsachen durch psychologische Hilfsvorstellungen zu erfassen« (S. 294). Also auch für die Mediziner gilt: psychologia psychologice! Schließlich lehnt er die lässige Sprachgewohnheit ab, die »ärztliche« als die »richtige Analyse« von deren »Anwendungen« abzugrenzen. »In Wirklichkeit verläuft die Scheidungsgrenze zwischen der wissenschaftlichen Psychoanalyse und ihren Anwendungen auf medizinischem und nichtmedizinischem Gebiet« (S. 295). Alle diese Punkte laufen darauf hinaus, die Psychoanalyse als »ein Stück Psychologie« – oder vielleicht richtiger noch: als eine Wissenschaft sui generis zu postulieren, die methodisch autonom ihren eigenen Erkenntnisgesetzen folgt und ebenfalls nur nach Methoden sui generis gelehrt und gelernt werden kann. Dies würde zum Konzept einer Psychoanalytischen Universität führen, wie es heute in Berlin und Wien realisiert ist.

Freud und der Nobelpreis: Literatur, Medizin oder keins von beiden? Der schwedische Psychologe Nils Wiklund (2007) hat die Geschichte der gescheiterten Versuche, Freud für die Nobelpreise für Literatur und für Medizin zu nominieren, unter Benutzung des Materials der Schwedischen Akademie nachgezeichnet. Zum erstgenannten ist hier nicht viel zu sagen: Der Vorschlag kam von Romain Rolland,

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der gerade selbst den Nobelpreis bekommen hatte; er wurde von den Gutachtern abgelehnt. Der Nobelpreis für Medizin war längere Zeit in der Diskussion. Bereits in den Jahren 1915–1920 wurde Freud mehrfach vorgeschlagen und dann nochmals mehrfach in den Jahren 1927–1937. Hier erscheinen die letzten Endes zwar ablehnenden Gutachten substanzieller und gerechter das Für und Wider abwägend. Einer der Gutachter, der schwedische Psychiater Viktor Wigert, urteilte 1933, »Freuds Betrachtungsweise sei in hohem Grad revolutionierend. Auch wären mehrere ›Entdeckungen‹ Freuds so wichtig für die Psychiatrie, daß ein Nobelpreis sicherlich in Frage kommen könne. Das Problem sei jedoch, daß Freuds Lehren immer noch unbewiesen seien – die Verleihung eines Nobelpreises aber setze voraus, daß die zu belohnende Entdeckung völlig gesichert sei« (Wiklund, 2007). Besser lässt sich das Dilemma »Freud und die Medizin« kaum charak­terisieren: revolu­tionäre Entdeckungen, von durchaus nobelpreis­würdiger Wichtigkeit für die Psychiatrie – aber eben nicht im strengen Sinn der Medizin bewiesen, die »unumstößliche naturwissenschaftliche Beweise« verlange. Freud spielte eben nicht in dieser Liga. Einstein hat den Nagel wohl auf den Kopf getroffen, als er damals urteilte: Es erscheine ihm zweifelhaft, ob ein Psychologe wie Freud für den Medizinnobelpreis tatsächlich wählbar sei (Gay, 1988, S. 456, Fußnote). Da haben wir es: Daniel Kahneman, der einzige Psychologe, der bisher meines Wissens einen Nobelpreis erhielt, bekam den für Wirtschaftswissenschaft! Für Psychologen gibt es eben anscheinend keinen Nobelpreis, welcher Richtung sie auch angehören mögen.

Freuds Stolperstein: die Psychosomatik Freud hatte die Psychoanalyse »als Psychologie« begründen wollen, »dualistisch« hatte Ferenczi diesen Ansatz genannt. Damit aber war der Körper nicht aus der Welt geschafft, auch »als Psychologe« (der noch dazu von Hause aus Arzt war!) musste sich Freud wohl oder übel zu ihm verhalten. Wie kommt das Psychische in den Körper? Die Antwort, die der »Dualist« Freud fand: durch Konversion. Psychische Zuständlich-

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keiten, also vor allem unintegrierbare Affekte, können ins Körperliche verschoben werden und sich dort als hysterisches Symptom manifestieren. Diese Vorstellung stammt aus Freuds frühester Zeit; schon bei Anna O., der »Urpatientin« der Psychoanalyse, waren solche Konversionssymptome reichlich zu finden. Besonders bekannt ist die Episode (Breuer, 1895/1979, S. 243 f.) mit dem kleinen Hund ihrer Gesellschafterin, einem »ekelhaften Tier«, das aus dem Glas seines Frauchens trank. Anna, die das beobachtete, konnte plötzlich nicht mehr trinken: Der Ekelaffekt war in eine körperliche Funktionshemmung »konvertiert« worden. Der Ekelaffekt wird im hyste­rischen Symptom ver-leiblicht. Dieses Konversionsmodell blieb in der Psychoanalyse während der nächsten zwanzig Jahre mehr oder weniger unangetastet. In die Diskussion kam erst Bewegung, als der Baden-Badener Naturheilarzt Georg Groddeck (1866–1934) am 27. Mai 1917 mit einem langen Brief Kontakt zu Freud aufnahm (Groddeck u. Freud, 1974). Er schildert dort die Erfahrungen, die ihn in seiner Arbeit mit somatisch Kranken von der Richtigkeit der psychoanalytischen Annahmen wie Verdrängung und Widerstand überzeugt hätten. In diesem Brief hatte Groddeck seine theoretische Position umrissen: »[…] daß Körper und Seele ein Gemeinsames sind, daß darin ein Es steckt, eine Kraft, von der wir gelebt werden, während wir zu leben glauben« (S. 9). Freud ist begeistert von Groddecks Beispielen, von denen viele, aber durchaus nicht alle, im heutigen Sinn als »psychosomatisch« klassifiziert werden können (etwa das Arthrose-Beispiel in Groddeck, 1923, S. 159 ff.). Strittig bleibt aber bis ans Ende ihres beiderseitigen wissenschaftlichen Austausches (Groddeck starb 1934) dessen monistisches und vitalistisches Dogma, wie bereits zitiert. Freud hält es für einen mystizistischen Irrweg, den Unterschied zwischen Seelischem und Körperlichem aufzuheben. Das seien »philosophische Theorien […], die nicht an der Reihe sind« (Groddeck u. Freud, 1974, S. 15, zu Groddecks vitalistischer Konzeption vgl. Fröhlich, 2016). Freuds Paradigma ist ein klar begrenzt psychologisches. Ihn interessieren allein die Verknüpfungen und Kausalitäten im Seelischen, das Körperliche kommt, wie in der Konversion, lediglich als Erfolgsorgan für Seelisches in Betracht. Der Dissens zwischen beiden findet

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seinen Höhepunkt 1923, als Groddeck sein »Buch vom Es« veröffentlicht und Freud nur wenige Monate später seine Abhandlung »Das Ich und das Es« (1923b), worin er Groddecks Es-Begriff übernimmt, ihn aber in sein eigenes Modell vom Ich, Es, Über-Ich einpasst, was Groddeck als eine Art Verstümmelung und Domestizierung seines »all-waltenden« Es empfindet. In der Zwischenzeit hatte Groddeck an Sándor Ferenczi (1873– 1933) einen Bundesgenossen und Freund unter den Psychoanalytikern gefunden, dessen Gedanken sich in eine ähnliche Richtung bewegten und der seinerseits das strikt begrenzte psychologische Paradigma Freuds aufzusprengen versuchte, indem er eine »Bio­analyse« projek­ tierte (1924/1972). Obwohl Freud sich Ferenczi gegenüber nicht so dezidiert äußerte, würde er den Groddeck gegenüber explizit erhobenen Vorwurf, das Organische »mutwillig« zu beseelen (Groddeck u. Freud, 1974, S. 137), der Sache nach vermutlich auch gegen Ferenczi erheben. Ferenczi, Groddeck und später Wilhelm Reich also versuchten, die von Freud strikt gesetzte und verteidigte Grenze seines »psychologischen Paradigmas« zu sprengen. Es ist nunmehr eine Reihe von Schülern Freuds zu würdigen, die im Kontext der sich konstituierenden psychosomatischen Betrachtungsweise bedeutende Beiträge geleistet haben. Felix Deutsch, Viktor von Weizsäcker und Franz Alexander versuchten auf je unterschiedliche Weise, die Ferenczi-Groddeck’sche Spekulation auf den Boden des wissenschaftlich Nachvollziehbaren zurückzuholen, während Siegfried Bernfeld, der einzige Psychologe in dieser Reihe von Ärzten, sich mit Ferenczi überwiegend kritisch auseinandersetzte, an Freuds Postulat einer »reinen Psychologie« ohne Abstriche festhalten wollte und dafür Sukkurs in der akademischen Psychologie seiner Zeit suchte. Felix Deutsch (1884–1964) war von Freud einmal scherzhaft zum »Verbindungsoffizier« zwischen Medizin und Psychoanalyse ernannt worden (Deutsch, 1973/1975, S. 104). Er war von Hause aus Internist und wandte sich relativ spät, vielleicht unter dem Einfluss seiner Frau (vgl., wenn auch bestreitend, S. 106) der Psychoanalyse zu. Weil Freud sich mit der Kritik an Groddeck sehr zurückhielt, da »seine persönliche Sympathie stets dem ›Narren‹ galt, der Person, die nicht zu eng auf die Realität fixiert ist«, wie Helene Deutsch

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bemerkt (S. 134), fiel dem nüchternen Felix Deutsch die Aufgabe zu, Groddecks Vorstellungen (und zwar durchaus wohlwollend kritisch) zu kommentieren, was aber Groddeck anscheinend dennoch übel nahm. Einige Passagen in seinem »Buch vom Es« (1923) werden als Rache an Deutsch verstanden (Hristeva, 2008, S. 481), was mir schwerfällt nachzuvollziehen, denn als bösartig kann ich die Bemerkung bei Groddeck (1923, S. 303 f.)1 nicht empfinden – ebenso wenig freilich wie Deutschs Kritik an Groddeck. Noch zehn Jahre nach dieser Kontroverse gedenkt Deutsch durchaus respektvoll der durch Ferenczi vorbereiteten Konzeption Groddecks, die damals so ungewöhnlich geklungen habe, heute aber »zum großen Teil schon zu den Binsenwahrheiten bei Freud und seinen Schülern« gehöre (Deutsch, 1933, S. 131). Seinen eigenen Ansatz fasst er in drei Thesen zusammen: »erstens: in jeder organischen Krankheit geht eine Neurose im Kleinen vor sich; zweitens: die aus dem Unbewußten stammenden Triebkräfte geben die Grundlage für den individuellen Ablauf der organischen Krankheit ab; drittens: diese im Organischen in der Krankheit ablaufenden seelischen Vorgänge, die das Krankheitsgeschehen ändern, sind analytisch faßbar und aufklärbar« (S. 131 f.). Er erläutert seinen Ansatz an einer Reihe internistischer Krankheitsbilder, z. B. Adipositas, Asthma bronchiale, Polydipsie. Deutsch sieht in dieser (nach meinem Eindruck sehr eleganten) Theorie einen Rückzug von der »Antithese von ›Psychisch‹ oder ›Somatisch‹« (S. 132). Doch muss auch festgestellt werden, dass damit 1 Der Schluss des letzten »Briefes« von Groddeck handelt vom verhinderten Hergeben des körperlichen Drecks in der Urämie. Abends vor dem Einschlafen habe er in einer psychoanalytischen Zeitschrift die Notiz gefunden, dass »Felix Deutsch in Wien einen Vortrag über Psychoanalyse und organische Krankheit gehalten hatte«. Beim nächtlichen Versuch, sich die Psychodynamik der Urämie klarzumachen, sei ihm der Name »Felix« durch den Kopf geschossen. Felix war ein Schulfreund, der an Urämie verstorben war; Felix hieß aber auch »der Herr, der über Psychoanalyse und organische Krankheiten gesprochen hatte« (1923, S. 303 f.). Das ist schon alles. Wenn man unbedingt will, kann man unterstellen, dass er auch den Vortrag von Felix Deutsch für »Dreck« hielt, das scheint mir aber doch zu weit hergeholt.

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zugleich deren grundsätzliche Zweiheit festgeschrieben wird, die Groddeck gerade überwinden wollte. Im gleichen Heft der »Internationalen Zeitschrift« von 1933 findet sich ein umfangreicher Text von Viktor von Weizsäcker (1886–1957) zu »Körpergeschehen und Neurose«. Von Weizsäcker, damals schon Abteilungsleiter an der Krehl’schen Klinik in Heidelberg und nicht so unmittelbar zum Kreis der Schüler gehörig, beschrieb dort einen Fall von Harnverhaltung, den er auf eine psychisch bedingte Funktionsstörung der beiden Subsysteme des vegetativen Nervensystems bezog, also genau das tat, was Freud wenig zuvor als Liebäugeln mit dem vegetativen Nervensystem ironisiert hatte. Freuds Brief an von Weizsäcker nach Lektüre des Manuskripts klingt wie eine halbe Kapitulation vor dem angesichts der Medizinerphalanx Unvermeidlichen. »Sie zeigen uns […] den feineren Mechanismus der Störung auf, indem Sie auf entgegengesetzte Innervationen hinweisen […]. Von solchen Untersuchungen mußte ich die Analytiker aus erzieherischen Gründen (!) fernhalten, denn Innervationen, Gefäßerweiterung, Nervenbahnen wären zu gefährliche Versuchungen für sie gewesen, sie hatten zu lernen, sich auf psychologische Denkweisen zu beschränken« (zit. nach Henkelmann, 1986, S. 122). Siegfried Bernfeld (1892–1953), Psychologe und insofern nicht im Sog der Medizinerschaft, hielt sich strikt an Freuds Vorgabe, »sich auf psychologische Denkweisen zu beschränken«. Er schrieb eine Kritik zu Ferenczis Projekt der »Bioanalyse« und nahm zugleich Franz Alexander als medizinischen Kontrahenten ins Visier. Schon früher hatte er versucht, Freuds Idee, die Libido als eine »quantitative Größe« zu betrachten, die prinzipiell messbar sein müsste, experimentalpsychologisch umzusetzen, was aber nicht überzeugend gelang. Seine zusammen mit Feitelberg entwickelten Versuchsanordnungen zur »Libidometrie« imponieren heute nur noch als Skurrilität der Psychoanalysegeschichte, als der missglückte Versuch, etwas messend zu objektivieren, was sich prinzipiell der Messbarkeit entzieht (vgl. Bittner, 2016, S. 61 ff.). Interessanter im gegenwärtigen Kontext ist die spätere Idee Bernfelds (1937), das hoch spekulative Ferenczi’sche Konzept einer Bioanalyse empirisch psychologisch überprüfbar zu machen, was Freuds oben zitiertem Postulat entspräche, »sich auf psychologische Denk-

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weisen zu beschränken«. Ferenczi hatte als Demonstrationsbeispiel ein ähnliches zugrunde gelegt wie später von Weizsäcker mit der Harnverhaltung: Er ging vom physiologischen Antagonismus der männlichen Samenentleerung aus, zu deren Gelingen expulsive und retentive Kräfte zusammenwirken müssten. Eine Störung dieses antagonistischen Zusammenspiels führe zu Eiaculatio praecox bzw. Impotenz. Bernfeld kritisiert das als unwissenschaftliche physiognomische Impressionen, die auf eine Art romantische Naturphilosophie hinausliefen. Wissenschaft (und das heißt für ihn: Naturwissenschaft) verlange »das Abstrahieren vom konkreten Eindruck zu Gunsten einer zugrunde liegenden mathematisierbaren Struktur«. Eine solche entwirft er in Anlehnung an die damals gerade aufblühende mathematisch-topologische Feldtheorie und operiert dabei in ähnlicher Weise mit Feldkräften (»Vektoren« im »topologischen« Raum) wie der bedeutende Experimentalpsychologe Kurt Lewin, dessen Ansatz er zwar offensichtlich kannte, auf dessen Diskussion er sich aber hier nicht einlassen wollte. Bernfeld beruft sich (S. 235) auf noch unpublizierte Versuche, die er auf der Grundlage dieses Modells vorgenommen habe, von deren Publikation aber nie etwas bekannt geworden ist (Ulrich Herrmann, mündliche Mitteilung). Auch die parallelen Versuche Kurt Lewins mit dem topologischen Modell brachten offenbar weniger ein, als dieser sich erhofft hatte; dieses Modell scheint heute in der Hauptsache nur noch von historischem Interesse zu sein. Bernfeld polemisiert in seinem Aufsatz gegen den Arzt und Psychoanalytiker Franz Alexander (1891–1964), der sich gleichfalls an der Diskussion über Ferenczis Bioanalyse beteiligte. Auch Alexander knüpft an Ferenczis Spekulation über Grundrichtungen psychischer Prozesse (Einverleiben, Ausstoßen, Zurückhalten) an. Auch er sieht hier in Vektorsprache formulierbare dynamische Beziehungen, die »den biologischen Prozessen zugrunde liegen« (Alexander, 1935, S. 484). Bernfeld (1937) kritisiert, dass Alexander sich hier des Vektor-­ Jargons bediene und damit eine »mathematikartige Ausdrucksweise« erreiche. Doch: »Um mit diesen psychischen Vektoren zu operieren, müßte man die Kräfte messen [Hervorhebung G. B.], die im Spiele sind« (S. 226).

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Alexander hatte wohl wirklich nicht im Sinn, diese psychischen Kräfte zu »messen«, obwohl er noch in seinem bedeutenden Lehrbuch der Psychosomatischen Medizin (1950/1951) postuliert, dass die psychischen Faktoren, die physiologische Prozesse beeinflussen, »denselben peinlich exakten Untersuchungsmaßstäben unterworfen werden müssen, wie es bei der Untersuchung der physiologischen selbstverständlich ist« (Alexander, 1950/1951, S. VII). In der Praxis wurde für ihn gerade umgekehrt ein Schuh daraus. Er maß und dokumentierte die physiologischen Parameter, von denen er auf die psychologischen zurückschloss. Dabei kam ihm sein monistisches Credo zuhilfe, dem sich die subjektiven Phänomene, mit denen es die Psychologie zu tun hat, als die »Spiegelungen […] physiologischer Prozesse« (S. 18) darstellten. Man sieht: Freuds Postulat, die Psychoanalytiker hätten zu lernen, »sich auf psychologische Denkweisen zu beschränken«, hatte vor der Realität der psychosomatischen Phänomene keinen Bestand. Weder erwies es sich als möglich, das Psychische direkt zu »messen«, wie es Freud vorgeschwebt und wie es Bernfeld experimentell umzusetzen versucht hatte, noch war die Phalanx der ärztlichen Psychoanalytiker bereit, auf die ihnen so reichlich als Auskunftsquelle zur Verfügung stehenden physiologischen Korrelate psychischer Prozesse zu verzichten.

Freud und die Medizin – ein persönliches Resümee Freud hatte mit der »Traumdeutung« (1900a) seinem Gefühl nach etwas Eigenes und Einzigartiges, in seiner Art noch nie Dagewesenes geschaffen: »So autochthon war noch keine meiner Arbeiten, mein eigen Mistbeet, mein Setzling«, wie er am 28.5.1899 an Wilhelm Fließ schrieb (Freud, 1962, S. 242). Analoges lässt sich von seiner Psychoanalyse im Ganzen sagen, die auf der Traumpsychologie aufbaute. Insofern war seine Politik folgerichtig, diesen »Setzling« einzuhegen und abzugrenzen gegen die zeitgenössische Bewusstseinspsychologie, die er im Wesentlichen ignorierte, später auch gegen Abweichler von seiner Lehre in den eigenen Reihen – vor allem aber gegen seine Herkunftsdisziplin, die Medizin. Deren Nutzlosigkeit für den angehenden Psychoanalytiker hat er nirgends so kompromiss-

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los behauptet wie in seinen Beiträgen zur Diskussion um die Laienanalyse. Nun hatte er also sein »Mistbeet«, sein geistiges Territorium, abgegrenzt, sein Feld bestellt und »Grenzüberschreiter« wie Ferenczi, Groddeck und Reich mehr oder weniger energisch in die Schranken gewiesen. Wie viel er selbst von seinem Medizinerbe in dieses »Mistbeet« übernommen hatte, wie sehr seine Schöpfung (auch) eine »Kryptobiologie« (Sulloway, 1982) bzw. »Kryptomedizin« war, das war ihm vielleicht selbst nicht bewusst. Andererseits aber scheint es ebenso möglich, dass er gerade aufgrund seiner ihm bewussten, tiefen Verwurzelung im biologischen und medizinischen Denken seiner Zeit die Anleihen von dort überhaupt nicht als Überschreitung irgendeiner fachlichen Grenze wahrnahm. Seine Schüler waren großteils Ärzte. So war dafür gesorgt, dass das medizinische Element in der Psychoanalyse präsent blieb und in der Diskussion über die psychosomatischen Krankheiten und ihre Behandlung die von Freud mühsam verteidigten Grenzzäune schließlich überrannte. Bernfeld, der Nicht-Mediziner, hatte Freuds Postulat der Psychoanalyse als einer Psychologie, die auf eigenen Füßen steht, ernst genommen und forschungspraktisch umzusetzen versucht – mit welchem Erfolg bzw. Misserfolg, wurde bereits dargelegt. Sein Gegenpol Alexander hingegen wurde zum Begründer der wissenschaftlich-akademischen Psychosomatik, indem er die Wirksamkeit des Unbewuss­ten im Krankheitsgeschehen an deren neuronalen und humoralen Korrelaten aufwies. Der Dissens zwischen Bernfeld und Alexander scheint mir das Problem der Selbstpositionierung der Psychoanalyse widerzuspiegeln, wie es sich bis heute ungelöst darstellt. Bernfeld war der »naive Realist«, der glaubte, Freuds »Libido« als etwas real Existierendes ansetzen und mit einer geeigneten Versuchsordnung sogar messen zu können, womit er offenbar einen Gedanken von Freud selbst umsetzte. Er glich insofern den Schildbürgern, die meinten, das Sonnenlicht, das sie zuvor »verdrängt« hatten, weil sie es versäumten, in ihr Rathaus Fenster einzubauen, nachträglich in Säcken hineintragen zu können – ein schönes Bild naiver Verdinglichung von etwas, was auf diese handgreifliche Art eben nicht zu greifen war.

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Dies mag Anlass geben, sich die Frage vorzulegen: Wie bewerten wir heute den Freud’schen strikten Dualismus im Vergleich zu den monistischen Tendenzen bei Ferenczi, Groddeck und anderen von der Medizin herkommenden Psychoanalytikern wie z. B. Alexander? Marc Solms (2008) hat das Bild von den »zwei Fenstern« gebraucht, durch die ein Blick auf die – an sich unerkennbaren – Prozesse im Unbewussten geworfen werden kann: die Beobachtung subjektiven seelischen Erlebens und die Dokumentation von dessen neuronalen Korrelaten. Dies würde für einen zumindest methodologischen Dualismus sprechen (wobei allerdings gefragt werden kann, ob das, was durch diese beiden »Fenster« gesehen werden kann, von gleichem epistemologischen Gewicht ist). Ebenso viel spricht allerdings andererseits für den ontologischen Monismus: »das Unbewuss­te« als eine Verfasstheit des Seelischen, das mit dem Leiblichen koinzidiert, als solches aber nicht darstellbar ist: die »große Unbekannte X« (Bittner, 2016). Die Wahrheit scheint mir zu sein, dass alle die »Dinge«, von denen die Psychoanalyse handelt, angefangen vom Ödipuskomplex bis hin zum Todestrieb, von ziemlich ungreifbarer Beschaffenheit sind. Sie lassen sich als solche weder verifizieren noch falsifizieren, sondern allenfalls anhand ihrer somatischen Korrelate als plausible Annahmen erweisen. Dies war der von Alexander eingeschlagene Weg. Vielleicht hat es also doch seinen guten Sinn, dass es keinen Nobelpreis für Psychologie gibt und dass Freud deshalb keinen bekommen konnte. Das Psychische (und gar noch das »unbewusst« Psychische!) ist nun einmal wissenschaftlich kaum zu fassen. In seinen frühen Jahren schrieb Freud, das Unbewusste sei etwas, »was man wirklich nicht weiß« (1905c, S. 185). Die Psychoanalyse, folgerte ich daraus, sei der wissenschaftlich gesehen zwar paradoxe, aber nichtsdestoweniger notwendige Diskurs über das Nicht-Wissbare. Karl Popper (1973) unterteilte einmal das in der Welt Vorkommende in »Uhren« und »Wolken« (nebst Übergängen zwischen beiden). »Uhren« sind dinglich kompakt und berechenbar, »Wolken« etwas eher Unbestimmtes und kaum Fixierbares. Alle sogenannten Wissenschaften brennen heutzutage darauf, ihren Gegenstand als »Uhr« zu stilisieren (sogar die Meteorologie mit ihren notorisch

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schlechten Voraussagen). Auch die Psychologie, vor allem die experimentelle, aber auch Freuds Psychoanalyse (trotz seiner oben zitierten frühen Äußerung) behandelt ihren Gegenstand wie eine »Uhr«, obwohl er doch das Allerwolkigste ist, was es gibt. Gerade wegen dieser Wolkigkeit, vor allem der unbewussten seelischen Prozesse, müsste alles zur Sicherung ihrer Erkenntnis willkommen sein, was wenigstens von Ferne an eine »Uhr« erinnert: vor allem die psychophysischen Korrelate dieser Prozesse, wie sie die Medizin (heute vor allem die Neurowissenschaft und die Psychoneuroendokrinologie) bereitstellt.

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Günther Bittner und Volker Fröhlich

Über den Psychomorphismus organischer Krankheiten

Vorbemerkungen Die nachfolgenden Überlegungen sind der Frage gewidmet: Ist es sinnvoll, eine augenscheinlich nicht psychosomatische Erkrankung dennoch psychoanalytisch zu »deuten«, das heißt, ihr einen verborgenen psychischen Sinn zu unterstellen? Solche Überlegungen sehen sich auf Georg Groddeck und den ihm freundschaftlich verbundenen Sándor Ferenczi verwiesen: auf den Ersteren, weil er eben dies, was hier zur Erörterung steht, im Umgang mit seinen Patienten praktizierte, auf den Letzteren, weil er in seinem »Versuch einer Genitaltheorie« (1924/1970) den »Psychomorphismus« des Biologischen und zugleich, wenn auch weniger explizit, den »Biomorphismus« des Psychischen theoretisch postulierte. Letztendlich geht es darum, diese als antiquiert abgehakten Verschränkungen von Psychomorphismus und Biomorphismus, wie von Ferenczi und Groddeck vertreten, erneut auf die Tagesordnung zu setzen. Die eigenen Krankheiten, von denen die Verfasser bei ihren Überlegungen ausgehen, waren in der Blütezeit der Psychosomatik in den 1950er bis 1970er Jahren als psychosomatisch verursachte zumindest in der Diskussion. Heute versteht man die zugrunde liegenden pathophysiologischen Mechanismen weitaus besser. Aber ist das ein Grund, sie als psychosomatische fallen zu lassen? Ist »psychosomatisch« nur eine Restkategorie für das, was man (noch) nicht pathophysiologisch ableiten kann? Und welche Rolle spielt bei solchen wechselnden Bewertungen die Akademisierung der Psychosomatischen Medizin?

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Die Krankheitsgeschichten Günther Bittner: Eines Morgens hatte ich auffällig rötlich-braunen Urin. Nachdem ich mittels Teststäbchen herausgefunden hatte, dass die Dunkelfärbung nicht von Blut herrührte, ging ich zum Hausarzt, der erwartungsgemäß erhöhte Leber- und Gallenwerte und darüber hinaus horrend hohe Pankreaswerte feststellte. Er wies mich noch am selben Tag als Notfall in die Klinik ein. Von dort wurden die schlimmsten Befürchtungen an meine Familie kommuniziert: Pankreaskarzinom, Gallengangkarzinom, zumindest eine schwere Pankreatitis. Im CT konnte die Stelle des Gallengang­verschlusses lokalisiert werden, Gewebestrukturen schienen dort erkennbar. Also ein Adenom oder Karzinom? Wie ein Stein soll es nicht ausgesehen haben. Doch Gewebestrukturen waren später nicht mehr zu finden. Ist so ein CT vielleicht etwas wie ein Rorschach-Test?, fragte ich mich. Sieht jeder in ihm das, was er zu sehen erwartet? Drei Tage später die – wenigstens vorläufige – Entwarnung: Die Werte waren rapide gesunken, auf eine Röntgenaufnahme (ERCP) konnte verzichtet werden. Es schien also doch ein Stein gewesen zu sein, der spontan und »aus freien Stücken« abgegangen war. Am Tag darauf wurde ich wieder aus der Klinik entlassen – genau an dem Tag, an dem ich hatte zu einer Italienreise aufbrechen wollen, die aufgrund der unübersichtlichen Umstände hatte abgesagt werden müssen. Zu dieser Reise war ich zwiespältig eingestellt gewesen. Einerseits hatte ich sie heiß ersehnt und mich darauf gefreut, in den geliebten Ucellina-Bergen noch einmal zu wandern, andererseits zweifelte ich: Schaffe ich das alles noch, was da auf mich zukommt? Bis zum Schluss war ich unentschieden gewesen: reisen oder absagen? Dann hatte »mein Körper« sozusagen die Entscheidung getroffen. »Du wolltest eben nicht fahren«, höre ich die schlauen Psychoanalytiker sagen. Während des Schreibens fällt mir noch ein weiteres belastendes Ereignis im Kontext meiner Erkrankung ein: An dem Tag, als ich ins Krankenhaus eingewiesen wurde, musste ich eine andere Untersuchung absagen, zu der ich nur ungern gegangen wäre. Ich erin-

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nere mich an das Gefühl leiser Genugtuung: Jetzt kann ich ja wirklich nicht … Und schließlich ereilte mich die Krankheit kurz nach dem 80. Geburtstag, als wollte sie sagen: Jetzt hast du lange genug leidlich gesund dahingelebt, jetzt beginnt der Ernst des Lebens: Es geht aufs Ende zu. Man sieht: Eine Kausalität im wissenschaftlichen Sinn kommt weder für das eine noch das andere oder für das dritte Ereignis in Betracht. Einen Zusammenhang im Sinne von »es sieht so aus als ob« kann ich zu allen dreien herstellen. Eine Cholestase bei stattgehabtem Steindurchtritt (wie die abschließende Diagnose lautete) mit Begleitpankreatitis gilt offenbar nicht unbedingt als psychosomatische Krankheit. Weder bei Alexander (1951/1971) noch bei von Uexküll (1979 ff.) ist die Galle extensiv behandelt; in den 1960er Jahren hatte allerdings Jores (1959/1961) den Gallenleiden insgesamt ein Kapitel und Beck (1970) speziell dem Gallensteinleiden sogar eine ganze Monografie gewidmet. Die volkstümliche Psychosomatik ist voll von Hinweisen auf affektive Einflüsse auf die Gallenregulation: »Mir läuft die Galle über«, »Gelbwerden vor Neid« usw. Wer hat nun recht? Die aktuelle Gastroenterologie oder der Volksmund? Oder noch etwas komplizierter gefragt: Was wären die »Bedingungen der Möglichkeit« dafür, dass beide recht haben, dass auch eine handfeste Krankheit im medizinischen Sinn zugleich Ausdruck einer Tendenz im Unbewussten sein kann? Im Rückblick auf die dramatischen Tage frage ich mich, ob mir nicht doch auch meine vermutlich alarmistisch gepolte Amygdala und mein von Jugend auf stark reagierendes vegetatives Nervensystem (und das heißt eben zugleich: die Psyche) einen Streich gespielt haben könnten, sowohl bei der Einklemmung des vermutlichen Steins als auch bei der Produktion der überschießenden Gallen- und Pankreaswerte, und dass der inkarzerierte Stein freigelassen werden konnte, als der Zweck der Übung – die Verhinderung der Italienreise oder die Absage des unerwünschten Untersuchungstermins – erreicht war. Wie gut ist mir dieses Phänomen doch bekannt: beispielsweise plötzlich hochschnellende Puls- und Blutdruckwerte, bei denen

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Ärzte die Stirn in Sorgenfalten legten, und zum Schluss war »alles nur psychisch«. Ganz so einfach ist es im vorliegenden Fall sicher nicht, aber der Verlaufstyp kommt mir irgendwie bekannt vor. Wenn ich mich heute rückblickend auf diese Gallen-/Pankreas-­ Episode frage: Hat die Psyche darin einen Platz?, wird die Antwort der Fachleute eher negativ lauten. Sicher gehört sie nicht zu den somatoformen Störungen nach ICD F45 (WHO, 2000, S. 183 ff.), bei denen verlangt wird, dass die körperliche Symptomatik sich nicht oder nicht hinreichend auf eine organische Erkrankung zurückführen lässt: der Gallenstein bzw. das Sludge (das letztendlich gefunden wurde) und die diversen Laborbefunde präsentieren genügend somatische Materialität. Etwas größere Chancen bekommt die Psyche bei der unklaren ICD-Ziffer F54, die verwendet werden soll, um »psychische und Verhaltenseinflüsse zu erfassen, die wahrscheinlich (!) eine wesentliche Rolle in der Manifestation (!) körperlicher Krankheit spielen« (S. 219). Diese Krankheiten bekommen dann sinnigerweise zwei Diagnosen: eine für die (körperliche) Krankheit an sich und eine für die »psychischen und Verhaltensfaktoren«, die wie etwas von der körperlichen Störung Abgetrenntes behandelt werden. Logisch nachvollziehbar? Für mich nicht, vor allem dann nicht, wenn als »dazugehöriger« Begriff für das soeben Referierte angegeben wird: »psychische Faktoren, die körperliche Störungen bewirken (!)« (S. 219). Nun also doch eine Art Kausalaussage? Immerhin, die Beispiele, die unter F54 genannt werden (u. a. Asthma, Colitis mucosa und ulcerosa) klingen aus der traditionellen Psychosomatik vertraut. Auch dieser Begriff »psychosomatisch« freilich soll aus der Nomenklatur des ICD eliminiert werden, mit der wiederum erstaunlichen Begründung: Er könnte dem Missverständnis Vorschub leisten, dass psychische Faktoren für das Auftreten anderer Krankheiten, die nicht psychosomatisch genannt werden, keine Rolle spielten. Die Konsequenz: Alle Krankheiten können in irgendeiner Weise auch psychosomatisch sein? Bezogen auf meinen konkreten Fall dürfte ich also als »wahrscheinlich« unterstellen, dass die Cholelithiasis nebst Pankreatitis zwar organische Krankheiten sind, zu deren Manifestation aber psychische und Verhaltenseinflüsse »irgendwie« beigetragen haben

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könnten. Ich glaube aber kaum, dass ich mit dieser komplizierten Konstruktion meinen nur »nachsichtig lächelnden« Gastroenterologen hätte beeindrucken können. Volker Fröhlich: Vor mehr als 25 Jahren wurden bei mir im Rahmen einer Routineuntersuchung beim Hausarzt erhöhte Blutzuckerwerte festgestellt, die, zunächst für ca. ein halbes Jahr, mehr schlecht als recht diätetisch reguliert werden konnten. Ein verschleppter grippaler Infekt führte ein Jahr später schließlich zu einer aceto­nämischen Stoffwechselentgleisung mit all ihren klassischen Symptomen wie starkem Gewichtsverlust, Glykosurie, Polydipsie, Erschöpfungs­ zustände u. a., die eine unverzügliche stationäre Behandlung mit einer intensivierten Insulintherapie notwendig machte. Im Verlauf des 14-tägigen Klinikaufenthalts wurde die Insulintherapie aufgrund häufiger Hypoglykämien zurückgefahren und durch eine orale Medikation mit Sulfonylharnstoff ersetzt. Entlassen wurde ich mit der Diagnose eines »Diabetes noch offener Typologie – vermutlich Insulinmangel-Diabetes im Remissionsstadium, bei derzeit Insulinrest­eigenleistung von 70 %« (die sich im Laufe eines weiteren halben Jahres auf wieder 100 % erhöhte). Etwa ein Jahr nach dem stationären Aufenthalt zeigte sich bei einer ambulanten Wiedervorstellung in der Klinik zum ersten Mal eine erneute Verschlechterung des Langzeitzuckerwertes, der mit einem möglichen Rückgang der Insulineigenrestleistung, aber auch (zum ersten Mal!) mit persönlichen beruflichen (Disser­tation) und familiären (Geburt des zweiten Kindes) Belastungen in Verbindungen gebracht wurde (bei meinem ersten Klinik­aufenthalt wurden alle meine Fragen, inwieweit eine psychische Mit­verursachung bei dieser Krankheit eine Rolle spielen könnte, noch vehement zurückgewiesen). Im weiteren Verlauf wurde von den Diabetologen nun auch eine mögliche Typisierung eines Diabetes 2a (Insulinresistenz ohne Adipositas) diskutiert. Sie wurde aber nach einem halben Jahr doch wieder verworfen, nachdem der kontinuierliche Rückgang der Eigeninsulinleistung bestätigt werden konnte. Dennoch wurde die für einen Typ-1-Diabetes eher ungewöhnliche Sulfonylharnstoff-Therapie beibehalten und später noch durch Metformin­gaben und nächtliche Basalinsulingaben erweitert. Heute würde man diese

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besondere Verlaufsform wohl als LADA-­Diabetes (late onset autoimmune diabetes in the adult) bezeichnen. Erst fünf Jahre nach meinem ersten Klinikaufenthalt wurde ich auf eine dem Diabetes Typ 1 entsprechende intensivierte Insulintherapie eingestellt, mit der ich bis heute meinen »lieben alten« Diabetes (so wie Freud von seinem »lieben alten Carzinom« sprach) bediene, ohne Inanspruchnahme computergesteuerter Insulinpumpen. Er dankt es mir mit halbwegs akzeptablen Langzeitzuckerwerten, nicht ohne auf immer wieder auftretende Ausreißer in Hyper- oder Hypoglykämien zu verzichten. Dass die Regulierung des Blutzuckerspiegels durch psychische Einflussfaktoren über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse – auch HPA-Achse oder Stress-Achse genannt – bei insulinpflichtigen Diabetikern (und Typ-2-Diabetikern) beeinflusst und kompliziert werden kann, ist in der Zwischenzeit gemeinhin anerkannt. Die Beschreibung solcher Teufelskreise mit allen ihren Variationen und Wirkungen ist zentraler Gegenstand der Ausführungen in aktuellen psychosomatischen Lehrbüchern (Petrak, 2013, S. 130 ff.; Kruse, Kulzer u. Lange, 2017, S. 841 ff.). Die Frage nach einer psychischen (Mit-)Verursachung des Typ-1-­Diabetes wird jedoch weiterhin eher zurückhaltend aufgenommen. Der neue von Uexküll (2017) verweist zwar auf retrospektive Studien, die zeigen, »dass der Entwicklung des Diabetes Typ 1 (bei Kindern) gehäuft kritische Lebensereignisse vorausgehen« (S. 843; vgl. Hägglöf, Blom, Dahlquist, Lönnberg u. Sahlin, 1991). Diese Studien könnten jedoch – wie auch in einem anderen Lehrbuch zur Psychodiabetologie vermerkt wird – aufgrund vor allem methodischer Schwierigkeiten keine Belege für eindeutige Kausalitäten liefern (vgl. Saßmann u. Lange, 2013, S. 181). Eine analoge Schlussfolgerung lässt sich übrigens bereits in Alexanders Lehrbuch (1951/1971) finden: »Der Einfluss psychologischer Faktoren auf den Verlauf der Zuckerkrankheit wird allgemein anerkannt, aber die mögliche ätiologische Bedeutung solcher Faktoren ist noch nicht gesichert« (Alexander, 1951/1971, S. 149). Auch ich kann und will in meiner Krankengeschichte nicht mit objektivierbaren Kausalitäten aufwarten. Es erscheint mir jedoch immer noch subjektiv evident, dass sich diese Krankheit gerade in der Lebenssituation, in der ich mich damals befand, eingestellt hat.

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Wie schön war die Vorstellung, zusammen mit meiner Frau unser erstes Kind in seinem Aufwachsen zu begleiten, und wie anstrengend und belastend war es für mich wirklich – nicht zuletzt, weil ich nebenbei noch eine Dissertation zu schreiben hatte und meine Stelle befristet war. Als mir von ärztlicher Seite die Diagnose eröffnet wurde, es liege bei mir mit großer Wahrscheinlichkeit ein Insulinmangeldiabetes vor, stellte sich bei mir sehr bald der Gedanke ein: »Ist diese Krankheit für dich also nun der einzige Weg, um dir dein Leben zu versüßen?« Dies war nicht gerade ein hilfreicher Einfall und noch weniger eine »gesunde« Lösung der Probleme, vor die ich mich gestellt sah. Der Gedanke wurde bald – nachdem ich bei meinem ersten Klinikaufenthalt mein Zimmer mit einem beinamputierten Leidensgenossen teilen musste, der mir eindrucksvoll die möglichen »Zielperspektiven« dieser Krankheit vorführte – von panischen Phantasien begleitet, wie ich diese »Versüßung« meines Lebens wieder loswerden könnte. Habe ich oder etwas in mir deshalb alle inneren Kräfte mobilisiert, um meine Insulinproduktion wieder aufzunehmen? – Meine Remissionsphase hat jedenfalls außergewöhnlich lange angehalten, bis dann doch alle meine Insulinressourcen erschöpft waren.

In Groddecks Spuren Die obigen Versuche, uns unsere Krankheiten verständlich zu machen, knüpfen an Georg Groddeck an, sozusagen den Urvater der psychoanalytischen Psychosomatik. Im Menschen sei »ein Es, irgendein Wunderbares, das alles, was er tut und was mit ihm geschieht, regelt« (1923/1968, S. 18). Dies soll sich auf alle Krankheiten beziehen, die einer bekommt, und zwar nicht nur auf die heute als solche anerkannten psychosomatischen. Alle Krankheiten seien ein Werk unseres »Es«. Groddeck exemplifiziert seine Annahme vor allem anhand von zwei Fallgeschichten unzweifelhaft organischer Krankheiten, einer Sklerodermie (S. 123 ff.) und einer Arthritis (S. 160 ff.), die er mit Erfolg psychoanalytisch behandelt habe. Auch ein Stück eigener Krankengeschichte gibt er zum Besten: »Vor beinah zwanzig Jahren wuchs mir ein Kropf am Hals. Ich wußte damals noch nicht,

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was ich jetzt weiß oder zu wissen glaube. Genug, ich lief zehn Jahre lang mit einem dicken Hals durch die Welt und hatte mich damit abgefunden, dies Ding vor meiner Kehle mit ins Grab zu nehmen. Dann kam die Zeit, wo ich das Es kennenlernte, und ich sah ein – auf welchem Weg ist nicht nennenswert –, daß jener Kropf ein phantasiertes Kind sei« (S. 22). Das hat nun gewiss nichts mehr mit wissenschaftlicher Medizin zu tun; das ist reine Phantasie, oder vielleicht besser: Poesie. Dass »die Dichter« mehr von »der Seele« wissen als die wissenschaftliche Psychologie, davon war ja schon Freud zutiefst überzeugt. Groddeck denkt radikal monistisch und stellt die Unterscheidung von »psy­ chischen« und »organischen« Krankheiten grundsätzlich infrage: »Das sind doch nur Bezeichnungen, um sich über irgendwelche Besonderheiten des Lebens leichter zu verständigen, […] ein Weinglas ist etwas anderes als ein Wasserglas oder ein Lampenzylinder, aber es ist doch Glas« (S. 139). Die Lebenserscheinungen, will Groddeck sagen, sind alle aus ein und demselben Stoff (»Glas«) gemacht. Groddecks »Es« ist als eine absichtsvoll und zielgerichtet wirkende »teleologische« Kraft konzipiert: das »unbewußte Es […] schafft die Krankheiten. Sie kommen nicht von außen als Feinde, sondern sind zweckmäßige Schöpfungen unseres Mikrokosmos, unseres Es, genauso zweckmäßig wie der Aufbau der Nase und des Auges, die ja auch vom Es geschaffen werden« (S. 32 f.). Freud stand solchen Spekulationen Groddecks reserviert gegenüber. Für ihn beruhten sie auf philosophischen Prämissen und Ideen, die »nicht an der Reihe« (Freud u. Groddeck, 1974, S. 15) seien. Hier täuscht er sich allerdings: Teleologische Ideen waren gerade damals im Kampf von Vitalismus contra Mechanismus sehr wohl »an der Reihe«; eher war es ein Handikap für die Akzeptanz von Freuds eigenen Theorien, dass sie in teils recht »mecha­nistischer« Metaphorik (z. B. »psychischer Apparat«) daherkamen. Die These von der Wunscherfüllung im Traum kann als Freuds Antwort auf die damals aktuelle Diskussion über teleologische Tendenzen verstanden werden. Groddeck mit seinen vitalistischen Prämissen war damals in den 1920er Jahren, als vor allem Hans Driesch mit seinen Experimenten und theoretischen Spekulationen Aufmerksamkeit fand (vgl. Fröhlich, 2016), sicherlich der »modernere« von beiden. Eine

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Modernität freilich, die schon bald wieder überholt war. Wenig später endete die vitalistische Epoche; teleologische Argumente wurden als unwissenschaftlich verpönt; in den Naturwissenschaften inklusive der Medizin dominierten fortan und bis heute kausalistische Wissenschaftsmodelle. Für die wissenschaftliche Psychosomatik, die unter den medizinischen Disziplinen um ihren Platz und ihre Anerkennung kämpfte, bedeutete dies, sich von allzu spekulativen Aussagen zu verabschieden und sich auf Phänomene zu beschränken, die mit wissenschaftlich-kausalistischen Methoden nachweisbar waren. Groddeck war eine Art Münchhausen der Psychoanalyse, ein Erzähler abenteuerlicher Geschichten. Nicht von der Hand zu weisen ist die etwas süffisante Bemerkung von Lou Andreas-Salomé, die trotz anfänglicher Begeisterung doch ein gewisses, für sie bedenkliches »Bedürfnis nach einem so mächtigen und prächtigen Es« bei ihm konstatierte (Freud u. Andreas-Salomé, 1966, S. 73). Tatsache ist, dass ihm neben »Wunderheilungen« offenbar auch eine Menge misslang: Ein Vetter des italienischen Schriftstellers Italo Svevo zum Beispiel war zuerst bei Freud wegen einer Depression in Behandlung. Als er dort nicht reüssierte, schickte dieser ihn weiter in Groddecks Sanatorium, wo ebenfalls kein Erfolg zu erzielen war – was Svevo hinsichtlich der praktischen Möglichkeiten der psychoanalytischen Behandlung deutlich ernüchterte (Bondy u. Gschwend, 1995, S. 96 ff.). Der von Nitzschke in den 1980er Jahren angezettelte Streit über die Herkunft des »Es« bei Groddeck (vgl. Nitzschke, 1983) förderte neben den historischen zugleich eine Reihe heute noch bedenkenswerter systematischer Gesichtspunkte zutage. Am ergiebigsten in diesem Kontext erscheint die Arbeit von Herbert Will (1985): Es sei müßig, nach Gewährsleuten zu suchen, von denen Groddeck den Begriff und das Konzept des »Es« übernommen haben könnte. Er habe ihn vermutlich selbst geprägt (S. 166). Sein »Es« sei zwar eine teleologisch wirksame Kraft, aber zugleich etwas höchst Unbestimmtes (S. 158). Freud habe Groddecks Konzeption, die Psychoanalyse auch auf körperliche Krankheiten anzuwenden, nicht rundheraus abgelehnt. Möglicherweise wäre er sogar bereit gewesen, sie zu teilen, wenn ihm nicht sein eigener Anspruch, seine Psychoanalyse als

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»redliche Wissenschaft« zu etablieren, im Wege gestanden hätte (vgl. Fröhlich, 2004, S. 100 ff.). Groddeck selbst habe seine Speku­lationen über das »Es« als teleologisches Prinzip später, als die Beziehung zu Freud sich abkühlte, durchaus im Kontext des zeitgenössischen Neovitalismus verortet und eine Verwandtschaft mit den Theorien von Hans Driesch gesehen. Einige bemerkenswerte Aspekte zur möglichen Vorgeschichte des Groddeck-Freud’schen »Es« hat Will dennoch beigesteuert. Er bezieht sich auf das »Id« des seinerzeit bekannten Freiburger Zoologen August Weismann, das etwa dem heutigen Begriff »Gen« entsprechen soll. »Vermutlich ließen sich bei einem genauen Studium der damals blühenden zoologisch-entwicklungsgeschichtlich-neuroanatomischen Forschung weitere Hinweise auf Vorläufer des psychoanalytischen ›Es‹ finden« (Will, 1985, S. 163). Will hält die Vermutung für naheliegend, »Groddeck sei zumindest während seines Studiums mit Weismanns damals allgemein geläufigen Vorstellungen und auch mit dessen Konzept des ›Id‹ bekannt geworden« (S. 163). Noch bemerkenswerter ist sein Hinweis auf Freuds Lehrer Theodor Meynert, der zwischen primärem und sekundärem Ich unterschied, wobei das erstere, den Körpergefühlen nahe, in vielen Aspekten Freuds späterem »Es« entsprach (S. 163). Wichtiger als die ideengeschichtliche Herleitung des Groddeck’schen »Es« allerdings erscheint im gegenwärtigen Zusammenhang deren von der weithin soziologisierten Psychoanalyse längst ad acta gelegter systematischer Gehalt. Auf die uns bis dato unbekannte Meynert’sche Spekulation über das primäre und sekundäre Ich kommen wir später zurück.

Ferenczis »romantische« Bioanalyse Nahezu zeitgleich erschienen Groddecks »Buch vom Es« (1923/1968) und Ferenczis »Versuch einer Genitaltheorie« (1924/1970), die in der Zeit ihres lebhaftesten freundschaftlichen Kontaktes entstanden waren. Gemeinsam war beiden, dass die von Freud für sakrosankt gehaltenen Schranken zwischen dem Psychischen und dem Orga­nischen außer Kraft gesetzt werden sollten. Der Unterschied bestand lediglich darin, dass Groddeck seine Überzeugung, auch

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orga­nische Krankheiten seien ein Werk des »allwaltenden« Es bzw. des »Lebens« (was für ihn beinahe Synonyme sind), praktisch umgesetzt, aber mit voller Absicht nicht theoretisch ausgearbeitet hat. Er fühlte sich von seinem Es geradezu »gezwungen, nicht verstehen zu wollen«, während er umgekehrt Ferenczi als »gezwungen« zu einem für ihn unheilvollen theoretisierenden Verstehenwollen erlebt (Ferenczi u. Groddeck, 1986, S. 53). In seinem Kondolenzbrief an Ferenczis Witwe nach dessen Tod bekräftigt er noch einmal diese Verschiedenheit ihrer beider Charaktere (S. 88 f.). In der Tat: Was Groddeck »naiv« ärztlich praktiziert, versuchte Ferenczi in seiner »Genitaltheorie« anspruchsvoll zu theoretisieren: »In meinen genitaltheoretischen Spekulationen übertrug ich nun allerlei Vorgänge, deren Kenntnis ich der Psychoanalyse verdanke, ohne weiteres auf die Tiere, ihre Organe, Organteile, Geweb-Elemente« (S. 318). Damit »machte ich mich eines Psychomorphismus schuldig, der […] mein wissenschaftliches Gewissen drückte. Anderseits drängten mich die Gedankenverknüpfungen dazu, naturwissenschaftliche Beobachtungen bei Tieren, Tatsachen der Embryologie etc. als Erklärungsbehelfe psy­chischer Zustände zu verwenden« (S. 318). Dieser letztzitierte Satz dreht freilich die Verhältnisse um: Hier wäre, wenn schon, dann eher ein Biomorphismus zu gewärtigen. Vor beidem schreckt Ferenczi nicht zurück: Überall greife man, wenn man etwas verständlich machen will, »unwillkürlich […] nach Analogien« (S. 318). Siegfried Bernfeld (1937) hat Ferenczi mit solchen Ideen als den späten Vertreter einer romantischen Naturphilosophie gesehen, die sich auf »kräftige Bilder«, physiognomische Ähnlichkeiten usw. stütze, womit man »der Mystik näher als der Wissenschaft« (S. 220) sei. Naturwissenschaft hingegen entstehe und entwickle sich »durch fortschreitende, radikale Eliminierung alles Physiognomischen« (S. 223) zugunsten einer mathematisierbaren Struktur. Lassen wir Bernfelds Einwände zunächst unberücksichtigt und verfolgen im Hinblick auf unsere beiderseitigen Krankheiten den von Ferenczi aufgewiesenen Gedankengang. Ferenczi hätte im Sinne seines Ansatzes vielleicht gesagt: Die Vorgänge bei der Cholestase sind strukturähnlich denen, die nach unserer Interpretation die psychische Situation des Patienten G. B. charakterisierte: »ja zu Italien« und »nein zu Italien« erwiesen sich als dermaßen gleichgewichtig,

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dass auf der seelischen Ebene eine Stockung von Vitalität und Entschlusskraft entstand, strukturähnlich der Blockade des Gallenflusses im Organischen. Er hielte es auch für möglich, dass weder ein Stein noch irgendwelche Gewebeteile den Abfluss der Galle verstopften, sondern dass sich der Gang einfach durch die vegetative Innervation verschloss oder dass der letztendlich als kausal für die Cholestase festgestellte Gallengrieß (Sludge) aus dem allzu dickflüssig gewordenen Gallenstrom auskristallisierte – was aber für den behandelnden Gastroenterologen mit seinem »nachsichtigen Lächeln« doch zu fern lag. Im Sinn von Ferenczi könnte man demnach sagen: Das Gallensystem verhält sich im vorliegenden Fall »psychomorph«, wie wenn es sich bei seiner Reaktion etwas gedacht hätte. Die Somatisierung des psychischen Konflikts durch den Patienten wurde umgekehrt ermöglicht durch dessen Biomorphismus, das heißt, der Konflikt war selbst so beschaffen, dass er sich in Organsprache abbilden ließ – unbeschadet der Autonomie der somatischen Prozesse. Ebenso in der Diabetes-Krankengeschichte: Auch hier scheint sich das Zuckerstoffwechselsystem psychomorph zu verhalten und sich der »Krankheit als Symbol« (vgl. Groddeck, 1978) zu bedienen, die den Konflikt des Patienten organsprachlich abzubilden weiß. Wir betrachten also das Gallenstein-Ereignis des einen von uns und den Diabetes des anderen so, als ob sie einen Sinn transportierten: im ersteren Fall die Verhinderung der mit einem unauflösbaren Konflikt belasteten Italienreise und weiterhin den Hinweis auf die altersbedingte Einschränkung dessen, was noch möglich ist im Leben, im anderen Fall die (kurzschlüssige) Lösung des Pro­ blems, sich in einer als belastend erfahrenen Lebenssituation etwas Erleichterung zu verschaffen. Aber Bernfeld hat recht: Wissenschaft im strengen Sinn ist das, da weder mathematisierbar noch sonst wie empirisch zu erhärten, sicherlich nicht. Dann schon eher »Mystik«, wie er unterstellte. Wir halten aus Ferenczis »Versuch einer Genitaltheorie« als Ergebnis fest: Das Biologische ist in gewisser Weise psychomorph, das Psychische biomorph: Das eine lässt sich mit Analogien und Vergleichen aus der Sphäre des anderen dem Verständnis näherbringen. Dies ist aus unserer monistischen Perspektive gesehen möglich,

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weil beide nur sozusagen unterschiedliche Aggregatzustände des Gleichen sind. Man kann deshalb Krankheiten sowohl biomorph (über Laborwerte usw.) als auch psychomorph (über ihre erlebte bzw. unterstellte Sinnhaftigkeit für den Betroffenen) beschreiben. Wer sie als somatisches Phänomen ebenso wie ihr Erleben im Kranken mitsamt seinen Deutungen erfassen will, hat die Außen- und die Innenperspektive zugleich ins Auge zu fassen.

Von Groddeck zu Uexküll – von der »Mystik« zur »Wissenschaft«? Ihre Blütezeit erlebte die – damals vor allem tiefenpsychologisch und psychoanalytisch begründete – Psychosomatik in den 1950er bis 1970er Jahren. International wegweisend waren die Bücher von Franz Alexander (dt. 1951/1971) und Michael Balint, insbesondere sein Werk »Der Arzt, sein Patient und die Krankheit« (dt. 1965/1970), im deutschen Sprachraum vor allem die Schriften von Viktor von Weizsäcker und seinen Schülern, z. B. von Paul Christian, aber auch von Medard Boss und Gustav Richard Heyer. Ihnen allen gemeinsam war die Aufmerksamkeit nicht nur für die (naturwissenschaftlich-mechanistisch konzipierte) Krankheit, sondern für den »kranken Menschen« (z. B. von Weizsäcker, 1951; Jores, 1959/1961) und das Gespräch mit ihm. Seit jener Zeit hat die somatisch-medizinische Grundlagenforschung riesige Fortschritte gemacht – mit der Folge, dass sie die biologischen Mechanismen der Krankheitsentstehung immer genauer zu erklären vermochte. Der Nebeneffekt dabei war: Wo ein biochemischer Mechanismus aufgedeckt wurde (z. B. die Entstehung von Gallensteinen aus dem Sludge aufgrund eines Missverhältnisses der an den Prozessen beteiligten Gallensäuren, die Stress-Achse beim Diabetes, die Rolle der Neurotransmitter in Gehirnprozessen und vieles andere), schien zugleich die psychologische Perspektive ihr Recht verloren zu haben. So gingen dieser alten Psychosomatik immer mehr Krankheiten verloren, die nunmehr überzeugender biochemisch erklärt und damit entsprechend medikamentös erfolgreicher behandelt werden konnten. Dieser Effekt wird an den Kliniken auch durch das »shared decision-­making« nur teilweise aufgehoben.

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Eine Antwort auf die veränderte Lage schien das Werk »Psychosomatische Medizin« von Thure von Uexküll bereitzuhalten, das für die nächsten Jahrzehnte unangefochten zu einer Bibel der deutschsprachigen Psychosomatik avancierte. Bereits im Vorwort zur ersten Auflage (1979) hat von Uexküll deutlich gemacht, inwiefern ihm eine im Vergleich mit seinen Vorgängern »neue« Psychosomatik vorschwebt. Er distanzierte sich von einer »Disziplin, die der Meinung ist, eine begrenzte Anzahl von Krankheiten als ›psychosomatisch‹ etikettieren zu können« (zit. nach von Uexküll, 1990, S. VI). Demgegenüber plädiert er für »eine Öffnung der Psychosomatischen Medizin zu neuen Fragestellungen, neuen Konzepten und neuen Methoden« (S. VI). Er vertritt schon hier die These, dass »psychosoziale Einflüsse auf Entstehung, Verlauf und Endzustände von Krankheiten ebenso wichtige und legitime Probleme für die Heilkunde aufwerfen wie die Einflüsse physikalischer, chemischer und mikrobiologischer Faktoren« (S. VI). Dabei beruft er sich unter anderem auf die in Deutschland durch die Heidelberger Schule der Inneren Medizin (u. a. von Weizsäcker) begründete Tradition. Das theoretische Modell, das seiner neuen Psychosomatik zugrunde liegt, ähnelt in vielem dem Weizsäcker’schen Gestaltkreis, leitet sich aber unmittelbarer von bio-theoretischen Vorstellungen seines Vaters, des Biologen Jakob von Uexküll her: dem Konzept des »Funktionskreises«, das sich bei Thure von Uexküll in biologische, psychologische und soziale Austauschprozesse ausdifferenziert, die in seiner Modellvorstellung als »Zeichensysteme« figurieren (1990, S. 23 f.). Die 4. Auflage (1990) dieses Monumentalwerkes wirkt schon von der Menge des Stoffes her überladen und durch die unübersichtliche Gliederung dieser Stoffmengen noch zusätzlich verwirrend. Hier haben die jüngsten, nach von Uexkülls Tod erschienenen Auflagen (zuletzt 8. Auflage 2017) deutliche Verbesserungen hinsichtlich Übersichtlichkeit und Lesbarkeit erbracht. Dass sich der Ansatz nunmehr als ein »integrativer« bezeichnet, deutet ebenfalls eine Akzentverschiebung an. Zugleich wird die radikale Ankündigung im Vorwort zur 1. Auflage, die neue Psychosomatik negiere die Existenz einer Reihe konkreter Krankheiten, die als »psychosomatisch« deklariert werden könnten, in diesen jüngsten Auflagen relativiert. Sie

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behandeln sehr wohl im letzten praktischen Teil eine Reihe solcher Krankheiten, und zwar mit gutem Recht, wie uns scheint. »Der Uexküll« war nun über Jahrzehnte das weitgehend unhinterfragte Standardwerk der zu akademischen Ehren und Würden aufgestiegenen deutschsprachigen psychosomatischen Medizin. Eine kritische Rezeption fand eigentlich nicht statt. Aus unserer Sicht wären vier Kritikpunkte anzumelden: ȤȤ Der ostentative und programmatische Verzicht auf einen Kanon »psychosomatischer« Krankheiten zugunsten eines »integra­tiven« Prinzips, das die ganze Medizin verpflichten will, in biopsychosozialen Regelkreisen zu denken, schafft die Psychosomatische Medizin praktisch ab, da sie sie ihres materiellen Substrats beraubt, vor allem aber da sich die Medizin als Ganze kaum gewillt zeigen wird, ernstlich in Uexküll’schen Funktionskreisen zu denken. ȤȤ Damit mag zusammenhängen, dass das aus Funktionskreis, Situationskreis und Zeichenlehre gebildete Uexküll’sche Modell in sich zu abgehoben und theoretisch anspruchsvoll ist, um sich im klinischen Alltag als praktikabel zu erweisen. Das kann zwar nicht das entscheidende Kriterium für die Richtigkeit/Sinnhaftigkeit des Modells sein, ist aber bei der Frage nach der praktischen Umsetzbarkeit doch zu berücksichtigen. ȤȤ Schließlich verkennt der Ansatz die blockierende Wirkung gleichzeitig wirkender Gegenkräfte und -tendenzen in der gegenwärtigen Medizin: Sowohl die Normierung der Krankheiten im ICD als auch die schematischen Rituale der Evidenzbasierung machen es subtileren Modellen schwer, wenn nicht gar unmöglich, sich zu behaupten. ȤȤ Der vielleicht schwerwiegendste Einwand gegen von Uexkülls Monumentalwerk: Es entstand im Kontext der Bemühungen, die Psychosomatische Medizin im Kanon der medizinischen Disziplinen und der Lehr- und Prüfungsfächer im Rahmen der medizinischen Universitätsausbildung zu verankern. Um deren Anforderungen zu genügen, musste sie auf wissenschaftlich konsistenten Theorien basieren und sich an empirisch erhärtete Tatsachen halten. Dabei musste alles eliminiert werden, was diesen Standards nicht entsprach – nicht zuletzt Groddecks und Ferenczis naturmystische Spekulationen.

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Freilich gingen von Uexküll und seine Mitarbeiter dabei keineswegs radikal zu Werke: Es ist geradezu rührend zu sehen, wie bei einzelnen Themen streng korrelationsstatistisch ermittelte Tatsachen und psychoanalytische Deutungen sozusagen mit gleichem Tatsächlichkeitsanspruch referiert werden, obwohl sich dem Leser unweigerlich das Gefühl aufdrängt: Diese »Tatsachen« und diese »Deutungen« – das sind doch Aussagen, die sich auf gänzlich verschiedenen Ebenen bewegen! Langsam kommt nun doch so etwas wie eine Diskussion in Gang: »Zur Identität der Psychosomatischen Medizin – Uexküll und wie weiter?«, fragt Wolf Langewitz (2015) vom Universitätsspital Basel, einer der Mitautoren der aktuellen Auflage – ohne dass sich aus seinen ins Internet geworfenen Stichworten dazu bereits eine bündige Antwort entnehmen lässt. Eine solche versuchen wir im Folgenden.

Autotomie und Restitution des psychosomatischen Eidechsenschwanzes Unter dem Stichwort »Autotomie« ist im »Spektrum Lexikon der Biologie« nachzulesen, dass Eidechsen bei Gefahr ihren Schwanz abwerfen können. Ähnlich scheint es der psychoanalytischen Psychosomatik ergangen zu sein, als sie beschloss, sich zu einer akademischen Disziplin zu mausern. Dies brachte einen erheblichen Legitimierungsstress mit sich, der sie dazu zwang, inkompatible, aber zugleich doch recht potente Stücke ihrer selbst (wie z. B. ihr Konzept des Unbewussten, das im Uexküll-Handbuch keine erkennbare Rolle mehr spielt1), hinter sich zu lassen – also um den Preis einer gewissen Selbstverstümmelung (Autotomie). Die vorliegenden Überlegungen stellen den Versuch dar, den abgestoßenen »Schwanz« der Eidechse Psychosomatik wenigstens notdürftig wieder dran­zuflicken. Von Freud gibt es die bekannte Briefstelle, wo er Arnold Zweig vom Fortschreiten seines Krebsleidens berichtet: »Es ist kein Zwei1 Im Stichwortverzeichnis der 4. Auflage dieses mehr als 1500 Seiten umfassenden Werkes taucht das Stichwort »Unbewusstes« ein einziges Mal auf; in der jüngsten 8. Auflage immerhin zweimal. Das ist zwar eine Steigerung um 100 %, aber auf niedrigstem Niveau!

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fel mehr, daß es sich um einen neuen Vorstoß meines lieben alten Carcinoms handelt, mit dem ich seit jetzt 16 Jahren die Existenz teile. Wer damals der Stärkere sein würde, konnte man natürlich nicht vorher sagen« (Freud u. Zweig, 1968, S. 186). Diese Briefstelle hat zweifellos einen ironisch-selbstironischen Zug, was aber nicht ihren Charakter als Dokument persönlichen Erlebens infrage stellt. Es ist, als hätte Freud für einen Moment die medizinisch-naturwissenschaftliche Sicht »von außen« zugunsten einer subjektiv-physiognomischen suspendiert, wie sie sonst eher Groddeck nahegelegen hätte und wie sie Ferenczi als psychomorph bezeichnete. Der Krebs erscheint hier personifiziert als ein alter Bekannter, eine Art Untermieter, zugleich als eine Art Raubtier, von dessen Fressgier Freud sich ursprünglich bedroht fühlte, mit dem sich aber im Verlauf der Jahre eine Art Waffenstillstand eingespielt hat – ein Organismus im Organismus, eine Art abgespaltener und zunehmend abgekapselter Teil-Seele. Ähnlich in unseren beiden Fallskizzen: Zuerst sah es dramatisch aus mit Galle und Pankreas, Krebsbedrohungen standen im Raum, dann verabschiedet sich der Eindringling sozusagen auf französische Art und verschwindet durch die Hintertür, nachdem er die Italienreise und den Untersuchungstermin erfolgreich torpediert hat. Fröhlich hat sich in Bezug auf seine Krankheit ja bereits Anleihe bei Freuds personifiziertem »lieben alten Carzinom« genommen. Bittner (2016) hat auf das Dilemma der heutigen Psychoanalyse aufmerksam gemacht: Der Zeitgeist und eigene Akademisierungswünsche zwingen sie, sich zunehmend »wissenschaftlich« zu profilieren, wobei sie in Gefahr gerät, den anderen »unwissenschaftlichen« (intuitiven) Teil ihrer selbst zu verlieren, über den wissenschaftlichen die arkanisch-esoterischen Diskurse, die ihr ebenfalls wesensmäßig inhärent sind, zu opfern wie die Eidechsen ihren Schwanz, wenn sie in Bedrängnis geraten. Die heutige Psychoanalyse und speziell die psychoanalytische Psychosomatik steht hier vor der Schwierigkeit: Einerseits wollen sich beide wissenschaftlich positionieren, um in der Kon­kurrenz der Wissenschaften bestehen zu können, anderseits stehen sie in der Gefahr, wesentliche Stücke ihres tradierten Kanons abstoßen zu müssen, weil diese, wenngleich lebenspraktisch plausibel, wis-

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senschaftlich nicht verifizierbar sind. Sie steht sogar weiterhin in der Gefahr, unter dem Druck ihrer angestrebten Verwissenschaftlichung empirische »Als ob«-Verifizierungen und damit facta ficta im Sinn Nietzsches zu produzieren, um den so heiß ersehnten wissenschaftlichen Status zu verteidigen. Die Psychoanalyse steckt seit langem in diesem Dilemma, dass sie einerseits danach strebt (und wohl auch streben muss), sich als Wissenschaft zu positionieren, dass sie dabei aber andererseits in der Gefahr steht, ihren zentralen Gegenstand zu verspielen: das Unbewusste. Das sei, wie Freud einmal in der Frühzeit schrieb und später nie mehr wiederholte, etwas, »was man wirklich nicht weiß« (1905c, S. 185). Bittner (2016) postulierte deshalb, dass die Psychoanalyse zwar mit Recht gehalten sei, sich so weit als möglich wissenschaftlich-exoterisch zu artikulieren, aber ihre esoterisch-­arkanischen Diskurse – oder, weniger verfänglich, dem sprachlichen Vorschlag eines Rezensenten folgend: den »Blick auf die Art und Weise, wie das Unbewusste sich selbst zu erkennen gibt« (Hierdeis, 2018, S. 430) – darüber nicht zu vernachlässigen. Dies bleibt eine höchst prekäre Gratwanderung. Solche »arkanischen« Diskurse entstehen bevorzugt an den Be­ rührungsflächen des Seelischen mit dem Leiblichen, teils im Umfeld von Sex und Gender (vgl. Bittner, 2018), aber auch, wie hier vorliegend, im Bereich von Krankheit mit seinen unscharfen Grenzlinien zwischen physisch und psychisch, wo sich Groddeck und Ferenczi noch relativ ungehemmt durch die Zwänge akademischer Seriosität tummeln konnten. Bittner hat diese Tummelplätze des Unakademischen jüngst abzustecken versucht: Er unterschied im Hinblick auf die je eigene Psyche drei Ebenen des Ungewussten bzw. Unbewussten: ȤȤ das aktuell nicht Gewusste über uns selbst, das aber jederzeit ins Gedächtnis gerufen werden kann (von Freud als »Vorbewusstes« bezeichnet); ȤȤ das Verdrängte, das einmal bewusst war, aber am Wiederauftauchen aus dem Unbewussten gehindert wird, gemäß Freuds früher Konzeption (1915e); ȤȤ schließlich jenes Unbewusste, das noch niemals bewusst war und nur begrenzt bewusstseinsfähig ist: die Inhalte des »Es«,

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die archaische Erbschaft des Menschen, gemäß Freuds späterer, unter dem Einfluss der Groddeck’schen Es-Spekulation erweiterter Konzeption (1923b). Jenes letztgenannte Unbewusste (Philipp Lersch nannte es den »bewußtlos unbewußten Lebensgrund«, 1956, S. 80, ausführlicher S. 545 ff.) bereitet für die wissenschaftliche Erkenntnis die besondere Schwierigkeit, dass es nicht bzw. kaum sprachhaft verfasst (entgegen Lacans optimistischer Annahme) und dass es insofern kaum wissbar ist und allenfalls in poetisch-metaphorischen Bildern umkreist oder aus neuronalen und endokrinologischen Korrelaten erschlossen werden kann. Die Schriften Groddecks und des späten Ferenczi gewinnen aus dieser Sicht den Charakter von Ausflügen in diesen dritten Bereich, in das »Unbetretene, Nicht zu Betretende« Goethes (1832, S. 73), bzw. in einen wahrhaft »dunklen Kontinent«. Es würde sich hier, in den Spuren von Ferenczi gehend, um eine Wiederentdeckung des Psychomorphismus des Organischen handeln.

»Das Ich ist vor allem ein körperliches …« Wenn unsere Überlegungen bis hierher plausibel gewesen sein sollten, dass die tiefste, leibnahe Schicht des Unbewussten sich der sprachlichen Formulierbarkeit und damit der Wissbarkeit entzieht (es gibt einen alten Juristengrundsatz »Quod non est in actis, non est in vita.« – »Was nicht in den Akten steht, existiert nicht.« – Das lässt sich ähnlich auf die »Akten« der Wissenschaften übertragen) – wenn dies also schlüssig erscheint, stellt sich immer noch die weitergehende Frage: Was zwingt uns, dieses tiefste, sprachlich nicht fassbare Unbewusste wie eine Person – und gar noch: wie eine zweite Person, ein zweites Ich zu denken? Zum Beispiel in Freuds Mitteilung an Zweig über sein Karzinom – was zwingt ihn dazu, von diesem wie von einer Person zu reden? ­Psychologisches Verstehenwollen kann anscheinend nicht anders, als das zu Verstehende zu personalisieren. Noch einmal Freud: »Unser Verständnis […] reicht so weit wie unser Anthropomorphismus« (zit. nach Ehlert, 1985, S. 1016).

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Als Freud den Satz schrieb, »das Ich ist vor allem ein körperliches« (1923b, S. 251), hatte er »sein« Ich im Blick, das er als Rindenschicht und funktionales Element innerhalb des »psychischen Apparats« bestimmte. Dessen »Körperlichkeit« beschränkte sich darauf, dass es die (äußere) Sinneswahrnehmung und die Zugänge zur Motorik kontrollierte. Dieser viel zitierte Satz gibt Rätsel auf: Er steht nur an dieser einen Stelle seines Werkes und wirkt etwas zusammenhanglos eingeschoben. Ein besserer Sinn ergibt sich, wenn wir nicht auf das »Ich« der Freud’schen Abhandlung, sondern auf das Meynert’sche Ich, wie von Will in Erinnerung gerufen, zurückgreifen. Das »primäre Ich« Meynerts ist dem Körpergeschehen nahe. In vieler Hinsicht entspricht es Groddecks und Freuds späterem »Es« (Will, 1985), in einer entscheidenden freilich nicht: Die Benennung als »Es« setzt dieses in Kontrast zum Ich, während Meynerts Benennung eher auf den genetischen und funktionellen Zusammenhang der beiden Ichs abhebt. Die Spezifität des primären Ich wird von Meynert dahingehend bestimmt, dass dieses dem Körpergeschehen und den Körpergefühlen assoziiert ist und sich »aus Empfindungen […] gebildet hat« (Meynert, 1890, S. 142). Liest man mit dieser Vorgeschichte im Blick Groddecks »Buch vom Es«, fallen diese beiden Bestimmungsstücke des »Es« (es ist absolut körperlich und benimmt sich wie ein Ich) deutlicher ins Auge. An vielen Stellen agiert Groddecks »Es« wie ein »anderes Ich«; zugleich ist sein Aktionsraum bevorzugt das Körpergeschehen. Dieses »andere« Ich hat Bittner lebenslang beschäftigt: Es tauchte unter verschiedenen Benennungen auf: als das »Grund-Ich« (1974) oder das »limbische« Ich, als der Ich-Kern, der nur im Spiegel seiner Tarnungen erkannt werden kann (1977), als der »Mensch im Menschen« (1988) und zuletzt, ganz im Sinne Meynerts, als das »Proto-­ Subjekt« (Bittner, 2011). Was hingegen bisher vernachlässigt war und erst jetzt deutlicher bemerkt wird, ist das Körperliche als das Medium, in dem dieses von ihm sogenannte »Grund-Ich« sich manifestiert – dies auch das Thema dieser gegenwärtigen Überlegungen: die Krankheiten als teleologisch verständliche Manifestationen eines »Wisdom of the body«, der hier wie ein zweites Ich agiert. Dieses tiefste, mit der Wortsprache kaum erreichbare Unbewusste, wo aus Körperempfindungen Gefühle und zuletzt Gedanken

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(oder auch Krankheitssymptome) werden, ist zugleich der Manifestationsraum dessen, was bei Lacan das »Subjekt« (das immer schon »Subjekt des Unbewussten ist«, vgl. Perner, o. J., S. 3) und bei Winnicott das »wahre Selbst« heißt (das nach dessen eigenem Bekunden nicht viel mehr sein soll als die »Lebendigkeit der Körpergewebe« [1974, S. 193]). Weil das Winnicott’sche »wahre Selbst« im Wesentlichen aus dieser »Lebendigkeit der Körpergewebe« bestehen soll, erscheint es evident, dass Beeinträchtigungen dieser Lebendigkeit stets auf das Sich-selbst-Fühlen dieses »wahren Ich« durchschlagen, wobei es auf dieser Ebene völlig gleichgültig ist, ob diese nun psychisch oder organisch verursacht sind. Dies Letztere ist eine Unterscheidung von der Oberfläche der medizinischen Lehrbuchsystematik her; für das Sich-selbst-Fühlen des unbewussten Subjekts ergibt sie keinen Sinn. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet ist es nur folgerichtig, dass Groddeck – zu Freuds Entsetzen! – diese Unterscheidung einfach beiseite gewischt hat. Freilich ist einzuräumen, dass »der Körper« als ein zweites (oder richtiger, wenn wir Meynert folgen: als primäres) Ich nicht mehr sein kann als eine eventuell sinnvolle, aber letzten Endes unbeweisbare Annahme. Von diesem »zweiten Ich« könnte demnach nur in der grammatischen Form des Potentialis gesprochen werden: Es könnte so aussehen, als wäre hier ein Psychisches am Werk. Eine denkwürdige Kontroverse zwischen Freud und Jung deutet sich bereits in einem ihrer frühesten Briefe an (vgl. Freud u. Jung, 1974). Am 7.4.1907, kurz nach Jungs erstem Besuch in Wien, schrieb Freud an ihn: »Wenn wir das Unbewußte auch ›psychoid‹ heißen, es bleibt doch das Unbewußte« (S. 30). Jung hatte anscheinend den Begriff »psychoid« für das ins Spiel gebracht, was Freud »das Unbewusste« genannt wissen wollte  – angeblich, um die Akzeptanz der Psychoanalyse in der breiteren Öffentlichkeit zu verbessern. Aber Freud hatte schon recht: Es steckte mehr dahinter; es verschob die Perspektive. Psychoid heißt »seelenartig«, »etwas, was wie Seelisches aussieht« (obwohl man nicht sicher sagen kann, dass es etwas Seelisches ist). Jung hat an diesem Begriff festgehalten, den er anscheinend über Bleuler kennengelernt hatte, der später einmal ein ganzes Buch (1925) darüber schrieb. Für

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unsere gegenwärtigen Überlegungen im Grenzbereich von physisch und psychisch erscheint er jedenfalls gar nicht so übel: Er handelt von Phänomenen, die aussehen, als ob sie psychisch wären, obwohl man letzten Endes nicht sicher sagen kann, ob sie es tatsächlich sind. Jung relativiert mit dem Begriff »psychoid« die Behauptung einer unbezweifelbaren Faktizität: Das Unbewusste sieht so aus, als ob es ein Psychisches wäre, aber wirklich wissen kann man das nicht. Dass Freud demgegenüber auf dem Begriff des Unbewussten bestand, hat seinen Grund darin, dass er diesen Bereich als real existent und klar abgrenzbar etablieren wollte. Unsere beiden Krankheiten wären somit zwar nicht psychogen, aber »psychoid«? Wir könnten ganz gut damit leben. »Psychoid« wäre dann alles das, was sich uns wie ein Psychisches vor Augen stellt (und was eventuell danach verlangt, wie ein Psychisches verstanden und behandelt zu werden) – ungeachtet dessen, dass es sich dem Blick des Arztes, der notwendigerweise ein distanzierender »Blick von außen« ist, als ein Organisches darstellt. Die Diskrepanz zwischen den beiden Blickrichtungen und was sich ihnen jeweils zeigt, muss im Konfliktfall ausgehalten werden. Gemildert wird der Dissens dann allenfalls durch die monistische Grundüberzeugung, dass das, was sich in den beiden Perspektiven als ein Unterschiedliches darstellt, metatheoretisch betrachtet ein Iden­tisches sein muss.

Zweierlei Psychosomatik? Das Dilemma der Psychosomatik, wie wir es sehen, ließe sich dahingehend auflösen, dass zwei Psychosomatiken nebeneinander bestehen: eine genuin medizinische, die sich auf theoretisch plausible und empirisch gesicherte Erkenntnisse stützt, und eine genuin psychoanalytische, die das empirische Paradigma zwar akzeptiert, sich aber offen hält für spekulative Ideen, Intuitionen und Phantasien sowie für tradiertes Praxiswissen aus der psychoanalytischen Lehrtradition (vgl. Bittner, 1974, S. 77). André Haynal hat vor einigen Jahren (2012) gezeigt, wie Freud dem Thema der körperlichen Krankheiten lebenslang auszuweichen versucht hat und dass mithin sein Beitrag zur Psychosomatik eher gering zu veranschlagen sei. Doch habe er in den letzten Lebensjah-

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ren unter dem Eindruck seiner Krebserkrankung Anlass genommen, einige von Ferenczis Ideen, die er früher verworfen hatte, noch einmal zu überdenken. In diesem Zusammenhang berichtet Haynal eine Äußerung Freuds, die dieser in einem Gespräch mit dem Dichter Thornton Wilder getan haben soll: Man werde vielleicht eines Tages entdecken, »that cancer is allied to ›the presence of hate in the inconscious‹« (S. 317). Freud war selbst ein Wissenschaftsgläubiger, wie seine Äußerung beweist: Man werde »eines Tages entdecken …«. In Wirklichkeit hat er es mit diesen intuitiven Sätzen bereits »entdeckt«. Auf solche Art pflegen »Entdeckungen« von tief Unbewusstem und kaum Bewusstseinsfähigem vor sich zu gehen.

Resümee Zwischen der alten, von Groddeck auf den Weg gebrachten und von den frühen Freud-Schülern wie Alexander und Deutsch systematisierten psychoanalytischen Psychosomatik (vgl. Bittners Beitrag in diesem Buch) und der heutigen, vor allem von v. Uexküll konzipierten akademischen Disziplin gleichen Namens, hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden: Die alte Psychosomatik handelte von einer begrenzten Gruppe als »psychosomatisch« eingestufter Krankheiten, die neue gibt diese Spezifität weitgehend auf und favorisiert eine universelle integrierte Diagnostik, die bei jeder Krankheit sowohl somatische als auch psychische und Verhaltensfaktoren in Betracht zieht. Es gibt noch weitere Unterschiede zwischen dem alten und dem neuen Paradigma: Die alte Psychosomatik ging sozusagen narrativ von interessanten Einzelfällen aus; sie war gelegentlich recht »naturmystisch-spekulativ«, während die neue sich empirisch-wissenschaftlich versteht. Das Problem dabei ist, dass gerade ein zen­ trales psychoanalytisches Konzept wie z. B. »das Unbewusste« zwar nicht mehr ernsthaft geleugnet wird, aber noch nie empirisch bewiesen werden konnte und daher im neuen Paradigma tendenziell auf der Strecke bleibt. Insofern ist es symptomatisch, dass im aktuellen »Uexküll« zwar an zahllosen Stellen von unbewussten Faktoren und Einflüssen die Rede ist, das Unbewusste als Substantiv aber keine Rolle mehr spielt. Diese »zahllosen Stellen« haben keinen systematischen Stellenwert mehr.

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Paradigmenwechsel, so hat die wissenschaftstheoretische Diskussion ergeben, haben ein Doppelgesicht: Sie sind nie linearer Fortschritt vom Schlechteren zum Besseren, vielmehr, wie ein kluger Mensch gesagt haben soll: »Man kann nicht Erkenntnisse gewinnen, ohne auch welche zu verlieren.« Um etwas von der Relevanz dieser älteren Auffassungen der 1950er bis 1970er Jahre in unsere »brave new world« hinüberzuretten, darum war es uns zu tun. Auch beim ständigen Abgleichen innerhalb und zwischen Konsiliar­diensten bzw. im »shared decision-making« in der klinischen Versorgung läuft manches an Abwägen und Ausprobieren verschiedener Methoden und Medikamente ab, was nur wenig Ertrag bringt. Das Problem verschärft sich noch bei den Ärzten »draußen«, die nicht in solche Teams eingebunden sind. Es ist in der Tat abzuwägen zwischen der alten Psychosomatik, die auf Krankheiten fokussiert war, bei denen sich eine psychische Ursache mit hoher Wahrscheinlichkeit angeben ließ, und der neuen, in Funktionskreisen denkenden Medizin, die grundsätzlich alle Krankheiten als möglicherweise psychisch (und sozial) bedingt einschätzt und die damit auch für die Psychoanalyse ein unbegrenztes Feld zur Mitwirkung an Diagnose und Therapie eröffnet. Ein begrüßenswerter Fortschritt? Grundsätzlich ja, aber die Psychosomatik kann dabei auch untergehen im weiten Feld des multimethodischen decision-making. Weniger ist manchmal mehr: Ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt weiß ziemlich genau, für welche Krankheiten bzw. Patienten er zuständig ist, ein Psychosomatiker neuen Zuschnitts scheint uns für alles und zugleich für nichts zuständig zu sein. Er ist sozusagen der ewige Konsiliarius.

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Georg Schönbächler

Placebo und Psychoanalyse – eine schwierige Beziehung

Obwohl es der empirisch-wissenschaftlichen Psychotherapieforschung schon seit längerer Zeit gelungen ist nachzuweisen, dass Psychotherapien wirksam sind (Grawe, Donati u. Bernauer, 1994), und die Wirksamkeit von psychodynamischen Langzeittherapien inzwischen durch eine Vielzahl von Metaanalysen belegt ist (z. B. Leichsenring u. Rabung, 2008), hält sich das Vorurteil hartnäckig, Psychotherapie sei ein Placebo (vgl. Eysenck, 1994, S. 477 ff.; Jopling, 2001, S. 19 ff.). Natürlich besteht eine Verwandtschaft zwischen Psychotherapie und Placebo, weil beide hauptsächlich über psychologische Mechanismen wirken. Dies ist auch der Grund für die Behauptung von Shapiro und Morris (1978), dass der Placeboeffekt eine wichtige Komponente und vermutlich die gesamte Grundlage für die Existenz, Popularität und Wirksamkeit von zahlreichen psychotherapeutischen Methoden sei. In die gleiche Kerbe schlägt auch O’Connell (1983), der schreibt, Psychotherapie sei eine Placebobehandlung. In diesem Beitrag werde ich zuerst einen Überblick über das Placebo geben. Dabei lehne ich mich eng an das Kapitel »Placebo – der materialisierte Wunsch nach Heilung« an, das ich im Buch »Wenn doch nur – ach hätt’ ich bloß. Die Anatomie des Wunsches« von Brigitte Boothe (2013) veröffentlicht habe (Schönbächler, 2013). Daraufhin werde ich das Verhältnis von Psychoanalyse und Placebo präzisieren (zu den Anfängen der Beziehung: Grünbaum, 2000, S. 285 ff.) und zum Schluss die Engführung von Psychotherapie und Placebo anhand einer Unterscheidung von Johann August Schülein (1999) analysieren.

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Georg Schönbächler

Herkunft und Geschichte des Begriffs Der heute auf den medizinischen und psychologischen Kontext beschränkte Begriff des Placebos stammt aus der religiösen Praxis. »Placebo domino in regione vivorum« (»Ich werde dem Herrn im Lande der Lebendigen gefallen«, Psalm 116,9) wurde nämlich im Mittelalter als Antiphon der Totenvesper gesungen. Bei reichen Verstorbenen war es üblich, nach der Trauerfeier ein großzügiges Mahl auszurichten. Daher versuchten auch weit entfernte Verwandte oder unbeteiligte Schmarotzer, große Trauer vorzutäuschen, indem sie den Psalmvers mitsangen, um dafür mit Speis und Trank entlohnt zu werden. Diese weit verbreitete Unsitte führte dazu, dass der Ausdruck »Placebo singen« gleichbedeutend mit »heucheln« und »Speichel lecken« wurde. Dieser allgemeine Gebrauch des Ausdrucks Placebo als Vortäuschung und Schmeichelei engte sich im Verlauf der Zeit ein und meinte dann bloß noch die Gefälligkeit, die ein Arzt einem Patienten mit einem wirkungslosen Medikament erweist, dessen Beschwerden er für untherapierbar oder eingebildet hält. Natürlich wurden diese Scheinmedikamente von vielen Heilern in betrügerischer Absicht eingesetzt, doch hätte die Täuschungspraxis wohl kaum überlebt, wenn die Suggestion, die mit ihr verbunden ist, nicht gewirkt hätte. Wenn man sich vielmehr die geringe Bandbreite pharmakologischer Interventionsmöglichkeiten vor dem 20. Jahrhundert vor Augen hält, erscheint es sonderbar, dass die Ärzte ihren hohen sozialen Status über die Jahrtausende hinweg aufrechterhalten konnten. Ein Grund dafür ist sicher die vis medicatrix naturae, die natürliche Selbstheilungskraft, über die alle Organismen verfügen; ein anderer der Placeboeffekt, die Tatsache, dass der Glaube an eine Therapie selbst therapeutisch wirken kann. Im medizinischen Kontext taucht der Begriff erstmals 1788 in »Motherby’s New Medical Dictionary« auf, in dem Placebo als »a common place method or medicine« (»eine weit verbreitete Methode oder Medizin«) definiert wurde. In »Hooper’s Medical Dictionary« von 1811 wurde es als »an epithet given to any medicine adopted more to please then to benefit the patient« (»eine Beigabe zu einer Medizin, um einen Patienten eher zufriedenzustellen als ihm tatsächlich Gutes zu tun«) bezeichnet (Shapiro, 1968). Üblicherweise

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ging man davon aus, dass die Gabe eines Placebos keine Auswirkung auf den Verlauf einer Krankheit hat. Dies änderte sich schlagartig mit der Publikation »The Powerful Placebo« von Henry K. Beecher (1955). Er war im Zweiten Weltkrieg als Arzt hinter der Front in Italien stationiert, und die Legende geht, dass er begann Kochsalz­ lösung zu injizieren, als ihm das Morphin als wirksame Waffe gegen die Schmerzen der Kriegsverletzten ausging – und das mit beachtlichem Erfolg. Nach seiner Rückkehr beschäftigte er sich systematisch mit dem Phänomen und fasste in seiner Publikation von 1955 die Resultate von 15 Studien mit insgesamt 1082 Patienten zusammen. Dabei errechnete Beecher eine Wirksamkeit von Placebos in 35,2 % der untersuchten Fälle. Die Publikation wurde später aus methodologischen Gründen zu Recht kritisiert (Kienle, 1995), aber sie war der Ausgangspunkt der modernen Placeboforschung. In den 1960er und 1970er Jahren folgten dann vor allem psychologische Untersuchungen, um einen psychologischen Typus des »Placebo-­Reaktors« zu etablieren, aber alle Studien, die einen Zusammenhang zwischen Alter, Geschlecht, Bildungsstand etc. und einer positiven Reaktion auf die Gabe eines Placebos konstruieren wollten, konnten nicht repliziert werden. So gilt heute eher die Meinung, dass die Fähigkeit, positiv auf ein Placebo zu reagieren, im Wesen aller Menschen angelegt ist und dass die mentale Verfassung des Patienten (der Set) zusammen mit der Beziehung zum Therapeuten in seiner Umgebung (dem Setting) für die Wirkung verantwortlich ist.

Differenzierungen Um Missverständnisse zu vermeiden, führe ich eine begriffliche Unterscheidung zwischen dem Placeboeffekt, der Placeboreaktion und dem Placebo ein: Der Placeboeffekt ist die Differenz in der Wirkung zweier Behandlungsformen zwischen Gruppen, wobei die eine Gruppe ein Placebo, die andere Gruppe keine Behandlung erhalten hat. Die Placeboreaktion hingegen bezieht sich auf die Besserung eines Symptoms bei einem Individuum, das eine Scheinbehandlung erhalten hat und eine Wirkung erwartet. Beim ersten handelt es sich um ein statistisches Konstrukt, beim zweiten um ein phänomenologisches. Um das Placebophänomen zu verstehen, ist die Placebo-

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reaktion natürlich viel informativer als der Placeboeffekt, und auch die klinischen Konsequenzen, die sich aus den Ergebnissen der Placeboforschung ergeben könnten, werden durch das zunehmende Verständnis der psychoneurologischen Zusammenhänge bei Placeboreaktionen entstehen und nicht durch die Analyse des Placeboeffekts bei klinischen Studien. Insofern ist die Kontroverse, die von Hróbjartson und Gøtzsche (2001) entfacht wurde und im Jahr 2006 wieder aufflammte (Miller u. Rosenstein, 2006; Hróbjartson u. Gøtzsche, 2006), etwas akademisch, weil sie aus der oft zweifelhaften Evidenz eines Placebo­ effekts auf ein Fehlen der Placeboreaktion schlossen. Selbst die »New York Times« berichtete auf der Titelseite darüber, dass nun einer der letzten Mythen der Medizin entzaubert sei, weil Hróbjartson und Gøtzsche in ihrer akribischen Metaanalyse von 114 klinischen Studien, die sowohl aus einer Placebogruppe als auch aus einer Gruppe bestanden, die keine Behandlung bekam, nachwiesen, dass die Placebobehandlungen keine statistisch signifikante Besserung im Vergleich zu den unbehandelten Patienten erzielten. Vieles kann natürlich einen Placeboeffekt vortäuschen, und viele Berichte zu Placeboeffekten sind allzu unkritisch und enthusiastisch. Insofern war die Metaanalyse von Hróbjartson und Gøtzsche (2001) eine heilsame Herausforderung für die Placeboforschung. Die zwei wichtigsten Störfaktoren, die einen Placeboeffekt vortäuschen können, sind der Spontanverlauf, im englischen Sprachraum unter dem Begriff »natural history« bekannt, und das Regression-to-the-­meanPhänomen. So werden beispielsweise bei den meisten Personen mit Kopfweh die Schmerzen nach einer gewissen Zeit wieder verschwinden. Jede therapeutische Intervention (oder auch gar keine) wird, wenn sie beim Höhepunkt dieses natürlichen Spontanverlaufs gegeben wird, unvermeidlich eine Besserung zur Folge haben. Deshalb lässt sich in einer klinischen Studie nie sagen, wie vielen von den sogenannten Placebo­respondern es nicht auch ohne Behandlung besser gegangen wäre, wenn keine unbehandelte Kontrollgruppe miterfasst wird. Beim Regression-to-the-mean-Phänomen handelt es sich um eine vergleichbare Erscheinung. Viele Schmerzzustände, die chronisch auftreten, variieren in Intensität von Episode zu Episode. Fasst man

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alle Intensitäten der Episoden zusammen, ergibt sich mehr oder weniger eine Normalverteilung der Werte. Die schweren Episoden sind viel seltener, und die Wahrscheinlichkeit, dass die Schmerzintensität zu einem späteren Zeitpunkt nachlässt, ist hoch. Wenn wir annehmen, dass Patienten erst ab einer bestimmten hohen Schwelle medizinische Hilfe verlangen, dann sind die schweren Fälle bei medizinischen Konsultationen oder beim Eintritt in eine klinische Studie überrepräsentiert. Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Schmerz kurze Zeit nach einer Intensitätsspitze weniger stark ist als zu dem Zeitpunkt, als ärztliche Hilfe in Anspruch genommen wurde. Daher kann auch eine unwirksame Behandlung, die zu einem Zeitpunkt hoher Schmerzintensität appliziert wird, eine heilende Wirkung vortäuschen, denn es ist naheliegend, das die Beschwerden zu einem späteren Zeitpunkt sowieso geringer gewesen wären. Bleibt noch der Begriff des Placebos: Üblicherweise wird das Placebo als »Scheinmedikament ohne Wirkstoffe« definiert (Duden, 1996). Im erweiterten Sinne fallen dann auch andere medizinische Scheininterventionen wie z. B. Scheinoperationen darunter. Zuvor schon hatten Shapiro und Morris (1978) Placebo als »nicht spezifisch wirksam« und Grünbaum (1981) als »nicht charakteristisch wirksam« definiert. Sie hatten dabei aber eine negative Definition verwendet, die wissenschaftslogisch natürlich wenig sinnvoll ist, da etwas, das erklärt werden soll, gerade nicht negativ definiert werden darf. Wenn ich beispielsweise den Begriff »Bumerang« mit der folgenden negativen Definition festlege: »Wenn ich einen Gegenstand x fortwerfe, und er kehrt nicht zurück, dann ist es kein Bumerang«, so hilft mir das natürlich nicht weiter. Aber genauso hilflos erscheinen die bereits genannten negativen Placebodefinitionen. Sie haben natürlich etwas mit dem zu tun, was ich als ein Dogma der klassischen Naturwissenschaften bezeichnen möchte, nämlich folgende Aussage: »Jeder feststellbare Effekt muss eine stoffliche Ursache haben.« Diese materialistische These ist natürlich schon in der Antike (etwa bei Lukrez in seinem Lehrgedicht de rerum natura) bekannt, aber sie ist in vielen naturwissenschaftlichen Kreisen auch heute noch gang und gäbe, wenn Arthur Kornberg, der Nobelpreisträger in Medizin des Jahres 1959 in einem Aufsatz in »Biochemistry« (1987) beispielsweise schreibt: »I am astonished that otherwise

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intelligent and informed people, including physicians, are reluctant to believe that mind, as part of life is matter and only matter.« (»Ich bin erstaunt, dass ansonsten intelligente und gebildete Menschen, inklusive Ärzte, sich zu glauben weigern, dass der Geist, als Teil des Lebens, Materie und nur Materie ist.«) (Kornberg, 1987, S. 6890.) Innerhalb dieses Dogmas müssen Placeboeffekte natürlich wegerklärt werden. Scharlatane und Quacksalber mögen ihre zweifelhaften Erfolge mit unwirksamem Gebräu erzielen, in der wissenschaftlichen Medizin haben sie keinen Platz. Pharmakologische Wirkungen kommen in den meisten Fällen dadurch zustande, dass Arzneistoffe an Rezeptoren auf den Zellkörpern anhaften und dadurch einen Signalprozess auslösen, der eine Veränderung des Stoffwechsels der Zelle zur Folge hat. Dieses von Emil Fischer im Jahre 1894 postulierte Schlüssel-Schloss-Prinzip ist das vorherrschende pharmakologische Paradigma, und Wirkungen, die nicht eine solche molekulare Grundlage haben, darf es nicht geben. Aber jede medizinische Handlung, auch eine vom Therapeuten nicht intendierte, ist prinzipiell interpretierbar und löst physiologisch messbare Auswirkungen im Organismus aus. Alle therapeutischen Handlungen stehen in einem Behandlungskontext, der für eine umfassende Analyse mitinterpretiert werden muss. Die Placeboreaktion ist das Resultat einer Bedeutungserteilung, die in einer therapeutischen Intervention aufgrund verschiedenster Kontextvariablen vollzogen wird. Zu diesen Kontextvariablen gehören beispielsweise vergangene Erfahrungen mit Medikamenten, das Wissen um die Krankheit, das subjektive Welt- und Situationswissen, die momentane Stimmungslage, die Beziehung zwischen Therapeut und Patient, der »Glaube« an die Therapie und vieles andere mehr. Die Placeboreaktion tritt aber nicht bloß bei der Gabe eines Placebos auf, sondern trägt bei jeder therapeutischen Intervention mit zur Wirkung bei. Unsere heutigen Arzneimittel sind natürlich enorm wirksam: Schon wenige Tausendstel Milligramm einer Substanz können Kopfschmerz behandeln, uns den Schlaf finden lassen oder bakterielle Infektionen zum Verschwinden bringen – wenn das nicht große Erwartungen weckt! Spürt der Patient nämlich aufgrund der Medikamentenwirkung eine erste Besserung, verstärkt das seine Erwartung auf den Erfolg der Therapie und erhöht dadurch den Sug-

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gestionseffekt des Arzneimittels massiv. Insofern ist die Placeboreaktion bei der Gabe eines Placebos sogar ein Spezialfall, da beim Placebo diese ersten Anzeichen einer Besserung nicht auftreten. Etwas überspitzt ließe sich sagen, dass wirksame Arzneistoffe also eigentlich Placeboverstärker sind. Wie wichtig diese Bedeutungserteilungen sind, zeigen For­ schungsarbeiten, die mit dem sogenannten Open-Hidden-Para­digma durchgeführt wurden (Benedetti, Carlino u. Pollo, 2011). Dabei wurden Patienten verschiedene Arzneimittel entweder versteckt über eine Infusion oder offen vom Arzt appliziert. Im ersten Fall waren sich die Patienten also nicht bewusst, dass sie ein Arzneimittel erhielten. In mehreren Studien konnte gezeigt werden, dass zum Beispiel postoperative Schmerzen bei offener Applikation des Schmerzmittels viel besser und schneller wirken als bei versteckter. Der Unterschied trat aber nicht bloß bei Schmerzmitteln auf, sondern ließ sich bei postoperativen Angstzuständen auch mit dem Benzodiazepin Diazepam zeigen, das bei versteckter Applikation völlig wirkungslos blieb.

Einsatzgebiete Ein wichtiger Einsatzbereich für Placebos sind die kontrollierten, randomisierten Doppelblindstudien in der klinischen Forschung. Die Wirksamkeit von Placebos ließ die Frage aufkommen, ob neue Medikamente denn überhaupt besser wirken als Placebos. 1747 hatte bereits der britische Schiffsarzt James Lind eine kontrollierte Placebostudie mit an Skorbut erkrankten Matrosen durchgeführt und dabei zeigen können, dass Orangen und Zitronen den Ausbruch von Skorbut verhindern können. Das damals noch unbekannte Vitamin C erhielt später den Namen Ascorbinsäure. Richtig durchgesetzt haben sich die placebokontrollierten, randomisierten Doppelblindstudien aber erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Seither gelten sie als Standardmethode bei der Untersuchung von Arzneimitteleffekten. Kontrolliert nennt sich eine solche Studie, weil sie neben einer Experimentalgruppe auch eine Kontrollgruppe enthält. An den Mitgliedern der Experimentalgruppe (Verumgruppe) wird die Intervention durchgeführt, die Mitglieder der Kontrollgruppe (Placebogruppe) erhalten dagegen nur ein Placebo. Somit lassen sich Unterschiede

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der beiden Gruppen hinsichtlich des eintretenden Effekts direkt auf die Intervention zurückführen. Randomisiert wird eine solche Studie genannt, weil die Zuordnung der Probanden zur Experimentaloder Kontrollgruppe rein zufällig (engl.: random) erfolgt, und doppelblind meint die Tatsache, dass weder der Versuchsleiter noch der Proband wissen, zu welcher Gruppe der Proband gehört. Weil es aber vor allem bei lebensbedrohlichen Krankheiten nach heutigen Standards unmoralisch wäre, eine Behandlung vorzuenthalten, werden heute in klinischen Studien neue Medikamente meistens nicht mehr gegen Placebo, sondern gegen die bisherige Standardtherapie geprüft. Placebos wurden und werden aber auch in der klinischen Praxis eingesetzt. In einer an der Universität Zürich durchgeführten Erhebung bei Hausärzten wurde erfragt, ob und wie Hausärzte Placebos verschreiben (Fässler, Gnädinger, Rosemann u. Biller-Andorno, 2009). Die Befragung ergab das erstaunliche Resultat, dass 72 % der Ärzte hin und wieder Placebos verschreiben oder verabreichen. Hier muss aber noch eine begriffliche Differenzierung eingeführt werden zwischen »reinen« und »unreinen« Placebos. Reine Placebos enthalten gar keinen Wirkstoff, also beispielsweise Milchzuckertabletten oder Injektionen mit isotonischer Kochsalzlösung. Zu den unreinen Placebos gehören unter anderem Vitamintabletten, die zwar Wirkstoffe enthalten, aber in der verabreichten Dosierung oder für die entsprechende Krankheit keine therapeutische Wirkung haben. 57 % der Ärzte taten kund, in ihrer Praxis unreine Placebos einzusetzen, und 17 % der Ärzte verabreichten auch reine Placebos. Als häufigste Gründe gaben die Ärzte dabei an, dass sie dies täten, um dem Wunsch des Patienten nach einem Medikament nachzukommen oder um einen therapeutischen Vorteil aufgrund der Placeboreaktion zu erzielen. Aus moralischer Sicht stellt sich natürlich die Frage, ob es gerechtfertigt ist, Zuckerpillen zu verabreichen. Die Gabe eines Placebos ist immer mit einer Täuschung verbunden, was einer guten Arzt-­ Patient-Beziehung natürlich prinzipiell abträglich ist. In einem traditionellen paternalistischen Modell der Arzt-Patient-­Beziehung, bei dem der Arzt besser weiß als der Patient, was für diesen gut ist, ist die Gabe eines Placebos selbstverständlich ohne Probleme möglich. Heute herrscht aber eher ein Autonomiemodell vor, das

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davon ausgeht, dass Arzt und Patient gleichberechtigte Partner in der Behandlung des medizinischen Problems des Patienten sind, und innerhalb dieses Modells ist die Täuschung des Patienten mit einem Placebo moralisch verwerflich. Viele Ethiker verurteilen daher die Gabe von Placebos, da sie neben dem Übergriff auf die Selbstbestimmung des Patienten und der Vorenthaltung wirksamer Arzneimittel auch der Institution Medizin insgesamt schade, indem das Vertrauen in das medizinische Personal erodiert werde. Betrachtet man aber das Placebo aus pharmako­pragmatischer Perspektive, ist auch die Gabe eines Placebos ein Akt des Hilfeleistens in einem therapeutischen Kontext. Vor allem vor dem Hintergrund der Wirksamkeit von Placebo­interventionen liegt eben eher eine bedingte Täuschung vor. Es handelt sich viel eher um eine aufgrund des Rituals der Medikamenten­abgabe hervorgerufene Selbstheilung oder, wie der deutsche Psychosomatiker Wulf Bertram es formulierte, um die Realisierung des »individuell aktivierbaren salutogenetischen Potenzials« (persönl. Mitteilung). Es braucht dabei also gar keine Täuschung vorzuliegen. Ein Placeboeffekt kann auch auftreten, wenn der Patient weiß, dass er ein Placebo bekommt. Mit diesem »open-label placebo« (OLP) genannten Vorgehen erreichten Kaptchuk und Mitarbeiter (2010) Verbesserungen der Symptome bei Reizdarmsyndrom im Vergleich zu einer Kontrollgruppe. Außerdem konnte in einer an der Universität Basel durchgeführten Studie (Locher, 2017) kein Unterschied in der Wirksamkeit zwischen offenen Placebos und solchen, die in täuschender Absicht verabreicht wurden, festgestellt werden.

Wirkungsmechanismen Es gibt verschiedene Hypothesen, wie dieses Potenzial aktiviert werden kann. Hauptsächlich werden die Konditionierungstheorie, die Erwartungstheorie und die Bedeutungstheorie diskutiert. Bei der Konditionierung im Pawlow’schen Sinne besteht der Grund­ mechanismus darin, dass ein neutraler Stimulus mit einem unkonditionierten Stimulus (UCS) gepaart wird, der eine unkonditionierte Reaktion (UCR) hervorruft. Mit der Zeit wird der neutrale Stimulus zu einem konditionierten Stimulus (CS), der eine Reaktion hervorzurufen vermag, die der UCR ähnlich ist. Bei der Placeboreaktion

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stellt das aktive Medikament den UCR dar, der eine Reaktion, also beispielsweise eine Schmerzverminderung, auslöst. Der gesamte Kontext der Arzneimittelapplikation (die Tablette, die Spritze, die Anwesenheit eines Arztes, der weiße Kittel; also das, was wir weiter oben als Setting bezeichneten) fungiert ursprünglich als neutraler Reiz. Tritt nun eine Besserung immer bei diesem Setting auf, wird es zum CS, der nun allein in der Lage ist, die Reaktion (CR) auszulösen. Das erste Experiment im Tierversuch veröffentlichten Ader und Cohen (1975). Sie applizierten Ratten das Immunsuppressivum Cyclophosphamid (UCS) gemeinsam mit dem Süßstoff Saccharin. Nach einer Konditionierungsphase hatte Saccharin (CS) allein immunsuppressive Wirkung (CR). Die Arbeitsgruppe um Schedlowski zeigte, dass dieser Effekt auch beim Menschen nachweisbar ist (Goebel et al., 2002). Zahlreiche andere Studien kamen aber zum Schluss, dass die Konditionierung nicht als allein verantwortlich für eine Placeboreaktion betrachtet werden kann. Manchmal stimmen nämlich die Effekte nicht mit den pharmakologischen Eigenschaften der aktiven Substanz überein. Im Rahmen der Kritik der kognitiven Psychologie am Behaviorismus wurde daher argumentiert, dass die klassische Konditionierung aufgrund des Erwerbs von Erwartungen zustande kommt. Für Kirsch (1997) beispielsweise kann die klassische Konditionierung als Spezialfall der Erwartungstheorie verstanden werden. Eine Erwartung ist die Antizipation eines zukünftigen Zustandes. Die Placeboreaktion entsteht gemäß der Erwartungstheorie dadurch, dass ein Patient sich vorstellt, wie eine Intervention wirken wird. Zum Teil kann dadurch sogar die pharmakologische Wirkung einer Behandlung in ihr Gegenteil verkehrt werden. Die Placeboreaktion ist also die direkte Folge der Erwartung, dass die Behandlung wirken wird. Reaktionserwartungen haben nach Kirsch Einfluss auf Erleben und Verhalten, insofern als einerseits Handlungen ausgeführt werden, die zu positiv bewerteten unwillkürlichen Reaktionen führen, und Handlungen vermieden werden, die negativ bewertet sind, und andererseits Reaktionserwartungen dazu tendieren, selbst erfüllend zu sein. Reaktionserwartungen können so Schmerz, Angst, Anspannung oder Entspannung verändern. Die Rolle von Reaktionserwartungen bei unwillkürlichen Reaktionen

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ist mit der Rolle von Absichten bei willentlichen Handlungen zu vergleichen. Sie erinnern an die von Merton (1948) postulierte sich selbst erfüllende Prophezeiung. Merton bezieht sich dabei auf das sozialwissenschaftliche Theorem von W. I. Thomas: »If men define situations as real, they are real in their consequences« (Merton, 1948, S. 193). Als Beispiel aus dem medizinischen Bereich kann hier die Studie von Ikemi und Nakagawa (1962) angeführt werden, bei der 13 hypersensitive Versuchspersonen an einem Arm mit den Blättern eines Kastanienbaums berührt wurden und am anderen Arm mit den Blättern eines Wachsbaums, der Kontaktdermatitis hervorrufen kann. Den Probanden wurde aber die jeweils falsche Erwartung suggeriert. Alle 13 Probanden zeigten in der Folge Hautirritationen auf die harmlosen Blätter, und nur zwei reagierten auf die Blätter der giftigen Pflanze. Benedetti und Mitarbeiter (2003) versuchten zu differen­zieren, welchen Einfluss die Konditionierung und welchen Einfluss die Erwartung bei einer Placeboreaktion haben. Sie zeigten, dass eine Konditionierung vor allem dann auftritt, wenn unbewusste physiologische Funktionen wie etwa eine Hormonausschüttung involviert sind, die Erwartungen hingegen eine Rolle spielen, wenn bewusste physiologische Prozesse wie beispielsweise Schmerzen beteiligt sind. Die Bedeutungstheorie geht davon aus, dass Menschen gewisse Wahrnehmungsinhalte mit Bedeutung versehen können, und die oben vorgestellte biosemiotische Rekonstruktion des Placebos steht in der Tradition dieses Erklärungsansatzes. Harrington verwendete die Metapher des Theaters, um die Interaktion zwischen Arzt und Patient zu beschreiben. In diesem Drama, dessen Drehbuch die Spieler im therapeutischen Prozess selber schreiben, verwandeln sich Bedeutungen in biologische Reaktionen. Besonders deutlich wird dies in der Chirurgie – Operationssaal heißt englisch »operation theatre« –, deren Bühne besonders eindrücklich ist. Green (2006) verglich die Chirurgie mit einem schamanistischen Ritual: Hier wie dort gibt es Vorbereitungsrituale wie die Reise zum Ort des Rituals, das Fasten, die rituellen Kleider, die Einnahme psychotroper Substanzen, das Einreiben mit reinigenden Flüssigkeiten, das Treffen mit den maskierten Heilern und die Inhalation von betäubenden Stoffen. Hier wie dort gibt es ein Zentralritual mit Berührung durch

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den Heiler und Blutvergießen, und hier wie dort gibt es postrituelle Aktivitäten wie eine gewisse Zeit des Aufenthalts am Ort des Rituals und entsprechende Rehabilitationsmaßnahmen vor der Wiedereingliederung des Patienten in den normalen Alltag. Empirische Unterstützung erhält diese Sicht durch eine Studie von Moseley und Mitarbeitern (2002): Moseley wollte die Wirksamkeit von kniearthroskopischen Maßnahmen untersuchen und teilte 150 Patienten in drei Gruppen ein, von denen eine Gruppe eine arthroskopische Spülung des Kniegelenks, die zweite Gruppe eine Intervention mit Abschaben von Gelenkknorpelmaterial und eine dritte Gruppe eine bloße Placebointervention mit drei Hautschnitten erhielten. Zu keinem Zeitpunkt in den folgenden zwei Jahren erzielten die chirurgischen Maßnahmen eine bessere Wirkung als die Placebointervention. Bei der Schmerzlinderung war die Placebooperation der herkömmlichen Chirurgie sogar überlegen und erreichte auch ein Jahr nach dem Eingriff eine durchschnittliche Verminderung von 15 Punkten auf der hundertteiligen Schmerzintensitätsskala, was eine klinisch relevante Schmerzlinderung darstellt.

Neurobiologie des Placebos Neurobiologisch gibt es verschiedene Ansätze, um die unterschiedlichen Aspekte der Placeboreaktion zu erklären. Bei der Placeboanalgesie sind es die Endorphine, die für die Wirkung verantwortlich gemacht werden. Der Mensch verfügt über ein sehr effektives System zur Schmerzbehandlung, welches in Notfallsituationen zur Schmerzunterdrückung oder auch bei euphorisierenden Tätigkeiten wie Marathonlaufen (sogenanntes runner’s high), beim Sex oder Schokoladeessen gewisse Substanzen ausschüttet, welche eine strukturelle Ähnlichkeit mit Morphin oder anderen Opiaten aufweisen, die als starke Schmerzmittel eingesetzt werden. Diese »endogenen« Opioide werden auch bei der schmerzstillenden Wirkung von Placebos vermutet. 1978 prüften Levine und Mitarbeiter diese Hypothese, indem sie Naloxon, einen Morphinantagonisten, einsetzten. Den Versuchspersonen wurde ein Placebo gegen Schmerzen verabreicht. Falls dieses Placebo wirksam war, gelang es, diese Wirkung mit Naloxon aufzuheben. Da Naloxon selbst keine Schmerzen

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erzeugt, wurde dadurch indirekt bewiesen, dass die Placeboreaktion durch eine Endorphinausschüttung zustande gekommen sein musste. Unterstützung erhielt die Opioidhypothese durch Studien mit bildgebenden Verfahren. Petrovic, Kalso, Petersson und Ingvar (2002) mit Positronenemissionstomografie (PET) und Wager et al. (2004) und Zubieta et al. (2005) mit funktioneller Magnetresonanz (fMRI) konnten zeigen, dass beim Placeboeffekt Hirnareale eine erhöhte Aktivität aufweisen, die eine hohe Konzentration an µ-Opioidrezeptoren besitzen. Die ausgeprägtesten Aktivitätsunterschiede zeigen sich im dorsolateralen präfrontalen Kortex, im pregenualen rostralen anterioren Cingulum, im anterioren insulären Kortex und im Nucleus accumbens. Da das endogene Opioidsystem neben der Schmerzreduktion mit einer Reihe weiterer Funktionen verbunden ist, wird über eine hypothalamische Regulation beispielsweise auch die Stressreaktion beeinflusst. Erstaunlicherweise wird auch die Gedächtnisleistung vom endogenen Opioidsystem mitbeeinflusst, wie unsere Forschungsgruppe zeigen konnte (Stern et al., 2011). Um den häufig vorgebrachten Einwand zu untersuchen, Placebo wirke bloß auf subjektiv erhobene Parameter wie Schmerz oder Depression, entwickelten wir ein Design im Bereich des Kurzzeitgedächtnisses. Die Leistungsveränderung in einem Gedächtnistest kann dabei objektiv gemessen werden. Der einen Hälfte der Probanden gaben wir die Suggestion, dass sie eine Substanz injiziert bekämen, die in Vorversuchen eine stark gedächtnisfördernde Wirkung gezeigt hätte. Der anderen Hälfte wurde die Substanz gespritzt mit der Angabe, man wolle untersuchen, wie sie sich auf die Gedächtnisleistung auswirke. Innerhalb der Gruppen erhielt die eine Hälfte bloß ein Placebo, nämlich isotonische Kochsalzlösung, die andere Hälfte den Opiatantagonisten Naloxon. Es zeigte sich, dass die Gruppe, die ein Placebo mit der Suggestion erhielt, es handle sich um eine gedächtnisfördernde Substanz, eine signifikante Erhöhung der Gedächtnisleistung zeigte. Dieser Effekt tauchte in der mit Naloxon behandelten Suggestionsgruppe nicht auf, das heißt, Naloxon neutralisierte den Suggestionseffekt der Gedächtnisverbesserung. Ohne eine entsprechende Suggestion hatte weder das Placebo noch Naloxon einen Einfluss auf die

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Gedächtnisleistung, das heißt, die Placebowirkung kam aufgrund der Suggestion zustande. Neben dem Schmerz ist die Placeboreaktion auch bei der Par­ kinsonkrankheit gut untersucht. De la Fuente-Fernandez et  al. (2001) konnten nachweisen, dass die Gabe eines Placebos zu einer Dopamin­ausschüttung im Striatum von Parkinsonpatienten führt, was zu einer Verbesserung der krankheitsbedingten Bewegungsleistungen führt. Die bekannte Rolle des Neurotransmitters Dopamin bei Belohnungsverhalten lässt darauf schließen, dass eine Belohnungserwartung zu dieser Erhöhung des Dopamins führt, die für die klinische Wirkung verantwortlich ist. Es gibt auch Hinweise, dass eine belohnungserwartungsbezogene Erhöhung der dopaminergen Aktivität nicht bloß bei Parkinson, sondern auch bei Placeboanalgesie von Bedeutung ist. In diesem Zusammenhang wurde auch eine erste Publikation veröffentlicht, die eine genetische Modifikation der Placeboreaktion nahelegt: Hall und Mitarbeitende (2012) konnten zeigen, dass Patienten, die eine Mutation in einem Gen aufweisen, das für ein Enzym kodiert, welches für den Dopaminabbau verantwortlich ist, eher auf Placebos ansprechen. Die Mutation führt dazu, dass im präfrontalen Kortex, dessen zentrale Rolle bei der Placeboreaktion im Folgenden erörtert wird, höhere Dopaminkonzentrationen vorliegen. Eine dritte Domäne, bei der Placeboreaktionen eine wichtige Rolle spielen, ist die Depression. In zwei Studien aus dem Jahr 2002 wurden sowohl (a) elektrophysiologische als auch (b) metabolische Veränderungen bei depressiven Patienten festgestellt, denen Placebos verabreicht wurden. (a) Leuchter, Cook, Witte, Morgan und Abrams (2002) fanden EEG-Veränderungen im präfrontalen Kortex, einer Hirnregion, die mit der Bewertung von Situationen und Bedeutungszuschreibungen in Zusammenhang gebracht wird. (b) Mayberg et al. (2002) untersuchten den Glucosestoffwechsel von depressiven Patienten und fanden nach Placeboadministration erhöhte Stoffwechselraten im präfrontalen Kortex, im prämotorischen Kortex, im inferioren parietalen Kortex, in der parietalen Insula und dem posterioren Cingulum sowie gesenkte Raten im subgenualen Cingulum, im Hypothalamus und im Thalamus, im Parahippocampus und in der supplementären sensorischen Insula. Es sind dies Regionen, die

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auch vom selektiven Serotonin-Reuptake-Hemmer Fluoxetin (Fluctine© oder Prozac©) beeinflusst werden, was darauf hindeutet, dass bei Placeboreaktionen auch Serotonin eine Rolle spielt. Allgemein sind bei Depressionen die Differenzen zwischen Medikament und Placebo gering, wie Kirsch und Mitarbeiter (2008) in einer Metaanalyse von 47 klinischen Studien zeigten. Einen klinisch relevanten Unterschied findet man bloß bei sehr schweren Depressionen, wobei die Autoren vermuten, dass dieser nicht aufgrund der Medikamentenwirkung zustande kommt, sondern auf eine eingeschränkte Placeboreaktion bei schwer Depressiven. Bei leichten Depressionen ist eine Differenz zwischen den selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-­ Hemmern und Placebos statistisch nicht nachweisbar. Diese Studie setzt hinter den manchmal allzu leichtfertigen Einsatz von Antidepressiva ein großes Fragezeichen. Sowohl bei der Placeboanalgesie wie auch bei der Placebowirkung gegen Depression hat, wie bereits beschrieben, der präfrontale Kortex einen großen Einfluss. Diesen versuchten wir in unserer Forschungsgruppe in einem Experiment mit repetitiver transkranieller Magnetstimulation (rTMS) abzuschätzen (Krummenacher, Candia, Folkers, Schedlowski u. Schönbächler, 2010). Dabei handelt es sich um eine Methode, bei der durch das Applizieren eines starken Magnetfeldes an der Oberfläche des Schädels die Gehirnfunktion der darunterliegenden Areale des Kortex für eine gewisse Zeit unterbrochen werden kann. Dabei suggerierten wir der Hälfte der Probanden – auch mittels eines vorgetäuschten visuellen Feedbacksystems –, dass das TMS selbst schmerzlindernd wirkt. Und in der Tat ertrugen diese Probanden in der Folge höhere Hitzereize als die andere Hälfte der Probanden, denen diese Suggestion nicht gegeben worden war. Diese Wirkung entstand aber bloß, wenn das TMS-Gerät nicht eingeschaltet, das heißt, die Funktion des dorsolateralen präfrontalen Kortex (PFC) nicht eingeschränkt war. Der Effekt verschwand, wenn das TMS-­Gerät tatsächlich ein Magnetfeld erzeugte, das den PFC in seiner Funktion störte. Der dorsolaterale PFC scheint also eine notwendige Gehirnstruktur für die Erzeugung einer Placeboanalgesie zu sein.

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Nocebo Nicht unterschlagen werden soll hier das sogenannte »Nocebo«, die Kehrseite der Placebomedaille. Im Sinne des lateinischen Verbs »nocere« = »schaden« ist die Noceboreaktion die Verschlechterung eines Zustandes bei einem Individuum, das eine Scheinbehandlung erhalten hat. Die Angst vor Nebenwirkungen oder schlechte Erfahrungen mit früheren Therapiemaßnahmen können dabei zu einer negativen Bedeutungserteilung der medizinischen Intervention führen. Genauso wie der Placeboanteil bei einer Verum­behandlung zur Gesamtwirkung hinzukommt, ist die Noceboreaktion für einen nicht geringen Teil der unerwünschten Wirkungen von Arzneimitteln verantwortlich. Über die physiologischen Korrelate der Noceboreaktion ist noch sehr wenig bekannt. Ihre Auswirkung kann aber fatal sein – im Extremfall beim Voodoo-Tod –, nicht lebensbedrohend, aber immer noch eindrücklich zeigte sie sich beim Vorfall im Postzentrum Mülligen bei Zürich am 4. September 2012, als 34 Postangestellte aufgrund eines weißen Pulvers hospitalisiert werden mussten, von dem sich später herausstellte, dass es bloß Maisstärke war. Einzig die Vorstellung, mit einem möglicherweise giftigen Pulver in Kontakt gekommen zu sein, löste Beschwerden wie Husten, Übelkeit, Erbrechen, Reizung der Atemwege und Kreislaufschwäche aus. Die Kraft zur ansteckenden Imagination kommt hier besonders deutlich zum Ausdruck.

Das Placebo aus psychoanalytischer Sicht Aus psychoanalytischer Sicht kann man die Einnahme eines Placebos als Inkorporation interpretieren, bei der ein Objekt unter Lustgewinn einverleibt wird. Es handelt sich um eine orale Aktivität, die eine Befriedigung zur Folge hat, die symbolisch der Linderung von Hunger oder Schmerz entspricht, die das Kind an der Mutterbrust erlebte. Die halluzinierte symbolische Bedeutung der oralen Befriedigung vermag eine durch die Krankheit ausgelöste innere Leere zu füllen. Injektionen oder chirurgische Interventionen wirken ebenfalls »oral«, weil für das Unbewusste nur die symbolische Bedeutung der Einverleibung wichtig ist. Jedes Medikament, auch ein Placebo,

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wird so zu einem Projektionsobjekt mit wunscherfüllender Bedeutung (Meissel, 1995). Das Placebo ist also biosemiotisch gesehen ein Wunschvehikel, das mit verschiedenartigsten Bedeutungen versehen werden kann und durch die Einverleibung eine orale Ersatzbefriedigung verschafft. Während der Wunsch seine hedonische Qualität als innerpsychische Aktivität entfaltet, braucht die Placeboreaktion den Umweg über ein externes Objekt, das mit Heilungserwartung aufgeladen wird. Einen Spezialfall stellen für Meissel (1995) hingegen die Neuroleptika dar: als wunschverweigernde, Realitätssinn einfordernde, deshalb in psychotischer Spaltungsübertragung oft als rein »böse« erlebte Objekte. Während Placebos wunscherfüllende Bedeutung ohne pharmakologische Wirksamkeit haben, sind Neuroleptika Drogen der Wunschverweigerung, Desillusionierung und Ernüchterung. Interessant ist auch Meissels Idee, Placebos als Übergangsobjekte im Sinne von Winnicott zu interpretieren. Das Übergangsobjekt (die Schmusedecke oder der Teddybär) »hängt sowohl mit dem äußeren Objekt (der Mutterbrust) als auch mit inneren Objekten (der magisch introjizierten Brust) zusammen, unterscheidet sich aber von beiden. Übergangsobjekte und Übergangsphänomene gehören in den Bereich der Illusion, die dem Beginn des Erlebens die Grundlage bereitstellt« (Winnicott, 1951, S. 319). Viele Patienten, die unter Angststörungen leiden, tragen zum Beispiel als Hosentaschenreserve eine Tablette eines beruhigenden Benzodiazepins mit sich und berichten, dass die bloße Präsenz ihnen Sicherheit verleihe, und sie die Tablette nie einnähmen, während es sie in Panik versetze, wenn sie bemerkten, dass sie sie zu Hause vergessen hätten. Johann August Schülein (1999) differenziert in seinem Buch »Die Logik der Psychoanalyse« zwischen denotativen und konnotativen Theorien. Denotative Theorien lassen sich algorithmisch reduzieren, ohne dass ein Logikverlust eintritt, während es bei konnotativen Theorien, in denen es um selbstreflexive Wirklichkeit geht, verschiedenartige Verschränkungen zwischen dem Untersuchungsgegenstand und seinem Kontext gibt. Dies ist aber kein Mangel solcher Theorien, sondern ihr Charakteristikum. Psychoanalyse und auch das Placebo lassen sich bloß in einem solchen konnotativen Theorierahmen untersuchen, und alle Versuche, sie auf reine Ursache-Wir-

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kungs-Ketten zu reduzieren, müssen scheitern. Die evidenzbasierte Medizin versucht aber immer mehr, in ihrem Fachgebiet die Charakteristika einer denotativen Theorie zu etablieren. So richtet sich die Methode von Wirksamkeitsstudien, sei es von Pharmaka oder Psychotherapien, nach dem naturwissenschaftlichen Grundsatz, dass in einem Experiment nur jeweils eine Variable geändert werden darf. Alle Randbedingungen des Experiments werden konstant gehalten, die Phänomene der Welt werden in Einzelteile zerlegt und einzeln analysiert. Die Ergebnisse einer solchen Wirklichkeitsstrukturierung werden besser, je mehr von den Situationsbedingungen abstrahiert werden kann, das heißt, je weniger sie sich vom Kontext beeinflussen lassen. Diese reduktionistische Methode ist erfolgreich, wenn es darum geht, mechanische oder repetitive Abläufe zu analysieren, zu simulieren oder technologisch zu verwerten. Natürlich ist es wichtig, zwischen unwirksamen und wirksamen Therapien zu unterscheiden, aber der strenge Fokus auf die kausale Relation von Intervention und Resultat kann den vielfältigen Kontexteinflüssen in einer therapeutischen Situation nicht gerecht werden. Wenn es aber um Menschen mit ihren Problemen und Krankheiten geht, stößt eine solche Methode an ihre Grenze. Versucht man, wissenschaftliche Aussagen im psychotherapeutischen Gebiet zu machen, werden sie umso besser, je mehr sie sämtliche relevanten Kontexthinweise mit einbeziehen. Vergangene Erlebnisse, Einschätzungen der Situation, die Motive einer Person und die sozialen Rahmenbedingungen sind enorm wichtig (Schönbächler, 2002). Dies ist auch der Grund für die notorischen Schwierigkeiten, placebokontrollierte Studiendesigns zu entwerfen. Borkovec und Sibrava (2005) nennen drei Gründe dafür: Erstens sei ein Placebo definitionsgemäß eine inerte Behandlung. Wenn ein psychologisches Placebo »appliziert« würde und sich etwas änderte, müsste ein psychologischer Wirkmechanismus dafür verantwortlich sein. Ein solches »Placebo« wäre dann aber natürlich nicht mehr inert: ein Selbstwiderspruch. Zweitens sei es nicht möglich, eine Placebopsychotherapie zu entwickeln, die glaubwürdig sei. Außerdem würde der Therapeut wissen, ob er die echte Psychotherapie durchführt oder bloß die Placebotherapie. Wenn man in Betracht ziehe, wie wichtig die Überzeugung des Therapeuten für einen Therapieerfolg

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ist, sei ein solcher Vergleich nicht möglich. Drittens (und dies gelte für alle placebokontrollierten Studien) sei es unethisch, leidende Patienten mit einer Placebotherapie zu behandeln. In der Psychoanalyse ist eine Placebokontrolle meines Erachtens auch deshalb nicht möglich oder auch wichtig, weil die Psychoanalyse ganz anders funktioniert als die somatische Medizin, wie dies Guggenheim, Hampe, Schneider und Strassberg (2016) präzise auf den Punkt bringen: »Der somatische Arzt heilt, indem er ein Medikament gibt oder operiert. Er muss dies tun, weil der somatisch Kranke sich in diesen Fällen nicht selber heilen kann. Der somatische Arzt weiß die Wahrheit über die Krankheit des Patienten […] und kann ihn deshalb heilen. Auch der Psychoanalytiker weiß Wahrheiten über psychische Krankheiten […], doch muss er nicht nur diese allgemeinen Wahrheiten auf den Patienten anwenden, sondern auch den Patienten dazu bringen, Wahrheiten über sich selbst anzuerkennen. Der Chirurg kann den Beinbruch theoretisch heilen, ohne dass derjenige, der das Bein gebrochen hat, überhaupt weiß, dass er ein gebrochenes Bein hat […]. Es ist jedoch nicht möglich, jemanden psychoanalytisch zu heilen, der nicht irgendwann selber wissen kann, worunter er leidet« (S. 146). Der somatische Arzt verändert durch seine Intervention etwas im Körper des Patienten; bei der Psychoanalyse geht es aber um Selbstveränderung. Und diese lässt sich in keinem Doppelblindversuch abbilden. Welche Faktoren diese Selbstveränderung eigentlich hervorbringen, ist gemäß dem Manifest des Hohenegg-Modells von Büchi und Haas (2017) zweitrangig: »Es ist weder die fachliche Kom­petenz noch die Methode des Therapeuten, die wesentlich über den Behandlungserfolg entscheidet. Der Erfolgsfaktor ist seine Fähigkeit, mit einem Patienten eine aus dessen Wahrnehmung gute Arbeitsallianz aufzubauen. Auf den Punkt gebracht sind dabei folgende drei Aspekte maßgebend: ȤȤ die Qualität der therapeutischen Beziehung aus der Sicht des Patienten, ȤȤ die Expertise des Therapeuten aus der Sicht des Patienten, ȤȤ die Plausibilität des Therapiemodells aus der Sicht des Patienten.

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Anders gesagt: Es entscheidet nicht allein der objektive Inhalt der psychotherapeutischen Intervention über den Erfolg, sondern auch der Kontext – die aus Patientenperspektive überzeugende Art der Umsetzung. Im Grundsatz geht es um die Frage, wie das Patientenvertrauen gewonnen und verankert werden kann« (Büchi u. Haas, 2017, S. 830). Letztlich ist die Frage, ob der Therapieerfolg, wenn er denn eintrifft, aufgrund einer spezifischen psychotherapeutischen Therapie oder einer Placeboreaktion zustande gekommen ist, irrelevant, und der Streit, ob Psychotherapie im Allgemeinen und Psychoanalyse im Speziellen ein Placebo sei, hinfällig. Wichtig ist die Art und Weise, wie der Psychoanalytiker sensibel und kompetent mit Wünschen und Erwartungen des Patienten umgeht und ihn dafür gewinnt, ihm Expertise, Beziehungsfähigkeit und Plausibilität hinsichtlich des Therapiemodells zuzutrauen.

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Ulrike Kadi

Von innen aufgefressen? Facetten des Körperraums in Psychoanalyse und Medizin1

Medizinische Behandlung ist hauptsächlich Körperbehandlung. Eine Psychoanalyse richtet sich hingegen in erster Linie auf die Psyche. Mit solchen Sätzen wäre ein Text über den Körper und seine Besonderheiten in Psychoanalyse und Medizin überflüssig oder jedenfalls rasch zu einem Ende gebracht. Doch eine so einfache Lösung würde eine klare Trennbarkeit von Körper und Seele implizieren, ähnlich wie sie Descartes vor fast vierhundert Jahren methodisch propagiert hat. Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan bezeichnet René Descartes spaßeshalber als einen Idioten, weil dieser mit der Idee einer Trennbarkeit zu einer Zerstückelung unserer Vorstellungen über den Menschen als einer Einheit beigetragen habe (vgl. Lacan, 1991, S. 97) – eine Trennbarkeit, die es so weder in klinischen Fachbereichen der Medizin noch in der Psychoanalyse gibt. In der Medizin gilt es seit geraumer Zeit als selbstverständlich, nicht nur den Körper, sondern auch die Psyche in Fragen der Entstehung und Behandlung von Krankheiten zu berücksichtigen (Engel, 1977; von Uexküll u. Wesiack, 1988). Und die psychoanalytische Herangehensweise kommt um den Körper auf der Couch nicht herum.

1 Dieser Beitrag ist im Rahmen des FWF-Projekts »Topographien des Körpers: phänomenologische, genealogische und psychoanalytische Forschungen« P25977-G22 erarbeitet und formuliert worden. An dieser Stelle sei Anne von der Heiden und Karin Harasser für die Möglichkeit gedankt, die Überlegungen am 19.12.2017 im Kepler Salon (Linz) vorzustellen und dabei wichtige Anregungen zu erhalten, die in die vorliegende Fassung des Textes eingegangen sind.

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Der Fokus wird für die folgenden Überlegungen eingeengt auf räumliche Aspekte des Körpers – nicht nur mit Blick auf den spatial turn der Kulturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten, sondern wegen der konstitutiven Rolle, die dem Raum für das Subjekt zukommt. Auch in der Medizin und der Psychoanalyse sind Räume wichtig. Mit Blick auf die folgenden Überlegungen seien hier nur drei genannt: Beide, Medizin und Psychoanalyse, werden in Behandlungsräumen praktiziert, in denen bestimmte Gewohnheiten und Regeln im Umgang mit dem Körper gelten. Beide bilden Denkräume, in welchen dem Körper und der Seele ein je eigener (Nicht-)Ort zugeschrieben wird. Medizin wie Psychoanalyse haben räumliche Vorstellungen darüber, was einen Körper ausmacht, wie seine eigenen Räume, seine Grenzen und sein Zusammenspiel mit anderen Räumen zu denken sind. Besonders konkret werden Fragen zu Körper und Raum medizinisch in der Geburtshilfe und psychoanalytisch dort, wo der mütterliche Körper in Klinik und Theorie in den Vordergrund rückt. Ausgehend von diesem der Alltagserfahrung entnommenen Berührungspunkt werden im Folgenden Ähnlichkeiten und Differenzen zwischen der Thematisierung des Körperraums in Psychoanalyse und Medizin dargestellt, bevor unter Einbeziehung einer sowohl historischen wie biopolitischen Perspektive eine Verflechtung zwischen beiden erkennbar wird.

Zugänge Wie es in einer medizinischen Ordination zugeht, ist den meisten Menschen bekannt. Anders ist es mit der psychoanalytischen Praxis, über die oft nur vage Vorstellungen bestehen. Während in einer gynäkologischen Untersuchung Einblick in gut beschriebene Körperräume genommen werden kann, ist über die Räume und im Speziellen die Körperräume in der Psychoanalyse weniger bekannt, gilt doch das, was in einer Psychoanalyse besprochen wird, vor allem als privat, intim, für Zuschauer und Leserinnen nicht zugänglich. Daher wird der Kinoraum, dessen Gemeinsamkeiten mit dem psychoanalytischen Behandlungsraum vielfach beschrieben worden sind, hier beispielhaft herangezogen, um in einem ersten Schritt Einblick in das zu bekom-

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men, was psychoanalytisch erforscht und behandelt wird. Der Film als ein Medium der Sichtbarkeit macht nebenbei auf die besondere Rolle des Sehens in einer radikal am Körperlichen orientierten Sichtweise aufmerksam: die cartesische Zerstückelung des Leibes wird unwichtig angesichts einer wechselseitigen Verflechtung zwischen dem Sehen und dem Leib (vgl. Merleau-­Ponty, 1994, S. 199). In Signe Baumanes Film »Birth«2 (2009) prallen unter anderem Sätze einer Gynäkologin auf ängstliche Erwartungen einer Patientin. Der Film ist voll von Vorstellungen über den Körper im Raum und über Räume im Körper. Es mischen sich dabei medizinische und psychoanalytische Perspektiven, auch wenn nur ein medizi­ nischer und kein psychoanalytischer Behandlungsraum gezeigt wird. Der Film beginnt mit einem Hinweis auf den Körper: Die Mutter empfiehlt der Tochter, wegen des angeblich erforderlichen Knochenwachstums, zu essen, während der Tochter die Tränen in die Suppe tropfen, ohne dass den Zuseherinnen bekannt ist, was die Tochter so bitterlich weinen lässt. Die beiden Protagonistinnen sitzen weit voneinander entfernt in einem trostlosen, äußerst karg eingerichteten Zimmer. Die Mutter hüllt sich in die Wolken ihres eigenen Nikotinkonsums, scheint den offensichtlichen Schmerz der Tochter nicht wahrzunehmen. In einem rauen Ton bezeichnet sie Amina, die Tochter, als ein Kind, was diese veranlasst, wortlos den Raum zu verlassen. Hier gelingt etwas nicht (was, nebenbei gesagt, die Situation psychoanalytisch interessant macht): Mutter und Tochter kommen angesichts eines noch unbekannten Konflikts nicht miteinander ins Gespräch. Mit ihrer Behauptung, Kinder dürften keine Mahlzeit verpassen, bezieht sich die Mutter offensichtlich nicht genau auf ihre Tochter und deren Körper. Denn Amina ist von ihrer Silhouette her eher kein Kind mehr. Der allgemeine Satz über Kinderkörper, der sich an eine junge Frau mit erkennbaren Brüsten richtet, erreicht seine Adressatin, die er nicht genau adressiert, nicht. Die Mutter sagt sich, nachdem die Tochter den Raum verlassen hat, dass diese Schwierigkeit auf die Adoleszenz der Tochter zurückzuführen sei. 2 Zum besseren Verständnis des folgenden Textes wird empfohlen, zunächst unter https://www.youtube.com/watch?v=DgKDZPe9x5o (Zugriff am 27.12.2017) den Trailer des Films anzusehen.

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Anders als bei Melanie Klein steht in Sigmund Freuds Psychoanalyse zwar weniger der mütterliche Körper als der Trieb im Zentrum. Und in einer paternalistisch geprägten Gesellschaft waren auch mütterliche Genealogien lange kein vorrangiger Fokus der Psychoanalyse. Das hat sich geändert: Inzwischen ist es breit akzeptiert, dass nicht nur männlich konnotierte, aus dem Körper herausragende phallische Aspekte, sondern auch weiblich konnotierte, im Körper verborgene Räume die Gestaltung von unbewussten Phantasien und Phantasmen3 mitgestalten. Damit ist auch klar geworden, dass gerade die adoleszente Tochter die Mutter und ihren Körper braucht, um sich ihre eigene sexuelle Lust körperlich aneignen zu können (vgl. Flaake, 1992). Solche Aneignungsmöglichkeiten werden in der ersten Szene nicht gezeigt. Im Gegenteil. Der äußerst karge Raum, in welchem die Handlung spielt, und die Rauchschwaden, die die Mutter umgeben, funktionieren wie Zeichen, die gleichermaßen eine offensichtlich mangelnde Sorge der Mutter ebenso wie ihre Unerreich­barkeit versinnbildlichen. Und in den verbalen Bezugnahmen wird die Beziehung zwischen Mutter und Tochter nicht von einer libidi­nösen, sondern ausschließlich von einer destruktiven Seite her ins Spiel gebracht, was übrigens einer kulturell in unseren Breiten nicht ganz seltenen Lesart des Mutter-Tochter-Verhältnisses als einer Beziehung entspricht, in welcher oftmals zerstörerische Impulse gegenüber libidi­nösen vorzuherrschen scheinen (vgl. Kadi, 2014, S. 150). Implizit klingen in der mütterlichen Intervention im Film medizinische Diskurse zum Beispiel über Rachitis oder andere Vitaminbzw. Mineralstoffmangelerkrankungen an, in denen die Knochen mitbetroffen sind. Der Innenraum des Körpers bleibt in dieser Szene als solcher unthematisiert, verborgen. Die Knochen, deren Wachstum beschworen wird, sind als Teil des Körperinneren nicht zu sehen. Eine Bezugnahme auf solchermaßen Unsichtbares ist weniger selbstverständlich, als es zunächst scheinen mag. Die Mutter 3 Mit Phantasma wird strukturalpsychoanalytisch eine psychisch bedeutsame, nicht bewusst wahrnehmbare, kurze Szene bezeichnet, in welcher figurativ ein unbewusster, häufig inzestuöser Wunsch dargestellt ist. Phantasmen verschleiern die Realität und sind für die Form des Begehrens eines Subjekts konstitutiv. Für weitere Details siehe Nasio (1992).

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könnte ebenso gut auf die Gesichtsfarbe der Tochter, auf den fehlenden Glanz ihrer Haare oder ihre Körpergröße hinweisen, wenn sie die Notwendigkeit einer ausreichenden Ernährung hervorheben will. Die Erwähnung der Knochen macht auf ein verbreitetes medizinisches Wissen darüber aufmerksam, was im Inneren des Körpers enthalten sein könnte. Psychoanalytisch ist der körperliche Innenraum zuerst ein Phantasieraum, der mit verschiedenen Objekten besiedelt wird. Daran erinnert eine Untersuchung aus den 1930er Jahren, in der zwei Analytiker eine kleine Umfrage unter Kindern zwischen vier und 13 Jahren gemacht haben, um zu erfahren, was nach Ansicht der Kinder in den Körpern enthalten ist (vgl. Schilder u. Wechsler, 1935). Es zeigte sich, dass kleine Kinder vor allem Nahrung als Körperinhalt angeben und dabei oftmals von einem wilden Durch­ einander ausgehen, wie ein viereinhalbjähriger Junge, der annahm, dass gleichzeitig Kartoffeln und Knochen in seinem Körper seien (1935, S. 356).

Außenansichten: heterotopische Aspekte In der folgenden Szene wird Aminas Erleben dieses phantasierten Innenraums in der Art eines Horrorfilms sichtbar gemacht: Der Teddybär, den sie offenbar trostsuchend in die Hand genommen hat, verwandelt sich in ein knöchernes Skelett, das in einem plötzlich einsetzenden Zerfallsprozess ebenso rasch verschwindet wie ihr Nachttisch samt Lampe und ihrem Bett. Letzteres verwandelt sich sogar in eine Schlange, nachdem sich ein beunruhigender Schwarm von Fledermäusen, als welche sich die Plakate an der Wand plötzlich entpuppen, wieder verzogen hat. Amina steht allein in einem leeren Zimmer. Dort wird es eng und enger. Die Wände kommen ihr ebenso wie die Decke von allen Seiten entgegen. Kurz bevor die inzwischen schreiende junge Frau eingequetscht wird, ist die Szene mit einem abrupten Schnitt zu Ende. Die Zuschauer werden in einen als solchen unsichtbaren Raum geführt. Die Bilderfolge macht etwas von dem sichtbar, was in der klinischen Praxis der Psychoanalyse erzählt, intuitiv erfasst, aber mit den Augen der Behandler ebenfalls nicht gesehen werden kann.

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Zuschauer des Films können kaum etwas anderes als verwirrt sein angesichts der zerstörerischen Impulse, die um die Protagonistin herum ein Eigenleben entfalten. Als geometrischer Raum kann Aminas Zimmer nicht betrachtet werden. Sinn macht das Gezeigte eher, wenn es als Darstellung eines subjektiv erlebten Raums aufgefasst wird. Denn dann ließe sich die Szene nachträglich als ein Traum begreifen oder als ein Angstanfall, vielleicht auch als Ausdruck von unerträglichen Verfolgungsgefühlen. Der scharfe Filmschnitt am Ende der Szene lässt die Zuschauer abrupt wieder erwachen. Die warmen Farben der Zimmerwände, das Bett, der Teddybär, der als Übergangsobjekt, als ein erstes Nicht-Ich fungiert (Winnicott, 1965) – all dies legt nahe, den gezeigten Raum zunächst als Ort eines möglichen Rückzugs, einer Regression, zu betrachten. In seiner plötzlichen Verwandlung in einen Raum, in dem das Mobiliar zerfällt oder sich in tierische Drohgebärden auflöst, gehen haltgebende Grenzen verloren, und der Ort verändert seine Qualität. Aminas Angst, die üblicherweise in einem sogenannten psychischen Innenraum zu lokalisieren wäre, breitet sich schier grenzenlos aus. Am Ende der Szene scheinen sich die Verhältnisse verkehrt zu haben. Der äußere Raum hat Funktionen des inneren Raums mitübernommen. Die zunehmend enger an Amina herantretenden Wände verkörpern beides: ein vergebliches Containment der Angst und eine Veräußerung eines inneren Angstzustands, wenn die Begrenzungen des Zimmers zunehmend enger werden und der verbleibende Raum gefährlich schrumpft. Die Rede vom psychischen Innenraum ist aus zwei Gründen trügerisch. Sie legt nahe, dass es immer schon gleichberechtigt nebeneinander einen psychischen Innenraum und einen Außenraum gäbe und dass der Übergang zwischen dem einen und dem anderen klar bestimmbar wäre. Psychisch konstituiert sich der Außenraum aber zunächst durch nichts anderes als einen Ausstoß von etwas, was keine Lust versprechen kann (Freud, 1925h, S. 14). Der Außenraum ist gewissermaßen ein Depot von unbefriedigenden Objekten, aus dem sich nur langsam mithilfe der Verneinungsfunktion und der Realitätsprüfung ein dem Subjekt äußerlicher Raum bilden kann. Aminas Zimmer spiegelt den ersten Teil dieses Vorgangs plastisch

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wider: Unerträgliche Zustände werden als Angstobjekte ausgeschieden. Raumtheoretisch unterscheidet sich Aminas vorgestellter Phantasieraum deutlich von bekannten Räumen: Er ist kein metrischer (euklidischer) Raum, denn dieser wäre durch konstante Entfernungen und klar bestimmbare Orte gekennzeichnet. Im euklidischen Raum sind innen und außen gut voneinander zu unterscheiden. Es wäre auch nicht passend, den gezeigten Raum in seinen verschiedenen Zuständen als physiologischen Raum zu bezeichnen, als einen Raum, welcher sich durch einzelne Sinneswahrnehmungen zusammensetzt, in dem Sehen, Tasten oder Hören vorherrschen, um einem sich bewegenden Organismus Orientierung in Bewegung zu ermöglichen (vgl. Mach, 2008, S. 123). Aminas Träume, Ängste, ja Verfolgungsgefühle befinden sich in Bezug auf diese beiden Raumformationen in einem Nicht-Raum. Dennoch haben diese Zustände einen eigenen Ort. Dieser Ort ist keiner, der einen festen Platz besetzen würde. Er bewegt sich zusammen mit Aminas Körper in einem äußeren metrischen und auch in einem physiologischen Raum. Der gesuchte Ort ist nicht in Aminas Kopf zu finden. Zerebrale Strukturen sind zwar notwendig beteiligt, aber nicht hinreichend für die Hervorbringung dieses Raumes. Die beschriebene Szene zeigt eindrucksvoll, dass er enge Verbindungen sowohl zum metrischen wie zum physiologischen Raum unterhält, ohne mit einem von beiden zusammenzufallen. Es gibt Aminas von Phantasien belebtes und deformiertes Schlafzimmer in der äußeren Realität an keinem genau bestimmbaren Ort auf der Welt. Der Raum, so wie er in der Filmszene gezeigt wird, ließe sich daher mit Fug und Recht als erfundener Raum bezeichnen. Und doch ist die Welt voll von Räumen dieser Art. Sie haben nicht alle Eigenschaften, die wir Räumen, Orten oder Plätzen üblicherweise zuschreiben. Ja, sie stellen unbestrittene Eigenschaften solcher bekannter Räume z. B. in Form des in der Regel unmöglichen Wändewanderns geradezu infrage. Das macht Aminas Zimmer zu einem anderen Ort, zu einer Heterotopie (Foucault, 2005). Eine besondere Eigenschaft der Heterotopie von Aminas Ängsten besteht im scheinbar bruchlosen Übergang zwischen dem sogenannten inneren psychischen und dem äußeren Raum. Anders als bei

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euklidischen Räumen ist der Punkt des Übergangs von innen nach außen nicht bestimmbar, ja dieser Punkt, an welchem es zu einem Umschlag von innen nach außen kommt, verändert seine Position im Raum offensichtlich, denn er greift vom Teddy auf das Mobiliar und schließlich auf die Wände über. Mathematisch lässt sich diese Raumgestalt mit Mitteln der Topologie, die in der strukturalen Psychoanalyse zu einer Neuformulierung Freud’scher Konzepte verwendet werden (vgl. Bursztein, 2016), fassen. Mit der Klein’schen Flasche steht eine Gestalt zu Verfügung, die sowohl die Unklarheit über den Umschlagpunkt zwischen Innen und Außen als auch dessen lokale Beweglichkeit zu illustrieren in der Lage ist. Zumal das Erleben des Subjekts, seine Affekte, seine Vorstellungen, Wünsche oder Träume nie ganz drinnen im Körper und nie ganz draußen außerhalb des Körpers angesiedelt sind, eignet sich dieses geometrische Objekt in ausgezeichneter Weise, um die nach außen gestülpte Innenwelt oder die nach innen reichende Außenwelt des Subjekts sichtbar zu machen.

Innenansichten: kleine Tiere und Monster In einer topologischen Geometrie erscheinen kleine Elemente oftmals groß und große oftmals klein. Wie in einem Trickfilm. Das nächste Bild im Film ist ausschließlich von einem großen Mund erfüllt, der an den Mund des von Jackson/Penfield beschrie­ benen Homunculus erinnert. Diese neuroanatomische Kurio­sität wurde erdacht, um das Ausmaß sensorischer bzw. motorischer Repräsen­tation auf der Hirnrinde durch Größenunterschiede zu fassen. Der große Mund im Film lässt sich als Überkreuzung einer medi­zinischen und einer psychoanalytischen Perspektive lesen: Medizinisch macht er deutlich, dass die Sensibilität an den Lippen besonders groß ist, größer als beispielsweise an den Oberarmen. Psycho­analytisch verweist der große Mund auf die besondere Rolle der Oralität für jedes werdende Subjekt. Im Film knüpfen sich wohl vor allem Angstgefühle Aminas an den Mund, der ihr die Mitteilung ihrer Schwangerschaft macht. Für das hier verhandelte Thema ist diese Filmeinstellung auf den Mund mit ihrer Verbindung zum genannten Homunculus insofern wichtig, als mit ihr

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darauf hingewiesen werden kann, dass nicht nur psychoanalytisch relevante Phantasie- und Angsträume zu erheblichen Verzerrungen und Größen­verschiebungen beitragen. Verzerrungen und erheb­ liche Größenänderungen lassen sich auch in der empirisch fass­baren Realität des Körpers und dessen wissenschaftlicher Beschreibung in der Medizin ausmachen, wobei der Homunculus bis heute eine Herausforderung für die Grenzbestimmung zwischen einer medizinischen und einer künstlerischen Herangehensweise geblieben ist (vgl. Snyder u. Whitaker, 2013). Sie habe keinen Mann, fügt Amina leise und verspätet hinzu, nachdem ihr die Gynäkologin verkündet hat, dass sie schwanger sei und sich ihr Mann sicher freuen werde. Spätestens an dieser Stelle des Trickfilms entpuppt sich die Filmemacherin als Übertreibungskünstlerin, die mit den Mitteln einer Karikatur Extremwerte von Situationen darstellt. Sie zeichnet die Ärztin als eine maschinenartig funktionierende Instanz, als diese die Mitteilung über die Lebenssituation ihrer Patientin unkommentiert entgegennimmt und unvermittelt mit einem kleinen Vortrag startet, der an ein festgelegtes Präventions­programm erinnert. Für die schwangere Amina sei eine monatliche Kontrolle ihrer sich entwickelnden Schwangerschaft vorgesehen, sagt sie und entrollt eine Schautafel, die an die Lehrmittel des Biologieunterrichts des letzten und vorletzten Jahrhunderts erinnert. Denn Amina solle sich das Wachstum des zunächst wie ein kleines Ferkel dargestellten Elements in ihrem Inneren von der neunten Schwangerschaftswoche an vorstellen können. In drei Zeitrafferschritten gelangt die filmische Darstellung rasch zur sechzehnten Woche. Auf der Schautafel regt sich plötzlich Leben: Der nunmehr mit langen Schlappohren gezeichnete Embryo wird auf einmal beweglich und streckt seinen linken Arm und seine Beine aus. Der Umraum und seine Häute, der Körper, der das sich zunehmend vergrößernde kleine Gespenst umgibt, dehnen sich. Amina erschrickt hörbar. Man müsse diese ersten Bewegungen unbedingt aufzeichnen, sagt die Medizinerin. In der sechsundzwanzigsten Woche stellt sie auf einer weiteren, durch Bewegungen animierten Schautafel ein »nahezu vollständig« entwickeltes Körperchen vor, das zustimmend und abweisend den Kopf bewegt. In den vier folgenden klei-

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nen Schritten wird aus dem Körperchen ein Monster, dessen Lippen einen weit aufgerissenen Mund mit zwei spitzen Zahnreihen umrahmen. Plötzlich hält es eine kleine Amina in der Hand und verschluckt sie. Für die Filmbetrachterinnen ist klar, dass Aminas Phantasien heterotopisch die Schaubilder überlagern.

Abbildung 1: Filmstill aus »Birth« (Signe Baumane, 2009), Bearbeitung UK.

In ihrer entsetzten Frage, wie denn das Monster aus dem Körper herauskommen wird, wird ähnlich wie mit den Zahnreihen auf dem Bild ihre Angst, von innen aufgefressen zu werden, sichtbar (gemacht). Amina kann nichts anfangen mit dem Hinweis der Ärztin, dass es dazu die Geburt gibt. Ratlos fragt sie ihre Mutter, was denn eine Geburt sei. Und die folgenden Begegnungen mit zwei Schwestern ihrer Mutter vergrößern ihre Angst noch mehr. Denn sie stellen den weiblichen Körper einerseits als zerbrechliches, ja infolge der Geburt eines Kindes zerbrochenes Gefäß dar, hierin übrigens erinnernd an eine feministische Kritik, dass die Frau in der abendländischen Geschichte auf ein körperliches Rezeptakulum reduziert wird (Irigaray, 1979, S. 105). Und sie verstärken Aminas Horror­vorstellungen

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über die Nabelschnur als eine zwar gummiartig gedachte, aber auf immer untrennbare Verbindung mittels eines Fadens. Heute werden in geburtshilflichen Praxisräumen keine Schautafeln entrollt, sondern Ultraschallbilder von Föten und Embryonen erstellt und betrachtet. Die Szene in der gynäkologischen Praxis macht Differenzen zwischen einer medizinischen und einer psychoanalytischen Herangehensweise an den Körperinnenraum sichtbar. Die Prozesse, die in aufklärerischer Absicht von der Gynäkologin beschrieben und in Bildform gezeigt werden, überlagern sich mit von der Ärztin nicht näher berücksichtigten psychischen Prozessen, in welchen die Räumlichkeit des eigenen Körpers mit verschiedenen Ängsten verbunden ist: der Angst, für das wachsende Element im Inneren nicht elastisch genug zu sein und möglicherweise selbst zu platzen, der Angst, von innen her verschlungen, ja aufgefressen zu werden und der Angst, das gefährliche Objekt im Inneren nicht mehr loszuwerden. All diese Ängste vor Zerstörung lassen sich psychoanalytisch einer entwicklungsgeschichtlich frühen Phase der Mutter-Kind-Beziehung zuordnen (Klein, 2011). Sie können im Rahmen einer Schwangerschaft mehr oder minder deutlich in Erscheinung treten (Leithner-Dziubas, 2016). Bilder, die immer auch wie Spiegelbilder (Lacan, 1986) funktionieren, sind in der Lage, Ängste vor Zerstückelung des eigenen Körpers in besonderer Weise zu reaktivieren. Hier soll nicht der falsche Eindruck entstehen, dass es psychoanalytisch selbstverständlich wäre, den mütterlich konnotierten Innenraum vor allem von der Angst her zu denken (vgl. Dix, 2017). Freuds Bild eines weiteren Tieres, nämlich eines Vogels in seinem Ei (vgl. Freud, 1919h, S. 233), rückt einen Sorgezusammenhang in den Vordergrund, durch welchen frühe Phasen der menschlichen Entwicklung ebenfalls geprägt sind. Wird die in der klinischen Psychoanalyse zentrale Nachträglichkeit der Zuweisung von Bedeutungen mehr berücksichtigt, ist die Gebärmutter als Ort der Entbindung ein Ort des Abschieds und des Verlusts, an welchen sich spätere unbewusste Sehnsüchte und Rückkehrhoffnungen knüpfen (vgl. Härtel, 1999, S. 31). Außenwelt und Innenwelt sind in einer solchen späteren Perspektive klar getrennt. Der weibliche Körperinnenraum verwandelt sich in ein Ziel von lebenslangen Schutz-

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wünschen, die einer notwendigen Differenzierungsbewegung des Subjekts diametral entgegenstehen. Die Nabelschnur als Gummiband im Film symbolisiert solche Wünsche in der Gestalt einer körperlichen Struktur (vgl. hierzu auch Bronfen, 1998). Die elastisch gedachte Nabelschnur verweist im Übrigen auf psychoanalytische Versuche, das Subjekt und die Strukturen, die es ausmachen, topologisch zu formalisieren. Zu Ringen geschlossene Fäden, erinnernd an die Knoten, wie sie in der DNA im Zellkern vorhanden sind (vgl. Lacan, 1975; Akveld u. Neumaier, 2014), lassen sich verwenden, um das Subjekt in verschiedenen, vor allem klinisch relevanten Perspektiven zu fassen (vgl. Granont-Lafont, 1986; Vappereau, 2004; Wegener, 2007). Auf die mathematischen Konzepte wird dabei »monstrativ […] und phantasmatisch« zurückgegriffen (vgl. Nasio, 2010, S. 22), wobei der anerkannte heuristische Wert einer knotentheoretischen Herangehensweise zu unterstreichen ist (vgl. Akveld u. Neumaier, 2014, S. 72). Der topologisch beschriebene Knoten des Subjekts ist zwar selbst eine körperliche Struktur (vgl. Kadi, 2017), und die Darstellungen der Knoten sind nichts anderes als Bilder. Aber anders als Schautafeln oder Ultraschallbilder funktionieren die knotentheoretischen Skizzen nicht als Spiegelbilder. Mit Leben (Vie) und Tod (Mort) tauchen im Knoten des Subjekts zwar auch für medizinische Belange grundlegende Themen auf. Der menschliche Körper (Corps) selbst wird aber im Knoten zu einem weiter nicht fassbaren Detail, das in die Zwischenräume der Fäden hinein geschrieben ist (vgl. Abbildung 2). Als Begriff gerät er in die Verknüpfung zwischen den einer Versprachlichung entgegenstehenden, sogenannten realen Impulsen und einer zu Wunschformationen gerinnenden, imaginär (spiegelbildhaft) geprägten Phantasiewelt. Über den Innenraum des Körpers, über Phantasien von Tierchen, über mütterliche oder andere geschlechtlich konnotierte Körper, über konkrete Erfahrungen mit dem Körper lässt sich aus dieser Perspektive, die an Visualisierungen von Engels Modell einer biopsychosozialen Verursachung von Erkrankungen denken lässt (als Beispiel Online-Studienfachwahl-Assistenten, o. J.), wenig sagen. Als Schriftzug ist der Körper in einer Knotenkörperperspektive ähnlich wie in Zuständen des Genießens nicht mehr fassbar (Nasio, 2010, S. 24). Und das ist an dieser Stelle das Wichtigste: In diesem Ver-

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schwinden wird eine weitere spezifisch psychoanalytische Facette des Körpers sinnfällig, die in medizinischen Zusammenhängen wenig Bedeutung hat. 4

Abbildung 2: Knoten des Subjekts (Lacan, 1975, S. 200)4. ICS = Unbewusstes; PCS = Vorbewusstes; I = Imaginär; R = Real; S = Symbolisch; JA = Genießen des Anderen

Im Inneren: der Tod Die Vorstellungen darüber, was ein menschlicher Körper ist und wie er funktioniert, haben nicht nur in der Medizin eine lange Geschichte. Sie variieren, entwickeln sich in unterschiedlichen Kontexten. Bei einem Körper, wie er etwa für einen juridischen Kon4 Rolf Nemitz’ deutsche Übersetzung von Lacan (1975) findet sich mit Anmerkungen zu Kontext und Inhalt des Vortrags auf https://lacan-entziffern.de/ reales/jacques-lacan-die-dritte-uebersetzung (Zugriff am 25.06.2018)

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text gedacht wird, rücken andere Facetten in den Vordergrund als bei einem Körper im politischen Raum oder einem Körper in biolo­gischen Forschungen. Für den folgenden Gedanken ist mit zu berücksichtigen, dass die in verschiedenen Disziplinen entstandenen Körperkonzepte in einzelnen historischen Epochen nicht isoliert nebeneinanderstehen, sondern ineinandergreifen und dabei einen lebendigen, sich immer wieder verändernden Rahmen des Nachdenkens über den Körper bilden, der zudem von spezifischen Macht- und Wissenspraktiken geprägt ist. Einem genetischen Code vergleichbar enthalten aktuelle Annahmen über den Körper in der Medizin eine Fülle von ererbten Konzepten, die zu einem einzelnen Zeitpunkt mehr oder weniger Ausdruck finden. Zum mehr oder minder integrierten Erbe heutiger Körperkonzepte gehört eine theologisch politische Lesart des Körpers, die im Körper des mittelalterlichen Königs neben dessen individuellem, sterblichem Körper einen zweiten, unsterblichen, den Staat symbolisierenden Körper gesehen hat (Kantorowicz, 1957). Dieses besondere Verständnis des königlichen Körpers verdankt sich theologischen Vorstellungen über die Kirche als einem Leib, eine Position, die später zu körperhaft gedachten Staatsstrukturen beigetragen hat. Auf diesem Weg haben sich Vorstellungen über den Körper in der Medizin mit politischen Theorien über das Funktionieren eines Staatskörpers vermischt. Kantorowicz’ gleichermaßen sterblicher wie unsterblicher Körper des Königs lenkt mit der Eigenschaft der (Un-)Sterblichkeit den Blick auf die Thematik, die die medizinische Beschäftigung mit dem Körper durchgehend prägt. »Denn der Körper ist nicht auf Dauer mit dem Tod zu vereinbaren« (Esposito, 2004, S. 158). Wie in Lacans oben erwähnter exemplarischer Knotenbildung steht der Tod in einer (symbolischen) Schlinge neben dem Leben in einer anderen (als real bezeichneten) Schlinge. Die Art und Weise, wie der Tod in Bezug auf den Körper gedacht wird, unterliegt selbst historischen Veränderungen. Spätestens seit der Französischen Revolution hat der »Tod [aufgehört], dem Leben ständig auf den Fersen zu sein« (Foucault, 1983, S. 137). Baumanes Film macht dies durch seine Perspektive deutlich: Das von einem Lebensprinzip bestimmte Gebären und der Tod scheinen klar voneinander getrennt zu sein. Ja, es fällt im Film bei genauerem Hinsehen

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geradezu eine fehlende explizite Thematisierung der Lebensgefahren auf, die sich über viele Jahrhunderte medizinisch mit Schwangerschaft und Geburt verbunden haben. Eine solche Perspektive ist nicht nur dem Fortschritt in der medizinischen Behandlungstechnik zu verdanken, sondern auch einem Paradigmenwechsel, der sich mit veränderten körperbezogenen politischen Modellen im 17. Jahrhundert einstellt: An die Stelle des seinen eigenen Tod als symbolischer Körper überlebenden Königskörpers ist ein auf das Leben verpflichteter maschinenartiger Körper getreten: der Staat als ein Leviathan (Hobbes, 2011), ein mäch­tiger Schutz gegen den unerbittlichen Kampf aller gegen alle, der Hobbes zufolge für die Natur charakteristisch ist. Mithilfe einer beeindruckenden Bildstrategie (vgl. Bredekamp, 2007) stellt Hobbes den Staat als einen übergroßen Körper in einer mächtigen Rüstung dar, die ihrerseits aus einer Vielzahl von menschlichen Körperchen besteht. Anders als der doppelte Körper des Königs hat der staatliche Körper ein einziges Leben. Sein Leben ist ein künstliches, das es ihm in seiner körperhaften Rüstung erlaubt, den Tod, mit dem er in sei-

Abbildung 3: Detail des Frontispiz von Hobbes’ Leviathan (Quelle: Wikicommons).

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nem eigenen Inneren im Gefolge des Kampfes aller gegen alle zu leben gewohnt ist, aus dem Gesichtsfeld zu verbannen (vgl. Esposito, 2004, S. 162). Auch in der Medizin sind Formen des künstlichen Lebens für das Verständnis des Körpers wichtig geworden: Maschinenkonzepte, die sich auf René Descartes (1969), Julien Offray de La Metrie (2009) und deren Nachfolger berufen können, haben den Körper der Medizin in den letzten Jahrhunderten überwuchert. An die Hobbes’sche Staatskörpervorstellung erinnernd, wird der Körper dabei nicht nur als individueller, sondern vor allem als Gattungskörper betrachtet. Und – um hier einen Sprung ins 18. Jahrhundert zu machen – unter Zuhilfenahme der sich entfaltenden statistischen Methoden der Mathematik etabliert sich dieser Gattungskörper schließlich als neuer politischer Angriffspunkt regulierender medizinischer Kontrolle (vgl. Foucault, 1983, S. 135): »Das Leben wird […] zur Regierungsangelegenheit« (Esposito, 2004, S. 193). Ähnlich wie beim Hobbes’schen Leviathan wird der Tod, der dem Körper inhärent ist und ihn somit von innen bewohnt, für den Körper der Medizin zu einer Bedrohung, die es hintan zu halten gilt. Damit geraten Tod und Sterben in der Medizin zu Abjekten (Kristeva, 1980), zu vom Bewusstsein verworfenen Gegenständen von Ekel, Angst, Scham und Abscheu. Sie werden nicht verdrängt, sondern wirken als stets erinnertes Vergessenes weiter. Die nunmehr als Lebenswissenschaft etablierte Medizin versucht vor allem den Tod zu verhindern. Körper und Leben werden als selbstorganisierende Systeme gedacht. Der Organismus soll vor äußeren Gefahren, die in seinem Inneren als Abjekte wirksam werden könnten, geschützt werden, was unter anderem verständlich werden lässt, dass die Immunität zu einem zentralen Paradigma biopolitischer Regulierungen im 19. Jahrhundert wird (Esposito, 2004). Psychoanalytisch hat der Aufstieg der Immunität zu solcher Dominanz im medizinischen Denken Ähnlichkeiten mit der oben beschriebenen frühen Phase einer Etablierung von äußerer Realität: Die unlustbetonten Abjekte werden aus dem Inneren ausgestoßen. In Gestalt von Viren, Bakterien und anderen kleinen Tierchen treten sie umgekehrt von außen als Fremdes an den Körper heran und müssen durch Sicherung der Immunität an den Grenzen des Körpers abgewiesen

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und so vom Inneren ferngehalten werden. Was im Inneren verworfen lagert, ist dabei für einige Zeit ganz aus dem Blickfeld geraten.

Ein Jenseits von Biopolitik? Es gibt viele Anzeichen, dass der Körper in der Medizin heute vor allem Gegenstand einer biopolitischen Regulierung ist, die das Leben des Körpers ins Zentrum rückt, um den im Inneren des Körpers phantasmatisch situierten Tod unter Kontrolle zu halten. Hier ist beispielsweise an juridische und administrative Maßnahmen zu denken, die zu einer gesellschaftlichen Verpönung bestimmter gesundheitsschädlicher, lebensverkürzender Verhaltensweisen führen. Hierher gehören auch viele, im Einzelnen kaum vertretbare lebensverlängernde Maßnahmen einer vorwiegend apparativ orientierten Medizin während der letzten Monate vor dem Tod eines Menschen. Ein anderes, am Leben orientiertes medizinisches Paradigma taucht im Film im Reden der Mutter in der ersten Szene auf: Kinder müssen ausreichend essen, damit sie nicht wie ein Suppenkaspar (vgl. Hoffmann, 1917, S. 17) anorektisch verhungern. Solches Reden gehört in ein seit dem 18. Jahrhundert mit dem Hygienediskurs aufkommendes Denken in der Medizin (Sarasin, 2001), in welchem ein speziell für die Prävention zugerichteter Körper im Zentrum steht. Die Empfehlung der Mutter an ihre Tochter liest sich wie ein Zitat aus einem Diskurs zur Gesunderhaltung eines verallgemeinerten gesellschaftlichen Körpers. Auch die Sätze der Gynäkologin in Baumanes Film passen in ein biopolitisches Dispositiv, das darauf ausgerichtet ist, die Zahl gesundheitlicher Komplikationen im Rahmen einer Geburt durch rechtzeitige Aufklärung der Patientin zu verkleinern. Wie Aminas Mutter richtet die Gynäkologin Sätze über den Gattungskörper an die einzelne Patientin Amina, deren Körper so zu einem Ort der Verflechtung wird: Das medizinische Konzept eines statistisch geformten Körpers aller (im konkreten Fall: weiblichen) Menschen trifft auf Aminas individuelle Erfahrungen ihres Körpers, die mit ihrem Körper-­Schreckbild, von innen aufgefressen zu werden, untrennbar verflochten sind. Bemerkenswert daran ist vor allem, dass medizinische und psychoanalytisch erforschbare Annahmen über den Körper nebeneinan-

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der und gleichzeitig bestehen und einen Körper konstruieren, der in Bezug auf das Verhältnis zwischen Innen und Außen Ähnlich­keiten aufweist. Spekulativ ließe sich hinzufügen, dass in medizinischen Körpervorstellungen vor allem Effekte jener Ängste vor dem Inneren im Äußeren zum Ausdruck kommen, die auch auf der Couch in Analysen hörbar werden können. Biopolitischen Denkweisen, Vorschriften und Maßnahmen ließe sich mit einem solchen Gedanken ein zusätzlicher Sinn abringen, der ihre Persistenz, ja Notwendigkeit als Folge einer mehrfachen – individuellen wie kollektiven – phantasmatischen Verankerung fassbarer machen würde. Eine aktuell vielleicht noch brennendere Frage richtet sich auf die Möglichkeit einer Entflechtung medizinischer und psychoanalytischer Vorstellungen vom Körper: Ist der Körper der Psychoanalyse nicht vor allem ein ganz anderer als der Körper, der in der Medizin untersucht, behandelt und errechnet wird? Liegt der Körper auf der Couch nicht in einem Jenseits der Biopolitik, wie es manche nahelegen, wenn sie den Körper der Medizin zu einem gefährlichen Körperbild stilisieren, das zu falschen Identifizierungen verleite (vgl. Laurent, 2016, S. 11)? Die Psychoanalyse versteht sich schließlich nicht als eine Lebenswissenschaft und hört seit Freud nicht nur libidinös gefärbte Botschaften, sondern auch das unablässig rhythmische Drängen der Todestriebe. Eine Antwort auf diese Frage kann an dieser Stelle keine Dauerhaftigkeit beanspruchen, da die Verflechtungsverhältnisse zwischen einer medizinischen und einer psychoanalytischen Perspektive auf den Körper, wie sie hier beschrieben worden sind, lediglich eine erste Annäherung darstellen. Aber auch wenn die Vorstellung einer Trennbarkeit verlockend ist und manche Aspekte wie das oben beschriebene Verschwinden des Körpers in psychoanalytisch besonders fokussierten Zuständen des Genießens medizinisch belanglos scheinen, lässt sich der (medizinische) Körper der Biopolitik nicht verbannen – nicht aus dem individuellen Erleben von Subjekten auf der Couch, nicht aus der Psychoanalyse, sofern sie auch als Krankenbehandlung fungiert, und auch nicht aus theoretischen Erwägungen darüber, wie heute der Körper mit Mitteln der Psychoanalyse zu beschreiben ist.

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Paul L. Janssen

Psychosomatische Medizin und Psychoanalyse

Vorbemerkungen Die Psychosomatische Medizin verbindet zwei methodische Wege der Erkenntnis vom Menschen: die lebensgeschichtliche, psychosoziale Situation des Subjekts einschließlich der Bedeutung des Körpers für das Subjekt und die naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten der körperlichen Erkrankungen. Psychosomatische Medizin ist also die Lehre von der Bedeutung psychosozialer Vorgänge für Entstehung und Verlauf körperlicher Erkrankungen und von den psychisch-somatischen und somato-psychischen Wechselwirkungen. Sie erforscht diese Wechselwirkungen grundsätzlich bei allen Erkrankungen, aber auch bei speziellen Erkrankungen, bei denen psychosoziale Prozesse eine große Bedeutung haben. Die Psychosomatische Medizin hat zwar ihre Wurzeln in der antiken Medizin und Philosophie, aber einen Aufschwung gab es erst Ende des 19. Jahrhunderts, als Freud und seine Schüler die psychoanalytische Psychosomatik als eine »verstehende Psychosomatik« (de Boor u. Mitscherlich, 1973) entwickelten. Die Psychoanalyse stellte diagnostische und therapeutische Konzepte zur Verfügung für umweltbedingte, sogenannte psychogene Erkrankungen mit Störungen der psychischen und der körperlichen Funktionen (Hysterien) und/oder der Persönlichkeit. Die Psychosomatische Medizin begann also als eine Verbindung von somatischer Medizin und Psychoanalyse am Beginn des 20. Jahrhunderts. Der psychosomatische Ansatz umfasst im Rahmen des übergeordneten biopsychosozialen Krankheitsmodells sowohl die psy­ choanalytischen wie auch die neurobiologischen, verhaltensmedizini-

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schen und salutogenetischen Positionen. Nach dem biopsychosozialen Krankheitsmodell wirken in unterschiedlichem Ausmaß neben den anatomischen, chemischen, physikalischen und weiteren biologischen Ursachen auch psychosoziale Faktoren auf die Krankheiten des Menschen ein. Schon im ersten Lehrbuch der Psychosomatik von Weiss und English (1943) wurde die Sichtweise der Psychosomatischen Medizin als Grundlage ärztlichen Handelns herausgestellt. Diese Position hat in Deutschland z. B. der Internist Viktor von Weizsäcker (1949/1950) in Heidelberg vertreten. Psychosoziale Faktoren beim Krankheitsgeschehen zu berücksichtigen bedeutet, ein Konzept zu haben, das die Stellung psychosozialer Faktoren im Krankheitsgeschehen beschreibt. Von Uexküll und Wesiack (2003) haben dazu das Funktionskreismodell benutzt, mit dem sie das Zusammenspiel von Umwelt und Individuum beschreiben: Lebewesen konstruieren ihre subjektive Welt und geben der Umwelt einen Bedeutungsgehalt. Sie wählen, je nach innerem Zustand, Phänomene aus der Umwelt aus und bestimmen deren Bedeutung. Die Innenwelt konstruiert und strukturiert demnach die Außenwelt. Dieses Konzept, das von den beiden Genannten (z. B.1988) formuliert wurde, passt auch gut zu dem psychoanalytischen Modell der Entstehung von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen. Denn die Psychoanalyse stellt insbesondere den Bezug der Erkrankung zur Innenwelt des Subjekts, also den Bezug zu unbewussten Konflikten, zur psychischen Struktur, zu den verinnerlichten Objektbeziehungen, zu den Traumatisierungen in der psychosozialen Entwicklung in den Vordergrund (Janssen, 2009).

Klassische psychoanalytische Konzepte der Psychosomatischen Medizin Der theoretische Kern der Psychoanalyse, sowohl in ihrer Anwendung auf die normalen wie auf die gestörten mentalen Funktionen, ist das Konzept vom Unbewussten. Das Unbewusste beeinflusst unsere Gedanken, unsere Vorstellungen, unsere Haltungen, unsere Beziehungsmuster, kurz alle psychischen Prozesse. Das bestätigt auch die Neurobiologie (z. B. Roth, 2001). Freud (1895d) stellte bei den hysterischen Neurosen fest, dass das Unbewusste nicht nur Ein-

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fluss auf das Denken, Fühlen und Verhalten hat, sondern auch auf die Körperfunktionen (Konversionsstörungen). Mit der Theorie von der inneren Realität gab die Psychoanalyse dem Traum, den Phantasien und den mentalen Repräsentationen der Erfahrung des Indi­viduums in seinen Beziehungen gegenüber den logischen, rationalen Gedankengängen einen Vorrang im Einfluss auf das Psychische und auch auf das Somatische. Insbesondere der Umgang mit den sexuellen Triebwünschen und den aggressiven Impulsen wird als lebenslange Aufgabe des Menschen verstanden. Gelingt das Management der Triebe und der Triebderivate nicht, entstehen Störungen. Dieses Misslingen wird in der Psychoanalyse als unbewusster Triebabwehrkonflikt definiert. Pathogene, intrapsychische unbewusste Konflikte entstehen in der infantilen Entwicklung mit den primären Bezugspersonen. Sie werden verinnerlicht (internalisiert) und können in späteren Lebensphasen in bestimmten psychosozialen Situationen oder Beziehungskonstellationen reaktiviert werden. Diese Konflikttheorie ist das Kernkonzept der psychoanalytischen Krankheitslehre. Das Konversionskonzept, das erste Konzept einer verstehenden Psychosomatik, gründet auf diesem Verständnis von Triebabwehrkonflikten (Freud, 1895d). Das Grundprinzip der Konversion meint die Umwandlung seelischer Energie in somatische Innovation auf der Grundlage eines seelischen Konfliktes, z. B. die Lähmung eines Armes auf der Grundlage der unbewussten Angst vor aggressiven Impulsen. Die mit dem Vorgang verbundenen neuronalen Prozesse beeinflussen das Ausdrucksverhalten des Körpers, sodass das Symptom Symbolcharakter hat und körpersprachlich zu entschlüsseln ist. Auf der Basis der Freud’schen Konzeption entwickelten andere Psychoanalytiker eine psychoanalytische Krankheitslehre, die nicht nur das Konversionsmodell umfasst, sondern auch sogenannte Organneurosen, das heißt ein Modell für Störungen, die wir heute somatoforme oder funktionelle Störungen nennen (Fenichel, 1945). Insbesondere einer der Begründer der Psychoanalytischen Psychosomatik, Franz Alexander (1951/1971), greift diesen Einfluss spezifischer psychischer Konflikte auf den Körper auf, betont aber mehr die Eigengesetzlichkeit der somatischen Prozesse, insbesondere der durch das vegetative Nervensystem versorgten Organe. Er sah die Kon-

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flikte als Ursache für die sogenannten psychosomatischen Erkrankungen wie z. B. die Erkrankung des Atmungssystems, des Darms, des Herzens, der Haut. Das Konversionsmodell hingegen hielt er für geeignet, pathologische Veränderungen in der Motorik zu erklären, jedoch nicht in organ­verändernden Prozessen, wie z. B. Hypertonus, Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, Ulcus duodeni, Neurodermitis. Bei diesen Erkrankungen erkannte er spezifische psychodynamische Grundkonflikte. Sie sollten in Verbindung mit vegetativen Innervationsmustern und Affektkorrelationen für die Entstehung dieser Krankheiten verantwortlich sein. Seine Spezifitätshypothese konnte nicht bestätigt werden (Weiner, 1977). Alexanders Verständnis von der Korrelation zwischen psychischen Ereignissen, psychologischen Merkmalen der Person und körperlichen Dysfunktionen oder Krankheiten ist jedoch als Grundkonzept der Psychosomatischen Medizin bestehen geblieben. Seit der Einführung der Strukturtheorie und der Auffassung von den psychischen Instanzen (Freud, 1923b) und seit der Entwicklung der Ich-Psychologie (H. Hartmann, 1939/1960/1961) gibt es ein weiteres psychoanalytisches Konzept für die Psychosomatische Medizin. Die Ich-Psychologie befasst sich mit den sogenannten primärautonomen und sekundärautonomen Ich-Funktionen, also einerseits mit autonomen Ich-Funktionen, die nicht von Konflikten herrühren, und andererseits mit solchen, die Konflikten entstammen, wie etwa die Abwehrformationen gegen Triebwünsche. Zu den primärautonomen Ich-Funktionen werden die Wahrnehmung, das Denken, das Handeln, die Sprachentwicklung, die Steuerung der Motorik und das implizite und explizite Gedächtnis gerechnet. Das Ich ist auch Träger des Bewusstseins und aller bewussten Funktionen. Es ist der Ort der Entstehung von Vorstellungen und Phantasien, von Wahrnehmungen der Affekte und der Affektregulierung wie auch der Anpassung an die Realität. Die Ich-Psychologie findet ihre Anwendung in der Psychosoma­ tischen Medizin im Konzept der De- und Resomatisierung von Schur (1955/1974) und im Konzept der Reaktion auf Objektverlust und dem Hilf- und Hoffnungslosigkeitssyndrom von Engel (1955/1974) sowie Engel und Schmale (1967/1969). Das Konzept der De- und Resomatisierung geht davon aus, dass im Laufe der

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individuellen Entwicklung die Symbolisierungsfähigkeit zunimmt, die Wortsprache also an die Stelle der Körpersprache tritt. Erst mit zunehmender Ich-Entwicklung kann der Affektausdruck verbal werden. Schur (1955/1974) nennt diesen Vorgang den Desomatisierungsprozess. Bei gestörten Entwicklungen kann im Erwachsenenalter bei entsprechendem Objektverlusterleben eine Resomatisierung auftreten. Engel (1955/1974) stellt den Verlust von nahestehenden Personen, aber auch den Verlust von Positionen und Funktionen beim Vorliegen einer typischen persönlichen Reaktionsbereitschaft als Ursache für das Auftreten von somatischen Erkrankungen, z. B. chronischen Darmerkrankungen heraus. Die Affektzustände der Hilf- und Hoffnungslosigkeit sind dem depressiven Zustand vergleichbar und ein Erklärungsmodell z. B. für chronisch-entzündliche Darmerkrankungen. Ein ähnliches Konzept ist das der zweiphasigen Abwehr von Mitscherlich (1954/1974). Ihm zufolge sind psychosomatisch erkrankte Patienten auf einer psychoneurotischen Ebene und auf einer somatischen Ebene der Symptombildung fixiert. Bei emotionellen Belastungen soll entweder die neurotische Ebene oder die somatische und damit eine tiefergehende Regression aktiviert werden. In den 1960er bis 1970er Jahren spielen dann Konzepte eine Rolle, die mehr die psychosomatische Störung im Allgemeinen erfassen wollen, z. B. das Konzept der Alexithymie (Sifneos, 1983) oder das Konzept der Pensée opératoire (Marty u. M’Uzan, 1963/1978). Beide Autoren sind der Auffassung, dass Alexithymie wie Pensée opératoire nach ihrer klinischen Erfahrung jeweils spezifisch für folgende Ich-Funktionsstörungen psychosomatischer Patienten sind: ȤȤ die Unfähigkeit, Gefühle zu verstehen, zu erfassen und zu beschreiben, ȤȤ ein mechanistischer formalisierter Denkprozess, ȤȤ ein Mangel an Phantasie, ȤȤ die Gebundenheit an faktisch-situative Gegebenheiten, ȤȤ die Reduplikation (im Anderen das eigene Abbild zu sehen), ȤȤ die Angewiesenheit auf die reale Präsenz anderer, ȤȤ mechanistische, instrumentelle, angepasste Beziehungsmuster.

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Diese klinischen Phänomene der Alexithymie, die unbestritten bei manchen psychosomatisch Erkrankten beobachtet werden können, werden als Ausdruck von neurotischen Abwehrphänomenen interpretiert, aber auch als hirnorganische Störungen. Nach heutigem neurobiologischen Verständnis erklären sich die Störungen eher als Defizite der Ich-Funktion, der Affektwahrnehmung und der Affektverarbeitung (Lausberg, 2006).

Die Psychosomatische Medizin und die Psychoanalyse der Objektbeziehungen, des Selbst in Verbindung mit Bindungstheorie und Neurobiologie Zum Verständnis der psychosomatischen Krankheiten werden zunehmend Konzepte herangezogen, die die frühen Beziehungsmuster zwischen Mutter und Kind und das Bindungsverhalten des Kindes beschreiben. Historisch gesehen hat zuerst Melanie Klein die Aufmerksamkeit auf die frühen Objektbeziehungen (Säugling-­ Mutter-Beziehung) gelenkt. Sie beschreibt mit dem Konzept von den inneren Objekten einen »projektive Identifikation« genannten psychischen Mechanismus, mit dem sich das Neugeborene vom Druck der als angeboren vorgestellten aggressiven Triebkräfte zu entlasten sucht: Für die Bewältigung der aggressiven Triebe projiziert das Kind den Zerstörungsdrang auf die Mutter. Da es noch nicht die Objekte getrennt von sich erleben kann, bleibt es auch mit dem Projizierten verbunden und fühlt sich ängstlich und bedroht. Diese Projektion von Selbstaspekten auf den Therapeuten spielt im heutigen Verständnis von frühen Prozessen bei psychosomatischen Störungen eine große Rolle. Eine weitere Theorie, die die Psychosomatische Medizin berei­ cherte, ist die aus der Freud’schen Narzissmustheorie (Freud, 1914c) entwickelte Selbstpsychologie (Kohut, 1977). Für Hans-Peter Hartmann (2017) gibt diese psychoanalytische Richtung die Grundlage für ein modernes Verständnis von psychoanalytischer Psychosomatik. Die Selbstpsychologie stellt die libidinöse Besetzung des Selbst und ihre Bedeutung für den Erwerb stabiler und flexibler psychischer Strukturiertheit an die Stelle der Entwicklung autonomer Ich-­ Funktionen und definiert die Selbstentwicklung als unabhängig von

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Trieb- und Ich-Entwicklung. Im affektiven Dialog zwischen Mutter und Säugling werden die ersten Selbstvorstellungen über verschiedene Sinneseindrücke gewonnen. Sie verbinden sich zu einem ersten Selbstkern, der Grundlage des Selbstgefühls wird. Solange das Kind über ein unreifes Selbst verfügt, ist es unfähig, zwischen seinem Selbst und der bedürfnisbefriedigenden, affektiv spiegelnden Mutter zu unterscheiden. Ein solches frühes Objekt wird als Selbstobjekt bezeichnet. In der Phase der Dominanz der Selbstobjekt-Beziehung entsteht ein archaisches grandioses Selbst; das Kind erlebt sich in der psychischen Verschmelzung mit der Mutter als mächtig und unverletzlich. Im Laufe der Entwicklung muss das grandiose Selbst zu einem realistischen Selbst umgeformt werden. Dies geschieht durch stufenweise Frustration durch das Selbstobjekt. Sind die Frus­ trationen zu abrupt oder massiv, wirken sie trauma­tisierend. Eine Häufung solcher narzisstischer Wunden bewirkt eine Selbstunsicherheit, Kränkbarkeit und führt nicht nur zu Persönlichkeitsstörungen, sondern auch zu psychosomatischen Störungen. Nach Hans-Peter Hartmann (2017) sind psychosomatische Störungen Beziehungsstörungen zu bedeutsamen Anderen und deren regulierenden Einfluss auf die Selbstkohärenz. Psychoanalytiker fassen solche Störungen auch oft unter dem Begriff der strukturellen Ich-Störungen (Fürstenau, 1977) zusammen. Balint (1968/1970) subsumiert solche Störungen der frühen Beziehung zwischen Mutter und Kind unter dem Begriff der Grundstörung. Kernberg (1975) wendet für die strukturellen Störungen den Begriff der Borderline-Persönlichkeitsorganisation an und unterscheidet eine neurotische von einer Borderline-Funktionsebene. Mit einer Abgrenzung von Konfliktstörung und struktureller Störung in der Psychoanalyse war auch eine Wende im Verstehen psychosomatischer Störungen eingeleitet. Ein weiterer Fortschritt zur Erfassung der strukturellen Ich-Störungen brachte die Verbindung von Psychoanalyse und Bindungsforschung mit dem Konzept der Mentalisierung (z. B. Fonagy, 2003). Mentalisieren beschreibt den Prozess in der frühen Entwicklung, der in Abhängigkeit von Bindungs- und Beziehungs­erfahrungen sowie der Hirnreifung zur Fähigkeit des Menschen führt, das eigene Erleben und Verhalten über Introspektion zu erfassen und auch das Verhalten anderer Menschen voraus-

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zusehen. Die mentale Funktion, reflective functioning genannt, hat als Basis Hirnreifung, den frühen interpersonellen Dialog und das vermittelte und erinnerte Beziehungswissen. Mentalisierung dient der Affektregulation und beschreibt eine Fähigkeit, die man auch als Ich-­Funktion beschreiben kann (vgl. Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2002). Neben dem Mentalisierungskonzept liegen zahlreiche entwick­ lungsphysiologische und entwicklungspsychologische Forschungen zum Interaktionssystem zwischen Mutter und Kind sowie zur Rolle von Bindung und Affekten vor (vgl. Stern, 1977; Krause, 1983; Fonagy et al., 2002; Strauß, Buchheim u. Kächele, 2002). Sie lassen sich so zusammenfassen: Das kindliche Verhalten und die kindliche Physiologie werden von Geburt an über Beziehungen organisiert und reguliert. Das Regulationssystem beginnt auf einer biologisch-­ neurophysiologischen Verhaltensebene und entwickelt sich mehr und mehr in Richtung einer symbolischen, psychologischen Ebene, in welcher das kindliche Ich die Fähigkeit erwirbt, in sprachlichen und bildhaften Symbolen zu denken und zu kommunizieren. P ­ arallel dazu wird das Kind sich mehr und mehr seiner Getrenntheit von der Mutter bewusst (Lichtenberg, 1983). Bei normaler Entwicklung können die Affekte nach und nach psychisch mental verarbeitet und in ich-gerechte Handlungen umgewandelt werden. Bei Traumati­ sierungen, Entbehrungen, Einschränkungen treten beim Säugling starke Affekte auf, für die er keinen Verarbeitungsmodus hat, da psychische Repräsentanzen dazu noch nicht gebildet sind. Der massive Einbruch von Affekten, z. B. Ängsten und Aggressionen, führt zu einem psychischen Symptom, aber auch zu einem psychosomatischen Symptom bzw. zu einer somato-psychischen Störung, wenn nicht ein schutz- und sicherheitsbietendes Objekt oder ein Übergangsobjekt (­Winnicott, 1953/1976) bzw. Selbstobjekt (Kohut, 1977) zur Verfügung steht. Meist werden diese psychischen Entwicklungsdefizite im Erwachsenenleben durch Abhängigkeit in Beziehung zu signifikanten Anderen, z. B. in Paarbeziehungen oder auch in der Arzt-Patient-Beziehung, kompensiert. Wird eine solche Beziehung gestört, kommt es zum Phänomen des Objektverlustes, das heißt zum Verlust der selbstregulatorischen Funktionen, die der signifikante Andere übernommen hat, und zu somatischen Symptomen.

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Nach der Bindungsforschung (vgl. Ainsworth, Blehar, Waters u. Wall, 1978; Grossmann u. Grossmann, 2003) ist das Bindungsverhalten eines Säuglings ein angeborenes Verhaltenssystem, dessen Aufgabe darin besteht, bei allen nach der Geburt noch nicht selbst lebensfähigen Arten (Nesthockern) durch die Herstellung von Nähe Sicherheit gegen äußere Gefahren zu schaffen. Auf das kindliche Bindungsbedürfnis reagieren Eltern in der Regel intuitiv mit feinfühliger Zuwendung. Das Erleben von Nähe, Zuverlässigkeit und Vorhersagbarkeit ermöglicht dem Kind, ein basales Sicherheitsgefühl zu entwickeln. Auf dieser Grundlage sind die Bindungstypen von Kindern auch untersucht worden, z. B. das sicher gebundene Verhalten, das unsicher vermeidende Verhalten, das unsicher ambivalente und das desorganisierte Bindungsverhalten. Diese Bindungserfahrungen beeinflussen auch die Hirnentwicklung. Frühe Trennungen hinterlassen eine lebenslange Vulnerabilität für psychosomatische Erkrankungen. Das belegen neurobiologische Forschungsergebnisse (vgl. zusammenfassend Beutel, 2002; Beutel u. de Greck, 2017). Umweltwidrigkeiten beeinträchtigen die Qualität der mütterlichen Versorgung, die Hirnentwicklung der Nachkommen und das mütterliche Verhalten über Generationen hinweg. Die experimentellen Befunde belegen, dass bei Umweltwidrigkeiten über die Veränderung des Hormonsystems eine lebenslange Stresssensibilität bestehen bleibt. Umweltbelastungen verändern auch das Brutpflegeverhalten und wirken sich negativ auf das mütterliche Verhalten in der Folgegeneration aus. Die individuelle Fürsorge gegenüber der folgenden Generation entspricht der in der eigenen Entwicklung erfahrenen Fürsorglichkeit durch die eigene biologische Mutter. Nach dieser zusammenfassenden Darstellung der entwicklungspsychoanalytischen, entwicklungspsychologischen, entwicklungsphysiologischen und neurowissenschaftlichen Forschung wie der Bindungsforschung ist festzuhalten: Nach dem heutigen Verständnis ist aus psychoanalytischer Sicht die Entwicklung einer selbstregulatorischen Kapazität im kindlichen Ich mit Toleranz für Affekte über Übergangsobjekte oder Selbstobjekte Voraussetzung für ein stabiles Ich und für eine psychosomatische Gesundheit. Für psychosomatische Störungen und Krankheiten ist die Persistenz eines

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Mangels an frühen Selbst- und Ich-stabilisierenden und -regulierenden Beziehungen eine psychische Vorbedingung bei gleichzeitiger somatischer Disposition. Trennungstoleranz und die Angst vor Objektverlusten sind wahrscheinlich die entscheidenden psychosozialen Aspekte bei der Entstehung und Aufrechterhaltung psychosomatischer Störungen. Das Beziehungserleben induziert also spontan Gefühle, denen neuronale und neurochemische Prozesse zugrunde liegen und die sich in bestimmten Hirnarealen ereignen (Gündel, Lausberg u. Henningsen, 2006). Die psychische Seite psychosomatischer Störungen und Erkran­ kungen kann also aus psychoanalytischer Sicht als strukturelle Ich-­ Störung verstanden werden, die in den frühesten Phasen der Interaktion zwischen Mutter und Kind von Beginn des Lebens an sowohl das physiologische Verhalten und die kindliche Physiologie organisiert und reguliert wie die psychische Struktur. Erst die parallel und integriert mit der körperlichen Reifung verlaufende Entwicklung der Objektbeziehungen, die Reifung der Ich-Strukturen und die Internalisierung der frühen Selbst- und Objekterfahrungen in den ersten Lebensjahren führt zur mentalen Repräsentation von Selbst-, Körper- und Objektbildern. Ich möchte daher in Anlehnung an Mahler, Pine und Bergman (1978) von einer somato-psycho-­ sozialen Individuationsphase sprechen. Erst nach Abschluss dieser Phase ist eine kohärente psychische Struktur etabliert, die Fähigkeit, in Symbolen zu denken, und eine Fähigkeit, nichtsymbiotische Objektbeziehungen im weiteren Leben eingehen zu können. Mangelerfahrungen in der frühen Mutter-Kind-Beziehung, Erkrankungen, Trennungen oder Traumatisierungen führen zu strukturellen Ich-Störungen, zu Störungen der selbstregulatorischen Ich-Kapazität des Kindes, insbesondere die der Affektregulation. Die psychoanalytischen Konzepte werden durch die Befunde der Neurobiologie und der Psychobiologie teilweise bestätigt, teilweise lösen diese Konzepte aber auch die alten wie die modernen psychoanalytischen Konzepte für psychosomatische Störungen ab (H.-P. Hartmann, 2017).

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Anmerkungen zur psychoanalytischen Behandlungsstrategie Die Position, dass es sich bei den psychosomatischen Störungen und Erkrankungen wie bei den Borderline-, den narzisstischen Störungen und den schweren Depressionen um strukturelle Ich-Störungen handelt, führt zu der Schlussfolgerung, dass bei allen diesen Erkrankungen aus psychoanalytischer Sicht ähnliche psychotherapeutische Aufgaben anstehen, jedoch unterschiedliche medizinische. Bei den psychosomatisch Erkrankten muss sowohl dem somatischen wie dem psychischen Status therapeutisch gleichzeitig Rechnung getragen werden. Psychosomatisch erkrankte Patienten, die zu einer psychoanalytischen Therapie überwiesen werden, haben oft einen erheblichen Widerstand, sich auf eine Psychotherapie einzulassen, da sie ein somatisches Krankheitskonzept haben. Mit dem Angebot eines psychologischen Verständnisses können sie häufig zunächst nichts anfangen. Psychotherapeuten, die annehmen, sie müssten in der Regel schon bei dem ersten Kontakt mit solchen Patienten ein Behandlungsbündnis herstellen, verkennen deren Krankheitskonzept. Darum ist es sinnvoll, gemäß der Achse 1 der Konzeption des Arbeitskreises Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD, 2006), das Krankheitskonzept der Patienten zu eruieren. Vor einer Behandlung liegt daher für die Psychotherapeuten das Problem darin, die Patienten dazu zu bewegen, sich auf eine Beziehung einzulassen. Die Beziehung des psychosomatisch erkrankten Patienten ist in der Regel dadurch charakterisiert, dass er starke Ängste vor Nähe zeigt oder bestenfalls ein sich ihm anpassendes, sich ihm zur Verfügung stellendes Objekt, also ein Selbstobjekt, sucht. Darum muss der Therapeut sich anfänglich sorgend bemühen, even­tuell auch eindringlich sein. Fühlt der Patient, dass sein primitives Übertragungsangebot angenommen wird, das heißt, stellt sich der Therapeut darauf ein, ein Ersatzobjekt für mütterliche Pflege zu werden, dann können sich auch »milde positive Übertragungen« (Freud, 1912b) entfalten, die förderlich für die Therapiemotivation des Patienten sind. Das Beziehungsangebot sollte nicht durch zu frühe Appelle an die realistischen und erwachsenen Selbstaspekte des Patienten frustriert

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werden, da solche Selbstobjekt-Angebote zur Bindung an den Therapeuten führen und dadurch die Einleitung eines therapeutischen Prozesses gefördert wird (Schöttler, 1981). Entscheidend für die Herstellung einer Motivation der psychosomatisch erkrankten Patienten zur Psychotherapie ist also nicht der Versuch des Thera­peuten, von Anfang an die Einsichtsfähigkeit des Patienten zu erreichen, sondern sein Angebot, mit sich wie mit einem symbiotischen Ersatzobjekt oder Selbstobjekt umgehen zu lassen. Die Aufnahme der massiven Ängste, die »Containing-Funktion« (Bion, 1962/1990, 1963/1992), ist erst der Einstieg in einen analytisch-­psychotherapeutischen Prozess. In der stationären psychoanalytischen Therapie (Janssen, 2014) wird der Prozess des Einlassens noch gefördert durch das Angebot einer multimodalen Komplextherapie, die für psychosomatisch erkrankte Patienten folgende drei Ebenen vorsieht: ȤȤ die Ebene der »physischen holding-function«, des direkten körperlichen Kontaktes in medizinischen Untersuchungen und der Behandlung durch den Stationsarzt, der versorgenden, pflegen­ den Schwester und der körperbezogenen übenden Bewegungstherapeuten; ȤȤ die Ebene der extraverbalen Symbolbildungen in der Mal- und Musiktherapie; ȤȤ die Ebene der verbalen Symbolbildungen in der psychoana­ lytischen Gruppen- und Einzelpsychotherapie. Diese multimodale, psychoanalytisch begründete Komplextherapie ist nach Janssen (2014, 2017, Janssen u. Sachs, 2017) also eine Verschränkung von somatisch-pflegerischen Behandlungen mit Angeboten zur Nutzung von Übergangsobjekten in der Mal- und/oder Musiktherapie mit der Förderung der präverbalen Symbolisierungsfähigkeit und der verbalen Symbolisierungsfähigkeit in der Kombination von Einzel- und Gruppenpsychotherapie. Die therapeu­ tischen Aktivitäten sind in einem Gesamtbehandlungsplan integriert und finden jeweils in einem räumlich und zeitlich definierten Setting statt. In diesen Strukturen kann der Patient sowohl Anwesenheit wie Abwesenheit der therapeutischen Objekte in einer für ihn jeweils spezifischen Weise erfahren und für die Behandlung seiner Grundstörung nutzen.

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Beim psychosomatisch Erkrankten steht nun besonders der Körper und, aus psychoanalytischer Sicht, die Abbildung des Körpers im psychischen Erleben, in Vorstellungen und Phantasien, begleitet von Affekten, im Vordergrund. Beim Körperbild geht es um den psychologisch-phänomenologischen Teilbereich der Körpererfahrung, um den »körperlichen Aspekt des Selbst« (Maaser, Besuden, Bleicher u. Schütz, 1994). Dieser Aspekt ist sowohl bewusst wie unbewusst und lässt sich auf den Ebenen des Erlebens und Verhaltens beschreiben als auch verbalisieren. Das basale Körpererleben vieler körperlich Kranker ist gestört und kann nicht in das Gesamterleben der Persönlichkeit integriert werden. Rodewig (1994, 1995) z. B. hat den Mechanismus der Spaltung bei einer Karzinom-Patientin beschrieben und damit den Übertragungs-Gegenübertragungs-Aspekt bei der psychoanalytischen Behandlung solcher Patienten erklärt. Von den körperbezogenen Psychotherapien wissen wir, dass häufig zunächst Körperübungen einen Zugang zum Körpererleben eröffnen und dass erst dann ein Zugang zu den psychischen Anteilen möglich ist. Erst die praktische Erfahrung und die theoretische Durchdringung der körperbezogenen Psychotherapie hat uns ein neues Verständnis vom kranken Körper in der Psychotherapie vermittelt. Manche schwer somatisierenden Patienten waren nur durch einen unmittelbaren Umgang mit dem Körper in einem psychotherapeutischen Setting, z. B. in einer Konzentrativen Bewegungstherapie oder in einer Maltherapie, zugänglich (Janssen, 2017, Janssen u. Sachs, 2017). Auch Psychoanalytiker kommen, wenngleich zögernd, dahin, neben Verbalisierungen in ihren ambulanten Behandlungen auch Handlungsangebote und dosierte Berührungen einzusetzen, um den therapeutischen Prozess zu fördern. Moser (1992) und Heisterkamp (1993) z. B. beschäftigen sich mit körperbezogenen Interventionen im Rahmen von psychoanalytischen Therapien und messen ihnen eine besondere Bedeutung für die Mobilisierung und Durcharbeitung wie Überwindung früher Traumatisierungen bei. Manche psychosomatischen Patienten können wegen des alexi­ thymen Phänomens lange keine affektiven Beziehungen aufnehmen, auch nicht in der Klinik zu verschiedenen Therapeuten. Sie bleiben isoliert und schildern konkrete Gegebenheiten ohne persönliche,

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subjektive emotionale Stellungnahmen. Andere wiederum gehen bedürfnis- und wunschreiche, idealisierte Beziehungen ein, wodurch die Behandlungsmotivation und die Bindung an den Therapeuten oder das therapeutische Team gefördert werden. Unausweichlich gibt es in jeder psychoanalytischen Behandlung Erfahrungen der Begrenztheit. Sie bedeuten für den psychosomatischen Patienten aus psychoanalytischer Sicht eine narzisstische Krise mit einer Reaktivierung archaischer Ängste und heftiger Aggressionen. Während die persönlichkeitsgestörten Borderline-Patienten solche Krisen durch Handlungen gegenüber sich selbst oder anderen erledigen, reagiert der psychosomatisch erkrankte Patient mit dem Körper, er versucht, sich der abgespaltenen negativen Affekte über einen »somatischen Ausbruch« (McDougall, 1974, 1982) zu entledigen. Das kann auch zu einer Zunahme der somatischen Beschwerden und manchmal zu einer weiteren somatischen Pflege- und Behandlungsbedürftigkeit führen. In der stationären psychoanalytischen Therapie kann diese Krise durch den multimodalen Ansatz aufgefangen werden, und in der ambulanten psychoanalytischen Therapie ist die Kooperation mit somatisch behandelnden Ärzten erforderlich. Letzteres kann Spaltungsprozesse in der therapeutischen Beziehung hervorrufen (»guter« Arzt »böser Analytiker« oder umgekehrt), die schwer zu bearbeiten sind. Am Anfang der Behandlung phantasiert der Patient überwiegend vom Idealzustand der Ungeschiedenheit und der Aggressionsfreiheit. Aber im Laufe des therapeutischen Prozesses finden sich wie bei Borderline-Patienten auch Spaltungsübertragungen. Diese sind insbesondere in der stationären psychoanalytischen Psychotherapie manifest und auch im Team zu bearbeiten. Die Manifestation von Spaltungsübertragungen ist ein Zeichen dafür, dass sich ein therapeutischer Prozess entwickelt, da der Patient sowohl gute, ihn verwöhnende Objekte von den bösen, ihn bedrohenden und störenden Objekten trennen kann. In solchen Prozessen ist die Aufrechterhaltung von tragenden Beziehungen zum Patienten über den pflegenden und versorgenden Umgang eines Teiles der Therapeutengruppe mit ihm wesentlich für seine Bereitschaft, die archaischen Aggressionen über Projektionen auf Teile der Therapeutengruppe zu verlagern und nicht zu somatisieren. Diese Wende vom »somatischen

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Ausbruch« zur »psychischen Interaktion« in der Projektion ist entscheidend für eine Durcharbeitung der negativen Objekterfahrungen. Die Projektionen können im Therapeutenteam aufgenommen und zu bildhaften Vorstellungen umformuliert werden. Sie werden dem Patienten mitgeteilt, wodurch er die in ihnen enthaltenen Affekte zu reiferen Ausdrucksformen transformieren kann. In der stationären Behandlung können diese Spaltungsprozesse im Team erlebbar werden. Für das Team ist die Bearbeitung der ablehnenden, distanzierenden, narzisstisch gekränkten Gegenübertragungen, die sich aus dem aggressiven destruktiven Verhalten des Patienten ergeben, ein besonderes Problem. Gelingt es dem Team, die pflegende Haltung aufrechtzuhalten, so kann der Patient diese Erfahrung mit dem Team introjizieren und als positive »mütterliche« Imago in sich behalten, was eine Überbrückung der primären strukturellen Ich-Störungen bedeutet. Letztlich ist entscheidend, wie der therapeutische Prozess beendet wird. In der stationären Psychotherapie sind die Prozesse terminiert, darum müssen die Trennung und die auftauchenden Verlustängste, die manchmal zu verstärkten Symptombildungen führen, noch in der Behandlungszeit bearbeitet werden. In vielen Fällen wurden die Erinnerungen an frühere Krisen und der Umgang des Behandlungsteams mit ihnen zum Modell für die Bewältigung der Trennung vom stationären Team. In anderen Fällen ist die Fortsetzung der Therapie im ambulanten Setting indiziert. Erlebte der Patient auch Trauer über den Verlust der neuen, positiv besetzten Objekte, so kann er Abschied nehmen, ohne erneut somatisch zu reagieren oder die Beziehungen abzubrechen. Die über die größere Ich-Autonomie erreichten strukturellen Veränderungen ermöglichen ihm einen realitätsgerechten Umgang mit seinen Lebensaufgaben, seinen sozialen Beziehungen wie auch mit seiner somatischen Erkrankung. Ein Fallbeispiel soll den Prozess einer stationären multimodalen psychoanalytischen Behandlung illustrieren (Janssen u. Sachs, 2017).

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Fallbeispiel: Somato-psychisch gestörte Patientin mit struktureller Ich-Störung Eine 21-jährige Patientin klagte über ein Handekzem und litt unter einem Reizdarmsyndrom mit wechselnden Durchfällen und Obstipation sowie unter rezidivierenden Dünndarmgeschwüren. Früher hatte sie zeitweise Asthma und bronchiale Anfälle. Auffällig waren die gehäuften Operationen, elf an der Zahl. Sie war sehr adipös. Das zunächst subjektiv im Vordergrund stehende Handekzem trat in verschiedenen Situationen auf, sowohl nach Kontakt mit bestimmten Stoffen als auch bei psychischen Belastungen. Insbesondere nach telefonischem Kontakt mit der Mutter oder wenn sie einen Brief von ihr bekam, trat ein Juckreiz auf, und die Haut platzte. Das Handekzem bestand seit dem dritten Lebensjahr. Im zweiten Lebensjahr hatte sie Milchschorf. Biografisch ist zu erwähnen: Als Sechsmonatskind war die Patientin für einige Zeit im Brutkasten. Sie hatte zwei Halbgeschwister und war das einzige gemeinsame Kind der Eltern. Beide Eltern waren Lehrer und nahmen sich wenig Zeit für sie. Die Mutter erkrankte nach der Geburt der Patientin lebensgefährlich, wie auch zu späteren Zeitpunkten, als die Patientin wegen ihres Ekzems zu Kuren verschickt wurde. Nach der mittleren Reife zog die Patientin zu ihrer Lieblingstante. Sie bekam ihr erstes Dünndarmgeschwür, als die Schwester zuzog und eine Neid-Ärger-Problematik auslöste. Sie hatte bisher keine Partnerschaften, auch keine intimen Kontakte. Präsentation der körperlichen Beschwerden als Spaltung von Körper und Seele und instrumentelle Übertragung Zu Beginn der Behandlung stellte die Patientin ganz ihre Beschwerden und ihren kranken Körper in den Vordergrund. Sehr eindrucksvoll schilderte sie den Juckreiz an den Händen, dass ihre Haut aufbräche. Häufig konsultierte sie während der stationären Behandlung den Stationsarzt, der die somatischen Untersuchungen und Behandlungen übernahm. Sie erwirkte zahlreiche konsiliarische Untersuchungen in anderen Kliniken. Manchmal entstand hieraus die Frage nach operativen Eingriffen; sie erwiesen sich alle aus medizinischer Sicht als nicht erforderlich. Verbal war die Patientin zunächst nicht zu erreichen. In der Gruppen- wie in der Einzeltherapie baute sie

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einen intellektuellen Schutzwall um sich, fühlte sich ungewollt und abgelehnt. Die Mitpatienten erlebten sie als »Trampel«. Verstanden wir ihren Umgang mit dem Stationsarzt auch als Re-Inszenierung, so konnten wir festhalten, dass sie sich mit ihrem Körper in die Behandlung »einbrachte«. Die Annahme, dass die Patientin über die Beschäftigung mit ihrem Körper und die Besuche beim Stationsarzt auch ihre pathologischen Objektbeziehungen inszenierte, wurde uns nach und nach verständlich. Uns fiel auf, wie häufig der Stationsarzt über die erneuten Konsultationen der Patientin im Team berichtete und wie intensiv dies geschah. Wir brachten dieses Phänomen in Zusammenhang mit ihrer Lebensgeschichte und konnten die affektiven Auseinandersetzungen, die sich um weitere Untersuchungen bzw. deren Unterlassungen drehten, verstehen als Re-Inszenierung der Spaltung von Körper und Seele, die sich in unseren Besprechungen wiederholte. Manche befürworteten Untersuchungen, andere hielten sie für unnötige Quälereien und wollten die Patientin schützen. Das Team erlebte offensichtlich die bei der Patientin nur untergründige Spannung, die sich durch die Spaltung von Körper und Seele ergab. Daraus leiteten wir schließlich ab, dass es sich um ein zentrales Thema handeln musste. Nur bei diesem Thema ging es lebendig zu, ansonsten wurde eher berichtet, wie leblos, intellektuell, rationalisierend und diffus die Patientin im Kontakt war. Wir nahmen an, dass die Patientin sich am meisten in den Untersuchungen und Eingriffen spürte. Darum bildeten wir die Hypothese, dass in der Inszenierung ihrer Pathologie der medizinisch-instrumentelle Umgang mit ihrem Körper zunächst ganz in den Vordergrund trat. Dies war offensichtlich durch ihr ganzes Leben hindurch eine Art Identitätsthema. Nur so konnte sie sich erleben und fühlen. Ausschließlich durch die instrumentellen Kontakte bekam sie auch Kontakt mit ihrem Körper. Ansonsten erlebte sie ihn als von sich getrennt und fragmentiert. Diese defizitäre Entwicklung im Körper­erleben und die daraus folgenden Interaktionsmuster betrachteten wir als Wiederholung einer frühkindlichen Interaktion. Der Stationsarzt musste also neben den ansonsten üblichen Tätigkeiten der körperlichen Untersuchung und Beratung ein Augenmerk auf belastende Vorkommnisse und körperliche Reaktionen richten und die Patientin anregen, diese in den therapeutischen Feldern zu besprechen.

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Präsentation des psychischen Erlebens in der Maltherapie Wie schon erwähnt, konnte sich die Patientin die verbalen Therapiefelder kaum nutzbar machen. Dies gelang aber nach und nach in der Mal- und Bewegungstherapie. Später entwickelten sich auch positive Beziehungen zu den Schwestern. In der Maltherapie entstanden sehr eindrucksvolle Bilder, z. B. über ihre Depressivität. Sie malte Sturz­bäche von Tränen. Als sie sich selber malte, erlebte sie ihren Körper als unförmig und dick. Das Bild war erschreckend anzusehen. Sie malte auch ihr Herz, wie es zuckend zerschlagen wurde. In diesen Bildern kamen ihr Körpererleben und ihr emotionelles Leiden viel stärker affektiv zum Ausdruck als in der Sprache. Inszenierung der averbalen fusionären Übertragung in der Bewegungstherapie In der Bewegungstherapie kollidierte sie mit anderen Gruppen­mit­ gliedern, schaffte sich Raum, wirkte gierig, ihre Motorik war überschießend, heftig, ungesteuert. Sie konnte nicht abwarten, sie wirkte hastig, übereilt, vorschnell wie ein »Elefant im Porzellanladen«. Die Bewegungstherapeutin versuchte, sie in die Gruppe zu integrieren, indem sie Partnerübungen und Entspannungsübungen durchführen ließ und später zielgerichtete Übungen zur Steuerung ihrer Motorik. Besondere Aufmerksamkeit legte die Therapeutin auf die Arbeit mit ihren Händen. Sie stellte u. a. Fragen und eröffnete Gespräche darüber, wie die Patientin ihre Hände erlebte, wahrnahm, warum sie diese nicht mochte. Die Patientin konnte so erste Verknüpfungen herstellen zwischen bestimmten Körperorganen (Hände) und Funktionen und Affekten, z. B. Zupacken der Hände, Besitzenwollen, Raffgier, Streicheln, Zärtlichkeit und Angst. Die Patientin konnte ihre Wahrnehmung der Funktion der Hände differenzieren, wobei sicherlich der positive und förderliche Kontakt durch die Therapeutin dazu führte, dass sie ihre Hände nicht mehr wie früher als überwiegend negativ erlebte. Übergang der instrumentellen Übertragung zur interpersonellen Übertragung Die Patientin suchte zunächst einen sehr engen und dichten Kontakt zu der Bewegungstherapeutin, die sie so sehr gefördert hatte. Nach und nach konnte sie auch Personen in der Gruppe anfassen und als

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lebendig erleben. Sie wurde geschickter im Umgang mit ihren Händen und zeigte keine ekzematischen Symptome mehr. Die Bewegungstherapeutin vermittelte ihr Ruhe und Anwesenheit. Wenn sie ihre Stimme höre, sei es wie ein »Wiegenlied«, sagte die Patientin. Der Umgang mit ihrem Körper in der Bewegungstherapie wurde zum fördernden therapeutischen Agens. Erst danach konnte sie auch in anderen Beziehungen ihre Wünsche nach liebevoller Pflege äußern. Nach und nach verließ sie die Ebene des instrumentell-mechanistischen Umgangs mit ihrem Körper. Am Ende der Behandlung berichtete sie dem Stationsarzt mehr über Körpersensationen als über Beschwerden oder forderte körperliche Untersuchungen. Nach der Entlassung verliebte sie sich in einen jungen Mann, einen Bäcker, der sehr fürsorglich mit ihr umging und der sie auch anfassen durfte. Mit ihm hatte sie ihre ersten intimen Beziehungen. Die Trennung von der Klinik erlebte sie wie ein Weggerissenwerden. Sie reagierte zunächst nach dem alten Muster: Sie wandte sich an einen Orthopäden, der eine Meniskusoperation durchführen ließ. Danach beschwerte sie sich in den ambulanten Gesprächen darüber, dass wir ihren Körper und ihre Krankheiten nicht ernst genommen hätten. Als der Therapeut ihre Enttäuschung darüber deutete, war sie überrascht und meinte, wir hätten sie auch mehr anfassen und in den Arm nehmen sollen. Darin wurden ihre ganzen positiven infantilen Wünsche nun auf der verbalen Ebene formulierbar. Soweit wir den bisherigen Verlauf überblicken können, ist kein Krankenhausaufenthalt mehr notwendig gewesen.

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Fruchtbarkeit als biopsychosoziales Geschehen

Biologisches Grundprinzip Die Fähigkeit sich fortzupflanzen, also Fruchtbarkeit, ist für alle Lebewesen die Grundlage ihrer Existenz. Solange die menschliche Gattung der Vergänglichkeit geweiht ist, sichert allein die Frucht­ barkeit ihren Fortbestand. Die Fortpflanzungsfunktion stellt damit den essenziellen physiologischen Teil jedes Lebewesens dar, der in die Ganzheit der anderen wichtigen Lebensfunktionen des Organismus eingebunden und von ihnen untrennbar ist. Der Fortpflanzungstrieb ist in unseren Genen verankert. Ansonsten fallen wir aus dem biologischen Regelkreis heraus und haben das Ziel der Evolution verfehlt. Diese Tatsache formulierte meine Patientin Vera, die von einem Bauernhof kommt, auf dem die Kühe mehr wert sind als die Kinder, weil sie etwas einbringen, treffend so: »Wenn ich kein Kind bekomme, bin ich nur ein verdorrter Ast am Stamm meiner Familie, der es nicht wert ist, großgezogen worden zu sein!« Dieses biologistische Selbstverständnis ist heute eher überholt. Doch begegne ich nicht wenigen Frauen, die bewusst oder unbewusst meinen, ihren Eltern gegenüber eine Bringschuld von Enkeln zu haben. Wie Sven Hildebrand (2015) in seinem Konzept der balancierten Elternschaft betont, sind »Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit archaische Naturphänomene, die als komplexe biologische Vorgänge einer Selbstregulation unterliegen« (S. 248). Traumatische Erfahrungen auf der biologischen, psychischen und sozialen Ebene können diese Selbstregulation der biologischen Prozesse stören oder gar blockieren, weil sie tiefe Spuren in Seele und Körper hinterlassen.

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In der heutigen Zeit sind darüber hinaus die mit dem Begriff der Fruchtbarkeit verbundenen Ziele unserer Biologie nicht mehr allein unser Schicksal. Wir können, wenn wir unser medizinisches Wissen einsetzen, vom Ansatz her frei entscheiden, ob wir Kinder haben wollen oder nicht. Für diese Entscheidungen spielen viele außerhalb der Biologie liegende Faktoren eine Rolle: Biografie, Beziehungsmuster, Bindungen, Familiennormen und soziale Gegebenheiten. Anders verhält es sich jedoch beim unerfüllten Kinderwunsch. Verwehrt das Schicksal Paaren, die auf Elternschaft hoffen, gegen ihren Willen die Gabe von Kindern, können schmerzhaft empfundene Einschränkungen, Angst und Verzweiflung, Scham- und Schuldgefühle bis hin zu Phantomschmerzen als Korrelat der ungeborenen Kinder die Folge sein. Die Symptome ähneln, obwohl seelisch bedingt, denen einer schweren körperlichen Erkrankung. Obwohl es eigentlich offensichtlich sein sollte, dass die Fruchtbarkeit – das Kinderkriegen – nicht nur mit der Funktionsfähigkeit von Unterleibern zusammenhängt, beschränkt sich der Blick des üblichen ärztlichen Bewusstseins und Handelns genau auf diesen Bereich. Das körperlich Greifbare drängt sich wie alles Materielle immer in den Vordergrund und wird zuerst wahrgenommen und angegangen. Dabei übersehen die Ärzte, dass sogar die Biologie des Körpers in weiten Bereichen unbewusst verläuft, weil sie von der Psyche gesteuert wird und folglich nur in geringem Maße von unserem Willen kontrolliert werden kann. Zwar sind Zeugung und Schwangerschaft primär biologische Ereignisse auf der Zellebene. Bei ihnen müssen aber auch, wie unbestritten ist, in wesentlichem Umfang viele emotionale Faktoren in unterstützender Weise mitwirken. Wir sind eine Ganzheit aus Körper, Geist und Seele. In der Medizin unserer westlichen Welt indes herrscht, wie gesagt, im Gegensatz zu anderen Kulturen immer noch eine Aufspaltung des Gesamtgeschehens vor, obwohl anerkannt ist, dass diese Elemente unseres Seins sich gegenseitig beeinflussen, ja bedingen. Es scheint, wie Johnson (1993) zutreffend dargestellt hat, der Körper-Seele-Dualismus so tief in unseren philosophischen und religiösen Traditionen, in unseren gemeinsamen Denksystemen sowie in unserer Sprache eingebettet zu sein, dass er als eine unumstößliche Tatsache unserer menschlichen Natur angesehen wird. Dem gilt es entschieden

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entgegenzuwirken, denn diese Beschränkung muss zwangsläufig zu unvollständigen und damit unrichtigen Schlussfolgerungen zum Schaden der Patienten führen. Deshalb fordert der Hausarzt und Psychotherapeut Dr. Suso Lederle (2017) auf, »zusammenzuführen, was zusammen gehört«. Er bemängelt das nach wie vor geringe psychosomatische Verständnis und die fehlende Kommunikation zwischen Ärzten und Psychotherapeuten: »So wird eine wichtige Chance vergeben, relevante Informationen auszutauschen, um den Patienten als biopsychosoziales Wesen besser begreifen zu können. Das gemeinsame Bemühen muss dahin ausgerichtet werden, das dualistische Weltbild zu überwinden und nicht den Körper dem Arzt und die Seele dem Psychotherapeuten zu überlassen.« Jeder Kontakt zwischen Arzt und Patienten ist mit psychischer Einflussnahme verbunden. Berührung durch Hände, Blicke oder Worte begleiten jede medizinische Behandlung. Die Sorgfalt der Arzt-Patient-Beziehung, die Empathie des Arztes, seine Verständigung mit dem Patienten aufgrund seines Verstehens beeinflusst neben den Laborwerten und den entsprechenden Medi­kamenten den körperlichen Krankheitsverlauf und die Chancen von Heilung. Umgekehrt nimmt jedes Eingreifen des Psychotherapeuten auch Einfluss auf das körperliche Geschehen, weil Emotionen ohne ein körperliches Korrelat nicht zu denken sind. Wie wichtig eine offene – nicht auf Fachgebiete beschränkte – und unterstützende Arzt-Patient-Beziehung ist, die den Glauben an eine erfolgreiche Behandlung stärkt, haben für mich Studien über Placeboeffekte gezeigt. Ihnen zufolge zeigen Placebos sogar dann eine Wirkung, wenn die Person weiß, dass sie ein wirkungsloses Placebo einnimmt. »Du bist nicht nur, was du denkst, isst oder machst. Du bist, woran du glaubst« (Vance, 2016, S. 48). Die bekannteste Form des Glaubens, die das Befinden auf unerklärliche Art und Weise verbessern kann, ist die Religion. Viele Erfolge im sogenannten »Medizintheater« entstehen dadurch, »dass es mächtige Erwartungen in unserem Hirn weckt, sodass die fiktionale Therapie reale Wirkungen entfalten kann« (Vance, 2016, S. 55). Der dadurch ausgelöste Placeboeffekt tritt dann in Erscheinung, wenn der starke Glaube an die heilende Wirkung einer Behandlung das Gehirn auf die kör-

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pereigene »Apotheke« zugreifen lässt und aus deren Vorräten das Nervensystem mit medizinisch wirksamen Neuro­transmittern und Hormonen versorgt (u. a. Opioide, Endocannabinoide, Dopamin, Prostaglandine, Cholecystokinin, Oxytocin und Serotonin). Heilung durch Glauben setze allerdings aktive Zuhörer voraus, die das Imaginäre zu etwas Realem machen. Bei einer Placeboreaktion besteht im präfrontalen Kortex die Erwartung auf Heilung oder Schmerzlinderung, wodurch Signale an diejenigen Hirnareale gesendet werden, die Opioide bilden, die dann das Rückenmark hinabtransportiert werden: »Wir bilden uns nicht ein, keine Schmerzen zu empfinden. Weil wir Schmerzlinderung erwarten und entsprechend konditioniert wurden, behandeln wir uns im wahrsten Sinne selbst. Glaube und Erfahrung müssen zusammenpassen und zusammenarbeiten« (Vance, 2016, S. 65).

Biopsychosoziale Aspekte der Fruchtbarkeit Die Bildung des Wortes »biopsychosozial« ist das Ergebnis eines langen Diskussionsprozesses. Der Begriff macht im Blick auf den Menschen deutlich, dass für das jeweils aktuelle Geschehen im Leben immer biologische, psychische und soziale Faktoren verantwortlich sind. Bewusst offen bleibt bei dieser Begriffsbildung, welche Relevanz im Einzelfall jeder dieser drei Faktoren auf den konkreten Sachverhalt hat. Wer den Begriff verwendet, hat daher dessen Relevanz stets genau zu bestimmen. Auch die Fruchtbarkeit gehört in diesen biopsychosozialen Kontext. Sie kann sich nur im zwischenmenschlichen Bereich ereignen oder verweigern. Sie ist immer das Ergebnis einer Momentaufnahme der jeweiligen intra- oder intersubjektiven Vorgänge vor dem Hintergrund der momentanen Lebensumstände. Faktoren, die Fruchtbarkeit ermöglichen oder verhindern, finden sich dabei sowohl im Bereich der Physis, im Bereich der Psyche wie auch besonders im sozialen Umfeld. In der heutigen Zeit erweist sich die Fruchtbarkeit vor allem aufgrund unserer veränderten sozialen Lebensumstände als ein zerbrechliches Gut. So müssen wir uns von der Idee verabschieden, dass das Kinderkriegen eine uns innewohnende elementare Fähigkeit ist. Die frühere Selbst­verständlichkeit,

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dass das eigene Kind zur Sicherung des Alters beiträgt, ist durch den veränderten sozialen Hintergrund ebenso verloren gegangen wie die frühere Rolle der Frau als für das Kinderkriegen und die Erziehung primär verantwortliche Person. Als Folge dieser sozialen Entwicklung finden Paare nicht nur in deutlich späterem Lebensalter zusammen. Sie befassen sich auch deutlich später mit der Frage des Nachwuchses – meist zu einem Zeitpunkt, in dem die fruchtbarsten Zeiten schon teilweise oder fast ganz vorüber sind. Den Mangel kompensieren wir bekanntermaßen durch die technischen Spiele der Fruchtbarkeitsindustrie. Das »Social Egg Freezing« ist die neueste, bislang zum Glück noch umstrittene Fruchtbarkeitsmanipulation. Was den äußerst wichtigen sozialen Faktor der Fruchtbarkeit angeht, ist die Kommunikation aller gesellschaftlichen Kräfte vonnöten: »Früher Kinder zu bekommen, erst reproduzieren, dann qualifizieren, das ist unter den herrschenden Bedingungen nur nachteilig. Zeit dafür hätten wir. Aber die politische Phantasie reicht nicht aus, den Zuwachs an Lebenserwartung in eine Entlastung der reproduktiven Phase umzumünzen. Wir verlängern stattdessen die Lebensarbeitszeit«, warnt Dr. Martina Lenzen-Schulte im Deutschen Ärzteblatt (2017, S. 11). Während in den Anfängen der Entwicklung der medizinisch assistierten Befruchtung nur biologische Ursachen als Indikation galten, sind heute vielfältige Gründe Anlass, die Hilfe der medizinisch assistierten Befruchtung in Anspruch zu nehmen. Sie stammen aus dem ganzen Spektrum des biopsychosozialen Bereichs und lassen sich oft nicht einmal klar den einzelnen Bereichen zuordnen. Beim Mann dominieren auf der biologischen Seite mangelnde Qualität und Anzahl der Spermien (Reduktion seit 1970 um mehr als die Hälfte), Zustand von Prostata und Hoden nach Operationen oder Erektionsschwäche, das heißt Impotentia gerandi oder coeundi. Bei der Frau kann ebenfalls eine schlechte Qualität oder Quantität der Eizellen vorliegen. Weitere Fertilitätsstörungen sind: Verschluss der Tuben, policystisches Ovar, Myome, Uterusanomalien, Endometriose sowie Hormon-und Zyklusstörungen, die oft auf der psychosomatischen Ebene verankert sind. Ferner können prä-und perinatale Schwangerschaftskomplikationen zu bleibender Unfruchtbarkeit führen.

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Hinter den somatischen Symptomen verstecken sich allerdings häufig psychische Ursachen. Hierzu zählen Traumatisierungen der Frauen, die Mutter werden wollen, besonders aus der eigenen prä-, peri- oder postnatalen Zeit, jener äußerst störanfälligen und verletzbaren frühesten Lebensphase. Auch transgernerationelle Traumata wie Flucht, Krieg und Gewalterfahrungen der eigenen Mütter sind hier zu nennen. Diese im impliziten Gedächtnis gespeicherten Erinnerungen werden durch eine eigene erwünschte oder vorhandene Schwangerschaft reaktiviert, da die Mutter durch die Identifikation mit ihrem ungeborenen Kind sich oder dieses erneut unbewusst in Gefahr erlebt. Weiter müssen wir uns dessen bewusst sein, dass die neue, entsexualisierte technische Befruchtung dem menschlichen Genprogramm fremd ist und nicht unserem angeborenen Präkonzept von Zeugung durch Sexualität entspricht. Dadurch, dass die Frau nicht auf ihre archaischen weiblichen und mütterlichen Fähigkeiten zurückzugreifen vermag, können zusätzliche psychosomatische Störungen entstehen, die schon allein – trotz aller Technik – in der Lage sind, das Entstehen einer Schwangerschaft zu verhindern. Es gibt nicht wenige Frauen, die diese »Prozeduren« nicht ohne psychologische Hilfe durchstehen. Ohne die schon angesprochene interdisziplinäre Zusammenarbeit bleiben sie mit ihrer großen Not allein. Zu den sozialen Faktoren, die eine geglückte Schwangerschaft beeinträchtigen können, gehören fehlende Sicherheit und Unterstützung seitens des Partners, der Familie, des Umfelds oder das Fehlen der Finanzen, die für den mutigen und hoffnungsfrohen »Nestbau« nötig sind. Hierzu zählen weiterhin: Vernachlässigung, Verwahrlosung, kindlicher Missbrauch, Gewalterlebnisse, abwesende oder bedrohliche Väter, neidische oder entwertende Mütter. In Psychotherapien müssen Frauen in solchen Fällen zunächst lernen, diese Realität zu akzeptieren und sich von dem negativen Mutterbild zu verabschieden, das den Weg zur eigenen Mutterschaft hemmen kann. Wir haben genügend Mutterbedarf auf der realen Ebene. All diese Schicksale können einen Kinderwunsch durch Ängste, Depressionen, Stress sowie verschiedene epigenetische, immunologische oder hormonelle Fehlsteuerungen hintertreiben. Die dadurch entstehenden Stresshormone oder die epigenetische Stummschaltung der für

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eine Schwangerschaft notwendigen aktiven Gene können die Einnistung des Embryos in die Gebärmutterschleimhaut verhindern. Hier sind tief sitzende Zweifel, Ambivalenzen, fehlendes Vertrauen in die eigenen mütterlichen und weiblichen Fähigkeiten und Identifikation mit dem Aggressor häufig anzutreffen. Mein erster Fall, Mara, 33 Jahre alt, ist ein Beispiel für eine unbeachtete schwere soziale Traumatisierung. Sie wurde mir vom Kinderwunschzentrum überwiesen, weil die Reproduktionsmedizin erfolglos geendet und sie krank gemacht habe. Die Patientin, die an einer Zystenbildung der Eierstöcke (PCO-Syndrom/policystisches Ovar) leidet, hatte bis zur Psychotherapie bei mir schon sieben erfolglose technische Befruchtungen hinter sich. Ihre traumatische Biografie gibt Aufschluss über ihre tiefen Ängste, Unsicherheiten und inneren Narben. Ihr Vater entwickelte sich in ihrer Kindheit zum schweren Alkoholiker, der sie und ihre Mutter schlug und herumstieß, die Familie bedrohte und durch seine lauten Wutausbrüche zutiefst verängstigte. In ihrer schlimmsten Erinnerung sieht sie ihren Vater die hochschwangere Mutter mit einem Messer bedrohen. Als Mara vier Jahre alt war, floh ihre Mutter mit ihren drei Töchtern ins Frauenhaus. Ein Jahr lang musste die Familie sich verstecken, weil der Vater gedroht hatte, sich zu rächen und alle vier umzubringen. Trotz polizeilichem Verbot kam er an Maras Schule, wo er seine telefo­ nischen Drohungen wiederholte. Noch als Jugendliche habe sie Angst gehabt, er würde seine Drohung wahr machen. Sie fühlte sich gefährdet, beschämt und ausgeschlossen. Maras schreckliche Erinnerungen an einen Vater, der alle Kinder der Mutter töten möchte, sind bis heute in ihren Phantasien präsent. Ihr Inneres ist voll von Ängsten, Ambivalenz, Frustration und Hass. Ihre schuldbesetzte Kinderfrage lautete: »Warum habe ich das in ihm ausgelöst?« Von damals spannt sich der Bogen direkt zu ihrem unerfüllten Kinderwunsch. Die vielen negativen Versuche haben die Gefühle von damals aufbrechen lassen. Jetzt stellt sie sich die schuldvolle Frage: »Was ist mit mir, dass kein Kind bleiben will, was mache ich falsch?« Von sich selbst enttäuscht sagt sie: »Ich will nicht die Kinderlose sein, die ausgeschlossene, minderwertige und abgewertete Nichtfrau!« Die Reproduktionsversuche beschreibt sie wie ihre kindliche Situation:

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»Man kann nichts machen, nur warten, nichts tun. Immer weiter, noch mal und noch mal, es wird schon! Das nächste Mal muss es ja klappen, es kann ja nicht anders sein. Emotionslos bleiben, ohne Luft zu holen, zurückziehen, keine schönen Dinge mehr, abducken, bis es vorbei ist. Beim letzten Versuch vor Weihnachten hatte ich extrem das Gefühl, das Kind in mir ist tot.« Schon nach wenigen Gesprächen, in denen sie über ihre schlimmen Kindheitserlebnisse mit dem Vater weinen kann, hat sie sich verändert. Sie beschreibt ein neues Körpergefühl, trägt Röcke und Schmuck: »Das Weibliche darf jetzt herauskommen.« Wie ihr Mann feststellt, ist sie fröhlicher und freier geworden. Sogar über eine aufkommende Traurigkeit ist sie dankbar. Sie weiß, sie muss den Weg zurückmachen, um vorwärtszukommen. Sie habe gar nicht nachdenken können, sei im Tunnel und auf die Schuldfrage fixiert gewesen. Der unbedingte, eiserne Wille, schwanger zu werden, habe sie angetrieben und blockiert. Jetzt habe sie die Entschleunigung entdeckt, die ihren Blick und ihren Zustand total verändert habe. Kaum erkenne sie sich wieder, sie sei ein anderer Mensch gewesen und stehe nun kopfschüttelnd daneben. Jetzt brauche sie kein Kind für die anderen, sondern dürfe sich über ihren Kinderwunsch von Herzen freuen. Mara braucht die therapeutische Einladung, in der Therapie sprechen zu dürfen, vorurteilsfrei und mit Verständnis gehört und mit meiner vollen Präsenz aufgefangen zu werden. Sie muss diese erschreckende Gewaltwelt loslassen, um in ihrem Inneren einen Platz für ein Kind zu schaffen, einen Platz, an welchem sie ihre eigenen Fähigkeiten nutzen kann. Ihre Mutter sorgte damals zwar für den Schutz ihrer Kinder, aber nicht für eine psychologische Hilfe. Mara hat selbst die psychosomatische Abwehr ihrer Fortpflanzungsorgane erkannt und gibt folgende Erklärung: »Bloß nicht Frau werden! Weil Mutter von Vater körperlich misshandelt wurde, dachte ich, wenn ich eine erwachsene Frau werde, stehe ich mehr im Fokus der körperlichen Gewalt. Mutter musste stark sein, viel kämpfen und aushalten, um drei Kinder durchzukriegen. Welche Verantwortung, kämpfen, arbeiten, schützen, gar keine schönen Aspekte!« So habe sie in den letzten Jahren auf einen »Überlebensmodus geschaltet«, denn sie sei körperlich und psychisch auf allen Ebenen ausgebrannt. »Ich war wie ein kleiner Roboter, der funktioniert, aber«, fügt sie lächelnd mit Blick auf die

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vielen In-vitro-Fertilisationen (IVF) hinzu, »auch um mich herum gab es kleine Roboter«. Aus den ersten gemeinsamen Ferien mit ihrem Mann einige Monate nach Therapiebeginn kommt sie mit einer spontanen Schwangerschaft zurück. Sie habe auch öfters die CD mit dem Mutter-Embryo-Dialog gehört. In unserem ersten gemeinsamen Gespräch mit ihrem Kind sagt sie: »Ich bin so glücklich, dass du mir/uns das Glück beschert hast, Eltern zu werden! Ich möchte dich gut unterstützen, dir gute Bedingungen schaffen und bin so dankbar. Du bist ein unglaubliches Geschenk, ein Wunder, das ich noch gar nicht in Worte fassen kann. Ich will dir die Wärme geben, damit du weiter wachsen kannst. Lieber Zwerg, ich will dich einfach in unserer Familie willkommen heißen. Du bist jetzt schon geliebt. Wir haben dich beide schon ins Herz geschlossen. Wir wollen die ganze Zeit bei dir sein, dich unterstützen, ermutigen, bis alles seinen Platz gefunden hat. Wir möchten deine Eltern sein. Dein Papa freut sich jetzt schon und kann es gar nicht mehr erwarten, dir jeden Morgen ›Guten Morgen‹ zu sagen. Es ist so gut, näher an dir dran zu sein.« Während der problemlosen Schwangerschaft kommt sie regelmäßig zu mir, und ich bereite sie und ihren Sohn mit der Bindungsanalyse auf die Geburt vor. Bereits in den ersten Wochen nach der Geburt kann sie die Charaktereigenschaften an ihm entdecken, die sie schon pränatal als seine Individualität erkannt und mir mitgeteilt hat. Besonders liebt sie seinen kleinen Dickkopf. Sie fühlt eine unglaublich tiefe Liebe ihrem Sohn gegenüber, die völlig anders ist als zu einem anderen Menschen. Ihre Mutterliebe sei grenzenlos und bedingungslos, und sie könne sich daran erfreuen, dass sie solche empfinden kann. Sie habe eine große Zufriedenheit und das Gefühl, angekommen zu sein: »Dieser kleine Mensch hat meine ganze Welt auf den Kopf gestellt.« In unserer letzten Therapiestunde drei Monate nach der Geburt ihres Sohnes beschreibt sie ihre damalige seelische Verfassung folgendermaßen: Der Kinderwunsch war eine Grenzerfahrung. Sie hat sich viel mehr zugemutet, als sie ertragen hat, und einen Kontrollzwang entwickelt, um ein Ziel zu erreichen, das mit Kontrolle nicht zu erreichen war. In der Kinderwunschspirale, die alles ausgeblendet hat, hat sie nur ein Ziel verfolgt, in dem Glauben, dass dann alles besser wird. Sie hat sich zu sehr von dem Bild der Medizin blenden lassen,

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alles dort wurde beschönigt und positiv bestätigt. Sie hat einfach alles bedingungslos geglaubt, ohne einen objektiven Blick von außen. Nach dem siebten gescheiterten Versuch ging nichts mehr. Sie konnte nicht mehr schlafen, nicht mehr wach sein, fühlte sich körperlich und seelisch kaputt. Alles hat sie vor anderen verheimlicht, das soziale Leben auf ein Minimum begrenzt, sich dann im Kino auf der Toilette heimlich die ständig nötigen Hormone gespritzt, aus Scham, die mühevoll aufgebaute Fassade bröckeln zu lassen. Nach dem Neustart in einer anderen Stadt mit Mann und Karriere wollte sie ein perfektes Bild nach außen geben und die geschlagene Mara, die niemand kannte, in der alten Heimat lassen. Nach der anfänglichen Euphorie ist doch das Alte unter dem Teppich wieder hochgekrochen. Einige Wochen nach der Entbindung hat sie fünf Nächte lang denselben Traum: Sie ist allein zu Hause mit ihrem Sohn. Vor ihrer Tür steht ihr kürzlich verstorbener Vater, hämmert gegen sie und will ihren Sohn sehen. Sie hat es während der ersten Nächte nicht zugelassen. Sie hadert mit sich, ob sie ihm öffnen solle. Im letzten Traum dann öffnet sie die Tür, schaut den Vater an und sagt ihm, er solle gehen, sie werde ihm ihren Sohn nicht zeigen. Danach kommt der Traum nie wieder. Nach anfänglicher Angst habe sie sich ihrer inneren Situation gestellt und endlich mit ihrem Vater abgeschlossen. Sie habe ihren Sohn vor ihrer Vergangenheit und sich selbst vor der bedrohlichen Gewalt schützen wollen, die der Vater immer noch ausstrahlt. Sie spürt eine große Erleichterung. Sie habe die Büchse der Pandora geöffnet, die Sachen verarbeitet. Jetzt ist es nur noch eine leere Kiste mit einem geschlossenen Deckel, auf den sie »Vergangenheit« schreiben kann.

Wenn, wie oben dargestellt, der Mensch eine Psyche-Soma-Einheit dargestellt, unsere westliche Medizin aber die Teilung dieser Bereiche im Gegensatz zu früher und zu anderen Kulturen etabliert hat, ergibt nur ihre mitarbeitende Zusammenführung einen Sinn und die Chance einer umfassenden Salutogenese. Diese Anerkennung der Komplexität des Menschen erfordert von den Behandlern aller Bereiche, ihre Omnipotenzansprüche aufzugeben und Erkenntnisse anderer Fachgebiete von Anfang an miteinzubeziehen und mitzubedenken. Wolfgang H. Hollweg (1995/2009) hebt diese Teilung auf und beschreibt in seinem Buch »Von der Wahrheit, die frei

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macht« die von ihm entworfene Tiefenpsychologische Basistherapie (TBT) als eine »Human-Biologische Ganzheits-Medizin«. Für ihn ist »jedes Erkrankungs- (und Heilungs-)Geschehen […] ein biologisches, psychisches, geistiges und soziales Gesamtgeschehen – ein Prozeß«, weshalb er den statistischen und abstrakten Begriff »Krankheit« möglichst vermeidet. Sein Credo lautet: »Gesundsein, Kranksein, Heilung und Sterben – unser ganzer Lebensprozeß vollzieht sich im Austausch mit anderen Menschen, von der Zeugung an« (Hollweg, 1995/2009, S. 11). Anstatt zum Beispiel bei einer längeren intensiven Wartezeit auf Kinder oder bei einer bzw. mehreren Fehlgeburten ohne weiteres Nachdenken die Reproduktionsmedizin einzuschalten oder sich mit der Feststellung zu begnügen, das sei eben so bei einem gewissen Prozentsatz der Frauen, könnte ein vertiefter Blick auf die jeweilige Patientin gewisse Gefühle, Verwicklungen oder Unstimmigkeiten ahnen lassen und Anlass geben, einen Psychotherapeuten einzubeziehen. Mit dessen Hilfe kann die Möglichkeit eröffnet werden, dem somatischen Geschehen eine biografische oder psychogenetische Klärung hinzuzufügen und damit ein relevantes biografisches Faktum, einen Sinn und eventuell eine Lösung zu finden. Es geht dabei um die Übersetzung des körperlichen Symptoms in den unbewussten Affekt. Dieses Thema wurde im Oktoberheft 2017 des Deutschen Ärzteblatts behandelt. Unter dem Titel »Was im Alltag zu kurz kommt/ Psychosomatik in der Gynäkologie« finden wir folgende Passage: »Routinemäßig sollte eine gezielte Exploration des emotionalen Erlebens der wiederholten Spontanaborte durch die Patientin (speziell bezüglich Vorliegen von Schuldgefühlen) und Abklärung der sozialen Ressourcen (Partnerschaft, Freund und Familie) durchgeführt werden« (David, 2017, S. A1808). Das ist immerhin ein Anfang, wenn auch bei dieser Einschätzung die unbewusste Ebene völlig ausgeklammert bleibt. Mein Fall Manuel beleuchtet nicht die Perspektive der Mutter, wie alle sonstigen Fälle der Kinderwunschbehandlung, sondern als Gegenstück die eines männlichen Erwachsenen, der seine vorgeburtliche Zeit im Bauch einer Mutter verbracht hatte, die aufgrund von vorangegange-

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nen Spontanaborten traumatisiert und angstbesetzt war, aber keine psychologische Beratung erhalten hat. Der bei Therapiebeginn 24 Jahre alte Patient ist ein psychisch sehr kranker junger Mann mit zwei abgebrochenen Studien, der an einer tiefen Depression, Existenzängsten, phobischen und hypochondrischen Zügen, Zwangssymptomen, stän­ digen Suizidideen, Schuldgefühlen, allgemeiner Hoffnungslosigkeit und karger Emotionalität mit autistischen Zügen leidet. Seit vier Jahren ist er bei mir in psychoanalytischer Behandlung, zweimal wöchentlich. Die Schilderung des äußerst intelligenten und sensiblen Patienten über seine pränatale Welt macht deutlich, welchen Einfluss das vorgeburtliche Erleben auf den gesamten Lebenslauf eines Menschen haben kann und wie wichtig eine psychotherapeutische Begleitung von Frauen mit Risikoschwangerschaften und/oder nach mehreren Fehlgeburten ist, wie sie im oben bereits erwähnten Deutschen Ärzteblatt (Davis, 2017) gefordert wurde. Nach jahrelangem, unerklärlichen Leiden schicken seine Eltern Manuel zu mir, weil etliche körperliche Untersuchungen keinen Befund ergeben hatten. Er selbst habe keine Hilfe gesucht, weil er seinen schrecklichen Gefühlszustand als gewohnt, gegeben und berechtigt ansah. Sein schlechtes Befinden begann ab der Pubertät. Bis dahin habe er eine glückliche Kindheit gehabt, er habe gelacht und in den Tag hineingelebt. Denn er sei eigentlich eine fröhliche Person mit gewissem Humor, den ich auch manchmal erleben darf. Bei seinen bemühten und liebevollen Eltern wuchs er sehr behütet auf, wurde pädagogisch viel gefördert und in allen äußeren Schritten begleitet. Langsam über die Jahre hinweg eröffnet sich ihm dann eine grausame, erbarmungslose, mit negativen Gefühlen angefüllte emotionale Welt. Sein ganzes Leben habe er in einem von ihm selbst aufgebauten, abgekapselten »Mikrokosmos« überlebt, zu dem niemand einen Zugang hat. Auffallend von Anfang an ist die Dramatik seiner Worte wie »Ich will mir absichtlich mein Leben zur Hölle machen« oder »Im Geist bin ich wie ein egozentrisches Baby«. Längere Zeit kann ich Manuels verzweifelten Zustand, seinen Schuldwahn und seine eingefrorene Emotionalität nicht zuordnen. Dann erfahre ich, dass er eigentlich das dritte Kind seiner Eltern ist, und zwei ältere Geschwister späte Fehlgeburten waren. Seine Mutter wollte eigentlich vier Kinder haben. Doch auch die dritte Schwanger-

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schaft mit Manuel war gefährdet durch frühe Wehentätigkeit. Er überlebte, weil der Muttermund zugenäht wurde und die Mutter viel liegen musste. Seine Geburt dauerte 36 Stunden, weil es zu einem völligen Wehenstillstand kam. Sie wurde dann mit einem Kaiserschnitt beendet. Ein ganzes Jahr lang sei Manuel ein Schreikind gewesen. Die wiederholte Neigung zu vorzeitiger Wehentätigkeit scheint auch auf eine unbewusste, konfliktbesetzte Weiblichkeit der Mutter hinzuweisen, die schon als Kind bei Kleinigkeiten auffällig gestresst war. Als Jugendliche war sie viel krank, hatte Panikattacken und Essprobleme. Manuel blieb ein Einzelkind, weil die Mutter nach der anstrengenden Schwangerschaft (»Meine Mutter war lange Zeit ans Bett gefesselt«) und dem ersten schwierigen Jahr mit ihm als Schreikind keine Kraft für weitere Kinder gehabt habe. Er habe den Traum seiner Mutter zerstört, noch ehe er in die Welt hineingegangen sei: »Ich habe es nicht verdient, etwas zu erreichen, ich muss Buße tun wegen meiner Brüder und der Mutter.« In seinem inneren Gefängnis habe er gelebt wie ein Mehrfachmörder. Bis jetzt sei er wie ein Kind gewesen, das einen Erwachsenen spiele, als ob seine Existenz davon abhänge, als Entschädigung für die Ungeborenen ein Kind seiner Mutter zu bleiben. Deswegen habe er sich künstlich klein gehalten. Nach der Pubertät auf dem üblichen, aber für ihn nicht gangbaren Weg zum Erwachsenwerden, habe er jahrelang in Gedanken selbst den Tod gesucht und erst später gemerkt, dass er eigentlich Existenzangst hat. Inzwischen in der ersten Berufsausbildung und vertraut mit der psychiatrischen Fachsprache erfindet er das Wort »Ich-Deprivation« und sagt, seine neueste These sei nun endlich »Ich«! Manuel organisierte sich eine geistige und psychische Welt, die von Einsamkeit, Bestrafungsideen, Todesängsten, Freudlosigkeit, Kontaktund Emotionslosigkeit geprägt war. Sein Leben war von Anfang an belastet von unbewussten Schuldgefühlen, noch ehe er eine eigene Ich-Struktur aufgebaut hatte. Seine Schuldgefühle, die sich zu einem Schuldwahn ausgebaut haben, sind das Erbe seiner frühkindlichen Phantasien, er sei verantwortlich für Mutters Leiden und für den Tod seiner zwei Geschwister vor ihm und die weiteren nicht lebenden Kinder nach ihm – Überlebensschuld. Nach vierjähriger analytischer Psychotherapie beschreibt er mir spontan seine vorgeburt­liche Zeit, nachdem wir die schwierigen Bedingungen seiner vorgeburt­lichen Zeit angespro-

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chen haben. Er sagt: »Zu Beginn herrschten Chaos und Unruhe. Ich habe mich gefühlt wie ein altes Segelschiff, eine alte Galeere, ohne Steuermann, Steuer, Anker und Segel, das einfach von den Wellen hin und her gerissen wird. Es herrschten Trostlosigkeit und Angst. Überleben ist das Wichtigste!« Im Mutterleib habe er gelebt wie im Krieg. Die Schwangerschaft war für ihn jedenfalls nicht schön, sondern unheimlich und voller Sorge um jeden Tag und jede Stunde. Sicher habe er schon als Embryo geweint. Als Embryo habe er viele negative Gefühle mitbekommen: Angst, Not und Gefahr. Ständig hätte etwas Schlimmes passieren können. In den ersten neun Monaten im Bauch ohne Kontakt habe er sich »hospitalisiert« gefühlt. Mit dieser Schutzhaltung sei er auch auf die Welt gekommen. Seine kritische Geburt mit dem Kaiserschnitt habe »die vorgeburtliche Welt zu einem katastrophalen Dauerzustand« gemacht. Alle Kontakte draußen waren genauso gefährlich, denn er habe immer den Kaiserschnitt gefürchtet, emotional aber gleichzeitig dafür gesorgt, das Erlebnis immer zu wiederholen. Auf Gesten der Berührung habe er immer ablehnend reagiert. Damals schutzlos den mütterlichen Stresshormonen ausgesetzt, falle er bis heute unheimlich schnell in Stress. In stressigen Zeiten bekommt er Herzrasen, Blutdruckanstieg, Adrenalin, viel Energie, was für ihn sehr schlimm ist, da er seinen Körper darauf trainiert hat, unauffällig, wie gefesselt zu sein. Die »Ketten um die Seele« schützen diese und halten sie klein, um sich zu verstecken und nicht aufzufallen. Je unauffälliger er war, desto sicherer fühlte er sich. Meines Erachtens entstand diese Maxime, die sein Leben beherrschte, in seiner vorgeburtlichen Existenz. Denn wenn er nicht mehr da bzw. nicht auffindbar war, konnte er auch keine Gefahr für seine Mutter und nicht Ziel ihrer Ängste sein. Nach Ende der Analyse will Manuel ein Buch schreiben mit dem Titel: »Das Kind, das ein Autist sein wollte, um das Leben zu vergessen«.

Letztlich sollte bei einer länger dauernden ungewollten Kinderlosigkeit die begleitende Einschaltung eines Analytikers/Psychotherapeuten zur Selbstverständlichkeit werden. Zeigt sich dort in der Anamnese, dass eine psychische Störung vorliegt, die geeignet ist, das Entstehen einer Schwangerschaft zu beeinträchtigen, dann gilt es diese zunächst mit den klassischen Mitteln der Psychotherapie

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bzw. Psychoanalyse zu bearbeiten. Erst danach ist der Weg frei, weitere, das Entstehen einer Schwangerschaft unterstützende Maßnahmen zu ergreifen. So musste eine erhebliche Zahl von Frauen zunächst »Nachhilfeunterricht« bei mir bekommen, um sich dem Kinderkriegen kognitiv und emotional zu stellen. Zu meiner Überraschung begegneten mir etliche Kinderwunschpatientinnen (sie stammten oft aus technischen oder kaufmännischen Berufen), die scheinbar keine Vorstellung von, geschweige denn eine Beziehung zu ihren weiblichen Geschlechtsorganen hatten. Einigen von ihnen wurde erst im Verlauf der Behandlung »klar«, dass sie tatsächlich eine Gebärmutter haben, die ihr Kind aufnehmen, ernähren und wachsen lassen kann. Mit diesem Organ hatten sie bisher nur negative Assoziationen verknüpft wie Menstruation, Blutungen, Ekel, Einschränkungen und den Kampf um Verhütung. Eine Patientin hatte eine so geringe Frustrationstoleranz und so große Ängste um die Integrität und Kontrollierbarkeit ihres Körpers während einer möglichen Schwangerschaft, dass sie bei jeder vermutlichen Einnistung Panikzustände erlebte. Sie fühlte kein Vertrauen mehr in ihren Körper und erlebte sich bei ärztlichen Untersuchungen wie vergewaltigt, weil in dieser Situation »andere Männer und Frauen in mich reingehen!«. Ihre Gebärmutter zeigte sich ihr schwarz, wie mit Teer überzogen. Den »Scheiß-Eileitern« wollte sie »die Gurgel rumdrehen« und »der Gebärmutter einen Tritt geben«. Die Ärzte machten ihr Angst, alles sei »super gefährlich«. Eine andere Frau kam sogar mit dem expliziten Wunsch zu mir, ich solle es schaffen, dass sie ein Kind wolle. Sie könne sich kein Kind vorstellen und habe kein Gefühl für ihre Gebärmutter. Sie wisse nicht einmal, ob sie eine habe.

Kommunikation als Voraussetzung der Fruchtbarkeit Das notwendige Zusammenwirken von Therapeuten verschiedener Fachrichtungen ist indes nicht das einzige Desiderat, wenn Fruchtbarkeit entstehen soll. Immer wenn es um Fruchtbarkeit, den Schnittpunkt von Zeugung, Schwangerschaft und Geburt geht, stoßen wir auf das Zusammenwirken zumindest zweier, häufig mehrerer »Beteiligter«: bei der Zeugung von Vater und Mutter, bei der

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Schwangerschaft von Mutter und Kind, bei der Geburt von Mutter, Kind und allen Geburtshelfern. Es bedarf jeweils der Kommunikation, des Verstehens untereinander. Unsere Umgangssprache hat diesen Gedanken übernommen. Sie spricht von der Geburt als dem Moment des »Auf-die-Welt-Kommens«. Diese Metapher erfasst selbstverständlich nicht die ganze Realität, denn im Mutterleib sind wir schon auf der Welt. Nach unserer umgangssprachlichen Definition sind wir jedoch nur »auf der Welt«, wenn wir sichtbar und hörbar kommunizieren können. Unser Wortschatz setzt damit die Möglichkeit zur Kommunikation, den sozialen Austausch mit einem Anderen, an die erste Stelle, wenn er das Menschsein beschreibt. In einer Titelgeschichte der Zeitschrift »Der Spiegel« heißt es: »Nicht die Geburt ist also die Stunde null im Leben eines Menschen. Wer auf die Welt kommt, trägt schon viele Erlebnisse und Erfahrungen mit sich herum – untrennbar verwoben mit denen der Mutter. […] In manchen Kulturen scheint dieses Wissen tiefer verwurzelt als in der westlichen Welt. In China und Korea etwa gelten Kinder traditionell als ein Jahr alt, wenn sie auf die Welt kommen« (Koch, 2017, S. 109). Anders als die umgangssprachliche Negierung dies nahelegt, wissen wir heute, dass die Kommunikation mit dem intrauterinen Kind vor allem vonseiten der werdenden Eltern von ganz entscheidender Bedeutung für dessen Gedeihen ist. Was liegt also näher, als die erste Zeit des »Auf-der-Welt-Seins« zum liebevollen, einander erkennenden Kontakt durch Kommunikation und der sich daraus entwickelnden Bindung zu nutzen? Die von den ungarischen Analytikern Hidas und Raffai (2010) entwickelte Bindungsanalyse (vorgeburtliche Bindungsförderung), beschrieben in ihrem Buch »Nabelschnur der Seele«, nutzt diese bedeutsame Zeit für die Kommunikation zwischen der Mutter und dem ungeborenen Kind in Anwesenheit eines Psychoanalytikers oder Pränataltherapeuten. Die Bindungsanalyse ist eine Methode zum Ausbau der vorgeburtlichen Bindung. Sie wird ab der 20. Schwangerschaftswoche durchgeführt, wodurch eben eine »Nabelschnur der Seele« entsteht. Die Bindungsförderung dient der Aufarbeitung von psychischen Konflikten seitens der Mutter, die sonst Schwangerschaftskomplikationen wie EPH-Gestose/Präeklampsie, umgangssprachlich als

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Schwangerschaftsvergiftung bekannt, begünstigen. Sie können zu Fehlgeburten oder aber zu schwerwiegenden Verhaltensstörungen des Kindes nach der Geburt führen.   Weitere Studien haben die positiven Effekte der Bindungsanalyse nachgewiesen. So trat bei den 1200 von Raffai durchgeführten Therapien keine postpartale Depression auf, während sonst die Rate bei ca. 10 % liegt (Raffai, 2015, S. 131). Gisela Albrecht (2016) hat bei ihren eigenen 73 abgeschlossenen Bindungsanalysen keine Fehlgeburten erlebt. Es sinken Fehlgeburtsrate, Kaiserschnitt­ entbindungen (weniger als 6 %), Geburtsdauer, Geburtsschmerzen und -ängste, die Babys sind gleich nach der Geburt ruhiger und sozial kompetenter. Derart vorbereitete Frauen stillen zu 90 % ihr Baby und besitzen eine positivere Erziehungseinstellung. Das zeigt die Wirksamkeit dieser Bindungsförderung im pränatalen, perinatalen und postnatalen Raum (Roos, 2017, S. 3 ff.). Eine von Anne Görtz-Schroth (vgl. Schroth, 2015) durchgeführte Auswertung von 102 Evaluationen aus den Jahren 2013 bis 2016 zeigte folgende Verbesserungen: Die Kaiserschnittrate lag bei nur 14,8 %, im Gegensatz zur Bundesebene von 2014, wo sie bei 22 % lag; die Rate der Mütter, die ihre Kinder stillten, bei 90 %. Der Geburtszeitpunkt lag fast immer zwischen der 38. und 41. Schwangerschaftswoche. Von besonderer Bedeutung ist die Quote der peripartalen Depression, der häufigsten vorgeburtlichen Erkrankung. Sie lag bei weniger als 4 % (sonst durchschnittlich bei 19 %). Deren Folgen sind erhöhtes Frühgeburtsrisiko, geringeres Geburtsgewicht, erhöhter fetaler Herzschlag, häufiger motorische Aktivität des Fötus in der Schwangerschaft. Nachgeburtlich zeigen sich vermehrtes Schreien, Gedeihstörungen, verminderte affektive Regulationsfähigkeit, Bindungsstörungen, Schlafstörungen, Stillprobleme. Im weiteren Verlauf finden sich bei betroffenen Kindern verminderte kognitive, emotionale, verbale und soziale Fähigkeiten. Die Gefahr, bis zum 16. Lebensjahr selbst eine affektive Störung zu entwickeln, ist um das Vierfache erhöht. Nichtpharmakologische Behandlung (Psychotherapie/Bindungsanalyse) ist der pharmakologischen Behandlung der peripartalen Depression (PPD) überlegen. Schroth stellt fest: »Mit der Systematik der Methode von Jenö Raffai ist erstmals eine geeignete Erklärung der Krankheitsdynamik der PPD gelun-

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gen, weil die der PPD zugrundeliegenden Konflikte überwiegend dieselben sind« (Schroth, 2015, S. 10 ff.). Auf dem 10. World Congress »Developmental Origins of Health and Disease« in Rotterdam vom 15. bis 18. Oktober 2017 betonte E. A. P. Steegers in seinem Vortrag »Preconceptions and embryonic origins of health« (Vorgefasste Meinungen und embryonale Ursprünge von Gesundheit): »Das erste Schwangerschaftsdrittel ist äußerst wichtig in Hinblick auf die Zellvermehrung, die Differenzierung und die epigenetische Programmierung des embryonalen und plazentaren Gewebes. Diese frühen Schwangerschaftswochen sind beim Menschen höchst verletzbar, und deshalb ist es auch nicht überraschend, dass mehrere Schwangerschaftskomplikationen aus dieser Periode stammen, solche wie kongenitale Missbildungen, niedriges Geburtsgewicht und die Präeklampsie. Obwohl das erste Schwangerschaftsdrittel die vielleicht wichtigste Periode der vorgeburtlichen Entwicklung repräsentiert, hat dieses embryonale Wachstum als Vertreter für die embryonale Gesundheit sowohl in der Forschung wie auch in der klinischen Vorsorge wenig Aufmerksamkeit bekommen« (Übers. U. A.-S.). Van den Bergh (2011) stellt fest: »Wie vorklinische, klinische und epidemiologische Forschung bewiesen haben, können Verletzungen während der sensiblen vorgeburtlichen oder frühen nachgeburtlichen Zeit zu einer veränderten Programmierung der Gewebestrukturen und Funktionen führen, die das Individuum für spätere Verhaltensstörungen, Lernschwierigkeiten, atypische oder verspätete kognitive Entwicklung, kognitive Defizite, Psychopathologie sowie körperliche Krankheiten wie Krebs, kardiologische und neuroendokrine Störungen prädisponieren. […] Das Genom wird jetzt als ein komplexes Regulationssystem angesehen, das aktiv auf innere und äußere Schwankungen antwortet« (S. 19). An anderer Stelle: »Sowohl die pränatale als auch die frühe postnatale Zeit sind Ziele für innovative, präventive und eingreifende Strategien (S. 22).« Der Autorin zufolge sind 22 % der kindlichen Verhaltensstörungen durch pränatale Faktoren wie Angst, Stress und Depressionen bedingt (Van den Bergh, Mulde, Mennes u. Glover, 2005). In der von ihr geforderten Bindungsförderung (2011) sieht sie eine universelle präventive Maßnahme, um Ängste, Stress und Depression der Mütter zu vermindern,

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welche u. a. das Risiko des Kindes, an ADHS zu erkranken, verdoppeln. Es sei besser, diese Entwicklungsstörungen zu verhindern, als zu versuchen sie zu behandeln, wenn sie sich etabliert haben (2005).

Der Mutter-Embryo-Dialog Nach meinen nicht zufriedenstellenden Erfahrungen in der Zusam­ menarbeit mit einem Kinderwunschzentrum, das viele Frauen und Männer wegen der schmerzhaften Fehlschläge ihres Wunsches auf Nachkommenschaft narzisstisch schwer verletzt und ohne psychologische Hilfe wieder allein lässt – mit der zusätzlichen Bürde der vielen gestorbenen und verworfenen Embryonen –, arbeitete ich ein erweitertes psychoanalytisch-körperorientiertes Konzept der Bindungsanalyse aus. Ich setzte den Zeitpunkt meiner Intervention früher an, zunächst auf den Moment nach dem Embryotransfer, schob ihn dann noch weiter nach vorn, und zwar einige Wochen vor der geplanten oder spontan erwünschten Zeugung. Schon lange im Vorfeld einer Schwangerschaft wird das Bild eines Menschen in der geistigen und bildlichen Phantasie seiner Eltern entsprechend ihren Gefühlstraditionen entworfen. Wir wünschen und empfangen den Neuankömmling in Liebe und Hoffnung. Das begehrende Denken an ihn schafft bereits vor seinem Eintreffen Bilder, Einstimmung und Bindung, die unseren Körper wohlwollend öffnen und immunologische oder hormonelle Abwehrreaktionen überflüssig erscheinen lassen. Wir dürfen nicht vergessen: Kommunikation macht glücklich, auch die zum eigenen Kind im Bauch! Der Weg zu dieser Lust und Freude ist oft steinig, aber es lohnt sich, ihn zu gehen! Auf dem Wissen um die Notwendigkeit und die therapeutische Wirkung der Kommunikation mit dem Ungeborenen – ja mit dem Ungezeugten  – baut das Therapieangebot des Mutter-Embryo-­ Dialogs auf. Es handelt sich um eine psychoanalytisch-körperorientierte Behandlungstechnik, durch die der Blick und die Phantasien der Patientinnen auf ihr Körperinneres – speziell ihre Geschlechtsorgane – geleitet wird mit dem Ziel, durch die bewusste Aufmerksamkeitslenkung das Gleichgewicht im Körper und damit die Empfängnisbereitschaft positiv zu beeinflussen. Durch die Metapher des

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Embryokindes als Gast wird dem »Eindringling« eine möglicherweise angstbesetzte Fremdheit oder kaum auszuhaltende Belastung genommen und die Angst vor ihm gemildert nach dem Motto: »Angst essen Seele auf – Angst essen Embryo auf«, was mir einige Patientinnen wörtlich gesagt haben. Unseren Genen zufolge geht Selbsterhaltung immer vor Arterhaltung. Das Hauptanliegen dieser Begleitung von Frauen mit Kinderwunsch liegt auf der Bindung zwischen Mutter und Kind von Anfang an. Ein Paar wird schon eine geistige Beziehung zu einem Kind aufbauen, wenn ihr Kinderwunsch Gestalt annimmt. Ein Baby kann von Anfang an nicht ohne seine Mutter gedacht werden, existiert nicht ohne sie. Die Psychoanalytikerin und Traumatherapeutin Renate Hochauf (2017) sagt in einem Vortrag: »Jeder Embryo ist Bindung. Sie ist ganzheitlich wahrnehmbar von Anfang an. Es gibt keine Nicht-Bindung!« Auch hat der Embryo ab der Zeugung ein implizites Gedächtnis von Körpersensationen, die man in einer Regressionstherapie abrufen kann. Diese neuen Erkenntnisse unterstreichen die Bedeutung der frühen Bindung und das Gebot, eine Schwangerschaft mit Empathie und Kreativität gemeinsam mit dem Kind zu leben. In meiner Sprechstunde ist der Mutter-Embryo-Dialog sehr begehrt. Er verläuft zweistufig: Zunächst geht es um die für Zeugung und Schwangerschaft entscheidenden Organe – Gebärmutter, Eierstöcke und Eileiter, von denen wir uns ein Bild entwerfen und mit denen wir durch konkrete Ansprache und Achtsamkeit als Liebe zur Präsenz in Kontakt treten. Erst im zweiten Schritt rückt das Embryokind, seine gewünschte Zeugung und Einnistung in die Gebärmutter und damit sein Ankommen in der Welt in den Mittelpunkt unserer gemeinsamen Betrachtung. Wir schaffen im mütterlichen Körper einen Phantasieraum, ein gutes Bild vom Lebensraum des künftigen, noch ungezeugten oder eben gezeugten Kindes, in welchem wir es willkommen heißen. Der reale Körperraum der Gebärmutter wird lebendig phantasierend mit allen Bildern angefüllt, die für einen bereichernden Kontakt zwischen Mutter und Kind Freude machen, wie zum Beispiel Kuscheldecken, Bettchen, schützende Kindermädchen, liebevolle Begegnungsszenen. Oft staune ich über die sich erweiternde reichhaltige Bilderwelt in diesem neuen mentalen Raum meiner Patientinnen, der eine aufkeimende Mütterlichkeit verrät.

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Für den Analytiker gilt es besonders im pränatalen Feld, in jedem Moment voll präsent zu sein, um den durch die tiefe resonante Einstimmung mit der Patientin aufgebauten therapeutischen Beziehungsraum aufrechtzuerhalten. »Der Mensch wird am Du zum Ich«, sagt Martin Buber (zit. nach Hollweg, 1995/2009, S. 11). Dieser Resonanzraum bietet die Möglichkeit, eingefrorene traumatische Ereignisse und unerfüllte Beziehungssehnsüchte lebendig und damit Vergangenheit werden zu lassen und nachträglich zu verarbeiten. In meiner Gegenübertragung finde ich die Worte, die die Not dieser Frauen öffnen. So wird das Unbewusste durch die »magische« Verwandlung des Wortes zu imaginativen Bildern, die Assoziationen zu tiefen Gefühlen herstellen. Sigmund Freud hat uns nicht nur auf die Macht der Worte, sondern im Zusammenhang mit seiner Arbeit an der Traumdeutung auch auf das Potenzial von Bildern aufmerksam gemacht: »Das Denken in Bildern ist […] nur ein sehr unvollkommenes Bewußtwerden. Es steht auch irgendwie den unbewußten Vorstellungen näher als das Denken in Worten und ist unzweifelhaft onto- wie phylogenetisch älter als dieses« (1923b, S. 248). Oder: »[…] die Darstellungsmittel des Traumes (sind) hauptsächlich visuelle Bilder, nicht Worte« (1913j, S. 404). Später: »Die dritte Leistung der Traumarbeit ist die psychologisch interessanteste. Sie besteht in der Umsetzung von Gedanken in visuelle Bilder« (1916–17a, S. 178). Und: »Bei der Traumarbeit handelt es sich offenbar darum, die in Worte gefassten latenten Gedanken in sinnliche Bilder, meist visueller Natur, umzusetzen« (S. 183). Die Sinnesbilder und visuellen Szenen hat er als eine Umsetzung von latenten Traumgedanken gesehen (1933a, S. 20). Bilder als Gedanken oder unbewusste Mitteilungen waren für sein Verstehen von großer Bedeutung. Ist das Ausmaß der seelischen Dysfunktionalität der Fortpflanzungsorgane nicht allzu umfangreich, kann bereits der von mir auf einer veröffentlichten CD angeleitete Mutter-Embryo-Dialog im Sinne einer Ermutigung und archaischer weiblich-mütterlicher Kompetenzstärkung eine Hilfe sein, fruchtbar zu werden. Wie hilfreich sie zu sein vermag, wird aus dem Brief einer Kollegin deutlich, der mich vor nicht allzu langer Zeit unerwartet erreichte:

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Liebe Frau Dr. Auhagen-Stephanos, nach ca. sieben Jahren Kinderwunsch (vier Fehlgeburten, Insemina­ tionen, IVF) bin ich auf Ihr Buch »Damit mein Baby bleibt« gestoßen. Zumal ich selbst psychotherapeutisch arbeite, hat mich ihre Körperreise sehr angesprochen. Vor meiner letzten IVF habe ich begonnen, erst täglich mit meinen Organen und dann mit dem Embryo/Baby zu sprechen. Ich habe in dieser Schwangerschaft eine wundervolle Erfahrung von Zuversicht gemacht und darf Ihnen mitteilen, dass ich im Dezember einen gesunden Jungen entbunden habe! Ich möchte Ihnen auf diesem Weg von Herzen danken für Ihre zauberhafte Methode, die mir Kraft, Mut und meinem Sohn das Leben geschenkt hat. Ich bin überzeugt davon, dass die tägliche Meditation dazu wesentlich beigetragen hat, dass mein Mann und ich heute stolze Eltern unseres kleinen P. sind. In großer Dankbarkeit grüßt Sie herzlich Dr. F. mit P.

Das letzte Beispiel aus meiner praktischen Arbeit soll abschließend die Tragweite der unbedachten und ungedachten Folgen illustrieren, wenn wir die Frauen in schwierigen Situationen rund ums Kinderkriegen seelisch alleinlassen, fehlerhaft die Fruchtbarkeit nicht in einem biopsychosozialen Kontext verstehen und entsprechend handeln. Maya, 39 Jahre alt, die sich seit über fünf Jahren ein Kind gewünscht hat, entschloss sich im vergangenen Jahr zu einem Abbruch ihrer ersten Schwangerschaft und musste ihr Kind in der 15. Woche gebären. Grund hierfür war ein nachgewiesener Gendefekt, das äußerst seltene Pallister-Kilian-Syndrom, bei welchem das Kind lebensunfähig oder schwer behindert ist. Im darauffolgenden Jahr wird die Patientin vom Kinderwunschzentrum zu mir geschickt, weil eine weitere Schwangerschaft ausbleibt. Über ihren Anblick und ihr Erscheinungsbild bin ich zutiefst erschrocken. Mir gegenüber sitzt ein zusammengesunkenes Häufchen Elend, das den Kontakt mit mir fast verweigert und nur den Ehemann sprechen lässt. Ihr Auftreten gleicht dem einer enttäuschten, gebrochenen, verwelkten Frau, verknüpft mit einer Form kindlichen Rückzugs. Ihr Mann, der ebenfalls sehr bedrückt wirkt, berichtet, sie lebe seit dem Schwangerschaftsabbruch zurückgezogen, vereinsamt und freudlos. Sie gibt sich die Schuld, ihren Sohn nicht mehr im Bauch

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zu haben, und sei traurig und wütend, wenn sie eine Schwangere sieht. Ich gebe meinem Impuls nach, sie zur Besinnung zu bringen, ermahne sie, sich nicht so völlig gehen zu lassen, und fordere von ihr, dass sie zur nächsten Sitzung allein mit dem Auto zu mir kommt. Sie kommt tatsächlich allein, lächelt mich an und sieht schon viel klarer aus. Sie berichtet mir von der Geburt und schildert mir, wie ihr kleiner, äußerlich unversehrter und unauffälliger Sohn, den sie sich immer gewünscht habe, tot in ihrer Hand liegt. Da seien tiefe Zweifel in ihr hochgekommen, ob die Diagnose stimme und sie nicht ihr gesundes Kind getötet habe. Jetzt erst verstehe ich ihren totalen Zusammenbruch, der sich nicht direkt auf einen Schwangerschaftsabbruch, sondern auf einen tragischen, ungerechtfertigten Tod bezieht, den sie als Mord empfindet. Ich frage sie, ob ich den Obduktionsbefund anfordern solle, der ihr bisher verweigert worden war, was sie sofort heftig bejaht. Kurze Zeit später lese ich, dass zwar durch mehrere Gentests dieses pathologische Syndrom bei dem Kind festgestellt wurde, die dazugehörigen körperlichen Fehlbildungen jedoch nicht vorhanden waren. Genauso wie Maya fühle ich mich beim Lesen total alarmiert. Jetzt verstehe ich, warum man ihr den Befund nicht aushändigen wollte und konnte, ohne auf sie psychologisch richtig einzugehen. Einerseits weiß ich, dass die Entscheidung, die sie getroffen hat, nicht ihre war, sondern die der behandelnden Ärzte, und eine zweifelhafte oder gar zweideutige Aussage von mir wie ein Anschlag auf ihr Leben gewesen wäre. Nach heftigem Kampf mit mir selbst wegen meiner unsicheren medizinischen Kenntnis dieses Defekts und meiner Verantwortung Maya gegenüber, entscheide ich mich nach Abwägung aller Tatsachen dafür, diesen Befund für mich zu behalten, und bestätige ihr in der nächsten Stunde lediglich die gentechnische Diagnose. Vor Erleichterung fällt sie mir fast um den Hals. Wir machen dann noch gemeinsam den Mutter-Embryo-Dialog, bei welchem sie sich von dem Kind verabschieden und der Gebärmutter für das problemlose Tragen danken kann. Gleich im Zyklus nach dieser Mitteilung wird Maya schwanger. Sie blüht auf, und in dieser hübschen, attraktiv gekleideten Frau erkenne ich sie kaum wieder. Doch die schicksalhafte Behinderung des ersten Kindes liegt wie ein dunkler Schatten über ihrer zweiten Schwangerschaft. Fast jede Sitzung klagt sie über Übelkeit und muss beruhigt werden, entweder durch unser Reden oder das gemeinsame Zwiegespräch

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mit dem Kind. Sie nimmt viele Arzttermine, Ultraschalluntersuchungen, Gentests und eine Fruchtwasseruntersuchung auf sich, die ihr von den verschiedenen Ärzten als problemlos angeboten werden. Immer wieder sprechen wir über ihre Ängste im Allgemeinen und besonders bei den Untersuchungen und der Zeit bis zum guten Resultat. Wir denken viel an das Kind, das all diese Ängste und die es möglicherweise schädigenden Untersuchungen wie Fruchtwasserpunktion und viele Ultraschalle, besonders in der sensiblen und gefährdeten Embryonalzeit bis zur 12. Schwangerschaftswoche, zusammen mit ihr aushalten muss. Das unvermeidbare Mitleiden des jetzigen Embryos kann man wohl einen Kollateralschaden nennen! Ich leite Maya dazu an, sich nach jedem Test bei ihrem Kind zu entschuldigen und ihm zu sagen, dass es nicht die Ursache für ihre Sorgen ist. Glücklicherweise wird es ein Mädchen, das somit keinen direkten Vergleich mit dem ersten Kind zulässt. Sie selbst ist zunächst enttäuscht: »Ich wollte meinen Jungen zurückhaben!« Doch mit fortschreitender Schwangerschaft findet sie zur Liebe für ihr gesundes Kind und zu einer sich langsam entwickelnden erwachsenen Mütterlichkeit. Endlich kehrt eine gewisse Ruhe ein. Sie spricht täglich mit ihrer Tochter und hat ihr auf mein Bitten hin versprochen, keine Untersuchungen mehr vorzunehmen. Wir können nun auf einen guten restlichen Verlauf der Schwangerschaft hoffen. Mayas weitere Entwicklung bestätigt, dass der Weg, ihr den zweifelhaften Befund mitzuteilen, eine Katastrophe für sie gewesen wäre und meine eigene Entscheidung ihre einzige Chance war, wieder in ein normales und lebenswertes Dasein zurückzufinden und noch einmal eine Schwangerschaft zu wagen.

Fazit Die inzwischen sehr intensive Forschung über die pränatale Entwicklung zeigt klar, dass der vorgeburtliche Zeitraum – noch existenzieller die Zeit der Zeugung – von eminenter Bedeutung für die spätere Entwicklung des neuen Lebewesens ist. In diesem Zeitraum können durch innovative, präventive und eingreifende Strategien nicht nur die Entstehung und das Gelingen einer Schwangerschaft, sondern auch eine solide körperliche und seelische Gesundheit der nachfolgenden Generation gefördert werden. Diesen Zeitraum sollten Frauenärzte und Psychotherapeuten deshalb gemeinsam nutzen.

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Ute Auhagen-Stephanos

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Eckhard Frick und Yvonne Petersen

Lohnt sich Psychoanalyse kurz vor dem Lebensende? Psychoanalyse im Kontext von Palliative Care

Dieser Beitrag entstand aus dem kollegialen Dialog zwischen einer psychoanalytisch orientierten Internistin und Palliativmedizinerin (Yvonne Petersen: P) und einem Psychiater, Psychoanalytiker und Priester (Eckhard Frick: F). Beide Autoren verbindet eine langjährige bindungstheoretisch fundierte Forschungstätigkeit. Wir wollen die Leserinnen und Leser zunächst an unserem Dialog teilhaben lassen und dann in der Diskussion auf die Fragen zurückkommen: Lohnt sich Psychoanalyse kurz vor dem Lebensende? Was bedeutet »lohnen« im palliativen Kontext?

Vorbemerkungen Viktor von Weizsäcker vergleicht die Lage der Medizin mit einer Drehtür, allerdings nicht als rasch vorübergehender Durchgangsraum vorgestellt, sondern als Gefangenschaft, als Eingesperrtsein: »Diese Lage gleicht der eines Menschen, welcher, in einer Drehtür eingesperrt, im Kreis gehen muß, um dabei abwechselnd den Innenraum des Hauses und die Außenwelt desselben zu Gesicht zu bekommen« (von Weizsäcker, 1944/1987, S. 24). Der Arzt, so von Weizsäcker, »steht in einer Notlage, weil der Kranke sich in solcher befindet. Beide können nicht warten, bis die Wissenschaft schwerwiegende Probleme gelöst hat« (S. 24). Von Weizsäckers Drehtür verbindet Soma und Psyche, Materielles und Spirituelles, Endliches und Unendliches. Eine Synthese von Endlichkeit und Unendlichkeit nennt Søren Kierkegaard den Menschen. Was bleibt? Wo ist die Seele? Wie geht es nun weiter? Wohin öffnet sich die Drehtür?

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Eckhard Frick und Yvonne Petersen

Von der Palliativstation der Barmherzigen Brüder in München gibt es eine Art Nebentür durch die Mauer zum südlichen Schlossrondell hin. Wer durch diese Tür tritt, zu Fuß oder im Rollstuhl geschoben, schaut auf die Fassade des Nymphenburger Schlosses, in die Weite. Ein Patient sprach über diese Tür, um symbolisch über den Übergang des Sterbens zu sprechen, über das »Jenseits«, das er erst möglichst spät betreten wollte, ganz ähnlich wie Christoph Schlingensief (2009): »So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein!« Wenn es in der Palliativmedizin um Leben und Tod geht, dann scheint die Seele wegen des versagenden Leibes sich oft ganz zu verbergen. Aber nicht nur das »Sprechen« des Leibes im Konversionssymptom ist für uns interessant, also nicht nur das Sagen, sondern auch das Ver-Sagen. Psychoanalyse in der palliativen Situation ist in ganz besonderer Weise Begegnung zwischen Therapeut und Patient in der Karussellkabine der Drehtür. Schnell kommt es zur Dissoziation von Leib und Seele, wenn der Patient »nicht mehr ansprechbar« ist und orga­nische Prozesse, Schmerzen, Atemnot und andere physische Leiden sich in den Vordergrund schieben. Es kann Patient und Behandlern schwindlig werden, wenn die »organische Psychose«, das Durchgangs­syndrom, Verwirrtheit, Delir oder Demenz Stoffwechsel und biografisches Material durcheinanderwirbeln.

Dialoge F:  Yvonne, du hast über zwanzig Jahre auf einer Palliativstation als Internistin und später Palliativärztin gearbeitet. Was hat dich veranlasst, dich dort auch psychotherapeutisch zu engagieren? P:  Mir wurde in den ersten Jahren meiner medizinisch-palliativen Tätigkeit klar, dass es zwischen seelischer Konstitution und Symptomen, wie sie sich in der Palliativsituation zeigen, einen Zusammenhang geben muss. Ich begann mit der berufsbegleitenden psychotherapeutischen Ausbildung, um in der Begleitung der Patienten ein geeignetes Werkzeug zur Verfügung zu haben. Die Bindungstheorie von John Bowlby, die ich Ende der 1990er Jahre kennenlernte, schien mir ein geeignetes Modell zu

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sein, den Lebensentwurf der Menschen und die Probleme in der End-of-life-Situation wahr­zunehmen und gegebenenfalls angemessen therapeutisch zu begleiten. Nach meinem aktiven Ausscheiden aus der Stationsarbeit komme ich jetzt zweimal in der Woche auf Station, um mit den Patienten auf Anforderung der Stationsärzte, die eine besondere Belastung beim Patienten wahrnehmen, Gespräche zu führen. Ich werde angekündigt als eine Kollegin, die sowohl medizinische Erfahrung hat, aber auch psychotherapeutische Gespräche führen kann. F:  Das »Setting« ist also jetzt nicht mehr die tägliche Visite und die Einbindung von therapeutischen Gesprächen in dieses Zeitfenster, sondern es hat eher die Form eines Konsiliargespräches zur Unterstützung des Behandlungsteams und der Patienten, eventuell auch als Krisenintervention. P:  Genau. Ich informiere mich bei dem jeweiligen Stationsarzt und studiere die Krankenakte als Vorabinformation.

Setting F:  Wie sieht das Setting aus, innerhalb dessen du psychotherapeutische Gespräche führst? P:  Offen. Die Patienten haben einem Gespräch zugestimmt. Ich orientiere mich an den Bedürfnissen und Wünschen des Patienten. Ich stelle mich als Psychotherapeutin vor und bin offen, wie, in welcher Form und wie lange sie das Gespräch führen wollen. F:  Wie kann ich mir das vorstellen? P:  Ich respektiere den momentanen Zustand des immer schwerkranken Menschen. Meist findet das Gespräch am Bett statt, manchmal wünscht ein noch mobiler Patient aber auch einen geschützten Raum, der dafür zur Verfügung steht. Beim liegenden Patienten nehme ich einen Stuhl und setze mich ans Bett, wobei ich in der Situation bereits auf Gegenübertragungsgefühle achte. Ich versuche zu spüren, wie nahe ich dem Patienten kommen darf. Entsprechend positioniere ich den Stuhl. Dabei achte ich auf Mimik, Gestik, Sprachduktus und Körperhaltung. Ich nehme wahr, ob sich eine Szene konstelliert, in der die Psychodynamik des Patienten zum Ausdruck kommt.

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F:  Das durch Bettlägerigkeit und körperliche Schwäche geprägte Setting ermöglicht sehr charakteristische, individuell gestaltete Szenen … P:  … Ja, unbedingt. Der Patient N. T., 61 Jahre alt, von dem ich wusste, dass er ein weit fortgeschrittenes Blasenkarzinom hatte und nach Aussage des Stationsarztes sehr wenig zugänglich, aber dafür kontrollierend schien, hatte einem Gespräch mit mir zugestimmt. Als ich in das Zimmer komme, liegt er wach im hinten hochgestellten Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Die Hände, die oben aus der Decke sichtbar sind, halten sie fest. Er wirkt im Gesicht sehr schmal. Nach der Begrüßung, bei der ich mich als die angekündigte Psychotherapeutin vorstelle, sagt er lächelnd: »Ach ja, Sie. Ich habe heute schon ein langes Gespräch mit der Ärztin geführt. Man kommt ja hier gar nicht zur Ruhe. Ich muss auf mich und meine Bedürfnisse achten.« Ich nehme die ablehnende Haltung wahr, frage, ob wir das Gespräch verschieben sollten. Er sagt nach einigen Sekunden, nachdem er die Bettdecke zurückwirft, entschuldigend: »Na gut. Ich will ja nicht, dass Sie umsonst gekommen sind. Wir können uns ja kennenlernen.« Er lächelt mich weiterhin an, fixiert mich mit seinen Augen. »Ich möchte aber nicht im Zimmer bleiben, wegen des Bettnachbarn. Haben Sie einen Raum?« Ich biete das Wohnzimmer zum Gespräch an. F:  Was spürst du nach diesem Beginn? P:  Ich bin zunächst etwas verwirrt und fühle mich nicht willkommen, nehme aber gleichzeitig sein »soziales Lächeln« wahr. F:  Dass er dich kennenlernen will, ist doch ein Angebot. Auch das Lächeln ist fast so, als würde er deine Hand festhalten. Das ist sehr ambivalent. Der Gegensatz zwischen dem, was er mit Worten sagt und was sich im szenischen Dialog abspielt. P: Hm. F:  Weißt du, dass du gerade den Kopf schüttelst, während du den letzten Teil der Szene erzählst? P:  Ja, es ist ein Hin und Her. F:  Sehr ambivalent. P:  Genau. Ich spüre die Ambivalenz seiner Wünsche. F:  Inwieweit hilft dir die oft schon zu Beginn konstellierte Szene zu verstehen, worum es geht?

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Szenen P:  Zum Beispiel Frau R. T., 81 Jahre alt: Sie leidet an einem metasta­ sierenden Hauttumor, der bereits in alle Organe gestreut hat. Vom Stationsarzt weiß ich, dass sie die Schwere der Erkrankung verleugnet, obwohl sie wegen einer metastasenbedingten schweren Atemnot nicht mobilisierbar ist. Es scheint eine familiäre Belastung vorzuliegen. Sie hat um ein Gespräch gebeten. Bei meinem Eintreten liegt die Patientin aufrecht zugedeckt im Bett, die Arme mit offenen Händen an der Seite liegend. Sie wendet mir beim Eintreten den Kopf zu. F:  Was schließt du daraus? P:  Die Haltung lässt eine Offenheit vermuten, ich fühle mich willkommen geheißen, fühle mich wohl. F:  Das ist die Szene. Wie eröffnest du ein Gespräch? P:  In diesem Fall begrüßt sie mich mit Namen und eröffnet das Gespräch selbst. Sie sagt: »Es geht mir schon viel besser«, obwohl sie sehr schwach sei und leider nicht aufstehen könne. F:  Wenn ein Analysand zu mir ins Behandlungszimmer kommt, gebe ich ihm die Hand, bevor er sich hinlegt oder hinsetzt. Dieses Ritual wiederholt sich am Ende der Sitzung. Wie ist das bei deinen Patientenkontakten in der Klinik? P:  Auch ich begrüße jeden Patienten mit Handschlag und stelle mich jeweils vor. Dann versuche ich intuitiv – dabei achte ich auf meine Gegenübertragungsgefühle – zu spüren, wie das Gespräch geführt werden soll. Ist der Patient bettlägerig, nehme ich mir einen Stuhl und frage, ob ich mich zu ihm setzen darf. Die Nähe oder Distanz des Stuhles zum Patienten überlasse ich meinem Gefühl. Ist der Patient mobil, lasse ich ihn entscheiden. Meist warte ich dann, bis der Patient das Gespräch eröffnet. Geht es ihm sichtlich nicht gut, dann gebe ich Starthilfe, indem ich ihn z. B. nach seinem Befinden frage. Daraus entwickelt sich dann meist ein Gespräch. F.  Also du sagst: »Guten Tag«, und wartest dann noch einen Moment – ganz analytisch. P:  Ja, ich spüre, wie der Patient mit Pausen umgehen kann. F:  Können wir uns diese Geschichte der oben genannten Patientin näher ansehen?

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P:  Ja. Die Patientin hatte um ein Gespräch gebeten. Sie eröffnet das Gespräch selbst, erzählt, dass sie sich hier zwar wohl fühle, dass sie aber so schwach sei und nicht mehr aufstehen könne. Zu Hause, vor der Einweisung, sei alles besser gewesen. Sie könne plötzlich nicht mehr tun, was sie will. Sie habe sich selbst versorgt. Jetzt könne sie nicht mehr aufstehen. Mir fällt ein »soziales Lächeln« auf, während sie spricht, dabei ist sie mit mir in konstantem Augenkontakt, lässt mich nicht los.

Gegenübertragungsgefühle F:  Du sprichst immer wieder von Gegenübertragungsgefühlen, die bei dir zu bestimmten Reaktionen führen. Was genau meinst du damit? P:  Bevor ich den Begriff »Gegenübertragung« kannte, habe ich gemerkt, dass im Patientenkontakt in mir Gefühle ausgelöst wurden, die mit meinen aktuellen persönlichen Gefühlen nicht vereinbar waren, aber etwas in mir auslösten. Ich habe diese Gefühle unbewusst wahrgenommen und darauf im Kontakt »reagiert«, zunächst handelnd, indem ich den Stuhl bei gefühlt ablehnender Haltung eher ferner, bei gefühlt offener Haltung eher näher an das Bett stellte. Sich bei Patientenkontakten auf einen Stuhl am Bett zu setzen, ist in der Palliativmedizin – im Unterschied zur gängigen Visitenpraxis in vielen Krankenhäusern – durchaus üblich. Im Lauf meiner klinischen Jahre habe ich aber gelernt, nicht nur auf den Inhalt der Gespräche mit dem Patienten zu achten, sondern auch auf die Beziehungs- und Gefühlsdimension (Ermann, 2007), und die physische Nähe zum Patienten auf Inhalt, Beziehung und Emotionalität abzustimmen. Ich habe also gelernt, meine Gegenübertragungsgefühle besser zu verstehen und mich feinfühliger auf die Gefühle des Patienten »einzustellen«. Soweit möglich, überlasse ich es den Patienten, das Gesprächssetting zu wählen. F:  Kannst du das weiter erläutern? P:  Ich bleibe bei dem anfangs beschriebenen Patienten N. T. mit einem fortgeschrittenen Blasenkarzinom. Zunächst spüre ich ja diese große Ambivalenz seiner Wünsche: den Gegensatz zwischen

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seinen Worten und dem szenischen Dialog, also auch zwischen der Inhaltsebene einerseits und der Beziehungs- und Gefühlsebene andererseits; eine eindeutige Ablehnung, aber gleichzeitig auch einen Wunsch zu bleiben. Ich spüre die Ambivalenz, sie verwirrt mich zunächst. Ich erlebe den Patienten manipulativ, da spüre ich Ärger. Ich spüre aber auch seine Unsicherheit und Not, die er über die Ambivalenz zeigt. Also warte ich nach dem kurzen Wortwechsel zunächst ruhig auf seine Entscheidung und lasse ihm die Freiheit, das für ihn Adäquate zu wählen. Bei der Patientin R. B. spüre ich zunächst freundliches Erwarten, fühle mich willkommen. Das motiviert mich, mich nahe zu ihr zu setzen. Im weiteren Verlauf des Gespräches, in dem sie mir mit lächelndem Mund – sozialem Lächeln – über die unqualifizierte Behandlung der bisherigen Kollegen berichtet und dass sie deswegen jetzt nicht mehr aufstehen könne, spüre ich Ärger. Dabei fixiert sie mich konstant mit den Augen, ich spüre Angst. F:  Über »soziales Lächeln« ist in der Affektforschung (Ekman, Davidson u. Friesen, 1990; Krause, 1998) viel gearbeitet worden: Äußerlich ist es am Lächeln mit den Mundwinkeln erkennbar, während das Obergesicht (die »Krähenfüße«) starr bleibt. Soziales Lächeln kann helfen, Schmerzen, Angst, Scham und andere Gefühle zu überblenden. Wenn ich dir zuhöre, spüre ich aber auch, dass die Patienten damit Kontakt suchen, um die Beziehung aufrechtzuerhalten, auf keinen Fall abreißen zu lassen. Die Patienten geben dir auf der bewussten Inhaltsebene eine »Rolle«, z. B. für die Klärung oder Lösung eines Problems, das sie mit dir besprechen wollen. Du bist in deinen therapeutischen Angeboten sehr großzügig und flexibel, was das Setting und auch das Zeitangebot anbelangt. Damit kommst du den Patienten so weit wie möglich entgegen. Lehrreich und noch im Abstand des Erzählens und Zuhörens berührend finde ich nun, welche unbewussten Phantasien die Patienten an dir festmachen, mit welcher Übertragungsbereitschaft sie auf dein Kontaktangebot eingehen.

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Übertragung P:  Vielleicht schildere ich die Fallvignette R. B. einfach weiter: Die Patientin erzählt ihre Krankengeschichte, ich bestätige ihr, dass sie ja viel durchgemacht habe. Ja, meint sie, »die Therapien haben mich sehr erschöpft – mehr durchmachen geht nicht«. Sie berichtet dann aus ihrer Kindheit in Schlesien. Dann stockt sie kurz: »Aber die Flucht.« Sie schweigt. Ich spüre, dass dieser Gedanke sie sehr bewegt, und unterbreche nicht. »Und an der Grenze waren die Russen.« In diesem Moment hört sie auf zu reden, ihr Blick ist ins Leere gerichtet, das Gesicht wie erstarrt. Ich habe im Moment das Gefühl, dass der Kontakt zu ihr unterbrochen ist. Ich warte. Nach einigen Sekunden löst sich die Starre. »Ich war mit meiner Schwester alleine.« Mein »Oh … « nimmt sie auf und sagt: »Ja, schrecklich. Sie haben uns vergewaltigt.« Hier stockt sie und atmet ganz schnell. »Ich habe immer nach dem Kommandeur geschrien, weil ich dachte, er könne uns helfen. Aber meine Schwester hat gesagt, sei still, sonst bringen sie uns um. Ich habe das Gewehr im Rücken gespürt.« Ich beobachte die Atemnot, frage, ob sie mir noch mehr erzählen möchte oder ob es jetzt zu viel für sie sei, und nehme spontan ihre Hand. Sie drückt die Hand, hält sie fest, lächelt. »Nein, ich bin so froh, dass ich es habe aussprechen können. Das tut gut.« Ich halte ihre Hand, die Atmung beruhigt sich allmählich. Wir schweigen. F:  Das Wechseln von der biografischen Inhalts- und Beziehungsebene zum somatischen Ausdruck (hier: Atemnot) kann als Drehen der Drehtür, als Sichtbarwerden des somatischen Aspektes verstanden werden. Psychodynamisch ist es die Resomatisierung (Schur, 1955) eines Gefühls: Angst und Erregung können nicht mehr als etwas Psychisches erlebt und symbolisiert, sondern nur noch als bedrohlicher Körperzustand empfunden werden. Es kommt zu einer Dissoziation (Frick, 2017), die in eurer Beziehung sichtbar wird. Wichtig ist in diesem Gespräch, dass du Sorge für sie trägst – für ihre Atmung, ihren Krankheitszustand – und sie nicht überlastest. In der Bindungstheorie reden wir von Feinfühligkeit als

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Voraussetzung dafür, dass der Andere, sei es ein Säugling oder ein schwerkranker Mensch, sich selbst und die Bezugsperson als geistige Wesen wahrnehmen, »mentalisieren« kann. Hinter dem sozialen Lächeln liegt ein schweres Erleben, das bisher keine Sprache hatte. Was bist du in dieser Situation auf der Übertragungsebene für die Patientin? Sie eröffnet ja ganz schnell eine Beziehungskonstellation, in der sie dir eine Rolle gibt. Ist es die der Schwester? Oder ist es eher etwas Partnerschaftliches? Das Gespräch verändert ja die Ebene – weg von einer Ärztin, die therapeutische Gespräche führt. Es geht dann schnell in die Tiefe, in die Lebensgeschichte. Bist du mit ihr auf der Flucht, als Schwester? P:  Vielleicht. Die ältere Schwester ist ja auch die, die sie schützt: Sie sagt: »Ruf nicht, die bringen dich um!« Als Ältere, Wissende schützt sie die Jüngere. F:  Ja, das würde gut passen. Du bist ja auch die Wissende. Du siehst nach der Atmung, du sorgst dich um sie, du schaust, dass sie durch diese schwierige Situation durchkommt. Du stehst auch zur Verfügung, um ihr schützend, unterstützend und freundlich die Hand zu halten.

Für-Sorge/Caring F:  Ich sehe bei dem Fallbeispiel, dass du innerhalb deiner psychotherapeutischen Rolle auch die ärztlich-sorgende Rolle hast. In diesem Fall bietest du an, das Gespräch zu beenden, als du siehst, dass es der Patientin schlecht geht. P:  Ja, natürlich achte ich bei den Gesprächen mit den schwerstkranken Patienten auf belastende Symptome wie Schmerzen, Atemnot, Übelkeit oder auch die Gefahr einer psychischen Destabilisierung. Ich erinnere mich an eine alte Dame, Frau S. F., mit einem metastasierenden Lungenkarzinom: Sie hatte nach einer sehr offenen, intimen »Lebensbeichte« sehr starke Luftnot – es ging ihr plötzlich schlecht. Bei der Begrüßung hatte sie mir gesagt: »Ich soll mich jetzt öffnen, nicht wahr?« Wir besprechen das Setting, sie wählt den Platz am Bettrand. Sie beginnt das Gespräch und wiederholt nochmals: »Ich soll mich öffnen.« Auf meine Rückfrage,

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wer das denn gesagt habe, geht sie nicht ein, sondern sagt: »Ich habe so eine Lebensangst. Ich möchte in Würde bleiben, nicht auf die Nerven gehen und dann wegbleiben.« Ich frage nach, was sie meine. Sie sagt, sie habe so viel getröstet in ihrem Leben, jetzt könne sie niemanden mehr trösten und niemandem helfen. Auf meine Intervention, ob sie jetzt nicht diejenige sei, die Trost brauche, sieht sie zu Boden. Eine Zeitlang schweigen wir. Ich warte ab, weil ich das Gefühl habe, sie möchte sich öffnen, wie anfangs angeboten. Ich möchte ihr den Zeitpunkt überlassen. Fast sprudelt es aus ihr heraus: »Ich habe immer helfen müssen! Ich musste immer für andere da sein!« Sie habe früh den Haushalt führen und auf die kleineren Geschwister aufpassen müssen. »Zärtlichkeit und Lob hat es nie gegeben.« Alle in der Familie hätten nur gefordert, die Brüder und die Eltern. In der Familie sei alles »verhakt« gewesen. Ich höre schweigend zu, sehe sie an, warte und unterbreche nicht. Nach einem kurzen Schweigen sagt sie: »Ich habe eine unglückliche Ehe geführt. Ich habe ein schlechtes Gewissen deswegen. Ich habe niemals in meinem Leben einen Höhepunkt erlebt. Das habe ich noch niemals jemandem gebeichtet. Ich konnte mit ihm nicht schlafen, ich konnte es mit niemandem.« Auf meine Frage, ob sie Kinder habe, schüttelt sie den Kopf. »Mein Mann und ich wollten keine Kinder. Die Kirche hat mir immer schon Angst gemacht.« Ich spüre eine tiefe Traurigkeit und auch Beschämung, lege spontan meine Hand auf ihren Arm und sage: »Wie traurig.« Ich habe jetzt das Gefühl. dass es ihr nicht gut geht. Sie entwickelt heftige Atemnot, wirkt sehr erregt, ist sehr blass. Ich setze mich spontan zu ihr, biete ihr eine beruhigende Berührungsarbeit/ Atemtherapie an. Ich lege meine Hände auf Herz und Rücken, atme mit ihr so lange, bis ihre Atmung wieder regelmäßig ist. Sie lässt es zu, es geht ihr besser, sie legt sich ins Bett. Ich bleibe noch eine Weile bei ihr am Bett sitzen, halte ihre Hand, warte, bis sie ganz ruhig atmet. F:  Im Unterschied zum klassischen analytischen Setting bietest du ihr eine beruhigende Intervention an, eine Berührung, die aus deiner Sorge und deinem Mitfühlen kommt. Du legst den Arm um die Patientin wie bei einer atemtherapeutischen Intervention.

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 ieses Gespräch ist, meine ich, ein Gespräch von Frau zu Frau. D Dass sie mit ihrem Mann nicht schlafen konnte, erzählt sie dir als Psychotherapeutin wohl anders, als dies im Gespräch mit einem männlichen Begleiter möglich wäre. Sie kann jetzt mit einer Frau über ihr Leben, ihre Lebenstrauer und das »Verhakte« sprechen. Da ist eine Intimität zwischen Frau und Frau. P:  Jetzt, wo du das so beschreibst, kann ich es nachvollziehen. F:  Dass sie das Wort »Trost« ausspricht, ist wichtig. Das bietest du ihr ja auch an. Tröstung und Kirche scheinen irgendwie schwer vereinbar zu sein. Die Patientin kann aber jetzt mit einer Frau über ihr Leben sprechen, über ihre Lebenstrauer und das »Verhakte«, über das, was sich in ihrer Liebe nie erfüllt hat. Auch, dass sie selber so trostbedürftig war, aber doch nur andere getröstet hat. Du bietest ihr ja dann auch Tröstung an. Es ist schwierig, das Individuelle vom Geschlechtstypischen zu unterscheiden, aber in diesem Fall war es sicher hilfreich – das erleben wir ja beide –, dass der Kontakt von Frau zu Frau der Patientin hilft, sich zu öffnen. Die Situation wird auch nicht abgeschlossen mit einem Beruhigungsmittel. Sie wird nicht pathologisiert. Du reagierst sehr »sinnenhaft« darauf, wo es um Erregung, Befriedigung, Nähe und Ruhe geht. Und das ereignet sich in einer therapeutischen Situation. P:  Meinst du, dass meine Intervention der Berührung zu ihrer Beruhigung im Grunde ein für sie »befriedigendes« Erlebnis ist? F:  Auch. Und vor allem: Es darf sein. Es ist etwas Wunderbares, dass sie damit ankommen kann, dass es die Sensibilität deinerseits gibt, wodurch es ihr bestimmt leichter möglich ist, das zu zeigen. Und dazu gehört ja auch, dass sie ausdrücklich sagt »Mit dem konnte ich das nicht erleben«. Du nimmst eher das Bedürftige wahr, nicht ein Defizit, das von Männern gern als »Frigidität« beschrieben wird. Dadurch entsteht eine sehr dichte therapeutische Situation. Es gibt noch einen weiteren Begriff: »Und jetzt soll ich mich öffnen.« Das ist in dieser palliativen Situation in einem hohen Alter erstaunlich – und sehr kostbar, dass es kommen kann. Ja, das ist sehr anrührend.

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»Aussteigen« P:  In meinem üblichen Rhythmus komme ich vier Tage später auf Station und höre vom Stationsarzt, dass sie in der Folgenacht bettflüchtig, sehr unruhig und verwirrt gewesen sei. Sie habe sehr ängstlich gewirkt. Das Behandlungsteam spricht in solchen Fällen davon, dass die Patientin oder der Patient »aussteigt«. Der hinzugezogene Psychiater diagnostiziert eine Psychose und behandelt dementsprechend mit Psychopharmaka. Vom Team erfahre ich: Sie sei jetzt ruhiger. Bei meinem Besuch wirkt sie schläfrig, erkennt mich nicht. Beim nächsten Termin geht es ihr auf Nachfrage im Team besser, sie sei aber sehr labil und vor allem nachts ängstlich. Ich entscheide, derzeit kein Gespräch mehr zu führen. F: Warum? P:  Weil ich das Gefühl habe, in dem Moment, in dem sie mich wiedersieht und unser Gespräch reflektiert, könnte sie erneut psychisch dekompensieren … F:  … und wieder unruhig werden und belastend für das Team? Andererseits könntest du ja auch daran denken, dass du sie so wunderbar beruhigt hast! P:  Könnte ich. Aber das fällt mir im Moment weniger ein als die Verantwortung für ihre seelische Stabilität. F:  Die Verantwortung für ihre seelische Stabilität ist in der Tat sehr wichtig. Wie passt das Aufdecken von Nähe- und Triebwünschen, von psychodynamisch bedeutsamen Konflikten zur Gesamtsituation des Sterbens, des definitiven Abschiednehmens? Wie viel Angst, oder besser: Sorge hast du, an etwas zu rühren, was erneut zu einer Destabilisierung, zum »Aussteigen« führt? Das Team signalisiert auch: »Lieber nicht hineingehen.« Du bist in diesem Sprachspiel eine wichtige Komponente und verstehst das Signal richtig. P:  Für das Team ist solch eine unruhige Nacht und die Angst der Patientin sehr belastend. F:  Um die Situation zu fokussieren: Ich meine, das Leitsymptom und möglicherweise die Ursache für die Psychose ist die Angst. Sie kommt ja über die Erregung und Atemnot wieder: Unruhe, Verwirrung bis hin zur Psychose. Wie behandelt man das? Medi-

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kamentös, beruhigend, leibtherapeutisch …? Du kannst flexibel damit umgehen, denn du kennst diesen Zustand des »Aussteigens« aus deiner langjährigen klinischen Erfahrung. Du hast gelernt, vorsichtig zu sein, ohne ängstlich zu reagieren. P:  Ja, sorgsam, um den Patienten zu schützen. Vielleicht beschreibe ich den weiteren Kontakt zu dieser Patientin: Sie wird stabil nach Hause entlassen, aber kurze Zeit später mit tumorassoziierten Symptomen wieder aufgenommen. Sie wünscht meinen Besuch, möchte dringend etwas mit mir besprechen. Es geht ihr klinisch, gemessen am Aufnahmetag, gut. Sie soll am folgenden Tag auf ihren Wunsch hin wieder entlassen werden. Sie sagt, das Gespräch habe ihr sehr gut getan, sie habe die Episode der »Verwirrung« aber noch als sehr erschreckend im Kopf. Sie sei endlich alles losgeworden, sie fühle sich jetzt viel leichter. Diesmal versuche ich, das Gespräch zu strukturieren und sie auf einen Fokus zu konzentrieren. Wir vereinbaren, dass wir uns diesmal eine begrenzte Zeit nehmen und dieses eine Problem ansehen wollen: Jetzt quäle sie etwas, das sie nicht lösen könne und das ihr Angst mache. Eine Großnichte sei sozial abgerutscht und bedränge sie mit dem dauernden Wunsch nach Unterstützung. Sie sei Alkoholikerin. Sie habe große Angst, sich jetzt mehr um diese Großnichte kümmern zu müssen, obwohl sie diese bereits unterstütze. Das sei nicht »die große Angst«, sondern eine »kleine Angst«. Sie fühle eine Familienverpflichtung, der sie sich nur schwer entziehen könne. In einer hypnotherapeutischen Intervention gelingt es, die »Großnichten-Angst« zu isolieren, sie »hinter ein Gitter« zu sperren. F:  Diese Angst wird in einen Käfig gesperrt. P:  Wir nennen das die »Großnichten-Angst«, denn die »große, frühe Angst« lässt sich nicht einfach wegsperren. Im Moment ist die Patientin damit sehr zufrieden. Sie fühlt sich geschützt und möchte das Bild nutzen. F:  Es ist eine Kasuistik, in der das Spannungsverhältnis von Sich-öffnen-Wollen und Zerbrechlichkeit, Verletzlichkeit deutlich wird: die Patientin möchte dich von sich aus wieder sprechen, trotz der unangenehm erlebten Episode der Psychose. Sie lässt sich

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auch darauf ein, sich von dir führen zu lassen, wagt sogar eine hypnotherapeutische Arbeit mit dir. Viele tilgen ja die Erinnerung an eine Psychose oder den psychotischen Zustand. Es ist auch erstaunlich, dass sie innerlich den Faden hat; ich meine, dass innerhalb des Erzählfadens die »Großnichten-Angst« und die »frühere Angst« für die Psychodynamik der Abwehr eine ganz große Rolle spielen. Mit deiner Intervention stärkst du die Abwehr. Ich würde im Wesentlichen sagen: Es ist eine Verschiebung auf das kleinere Übel. P:  Kannst du das erläutern? F:  Ihr beschäftigt euch nicht mit der progredienten, sicher zum Tode führenden Tumorerkrankung, die man nämlich nicht in einen Käfig sperren kann. In den Käfig kommt die »Großnichten-Angst«. Da kann etwas sehr Großes verkleinert werden, gewissermaßen »pars pro toto«. Einen Teil dieser großen Angst packt sie schnell in den kleinen Käfig. Damit kann sie sich gut beschäftigen und auch »entängstigen«, muss sich nicht mit dem »Großen Berg« beschäftigen. Da hat sie ihre Abwehr, und du gehst mit ihr in die Abwehr. Du bist ja nach der letzten Erfahrung jetzt sehr vorsichtig, weißt, sie geht morgen nach Hause. Also stützen, aber kein großes Fass aufmachen. P:  Ich habe das Gefühl, du fragst dich, ob ich ihr mehr hätte zumuten können? F:  Du hast dich in der Situation des von der Patientin gewünschten Folgegesprächs auf dein Gespür verlassen, um zu ermessen, wie weit du gehen möchtest. Du gehst oft wesentlich weiter als irgendein Kollege, der vielleicht sofort Medikamente einsetzen würde. Du setzt deine atemtherapeutische Kompetenz ein, hast ein breites therapeutisches Spektrum, auf das du zurückgreifen kannst. Trotzdem wird die große Angst, die Tumorangst, nicht thematisiert. P:  Ich denke, das ist eine Frage des richtigen Zeitpunktes. Jetzt kann die Patientin mir nur die »kleine Angst« anbieten, sie schützt sich unbewusst. Wir haben eine Vertrauensbasis geschaffen, sie hat erfahren, dass ich mich um ihre Ängste kümmern kann. F:  Klar. Es steht ja nirgendwo geschrieben, dass man in einer Patientenbegegnung alle Probleme auf einmal lösen muss. Das Auf-

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teilen in kleine Paketchen, auch mit diesen Metaphern – das ist das therapeutisch Machbare und sowohl der Patientin als auch dir selbst Zumutbare.

Angst F:  Lass uns nochmals über das Leitsymptom »Angst« sprechen. Wie geht man mit ihm um im organischen, palliativen, onkologischen Kontext? Organische und psychoreaktive Faktoren überschneiden sich, fließen zusammen, etwa in der Psychose. Die wird ja als »Aussteige-Psychose« geradezu als reaktive Psychose definiert. Es wird dann neuroleptisch und mit beruhigenden Maßnahmen behandelt. In diesem Kontext interessiert mich, ob du deine Intervention mit Sexualität, Erregung und Wiederberuhigung als zu aktiv empfunden hast? P:  Nein, ich denke nicht. Die Patientin hat gewissermaßen darauf zugesteuert; sie wollte es auf jeden Fall »loswerden«. Es war wie ein Dammbruch. Klar, ich hätte das Gespräch stoppen können. Auf der anderen Seite muss ich berücksichtigen, dass hier jemand etwas zum ersten Mal ausspricht, sich erleichtern will. Es kann ja immer sein, dass er oder sie morgen stirbt. In diesem Fall riskiere ich die potenzielle Gefahr einer Destabilisierung. F:  Richtig, eben. Es sind also sozusagen zwei Prinzipien, die miteinander gehen. Das eine hast du als Verantwortung bezeichnet. Das ist resonanzmindernd, also nicht viel Resonanz zulassend. Das andere ist resonanzfördernd. Ist man als Therapeut nur angstgesteuert, dann wird man resonanzvermeidend sein, also sofort abblocken, wenn die Patientin sagt: »Jetzt soll ich mich öffnen, nicht?« Da würde ein ängstlicher Therapeut erwidern: Nein, nein, erstmal habe ich keine Zeit, erst müssen wir einmal andere Probleme besprechen usw. Zwischen diesen beiden Extremen versuchst du zu modulieren. Du ermöglichst Resonanz, aber nicht zu viel. Zulassen von Angst, sie ermöglichen. Angsttoleranz und Tranquilisierung. Die Angst »anzuheizen« wäre leichtsinnig und verantwortungslos. Den Dammbruch zulassen, aber kanalisieren. Das sind die beiden Prinzipien. P:  Das sehe ich als meine therapeutische Aufgabe.

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F:  Aber, wenn du total ängstlich wärest, würdest du sagen: Nein, das macht sie kränker, hören wir auf damit. Ich denke, hilfreich ist nicht blindes Affekt-Aktualisieren, sondern vorsichtige Resonanz-Erhöhung. Ich möchte gern diese beiden Pole deutlich machen im Umgang mit der Angst. P:  Sagst du das spezifisch in Hinblick auf diese Patientin? F:  Das gilt auch für den klinischen Bereich und z. B. auch für die Angstneurose. Da muss der Therapeut mit seiner eigenen Angst umgehen, auch mit der Angst vor der Psychose. Was ich aber hier wichtig finde, ist das Stichwort »Gegenübertragung«. Das meint, sich dieser eigenen Sorge, der eigenen Angst bewusst zu werden. P:  Ja. Ich habe mich nach »Lebensbeichten«, die immer wieder zu psychischer Destabilisierung führen, gefragt, ob es bei Seelsorgern, die eine »Beichte« abnehmen, andere Schutzmechanismen gibt. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Patient nach den Ritualen der Kirchen wie Beichte/Absolution verbunden mit Krankensalbung eine psychotische Entgleisung durchmachen musste. Ich habe keine Zahlen – aber meiner Erfahrung nach schienen die Patienten danach meist »befriedet«, sprich: nachhaltig beruhigt.

Beichtvater-/Beichtmutter-Übertragung F:  Was ist eigentlich die Bedeutung dieses Beichtabschlusses? Wie groß ist der »Beichtanteil« in deinen Begegnungen mit Patienten, und was ist der Unterschied gegenüber der sakramentalen Beichte? Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Sterbende bisweilen dem Beichtvater ein Geheimnis anvertrauen, das er ja nicht kommunizieren darf. Das trägt er dann für sein restliches Leben mit sich, und der Sterbende hat die Absolution: Absolution, Erlösung: Diese Worte erinnern mich an das »unresolved«/dysregulierte Bindungsmuster, an ein Trauma, das unaufgelöst bleibt. Dem kirchlichen Beichtvater gegenüber, aber auch dem Beichtvater/der Beichtmutter in der psychotherapeutischen Übertragung gegenüber kann ausgesprochen werden, was schwer auf der Seele liegt, oder, wie du in Bezug auf deine Patientin sagtest: Die Patientin hat gewissermaßen darauf zugesteuert; sie wollte es auf jeden Fall »loswerden«.

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P:  Ich denke da an einen Patienten, der sich nach einem ausführlichen Gespräch mit mir entschlossen hatte zu beichten. In diesem Fall ging es nicht um die Situation des »Aussteigens«, aber doch um eine Entscheidung, in der der Patient etwas für sich »erlöst« hat. Er sagte: »Alles ist jetzt bereinigt.« Um mir das zu berichten, bat er mich zu einem Gespräch. F:  Wir wissen nicht genau, was sich abgespielt hat, wir wissen nur, dass es stattgefunden hat und dass es etwas mit eurem vorhergegangenen Dialog zu tun hat. Also, psychoanalytisch gesehen, eine Nebenübertragung – von dir weg und zum Beichtvater hin. Und es ist ihm ein Anliegen, diesen Zusammenhang auch zu benennen und es dir zu sagen. Jetzt kann ich mich verabschieden, weil ich jetzt auch gebeichtet habe. P:  Er traut mir nicht zu, dass ich ihn »erlöse« – das traut er jemandem anderen zu, in diesem Fall einer ihm seit Kindheit bekannten Institution. F:  Ja, er teilt dir »Plomben« mit. Plomben und Verbände auf seinen Wunden, ohne die Wunden selbst zu zeigen. P:  Ich denke, um diesen Gedanken verständlicher zu machen, sollte ich vielleicht die Fallvignette erzählen. Er ist ein 65-jähriger Patient mit einem weit fortgeschrittenen Prostatakarzinom. Er wird wegen starker Schmerzen eingewiesen. Da er noch mobil ist, lasse ich ihn wählen, wo er das Gespräch führen will. Er wählt unser Wohnzimmer, setzt sich auf einen bequemen Sessel, ich setze mich gegenüber mit einigem Abstand. Wir schweigen einen Moment, er eröffnet das Gespräch. Er berichtet, er habe andauernd Schmerzen seit einer Verletzung im Analbereich. Damals sei etwas schiefgelaufen. Niemand habe ihn ernst genommen, er habe viele Ärzte konsultiert, niemand habe etwas gefunden. Die Schmerzen hätten angedauert, er habe Jahre später auf eine genaue Untersuchung gedrungen. Da sei das Karzinom gefunden worden. Das sei bei der Diagnose schon sehr groß gewesen. Nach der Bestrahlung seien die Schmerzen immer schlimmer geworden, er habe seinen Beruf nicht mehr ausüben können. Diese Geschichte erzählt er emotionslos mit monotoner Stimme. Mir scheint, dass er diesen Verlauf schon oft berichtet hat.

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I ch höre ihm zu, unterbreche ihn zunächst nicht, versuche aber jetzt, etwas von seiner Vorgeschichte zu erfahren, frage ihn, ob er bis dahin im Urogenitalbereich gesund gewesen sei. Er wirkt überrascht, stockt einen Moment. Er sagt, dass er schon immer Probleme gehabt habe. Seit der Pubertät habe er unklare Durchfälle gehabt. Auf mein »Oh …« sagt er, es habe sich niemand darum gekümmert. Auf mein »Ach …« meint er, sein Vater sei Alkoholiker gewesen, seine Mutter bei der Geburt gestorben. Er sei in eine Pflegefamilie gekommen, er sei so zwischen acht und zehn Jahren gewesen. Er habe mit 16 Jahren begonnen zu trinken, er sei so »reingerutscht«. Das habe ihm geholfen, etwas enthemmter zu werden. Er sei sehr schüchtern gewesen. Auf meine Frage, ob es in der Pflegefamilie auch mal hart zugegangen sei, meint er: »Ja, schon. Wenn es nötig war, hat es mal was gesetzt.« Liebe habe es keine gegeben, nur Schläge. Er sei eher »Quartalssäufer« gewesen, aber nie Alkoholiker. Er sei nach den Besäufnissen immer krank gewesen. Er habe geglaubt, dass es ihm nach dem Tod des Pflegevaters besser gehe, das sei aber nicht der Fall gewesen. Hier bricht seine Stimme, er weint. Während des Gespräches hatte er mich meist angesehen, jetzt aber schaut er weg. Ich fühle seine Beschämung, spüre Mitgefühl. Ich beuge mich zu ihm, streichle seine Hand. Er lässt es zu, drückt sie, lässt dann wieder los. Dann: »Die Großmutter hat mir die Schuld am Tod meiner Mutter gegeben. Während einer Sendung im Fernsehen über ledige Kinder hat sie mir gesagt: ›Du bist schuld am Tod deiner Mutter. Sie ist bei deiner Geburt gestorben. Du bist ein Pflegekind.‹ Das hatte ich bisher nicht gewusst, das hat mich einfach ausgehebelt.« Er fühle sich bis heute schuldig, habe es nicht verwunden. Unvermittelt sagt er: »Ich habe keine Kinder.« Auf meine Nachfrage sagt er, er habe mit Anfang zwanzig eine Hodenentzündung gehabt und sei seither zeugungsunfähig. Ich bin betroffen, sage: »Oh, wie schrecklich.« Er reagiert jetzt ganz sachlich, meint: »Ich habe einen Stiefsohn von meiner Frau, das passt.« Ich beobachte, dass er auf seinem Sessel jetzt unruhig wird, hin und her rutscht. Ich frage ihn nach Schmerzen. »Ja«, sagt er, »ich habe

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jetzt wieder Schmerzen.« Er wirkt ein wenig ärgerlich, möchte das Gespräch beenden. F:  Jetzt wissen wir ja mehr von seiner Geschichte. Wie ich schon oben sagte: Plomben auf seine Wunden. Also: Solch eine Plombe ist die Verletzung im Analbereich. Da ist etwas schiefgegangen. P:  Können wir diesen Gedanken weiterentwickeln? F:  Im Somatischen heißt das, dass diese Analverletzung nicht geheilt werden konnte, sondern dass er viele seiner Probleme auf diese Verletzung projiziert. Es ist ihm bewusst geworden, dass er diese Schwierigkeiten bei der Defäkation, die er schon lange hatte, jetzt auf etwas hinleiten konnte. Die Verletzung war wohl sehr spät eine Möglichkeit, ein Auslöser für ihn, zu sagen: »Da ist etwas schiefgelaufen, da habe ich was.« Da ist etwas, was jetzt plötzlich auch ein Korrelat hat: Analverletzung. Vorher hat ja nie jemand darauf geachtet, er hatte Durchfälle unklarer Ursache. P:  Die Durchfälle sind etwas anderes. Sie sind ja schon seit der Kindheit da. Irgendwie ist der gesamte Urogenitalbereich symptomatisch. F:  Deshalb spreche ich auch von »Plomben«, weil dieser ganze Bereich, der Urogenitalbereich betroffen ist: Es geht um Störungen bei der Blasen- und Darmentleerung, es geht um die Geschlechtsorgane, um Rektum und um Anus: Da ist »Etwas« schiefgelaufen. Und es geht auch um Generativität infolge der Hodenentzündung. P:  Also, der Gedanke, der mir in diesem Zusammenhang kam, war Missbrauch. Ich habe mich spontan entschieden, diesen Gedanken im Erstgespräch nicht zu formulieren. F:  Ja, ich kann das nachempfinden. Bei der »Plombe« Anal­ver­ letzung denke ich auch an eine anale Penetration. P:  Ja, daran dachte ich spontan auch. F:  Und, wenn du auch daran denkst, dann ist das ja im Raum und dann wird halt gesagt: »Es«, »etwas« ist schiefgegangen. Und die Schmerzen können ein Teil dieser Plombe sein. Da ist etwas nicht in Ordnung, da bin ich verletzt. Wir haben wieder, im Sinn von »Total Pain« (Saunders, 1968/2006; Frick u. Anneser, 2017), die Überdeterminierung eines Schmerzsyndroms: Der Schmerz hat mehrere Komponenten, die wir nicht auseinanderreißen dürfen: eine physische, eine psychische, eine soziale und eine spirituelle.

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P:  Der Patient wirkt ja auch ein wenig ärgerlich, als er die Schmerzen signalisiert; er möchte das Gespräch beenden. F:  Die »Plombe« des Schmerzes ist eine Art Platzhalter für etwas Unausgesprochenes, Unverstandenes. War er vielleicht ärgerlich, dass das nicht genug verstanden worden ist oder dass er es nicht ausdrücken konnte? P:  Mag sein. F:  Wir können mutmaßen, dass das mit der Beichte irgendwie aufgelöst worden ist. Beim Erstgespräch wolltest du deinerseits nicht penetrierend wirken, eindringend sein, sondern vorsichtig, abwartend. P:  Ja, wieder aus Sorge vor den Schmerzen. Er selbst ist erstaunlich zielgerichtet. Er holt sich jemanden, mit dem er all dies »erlösen« kann, sich eine allumfassende »Absolution« holen kann. Das kann ich ihm nicht geben, und das weiß er auch. In unserem Gespräch wurde vieles angestoßen, sozusagen wieder ins Bewusstsein gehoben. Und jetzt wünschte er, sich davon zu »lösen« – sich zu »erlösen«. F:  Ja. Er entwickelt einen Aktionismus, der uns nicht richtig nachvollziehbar erscheint. Er leidet und möchte irgendwie eine Lösung oder Absolution. P:  Ist die »Lebensbeichte« so eine Art »Reset« – eine Zurückführung auf den seelisch »reinen« Urzustand, frei von Altlasten? F:  Das Besondere bei so einer Lebensbeichte, so einer Generalbeichte, ist, dass sie im Angesicht des Todes erfolgt. Da geht es nicht mehr darum, wieder neu anzufangen, sondern jetzt beende ich alle Abschnitte meines Lebens, um in das »Neue« besser explorieren zu können. P:  Was immer »Das Neue« sein mag … Der Patient verstirbt kurze Zeit nach unserem letzten Gespräch. Wie das begleitende Pflegeteam sagte, konnte er friedlich gehen. Wer immer zu diesem terminalen »Frieden« ursächlich beigetragen hat, ist ja letztlich unerheblich. Ich denke, dass die »Altlasten« in unserem Gespräch ins Bewusstsein gehoben und in der sakramentalen Beichte »abgegeben« werden konnten. Was zählt, ist, dass der Patient »einen« Frieden gesucht und gefunden hat.

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Diskussion Lohnt sich das psychoanalytische Engagement in der palliativen Situation? Jegliche psychotherapeutische Intervention am Lebensende muss ihr Potenzial an der besonderen Vulnerabilität der sterbenden Person selbst, aber auch der Zugehörigen und des Behandlungsteams messen und bewähren lassen. Dies erfordert regelmäßig Ausnahmen von den Regeln üblichen »Lohnens« im Kontext einer kurativen und auf Wirtschaftlichkeit ausgerichteten Psychotherapie (Berthold, Gramm, Gaspar u. Sibelius, 2017). Dies gilt umso mehr unter den Bedingungen einer psychotherapeutischen Praxis mit Voranmeldung, Terminvereinbarung und längerfristiger Stundenplanung. Insofern Psychotherapie Teil des kassenfinanzierten medizi­ nischen Versorgungssystems ist, teilt sie dessen vorwiegend kurative und störungsspezifische Zielsetzung, kann sich jedoch auch der präventiven und copingorientierten palliativen Therapieziel­ modifikation anpassen. Es bedeutet gleichzeitig eine Infragestellung des psychotherapeutischen Denkens und eine innovative Chance, die Balance zwischen medizinischer Konzeptualisierung der Palliativversorgung einerseits und der Individualität des Sterbens andererseits zu suchen (Maier, 2017, S. 31). Stärker als in anderen psychotherapeutischen ­Begegnungen kommt es in der palliativen Situation auf die Bedeutung von Symbolik und symbolischer Kommunikation an. So kann »nach Hause, heim oder auf eine Reise gehen« wollen auf einer konkreten Ebene heißen: Ich möchte entlassen werden, das Krankenhaus verlassen. Zusätzlich oder stattdessen kann aber mit derartigen Bildern der herannahende Tod umschrieben werden. Hier können Psychotherapeuten von Seelsorgern eine »Grammatik« helfender Berufe erlernen, um die bewusste Kommunikation über Tatsachen und Probleme durch die weitgehend unbewusste Dimension des Geheimnisses zu ergänzen (Weiher, 2012). Weber und Storch (2017) unterscheiden die langsame, sprachlich vermittelte und bewusste Kommunikation mithilfe des Verstandes von der schnellen, mit somatischen Markern arbeitenden Kommunikation des unbewussten Selbst.

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Die psychoanalytische Arbeit am Lebensende, so reflektieren Burkert und Hierdeis (2017), bewege sich »bis fast zum Ende immer gleichzeitig auf zwei Ebenen«, die sie die »Ebene des Lebens« und die »Ebene des Sterbens« nennen (2017, S. 294). Trotz und wegen der unausweichlichen Begrenzungen entstehe dadurch ein neuer Raum der Hoffnung und der Lebendigkeit. Der hier vorgestellte Dialog über die psychoanalytische Präsenz in der palliativen Situation macht deutlich, dass das Hin-undher-Wechseln zwischen der »Ebene des Lebens« und der »Ebene des Sterbens« von Konflikten zwischen den Berufsgruppen, aber auch von Spannungen innerhalb des Rollenverständnisses und der Gegenübertragung des Psychotherapeuten begleitet sein kann. Innerhalb der »Drehtür« tritt der Psychotherapeut als Anwalt des Lebens, der Wandlung, der gesamten Biografie auf, nicht nur der begrenzten »Krankengeschichte«. Wenn die Verschlechterung des somatischen Befundes die »Ebene des Sterbens« in den Vordergrund schiebt, kann es sein, dass der Psychotherapeut »außen vor« bleibt, das Krankenzimmer verlässt oder nicht mehr betritt, weil der Kontaktfaden zum sterbenden Patienten vorübergehend oder endgültig abgerissen ist. Psychosomatische und spirituelle Belastung (»Disstress«) des Sterbenden, die sich als Schmerzen, Atemnot, Angst, »Aussteigen«, Psychose und Dissoziation äußern können, möglicherweise auch im Gegenübertragungs-Schuldgefühl, prägen auch die psychotherapeutische Beziehung. Im Fall der Patientin S. F. kann man fragen, ob das atemthera­ peutische Vorgehen in der Atemnotkrise und das Fokussierende beim Folgegespräch einen »zudeckenden«, vermeidenden Charakter hat oder einen containenden, stützenden, der eine weitere Entwicklung ermöglicht, zumindest nicht ausschließt. Cicely Saunders’ (1968/2006) multimodales (somatisches, psycho­ soziales, spirituelles) Konzept des »Total Pain« ist beispielhaft für jegliche Form von Disstress, nicht im additiven Sinn, der zu einer Aufspaltung zwischen verschiedenen Professionen und Interventionen führt. Zwar gibt es auch in Palliative Care eine hilfreiche Differen­ zierung zwischen den Spezialkompetenzen der Berufsgruppen. Diese ist jedoch nur auf der Basis einer Grundkompetenz sinnvoll, die allen

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Teammitgliedern gemeinsam wird und die als Haltung der Präsenz bezeichnet werden kann. »Endgültig« kann der Abbruch einer psychotherapeutischen Beziehung sein, wenn der Abschied nicht in einer für beide Teile befriedigenden Weise möglich ist. Der Wunsch nach »Endgültigkeit« kommt auch in der Beichtvater-/Beichtmutter-Übertragung zum Ausdruck. Es ist der Wunsch nach Trost dadurch, dass Belastendes ausgesprochen und beim Gegenüber aufgehoben werden kann. Möglicherweise handelt es sich um traumatisches Erleben, das ein Leben lang verplombt war, jedoch nicht »mit ins Grab genommen«, sondern zurückgelassen werden soll. Der Wunsch nach Entbindung von einer schweren Last, nach Absolution, kann in einem religiösen Kontext auf göttliche Vergebung zielen, ausgedrückt durch ein Ritual, z. B. ein Sakrament oder eine Segensgeste. Der Tod bricht nicht nur in das Leben ein, sondern unterbricht auch die Denkgewohnheiten evidenzbasierter, kurativer Medizin und Psychotherapie. Die Sinnkrise, die durch die Todesnähe entstehen kann und die bisherige Sinngebung von Lebensentwürfen und gewohnte Denkprozesse »ad absurdum« führt, ist auch gleichzeitig eine Brücke zu Psychotherapie und Spiritual Care. Kann die sterbende Person überhaupt noch verarbeiten, was sie in der psychotherapeutischen Begegnung erlebt? Geburt und Tod, frühe Entwicklung und Sterbeprozess haben große Ähnlichkeiten (Müller u. Loetz, 2016). Am Anfang und am Ende des Lebens stehen dynamische Prozesse, die sich durch die Polarität zwischen Ruhe, Sicherheit, Geborgenheit einerseits und Gefährdung, Exploration von Neuem, Unsicherheit andererseits auszeichnen. Die Erfahrung zeigt, dass Menschen, die eine psychothera­peu­ tische Begleitung wünschen, in der Dynamik des Sterbeprozesses ihre Konflikte in einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung und mit feinfühliger Unterstützung rascher formulieren und Erkenntnisse schneller verinnerlichen können. Das mag im Einzelfall zu Verunsicherung, Beunruhigung oder sogar psychischer Destabilisierung führen, aber auch zu Beruhigung, Akzeptanz und dem Gefühl, das Leben »abrunden« und den unausweichlichen Sterbeprozess mit der größtmöglichen inneren Befriedung ertragen zu können.

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Wir danken Herrn Priv.-Doz. Dr. Marcus Schlemmer, dem Chefarzt der Klinik für Palliativmedizin am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in München, für seine verständnisvolle Unterstützung.

Literatur Berthold, D., Gramm, J., Gaspar, M., Sibelius, U. (Hrsg.) (2017). Psychotherapeutische Perspektiven am Lebensende. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Burkert, U., Hierdeis, H. (2017). Psychoanalyse. Halt geben und loslassen oder: Sterben als Verdichtung des Unerfüllten. In D. Berthold, J. Gramm, M. Gaspar, U. Sibelius (Hrsg.), Psychotherapeutische Perspektiven am Lebensende (S. 279– 297). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Ekman, P., Davidson, R. J., Friesen, W. V. (1990). The Duchenne smile: emotional expression and brain physiology. Journal of Personality and Social Psychology, 58, 342–353. Ermann, M. (2007). Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Ein Manual auf psychoanalytischer Grundlage (5. Aufl.). Stuttgart u. a.: Kohlhammer. Frick, E. (2017). Dissoziation aus Sicht der anthropologischen Psychiatrie. In A. Eckhardt-Henn (Hrsg.), Dissoziation (S. 45–58). Stuttgart: Schattauer. Frick, E., Anneser, J. (2017). Total Pain. Spiritual Care, 6 (3), 349–350. Krause, R. (1998). Allgemeine psychoanalytische Krankheitslehre. Band 2: Modelle. Stuttgart: Kohlhammer. Maier, B. O. (2017). Zukünftige Herausforderungen der Palliativversorgung. In D. Berthold, J. Gramm, M. Gaspar, U. Sibelius (Hrsg.), Psychotherapeutische Perspektiven am Lebensende (S. 25–32). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Müller, J. J., Loetz, C. (2016). Wiederkehr der Kindheit? Psychoanalytische Überlegungen über das Sterben in der stationären Palliativversorgung. In E. Frick, R. T. Vogel (Hrsg.), Den Abschied vom Leben verstehen. Psychoanalyse und Palliative Care (2. Aufl.; S. 151–167). Stuttgart: Kohlhammer. Saunders, C. (1968/2006). Spiritual pain. In Selected writings 1958–2004 (pp. 217–221). Oxford: Oxford University Press. Schlingensief, C. (2009). So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Schur, M. (1955). Comments on the metapsychology of somatization. Psychoanalytic Study of the Child, 10, 119–164. Weber, J., Storch, M. (2017). Das Zürcher Ressourcen Modell. Gefühlsregulation und die Erzeugung von Sinn durch Motto-Ziele. In D. Berthold, J. Gramm, M. Gaspar, U. Sibelius (Hrsg.), Psychotherapeutische Perspektiven am Lebensende (S. 359–374). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Weiher, E. (2012). Wenn das Geheimnis die Lösung ist. Spiritual Care, 1, 82–83. Weizsäcker, V. von (1944/1987). Die Grundlagen der Medizin. In D. Janz, W. Schindler (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Bd. 7 (S. 7–28). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Ulrich Lamparter

Psychoanalyse und Medizin brauchen Geschichte Das interdisziplinäre Projekt »Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms (1943) und ihre Familien« – Ergebnisse und Konsequenzen für die praktische Medizin im persönlichen Rückblick

Psychosomatische Medizin im Spannungsfeld zwischen Hochleistungsmedizin und Psychoanalyse Wesentliche Teile meines Berufslebens habe ich im Spannungsfeld von Psychoanalyse und Medizin verbracht. Viele Jahre konnte ich als psychoanalytischer Psychosomatiker an der von Adolf-Ernst Meyer (1925–1995) geprägten Psychosomatischen Abteilung des Universitäts­klinikums Hamburg-Eppendorf tätig sein. In der alltäglichen praktischen Tätigkeit galt es vieles zu verbinden, was es grundsätzlich schwer miteinander hat. Schon zu Beginn meiner Tätigkeit Mitte der 1980er Jahre zeigten sich in den verschiedenen Rollen als Arzt, Psychosomatiker und Psychoanalytiker starke Kontraste, die gleichzeitig Defizite deutlich machten: Die »Kommunikationsferne« der Alltagsmedizin in einem universitären Großkrankenhaus und ihre wissenschaftliche Einengung auf »Studien«, »objektive Daten« und »Statistik« standen im offenkundigen Widerspruch zur »Konzentration auf den Einzelfall« in der Psychoanalyse, wie sie am heimatlichen psychoanalytischen Institut in traditioneller und bewährter Weise vermittelt wurde. Dort – nicht zuletzt bei den dort maßgeblichen Persönlichkeiten – fand sich eine offen geäußerte Skepsis gegenüber empirischen Forschungsvorhaben. Lange Zeit musste man den Eindruck gewinnen, dass dergleichen nicht unbedingt erwünscht war und wenn, dass es sich dann um »zweitrangige Aktivitäten« handle. Man sah bei den Analytikern, von Ausnahmen abgesehen, keine Notwendigkeit, die grundlegenden Konzepte der Psychoanalyse empirisch zu beforschen oder Ergebnisse von Grenzdisziplinen als grundlegend für die eigene Profession zur Kenntnis

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zu nehmen. Auch die empirische Psychotherapieforschung schien in dieser »genuin psychoanalytischen Perspektive« nur einem als vordergründig empfundenen Effektivitätsdenken verpflichtet, aber für die »wirkliche Psychoanalyse« nicht wirklich relevant zu sein. Insgesamt entstand der Eindruck einer gewissen »Abgehobenheit«, »Körperarmut« und »Realitätsferne«, verbunden mit einer »Theoriegebundenheit«, die mit einer fast ausschließlichen Fokussierung auf die Prozesse in der analytischen Sitzung und die hochbesetzte kritische Evaluation der »Kandidaten« einherging. Die Fortdauer dieser Phänomene wird heute freilich eher bestritten oder, wenn sie als fortbestehende Tendenz eingeräumt wird, dann von den Akteuren zwar als kritikwürdig und beklagenswert, aber doch als kaum zu ändern bezeichnet. Es gibt sicherlich mittlerweile auch eindrucksvolle Gegenbeispiele, doch die Alltagspraxis in den Instituten scheint sich nach wie vor an der Mahnung Freuds zu orientieren, die Psychoanalyse rein zu halten, wie etwa ein Blick in die Programme der Institute oder der Tagungen der psychoanalytischen Gesellschaften zeigt. Dabei soll nicht bestritten werden, dass die Psychoanalyse fraglos gute Gründe hat, auf ihre Prinzipien zu achten, um die Abstinenz als Grundhaltung nicht zu gefährden und um das Unbewusste wahrnehmen zu können. Sicherlich sind die meisten Akteure guten Willens und die Psychoanalyse liegt ihnen am Herzen. Umso schwieriger ist es klar zu bestimmen, was eigentlich im Wege steht, wenn es darum geht, die Psychoanalyse wissenschaftsfreundlich und zukunftsgerichtet zu entwickeln, ihre soziokulturelle Dimension deutlicher zu betonen oder in einen offenen Wettstreit mit anderen wissenschaftlichen Erklärungsmodellen zu treten. Vielleicht macht es einfach am meisten Freude und verschafft die meiste Befriedigung, mit einem Patienten in der analytischen Stunde zusammen zu sein und im Wechselspiel von freier Assoziation und gleichschwebender Aufmerksamkeit von Stunde zu Stunde zu arbeiten, ohne sich ständig mühsam nach außen gegenüber kritischen Fachkollegen und Konkurrenten vermitteln zu müssen. Ende der 1980er Jahre kam die psychoanalytisch sich begrün­ dende Psychosomatische Medizin immer mehr in ein schwieriges Fahrwasser. Die komplizierten wechselseitigen Einflüsse von lokalen

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Geschehnissen, modischen Strömungen, berufspolitischen und allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen sind auch heute in der Rückschau schwer im Einzelnen zu durchschauen. Doch ihr Resultat war eindeutig: Das psychoanalytische Fundament der psychosomatischen Medizin wurde zunehmend unterspült. Im Ergebnis kam es dazu, dass die Psychoanalyse spätestens seit der Jahrtausendwende nicht mehr die Leit- und Führungsdisziplin in der Psychosomatischen Medizin in Deutschland darstellt. Das drückt sich auch im »Verlust« der entsprechenden Lehrstühle aus. Unter all diesen Entwicklungen mit ihren Lücken und Defiziten war eine gegenseitige latente Vorwurfshaltung erwachsen. Vielleicht schlimmer noch: Die Mediziner an der Universitätsklinik nahmen zwar die in ihren Augen im Einzelfall durchaus beeindruckend, aber insgesamt doch subjektivistisch, klinisch wenig relevant und etwas absonderlich erlebte »Psychosomatik« aus den Augenwinkeln zur Kenntnis, stuften sie aber nicht als Disziplin auf Augenhöhe ein. Fortschrittlichere und offenere Kollegen beklagten die mangelnde Sichtbarkeit der Arbeit und ihre geringe Ausstrahlung in die medizinische Öffentlichkeit und die internationale medizinische Publikationspraxis. Die Psychoanalytiker hielten im örtlichen Institut kluge Seminare mit überzeugenden Falldarstellungen ab. Sie konnten jedoch schon aus Diskretionsgründen das Licht der Öffentlichkeit nicht erreichen und hätten in der akademischen Welt des medizinischen Fachbereichs so und so nicht wirklich als wissenschaftsfähig gegolten. Noch weniger galt dies für den Fachbereich Psychologie, in dem die Psychoanalyse in Hamburg wie an den allermeisten deutschen psychologischen Fakultäten nach wie vor keinerlei Heimstatt hat. So wurde meine praktische psychosomatische Tätigkeit in der Klinik – begonnen noch unter den Zeichen eines »psychosomatischen Aufbruchs« infolge des Sonderforschungsbereichs 115 der Deutschen Forschungsgemeinschaft »Psychosomatische Medizin, klinische Psychologie und Psychotherapie« – immer mehr zu einer Arbeit an Bruchlinien und Widersprüchen des Gesundheitssystems unter den Zwängen der Belohnungspraxis der Medizinischen Fakultät. Diese passte sich vollständig an die naturwissenschaftliche Wissenschaftspraxis an mit Scoring-Punkten, leistungsgesteuerter Mittelvergabe, Ranking nach Publikationen

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in internationalen Zeitschriften etc. unter Vernachlässigung einer Würdigung des Gedachten oder sprachlich Gefassten, der subtilen Erkundung des Einzelfalls, phänomenologischer oder hermeneu­ tischer Zugangsweisen. Immer mehr entwickelten sich die Spannungen zwischen vermehrter Anpassung an die gesundheitsökonomisch vorgegebenen gravierenden Veränderungen in der medizinischen Praxis einerseits und der Bewahrung einer als »psychoanalytisch« wahrgenommenen Identität andererseits. Vielleicht fällt es in einer solchen unsicheren Identitätslage leichter, einen Gegenvorwurf zu erheben, der sich sowohl an die Medizin wie an die Psychoanalyse richtet. Er lautet: Vernachlässigung nicht nur der biografischen, sondern darüber hinaus der zeit­geschichtlichen Perspektive und Verleugnung des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen bis heute!

Über die Ausblendung zeitgeschichtlicher Erfahrung in Medizin und Psychoanalyse Sowohl in der körpermedizinischen Anamnese wie auch in der klassischen psychoanalytischen Eingangsuntersuchung wird von den zeitgeschichtlichen Erfahrungen der Patienten weitgehend abstrahiert, so als ob ihre Lebensgeschichte und ihre psychischen Strukturen nicht umfassend durch die zeitgeschichtlichen Erfahrungen ihrer Generation geprägt worden seien. Auch wenn es sicherlich in den vergangenen zwanzig Jahren in der Psychoanalyse vielfältige erste Ansätze zur Berücksichtigung historischer Erfahrung gibt und besonders in der Analyse des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung auch umfassender gegeben hat und weiter gibt, so spielen doch zumindest nach meiner persönlichen Wahrnehmung zeithistorische Aspekte im klinischen Alltag weiter eine eher geringe Rolle. Diese nach wie vor bestehende »Eskamotierung der äußeren Realität« (Küchenhoff u. Warsitz, 1992) wird nicht nur durch einen Blick auf die üblichen Anamnesebögen in der Klinik belegt, die der Biografie eines Menschen keinen Platz einräumen. Zunehmend standardisiert sollen sie ohnehin das persönliche Gespräch zwischen Arzt und Patient immer mehr ersetzen. Doch auch die Teilnahme an vielen von mir besuchten psychoanalytischen und psycho-

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therapeutischen kasuistischen Seminaren macht eine besondere Lücke deutlich: Nirgendwo ist vom Zweiten Weltkrieg die Rede. Die damit verbundenen spezifischen Erfahrungen werden in der Regel weder im Detail erhoben noch in ihren langfristigen Auswirkungen bedacht. Sie gelten offenbar als vernachlässigbar oder durch »die lange Zeit« überwunden und damit als heute nicht mehr relevant. Die Menschen werden dabei betrachtet, als ob sie »keine Geschichte« hätten. Das ist jedoch vom Ansatz her falsch oder zumindest unvollständig. Jede Lebensgeschichte ist in die allgemeine Geschichte hineingewoben. Historische Ereignisse prägen als Schlüsselerfahrungen für die Wirklichkeitsinterpretation die verschiedenen Generationen und setzen Rahmen und Motive für die Lebenserfahrung und die Schicksalsgestaltung des Einzelnen. Gerade bei großen Verwerfungen, wie sie in Mitteleuropa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stattfanden, lassen sich schon anhand des Geburtsjahres und des Geburtsorts bestimmte kennzeichnende Erfahrungen vermuten. So macht es große Unterschiede, ob jemand im Jahr 1913 oder 1920, 1925, 1933 oder 1946 geboren ist oder ob jemand in Breslau oder in der Oberpfalz seine ersten Erfahrungen mit dem Leben machte. Angesichts einer verbreiteten Abwehr dagegen, diese Unterschiede konkret in klinische Überlegungen aller Art einzubeziehen, besteht die Gefahr, dass mögliche bis heute anhaltende seelische Folgen der damaligen viele Menschen betreffenden Kriegserfahrungen in der Gegenwart nicht mehr als solche erkannt werden. Für die Zivilbevölkerung repräsentieren zweifellos die »Bomben­ nächte« neben Flucht, Vertreibung und dem Verlust von Angehörigen die Kriegserfahrung im Zweiten Weltkrieg. In der üblichen psychoanalytischen Behandlungs- und Ausbildungspraxis spielen diese Erfahrungen eines Patienten, seiner Eltern oder Großeltern kaum eine Rolle. Auch die Nöte der Nachkriegszeit finden kaum Erwähnung. Im Erstinterview wird nach meiner Erfahrung üblicherweise die Frage nach prägenden Lebenserfahrungen der Patienten oder ihrer Eltern im Nationalsozialismus, im Zweiten Weltkrieg oder auf der Flucht aus den Ostgebieten kaum systematisch gestellt. Angesichts dieser allgemeinen Sprachlosigkeit ist es schwierig, das ganz Offensichtliche wahrzunehmen und in die klinischen diagnos­tischen Erwägungen einzubeziehen. Dazu ein eigenes Beispiel: Lange vor unserem

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Forschungsprojekt zu langfristigen Folgen und zur familiären Weitergabe von Kriegserfahrungen im Hamburger Feuersturm (1943) hatte ich für die Lehre an der Universität ein Erstgespräch mit einer langjährig hospitalisierten chronischen Angstpatientin auf Video aufgenommen, welche die Bombenangriffe auf Hamburg im Jahr 1943 im Alter von zwei (!) Jahren im abgebrannten Straßenzug Hohe Luft erlebt hatte. Sie kleidete ihre damalige Angst in die Formulierung: »Ich habe mich vor Angst weggeschrien.« Im Unterschied zu ihrer Schwester war sie in dem Inferno verloren gegangen und allein durch die brennende Straße geirrt. Dieses Angstmuster war in ihr als junge erwachsene Frau erneut hervorgebrochen. Ich erinnere mich noch genau an meine Gegenübertragungsabwehr, dass das doch alles nicht zusammenhängen könne. Wie kommt es zu dieser Ausblendung und Abwehr der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs? Freud schrieb in seiner Arbeit »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« (Freud, 1915b, S. 324 ff.) von der Kruste der Zivilisation, die der Mensch im Krieg abstreife und unter welcher der mordlustige Urmensch wieder zum Vorschein komme. Unter Bezug auf den nämlichen Text könnte man fortfahren, dass nach dem Krieg, wenn sich die zivilisatorische Kruste wieder geschlossen hat, sich niemand bewusst an die Kriegshandlungen und ihre schrecklichen Details erinnern mag: Bei den ehemals davon Betroffenen würde dies zu einem Wiedererleben von Angst und Schrecken führen; bei den »Tätern« wären die Schuldgefühle aufgrund der wieder einsetzenden zivilen Über-Ich-Funktion zu groß – nicht zuletzt angesichts der Lusterfahrung in der destruktiven Entfaltung und Enthemmung. Man mag als Psychoanalytiker bei den Überlebenden des großen Krieges auch einen abgewehrten Überlebenstriumph mit den entsprechenden Schuldgefühlen vermuten. Nach einem Krieg, in dem auch Täter zu Opfern werden konnten und sich die überlieferten Werte auflösten, traten an die Stelle der Erinnerung der Blick nach vorne sowie die Verdrängung und die Beseitigung der Spuren. In einer eher manischen Abwehrposition wich man dem Schmerz und der Verzweiflung aus. Im Hintergrund lauerte weiter die Angst, die Geschichte könnte sich wiederholen, die ehemaligen Feinde könnten darauf drängen, alte Rechnungen zu begleichen und im Inneren gegen diejenigen vorgehen, die den Krieg angezettelt und betrieben

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hatten. Doch manche Spuren zeigen sich: Die Abwehr der Geschichte führt zu stän­diger Aufgeregtheit bei fast allem, was geschieht, wie in der deutschen Politik und ihrer medialen Inszenierung unschwer zu beobachten ist, und vor allem zu einer diffusen projektiven Abwehr gegen alles »Gefährliche« in der Bevölkerung. Da nicht verhindert werden kann, dass herauskommt, was geschehen ist, scheint es das zentrale Ziel der gegenwärtigen kollektiven Verdrängung zu sein, die fortdauernde Relevanz des Zweiten Weltkriegs und der damit verbundenen Untaten zu leugnen und zum Beispiel neue Sprachformen (»Deutschland muss wieder Verantwortung übernehmen«) zu ersinnen, welche die militärische Machtentfaltung und staatliche Vernichtungsbereitschaft neu legitimieren. Eine solche Einstellung lässt eine konsequente und aus der Erfahrung der persönlichen Geschichte der Menschen her sich begründende Orientierung an der Erhaltung des Friedens als oberstem Ziel absurd und weltfremd erscheinen. Die »allmähliche Verdämmerung« der histo­ rischen Erfahrung des schlimmsten Kriegs, den die Welt je erlebt hat, bereitet den Boden, sich erneut auf die Waffen zu besinnen und sich von ihnen etwas zu erhoffen.

Das Projekt »Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms (1943) und ihre Familien«: Anliegen, Vorgeschichte und Perspektiven Das »Hamburger-Feuersturm-Projekt«, auf dessen Erfahrungen ich mich im Folgenden beziehe, hat eine längere »innere Vorgeschichte«. Sie soll kurz gestreift werden, weil daran deutlich wird, welche Wege zu gehen und welche Hemmnisse zu überwinden sind und welche Gelegenheiten sich bieten müssen, bis klinische Beobachtungen eine nachhaltig wirksame innere Frage hervorrufen und sich diese in ein wissenschaftliches Forschungsprojekt umsetzt. Schon im Erstinterviewpraktikum meiner eigenen psychoanalytischen Ausbildung am Michael-Balint-Institut in Hamburg vor weit über dreißig Jahren erzählte mir eine schwer migränekranke Patientin von der Flucht aus dem zerstörten Hamburg an der Hand der Mutter. Gibt es ein Grauen, das so schlimm ist, dass es zwangsläufig lebenslange pathologische psychische Folgen hervorbringt? Solche Fragen

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begannen mich zu bewegen und ließen mich nicht los. Wird nicht zu schnell eine Schicht übersprungen und die an der Oberfläche liegende »Wahrheit« übersehen, wenn wir uns etwa in einem psychoanalytischen Seminar diagnostisch sofort auf die »frühe Mutter« beziehen? Gehört zum frühen Interaktionsschicksal nicht auch die zeitgeschichtlich geprägte Erfahrung der Eltern? Gehen die traumatischen Erfahrungen und prägenden Auswirkungen dieser Zeit auf den »normalen« Durchschnittsbürger in der scheinbaren Normalität des kollektiven Schicksals unter (Haag u. Lamparter, 1994)? In unserer »Friedensgruppe« am Michael-Balint-Institut, zur Zeit der Friedensbewegungen und Nachrüstungsdebatte, begannen wir uns mit der Frage zu beschäftigen, wie Kriege entstehen. Unsere Diskussionen ermutigten mich, mich wissenschaftlich mit den Kriegserfahrungen im Zweiten Weltkrieg von Patienten mit koronarer Herzkrankheit zu beschäftigen (Lamparter, 1994). Meine Aufgabe in einem internationalen Projekt zur Erforschung von psychischen Komplikationen nach den damals durchgeführten Bypass-Operationen am offenen Herzen (Dahme et al., 1993) war es gewesen, am Tag vor der Operation bei den meist männlichen Patienten (Angehörigen der Generationen der »Wehrmachtssoldaten«) einen standardisierten psychopathologischen Befund zu erheben. Damals waren Bypass-Operationen noch mit dem Risiko verbunden, sie nicht zu überleben. Unter dem Eindruck dieser Gefahr kamen die Patienten unter hohem emotionalen Druck auf ihre Kriegserfahrungen und vergleichbare Erlebnisse zu sprechen, in denen sie mit knapper Not überlebt hatten. Dies war offenkundig der interpretative Rahmen, mit dem sie ihre Situation verstanden und erlebten, aber es entstand auch der Eindruck, dass hier etwas »aufgebrochen« war. Es handelte sich nicht etwa um eine allgemeine Angstdynamik vor Operationen oder um eine geschichtslose depressive Verzweiflung angesichts einer lebensbedrohlichen Körpererkrankung oder nur um eine allgemeine »Stressreaktion«. In einer kleinen Forschungsgruppe haben wir die Kriegserlebnisse der Patienten nach der Operation systematisch erhoben (Greb, Pilz u. Lamparter, 2003), doch führte dies nicht zu einem umfassenderen Projekt. Erst als sich im Zuge der sich selbst als solche entdeckenden »Kriegskindgeneration« unter der Initiative des

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Psychoanalytikers Hartmut Radebold und des Historikers Jürgen Reulecke die Forschungsgruppe »w2k« gründete (Radebold, Heuft u. Fooken, 2006), war Zeit und Gelegenheit, die alten Fragen wieder aufzunehmen und das Projekt zu initiieren. Der »Hamburger Feuersturm« schien sich in besonderer Weise als Fallbeispiel für eine wissenschaftliche Untersuchung zu den langfristigen Folgen des Zweiten Weltkriegs zu eignen. So gründete sich eine inter­disziplinäre Forschungsgruppe von Psychoanalytikern, Psychotherapeuten, klinischen Psychologen und Historikern, um die Frage zu verfolgen, wie die Überlebenden der schweren Luftangriffe auf Hamburg Ende Juli 1943 langfristig mit ihren Erfahrungen umgegangen sind und ob ihre seelischen Traumata heute noch nachweisbar sind. Doch sollte auch der Blick auf die folgenden Generationen gerichtet werden: Wie wurden die Erfahrungen an die eigenen Kinder weitergegeben? Kommt es hier zu Phänomenen, die der transgenerationalen Traumaübermittlung ähnlich sind, wie sie für die zweite Generation der Holocaustüberlebenden beschrieben wurde? Das Projekt wurde im Jahr 2012 offiziell abgeschlossen. Ein zum 70. Jahrestag der Angriffe erschienenes Buch schildert die interdisziplinären Erfahrungen und stellt die Ergebnisse des Projekts zusammen (Lamparter, Wiegand-Grefe u. Wierling, 2013). Doch noch immer ist die Auswertung des Materials nicht beendet, und offenen Fragen nach der Traumatisierung und der transgenerationalen Weitergabe wird weiter nachgegangen. In diesem Beitrag möchte ich ein kurzes Zwischenresümee ziehen und der Frage nach dem Nutzen des Projekts, seinen Ergebnissen und den damit verbundenen Erfahrungen für die praktische Medizin (Körpermedizin wie Seelenmedizin) nachgehen. Was war der »Hamburger Feuersturm«? Der Luftkrieg gegen die Städte, beginnend mit den Angriffen der deutschen Legion Condor gegen Guernica im Spanischen Bürgerkrieg, gehört zu den Erfindungen des 20.  Jahrhunderts. Für die damals lebenden Menschen waren systematische Bombardements aus der Luft etwas vollkommen Neues. Dass eine ganze Großstadt dem Erdboden gleich gemacht werden kann, wie es dann am Ende des Zweiten Weltkriegs in Hiroshima und Nagasaki geschah, war am

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Anfang des Zeiten Weltkriegs für die meisten Menschen noch kaum vorstellbar. Der Hamburger Feuersturm von 1943 markiert in dieser Entwicklung eine besondere Stufe. Wie es durch die genau geplante Systematik der Bombardierung angestrebt war, gelang es in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli in den südöstlichen Stadtteilen Hamburgs, vor allem den dicht besiedelten Arbeitervierteln Hamm, Hammerbrook, Rothenburgsort, Horn und Barmbek-Süd, einen sogenannten Feuersturm zu entfesseln, ein häuserübergreifendes Flammenmeer, mit unvorstellbarer Hitze, in dem alles schmolz und die Menschen verschmorten, mit gewaltigen Winden und einem allgemeinen zur Erstickung führenden Luftmangel. Unzählige erstickten in den Kellern oder wurden verschüttet. Insgesamt geht man von 37.000 Toten aus (Overy, 2014). Die überlebenden »Ausgebombten« wurden ins ganze damalige Reichsgebiet verbracht, besonders nach Osten und nach Süden. Die Kinder wurden häufig von den Familien getrennt und kamen in die Kinderlandverschickung, wo sie zwar äußerlich zunächst in Sicherheit waren, sich aber niemand um ihre seelische Verfassung kümmerte. Gedenken und Traditionsbildung, kulturelles Gedächtnis Bei der Erinnerung an die eigene Lebensgeschichte handelt es sich um einen ständig aktiven Prozess. Hier spielen die ehemaligen Orte des Geschehens eine Rolle, die assoziative Brücken zu den Gedächtnisinhalten darstellen. Die gewaltigen Zerstörungen sind bis heute in ihren irritierenden städtebaulichen Spuren wahrnehmbar: Überbaute Bombenlücken, die »Bausünden« der 1950er Jahre, all die schnell hochgezogenen Wohnungen, welche die damals große Wohnungsnot lindern sollten, all das ist unbewusst auch als politische Bezugserfahrung im »soziokulturellen Gedächtnis« der Stadt und vieler ihrer Bewohner repräsentiert. Über diese spezifische Lokalisierung sind, so lehren uns die Historiker, die kategorialen Rahmungen der Gedächtnisbildung durch kollektive Erinnerungen und Sprachregelungen vorgegeben. Was und wie, so die These der Historiker weiter, im tradierten Gedächtnis der Stadt immer wieder neu erinnert und in der Erinnerung gestaltet wird, wird dabei nicht zuletzt durch die politischen und soziokulturellen Erfordernisse der Gegenwart bestimmt.

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Schon vor Beginn unseres eigentlichen Projekts hatte sein historischer Bearbeiter Malte Thießen die lokale Erinnerungskultur des Feuersturms in Hamburg erforscht (Thießen, 2007). Er lehnt die These ab, dass die Erfahrungen im Bombenkrieg lange Zeit ein Tabu gewesen seien, und benennt viele Ereignisse und Bezugspunkte in den Formeln des öffentlichen Gedenkens. Die Grundfigur einer heimtückischen Terrorangriffen ausgesetzten Stadt, die diese Bewährungsprobe durch Pflichterfüllung und Kameradschaft bestanden hat, wurde bereits wenige Monate nach den Angriffen von Gauleiter Karl Kaufmann ausgegeben. Später kam der »zähe Überlebenswille« Hamburgs dazu. Anderes wurde freilich nicht tradiert und verschwiegen oder unterbelichtet, vor allem die Folgen im Sinne anhaltender psychischer Schädigungen bei den Überlebenden oder schwerer innerseelischer Verwerfungen, nicht zuletzt bei den aus dem KZ Neuengamme herbeigeholten Aufräumtrupps. Bis heute wird im öffentlichen Gedenken kaum erwähnt, dass im Jahr 1936 40.000 Hamburger dem Führer in der später vom Feuersturm vernichteten Hanseatenhalle in einem massenhysterischen Ausnahmezustand zugejubelt hatten. Später fungierte der Feuersturm als anhaltende Mahnung, die bitteren Erfahrungen nicht zu vergessen und für die Gegenwart zu bedenken, ob angesichts der Kriege in Korea und Vietnam oder des atomaren Wettrüstens. Ebenso erhalten jedoch blieb die Grundfigur: Wir haben uns nicht unterkriegen lassen. Umstritten blieb immer die moralische Rechtfertigung des Angriffs: War er notwendiges Mittel oder hat – wie dies der Hamburger Bürgermeister von Dohnanyi formulierte – der von Deutschland inszenierte Zweite Weltkrieg auch unseren späteren Befreiern menschenverachtende Züge gegeben? Diese Frage ist für von Dohnanyi zum Zeitpunkt der Rede zum 40. Jahrestag des Feuersturms im Jahr 1983 allerdings weniger ein Vorwurf an die ehemaligen Kriegsgegner, sondern vor allem eine Warnung vor einem »atomaren Holocaust«. Zum 50. Jahrestag stellt Bürgermeister Voscherau die Befreiung von der nationalsozialistischen Gewalt in den Vordergrund. Der Feuersturm wird nun als Mahnung zur Entwicklung einer offenen und fremdenfreundlichen Gesellschaft gedeutet. Doch nicht nur im »offiziellen Gedenken« finden sich im Laufe der Zeit Wandlungen in der Erinnerung und der retrospektiven

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Interpretation. In einer ganz anderen Schicht hat die soziokulturelle Tradierung des »Hamburger Feuersturms« eine gleichsam mythologische Ebene, auf der untergründig Sachverhalte umgemünzt oder als Geschichten interpretativ moduliert werden: Auch sie können die persönliche Erfahrungsverarbeitung der Betroffenen »grundieren« und bestimmte Verarbeitungsmuster vorgeben. Auch solche Vorgänge wecken das Interesse des Psychoanalytikers. So wird in Hamburg gesagt, die Angriffe hätten vor allem den Arbeiterwohnungen gegolten, weil die Engländer die schönen Gebiete geschont hätten, weil sie nach dem Krieg dort selbst wohnen wollten oder Verwandte hatten, was nachweislich nicht stimmt, denn es war die Zerstörung der ganzen Stadt beabsichtigt; es wird weiter gesagt, es sei besonders gefährlich gewesen, weil die wilden Tiere aus dem Zirkus Hagenbeck entlaufen seien, oder dass die Kastanien und der Flieder im September wieder zu blühen begonnen hätten, als Beweis, dass diese Stadt nicht sterben konnte, wie bereits ein früher Bericht der Augenzeugin Gretl Büttner (Hage, 2003) formuliert. Allgemein gilt in Hamburg der Satz von der Stadt, die sterben sollte, aber (trotz allem) leben wollte. Das wichtigste Buch zum Hamburger Feuersturm ist neben der literarischen Beschreibung von Hans Erich Nossack (1948) das Buch des Feuerwehrmannes Hans Brunswig (1978). Die erfolgreiche Bewältigung der Katastrophe ist in Hamburg das entscheidende kollektive Motiv, anders etwa als in Dresden, wo im kollektiven Verarbeitungsschicksal der Terrorcharakter und die Sinnlosigkeit der Angriffe betont werden (von Plato, 2013). Hier treffen sich offizielles Gedenken und untergründig-mythologische Überlieferung.

Fragestellungen, Methoden, Ergebnisse Konstitution der Forschungsgruppe Unsere interdisziplinäre Forschungsgruppe aus Psychoanalytikern, Psychotherapeuten und Historikern1 fand sich im Jahr 2004 zusam­ 1 Das Projekt wurde durch die Gerda-Henkel-Stiftung Düsseldorf, die Köhler-­ Stiftung Essen und die Werner-Otto-Stiftung Hamburg großzügig gefördert. Es erhielt weitere Unterstützung aus dem Forschungsfonds der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) und der Hamburger Stif-

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men. Erstaunlicherweise kam es sofort zu einer Verständigung zwischen den Disziplinen. Gemeinsam fanden wir die uns gegenwärtig inflationär erscheinende Verwendung des Traumatisierungsbegriffs, die dem wirklichen Trauma die Spezifität nimmt, problematisch, und entwickelten Neugier und Freude auf die Erprobung einer interdisziplinären Zusammenarbeit. Das Thema »Transgenerationalität« schien uns zu eng gezogen; wir bevorzugten einen weiteren und weniger vorbelasteten Begriff und sprachen von »familiärer Weitergabe«. Multiperspektivität und das eventuelle Aufbrechen zunftspezifischer Einengungen waren uns ebenfalls wichtig. Unsere Aussagen sollten möglichst durch empirische Methoden abgestützt, kontrolliert und überprüfbar sein, aber wir erhofften uns ebenso einen großen Gewinn durch die Analyse von Einzelfällen gerade im interdisziplinären Gespräch. Dies führte zu einem multidisziplinären Ansatz, der qualitative und quantitative Forschungsstrategien verbinden sollte. Fragestellungen und Perspektiven Ein wesentliches Problem stellt in vergleichbaren Untersuchungen die Reduktion der zu erwartenden Komplexität des Materials dar. Jedes individuelle Schicksal, jede Fallgeschichte steht für sich, und es ist sehr schwierig von Einzelfällen ausgehend allgemeinere Aussagen zu gewinnen. An diesem Problem sind schon viele Untersuchungen gescheitert oder gar nicht erst begonnen worden. In diesem Zusammenhang wird der Typbegriff interessant. Es handelt sich – wie Frommer formuliert – um ein »gedankliches Instrument ersten Ranges«, das erlaubt, Komplexität wirksam zu reduzieren, und sich als Grundfigur für eine vergleichende qualitative Diagnostik anbietet tung für Wissenschaft und Kultur. Der Forschungsgruppe »Zeitzeugen des Hamburger Feuersturms und ihre Familien« gehörten an: PD Dr. Ulrich Lamparter, Dr. Christa Holstein, Institut und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf; Prof. Dr. Silke Wiegand-Grefe, PD Dr. Birgit Möller, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf; Prof. Dr. Dorothee Wierling; Dr. Linde Apel; Jun.-Prof. Malte Thießen, Forschungsstelle für Zeitgeschichte an der Universität Hamburg.

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(Frommer, 2000). So fokussierten wir unsere zentrale Fragestellung mithilfe des Typbegriffs auf das Vorhaben, am Beispiel des Hamburger Feuersturms eine Typologie der langfristigen Folgen und der transgenerationalen Weitergabe traumatischer Kriegserfahrungen in Kindheit und Jugend auf einer empirischen Grundlage zu entwickeln. Methode Unsere Interviewpartner fanden wir über Zuschriften an die örtliche Zeitung, das »Hamburger Abendblatt«, das anlässlich des 60. Jahrestages der Angriffe zur Einsendung persönlicher Erinnerungen aufgefordert hatte. 150 solcher Zuschriften waren der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg zur Archivierung übergeben worden (vgl. Apel, 2008). Kriterium unserer Kontaktaufnahme war das persönliche Erleben der Angriffe. Fast alle Personen, die dazu noch in der Lage waren, wollten unbedingt mit uns sprechen. Diesen »Erzähldruck« werteten wir als erstes Ergebnis. Angesichts des offenkundigen Motivs, etwas mitzuteilen, sprachen wir neutraler von »Zeitzeugen« und nicht von »Überlebenden«. Insgesamt ließen sich 64 Interviews mit 34 Frauen und 30 Männern realisieren. Ihr durchschnittliches Alter zum Zeitpunkt der Befragung betrug 75 Jahre (66 bis 91 Jahre), zum Zeitpunkt des Hamburger Feuersturms waren sie zwischen drei und 27 Jahre alt gewesen. Neben begleitenden Untersuchungen mit Fragebögen und Selbsteinschätzungsinstrumenten bestand die zentrale Methode der Untersuchung in auf Tonband aufgezeichneten und wörtlich transkribierten lebensgeschichtlichen Forschungsinterviews. Dazu konnten wir elf Psychoanalytiker der Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft Hamburg am Michael-Balint-Institut gewinnen, die sich mit großem Interesse und Engagement als Interviewer zur Verfügung stellten und die Interviews teils in ihrer Praxis, teils in der Wohnung der Zeitzeugen durchführten. Angesichts der einleitend geschilderten generell gering ausgeprägten Neigung zu empirischer Forschung an den psychoanalytischen Instituten war dies besonders erfreulich: Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker sind offenbar durchaus »zur Forschung bereit«, wenn ihnen das Projekt sinnvoll erscheint und die Methode auch dem psychoanalytischen Denken angemessen ist.

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Methodische Ansätze für die Auswertung der Interviews Für das Gelingen des Projekts erwiesen sich sorgfältig geplante methodische Schritte als essenziell: ein Interviewleitfaden, der nicht nur die anzusprechenden Themen für das Gespräch enthielt, sondern auch die dahinterstehenden Überlegungen und Fragestellungen, eine Transkription der Interviews, eine Auswertung der Interviews im Sinne einer nacherzählend gedeuteten Verarbeitungsgeschichte, die Bestimmung paradigmatischer Fälle und die Typenbildung (vgl. Lamparter et  al., 2013). Ergänzend kamen andere Auswertungsverfahren zum Einsatz, so die systematische diagnos­ tische Eindrucksbildung (Lamparter, Drost u. Nickel, 2015) und eine psycholinguistische Analyse der Interviews (RMT-Analyse nach Mergenthaler; Mergenthaler, Drost u. Lamparter, 2013).

Ergebnisse des Projekts Die Schilderung der Erlebnisse Wie werden die Erlebnisse im Interview geschildert? Können die Zeitzeugen sich noch daran erinnern? Auch diese Fragen hatten uns im Vorfeld bewegt, denn es wäre ja möglich, dass das Erlebte abgespalten, dissoziiert ist und man gar nicht im Gespräch so einfach herankommt. Das war aber überhaupt nicht der Fall. Bei allen Zeitzeugen war das Erleben des Feuersturms noch voll zugänglich. Zentrale Elemente der »Feuersturmgeschichten« waren die furchtbare Hitze, die Verfärbung des Himmels, der verstörende Anblick der entstellten Leichen. Die spätere Auswertung der Interviews mit der sogenannten diagnostischen Eindrucksbildung wird zeigen, dass gerade der Anblick der Leichen eine große Bedeutung für die Verarbeitung hatte. Überwiegend waren die Zeitzeugen »ausgebombt«. Sie schilderten oft lang den Weg der Flucht durch die zerstörten Straßen, als ob sie jede Einzelheit festhalten wollten, manches Mal die gute Organisation, die Art der Aufnahme bei anderen Menschen, die teils irritierend abweisend, teils umsichtig unterstützend war. Oft gab es einen Menschen, der irgendwie noch Schutz bot, der Großvater, ein ehemaliger Soldat, manches Mal sogar noch der Vater. Oft verdankte sich das Überleben einem glücklichen Umstand. Einigen Zeitzeugen gelang es im Interview noch, die kindliche Perspektive

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einzunehmen und das Erleben aus der damaligen Sicht zu schildern. Sie waren beim Interview überwiegend hochemotional beteiligt, auch wenn sie scheinbar mit neutralisierender Distanz – besonders die Männer – berichteten. Wie die psycholinguistische Auswertung der Schilderungen zeigt, blieben viele Zeitzeugen diesem klinischen Eindruck entsprechend auf der Sprachebene des »Relaxing« (Lamparter, Holstein u. Mergenthaler, in Vorb.). Dies bedeutet, dass im manifesten Sprachtext vor allem die äußeren Geschehnisse ohne explizite Verbalisierung von emotionalen Inhalten berichtet wurden. Manchmal brach die Stimme oder es kam zu einem stillen Weinen. Die meisten wurden ausgebombt und verloren so ihre gesamt Habe, doch nur wenige verloren Angehörige. Oft waren es Nachbarn oder andere Menschen, die sie kannten. Man überlebte in der Regel im Familienverband. War jemand aus der eigenen Familie umgekommen, war dieser Verlust prägend und gestaltet bis heute ein »Lebensthema«. Insgesamt überwiegt das Grundgefühl, »Glück« gehabt zu haben, weil man »die schlimme Zeit« überlebt hat. Später schrieben einige Texte, in denen sie ihre Erfahrungen aufzeichneten. Aus den Trümmern gerettete Stücke, wir nannten sie Reliquien, spielten eine große Rolle. Insgesamt hatten wir durchaus den Eindruck einer Bewusstseinsnähe des damaligen Erlebens, das aber doch auf eine eigenartige Weise getrennt gehalten und gleichsam in einer Art Sonder­gedächtnis gespeichert schien. Wirkungen auf den Interviewer Auf mich als Untersucher wirkten die Interviews sehr stark und hatten eine nachhaltige Wirkung. Mein Arbeitsweg führt zum Beispiel über den Sandweg in Eimsbüttel, wo die ersten Angriffe niedergingen. Ich wusste jetzt, wo eine Zeitzeugin als Kind durch den heißen Teer in den Bunker gerannt war und ihren Schuh verloren hatte. Die Ereignisse kamen näher, und der historische Abstand schmolz. An einem heißen Sommertag, wenn die Menschen Eis essen oder ins Schwimmbad gehen, denke ich etwa, so muss es gewesen sein, bevor die Flugzeuge kamen. Ein Zeitzeuge bat mich, mit ihm die Stelle in Hammerbrook aufzusuchen, wo sein Elternhaus niedergebrannt war. Er überlebte wie durch ein Wunder an einer Mauer an der Straße liegend. Die Mutter starb. Er sprach von Menschen,

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die vorübergehastet waren, um in den nahen Kanal zu springen. Ich fragte, warum er denn nicht ebenfalls in den Kanal gesprungen sei, und erwartete die Antwort, er sei zu tief gewesen und er zu klein. Er antwortete aber: Er war voll von Menschen. Ich empfand einen leichten Schlag und hatte plötzlich das Gefühl, in einen Raum vorzustoßen, der mir sonst nicht zugänglich war. Das Wirklichkeitsgefühl verstärkte sich plötzlich und ich nahm alles intensiver war. Ich versuchte mir die Feuerwalze vorzustellen, von der er sprach, aber es wollte mir nicht gelingen. Meine vergeblichen Vorstellungsversuche mündeten in eine Achtung vor dem Überlebenden und in ein tiefes Glücksgefühl, von solch Schrecklichem verschont geblieben zu sein. Ergebnisse Die Ergebnisse des Projekts (Lamparter et al., 2013) zeigen wie zu erwarten eine große Unterschiedlichkeit in der langfristigen Verarbeitung der Feuersturmerfahrung. Erste Vermutungen, die ganz kleinen Kinder hätten weniger Folgen davon getragen, bestätigten sich nicht, eher im Gegenteil. Dabei stellte sich die Gruppe der Zeitzeugen in den begleitend verwendeten psychometrischen Instrumenten als relativ gesund dar mit nur geringfügig erhöhten Scores für Depressivität und Ängstlichkeit (HADS). In der typologischen Auswertung differenzierten wir zentrale Motive der langfristigen Verarbeitung. Überwiegend setzten sich die überlebenden Zeitzeugen in ihrem folgenden Leben als ein zentrales Leitmotiv überwiegend den Aufbau einer Familie und die persönliche Entwicklung im Berufsleben. Hier galt es neue Freiheiten zu nutzen, etwa zur Berufstätigkeit bei Frauen, eine Familie zu gründen oder im Beruf die sich ergebenden Chancen zu nutzen. Andere zentrale Motive waren Ressentiments gegen die Jüngeren, die das alles nicht verstanden, das Gefühl der grundlegenden Beschädigung und Verwundung, gegen das lebenslang auch mit vielen Therapien angekämpft wurde. Hier zeigte sich dann auch die Verbindung zur NS-Zeit, zur Angst vor dem Ausgeliefertsein in einem Staat, der Abweichler gnadenlos verfolgte. Bei den später zur Wehrmacht eingezogenen Hitler-Jungen war der Feuersturm eher ein Vorspiel für die noch später kommenden schrecklichen Erfahrungen an der Front und in der Gefangenschaft. Schließlich gab es Zeitzeugen, wel-

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che die bewusste Verarbeitung des Geschehenen sich zur inneren Aufgabe machten und aktive Geschichtsarbeit betrieben, Artikel schrieben, als Zeitzeugen in Schulen auftraten oder in Geschichtswerkstätten mitarbeiteten. Doch kein einziger Zeitzeuge fand den Weg in eine aktive politische Arbeit, etwa in einer Partei. Auch bei der moralischen Bewertung des Feuersturms aus heutiger Sicht hielten sie sich zurück.

Klinische Fragen nach dem Trauma Der Traumabegriff und seine kritische Schärfung war ein besonderes Anliegen des Projekts. Auch wenn sich im Interview selbst nur wenige der Befragten als heute noch traumatisiert einschätzten (die psychometrischen Erhebungen wiesen nur fünf Zeitzeugen mit einer andauernden auf den Feuersturm bezogenen posttraumatischen Belastungsstörung aus), sahen wir klinisch bei 13 Zeitzeugen eine fortdauernde manifeste Traumatisierung. Bei einer subtilen Reanalyse der Interviews (Lamparter u. Holstein, 2015) wurden wir zudem auf eine spezifische Form der historischen Erfahrungsverarbeitung aufmerksam, die wir Grunderschütterung nannten. Dabei geschieht offenbar zweierlei: Die gesamte psychische Konstruktion wird durch die maximale Grenzerfahrung erschüttert, wie dies bei einem Haus geschehen mag, das einem Erdbeben ausgesetzt ist. Äußerlich mag das Haus noch unverändert dastehen, aber die Statik ist nicht mehr stabil. Die spezifische Erfahrung mit der Erinnerung dagegen wird gleichsam abgesenkt und – von einer trennenden Schicht umgeben – in einem Sondergedächtnis deponiert. Freilich übt dieses Sondergedächtnis und das grenzbewusste Wissen um seine Existenz eine die psychischen Abläufe mitgestaltende Funktion aus, indem es etwa die Struktur von Ängsten und Sicherheitsbestrebungen mitprägt oder auch die Identität eines Menschen (Überlebender des Feuersturms zu sein) bestimmt. Die Grunderschütterung sahen wir bei weiteren 31 der interviewten Zeitzeugen, also fast der Hälfte. So wird auch hier die Frage nach dem Trauma zur Frage der verwendeten Begriffe und Methoden. An einer zumindest traumanahen Fortwirkung des damaligen Erlebens bis heute ist jedoch kaum zweifeln.

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Klinische Fragen nach der Transgenerationalität In dem Projekt verwendeten wir einen weiten Begriff von Weitergabe und interessierten uns vor allem für die Arten der Tradierung der Feuersturmerfahrung in den Familien der Zeitzeugen. In den insgesamt 45 Interviews mit den Kindern der Zeitzeugen zeigte sich, dass unsere ersten naiven und vielleicht vorurteilsgestützten Vermutungen über ein komplettes Verschweigen nicht zutrafen: Die Hälfte der Kinder kannten die Erlebnisse ihres Vaters oder ihrer Mutter im Feuersturm und konnten sich darin einfühlen. Als klinisch bedeutsame psychische Folge zeigte sich eine vermehrte Ängstlichkeit. Es konnte sogar gezeigt werden, dass diejenigen Kinder, deren Eltern im Feuersturm »schlimmere Erlebnisse« hatten, auch höhere Werte für Ängstlichkeit im SCL-14 aufwiesen (von Issendorff, 2013). Beim Vergleich der Interviewtexte aus beiden Generationen ließen sich zahlreiche psychodynamische Einzelmechanismen der Weitergabe differenzieren (Lamparter u. Holstein, 2016). Ein für alle oder zumindest die meisten Zeitzeugenfamilien gültiges Muster ließ sich allerdings nicht feststellen. Jedes der gefundenen Muster war jeweils nur bei einem geringen Teil der zweiten Generation diagnostisch relevant (Lamparter, Holstein u. Wendell, in Vorb.). Die sogenannte Fürsorge-­Empathie-Kollusion im Sinne eines unbewussten Zusammenspiels ist ein Beispiel eines intergenerationalen Austauschprozesses, in dem die Weitergabe der Feuersturmerfahrung erfolgt: Für die Zeitzeugengeneration steht das Gelingen der täglichen Lebensbewältigung im Vordergrund mit einer Betonung von Aspekten der Sicherheit und des materiellen Wohlergehens. Dies zeigt sich in einer Fürsorge für die nächste Generation, deren Angehörige (die Kinder der Zeitzeugen) sich jedoch mehr Einfühlung in ihre innere Welt wünschen und sich von der anhaltenden »äußerlichen« Fürsorge der Eltern eher bedrängt fühlen. Diese wiederum reagieren auf die Ablehnung durch ihre eigenen Kinder mit Rückzug und Gegenvorwurf, etwa der Undankbarkeit.

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Praktische Folgerungen in Psychotherapie und Medizin Erfahrungsmuster liegen für das Verständnis bereit Grundsätzlich erscheint auch in der Rückschau die Forschungsstrategie des Projekts sinnvoll und erfolgreich, ein lokal begrenztes Kriegsereignis und seine Verarbeitung als Forschungsgegenstand zu bestimmen. Eine zu große Aufspreizung des wissenschaftlichen Gegenstands der seelischen Langzeitfolgen des Zweiten Weltkriegs in unzählige kaum mehr vergleichbare Einzelgeschichten wird auf diesem Wege begrenzt. Muster der Erfahrungsbildung lassen sich so leichter feststellen. Das intensive Studium der Einzelfälle kann nun über eine typologische Ordnung zu einem generationalen Verständnis führen. Dieses ist nun wiederum beim klinischen Verständnis eines neuen – nun klinischen – Einzelfalls nützlich, der jetzt vor dem Hintergrund des bereits vorliegenden allgemeineren generationalen Verständnisses schneller und zutreffender erfasst und konzeptualisiert werden kann: Für das klinische Verständnis stehen jetzt typische, in der Kriegszeit wurzelnde mögliche oder sogar wahrscheinliche Erlebensmodalitäten und Strukturbildungen der Erfahrungverarbeitung als Folien bereit. Sie können »ins Spiel gebracht« und im Gespräch mit dem Patienten auch modifiziert und angepasst werden. Diese »bekannten Erfahrungsmuster« lassen sich in der Psychotherapie wie in der Körpermedizin in Anschlag bringen und fruchtbar machen. Berücksichtigt man generationale und zeitgeschichtlich definierte Bezüge bei der klinischen Konzeptbildung, wird eine vorschnelle Abstrahierung des Patienten von seinem persönlichen zeitgebundenen Schicksal schon im Ansatz unterbunden. Eine solche vorschnelle Abstrahierung würde eine präzise Erfassung des Patienten als einzigartiges unverwechselbares Subjekt unterlaufen. Sie würde weiter einer vollgültigen Orientierung des therapeutischen Handelns an den faktischen psychischen Strukturen des Patienten und damit seinem legitimen Bedürfnis nach Verständnis und angemessenem Handeln im Wege stehen. Diese Zusammenhänge gelten für die psychotherapeutische und psychoanalytische Praxis, nicht zuletzt für eine integrierte Psychosomatische Medizin, die psychische, soziale und körperliche Faktoren in einer Gesamt-

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schau zusammendenkt, aber auch für die Körpermedizin allgemein. Dazu ein Beispiel: Als im Sommer 2017 anlässlich des G20-Gipfels eine große Unruhe in der Stadt herrscht, kommt eine über 60-jährige Patientin zur analytischen Sitzung mit Rucksack und einer mit Wasser gefüllten großen Trinkflasche, damit sie sich »überall durchschlagen« kann. Ich nehme fragend die Formulierung von dem »sich überall durchschlagen« auf, weil sie mich an Kriegszeiten erinnert. Die Patientin schildert, dass ihre Mutter als noch nicht Zwanzigjährige ihre noch jüngere Schwester aus der Kinderlandverschickung im Osten nach Hause geholt und das brennende Magdeburg erlebt habe. Sie habe auch vom Durst berichtet, den sie im Zug gelitten hatte. Aktuell kommt es also zu einer »historischen« Erkenntnisaktivität, an der ich mich beteilige – im Unterschied zu sonst: Ich hätte auch abwarten und dann später in der Stunde vielleicht »in der Beziehung deuten« und dabei etwa die Autarkiebedürfnisse der Patientin in der Übertragung ansprechen können.

Auch eine andere kurze Fallschilderung mag verdeutlichen, dass die Berücksichtigung zeithistorischer Erfahrungen für das klinische Verständnis hilfreich sein kann: In der psychoanalytischen Behandlung einer 50-jährigen Angstpatientin mit hypochondrischen Zügen stellt sich immer mehr ein grundlegendes Abgrenzungsproblem von ihrer dominanten »herrschsüchtigen« und »egozentrischen Mutter« heraus. Diese hatte offenbar »immer Angst«, ihre kleine Tochter könnte krank werden, und reagierte auf etwaige Kinderkrankheiten und Erkältungen eminent gereizt. Das führte bei dem kleinen Mädchen zu einer andauernden Angst vor Krankheiten. Die Erörterung der Mutter-Tochter-Beziehung führte jedoch zu keinem wirklichen Fortschritt in der Behandlung. Die Patientin sagte (mit Recht): Und was sagt mir das jetzt? Ich begann mich für das Fluchtschicksal ihrer Mutter zu interessieren. Sie war als zwölfjähriges Mädchen zusammen mit ihrer Mutter aus ihrem Haus in Schlesien vertrieben worden. Darüber war sie nie hinweggekommen, umso mehr, als sie bei der Flucht in den Westen in Chemnitz bei einem älteren Ehepaar zurückgelassen wurde, das offenbar der Übernahme des Kindes nur sehr ambivalent zugestimmt

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hat und wo sich das Mädchen extrem verloren gefühlt hatte. Dort und damals war es gefährlich gewesen, krank zu werden. Manches an dem übergriffigen und ängstlich auf die Gesundheit ihrer Tochter fokussierten Verhalten der Mutter wurde so verständlich. Unsere Erörterungen halfen der Patientin, ihre eigene Ambivalenz der Mutter gegenüber zu reduzieren und diese in ihrer Nähe in einem guten Heim unterzubringen.

Bedeutung der Ergebnisse für die praktische Medizin Die Generation der Kriegskinder ist heute überwiegend hochbetagt. Doch gerade hier gilt es die spezifischen zeitgeschichtlichen Zusammenhänge aufzuspüren. Bei einer älteren Dame wird nachts direkt vor ihrem Fenster von Vandalen ein Moped abgefackelt. Sie reagiert als Überlebende des Hamburger Feuersturms mit einer traumatischen Reaktion und anschließenden massiven Ängsten. Eine betagte Patientin, die im Nationalsozialismus große Angst haben musste, als »Juden-Mischling« entdeckt zu werden, hat sich die Schulter gebrochen. Sie träumt albtraumhaft, dass sie den Arm nicht zum Hitler-Gruß heben kann und deshalb entdeckt wird. Ein Patient, der im Alter von einem Jahr in ein nasses Tuch eingeschlagen aus dem Feuersturm getragen wurde, entwickelt starke Angstzustände und unerklärliche Nackenverspannungen, die auch eine Operation nicht bessern können. Nächtliche Verwirrtheitszustände, Blutdruckkrisen, Schlaflosigkeit, Abgleiten in depressive Zustände nach der Erschöpfung der Abwehrfunktion bei Verlustsituationen sind typische klinische Bilder zeitgeschichtlich bedingter psychosomatischer Regulationsstörungen in der Erlebensgeneration des Zweiten Weltkriegs.

Fazit Die Psychoanalyse braucht die historische Perspektive und historisches Wissen. Der Historiker braucht die Kenntnis von der Dimension der Abwehr und der Probeidentifikation. Der Psychoanalytiker seinerseits wird in der interdisziplinären Zusammenarbeit mit den Historikern an gesellschaftliche Entwicklungen und kollektive psychomentale Prozesse herangeführt. In der Zusammenarbeit mit anderen psychologischen Disziplinen, insbesondere durch die empi-

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rischen Anforderungen der klinischen Psychologie, wird er zudem gezwungen, seine Aussagen überprüfen zu lassen und nicht vorschnell vom Einzelfall auf die Allgemeinheit zu schließen. Die Medizin allgemein wird durch die psychohistorische Zugangsweise auf Lücken ihrer Erkenntnisbildung aufmerksam gemacht. Die lebensgeschichtliche Anamnese im persönlichen Gespräch wird tendenziell wieder in ihr Recht gesetzt. Die technologische Verstümmelung der Arzt-Patient-Beziehung – standardisierte Fragebögen, biochemische und bildgebende Verfahren führen zu einer Vernachlässigung der klinischen Beobachtung – wird zwar nicht zurückgeführt werden, aber es könnte sich vielleicht allmählich ein Bewusstsein entwickeln, das mit der »Übermacht von Blut und Bild« eine gefährliche Reduzierung relevanter Erfahrungen in der Medizin verbunden ist. Nicht zuletzt bleiben einfache Konsequenzen: Geburtsdatum und Geburtsort sind wichtige Hinweise! Die Frage: »Wie ist Ihre Familie durch den Zweiten Weltkrieg gekommen?« darf auch heute nicht vergessen werden. Den Frieden kann nur schätzen und sichern, wer die schreckliche Realität des Kriegs kennt und nicht vergisst. Sich um Kriegserinnerungen zu kümmern, ist ein Beitrag zur praktischen Friedenssicherung, den Ärzte, Psychosomatiker, Psychoanalytiker und Psychotherapeuten in ihrer alltäglichen praktischen Tätigkeit leisten können. Sie tragen damit zu einer präventiven Medizin bei. Die Erinnerung an die schrecklichen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs hilft aber auch, Kriegsflüchtlinge, die heute in Deutschland Schutz suchen, besser zu verstehen, ihre Symptome zu entschlüsseln und ihnen mit der gebotenen Empathie zu begegnen. Aber sie ruft auch in Erinnerung, dass in Deutschland und in Europa Menschen leben, die vom Zweiten Weltkrieg und den dort gemachten individuellen und familiären Erfahrungen nach wie vor verstört sind und die auf subjektive Bedrohungen ihrer Sicherheit ängstlich und mit Abwehr reagieren, wenn es nicht sogar zu grotesk anmutenden Identifikationen und Projektionen kommt. Ohne Blick in die Geschichte geht es nicht: Wir brauchen Geschichte, um uns zu verstehen.

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Psychoanalyse und Neurowissenschaften am Beispiel der Depression

Vorbemerkungen Mit seinem Plädoyer, den wissenschaftlichen Dialog zwischen der Psychoanalyse und den Neurowissenschaften zu intensivieren, erregte Eric Kandel (Kandel, 1998), der international führende Neurobiologe und Medizin-Nobelpreisträger des Jahres 2000, internationales Aufsehen. Inzwischen haben neuere Entwicklungen in den Neurowissenschaften einen interdisziplinären Dialog zwischen der Psychoanalyse und den Neurowissenschaften intensiviert (z. B. Carhart-Harris u. Friston, 2010; Solms u. Panksepp, 2012). Aus der Kooperation der beiden Disziplinen sind zahlreiche experimentelle Studien hervorgegangen, die ein neues Licht auf psychoanalytische Konstrukte und Techniken werfen (z. B. Andreasen et al., 1995; Leuzinger-­Bohleber, 2012; Fischmann, Russ, Baehr, Stirn u. Leuzinger-­Bohleber, 2012; Fischmann, Russ u. Leuzinger-Bohleber, 2013; Solms u. Panksepp, 2012; Böker et al., 2013; Schmeing et al., 2013; Kehyayan, Best, Schmeing, Axmacher u. Kessler, 2013; Shevrin et al., 2013; Buchheim u. Kächele, 2015). Untersuchungen der neuronalen Korrelate von Patienten während einer Psychotherapie wurden in der Vergangenheit überwiegend für kognitiv-behaviorale und interpersonelle Therapien durchgeführt; die meisten bildgebenden Studien fokussierten auf Kurzzeittherapien (Roffman, Marci, Glick, Dougherty u. Rauch, 2005). Bis zur Veröffentlichung von Roffman et al. (2005) fehlten Neurostudien aus dem Bereich der psychodynamischen und psychoanalytischen Therapie. Das hat sich inzwischen geändert, wie die Übersichten von Schiepek, Heinzel und Karch (2011), Abbass, Nowoweiski, Ber-

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nier, Tarzwell und Beutel (2014) sowie Kalsi et al. (2017) zeigen. So berichteten z. B. Beutel, Stark, Pan, Silbersweig und Dietrich (2010, 2012a) über die neuronalen Effekte einer stationären psychodynamischen Kurzzeittherapie von Panikstörungen sowie de Greck et al. (2011, 2013) über die Wirksamkeit einer multimodalen psychodynamischen Therapie bei Patienten mit somatoformen Störungen auf neuronaler Ebene. Im Folgenden werden neuropsychoanalytische Befunde mit depressiven Patienten aus der eigenen Forschungswerkstatt ausführlicher berichtet. Für die Entwicklung depressiver Störungsbilder wird ein multifaktorielles Modell angenommen, in das unterschiedliche Einflussfaktoren eingehen. Neben genetischen, biologischen Markern und neuronalen Korrelaten haben auch psychosoziale Belastungsfaktoren einen Einfluss auf die Entwicklung einer Depression. Psychodynamische Modelle gehen traditionell davon aus, dass neben konstitutionellen Faktoren frühere Trennungs- oder Verlusterfahrungen, Störungen des Selbstwertgefühls (in Form einer sogenannten »narzisstischen Krise«) sowie eine gegen sich selbst gerichtete Aggressivität die Disposition verstärken, an einer depressiven Störung zu erkranken (Hoffmann u. Hochapfel, 2009). Steinert, Schauenburg, Dinger und Leichsenring (2016) verfassten in Anlehnung an Luyten und Blatt (2012) ein evidenzbasiertes Modell für die Entstehung depressiver Erkrankungen, das davon ausgeht, dass Depressionen häufig ausgelöst werden durch den frühen oder auch späteren Verlust einer wichtigen Person, eines wichtigen inneren oder äußeren Zieles oder Halts bei gleichzeitigem Mangel an Bewältigungs- und Abwehrmechanismen. Bei Verlassenwerden durch bedeutsame Personen richtet sich die Aggression unbewusst gegen das eigene Selbst. Während dependente Patientinnen und Patienten in Beziehungen zur Aggressionsvermeidung tendieren, um Verlassenwerden zu verhindern, provozieren selbstkritische Patientinnen und Patienten unbewusst durch eigene Abwertung die Kritik anderer und bestätigen sich dadurch im Sinn einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, von niemanden geliebt zu werden (Steinert et al., 2016; Blatt u. Zuroff, 1992). Aus bindungstheoretischer Sicht sind Depressionen mit einem unsicheren Bindungsmuster, insbesondere unverarbeiteter Trauer (Bowlby, 1980; Buchheim et al., 2012b; Buchheim, Labek, Walter u. Viviani,

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2013) verknüpft sowie mit einer eingeschränkten Fähigkeit, über sich und andere konstruktiv nachzudenken (Mentalisierungsfähigkeit; Fischer-Kern u. Tmej, 2014; Steinert et al., 2016). Bei schweren und chronischen Depressionen sind psychodynamische Langzeitbehandlungen indiziert und wirksam (Leichsenring u. Rabung, 2011; Huber et al., 2012). Diese Empfehlung bestätigen auch die aktuellen europäischen Richtlinien zur Behandlung der chronischen Depression (Jobst et al., 2016). Die empirisch basierten Richtlinien empfehlen für diese besonders belastete Patientengruppe einen interpersonellen Fokus und einen personalisierten Therapieansatz, um den spezifischen Bedürfnissen und Präferenzen der Patienten konstruktiv entgegenzukommen. Langzeitstudien mit psychoanalytischer Behandlung belegen die Nachhaltigkeit einer Besserung auf symptomatischer und struktureller Ebene (Huber, Zimmermann, Henrich u. Klug, 2012; Zimmermann et al., 2015).

Neuronale Korrelate bei depressiven Patienten während psychoanalytischer Behandlungen Im Kontext einer ambulanten psychoanalytischen Therapie zeigten Buchheim et al. (2012a, 2012b) erstmals neuronale Veränderungen bei chronisch depressiven Patienten nach 15 Monaten Behandlung mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) und des Elektroenzephalogramms (EEG). Die Rekrutierung der Patienten im Rahmen der Hanse-Neuropsychoanalyse-Studie erfolgte über die Ambulanz von zwei psychoanalytischen Instituten in Bremen, die der Kontrollpersonen über lokale Zeitungsanzeigen. Die n = 20 nichtmedizierten Studienpatienten begannen eine psychoanalytische Behandlung mit einer Frequenz von zwei bis vier Wochenstunden bei sehr erfahrenen Psychoanalytikern (Berufserfahrung m = 22,4 Jahre, SD = 7.9). Nach 15 Monaten Behandlung ergab sich ein Durchschnitt von 129 Sitzungen (SD = 37). Die Therapien wurden je nach Indikation über 24 bis 48 Monate weitergeführt. Für die fMRT-Untersuchung wurden individualisierte Paradigmen entwickelt, um spezifische Aspekte der psychoanalytischen Therapie im Stimulusmaterial abbilden zu können. Das Stimulusmaterial basierte einerseits auf der Operationalisierten Psychodynamischen

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Diagnostik 2 (OPD; Kessler et al., 2011; Kessler, Stasch u. Cierpka, 2013; Wiswede et al., 2014) und andererseits auf dem Adult Attachment Projective Picture System (AAP; George u. West 2001, 2012; Buchheim et al., 2012a, 2012b). Die Teilstudie mit dem Bindungsparadigma fokussierte auf die Präsentation von persönlichen Kernsätzen aus den wörtlich transkribierten Narrativen der Patienten und Probanden zu bindungsrelevanten Bildern aus dem AAP-Bindungsinterview, was im Folgenden näher erläutert wird. Das von George und West (2001, 2012) entwickelte AAP ist eine validierte Methode, um Bindungsrepräsentationen bei Erwachsenen ökonomisch messen zu können. Das AAP hat sich inzwischen in vielfältigen Bildgebungsstudien als gut einsetzbar erwiesen, um neuronale Korrelate von Bindung mittels fMRT bei Gesunden und Patienten zu messen (z. B. Buchheim et al., 2008b; Buchheim, 2016; Buchheim, George, Gündel u. Viviani, 2017; Labek, Viviani, Gizweski, Verius u. Buchheim, 2016; Labek et al., 2017). Das AAP besteht aus einem Set von acht Bildern und beginnt mit einem Aufwärmbild (neutraler Stimulus), darauf folgen sieben Bindungsszenen (Kind am Fenster, Abschied, Bank, Bett, Krankenwagen, Friedhof, Kind in der Ecke; George u. West, 2001, 2012). Die Versuchsperson soll zu den Bildern jeweils eine Geschichte erzählen. Das AAP arbeitet mit der Analyse transkribierter Narrative in Bezug auf spezifische bindungsrelevante Inhalte (z. B. internalisierte sichere Basis, Hafen der Sicherheit, Handlungsfähigkeit, Synchronizität) und Abwehrprozesse (z. B. Deaktivierung, kognitive Entkoppelung, Bindungstraumata und deren Verarbeitung). Die »unbewusste« Verwendung von bindungsspezifischen Abwehrprozessen in einer Geschichte gibt valide Hinweise auf die jeweilige Bindungsrepräsentation. Anhand der sprachlichen Darstellung der Erzählung zu bindungsrelevanten Themen lässt sich mit großer Genauigkeit feststellen, wie Bindungserfahrungen bei der befragten Person derzeit mental repräsentiert sind und sich in einer der vier Bindungskategorien (sicher, distanziert, verstrickt und unverarbeitete Trauer/Trauma) klassifizieren lassen (George u. West, 2001, 2012; Buchheim u. George, 2012). Das AAP hat sich in der klinischen Anwendung in vielfältigen Kontexten sehr bewährt (Buchheim, 2016, 2018).

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In Anlehnung an die ätiologischen, bindungstheoretischen Modelle und Vorbefunde zeigten die Patienten mit chronischer Depression in unserer Studie erwartungsgemäß am Anfang der Behandlung signifikant häufiger »unverarbeitete Traumata« als die gesunden Probanden. Entsprechend unserer Annahme veränderten sich die Patienten nach 15 Monaten Behandlung signifikant in die erwartete Richtung, sodass sich die Verteilungen der Bindungsklassifikationen der Patienten nicht mehr von den Kontroll­ probanden unterschieden (Buchheim et al., 2012b). Die Hälfte der Patienten mit der Klassifikation »unverarbeitetes Trauma« zeigten Desorganisation in den Narrativen zum Bild »Friedhof«, was auf die Häufung von unverarbeiteten Verlusterfahrungen in dieser Gruppe hinwies.

Abbildung 1: AAP-Bild »Friedhof« (George u. West, 2012 all rights reserved ©)

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Zu dem AAP-Bild »Friedhof« erzählt ein Patient aus der Studie folgende Geschichte: »Hier ist eine wichtige Person verstorben, und der Mann vor dem Grab ist halt sehr traurig und fühlt sich hilflos, weiß halt nicht was er machen kann oder ob er überhaupt irgendwas machen kann. Also weiß halt auch nicht, also ist eigentlich für ihn unerträglich, dass diese Person nicht mehr da ist. Und, ja, ist ratlos, fühlt sich hilflos. Er hat die Person sehr geliebt. Er muss halt, also, er wird vermutlich noch oft ans Grab kommen bzw. irgendwann auch nicht mehr, weil es ihn halt immer schmerzt, wenn er da ist.«

In diesem Narrativ wird deutlich, dass der Mann in der Geschichte in seiner Hilflosigkeit und seinem Schmerz gefangen bleibt. Es ist für ihn unerträglich, dass die verstorbene Person nicht mehr da ist. Anzeichen einer mentalen Verarbeitung dieser bindungsrelevanten Szene fehlen bisher aus bindungstheoretischer Sicht. Es sind keine Anzeichen von »Handlungsfähigkeit« (z. B. »er legt eine Blume ans Grab und zündet eine Kerze an«, »er geht nach Hause und versucht sich abzulenken«) oder einer internalisierten sicheren Basis (z. B. »er denkt an die Person und trauert«, »er ruft einen guten Freund an und lässt sich trösten«) zu erkennen. Dagegen erzählt die gleiche Person nach 15 Monaten psychoanalytischer Behandlung (T2) zu dem AAP-Bild »Friedhof« folgende Geschichte: »Das ist ein Mann, der steht vor einem Grab, und der Grabstein ist schief. Der guckt sich das ziemlich genau an, und es könnte auch ein ganz altes Grab sein, von, also weil da ist ja auch kein Blumenbeet davor oder so. Vielleicht ist es einfach so, dass er, auf der, also, zum Beispiel einen alten jüdischen Friedhof besucht oder so und interessiert ist an der Situation oder an dem, was er da sieht. Und, kann auch persönliche Befangenheit dabei sein, ja. Auf jeden Fall ist es kalt, weil er auch viel anhat. (Pause) Und er scheint alleine da zu sein, was dann eigentlich, also vielleicht ist es auch ein Familienmitglied, das er da besucht, oder dessen Grab er aufsucht und auf jeden Fall ist er in Gedanken versunken und auch ernst, ja. Und er geht aus der Situ-

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ation auch irgendwann wieder raus, macht weiter. Wie könnte es in der Geschichte weitergehen? Er wird vielleicht da noch ein Weilchen dort verweilen und es anschauen und dann irgendwann geht er weiter und dann sinniert er noch über die Situation. Und dann, ja, passieren wieder neue Dinge, und er ist wieder in neuen Situationen, also jetzt in der Zukunft.«

In diesem Narrativ ist zu erkennen, dass der Mann in Gedanken versunken ist, über die Situation sinniert, dass wieder neue Dinge passieren können. Die Verzweiflung und Hilflosigkeit wie in der ersten Geschichte zu Beginn der Behandlung ist nicht mehr vorhanden. Auch wenn keine tieferen Denkprozesse im Sinne einer internalisierten sicheren Basis entsprechend des AAP-Manuals vorkommen, sondern eher oberflächliche Denkprozesse (»in Gedanken versunken«, »nachsinnieren«), so ist dennoch eindeutig, dass es um eine Zukunftsperspektive geht. Ein »Marker«, der auf eine potenziell unverarbeitete Verlustthematik hinweist (»ein Familienmitglied, das er da besucht«), wird dadurch aufgelöst, dass der anschließende Satz klarstellt, dass es sich um einen Verstorbenen handelt (»oder dessen Grab aufsucht«). Andere Themen, die das Bindungssystem bedrohen (wie z. B. »emotionaler Schmerz«), sind nicht mehr enthalten, sodass dies auf einen sogenannten verarbeiteten Bindungsstatus hinweist. Folgende drei Kernsätze wurden im Konsensus von zwei unabhängigen Raterinnen aus dem individuellen Narrativ extrahiert und dem Patienten in Kombination mit den AAP-Bildern im fMRT-Scanner zu Beginn und nach 15 Monaten präsentiert: 1) Mann vor dem Grab ist sehr traurig und fühlt sich hilflos, 2) Er ist ratlos, fühlt sich hilflos, hat die Person sehr geliebt, 3) Irgendwann kommt er nicht mehr, weil es ihn immer schmerzt, wenn er da ist. Die AAP-Bilder (siehe Abbildung 2) wurden in der originären Reihenfolge gezeigt, um das Bindungssystem zu aktivieren (Kind am Fenster, Abschied, Bank, Bett, Krankenwagen, Friedhof, Kind in der Ecke). Im Verlauf der Untersuchung wurden zwölf Blöcke mit insgesamt 84 Durchgängen gezeigt.

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Abbildung 2: Beispiel eines Blocks mit sieben AAP-Bild-Satz-Kombinationen, »personalisiert« (Buchheim et al., 2012a, 2012b)

Die klinisch-psychodynamische Annahme war, dass die Patienten durch die Therapie mehr »inneren Raum« und Einsichten gewinnen, um über ihre konflikthaften Bindungsmuster besser nachdenken zu können, diese durchzuarbeiten und emotional korrigierende Erfahrungen zu machen. Bei der Konfrontation mit dem personalisierten Stimulusmaterial im Kontrast sollte sich dies zu nichtpersonalisierten Sätzen neuronal abbilden. In Anlehnung an die Studien von Fu, Williams, Cleare, Scott und Mitterschiffthaler (2008) und Siegle, Condray, Thase, Keshavan und Steinhauer (2010) erwarteten wir, dass zu Beginn der Behandlung die Patienten höhere Aktivierungen in limbischen Regionen wie dem Amygdala-Hippocampus-Cluster und dem ventralen anterioren Cingulum (ACC) im Vergleich zu den Gesunden zeigen, wenn sie mit den personalisierten Bindungssätzen konfrontiert sind. Eine weitere Annahme war, dass sich die ausgeprägtere Bold-Response der Patienten in diesen Regionen nach 15 Monaten Behandlung denen der Gesunden angleicht. Entsprechend den Hypothesen veränderten sich die chronisch-­ depressiven Patienten nach 15 Monaten psychoanalytischer Behand-

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lung auf symptomatischer Ebene, in ihren Bindungsrepräsentationen und bezüglich ihrer neuronalen Aktivierungen, wenn sie mit individualisierten Sätzen konfrontiert wurden, die unbewusste Aspekte ihrer mentalen Organisation in Bezug auf bindungsrelevante Themen (Trennung, Verlust) enthielten. Die neuronalen Veränderungen – vermehrte Aktivierung am Anfang und verminderte Aktivierung nach 15 Monaten im Amygdala-­ Hippocampus-Komplex, im subgenualen cingulären Kortex (ventraler ACC) und medialen präfrontalen Kortex (MPC) – wurden bei den Gesunden nicht beobachtet. Der signifikante Zusammenhang dieser Interaktionseffekte im ventralen ACC und MPC mit der klinischen Verbesserung unterstützte die Annahme, dass diese Veränderungen auf positive Therapieeffekte zurückzuführen sind. Die gefundenen Areale, insbesondere der Amygdala-Hippocampus-­Komplex, replizierte einen zentralen Befund aus der Studie von Fu et al. (2008), während Veränderungen des ventralen ACC ebenso in anderen Studien mit depressiven Patienten nachgewiesen wurden (z. B. Brody et al., 2001; Goldapple, Segal, Garson, Lau u. Bieling, 2004). Eine erhöhte Aktivierung des MPC wurde in anderen Studien mit erhöhten Kontrollprozessen und mit einer intentionalen Vermeidung und Unterdrückung von Emotionen bei depressiven Patienten in Zusammenhang gebracht (Ochsner u. Gross, 2005). Auch Bildgebungsstudien im Bereich der Bindungsforschung unterstreichen die Bedeutung der präfrontalen Aktivierung bei maladaptiven Bindungsprozessen während kognitiver Aufgaben (z. B. Gillath, Bunge, Shaver, Wendelken u. Miculincer, 2005). Die verminderte Aktivierung des MPC bei den Patienten unserer Studie könnte darauf hinweisen, dass diese nach 15 Monaten psychoanalytischer Behandlung weniger Kontroll- und Verdrängungsmechanismen einsetzen mussten, was aus psychodynamischer Sicht mit den allgemeinen Behandlungszielen konform geht. Eine gerade veröffentliche Arbeit mit denselben depressiven Patienten aus der Hanse-Neuropsychoanalyse-Studie widmete sich den neuronalen Veränderungen nach 15 Monaten psychoanalytischer Behandlung mittels Elektroencephalogramm (EEG, 32 Kanal; Buchheim et al., 2018). Auch hier wurde das oben beschriebene Bindungsparadigma eingesetzt, um die in Bremen untersuchten depressiven Patienten mit personalisiertem Stimulusmaterial zu konfron-

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tieren und ihre emotionale Regulationsfähigkeit vor und nach 15 Monaten Behandlung zu messen. Bezüglich der EEG-Ergebnisse zeigten sich folgende veränderte Befunde nach psychoanalytischer Therapie (Buchheim et al. 2018): Die Patienten wiesen zu Beginn der Behandlung eine erhöhte Aktivität im Gammaband-­Frequenzbereich in fronto-zentralen Arealen (FZ) im Vergleich zu den Kontrollprobanden auf. Erhöhtes Gammaband wurde auch in anderen Studien bei depressiven Patienten nach der Präsentation von negativen Wörtern im Vergleich zu schizophrenen Patienten gefunden (Siegle et al., 2010). Bei den Patienten unserer Studie ergab sich eine signifikante Abnahme der Gamma-Aktivität nach 15 Monaten Behandlung. Die Hirnaktivitäten der Kontrollpersonen veränderten sich über die Zeit nicht. Die Patienten zeigten bei Beginn der Behandlung weiterhin ein stärker ausgeprägtes spätes positives Signal oder Late Positive Potential (LPP) fronto-zentral im Vergleich zu den Kontrollpersonen. Nach 15 Monaten Behandlung glichen sich die Amplitudenverläufe (LPP) der Patienten denen der Kontrollpersonen an. Das LPP wird assoziiert mit Emotionsregulation und kontrollierter Aufmerksamkeit (Olofsson, Nordin, Sequeira u. Polich, 2008). Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass LPP und Gamma-Aktivität als relevante neurophysiologische Indikatoren angesehen werden können, die bei der Verarbeitung von persönlichem affektiven und bindungsrelevanten Material im Verlauf einer psychodynamischen Psychotherapie bei depressiven Patienten beteiligt sein könnten (Buchheim et al. 2018). Weitere laufende Prä-Post-Studien im Kontext der ambulanten psychoanalytischen Therapie mit chronisch depressiven Patienten und dem Einsatz von individualisiertem Stimulusmaterial (Böker et al., 2013; Fischmann et al., 2013; Beutel et al., 2012b) in Frankfurt und Zürich werden zeigen, inwiefern sich konsistente Befunde bei diesem Störungsbild ergeben.

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Befunde zur veränderten Konnektivität bei depressiven Patienten während einer multimodalen stationären Behandlung Die systemische Neurowissenschaft beschäftigt sich in jüngster Zeit mit dem Versuch, bestimmte Gehirnfunktionen und -eigenschaften spezifischen Netzwerken des menschlichen Gehirns zuzuordnen. Durch mehr als zwei Jahrzehnte der Erhebung von Bildgebungsdaten des Gehirns ist der erste Schritt getan, um nun ein Konstrukt von Interaktionen zwischen diesen Netzwerken als mentale Prozesse zu erklären (Grefkes et al., 2013). In den Konnektivitäten zwischen und innerhalb dieser Netzwerke liegt die Basis für die Informationsverarbeitung. Hier scheint es für eine störungsfreie Funktion bedeutsam zu sein, wie stark oder schwach die Verbindungsstärke ausgeprägt ist. Nicht nur eine starke Verbindung erweist sich als bedeutsam, um eine schnelle und direkte Signalübertragung zu gewährleisten. Ebenso bedarf es bei der Ausführung mancher Hirnfunktionen schwächerer Verbindungen und der Fähigkeit von Neuronen und einzelnen Hirnarealen, unabhängig voneinander zu arbeiten (Helm, 2014). Um diese Signalwege bildlich darstellen und erforschen zu können, werden vor allem Methoden wie die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) und das Elektroencephalogramm (EEG) verwendet. In Zukunft erscheint es demnach sinnvoll, den Aspekt der Konnektivität zu fokussieren. Eine aktuelle EEG-Studie mit depressiven Patienten in multimodaler stationärer Behandlung, einschließlich psychodynamischer Gruppentherapie, an der Christian-Doppler-Klinik Salzburg (del Monte, 2017) widmete sich dieser aktuellen Fragestellung – dem Zusammenspiel von verschiedenen Hirnarealen (Konnektivität) und deren Veränderung durch Psychotherapie. Die Hypothese, dass eine pathologische neuronale Konnektivität ihre Symptomatik verursacht, wird derzeit stark diskutiert. Eine Metaanalyse von Helm et al. (under review) zeigt zusammenfassend, dass Veränderungen der Konnektivität im Rahmen depressiver Störungen insbesondere orbitofrontale, mediale und laterale frontale, frontopolare, medial-temporale und insuläre Kortexregionen sowie die Basalganglien und das Cerebellum betreffen. Im sogenannten Resting-State-Modus wiesen

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mediale frontale und medial temporale Areale und die Basalganglien eine verstärkte, das Cerebellum eine schwächere Konnektivität auf. Als Stichprobe der Studie von del Monte (2017) wurden bei n = 30 depressiven Patienten sowohl depressionsrelevante Symptomveränderungen als auch Veränderungen des subjektiv eingeschätzten Traumas sowie Bindungsrepräsentationen im Vergleich zu n = 30 gesunden Kontrollprobanden erhoben. In dieser Untersuchung erfolgte neben dem Einsatz eines computergestützten Therapie-­ Monitoring-Systems der Einsatz eines 256-Elektroden-EEG-Systems, mit dem die neuronalen Prozesse gemessen wurden. Als EEG-Paradigmen wurden neben drei Resting-State-Phasen das Adult Attachment Projective Picture System (AAP; Buchheim et al., 2012a) und Trauerbilder (Labek et al., 2017) eingesetzt. Auf klinisch-symptomatischer Ebene zeigte sich, dass sich die depressiven Patienten auf den depressionsrelevanten Maßen von den Gesunden hoch signifikant unterschieden. Wie erwartet, gaben die Patienten im Vergleich zu den Gesunden signifikant häufiger an, traumatische Erfahrungen in der Kindheit erlebt zu haben. Zahlreiche Untersuchungen belegen die enge Verknüpfung von erhöhter Rumination und Depression, was auch in der vorliegenden Untersuchung belegt werden konnte. Entsprechend den Annahmen und vorherigen Befunden (Buchheim et al., 2012b) zeigten die stationären Patienten einen signifikant erhöhten Anteil an unsicherer Bindungsrepräsentation und insbesondere unverarbeitete Traumata anhand des AAP im Vergleich zu den gesunden Kontrollprobanden. Auf neuronaler Ebene wurde entsprechend den Vorarbeiten (Heim et al., under review) angenommen, dass Veränderungen der Konnektivität vor allem in präfrontalen Arealen im Rahmen der Depression eine bedeutsame Rolle spielen. Wie angenommen, veränderten sich diese Konnektivitäten der Patientengruppe signifikant im Vergleich von Erstmessung (vor Therapie) zur Zweitmessung (nach mindestens acht bis zehn Wochen stationärer Therapie). Die Areale, in denen starke Konnektivitätsunterschiede zwischen Patienten- und Kontrollgruppe und im Fall des Patientenkollektivs zwischen Prä- und Post-Messung gemessen wurden, entsprechen den in der Literatur gefundenen präfrontalen Arealen (Kaiser, Gabrieli-Whitefield u. Dillon, 2016). Es dominierten die dorsolateralen Gebiete wie auch die medial-orbito­

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frontale Region. Diese Ergebnisse stehen in Übereinstimmung mit aktuellen Metaanalysen (z. B. Wise et al., 2017), die z. B. im dorsolateralen PFC und im ventromedialen PFC ein geringeres Volumen der grauen Substanz bei Depressiven aufzeigen konnten. Die nichtdepressiven Kontrollprobanden wiesen dagegen im Resting State hochsignifikant höhere Konnektivitäten in allen ausgewählten Regions of interest (ROIs) im Frontalhirnbereich auf. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass den dargestellten Veränderungen der Erlebnis- und Verhaltensebene hochsignifikante Konnektivitätsverschiebungen auf neurophysiologischer Ebene entsprechen. Die hier berichteten Befunde zeigen eine Konvergenz psychologischer und neurophysiologischer Veränderungsprozesse auf und weisen den Weg in Richtung einer Mehr-Ebenen-Perspektive auf depressive Störungen im Kontext eines interdisziplinären Forschungsansatzes (del Monte, 2017).

Einzelfallstudie einer depressiven Patientin – Psychotherapieprozessforschung mittels fMRT-Monitoring Die empirische psychoanalytische Therapieforschung weist eine große Erfahrung in der systematischen Auswertung klinischen Materials von Einzelfällen auf (z. B. Kächele et al., 2006; Gullestadt u. Wilberg, 2011). Vor einigen Jahren wurden erste Einzelfallstudien auch im Bereich der neurowissenschaftlichen Anwendung vorgelegt (Schiepek et al., 2009). Die Prozessforschung mit neurobiologischen Methoden steht jedoch noch ganz am Anfang. Im Folgenden wird abschließend eine Pilotstudie aus der eigenen Forschungswerkstatt skizziert. Das Ziel der Studie von Buchheim et al. (2013) war es, erstmals eine analytische Psychotherapie mit einer dysthymen Patientin im einzelfallanalytischen Design mithilfe repetitiver fMRT-Untersuchungen am Universitätsklinikum Ulm zu objektivieren. Verschiedene Ebenen der Beobachtung wurden integriert: die subjektive Einschätzung der Analytikerin und der Patientin, die objektive Auswertung von zwölf transkribierten Sitzungen anhand des Psychotherapy Q-Set (Jones, 1990), die Bindungsrepräsentation anhand des AAP (George u. West, 2012) sowie die zwölfmalige fMRT-Messung

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der Patientin mithilfe des Bindungsparadigmas (Buchheim et al., 2012a, 2012b) innerhalb eines Jahres. Die Behandlung war als niederfrequente analytische Langzeittherapie angelegt. Der experimentelle Beobachtungszeitraum betrug zwölf Monate, und die Datenerhebung wurde in regelmäßigen Zeitabständen, alle vier Wochen, durchgeführt. Die Untersuchung wies ein naturalistisches Design und damit einen explorativen Charakter auf (Labek, 2011). Die Patientin, eine 42-jährige Frau mit akademischer Ausbildung, litt innerhalb des Untersuchungszeitraums unter oszillierenden affektiven Zuständen. Beim Aufwachen am Morgen wusste sie, ob heute ein »leichter Tag« oder ein »schwerer Tag« sein würde. Die Stimmung an den »schweren Tagen« verhinderte, dass die Patientin konzentriert und erfolgreich arbeiten konnte. Sie fühlte sich depressiv und war »nicht in der Lage zu denken«. Diese stagnierende depressive Pathologie der Patientin sowie deren fragile und verletzliche Wahrnehmung von sich selbst und anderen waren wesentliche Aspekte der psychoanalytischen Behandlung in diesem Zeitraum. Nach den unabhängigen Dokumentationen der Analytikerin wurden folgende Themen als zentral für das psychodynamische Verständnis der Patientin bezüglich ihrer Behandlung im damaligen Beobachtungszeitraum formuliert: »Bei der depressiven Patientin bestand ein Zusammenhang zwischen der Symptomatik und einer schuldhaften Verarbeitung von Verlusten und daraus entstehenden starken Ängsten und Trauerprozessen. An den ›schweren‹ Tagen zeigten sich eine massive Denkhemmung und ein Unvermögen, Gedanken und Gefühle in den Therapiestunden zu benennen. Damit einher ging ein tief verankertes mangelndes Selbstwertgefühl. Während die Patientin an ›schweren‹ Tagen in Schweigen versank, redete sie an den ›leichten‹ Tagen expansiv und zeigte sich extrovertiert« (Buchheim et al., 2013). Innerhalb eines Jahres wurden insgesamt zwölf psychoanalytische Sitzungen direkt nach dem fMRT-Scan auf Tonband aufgezeichnet und mit dem Psychotherapy Q-Set (Jones, 2000) von zwei unabhängigen, verblindeten Beurteilern mit einer zufriedenstellenden Inter-Rater-­ Reliabilität ausgewertet. Die PQS-Analyse zeigte, dass die Stunden reliabel charakterisiert werden konnten. In den von der Analytikerin als »leicht« eingeschätz-

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ten Stunden war es der Patientin möglich, sich in der therapeutischen Dyade auf Beziehungsthemen einzulassen und mehr Emotionalität zuzulassen. Die sogenannten »schweren« Stunden zeichneten sich durch Schweigen und eine ängstlich-angespannte Stimmung, Rückzug und Distanzierung aus. Die Analyse der Bindungsrepräsentation verdeutlichte mentale Ressourcen (Denkprozesse, Handlungsfähigkeit, Hafen der Sicherheit), die voraussichtlich in den »leichten« Stunden zum Tragen kamen, aber auch unverarbeitete Trauer- sowie Deaktivierungsprozesse, die mit den Themen von Angst, Bestrafung, Schuld und innerem Rückzug assoziiert waren (Labek, 2011). Können klinische Daten aus den Therapiestunden und neuronale Aktivierungen reziproke Informationen über die mentalen und emotionalen Zustände auf der Basis der »leichten« und »schwierigen« Stunden­einschätzungen liefern? Dazu wurde das erprobte fMRT-­ Bindungsparadigma bei dieser Patientin individualisiert insgesamt zwölfmal innerhalb dieses Jahres eingesetzt (Buchheim et al., 2012a, 2012b). Die Patientin wurde bei jeder Messung gebeten, sich auf die AAP-Bilder und präsentierte persönliche und neutrale Sätze emotional einzulassen.

Die fMRT-Auswertung der Einzelfallstudie ergab ein signifikant höheres Signal in der Region des posterioren cingulären Kortex in den »schweren« Therapiestunden, was darauf hindeutete, dass die Selbstdistanzierung (Schweigen in den Stunden) als stabiler Abwehrmodus der Patientin auch auf neuronaler Ebene sichtbar wurde. Studien zeigten, dass der posteriore cinguläre Kortex moduliert wird, wenn sich Borderline-Patienten von negativ-valenten Bildern distanzieren sollten (Selbstdistanzierung; Koenigsberg et al., 2010) oder emotional dysreguliert waren (Döring et al., 2012; Lang et al., 2012). Die Selbstdistanzierung (Schweigen) als stabiler Abwehrmodus der Patientin in diesem Behandlungsjahr konnte auf neuronaler Ebene mit der Aktivierung dieser Region gezeigt werden. In dieser Studie wurde angestrebt, eine klinische Beschreibung des psychoanalytischen Prozesses innerhalb eines definierten Beobachtungszeitraums neuronal zu fundieren (Buchheim et al., 2013; Buchheim, 2017).

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Friedrich Stiefel, Barbara Stein und Wolfgang Söllner

Psychodynamische Aspekte im Konsiliar- und Liaisondienst

Psychoanalyse und Medizin Die Psychoanalyse ist als medizinische Heilbehandlung entstanden. Zunächst ging es Freud um ein Verständnis neurotischer Störungen, insbesondere der Hysterie, später der Angststörungen, der Zwangserkrankungen und der Melancholie. Die Diskussion der Entdeckung, Beschreibung und theoretischen Formulierung unbewusster Prozesse als Grundlage neurotischer Phänomene war zunächst auf die Psychiatrie beschränkt und die Diskussion unbewusster Konflikte drehte sich dabei ausschließlich um psychische Störungen. Im Jahr 1913 stellte Paul Federn erstmals schriftlich dokumentiert den Fall einer Patientin mit einer körperlichen Erkrankung (Asthma bronchiale) in der psychoanalytischen Mittwochsgesellschaft vor (Nunberg u. Federn, 1977). Freud war zunächst skeptisch und sehr zurückhaltend, die Erkenntnisse der Psychoanalyse auch auf die Entstehung bzw. den Verlauf primär körperlich begründeter Erkrankungen anzuwenden. Im Schriftwechsel mit dem deutschen Internisten Viktor von Weizsäcker, der die Beteiligung unbewusster Phänomene an der Entwicklung somatischer Krankheiten (zunächst der Tuberkulose bei jungen Frauen) und die Bedeutung dieser Phänomene für die Arzt-Patient-Beziehung systematisch aufgriff, formulierte Freud diese Skepsis, aber auch seine Offenheit, psychoanalytische Erkenntnisse auf die allgemeine klinische Medizin auszuweiten. Im Jahr 1932 schrieb er an von Weizsäcker: »Von solchen Untersuchungen [gemeint ist die Psychoanalyse bei körperlich Kranken, Anm. W. S.] musste ich die Analytiker aus erziehlichen Gründen fernhalten, denn Innervationen, Gefäßerweiterungen, Nervenbahnen wären

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zu gefährliche Versuchungen für sie gewesen, sie hatten zu lernen, sich auf psychologische Denkweisen zu beschränken. Dem Internisten können wir für die Erweiterung unserer Einsicht dankbar sein« (von Weizsäcker, 1932/1947, S. 6). Freud wollte damit die überprüfbare wissenschaftliche Ausrichtung der Psychoanalyse sichern und »wilde Spekulationen« verhindern. Ärzte wie Groddeck (1923/2011) hatten die Phänomene und die Begrifflichkeit des Unbewussten auf die Entstehung körperlicher Krankheiten angewandt und Behandlungsmethoden entwickelt, welche sich stark auf die Suggestion stützten. Die zweite Generation der Psychoanalytiker begann jedoch, sich systematisch wissenschaftlich mit unbewussten Phänomenen bei der Entstehung und dem Verlauf körperlicher Erkrankungen zu beschäftigen. Max Schur entwickelte die Theorie der Somatisierung und Resomatisierung und beschrieb diese am Fall einer Neurodermitiserkrankung (Schur, 1955), und Franz Alexander (1962) postulierte den Einfluss unbewusster Konflikte auf das damals neu entdeckte autonome Nervensystem (Sympathikus und Parasympathikus). Er lieferte damit eine der Grundlagen für die psychosomatische Forschung und die Emotionsforschung. Seine Anwendung dieser Theorien auf die Pathogenese verschiedener körperlicher Erkrankungen (die später sogenannten »holy seven der Psychosomatik«: Asthma bronchiale, Ulcus duodeni, Colitis ulcerosa, rheumatoide Arthritis, Hypertonie, Hyperthyreose und Neurodermitis) löste in der Folge jedoch heftige Kontroversen und Ablehnung in der wissenschaftlichen Medizin aus, welche zum Teil noch bis heute nachklingen (Boland, Rundell, Epstein u. Gitlin, 2017). Freud und von Weizsäcker legten jedoch auch die Grundlagen für ein Verständnis der unbewussten Aspekte der Arzt-Patient-­ Beziehung und der Heilbehandlung. Sie postulierten, dass der Kranke im Zustand der existenziellen Bedrohung unbewusst auf frühe Erlebniszustände regrediert, wie ein Kind Schutz und Trost bei einer Elternfigur sucht und dieses Interaktionsmuster auf den Arzt (und andere Heilberufe) überträgt. In seinem Werk »Der Arzt, der Patient und seine Krankheit« hat Michael Balint (1966/2010) die unbewussten Aspekte der Arzt-Patient-Beziehung und die Chancen und Gefahren, welche daraus für die Heilbehandlung entstehen, als

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Erster systematisch beschrieben. Balint und seine Frau Enid haben diese Erkenntnisse für die Supervision von Ärzten und Sozialarbeitern im Rahmen der sogenannten Balint-Gruppen (Balint, 1974) genutzt. Balint-Gruppen wurden in den 1960er und 1970er Jahren zu häufig genutzten Möglichkeiten der Reflexion der Arzt-Patient-Beziehung in der Medizin und der Ausbildung von Ärzten und anderen Gesundheitsberufen (Luban-Plozza, 1979; Söllner, Maurer, Mark-Stemberger u. Wesiack, 1992). Die Konsiliar-Liaison-Psychiatrie (KLP) entstand in den 1930er Jahren in den USA. Billings entwickelte den ersten Konsiliar-Liaison(KL)-Dienst in einem allgemeinen Krankenhaus in Denver, Colorado. Durch die Rockefeller Foundation wurde die Entwicklung der KLP tatkräftig gefördert, sodass in den 1960er Jahren KL-Dienste an den meisten akademischen Lehrkrankenhäusern in den USA eta­bliert wurden. Diese Entwicklung griff auf europäische Länder über, wo gleichzeitig in Deutschland aus integrativen psychosomatischen Ansätzen KL-Dienste entstanden (Pontzen, 1994; Söllner u. Stein, 2017). Ziel der KL-Arbeit war nicht nur, Kranke in internistischen oder chirurgischen Abteilungen fachärztlich mitzubehandeln, sondern den behandelnden somatischen Ärzten auch ein besseres biopsychosoziales Verständnis der Kranken und ihrer Krankheiten zu vermitteln. Diese didaktische Aufgabe drückt sich im Terminus »Liaison« aus. Einer der Pioniere der KLP, Jim Strain aus New York, formulierte dies so: »Consultation-liaison psychiatrists are much more teachers than care providers« (persönl. Mitteilung). Gerade im Fall schwieriger Interaktionen zwischen dem Patienten, seinen Angehörigen und dem Behandlungsteam ist die Reflexion und das Verständnis der unbewussten Anteile der Arzt-­ Patient-Beziehung von ausschlaggebender Bedeutung, um misslingende Interaktionen korrigieren zu können. In solchen Fällen kann der psychodynamisch ausgebildete KL-Experte im Gespräch mit dem Behandlungsteam auf unbewusste Muster der Interaktion hinweisen und gemeinsam mit dem Team überlegen, wie damit umzugehen ist.

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Besonderheiten der psychodynamisch orientierten Konsiliar- und Liaison-Psychiatrie/ -Psychosomatik (KLPP) Eine psychodynamisch orientierte Konsiliar-Liaison-­Psychiatrie und -Psychosomatik (KLPP) weist Besonderheiten auf, die in verschiedenen Bereichen zum Ausdruck kommen: (1) in den klinisch-therapeu­ tischen Rahmenbedingungen, (2) in den konzeptuellen Grundlagen der klinischen Arbeit, (3) im Verständnis des körperlichen Erlebens der Patienten, (4) im Umgang mit der Konfrontation von existenzieller Bedrohung, Sterben und Tod und (5) in der Gestaltung der Zusammenarbeit mit den in der Somatik tätigen Klinikern. Diese Besonderheiten werden im Folgenden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – diskutiert und mit Fallbeispielen vertieft. Die meisten Fallbeispiele stammen aus der psychoonkologischen Versorgung. Sie illustrieren jedoch Überlegungen und Vorgehensweisen, die ohne Weiteres auf die KLPP-Versorgung von Patienten mit anderen körperlichen Krankheiten übertragen werden können. Die Bezeichnung KL-Kliniker umfasst Personen aus verschiedenen Berufsgruppen (Psychiater, Psychosomatiker, Psychologen, Pflegepersonen, Sozialarbeiter, Körper- und Kunsttherapeuten).

Die klinisch-therapeutischen Rahmenbedingungen Selbstverständlich kennen alle KL-Kliniker die speziellen Arbeitsbedingungen, insbesondere den Status des Konsiliarius; die psychodynamisch orientierten Kliniker verstehen die für die Praxis relevanten Rahmenbedingungen gemäß ihrer eigenen theoretischen Ausrichtung. Der KL-Kliniker befindet sich in der Situation einer Triade, da er konsiliarisch beigezogen worden ist und nun als »Drittperson« wirkt. Triaden sind anspruchsvoller als Dyaden, sowohl in Bezug auf den höheren Komplexitätsgrad der Kommunikation (Söllner u. Lampe, 1997) als auch in Bezug auf die Beziehungskonstellation (Ludwig, Verdu u. Stiefel, 2011). Die Fähigkeit, die Triade zu erleben, ist ein wichtiger Entwicklungsschritt, der mit der Aneignung von Sprache eng verbunden ist. Das Kind kann erst dann lernen, das Objekt zu benennen, wenn es (etwa im Spiel mit beiden

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Eltern) die Fähigkeit erworben hat, ein Objekt und einen Elternteil zu integrieren. Der Schritt von der Dyade zur Triade ist anspruchsvoll. Diese Herausforderung kann daher konflikthafte psychische Reaktionen auslösen (Beispiel: Ferien zu dritt). Aus sozialer Sicht hat die Instanz des Dritten aber auch eine regulierende Funktion, beispielsweise als Drittperson bei Wettbewerben (der Schiedsrichter), bei Konflikten (der Paartherapeut) oder bei der Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen (das Gesetz). Der KL-Kliniker wird somit, bereits bevor er in Erscheinung tritt, auf eine spezifische Weise sowohl vom Patienten als auch vom zuweisenden Kliniker als eben diese Drittperson wahrgenommen und erlebt. So kann beispielsweise der »KL-Dritte« als Bedrohung erlebt werden: Der unter Zeitdruck stehende Somatiker kann mehr oder weniger bewusst befürchten, dass der KL-Kliniker mehr Zeit für den Patienten haben wird und einfühlsamer auf den Patienten eingehen kann, was wiederum dazu führen könnte, dass er vom Patienten bevorzugt wird. Eine ambivalente Haltung gegenüber dem KL-Kliniker oder ein Verzicht auf eine Konsultation kann die Folge sein. Beim Patienten kann das Hinzuziehen des KL-Klinikers das Gefühl auslösen, von seinem Arzt fallengelassen oder abgeschoben zu werden. Unter den Beteiligten kann somit die Triade Abwehrmechanismen wie Projektionen, Spaltungsphänomene oder manipulatives Agieren auslösen. Was bedeuten diese Überlegungen für die Klinik? Der psychodynamisch orientierte KL-Kliniker ist bereits vor der Konsul­tation sehr aufmerksam und versucht zu verstehen, wie er ins Spiel gebracht wird. Was ist der manifeste und der latente »triadische Wunsch« (Konsultationsgrund)? Wird der KL-Kliniker aufgrund einer sorgfältig gestellten Indikation beigezogen oder sind andere Motive erkennbar? Wie könnte die Konsultation von den Beteiligten erlebt werden? Was sagt die Anfrage für eine Konsultation über die Arzt-Patient-­ Beziehung und das medizinische Setting aus? Deutlich illustriert die folgende Episode das dahinterliegende Problem: Eine 30-jährige Patientin, bei der seit einigen Monaten eine progressive Multiple Sklerose diagnostiziert wurde, sagte zum KL-Psychiater, der ihr mitteilte, dass er bei ihr wenig Angst feststelle: »Ich habe keine Angst,

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aber mein Neurologe hat Angst, deswegen hat er Sie wahrscheinlich auch gerufen …«

An der Universitätsklinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie Innsbruck wurde eine qualitative Untersuchung zu den verschiedenen Motiven zur Inanspruchnahme des KL-Dienstes durchgeführt (Thiel, Söllner u. Schüßler, 2007). Konsekutive Konsile wurden in einer Fallreflexion im KL-Team auf die Zuweisungsgründe untersucht. Bei der Hälfte der Konsile fand das KL-Team, dass der auf dem Zuweisungsformular angegebene Grund plausibel war. Bei der anderen Hälfte ergaben sich aus dem Verlauf der Konsultation und der Gespräche mit den zuweisenden Ärzten und dem Stationsteam andere, verborgene Gründe. Diese wurden inhaltsanalytisch in Gruppen zusammengefasst und quantifiziert. Die folgenden Muster waren erkennbar: ȤȤ Der KL-Kliniker soll quasi als »Seelsorger« das Team entlasten, welches durch die Konfrontation mit dem Patienten und seiner Krankheit emotional sehr belastet ist. ȤȤ Der KL-Kliniker soll Patienten, mit denen das Stationsteam interaktionelle Schwierigkeiten hat, »übernehmen«, entweder im Sinne von Verantwortung oder auch ganz physisch im Sinne einer Verlegung auf die psychiatrische oder psychosomatische Station. Häufig sind dies Patienten, die mit der vorgeschlagenen Behandlung nicht einverstanden sind oder ärgerlich Kritik äußern. ȤȤ Der KL-Kliniker soll als »Schiedsrichter« z. B. im Fall ethischer Dilemmata oder Konfliktsituationen im Team fungieren. ȤȤ Der KL-Kliniker soll das Team von Schuldgefühlen entlasten, z. B. indem er den Patienten unterstützt, wenn eine Behandlung nicht erfolgreich war oder wenn dabei Fehler aufgetreten sind. Zu hinterfragen und zu verstehen, was die Konsultation motiviert hat, ist somit eine bedeutende erste Aufgabe des psychodynamisch orientierten KL-Klinikers. Dafür hat sich aus unserer Erfahrung der Ansatz des »szenischen Verstehens« (Argelander, 1970; Lorenzer, 1985, 2002) als hilfreich erwiesen. Die bewusste und unbewusste Interaktion zwischen den verschiedenen Akteuren (Patient, seine

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Angehörigen, Ärzte, Pflegepersonen, KL-Therapeut und weitere Behandler) kann wie auf einer Bühne in verschiedenen Szenen verstanden werden. Das »Zentrieren auf Interaktionsszenen« (Lorenzer, 1985) ermöglicht es, Hinweise auf unbewusste Wünsche und Ängste des Patienten und des Behandlungsteams zu erhalten (Oberhoff, 2002). Der KL-Kliniker ist dabei in einer »doppelten« Rolle: Einerseits kommt er von außen, was es ihm ermöglicht, reflexiv das szenische Geschehen zu erfassen; andererseits ist er Teil des Systems. Deshalb braucht er zur Reflexion seiner Beteiligung an der »Szene« die Hilfe von Kollegen, entweder in Form der regelmäßigen Reflexion der Arbeit in einer »internen Balint-Gruppe« im KL-Team oder in Form einer »externen« Supervision. In der Balint-Gruppe bzw. der Supervision wird aus den verschiedenen Szenen, den berichteten Gegenübertragungsreaktionen, dem biografischen »Material« des Patienten und den Informationen zum aktuellen Interaktionsgefüge und zum systemischen Hintergrund eine psychologische Gestalt (»Sinngestalt«) erarbeitet, aus der erste Hypothesen zu den unbewussten Interaktionsmustern abgeleitet werden können. Die Hypothesenbildung erfolgt als »Verstehen in kleinen Schritten […] einer sich immer wieder vollendenden Gestaltbildung« (Devereux, 1984, S. 40). Aufbauend auf diesen Überlegungen entstehen auch erste Ansätze für die Gestaltung der auf die Konsultation folgende Liaison-Arbeit. Eine Konsultationsanfrage, die beispielsweise durch eine negative (oder positive) Gegenübertragung (Ablehnung des Patienten; Wunsch, dass der Patient ohne jegliches Leiden seine Krankheit meistert etc.) oder durch das Unvermögen, psychische Reaktionen des Patienten auszuhalten, motiviert wurde, kann nur mit einer Supervision der Behandelnden erfolgreich beantwortet werden.

Die konzeptuellen Grundlagen der klinischen Arbeit Psychoanalytische Grundsätze gelten auch in der psychodynamisch orientierten KLPP. Zu ihnen gehört beispielsweise die Annahme, dass verschiedene Aspekte der Erkrankung nicht nur bewusst wahrgenommen werden, dass Abwehrmechanismen das psychische Gleichgewicht steuern oder dass bei kranken Menschen die Über-

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tragung intensiviert und Konflikte re-aktualisiert werden. Allerdings sind gewisse, auf psychoanalytischen Konzepten basierende, dia­ gnostische und therapeutische Interventionen nur begrenzt anwendbar oder bedürfen einer Anpassung an das somatische Setting. So kann sich beispielsweise im Verlauf einer psychotherapeutischen Behandlung der körperliche Zustand des Patienten verschlechtern. In diesem Fall wird eine einsichtsorientierte, eher konfrontative Therapie von einer unterstützenden Haltung abgelöst, in der die Verleugnung des Patienten als ein möglicher Umgang mit existenzieller Bedrohung und nicht als aufzulösendes Hindernis verstanden wird (Söllner, 2016). Auch kann der therapeutische Rahmen nicht immer als diagnostisches Mittel dienen, denn das psychotherapeutische Setting im Krankenhaus ist „porös“ und wird durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst, sodass nicht jedes Zu-spät-Kommen, frühzeitige Abbrechen oder Auslassen einer therapeutischen Sitzung psychodynamisch gedeutet werden kann. Obschon die therapeutische Kraft fester Rahmenbedingungen wichtig ist (eine Serie von festgelegten Sitzungen kann angstlösend wirken), wird häufig die Planung der Gespräche vom somatischen Setting oder durch den Zustand des Patienten bestimmt. Auch die Haltung des Therapeuten orientiert sich weniger an theoretischen Konzepten, sondern wird situativ mitbestimmt: Eine neutrale Haltung einzunehmen oder zu deuten, ist beispielsweise bei einem durch die Krankheit traumatisierten Patienten unvorstellbar. Mit anderen Worten: Psychoanalytische Konzepte, Werkzeuge und Haltungen müssen in der KL-Arbeit angepasst werden, was vom Therapeuten eine gewisse Flexibilität erfordert. Es ist auch zu akzeptieren, dass die meisten Patienten beim KL-Kliniker nicht primär eine psychotherapeutische Behandlung suchen. In einer Studie, die ein psychotherapeutisches Angebot an Krebskranken untersuchte (Verdu, Krenz, Ludwig u. Stagno, 2010), war rund die Hälfte der therapeutischen Gespräche durch den Wunsch der Patienten, sich mitzuteilen, geprägt (der KL-Kliniker in der Funktion des Zeugen), je ein Viertel suchte ein besseres Verständnis des eigenen Erlebens bzw. der mitmenschlichen Beziehungen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass nicht auch in sehr kurzen Interventionen oder in der Behandlung von Patienten mit sehr eingeschränkten Introspektionsmög-

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lichkeiten psychoanalytische Konzepte die Haltung des Therapeuten bestimmen. Das illustriert eine Fallstudie zur Funktion des psychodynamisch orientierten KL-Klinikers als Hilfs-Ich bei chronischen Schmerzpatienten (Verdu, Ludwig, Roussell, Torrent u. Stiefel, 2009).

Das körperliche Erleben des Patienten Viele Patienten, die von KL-Klinikern gesehen werden, hätten ohne körperliches Leiden wohl nie psychiatrische oder psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen. Die Erkrankung ist somit oft der Faktor, der ein stabiles Gleichgewicht zum Einsturz gebracht hat (siehe das unten aufgeführte Fallbeispiel). Die Erkrankung wird vom psychodynamisch orientierten KL-Kliniker als ein die aktuelle Biografie prägender Faktor und das Erleben der Erkrankung als durch die Biografie beeinflusstes Erleben begriffen. Es geht dabei – außer bei funktionellen Störungen wie dem Konversionssyndrom – weniger um die Symbolik der körperlichen Symptome als um das Verstehen, wie der Mensch aufgrund seiner biografischen Singularität mit der Erkrankung lebt. Dabei spielt die Narration und die damit möglich werdende Ordnung durch Sinnstiftung in einer durch Krankheit entstandenen chaotischen Situation eine bedeutende Rolle. Die Narration der Krankheit muss im weitesten Sinne als zwischenmenschliche Kohärenzbildung verstanden werden, sei es eine biografische, die Krankheit einbettende Narration, eine Laientheorie zur Erkrankung oder ein medizinischer Diskurs zum Geschehen. Ein eindrückliches Beispiel findet sich in den Kindheitserinnerungen des kranken und fiebernden Walter Benjamin: »Schmerz war wie ein Staudamm, welcher der Erzählung nur anfangs widerstand; er wurde später, wenn sie erstarkt war, unterwühlt und in den Abgrund der Vergessenheit gespült. Das Streicheln bahnte diesem Strom sein Bett. Ich liebte es, denn in der Hand der Mutter rieselten Geschichten, die ich danach hören durfte« (Benjamin, 1987, S. 39). Wie bedeutsam psychoanalytische Grundsätze wie die Bedeutung der Biografie, des Unbewussten, der Abwehr und der Rückkehr des Verdrängten für das Verstehen der Reaktion auf eine Erkrankung sind, zeigt folgendes Beispiel.

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Eine rund vierzigjährige Patientin mit Brustkrebs wurde nach einer Chemotherapie wegen einer Depersonalisationssymptomatik an den KL-Psychiater zugewiesen, nachdem sie die von einem anderen Psychiater vorgeschlagene psychopharmakologische Behandlung trotz hohen Leidensdrucks abgelehnt hatte. In den ersten fünf Sitzungen wurde sehr geduldig die Situation der Patientin und ihr subjektives Erleben der Erkrankung eruiert. Sie konnte manchmal minutenlang nur mitteilen, dass sie große Angst habe und Hilfe brauche. Sie berichtete, dass die Depersonalisation erstmals aufgetreten sei, nachdem sie den durch die Chemotherapie induzierten Haarausfall nicht mehr mit einer Perücke überdeckte und mit sehr kurzen nachgewachsenen Haaren einem ihr unbekannten Mann begegnete, der sie mit »Bonjour Monsieur …« ansprach. Seither litt sie in Intervallen immer wieder an dem Gefühl, nicht in ihrem Körper zu sein und »neben sich herzulaufen«. In den folgenden Gesprächen stellte sich heraus, dass sie weniger die Tatsache, als Mann angesprochen worden zu sein, erschreckte (sie hatte einen männlichen Habitus, und weder sie noch ihr Ehemann sahen darin ein Problem), sondern dass diese Worte sie an eine traumatische Szene ihrer Jugend erinnerte, die sie seither erfolgreich verdrängt hatte. Als sie zwölf Jahre alt war, verließ die Mutter völlig unerwartet und plötzlich die Familie, und der offensichtlich gänzlich überforderte und sicher psychisch auffällige Vater kam am nächsten Morgen in ihr Zimmer und schnitt ihr mit den Worten »Ich habe keine Zeit, dir die Haare zu richten; jetzt wirst du eine Frisur wie dein Bruder und ich haben, wir leben von nun an in einem Männerhaushalt!« ihre geliebten Zöpfe ab. Das traumatische Erlebnis und die damit verbundenen Gefühle der Scham hatte die Patientin lange Zeit verdrängt und mit einer beruflichen und privaten Überaktivität überdeckt. Unter dieser schmerzlichen Einsicht »re-personalisierte« sich die Patientin, und sie war zu einer vertiefenden psychodynamischen Psychotherapie motiviert, die in den nächsten drei Jahren mit wöchentlichen Sitzungen durchgeführt wurde.

Das weiter unten angeführte und diskutierte Fallbeispiel »Der kleine Soldat« (S. 259 ff.) illustriert vertiefend, wie eine Krankheit die Biografie und die Biografie das Krankheitserleben prägen kann und wie sinnstiftendes psychodynamisches Verständnis und Interventionen helfen können, eine Krise zu bewältigen.

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Die Konfrontation mit existenzieller Bedrohung, Sterben und Tod KL-Kliniker behandeln und betreuen häufig schwerkranke und sterbende Patienten. Die existenzielle Bedrohung geht mit Angst einher. Freud (1926d, S. 111 ff.) postulierte, dass diese Angst eine aus der frühen Kindheit herrührende primäre Angst vor dem Verlassenwerden reaktiviert. Im Lauf des Lebens entwickeln Menschen Abwehrmechanismen gegen diese Bedrohung in Form von Verleugnung, Projektion, Rationalisierung und Isolierung der begleitenden Affekte. Psychoanalytiker wie Frankl (1982) und Yalom (2004) haben weitere Abwehrmechanismen hinzugefügt, wie die Entwicklung von Allmachtsphantasien und die Suche nach einem Retter (nähere Beschreibung bei Söllner, 2018a). Yalom (2004) hat die daraus erwachsenden Reaktionen und Bedürfnisse existenziell bedrohter Menschen detailliert beschrieben. Es sind dies vor allem Bedürfnisse nach ȤȤ Sicherheit und Geborgenheit, ȤȤ Kontakt und Beziehung, ȤȤ Wissen und Sinn, ȤȤ Trost und Hoffnung. Die Angst der Patienten überträgt sich auch auf den Therapeuten. Nur wenn dieser mit der eigenen Angst umzugehen gelernt hat, kann er schwerstkranken und sterbenden Menschen ausreichend Sicherheit in einer haltenden therapeutischen Beziehung vermitteln. Dazu ist ein Selbsterfahrungsprozess nötig, der existenzielle Fragen aufgreift und die eigenen Bedrohungsgefühle thematisiert. Es ist im Verlauf der klinischen Arbeit aber immer wieder nötig, dies in der eigenen Supervision bzw. in der Balint-Arbeit im KL-Team zu reflektieren (Bauriedl, 1985). Um die Bedürfnisse der Patienten nach Sinn aufgreifen zu können, ist eine eigene Auseinandersetzung mit Sinnfragen und existenziellen Themen nötig (Vogel, 2013). Dies erleichtert den Umgang mit dem Bedürfnis existenziell bedrohter Menschen nach Hoffnung. Hoffnung ist etwas zutiefst Subjektives. Sie richtet sich zunächst oft auf das pure Überleben, im Verlauf einer schweren Erkrankung aber immer öfter auf ein möglichst gutes Leben mit der Erkrankung, auf

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Trost in haltenden Beziehungen und schließlich auf ein menschenwürdiges Sterben. Gutberlet formulierte dies in einem Aufsatz sehr treffend so: »Es geht um das Aufspüren aller verfügbaren Ressourcen. Letztendlich geht es darum, dem Leben außerhalb der Erkrankung eine Chance zu geben« (2009, S. 17). Kulturell geprägte spirituelle und religiöse Einstellungen und Überzeugungen spielen dabei für viele Menschen eine bedeutende Rolle. Hier kann die Beiziehung eines Seelsorgers hilfreich sein. In vielen Fällen – und nicht nur bei religiös nicht gebundenen Menschen – hat aber der KL-Therapeut auch solche seelsorglichen Aufgaben zu erfüllen und muss mit dem Patienten in einen Dialog über existenzielle Fragen treten, ohne diesem seine eigenen Überzeugungen überzustülpen. Dies erfordert von ihm eine stärkere persönliche Öffnung und eine aktivere therapeutische Haltung. Yalom (1980) hat sie als »Transparency« bezeichnet.

Die Zusammenarbeit mit den in den somatischen Bereichen tätigen Klinikern Eine letzte hier besprochene Besonderheit der psychodynamisch orientierten KLPP betrifft die Liaison-Aktivität. Die Liaison kennt sehr unterschiedliche Formen: kurze Besprechungen der Situation des Patienten mit dem zuweisenden Kollegen oder Teilen des Behandlungsteams, gemeinsame interdisziplinäre Visiten, Einzelund Gruppensupervision mit Mitgliedern des Teams, Kommunikationstraining für Kliniker, Fortbildungen zu psychischen Aspekten körperlicher Erkrankung, Implementierung von Behandlungsempfehlungen etc. Exemplarisch wird hier eine zentrale Liaison-Aktivität, die Gruppen- und Einzelsupervision, diskutiert. Die psychodynamisch orientierte Supervision arbeitet mit denselben konzeptuellen Grundlagen, die auch bei psychotherapeutischen Interventionen angewandt werden. Entscheidend ist der zeitliche Rhythmus: wöchentliche, individuelle Supervisionen eröffnen andere Möglichkeiten als monatliche Gruppensituationen mit einem Team, das Personalwechseln unterworfen ist. Auch hier wirkt der KL-­Therapeut als Drittperson, welche die Narration der Kliniker über den Patienten stimuliert.

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Zu den häufigen Themen in der Gruppensupervision gehören: übermäßige Identifikation mit dem Patienten, Schuldgefühle bei negativer Gegenübertragung, zu hohe Selbstansprüche der Kliniker bei strafendem Über-Ich oder ein von der Realität entferntes IchIdeal und Ideal-Ich, Umgang mit Trennung oder Schwierigkeiten mit dem Erleben von Grenzen (der medizinischen Behandlung, des Lebens, bei Patienten, die sich der Behandlung verweigern; Stiefel u. Guex, 2008). Die Gruppensupervision erfüllt verschiedene Funktionen und verfolgt je nach Situation unterschiedliche Ziele, wie die Förderung des Zugangs zu Gefühlen und emotionalem Ausdruck, den Abbau von Abwehr und die Ermöglichung von Einsichten, den Kampf gegen die Einsamkeit und das Fördern von Gruppensolidarität sowie ein verbessertes Verständnis des Patienten und eine wachsende Fähigkeit, auch als schwierig empfundenen Patienten empathisch zu begegnen. In einem Hospiz wurde dem Supervisor die Situation einer kürzlich verstorbenen Patientin mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS – eine unheilbare neurologische Erkrankung, die mit einer fortschreitenden Lähmung einhergeht) vorgestellt. Die Frau war während drei Monaten hospitalisiert. Das war in diesem Hospiz eine ungewöhnlich lange Zeit, da die meisten Patienten hier an fortgeschrittenen Tumorerkrankungen leiden und nach der Ankunft relativ schnell sterben. Zu Beginn der Supervision wurde die Patientin wiederholt von den Klinikern für ihren tapferen Kampf gegen die Krankheit gelobt. Der Supervisor stellte sodann etwas provokativ die Frage, weshalb denn diese Situation in der Supervision vorgestellt würde, da ja doch alles bestens verlaufen sei. Nach einem Moment des betretenen Schweigens sagte eine Hilfspflegerin: »Mich hat diese Frau manchmal echt genervt.« Ermutigt und eingeladen, unangenehme Gefühle und Geschehnisse an- und aus­zusprechen, teilte sie weiter mit, dass die Patientin sehr fordernd gewesen sei, wenig Verständnis dafür hatte, dass auch andere Patienten zu betreuen waren, und dass sie offenbar sehr unter Trennungsängsten litt, was sich durch wiederholtes Mobilisieren der Pflegenden für Kleinigkeiten manifestierte. In der Folge stimmten auch andere Teilnehmer dieser Einschätzung zu, und der Zorn gegenüber der Patientin und die damit verbundenen Schuldgefühle, welche als zensurierende

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Kräfte die anfängliche Verdrängung der Wut organisiert hatten, konnten zum Ausdruck gebracht werden. Die Betreuer betonten, wie sehr sie sich in der Begegnung mit dieser Patientin beherrschen mussten, und versicherten, dass es nie zu einem bösen Wort gekommen sei. Auf die Frage des Supervisors, wie die Patientin denn verstorben sei, wurde mitgeteilt, dass sie in eine neurologische Klinik mit besseren therapeutischen Möglichkeiten überwiesen worden sei, wo sie drei Tage später verstarb. Die ironische Bemerkung des Supervisors »also eine völlig uneigennützige Verlegung, ganz im Dienste der Patientin« wurde verstanden, und das Team konnte erkennen, dass die Verlegung ein aggressiver Akt und ein Ausagieren von Ärger und Wut war. Die abschließende Diskussion handelte vor allem von der Gefahr, negative Gegenübertragungen zu zensurieren und von den Unterschieden zwischen Wutgefühlen und aggressiven Gedanken einerseits, und deren Umsetzung in Wort und Tat andererseits, Unterschiede, die psychisch nicht immer wahrgenommen werden. Das hat zur Folge, dass Fühlen und Denken wie Aussprechen und Handeln mit derselben Vehemenz bestraft werden. Dabei konnte auch besprochen werden, wie wichtig es ist, Gegenübertragungen zu erkennen, und wie das Team der Patientin respektvoll hätte Grenzen setzen können.

In der Einzelsupervision ist es – aufgrund der im Vergleich zur Gruppe weniger stark auftretenden narzisstischen Herausforderungen – oft einfacher, die Gegenübertragung zu thematisieren. So sind Kollusionen, also sowohl beim Patienten als auch beim Kliniker vorhandene, ähnliche unbewusste und ungelöste Probleme, sehr oft die Motivation für eine Einzelsupervision (Stiefel, Nakamura, Terui u. Ishitani, 2017). In der Einzelsupervision können auch biografische Elemente der Kliniker zur Sprache kommen. Bei sehr eingreifenden Erlebnissen, die sich auf die klinische Arbeit negativ auswirken, können Kliniker motiviert werden, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dies war beispielsweise bei einer jungen Ärztin der Fall, deren traumatischer Verlust des Vaters in jungen Jahren sich auf ihre klinische Arbeit negativ auswirkte, unter anderem durch einen therapeutischen Übereifer in der Behandlung von kranken Eltern mit kleinen Kindern. Kollusionen können positiv oder negativ sein. Bei positiven Kollusionen wird gemeinsam in die

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gleiche Richtung agiert, negative Kollusionen zeichnen sich durch Opposition zwischen Patient und Kliniker aus. Als Beispiel kann die Palliativmedizin dienen, wo Kollusionen – aufgrund der bei sterbenden Patienten vorherrschenden existenziellen Themen – in der Supervision häufig diskutiert werden. Es kann bei den gemeinsamen ungelösten Themen um Trennung und Verlust, Nähe und Abhängigkeit oder um unklare Grenzsetzungen gehen. Zur Illustration wird im Folgenden eine in einer regelmäßigen Supervision diskutierte archetypische Kollusion beschrieben. Sie wurde zusammen mit einer weiteren in der Palliativmedizin archetypischen Kollusion in einer anderen Arbeit vertieft besprochen (Stiefel et al., 2017). Ein 62-jähriger geschiedener und kinderloser Mann, am Flughafen als Luftüberwacher tätig, wurde wegen Atemnot bei fortgeschrittenem Stadium eines Adenokarzinoms der Lunge hospitalisiert. Der sehr höfliche und immer lächelnde Patient veränderte sich plötzlich, nachdem er durch den behandelnden Arzt informiert wurde, dass der maligne Pleura­erguss massiv zugenommen hatte. Er machte in der Nacht gegenüber der Pflegenden belästigende Bemerkungen sexuellen Charakters. Darauf angesprochen antwortete er dem behandelnden Arzt, dass er davon geträumt habe, den Verstand zu verlieren, worauf der Arzt nicht weiter einging. In der Supervision teilte der Arzt mit, dass es für ihn sehr schwierig sei, den Patienten mit dem Geschehenen zu konfrontieren und ihn auf seinen psychologischen Zustand anzusprechen, da der Patient keinerlei Emotionen zeige und sich weiterhin sehr höflich und distanziert verhalte. Der Supervisor merkte an, dass ein Kontrollbedürfnis in Zeiten der Bedrohung ein wichtiges Thema sei, sowohl für die Patienten als auch für die Kliniker. Diese Bemerkung begleitete den Arzt in den folgenden Tagen und er berichtete in der nächsten Supervision, dass er den Eindruck habe, selbst ein sehr höflicher und immer lächelnder Arzt zu sein, für den alles unter Kontrolle zu sein scheine. Er fügte hinzu: »Besonders in Zeiten, in denen ich selbst eine Bedrohung erlebte, die ich in den letzten Wochen verleugnet habe« (ein gesundheitliches Problem, das sich inzwischen als harmlos erwiesen hatte). Zusammengefasst ermöglichte die Supervision zu verstehen, dass dieser Patient unter sehr großen Todesängsten litt, die er so gut wie

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möglich zu beherrschen versuchte, und dass die Mitteilung der Verschlechterung seines Gesundheitszustands und die verstärkte Bedrohung seine Möglichkeiten der Kontrolle überschritten und ihn aus dem Gleichgewicht warfen (zweimaliger drohendender Kontrollverlust: die Aufhebung der natürlichen Hemmungen und der Traum). Gleichzeitig realisierte der behandelnde Arzt in der Supervision, dass auch er kontrollierende Charakterzüge hat und er mit dem Patienten die Art und Weise, mit Todesängsten umzugehen (Verleugnung), teilt. In einer zweiten Supervisionssitzung berichtete er: »Ich habe meine Art, Distanz zu gewinnen: hier der gesunde Arzt und dort die kranken und sterbenden Patienten.« Die negative Folge dieser eigentlich positiven – da von einem mit dem Patienten übereinstimmenden Verhalten geprägten – Kollusion war, dass die hinter der höflichen Fassade verborgene große Angst des Patienten vor Kontrollverlust und drohender Desintegration nicht beachtet und die Auseinandersetzung damit durch Patient und Arzt geschickt vermieden wurde. Der Arzt äußerte am Ende der Supervisionen, dass er gelernt habe, besser auf Patienten einzugehen, eine Erfahrung, welche von einer gewissen Angst begleitet blieb, aber auch mit einer größeren beruflichen Zufriedenheit verbunden war.

Supportive therapeutische Haltung im KL-Dienst Psychotherapie mit schwer kranken und existenziell bedrohten Menschen erfordert zunächst eine unterstützende Funktion des Therapeuten. Jede schwere Krankheit und jede körperliche Bedrohung führen zu Angst und Ohnmachtsgefühlen und als Reaktion darauf zumindest phasenweise zu einer mit Wünschen nach Schutz, Geborgenheit und Heilung verbundenen Regression. Ärzte und Psychotherapeuten werden dabei unbewusst wie die allmächtigen Elternfiguren der Kindheit erlebt, bei denen sich der Patient aufgehoben und geschützt fühlte. Es stellt sich so sehr rasch eine idealisierende Übertragungssituation ein. Diese Idealisierung kann in eine Enttäuschung und in Wut umschlagen, wenn die Wünsche und Erwartungen nach Heilung nicht erfüllt werden (Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene in der psychotherapeutischen Arbeit mit körperlich Kranken werden ausführlich bei Rodewig, 1995, und bei Söllner, 2018a, diskutiert). Diese Schutzbedürftigkeit und regressive

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Tendenz der Patienten erfordert von KL-Therapeuten eine zugewandte supportive Haltung. Er begegnet dem Patienten mit Interesse, Offenheit und Anteilnahme und vermeidet eine distanzierte diagnostische Haltung. Damit fördert er eine positive Übertragungsbeziehung, welche die Basis für ein rasches Arbeitsbündnis und die Reduktion von Angst ist. Manchmal ist es nötig, stark durchbrechende und frei flottierende Ängste mit speziellen Techniken, z. B. der Arbeit mit Symbolen, Metaphern und mit imaginativen Techniken aufzufangen, die auch aus der Traumatherapie bekannt sind (Reddemann, 2004; Wentzlaff, Gutberlet u. Söllner, 2018), oder sie medikamentös zu beeinflussen. In speziellen angsterzeugenden Situationen (z. B. während der Chemotherapie oder der Knochenmarktransplantation) hat sich der zusätzliche Einsatz von Elementen der Musiktherapie und der Kunst- und Gestaltungstherapie bewährt (vgl. Söllner, 2018b). In der Praxis verschwimmen jedoch oft die Grenzen zwischen einem supportiv-haltenden und einem aufdeckenden Vorgehen, insbesondere wenn die Krankheitsverarbeitung durch überdauernde interpersonelle Konfliktthemen geprägt ist. Das Ansprechen und die Klärung zugrunde liegender Konflikte beruhen dabei aber immer auf einer unterstützenden Grundhaltung des Therapeuten und vermeiden eine zu starke Konfrontation zumindest in krisenhaften Phasen der körperlichen Erkrankung und ihrer Behandlung. Das folgende Fallbeispiel verdeutlicht ein solches Vorgehen in der KLPP.

Fallbericht »Der kleine Soldat« und Diskussion Der folgende Fallbericht wurde bereits an anderer Stelle publiziert (Ludwig et al., 2011). Er wird hier jedoch durch zusätzliche Informationen erweitert, aus psychodynamischer Sicht vertieft diskutiert und dient als Grundlage, um eine psychodynamische KL-Kurzintervention, den sogenannten Psychodynamic Life Narrative (Viedermann u. Blumberg, 1993; Viederman, 2002), vorzustellen. Frau S. nimmt das im Rahmen einer Studie (Ludwig et al., 2014) an alle onkologischen Patienten gerichtete Angebot einer Kurztherapie mit 16 geplanten Sitzungen an. Bei der Patientin, verheiratet und Mut-

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ter zweier Jugendlicher, sind vor vier Monaten Metastasen entdeckt worden, ohne dass der Primärtumor gefunden wurde. Zum Zeitpunkt des Erstgesprächs hat Frau S. bereits zwei Chemotherapiezyklen beendet. Die Patientin, klein, jungenhaft, mit kurzen Haaren, kommt ohne Umschweife auf ihre Erkrankung und die damit verbundenen Gefühle zu sprechen. Als das Schlimmste empfinde sie die Angst und Ungewissheit darüber, dass der Primärtumor nicht gefunden wurde. Gleichzeitig teilt sie mit, dass sie wütend sei und sich »vom Leben ungerecht behandelt« fühle, da sie trotz tadelloser und gesunder Lebensführung an Krebs erkrankt sei. Seit der letzten Chemotherapie, von der sie sich langsam erhole, merke sie, dass sie es nicht mehr schaffe, ihr Leben wie bisher weiterzuführen. Sie könne sich nicht mehr um die Familie kümmern und habe keine Kraft zu kochen oder einkaufen zu gehen. Sie versuche, die Nebenwirkungen der Chemotherapie zu ignorieren, sich nicht gehen zu lassen, scheitere aber an den Aufgaben, die sie sich stelle, und fühle sich dabei unnütz und träge. Als Frau S. zur zweiten Therapiesitzung kommt, hat sich die psychische Symptomatik verstärkt: Angst, Wut und hoher Erwartungsdruck lassen sie mittlerweile kaum schlafen. Auf die Frage, was zwischenzeitlich vorgefallen sei, wusste die Patientin zuerst keine Antwort. Nachdem der Zeitpunkt der Verstärkung ihrer Symptome zeitlich genauer eingeschränkt werden konnte, erzählte sie jedoch, dass sie sich dazu durchgerungen habe, ihre alleinstehende Mutter, die eine Autostunde entfernt auf dem Land wohne, anzurufen, um ihr mitzuteilen, dass sie angesichts der mit der Chemotherapie verbundenen Erschöpfung in der nächsten Zeit nicht wie gewöhnlich zu Besuch kommen könne. Die Reaktion der Mutter, die fragte »Wer wird sich jetzt um das Heizöl kümmern, wenn du nicht kommst?«, habe sie völlig aus der Fassung gebracht und dazu geführt, dass sie die Mutter angeschrien und das Telefonat dann ohne Verabschiedung abgebrochen habe. Sie habe sich gar nicht wiedererkannt. Dies sei das erste Mal in ihrem Leben gewesen, dass sie die Fassung verloren habe und derart böse mit ihrer Mutter gewesen sei. Seither sei sie von noch größeren Ängsten und Selbstvorwürfen geplagt. Die Therapeutin lenkte in der Folge das Gespräch auf die Beziehung zur Mutter, die familiären Verhältnisse, in denen die Patientin aufgewachsen ist, und wie sie ihre Familie erlebe. Frau S. berichtete, dass sie aus armen Verhältnissen stamme und dass der Vater, ein im Straßenbau

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tätiger Arbeiter, an einem Schlaganfall gestorben sei, als die Patientin 13 Jahre alt war. Über diese schmerzlichen Erlebnisse sei in der Familie nicht gesprochen worden. Die Mutter – Arbeiterin in der Uhrenindustrie – musste in der Folge mit kleinen Nebenverdiensten die durch den Tod des Ehemanns aufgetretenen finanziellen Verluste kompensieren. Die Patientin habe auf vieles verzichten müssen, sie habe sich nie beklagt und einfach »auf die Zähne gebissen« und wie ihre Mutter »nach vorne geschaut«. Im Dorf sei ihre Mutter als »tüchtige Witwe« anerkannt worden, und von der Patientin selbst habe man vom »kleinen, tapferen Soldaten« gesprochen, aber weiter habe sich niemand um ihr Wohl oder Leid gekümmert. Als kleiner, tapferer Soldat habe sie auch weiterhin ihr Leben geführt. Neben ihrer Arbeit als Theaterkassiererin – ein mit einer Familie nur schwer zu vereinbarender Beruf – habe sie sich um ihren Mann, die Kinder und um die an Alzheimer erkrankte Schwiegermutter jahrelang gekümmert und in letzter Zeit auch oft ihrer Mutter bei administrativen Aufgaben wie der Steuererklärung und dem Bezahlen von Rechnungen beigestanden. Zusätzlich habe sie sich beim Organisieren von Wohltätigkeitsveranstaltungen in ihrer Wohngemeinde engagiert. Mit diesen Informationen kommentiert die Therapeutin die zwei markanten Lebensereignisse und schließt sie wie zwei Enden einer Kette zusammen: die Kindheitserfahrungen und die Erfahrungen mit der gegenwärtigen Krebserkrankung. Frau S. kann so erkennen, dass sie ihre Krebserkrankung wie ein kleiner, tapferer Soldat zu bewältigen versucht (nach vorne schauen und arbeiten) und – als ihr dies nicht gelingen mag und sie an Grenzen stößt – sie Angst und Wut erlebt und das Gefühl, vom Leben trotz mustergültiger Anstrengungen bestraft zu werden. Als ihre Mutter mit ihrer Bemerkung am Telefon an den unfehlbaren Soldaten appelliert, kommt das unter großer Anstrengung aufrechterhaltene Gleichgewicht ins Wanken, und die Patientin erschrickt über sich selbst. Die Therapeutin vermittelt der Patientin, dass ihr Erleben angesichts ihrer vom Geben geprägten Biografie durchaus verständlich sei und dass ihre Reaktion gegenüber der Mutter als legitime Selbstverteidigung und somit gesunde Reaktion angesehen werden könne. Die Patientin beruhigt sich während der Sitzung und konnte im weiteren Verlauf – bei verständlicherweise fortbestehender Angst um den Ausgang ihrer Erkrankung – ohne Schuldgefühle und mit weniger Wut etwas fürsorglicher mit sich umgehen.

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Psychodynamic Life Narrative Ein für die KLPP interessanter psychotherapeutischer Ansatz, auf dem auch die Intervention im bereits erwähnten Fallbericht beruhte, stammt von Milton Viederman, einem Psychoanalytiker, der als KL-Psychiater im New York Hospital wirkte. Die von ihm als Psychodynamic Life Narrative (Viederman, 1984; Viederman u. Blumberg, 1993) benannte Kurzintervention bei körperlich Kranken beruht auf der Annahme, dass Krankheit als Krise verstanden werden kann, die sich durch ein gestörtes psychisches Gleichgewicht, Regression mit intensivierter Übertragung und Re-Aktualisierung alter Konflikte sowie dem Bedürfnis, sich den Lebenslauf in Erinnerung zu rufen, auszeichnet. Das Ziel der therapeutischen Kurz­intervention – die sich in der Regel auf zwei bis drei Sitzungen beschränkt – besteht darin, dem Patienten die psychodynamische Logik seiner Reaktion auf die Erkrankung zu vergegenwärtigen. So wurde im bereits beschriebenen Fallbeispiel die Wut der Patientin als verständliche Reaktion der Selbstverteidigung gedeutet. Die Intervention verschafft somit ein Gefühl von wiedergefundener Kontrolle, sie fördert die therapeutische Allianz, da sich der Patient verstanden fühlt, sie erlaubt dem Patienten, sich besser zu akzeptieren, und mindert bestrafende Über-Ich-Einflüsse. Sie befriedigt regressive Bedürfnisse nach Schutz und Zuwendung, denn der Therapeut zeigt sich aktiv, interessiert und engagiert und vermittelt dem Patienten eine gewisse Anerkennung seiner bisherigen Leistungen. Viederman nennt als weiteres Ziel, dass der Patient verstehen lernen soll, dass die Erkrankung zwar unausweichlich ist, nicht aber seine Reaktion auf die Erkrankung. Da in der KLPP in vielen Situationen die zeitlichen Rahmenbedingungen sehr beschränkt sind, ist der Psycho­ dynamic Life Narrative eine besonders geeignete psychotherapeutische Kurzintervention.

Psychodynamisch orientierte Forschung in der KL-Psychiatrie und Psychosomatik Wir haben weder die Absicht noch die Möglichkeiten, in diesem Kapitel eine Übersicht zu den Forschungsarbeiten mit einer psy-

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chodynamischen KL-Perspektive zu verfassen. Es geht hier lediglich darum, einige kritische Gedanken zu diesem Thema zu formulieren. Die Forschung im Bereich der KLPP hat sich in den letzten Jahrzehnten etabliert, es wurden verschiedene wissenschaftliche Fachzeitschriften gegründet, und die Beiträge mit psychosozialen Inhalten in somatischen Fachzeitschriften zeugen von der weiten Verbreitung und Akzeptanz dieser relativ jungen Disziplin. Auf Europäischer Ebene wurden Verbundstudien zur Versorgungslage der KLPP durchgeführt (Herzog, Creed, Huyse, Malt, Lobo u. Stein, 1994; Huyse et al., 1999; Huyse et al., 2000; Stiefel et al., 2006). Aufbauend auf den Ergebnissen dieser Studien wurden in Deutschland und in den Niederlanden Praxisleitlinien für die Etablierung und die Qualitätsstandards von KL-Diensten konsentiert und publiziert (Herzog, Stein, Söllner u. Franz, 2003; Leentjens, Boenink u. van der Feltz-Cornelis, 2009). Einzelne medizinische Fachgebiete, wie die Onkologie oder Palliativmedizin, zeichnen sich dabei durch eine außerordentlich rege KL-Forschungsaktivität aus und haben eigene, spezialisierte Journale. Die wissenschaftlich untersuchten Fragestellungen sind vielfältig und reichen von psycho-biologischer Forschung über epidemiologische Untersuchungen bis zur Evaluation psychosozialer und psychotherapeutischer Interventionen. Was unseres Erachtens ein Schattendasein fristet, ist (1) die KL-Forschung mit einer psychodynamischen Sichtweise, (2) die qualitative Forschung und (3) Forschung, die nicht den Patienten und dessen Betreuung, sondern den Kliniker zum Gegenstand haben. Wir werden diese drei Problemfelder kurz diskutieren. Publikationen aus dem Bereich des psychodynamisch orientierten KLPP sind in der Literatur untervertreten. Dies hat verschiedene Gründe. So akzeptieren medizinische Fachzeitschriften nur empirische Studien oder Übersichtsartikel (Reviews), lehnen jedoch theoretisch-konzeptuelle Artikel ab und sind auch für klinische Berichte (inklusive Fallberichte) selten offen. Viele psychodynamisch orientierte KL-Kliniker haben daher ihre akademische Karriere mit Forschungsprojekten ohne psychodynamische Inhalte konstruiert. Dazu kommt, dass psychodynamisch orientierte KL-Kliniker oft wenig motiviert sind zu forschen. Die Komplexität der sie interessieren-

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den Themen, man denke an Übertragung oder Abwehr, erschweren auch Forschungszugänge, während beispielsweise psychometrische Studien relativ einfach durchzuführen sind. Qualitative Forschungsmethoden sind besser geeignet, um komplexere psychodynamische Themen zu erforschen. Solche Studien sind anspruchsvoll. Sie erfordern Kompetenz und Erfahrung in qualitativer Methodik und oft auch eine (idealerweise langfristige) Zusammenarbeit mit Fachleuten aus dem Bereich der Sozialwissenschaften. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Gutachter von Zeitschriften gegenüber qualitativen Studien negativ eingestellt sind und manche Journale es sogar prinzipiell ablehnen, qualitative Studien zu publizieren. So weist eine prestigeträchtige medizinische Fachzeitschrift in den Hinweisen für Autoren darauf hin, dass die Zeitschrift qualitative Studien nicht mehr publiziere, weil diese sehr selten durch andere Zeitschriften zitiert würden (!). Die Zahlengläubigkeit ist anscheinend so weit fortgeschritten, dass die Einsicht in die Abhängigkeit der Methodik von der Fragestellung verloren geht. Wir wissen um die Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen in der Medizin und ganz speziell im Bereich der (KL) Psychiatrie und Psychosomatik, was unter anderem durch das Placebophänomen oder die Arbeiten zu den Effekten der therapeutischen Allianz illustriert wird. Zwischenmenschliche Beziehung bedeutet aber auch, dass der Kliniker seinen Teil in die Beziehung einbringt. Dennoch sind Arbeiten, die die Person, die Einstellungen und die psychischen Reaktionen des Klinikers zum Gegenstand der Forschung haben, beispielsweise seine Abwehr oder seine Gegenübertragung, sehr selten (Söllner u. Lampe, 1997; Jiménez et al., 2012; Söllner, 2018a). Gerade die psychodynamische Perspektive könnte hier einen Beitrag leisten, um dieses vernachlässigte und klinisch sehr bedeutende Thema der Forschung zugänglich zu machen. Dies könnte die reduktionistisch operierende Forschung über die Arzt-Patient-Kommunikation etwas beleben. Mit anderen Worten: Psychodynamische Forschungsansätze sind in der KL-Literatur eine Rarität, hätten aber das Potenzial, einen wesentlichen Beitrag zu zentralen klinischen Fragen zu leisten. Dafür wäre es wünschenswert, dass psychodynamisch orientierte KL-Forscher vermehrt mit Fachleuten aus der psychoanalytisch-psychodynami-

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schen Psychotherapieforschung und aus den Sozialwissenschaften zusammenarbeiten.

Psychodynamisch orientierte Lehre in der KL-Psychiatrie und Psychosomatik Die Mitwirkung von KL-Klinikern an der Ausbildung von Medizinstudenten kann diesen einen sehr praxisnahen und lebhaften Einblick in die klinische Medizin und insbesondere in die Bedeutung eines ganzheitlichen biopsychosozialen Ansatzes in der Medizin vermitteln (Voineskos, Hsu u. Hunter 1984; Söllner et al., 1992; Lobo et al., 2012). Wie bereits skizziert, hat der Liaison-Aspekt der Arbeit im KL-Dienst auch die Aufgabe, Ärzte, Pflegende und andere Fachleute aus den verschiedensten klinischen Bereichen hinsichtlich der psychosozialen Aspekte von Krankheit und der Arzt-­PatientKommunikation fortzubilden. Dies geschieht primär durch Rückmeldungen und Fallbesprechungen im Rahmen der täglichen Zusammenarbeit. Balint-Gruppen und psychodynamisch orientierte Supervision wird vor allem für Teams von Stationen angeboten, in denen viele schwerkranke und chronisch kranke Patienten behandelt werden. Sie dienen nicht nur dem vertieften Verständnis der Patienten sondern auch der Psychohygiene der dort Tätigen (Gutberlet u. Söllner, 2008). Daneben haben sich aber auch strukturierte Fortbildungskurse als sinnvoll und effektiv erwiesen. An verschiedenen Zentren wurden solche Programme für Klinikärzte eingerichtet (Langewitz, Eich, Kiss u. Wössmer, 2007; Söllner, Gutberlet, Wentzlaff, Faulstich u. Stein, 2007). Insbesondere im Bereich der Onkologie wurden in breiterem Maße Communication Skills Trainings etabliert, die sich als wirkungsvoll erwiesen haben (Stiefel et al., 2010; Barth u. Lannen, 2011). Je nach Orientierung der Lehrenden spielen dabei psychodynamische Aspekte der Arzt-/Pflegenden-Patient-Beziehung in der Theorievermittlung und in den Fallreflexionen eine wesentliche Rolle. Leitlinien zur Weiterbildung von KL-Klinikern messen dem Verstehen der unbewussten Anteile der multiplen Interaktionen eben-

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falls Bedeutung bei (Söllner, Creed u. EACLPP Workgroup on Training in C-L, 2007). Kurse für KL-Therapeuten enthalten neben spezifischen klinischen Themen auch didaktische Elemente zum Verstehen systemischer und szenischer Elemente der Interaktionen im KL-Dienst (Maislinger, Rumpold, Kantner-Rumplmair, Stelzig u. Riessland-­Seifert, 2007; Fritzsche et al., 2009). In der Praxis werden diese in den Fallreflexionen und Balint-Gruppen gelehrt. Außerdem sollten sich KL-Kliniker in ihrem Selbsterfahrungsprozess mit existenziellen Themen auseinandersetzen (Söllner, Gutberlet, Zenkert, Wentzlaff, Eisenberg u. Stein, 2011).

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Gerhard Schüßler

Balint-Gruppen und ihre Bedeutung in der Medizin

Will man die Bedeutung der Psychoanalyse und ihr Weiterwirken in der Medizin erhellen, so ist eine Literaturrecherche im »PubMed« (der Sammlung der wichtigsten Peer-Reviewed-Zeitschriften) hilfreich (PubMed.gov, US National Library of Medicine and National Institutes of Health). Es finden sich zum Schlagwort »psychoanalysis« Veröffentlichungen derzeit mit 9.980 Hits zurückreichend bis 1970. Sind in den 1970er und 1980er Jahren im psychiatrischen Bereich noch häufiger Veröffentlichungen mit dem Thema Psychoanalyse zu finden, reduziert sich dies jedoch in der Folgezeit von Jahr zu Jahr. Im eigentlichen Kernbereich der somatischen Medizin findet sich bereits seit etwa 1970 keinerlei Veröffentlichung zum Querschnitt Klinische Medizin (z. B. Allgemeinmedizin, Innere Medizin, Gynäkologie) und Psychoanalyse. Geht man in die 1990er Jahre, verbleiben Publikationen aus dem Kernbereich der Psychotherapie und Psychoanalyse sowie Themen der neurobiologischen Überprüfung psychoanalytischer Theorien. Gibt man als Schlagwort »Balint-Gruppen« ein, so erhält man 309 Hits bis in das Jahr 1976 zurückreichend. In den Titeln der Veröffentlichungen zeigt sich eine ungemein lebendige Verbindung von Balint-Gruppen mit allen Themen der Medizin: Familienmedizin, Onkologie, Arzt-Patient-Beziehung in unterschiedlichen medizinischen »Settings«, Burn-out bei Ärzten usw. Eine aktuelle Übersicht zur Balint-Gruppen-Forschung (Van Roy, Vanheule u. Inslegers, 2015) fand 94 Beiträge, wovon 35 empirische Studien mit qualitativer, quantitativer oder gemischter Methodik waren. Dies belegt ein außerordentlich aktives klinisches und wissenschaftliches Feld und

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zeigt überspitzt formuliert: »Was von der Psychoanalyse in der klinischen Medizin überlebte, sind die Balint-Gruppen!«

Balint – sein Wirken Michael Balint wurde am 03.12.1896 als Sohn eines praktischen Arztes in Budapest geboren und behielt diese Beziehung zur Allgemeinmedizin sein ganzes Leben. Nach dem Studium der Medizin in Budapest folgte die psychoanalytische Ausbildung in Berlin sowie das Studium der Philosophie und die Promotion. 1924 beendeten seine Frau Alice und er ihre psychoanalytische Ausbildung bei Sándor Ferenczi in Budapest. Er war von 1935 bis 1939 Direktor des Budapester Psychoanalytischen Instituts und musste 1939 nach England emigrieren, wo Alice Balint wenige Monate später starb. 1945 legte er den Master of Science in Psychologie ab und wurde leitendes Mitglied der britischen psychoanalytischen Gesellschaft. Er wurde 1955 Präsident der medizinischen Abteilung der britischen Gesellschaft für Psychologie und begann 1956 mit seiner zweiten Frau Enid die Londoner Ausbildungsseminare, die sogenannten Balint-Gruppen für Ärzte, Eheberatung und Sozialfürsorger. Er starb am 31. Dezember 1970. In der Psychoanalyse ist seine Lebensleistung nicht zu überschätzen. Er stellte die Entwicklung der zwischenmenschlichen Beziehungen – insbesondere die allerfrühesten Objektbeziehungen – in den Mittelpunkt seiner klinischen Forschung und Tätigkeit. Dies drückt er in der »primären Objektliebe« aus und beschreibt die Grundstörung als einen »Defekt in der psychischen Struktur, eine Art Mangel, der behoben werden muss«. Dies war wegbereitend zum heutigen Verständnis von strukturellen Störungen. Der »Neubeginn« in der Therapie kann nur mithilfe einer verständnisvollen Objektbeziehung gelingen (Hoffmeister, 1977).

Die Entwicklung der Balint-Arbeit international und im deutschsprachigen Raum Anfang der 1950er Jahre lud Michael Balint Allgemeinärzte in London zu einem Seminar ein, um die »psychologischen Probleme in der Allgemeinpraxis zu studieren«. Diese Seminare folgten der Überzeugung:

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»Das am allerhäufigsten verwendete Heilmittel [sei] der Arzt selber […]. […] für dieses hochwichtige Medikament [gibt es] noch keinerlei Pharmakologie«. Balint beschließt, mit den Allgemein­ärzten »eine Pharmakologie der Droge Arzt zu entwerfen«. Die Berichte der Allgemeinärzte zeigten, dass die Patienten dem Arzt verschiedene Symptome (Krankheiten) anbieten oder vorschlagen, bis beide – Arzt und Patient – etwas als begründet erkennen und akzeptieren, der Patient »organisiert« sich in seiner Erkrankung. Ein Verständnis ist nur möglich, wenn der Arzt die gesamte Person des Patienten sieht und nicht nur seine Symptome. Die Voraussetzung hierzu sei die Fähigkeit zuzuhören: »Wer fragt, bekommt nichts als eine Antwort.« Mangelnde ärztliche Gesprächsführung und apostolischer Eifer des Arztes – der Eifer, dass der Arzt den Patienten zu seinen Vorstellungen bekehren wird – tragen oft zu ungünstigen Beziehungskonstellationen bei. All dies fasst Balint in dem ersten hierzu erschienenen Werk »The doctor, his patients and the illness« (1957) zusammen. Die obigen Zitate sind diesem Werk (deutsche Ausgabe 1964) entnommen. Diese Balint-Seminare, später Balint-Gruppen genannt, verbreiteten sich international in Europa, sodass 1968 das erste internationale Balint-Treffen in Ascona stattfinden konnte. Für den deutschsprachigen Bereich waren der Schweizer Allgemeinarzt Boris Luban-Plozza (Luban-Plozza, Laederach-Hoffmann, Knaak u. Dickhaut, 1979; Luban-Plozza, Otten u. Petzold, 1998) und weitere Wegbereiter (Stucke, 1982) wesentlich. Zwischen 1960 und 1970 bereiste Balint große Teile Europas. Gruppen und Initiativen wurden in den meisten Ländern gegründet. Gruppenleiter waren in der Regel Psychoanalytiker, die an der Arbeit mit Allgemeinmedizinern interessiert waren. Um 1970 wurden die ersten nationalen Balint-Gesellschaften gegründet, 1972 die internationale Balint-Gesellschaft. Ziel dieser internationalen Gesellschaften ist es, die Länder und Mitglieder untereinander in Kontakt zu bringen, die Verbindungen aufrechtzuerhalten und die Entwicklung der Balint-Arbeit und der Balint-Gesellschaften in der ganzen Welt zu fördern. Ein Standard für die Ausbildung (insbesondere von Gruppenleitern) wurde erarbeitet, internationale Kongresse wurden organisiert und Forschung gefördert. Mit dieser Gesellschaft ist es gelungen, die Balint-Arbeit in der Ausbildung von Ärzten

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weltweit zu gestalten und zu integrieren. Blickt man auf den Kanon der internationalen Balint-Gesellschaften, so fehlt kaum ein europäisches Land; die angloamerikanischen Länder sind vollständig vertreten, und auch in China hat eine große Balint-Begeisterung begonnen (Fritzsche et al., 2012). Während Balint es noch abgelehnt hatte, mit Medizinstudenten zu arbeiten (fehlende Praxiserfahrung und Kontinuität), ist dies heute ein Grundgedanke geworden, um in die Ausbildung für Mediziner bereits im Studium den Gedanken an die Beziehung zum Patienten und eine ganzheitliche Betrachtungsweise einzuführen (Buffel de Vaure et al., 2017). Die Deutschen Balint-Gesellschaften (1974 im Westen, 1989 im Osten gegründet) wurden 1990 zusammengelegt. Die heutige Deutsche Balint-Gesellschaft führt seit Anfang 2000 die gesamte Aus- und Weiterbildung und das Balint-Journal. Insgesamt hat sich die Balint-Arbeit über unterschiedliche Professionen ausgebreitet: Balint-Gruppen für Krankenpflegepersonal, für Physiotherapeuten, für andere Bereiche der Gesundheitsvorsorge und -fürsorge (Health Workers), Lehrer – um nur die wichtigsten zu benennen. Im ärztlichen, medizinischen Bereich sind alle wichtigen klinischen Ausrichtungen für Balint-Gruppen offen, zentral ist der Stellenwert in der medizinischen Ausbildung (Assistenzärzte etc.). Die Ziele der Balint-Gruppen folgen unverändert Balints Gedanken. Die wichtigsten unter ihnen: ein Arzt zu sein, den der Patient benötigt, Reflexion, Empathie, blinde Flecken, Arzt-Patient-Beziehung und -Bindung, Akzeptanz, Perspektivenwechsel (Player et al., 2017). Im Mittelpunkt steht weiterhin das Thema: »Understanding the patient as a person« (Diaz, Chessman, Johnson, Brock u. Gavin, 2015). In Deutschland ist die Balint-Gruppe in die Regelausbildung der Ärzte unterschiedlicher Fächer verpflichtend übernommen worden. In der für die meisten klinischen Ärzte verpflichtenden »Psychosomatischen Grundversorgung« stellt die kontinuierliche Balint-Gruppe mit 30  Stunden  – ausgerichtet auf die Reflexion der Arzt-Patient-Beziehung – den wesentlichen Anteil der Praxiserfahrung dar. Dies ist verpflichtend für Ärzte mit der Facharztqualifikation Allgemeinmedizin, Innere Medizin und Gynäkologie/ Geburtshilfe. Auch für Ärzte mit zusätzlicher psychotherapeutischer Qualifikation (Zusatzbezeichnung oder Fachärzte für Psychiatrie

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und Psychotherapie) ist eine kontinuierliche Balint-Gruppe (in der Regel 30 bis 40 Stunden) verpflichtend. Für die Ärzte, die eine verhaltenstherapeutische Ausbildung im Rahmen der Psychotherapie durchführen, ist die Balint-Gruppe (als psychoanalytisch-psychodynamisches Verfahren) abgelöst worden durch die interaktive Fallarbeit (IFA). Unter Verzicht (oder besser Vermeidung) psychoanalytischer Grundaussagen bezüglich der Übertragung und Gegenübertragung in Beziehungen steht im Mittelpunkt der IFA jedoch ebenso die Bearbeitung der Therapeut-Patient-Beziehung. Ziel ist es auch hier, die interaktionelle Kompetenz der Therapeuten durch die Reflexion und Veränderung der therapeutischen Beziehungsgestaltung zu erhöhen.

Konzepte und Entwicklungen der Balint-Gruppen Von Beginn an war es das Ziel Balints, mit Hilfe der Gruppen herauszufinden, was sich zwischen dem Arzt und seinem Patienten in der Beziehung abspielt, und zu verstehen, was Arzt und Patient einander bedeuten und wie sie aufeinander wirken (Interaktion). Die Gruppenmitglieder wurden angehalten, insbesondere auf ihre Gefühle zu achten, die der Patient bzw. die Darstellung des Patienten durch den Arzt (der diesen Patienten in seiner Praxis behandelt) erweckt. Balint fiel auf, dass durch Übertragung und Gegenübertragung der vorstellende Arzt dazu neigt, sich ähnlich dem Patienten zu verhalten und zu fühlen, während die Gruppenmitglieder sich eher wie der Arzt in der Behandlungssituation mit dem Patienten fühlen. Der Selbsterfahrungsanteil für den Vorstellenden und die Gruppenmitglieder sollte begrenzt bleiben auf die Beziehung zum Patienten. Dies führe, so Balint, zu einer begrenzten, aber wesentlichen Veränderung der Persönlichkeit des Arztes. Übertragung und Gegenübertragung spielen also eine mitentscheidende Rolle. Nach der Falldarstellung werden bei den Gruppenmitgliedern auftauchende Gefühle und Phantasien gesammelt und dienen als Verständnis für die Konflikte in der ArztPatient-Beziehung und die Konflikte des Patienten. Die Symptomschilderung und das Verhalten des Patienten enthalten wichtige interaktionelle Signale. Die eigenen Emotionen bei Ärztinnen und Ärzten sind wichtige diagnos­tische und therapeutische Ressourcen.

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Im Mittelpunkt steht die Arzt-Patient-Beziehung, der auch im diagnostisch-therapeutischen Zirkel eine Schlüsselfunktion zukommt. Um die notwendige vertrauensvolle Atmosphäre sowohl für den Falldarstellenden als auch für die Gruppe zu gewährleisten, ist ein konstanter Teilnehmerkreis notwendig (geschlossene Gruppe), der sich in der Regel für einen Zeitraum von einem bis zwei Jahren (20 bis 40 Doppelstunden) trifft. Die Zahl der Teilnehmer reicht von sechs bis zwölf, der Gruppenleiter sollte eine Ausbildung als Balint-Gruppenleiter durchlaufen haben. Die Lernziele der BalintGruppe fasste Hoffmann (2000) zusammen: 1. Erwerb einer partnerschaftlich-interaktiven Einstellung des Arztes gegenüber dem Patienten, 2. Wahrnehmung der Beziehungsproblematik des Patienten, 3. Zugang zu den eigenen emotionalen Reaktionen (Gegenübertragung) als diagnostische Hilfe, 4. Ermöglichung einer umfassenden Beziehungsdiagnostik, 5. emotionale Unterstützung, 6. Vermittlung der Technik des diagnostisch-therapeutischen ärztlichen Gesprächs. Diese Lernziele von Balint-Gruppen für eine veränderte Grundhaltung auf ärztlicher Seite sind in den Ausbildungsrichtlinien international (so auch in den deutschen Ärztekammerrichtlinien) übernommen worden: ein umfassendes biopsychosoziales Verständnis von Krankheit und Gesundheit! Die Balint-Gruppen haben sich in unterschiedliche Bereiche weiterentwickelt: klassische Balint-Gruppenarbeit in ärztlicher Praxis und Krankenhäusern, Erlernen und Anwendung der Thera­ peut-Patient-Beziehungsdiagnostik, ­Ausbildungs-Balint-Gruppen (Beispiel hierfür sind Medizinstudentengruppen), professionelle, homogene Gruppen (z. B. Sozialarbeiter, Juristen, Lehrer usw.) und fallbezogene Supervision in Teams (Köllner, 2003). Über die klassische Interaktionsarbeit hinaus haben in heutigen Balint-Gruppen die komplexen Rahmenbedingungen der Praxis und des Krankenhauses immer größeren Einfluss auf die Arzt-PatientBeziehung gewonnen: in der Praxis die Rahmenbedingungen der Krankenkassen und der Gesetzgebung oder die Konkurrenz zu

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anderen Ärzten und im Krankenhaus die komplexen hierarchischen Bedingungen (Oberarzt – Chefarzt – Verwaltung) und krankenrechtlichen Einschränkungen. Dies muss selbstverständlich thematisiert und bearbeitet werden. Während in der klassischen BalintGruppe der diagnostische Aspekt im Vordergrund steht, werden in Balint-Gruppen bei Psychotherapeuten (Ärzte und Psychologen) selbstverständlich auch mehr therapeutische Fragestellungen im interventionellen Bereich eingearbeitet (Was etwa glauben die Teilnehmer könnten therapeutische Möglichkeiten sein?). Auch die Vertiefung des interaktiven (nonverbalen) Geschehens z. B. durch thera­ peutische Aufstellungen verstärkt das Erleben.

Fallvignette: Balint-Gruppe für Ärzte und Ärztinnen in Ausbildung in Psychiatrie und Psychotherapie In der über ein Jahr bestehenden überregionalen Balint-Gruppe drückt eine Kollegin gleich zu Beginn ihren Wunsch nach einer Patientenvorstellung aus. Sie beginnt mit dem Satz: »Dieser Patient bereitet mir große Sorgen. Ich habe ihn über den Jahreswechsel und die letzten drei Wochen jeden Tag mit nach Hause genommen, über ihn nachgedacht und mir Sorgen gemacht.« Ohne Stocken erzählt sie atemlos und angespannt, wie ein Wasserfall: Ein 27-jähriger Mann, der aber jünger wirkt, ist seit vier Wochen immer wieder auf eine akute Suchtstation gekommen. In dieser Zeit ist die Berichterstatterin seine behandelnde Ärztin. Die Drogenvorgeschichte reicht weit zurück. Der Drogenkonsum im unmittelbaren Vorfeld der Aufnahme war intensiv (über Haschisch hinaus alle wesentlichen Drogen bis hin zu Opiaten und Alkohol, aber auch Medikamente). Vor diesem geballten Konsum war der junge Mann »clean« gewesen. Die jetzige Aufnahme erfolgte aufgrund klinischer Depressionen mit suizidalen Handlungen. Anfang des Jahres nahm er während des Aufenthaltes in der Klinik im Rahmen eines Ausgangs eine zu hohe Dosis Drogenkräuter in parasuizidaler Absicht und musste einige Tage auf der Intensivstation behandelt werden. Die Kollegin versucht, dem jungen Mann näherzukommen und ihm Hilfe zu geben. Gleichzeitig erfährt sie durch ihn heftige Zurückweisun-

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gen. So werde er fast nach jedem Gespräch, in dem sie Unterstützung gebe, aggressiv. Nach einem Besuch bei ihm habe er die Wände in seinem Zimmer mit Sprühfarbe bedeckt und dabei heftigste Schmähungen über sie an die Wand geschrieben. Die aggressiven Durchbrüche führten dazu, dass er z. B. einen Mitpatienten zu Boden geworfen und ihn heftig getreten habe. Ein anderes Mal sei er in einen Ausnahmezustand geraten, als ihm die Station (nicht die behandelnde Ärztin) etwas verweigert habe. Daraufhin habe er die Station fast vollständig zerstört. Sieben Polizisten seien nötig gewesen, um ihn zu fixieren, damit man ihn mit Medikamenten habe ruhiger stellen können. Trotz dieser dramatischen Vorfälle versucht die Kollegin immer wieder, dem jungen Mann in therapeutischen Gesprächen näherzukommen, da sie sein Hilfsbedürfnis spürt und er ansonsten im stationären Kontext alle völlig gegen sich aufgebracht hat. Seine Lebenssituation sei verzweifelt. Der junge Mann sei in Deutschland geboren. Er kenne seinen Vater (vermutlich arabischer Herkunft) nicht. Seine arabischstämmige Mutter aus Syrien sei in seinem dritten Lebensjahr gestorben. Soweit Informationen bestünden, seien beide Eltern drogenkrank gewesen. Vor dem Tod der Mutter sei er bis zum 18. Lebensjahr in wechselnden Pflegeheimen betreut worden. Immerhin sei es ihm vor seiner Drogen­erkrankung noch gelungen, eine Lehre abzuschließen. Obwohl in Deutschland geboren und aufgewachsen, sei ihm mit 18 Jahren die syrische Staatsangehörigkeit erteilt worden (er spricht kein Wort Arabisch). Im Rahmen der rechtlichen Auseinandersetzung sei jetzt ein gerichtlicher Abschiebebescheid durchgesetzt worden, und der junge Mann solle in den nächsten Wochen nach Syrien abgeschoben werden. Dort habe er keinerlei Verwandte, die Kultur sei für ihn völlig unbekannt. Die vorstellende Kollegin ist sich sicher, dass er dort nicht überleben wird. Nach dieser Darstellung (»Ich bin jetzt fertig«) machen zwei Kolleginnen der Gruppe den Versuch nachzufragen (»Wie war das …?«). Die vorstellende Ärztin meint jedoch »Wir sind hier in einer Balint-Gruppe, und ich halte mich jetzt zurück, um der Gruppe Raum zu geben.« Üblicherweise muss diese Aufgabe vom Gruppenleiter erfüllt werden. Da die Gruppe jedoch schon längere Zeit zusammenarbeitet, ist ihr der Gruppenablauf vertraut. Es entsteht nun kaum eine Pause. Ein Gruppenmitglied nach dem anderen, einige Gruppenmitglieder sogar in wie-

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derholten längeren Beiträgen, geben ihre Gefühle und Ansichten kund. Die Stellungnahmen sind höchst unterschiedlich. Einer Äußerung wie »Die Lebensgeschichte ist bis heute unübertroffen furchtbar, und trotz allem macht der junge Mann mich tief betroffen« stehen die Meinungen anderer Teilnehmer/-innen gegenüber, die den jungen Mann als hoffnungslos, gewalttätig, klinisch unbeeinflussbar erleben und daraus die Frage ableiten: »Wie wird man den los?« Einige stellen das Problem der Ärztin in den Vordergrund und fragen, auf welche Weise sie von ihren Oberärzten oder vom Team Unterstützung erhalte, oder besser: Unterstützung erhalten müsse. In der Gruppe bilden sich gleichsam zwei Parteien. Die eine hat die erforderliche Nähe zum Patienten und die Unterstützung durch die Klinik im Auge, die andere Loswerden und Kontrolle (bis hin zu Gewaltphantasien). Nach einer längeren Diskussion gibt der Gruppenleiter alle aufgeworfenen Fragen an die Vorstellende zurück, die dann nochmals verzweifelt ihre Bemühungen um Unterstützung sowohl für den Patienten als auch für sich in den Vordergrund stellt. Sie hat den Eindruck, von den leitenden Oberärzten ihrer Station und von der Klinik völlig allein gelassen zu werden. Sie bemühe sich in langen Telefonaten mit dem syrischen Konsulat, irgendeine Möglichkeit für den jungen Mann zu finden, das heißt, überhaupt erst einmal eine Einreisegenehmigung für ihn in Syrien zu erlangen. Auch die vorlaufenden Gutachter und Fachärzte hätten den jungen Mann völlig »abgeschoben«, das heißt im Stich gelassen. Was die Arzt-Patient-Beziehung angeht, fasst der Gruppenleiter nun zusammen, wie sich für ihn die primäre Interaktionsproblematik des Patienten darstellt: Er antworte auf jede Form von Nähe mit existenzieller Gewalt, da diese Nähe für ihn aufgrund seiner katastrophalen biografischen Erfahrungen eine Bedrohung darstelle. Er reinszeniere damit die Zurückweisung durch alle Menschen. Die Kollegin habe die versorgende, mütterliche Position in der Arzt-Patient-Beziehung übernommen und versuche, für den Patienten »irgendetwas« zu erreichen. Damit stelle sie die unbewussten Wünsche des Patienten nach Versorgung dar. In ihrer extremen Anspannung zeige sich die gleichzeitige Ablehnung und Aggressivität des Patienten. Nun folgen vonseiten der Vorstellenden wie auch von den Mitgliedern der Gruppe intensive Phantasien, wie es denn mit dem jungen

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Mann weitergehen könne. Alle, auch die Vorstellende, sind sich sicher, dass er sich das Leben nehmen werde. In weiteren Diskussionen wird mit dem Gruppenleiter überlegt, wie die Kollegin aus ihrer »mütterlichen« Verantwortung für diesen »hoffnungslosen« Patienten herausfinden und sich selbst notwendige Unterstützung vonseiten der Gesamtinstitution Klinik sichern könnte. Dabei solle die ärztliche Beziehung jedoch aufrechterhalten bleiben.

Das Fallbeispiel belegt die heutigen Anforderungen an die BalintGruppe: jenseits der Übertragungen und Gegenübertragungen zwischen Patient und Ärztin einerseits und der Gruppe andererseits sind unterschiedlichste komplexe und systemische Interaktionen (meist unbewusst) zu berücksichtigen: ȤȤ der Einfluss der Klinik bzw. des Behandlungssystems, ȤȤ die sozialen Rahmenbedingungen, ȤȤ der Fall kann nicht nur diagnostisch entschlüsselt werden, die Teilnehmer fordern diagnostisch-therapeutische Überlegungen ein.

Wie nützlich sind Balint-Gruppen? Wird durch Balint-Gruppen die Beziehungskompetenz für Ärzte und Ärztinnen aller Bereiche verbessert, und wie lange benötigen die Gruppen dazu? Die Untersuchung dieser Frage erbrachte bisher keine völlig eindeutigen Ergebnisse. Jedoch zeigte sich klar, dass nur Balint-Gruppen, die über ein Jahr bestehen, zu bleibenden Veränderungen in der Arzt-Patient-Beziehung führen können (von Roy, 2015). Die Untersuchung von Flatten, Möller, Aden und Tschuschke (2017) folgte 1.460 ärztlichen Teilnehmern unterschiedlichster fachlicher Ausrichtung, die sich auf 352 unterschiedliche Balint-Gruppen verteilten. Somatisch tätige Ärzte profitierten hochsignifikant deutlicher als Ärzte aus dem Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie (die natürlich mit weit besseren psychosozialen Grundkenntnissen in die Balint- Gruppe gingen). In den untersuchten Bereichen

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ȤȤ Reflexion der Übertragungsdynamiken in der Arzt-Patient-Beziehung und ȤȤ emotionales und kognitives Lernen zeigten somatisch tätige Ärzte im Vergleich zu Ärzten aus dem psychiatrischen/psychotherapeutischen Bereich hochsignifikante, positive Veränderungen. Dies gilt auch für die fallvorstellenden Ärzte. Diese empirischen Ergebnisse belegen, dass Balint-Gruppenarbeit einen wesentlichen Einfluss in der Ausbildung und in der ArztPatient-Interaktion besitzt.

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Andreas Hamburger

Junktim oder Kooperation? Für eine forschende Psychoanalyse

Vorbemerkungen Freuds Theoriebildung war vom neuronalen Modell aus gestartet (1895/1950c) und hatte unversehens eine Sozialwissenschaft der Seele auf den Weg gebracht. Sie hat als Paradigma die Psychotherapie des 20. Jahrhunderts geprägt. Zunächst schien der co-introspektive Zugang der analytischen Dyade der ideale Forschungsweg einer menta­listischen Psychologie zu sein. Im »Junktim zwischen Heilen und Forschen« sah Freud ein Programm, über die schrittweise Aufklärung im Rahmen der analytischen Situation immer exaktere nosologische und persönlichkeitspsychologische Kenntnisse zu gewinnen, die auch als Argumente für übergeordnete Diskurse wie die Kulturund Gesellschaftstheorie nutzbar sein würden. Freud, dessen interdisziplinäre Interessen ungebrochen blieben, wollte sein Junktim freilich nicht als Absage an außeranalytische Forschungsergebnisse verstanden wissen. Er sah in den hypothetischen psychologischen Befunden aus der analytischen Praxis hypothesengenerierende Einsichten, die den Nachbarwissenschaften Anregung bieten könnten – etwa in Psychologie, Pädagogik, Sprachwissenschaft, Ethnologie, Kulturtheorie und Medizin –, und rezipierte aufmerksam neue Forschungsergebnisse dieser Disziplinen. Die Weiterentwicklung der Psychoanalyse hat diese interdisziplinäre Offenheit freilich in weiten Bereichen des psychoanalytischen Diskurses verringert. Vor allem im Gebiet der Psychologie und der Medizin geriet die ursprünglich so inspirierende Psychoanalyse in ein defensives Abseits. Heute ist der Zeitpunkt gekommen, die gegenseitige Inspiration wiederzubeleben. Der State of the Art der psychoanalytischen Theorie, aber auch der physiologischen, neuro-

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wissenschaftlichen und entwicklungspsychologischen Forschung erlaubt es, Freuds metapsychologische Spekulation neu zu denken und viel genauer das Zusammenspiel von Funktionskernen etwa bei der Traumproduktion zu untersuchen (Solms, 1997) oder auch der funktionellen Antwort des Gehirns auf psychotherapeutische Sitzungen (Buchheim, Labek, Walter u. Viviani, 2013). Darüber hinaus können Neurobiologie und interpersonale Psychoanalyse bei der Erforschung der Mikrodynamik des sozioaffektiven Austauschs zusammenarbeiten und so zu einer vertieften Evidenz­basierung für die Anwendung der beziehungsorientierten psychoanalytischen Therapie beitragen. Wenn es zu Freuds Zeiten eine ­Magnetresonanztomografie (MRT) gegeben hätte, so die These dieses Beitrags, hätte er sie sicherlich benutzt, um im Gehirn die Seele zu finden – und hätte sie ebenso wenig gefunden wie mit dem Mikroskop. Er hätte weitergehen müssen zu jener Beziehungstheorie, zu der die Psychoanalyse schließlich geworden ist. Eine der Stationen auf dem langen Weg der Emanzi­pation der Psychoanalyse von der Suche nach dem psychischen Apparat zur sozialwissenschaftlichen Subjekt- und Kulturtheorie war jenes Freud’sche Postulat, nach dem die psychoanalytische Situation selbst ein Forschungslabor sei. Damit stellte er die naturwissenschaftliche Basis, von der aus er den Aufbruch in die moderne Psychologie unternommen hatte, grundlegend infrage. Ob dieses »Junktim«-Postulat als Basis einer veränderten Empirie taugt, wurde freilich oft und mit guten Gründen bezweifelt. Im Folgenden soll es abgeklopft werden hinsichtlich seiner Entstehung, seiner Geltung und einer möglichen Zukunftsperspektive.

Freuds Junktim und seine guten Gründe Freuds neuropathologische Forschungserfahrung lag zeitlich vor der Entfaltung seines Interesses an der Psychotherapie. Dem Neuropathologen standen zwei Typen von Daten zur Verfügung, die es miteinander zu verknüpfen galt: zum einen genaue Verhaltensbeobachtungen, zum anderen Präparate von Nervenleitungen. Die Aufgabe bestand darin, Modelle zu bilden, die die beobachteten Verhaltensweisen, also z. B. bestimmte Erkrankungen, in Übereinstimmung mit dem postmortalen pathologischen Befund bringen.

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Zur Auffassung der Aphasien Freud hatte sich in diesem Forschungsgebiet bereits durch die Monografie »Zur Auffassung der Aphasien« (Freud, 1891b) einen Namen gemacht. Seine Untersuchung der Aphasien griff ein klassisches Forschungsgebiet auf, galt doch Paul Brocas Entdeckung des Sprachproduktionszentrums (Broca-Areal) im Jahr 1861 als Durchbruch der neuropathologischen Methode, gefolgt von Wernickes Beschreibung des Sprachrezeptionszentrums (Wernicke-Areal) im Jahr 1874. Und mehr noch: Das, jedenfalls vor Freuds Studie, in den von Broca und Wernicke identifizierten Hirnregionen verortete Sprachvermögen ist das wesentliche Merkmal, das den Menschen vom Tier unterscheidet – auch heute noch wird im deutlich größeren Umfang des Broca-Areals zusammen mit der verzögerten Hirnreifung der zentrale Unterschied des menschlichen Hirns zu dem der Primaten gesehen (Roth, 2001, S. 451). Gegen Broca und Wernicke, die von bestimmten, isolierten Sprachzentren im Kortex ausgingen, vertrat Freud einen funktionalen Ansatz und stellte damit die gesamte Lokalisationstheorie in Frage (Wernicke, 1874, 1885/86; Freud, 1891b, S. 57). Aphasien, so legt er dar, sind nicht einfach Folge isolierter Hirnläsionen, sondern der betroffene »[Apparat] reagiert als Ganzes solidarisch auf die Läsion, läßt nicht den Ausfall einzelner Teile erkennen, sondern erweist sich in seiner Funktion geschwächt; er antwortet auf die unvollständig destruierende Läsion mit einer Funktionsstörung, die auch durch nicht materielle Schädigung zu Stande kommen konnte« (S. 71). Bereits diese Formulierung lässt erahnen, dass Freuds Argumen­tation eine Grundsatzfrage der zeitgenössischen Neuroanatomie berührt. Er vertritt den Standpunkt, dass bestimmte Hirnleistungen, wie etwa die Sprachproduktion, nicht in identifizierbaren Zentren lokalisiert sind, sondern auch auf einem weiträumigen, komplexen Zusammenspiel beruhen; das Gleiche gilt dann auch für somatische Bahnen, die nicht einfach im Kortex abgebildet, sondern auf dem Weg dahin so vielfach verschaltet werden, dass »die in der Hirnrinde anlangenden Fasern zwar noch eine Beziehung der Körperperipherie enthalten, aber kein topisch ähnliches Bild derselben mehr geben können. Sie enthalten die Körperperipherie, wie […] ein Gedicht das Alphabet enthält, in einer Umordnung, die anderen Zwecken dient« (Freud, 1891b, S. 55).

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Wieder so eine Formulierung, die ein weit grundlegenderes Interesse verrät als lediglich die Verfeinerung der neuropathologischen Aphasielehre. Sie zeigt ein funktionalistisch-holistisches Verständnis hirnphysiologischer Prozesse, mit weitreichenden Folgen nicht nur für die Aphasien, sondern für die Konzeptualisierung des psychischen Funktionierens schlechthin. Freud lehnt es ab, in der Wernicke-Tradition die semantische »Vorstellung an den einen Punkt der Hirnrinde zu verlegen, die Assoziation an einen andern. Beides geht vielmehr von einem Punkt aus, und befindet sich an keinem Punkte ruhend« (S. 100 f.). Er betrachtet das Sprachvermögen als Prozess innerhalb eines zusammenhängenden Rindenbezirks, in dem »die Assoziationen und Übertragungen, auf denen die Sprachfunktionen beruhen, in einer dem Verständnis nicht näher zu bringenden Kompliziertheit vor sich gehen« (S. 106). Dieser Satz enthält zwei Hinweise, denen nachzugehen sein wird: zum einen die frühe Verwendung des Übertragungsbegriffs, der in die spätere Interaktionstheorie seinen physiologischen Ursprung mitnehmen wird. Zum anderen aber das Konzept der »dem Verständnis nicht näher zu bringenden Kompliziertheit« des Sprachbezirks, eine frühe Benennung der Aufgabenstellung, der sich später die Psychoanalyse widmen wird. Denn mit dieser Kompliziertheit meint Freud nichts anderes als die funktionale und lebensgeschichtliche Verknüpfung und Schichtung, in der sich Lebenserfahrung ins semantische Gedächtnis einschreibt. Freud wird sie später »das Unbewusste« nennen. Mit der Einführung seines komplexen Sprachbezirks nimmt Freud recht geschickt die Kontroverse mit Broca und Wernicke auf und vermeidet sie zugleich, und zwar mit dem Argument, dass deren »Zentren« lediglich »die Ecken des Sprachfeldes« bilden (1891b, S. 107), also Leitungsengpässe, an denen die Vorgänge im Sprachbezirk Anschluss an die übrigen zerebralen Abläufe haben; eine Läsion an diesen »Ecken« muss also einen weitreichenden Funktionsausfall zur Folge haben, ohne dass dies darauf hindeutet, dass die ausgefallenen Funktionen auch dort zu lokalisieren sind. Wichtiger jedoch ist, dass Freud mit der Ablehnung der Lokalisationstheorie und der Zuweisung des Sprachvermögens an ein lebendiges, funktionales Netz – »das physiologische Korrelat der einfachen oder der für sie wiederkehrenden Vorstellung [ist …] offenbar

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nichts Ruhendes, sondern etwas von der Natur eines Vorganges« (S. 99) – bereits über seinen eigenen, quantitativ-mechanistischen Ansatz hinausweist und Denkmuster der kommenden psychoanalytischen, funktionell-­dynamischen Auffassung andeutet (Marx, l967; Leuschner, 1992), einschließlich eines geschichteten Gedächtnisses (Hamburger, 1995). Entwurf einer Psychologie Dieser kühne Neuansatz wird wenige Jahre später fortgesetzt im »Entwurf einer Psychologie« (1895/1950c). In einem großen Wurf, der weit über seine Aphasiestudie hinausgriff, skizzierte Freud ein physiologisches Modell der Psyche, einen »psychischen Apparat«. Es sollte das seelische Funktionieren als »quantitativ bestimmte Zustände aufzeigbarer materieller Teile« darstellen (S. 387). Der Entwurf verbindet die »Hirnmythologie« des späten 19. Jahrhunderts (Ellenberger, 1970/1973, S. 656; Hirschmüller, 1991) mit den streng naturwissenschaftlichen Ansätzen von Brücke, Meynert und Exner (Amacher, 1965; vgl. Hamburger, 1995), die auf der »antivitalistischen« Physiologie von Ludwig und Helmholtz fußten (Bernfeld, 1944/1981; Rothschuh, 1968, S. 253 ff.). Das Bedeutsame am »Entwurf« ist freilich nicht der (überzogene) Versuch einer rein neurologischen Psychologie, sondern die aporetische Entwicklung des Gedankengangs selbst (vgl. Hamburger, 1987, Kap. 3.2.1; 1995; 2016). Ausgehend von dem Versuch, mit rein neurophysiologischen Begriffen eine Theorie des Bewusstseins und des Denkens dar­zustellen, stockt die Darstellung immer wieder. Freud muss neu ansetzen und weitere, komplexere Schaltungstypen einführen. 1. Ausgangspunkt von Freuds Argumentation ist der Begriff der Quantität als Grundbegriff einer exakten Neuropsychologie (erster Hauptsatz). 2. Diese quantitative Erregung läuft in einem verzweigten Neuronen­ system ab (zweiter Hauptsatz): »Der Gedanke, mit dieser Quantitätstheorie (Qη) die Kenntnis der Neurone zu kombinieren, wie sie die neuere Histologie ergeben [hat], ist zweiter Pfeiler dieser Lehre. Hauptinhalt dieser neuen Erkenntnis ist, daß das Nervensystem aus distinkten, gleich gebauten Neuronen besteht, die sich durch Vermittlung fremder Masse berühren, die aneinander endi-

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gen wie an fremden Gewebsteilen, in denen gewisse Leitungsrichtungen vorgebildet sind, indem sie mit Zellfortsätzen aufnehmen, mit Axenzylindern abgeben. Dazu kommt noch die reichliche Verzweigung mit Verschiedenheit des Kalibers« (1895/1950c, S. 390). Freud unterscheidet zwei Leitungstypen, die durchlässigen (Phi-) und die mit Widerstand behafteten (Psi-) Neuronen. Freud ergänzt den quantitativen Erregungsablauf durch den Begriff der Qualität (definiert als Verteilung von Quantität oder »Bahnung«). Diese Erweiterung wird notwendig, um das Gedächtnis im Modell darzustellen. Quantität und Qualität werden weiterhin ergänzt durch den Begriff der Periode (definiert als zeitliche Schwankung von quantitativer Besetzung und qualitativer Verteilung). Diese Erweiterung wird notwendig, um die Differenz zwischen Imagination und sinnlicher Wahrnehmung ableiten zu können, eine Differenz, die ausschlaggebend für die Modellkonstruktion des Bewusstseins ist. Im Zusammenhang damit muss Freud noch ein drittes Neuronennetz postulieren, die »Wahrnehmungsneuronen« (W). Doch auch der Begriff der Periode hält den psychologischen Anforderungen an das (inzwischen nur noch spekulativ) physikalische Modell nicht stand. Er muss modifiziert werden im Sinne einer »allgemeinen Anregung«, einer nichtquantitativen, aber auch nicht qualitativen Binnenkommunikation des psy­ chischen Apparates. Zuletzt muss Freud sogar interaktive Prozesse einführen, da er als Grundvoraussetzung für die Konstruktion einer Psyche, die auch nur irgendwie auf Außenweltreize aktiv reagieren kann, ein innerpsychisches »Sprachzeichen« benötigt, das heißt: die Anwesenheit einer Umwelt, die das ventilartige Schreien als Mitteilung »missversteht« und adäquat darauf reagiert. Mit der Einführung des »hilfreichen Individuums« (1895/1950c, S. 456) wird Kommunikation als Voraussetzung der psychischen Entwicklung postuliert.

Freuds spekulativer Versuch, eine quantitative Psychologie zu in­ stallieren, die ganz physiologisch und »keinesfalls metaphorisch gemeint« war (Lorenzer, 1973, S. 34), führt Schritt für Schritt in die Anerkennung des Anderen. In das naturwissenschaftliche Modell

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des psychischen Apparates müssen Sprache und Interaktion als Vorbedingungen aufgenommen werden. Damit ist zwar eine neue Dimension psychologischer Einsicht (die soziale) gewonnen, aber die beiden »Hauptsätze« des Entwurfs müssen aufgegeben werden (vgl. Hamburger, 1983, S. 26; 1987, Kap. 3.2.1; 1995, Kap. 2.1.2; 2016, S. 65). Freud verwarf seinen Entwurf und wandte sich der klinischen Forschung zu; auf das Mikroskop und die Histologie als Kriterium der Modellkonstruktion musste er verzichten und mit den Patienten vorliebnehmen, wie sie waren. Der »Entwurf«, der mit einem Brief an Fließ geschickt worden war, sollte nach dem Willen des Autors vernichtet werden und wurde nur durch einen historischen Zufall und die Unfolgsamkeit von Marie Bonaparte gerettet; er kam erst im Jahr 1950 an die Öffentlichkeit. Freuds Frühschriften und die moderne Neurobiologie Freuds neurobiologischer Startpunkt ist in der modernen Auffassung der Psychoanalyse als Beziehungswissenschaft nicht mehr relevant. Umso erstaunlicher, dass das von Freud in seinen voranalytischen Schriften skizzierte neuronale Modell der Psyche einige geradezu verblüffende Ähnlichkeiten zum gegenwärtigen Stand der neuro­biologischen Forschung aufweist. Wolf Singer (2007) etwa beschreibt die neurobiologische Perspektive auf die menschliche Psychologie als Schaltungskomplexität, kombiniert mit der Erfassung zeitlicher Parameter und unter Einbeziehung einer responsiven Außenwelt. Schon bei den höheren Säugetieren sieht er eine komplexe Verschaltung im ZNS, die ankommende sensorische Reize nicht nur in den primären sensorischen Hirnrindenarealen abbildet, sondern zudem noch Metarepräsentationen in weiteren, sehr ausgedehnten Rindenarealen bildet, die diese Informationen kognitiv verarbeiten und miteinander vernetzen. »Die Hirnrinde beschäftigt sich also vorwiegend mit sich selbst. In hochorganisierten Gehirnen machen die Eingänge von den Sinnessystemen und die Ausgänge zu den Effektoren einen verschwindend kleinen Prozentsatz der Verbindungen aus« (Singer, 2007, Pos. 596). Somit können »höhere Säugetiere und insbesondere alle Primaten ihrer Empfindungen gewahr sein« und phänomenales Bewusst-

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sein entwickeln (Pos. 604). Das Gehirn des Homo sapiens, so Singer, funktioniert prinzipiell nicht anders, nur ist hier über diese Metarepräsentationen noch ein weiteres internes Beobachtungssystem geschaltet: die selektive Aufmerksamkeit oder Reflexion. Sie erlaubt es, »durch Iteration kognitiver Operationen und reflexive Anwendung auf sich selbst Metarepräsentationen eigener Zustände« zu bilden und somit die eigene Kognition zum Gegenstand von Kognition zu machen (Singer, 2007, Pos. 611 f.). Diese Fähigkeit zur Metakognition ist nach Singer jedoch nicht in einem eigenen, höheren Hirnzentrum angesiedelt, sondern sie entsteht aus der Synchronisierung. Aus über einen hinreichend langen Zeitraum synchron aktiven Nervenzellen emergieren Prozesse, die zu Verhaltensentscheidungen führen oder auch Bewusstsein erzeugen können (Pos. 624 f.). Die Entstehung eines phänomenalen Selbst (Freud hatte es bereits im »Entwurf« als »Ich« bezeichnet) führt Singer nun, ebenso wie Freud es letztlich einräumen musste, zum einen darauf zurück, dass nur ein Bruchteil der neuronalen Vorgänge aufmerksamkeitsfähig ist, sodass uns die umfangreichen Prüfungs-, Vergleichs- und Steuerungsprozesse, auf denen unsere bewusste Wahrnehmung und unsere bewussten Entscheidungen beruhen, verborgen bleiben; zum anderen aber sieht er wie Freud die soziale Interaktion als unverzichtbaren Faktor der Entstehung eines Selbstmodells. »Eine weitere Voraussetzung für die Konstitution eines Selbst, das sich frei wähnt, so mein Vorschlag, ist die soziale Interaktion. Mir scheint unser Selbstmodell wesentlich dadurch geprägt, dass wir uns in den kognitiven Funktionen, in der Wahrnehmung des je anderen spiegeln können, dass wir in Dialoge eintreten können des Formats ›Ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß‹ oder ›Ich weiß, dass du fühlst, wie ich mich empfinde‹ usw. Solche iterativen Spiegelungsprozesse könnten die Erfahrung vermitteln, ein autonomer Agent zu sein, der frei über sich verfügen kann. Um in solche Dialoge eintreten zu können, müssen jedoch zwei Bedingungen erfüllt sein. Es sind dies kognitive Funktionen, über die nur menschliche Gehirne verfügen. Zum einen bedarf es der Fähigkeit, eine Theorie des Geistes aufzubauen […]. Die zweite Funktion, über die dialogfähige Gehirne verfügen müssen, ist sprachliche Kommunikation.

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Die Gehirne müssen in der Lage sein, abstrakte Relationen symbolisch zu kodieren und syntaktisch zu verknüpfen« (Pos. 654–664). Zwischen den beiden Modellen, Freuds Theorien aus den Jahren 1891 und 1895 und Singers Modell, liegt ein gutes Jahrhundert. Kann uns die Fülle der Parallelen zu dem Satz veranlassen: Wenn Freud statt der mühseligen neuropathologischen Methode, erst postmortal die Hirnläsionen zu identifizieren, die klinische Ausfälle bedingt haben könnten, ein MRT gehabt hätte, das beinahe in Echtzeit die Aktivation lebender Hirnareale zeigt, würde er sein erstes Modell des psychischen Apparats weiterverfolgt und den neurobiologischen Forschungsweg als Via Regia zum Unbewussten gewählt haben? Ich denke, er hätte es versucht – und wäre ebenso gescheitert wie 1895. Der Grund dafür ist, dass das Unbewusste eine soziale Kategorie ist, keine physiologische, ebenso wie das Bewusstsein. Er hätte allerdings wesentlich mehr darüber gewusst, auf welchen hirnphysiologischen Mechanismen diese soziale Kategorie aufsetzt.

Die Entstehung einer psychoanalytischen Forschungs­ methode sui generis: Das Junktim von Heilen und Forschen Wenn wir also sehen, dass Freuds frühes Modell des psychischen Apparats in einigen wesentlichen Zügen den Stand der neurobiologischen Modellbildung vorhersagt, sowohl was die Schaltungskomplexität im Inneren als auch was die soziale Resonanz betrifft, möglicherweise mit der »Periode« sogar Singers Synchronisationsmodell, so müssen wir uns fragen, was es mit den 120 Jahren psychoanalytischer Forschung auf sich hat, die seit der Verwerfung des Neuronenmodells im Jahr 1985 ein reichhaltiges Erfahrungs- und Theoriegebäude hervorgebracht haben. Freuds analytische Phase und die Spuren des frühen Hirnmodells Freuds frühe neurophysiologische Spekulationen machen nicht die Psychoanalyse aus – ganz im Gegenteil: Aus ihrem Scheitern erst entstand jene ganz eigene Erkenntnisform, die das 20. Jahrhundert prägte, keineswegs nur seine Psychotherapieformen, sondern das

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kulturelle Selbstverständnis einer Epoche. Freuds Schritte von der Hirnphysiologie zur Entfaltung der Psychoanalyse zeigen freilich in allen Stadien die Spuren des aufgegebenen Modells. War noch in der ersten Topik im 7. Kapitel der »Traumdeutung« (1900a) das neuronale Modell mit seinen geschichteten Gedächtnisspuren versteckt, so spiegelt Freuds zweite Topik (1923b) ein von hirnphysiologisch validierbaren Konzepten scheinbar gänzlich freigestelltes Modell der Psyche als funktionales Zusammenspiel zwischen den Instanzen »Ich«, »Es« und dem »Verdrängten«, die ganz aus der klinischen Modellbildung abgeleitet scheinen. Auffallend ist freilich, dass noch die bekannte grafische Veranschaulichung des Strukturmodells eine schematische Zeichnung des menschlichen Gehirns darstellt, einschließlich der für die Verortung der Sprachfunktion bedeutsamen »Hörkappe«, des akustischen Rindenfelds. Das Strukturmodell ist jedoch mit dem Hirnapparat nur noch durch solche Anspielungen verbunden. Seine Instanzen sind klinisch fundierte, persönlichkeitstheoretische Konzepte. Bis es zu diesem neuen Modell kam, waren freilich zahlreiche konzeptionelle Bewegungen nötig, die die entstehende Psychoanalyse zwischen einem naturwissenschaftlichen und einem kulturwissenschaftlichen Diskurs positionierten. Die erste Revision des Neuronenmodells bildet Freuds »biologische Wende« seit 1913 (Sulloway, 1979/1982). Mit der Einführung des Wiederholungszwangs und des Todestriebs in »Jenseits des Lustprinzips« (1920g) schreibt er der evolutionstheoretischen Ableitung einen höheren Stellenwert zu als einer »mechanischen«, funktionsbezogenen Modellbildung. Es ist nicht mehr relevant, ob eine angenommene Hirnfunktion neurophysiologisch modellierbar wäre, sondern ob sie einen evolutionären Nutzen aufweist (vgl. Hamburger, 1987, S. 183). Freud sieht die Psyche nun bestimmt von zwei Naturtendenzen: dem Drang aller organischen Materie, in den anorganischen Zustand zurückzukehren, und dem gegenläufigen Trieb, sich mit anderen Organismen zu einem höheren, vielzelligeren Organismus zu vereinigen. Zugleich mit der Betonung des Biologischen unterstreicht Freud aber auch die Interaktion und damit die Doppelnatur des biologisch-sozialen Ichs. In diese Phase fällt auch die kleine »Notiz über den Wunderblock« (Freud, 1925a), die in der sprachphilosophi-

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schen Diskussion große Wirkung entfaltet hat. Freud beschreibt darin eines jener Schreibtäfelchen, auf dem die Schrift sichtbar wird durch den Druck auf eine Zelluloid-Oberfläche, der die darunterliegende Wachspapierschicht an das Zelluloid anheftet. Die »Bahnungen« oder Erinnerungsspuren des »Entwurfs« werden nun als Schriftzeichen interpretiert. Das Problem des »Entwurfs«, wie aus einem Reflexwesen eine Psyche wird, ist nun radikal umgedeutet: Die Psyche ist, so will es scheinen, von Anfang an Schrift (dazu Hamburger, 1995, Kap. 2.1.5; 2016). Das Seelenmodell der Freud’schen Psychoanalyse ist seither von einer entschiedenen Ambivalenz zwischen Natur- und Kulturwissenschaft geprägt (Lorenzer, 1986). Diese Ambivalenz stand schon am Beginn der »biologischen Wende«, die besser als »bio-soziale Wende« bezeichnet werden sollte, wie der wissenschaftshistorische Kontext zeigt: Freuds Revision seines Seelenmodells lässt sich als Absetzung von C. G. Jung und seiner kulturwissenschaftlichen Wendung der Psychoanalyse rekonstruieren. In einer Serie von Publikationen zum Kindertraum propagierten die beiden Autoren, deren Auseinandersetzung um den Libidobegriff seit 1911 schwelte, sehr unterschiedliche Auffassungen von der psychischen Entwicklung. Die Differenzierung der Positionen erfolgte in zwei Runden: zunächst in der impliziten Differenz der aufeinander bezogenen kinderanalytischen Aufsätze (Freud, 1909b; Jung, 1910b; vgl. Hamburger, 1987, Kap. 0.2.4.2), später in der expliziten Abgrenzung Jungs von der sexualökonomischen Auffassung des Kindertraums und seiner Einführung mythologischer Deutungstechniken (Jung, 1913), die Freud zunächst mit einer mythenbezogenen Deutung des Wolfstraums beantwortet (Freud, 1913d; vgl. Hamburger, 1987, Kap. 0.2.2), sich wenig später jedoch zu einem methodischen Perspektivenwechsel gezwungen sieht (Freud, 1918b; vgl. Hamburger, 1987, Kap. 0.2.3 und 3.2.5). Bis zum Ende von Freuds Œuvre zieht sich diese Doppelgesichtigkeit der frühen Metapsychologie. Noch in einem Entwurf zur »Neuen Folge der Vorlesungen« meint Freud: »Die Analytiker sind im Grunde unverbesserliche Mechanisten und Materialisten, auch wenn sie sich hüten wollen, das Seelische und Geistige seiner noch unerkannten Eigentümlichkeiten zu berauben« (Freud, 1941d, S. 29).

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Psychoanalytische Seelenmodelle nach Freud Sind die Psychoanalytiker tatsächlich solche Mechanisten geblieben? In der weiteren Entwicklung der psychoanalytischen Theorie trat Freuds Anspruch einer mit den Naturwissenschaften konsistenten Modellbildung immer weiter zurück. Mittlerweile würden wohl die meisten Psychoanalytiker den Anspruch, aus der klinischen Erfahrung Aufschlüsse über ein physiologisch oder evolutions­ biologisch begründetes Modell der Hirnfunktion gewinnen zu wollen, als Paradigmenfehler zurückweisen. Tatsächlich hat sich seit den 1940er Jahren die Psychoanalyse als eigenständiges Forschungsgebiet etabliert. Die dynamischen, ökonomischen und topisch/ strukturellen Grundannahmen der Freud’schen Metapsychologie, von Rapaport und Gill (1959) um den genetischen und adaptiven Gesichtspunkt erweitert, wurden als Set von Kategorien akzeptiert, die einen klinisch-beobachtungswissenschaftlichen Ansatz erlaubten. Auf dieser Basis wurde die weitere Ausdifferenzierung der psychoanalytischen Modellkonstruktionen vor allem im klinischen Diskurs vorangetrieben. Die amerikanische Ich-Psychologie stellte den Brückenschlag zur akademischen Entwicklungs- und Kognitionspsychologie her und studierte Zusammenhänge zwischen Affektregulierung, Denken und Erinnern (Wallerstein, 2001; Mertens, 2010, Kap. 3). Demgegenüber positionierte sich, vor allem in Europa, eine sozialkritische Lesart der Psychoanalyse (Kutter, 1974; Whitebook, 2001), die das ich-psychologische Anpassungsmodell teilweise scharf wegen seiner Normengläubigkeit und seiner Blindheit gegenüber dem Beziehungsaspekt kritisierte (Heinz, 1974; Rudolf, 1976). Ging es in der Ich-Psychologie-Kontroverse um die Frage der Anpassung des Individuums an die Umwelt, so leitete die von der Kinderanalyse ausgehende psychoanalytische Objektbeziehungstheorie einen Perspektivwechsel ein. Ihr geht es nicht um Realitätsanpassung, sondern um phantasmatische Interaktion, um die Konstitution des Selbsterlebens durch die frühe Beziehungserfahrung und ihre Verinnerlichung in Form von Selbst- und Objektrepräsentanzen. Diese frühe Beziehungserfahrung bedarf einer aktiven Mitwirkung der Pflegepersonen – Freud hatte sie im Entwurf als »hilfreiche Person« eingeführt, doch hatte er diesen Gedanken nicht weiterverfolgt.

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Die »good enough mother« bietet dem Baby unbewusst Hilfestellung, sich im Rahmen der primären Beziehung zu konstituieren. Sie gibt ihm den Raum, die Objekte zu »erfinden« und die Brust magisch zu beherrschen, damit es schrittweise in eine Differenzierung Subjekt– Objekt übergehen kann, in der es Objekte durch Manipulation zu lenken lernt (Winnicott, 1953/1975, S. 305). Eine ähnliche Bedeutung schreibt auch die Selbstpsychologie (Kohut, 1977/1979) der frühen Interaktion zu. Eine Art Sammelbecken dieser klinischen und entwicklungspsychologischen Neuansätze ist die interaktionale Psychoanalyse, die das Unbewusste als eine interpersonale Entität begreift. Sie wurzelt in verschiedenen psychoanalytischen Schulen, vom Postlacanianismus über systemische Ansätze (Bauriedl, 1980), die auf die neoanalytische Feldtheorie zurückreichen (Levenson, 1972, 1983; Greenberg u. Mitchell, 1983; Benjamin, 1993; vgl. Mertens, 2011). Die interaktionalen Konzepte der Selbstpsychologie und der Objektbeziehungstheorie haben eine empirische Forschungsrichtung inspiriert, die psychoanalytische Säuglingsforschung. Die Öffnung zur akademischen Entwicklungsforschung, etwa der Bindungsforschung, und ihre Verbindung mit Entwicklungskonzepten der Objektbeziehungstheorie haben Konzepte wie etwa die Mentalisierung hervorgebracht, die heute im Zentrum der psychoanalytischen Entwicklungstheorie stehen und auf die klinische Modellbildung zurückwirken. Ausgangspunkt ist die Untersuchung von Abstimmungsprozessen zwischen Säugling und Pflegeperson (Condon u. Sander, 1974; Beebe, 1982, 2014; Beebe u. Lachmann, 2002/2004, 2003, 2013; Beebe u. Jaffe, 2007), mit Auswirkungen auf das Bindungssystem und das Langzeitgedächtnis. Langzeitaffekte, ein wichtiger Teil dieses Gedächtnisses, sind nach Stern (1986/1992) von Zeitsignaturen geprägt. In ihnen sind die Zeitkonturen wiederholter affekthaltiger Interaktionen zu einer charakteristischen Gestalt verdichtet. Langzeitaffekte werden in vielfacher Wiederholung zwischen Baby und Pflegeperson im »Affect Attunement« gespiegelt und ihre typischen Zeitkonturen, die »Vitalitätsaffekte«, als »generalisierte Interaktionsrepräsentanz (RIG)« im Langzeitgedächtnis abgelegt. Zugleich wird die Basis der Mentalisierung, der Vorstellung vom Selbst und vom Anderen, im biosozialen Feedback gelegt (Gergely u. Watson, 1996, 1999). Auch die Vorstellungsinhalte aus dem epi-

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sodischen Gedächtnis sind nach Stern (2004/2005) temporal organisiert. Sie folgen dem Zeitmuster des »Gegenwartsmoments«, einer erinnerbaren Erfahrungseinheit von 1 bis 10 Sekunden Dauer. Diese umgrenzte Zeitdauer des Gegenwartsmoments ergibt sich daraus, dass (1) diese Zeit erforderlich ist, um die 20 bis 150 Millisekunden dauernden primären Wahrnehmungen zu sinnvollen Einheiten zu gruppieren, (2) menschliches Verhalten aus Einheiten besteht, die ca. 10 Sekunden lang sind (etwa in sprachlichen Interaktionen, in der Musik, in Handlungen und in Mutter-Kind-Interaktionen) und (3) diese Zeitspanne erforderlich ist, um Bewusstsein aufzubauen. Verfügt die Psychoanalyse über eine eigenständige Forschungsmethode? – Freuds »Junktim« und seine Folgen Ein Jahrzehnt nach seinem gescheiterten »Entwurf« ist Freud dem, was heute als Psychoanalyse firmiert, einen entscheidenden Schritt nähergekommen. Im »Fall Dora« (»Bruchstück einer Hysterie-­ Analyse«, 1905e) zollt er dem Übertragungsbegriff die Anerkennung, die ihn zum zentralen Untersuchungsfeld der Psychoanalyse machen wird. Übertragungen sind nun »Neuauflagen, Nachbildungen von den Regungen und Phantasien, die während des Vordringens der Analyse erweckt und bewußt gemacht werden sollen, mit einer für die Gattung charakteristischen Ersetzung einer früheren Person durch die Person des Arztes« (Freud, 1905e, S. 179). Weitere zehn Jahre später stellt er fest, dass die analytische Behandlungssituation das wesentliche Erfahrungsfeld der Psychoanalyse konstituiert. Er beschreibt zum ersten Mal eindringlich die Idee, dass wissenschaftliche Erkenntnis aus analytischen Prozessen selbst zu ziehen sei – und zwar genau dann, wenn diese nicht nach bereits bekannten Interpretationsmustern ablaufen, sondern neue Konzeptualisierungen erfordern. Der analytische Prozess als Erkenntnisabenteuer? »Die in kurzer Zeit zu einem günstigen Ausgang führenden Analysen werden für das Selbstgefühl des Therapeuten wertvoll sein und die ärztliche Bedeutung der Psychoanalyse dartun; für die Förderung der wissenschaftlichen Erkenntnis bleiben sie meist belanglos. Man lernt nichts Neues aus ihnen. Sie sind ja nur darum so rasch geglückt, weil man bereits alles wusste, was zu ihrer Erledigung not-

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wendig war. Neues kann man nur aus Analysen erfahren, die besondere Schwierigkeiten bieten, zu deren Überwindung man dann viel Zeit braucht. Nur in diesen Fällen erreicht man es, in die tiefsten und primitivsten Schichten der seelischen Entwicklung herabzusteigen und von dort aus Lösungen für die Probleme der späteren Gestaltungen zu holen. Man sagt sich dann, dass, streng genommen, erst die Analyse, welche so weit vorgedrungen ist, diesen Namen verdient« (Freud, 1918b, S. 32). Freud schrieb diese Zeilen in der Einleitung zur Falldarstellung des »Wolfsmannes« (»Aus der Geschichte einer infantilen Neurose«, 1918b), einer seiner klassischen Kasuistiken, um zu begründen, dass das jahrelange Stagnieren einer analytischen Behandlung erforderlich sein könne, um schließlich, wie im vorgetragenen Fall, zu einer retrospektiven Analyse der Kindheitsneurose des Patienten vorzudringen. Dabei ist interessant, dass die Art der wissenschaftlichen Einsicht, die Freud sich von einem derart verlängerten Prozess verspricht, durchaus konservativ gefasst ist: Es ist eben nicht die abenteuerliche Fahrt ins Ungewisse der Übertragungs- und Gegenübertragungsszene, sondern eine durch die endliche Überwindung des Widerstandes verbesserte Datenlage, die dem Analytiker zuletzt eine erfolgreiche Rekonstruktion erlaubt. Welche Rolle die Übertragungsanalyse gespielt haben könnte, ist dem Text nicht zu entnehmen; Freud merkt lediglich an, dass erst die auf dem Höhepunkt einer positiven Übertragungsentwicklung durch eine Terminsetzung des Analytikers die rasche Auflösung möglich wurde. Warum der Patient auf die Drohung der Beendigung hin so gefügig reagierte, welche Übertragungsszene darin zum Ausdruck gekommen sein könnte, darauf enthält die Falldarstellung keine Hinweise. »Wissenschaftliche Erkenntnis« wird hier also noch nicht aus der Analyse einer Übertragungsszene gewonnen, sondern umgekehrt die Übertragungsbindung genutzt, um den Patienten zu veranlassen, hinreichend Material für eine Analyse durch das klassische »Erraten« zu liefern. Dieser erratene Zusammenhang wurde dann freilich validiert durch den Erfolg: »Unter dem unerbittlichen Druck dieser Terminsetzung gab sein Widerstand, seine Fixierung ans Kranksein nach, und die Analyse lieferte nun in unverhältnismäßig kurzer Zeit all das Material, welches die Lösung seiner

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Hemmungen und die Aufhebung seiner Symptome ermöglichte« (1918b, S. 34). Wie er sich den Wissensgewinn vorstellt, den eine Analyse hervorbringen könne, präzisiert Freud rund zehn Jahre später im »Nachwort zur Frage der Laienanalyse« (1927a). Hier fällt auch der Begriff »Junktim«, der seither für den von Freud intendierten Zusammenhang zitiert wird. »In der Psychoanalyse bestand von Anfang an ein Junktim zwischen Heilen und Forschen, die Erkenntnis brachte den Erfolg, man konnte nicht behandeln, ohne etwas Neues zu erfahren, man gewann keine Aufklärung, ohne ihre wohltätige Wirkung zu erleben. Unser analytisches Verfahren ist das einzige, bei dem dies kostbare Zusammentreffen gewahrt bleibt. Nur wenn wir analytische Seelsorge treiben, vertiefen wir unsere eben aufdämmernde Einsicht in das menschliche Seelenleben. Diese Aussicht auf wissenschaftlichen Gewinn war der vornehmste, erfreulichste Zug der analytischen Arbeit« (Freud, 1927a, S. 293 f.). Diese Aussage wird in »Neue Folge der Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse« (1933a) wieder aufgegriffen; der Wissensgewinn als »vornehmster Zug« erneut betont, freilich die kurative Anwendung als conditio sine qua non bekräftigt: »Ich sagte Ihnen, die Psychoanalyse begann als eine Therapie, aber nicht als Therapie wollte ich sie Ihrem Interesse empfehlen, sondern wegen ihres Wahrheitsgehalts, wegen der Aufschlüsse, die sie uns gibt über das, was dem Menschen am nächsten geht, sein eigenes Wesen, und wegen der Zusammenhänge, die sie zwischen den verschiedensten seiner Betätigungen aufdeckt. Als Therapie ist sie eine unter vielen, freilich eine prima inter pares. Wenn sie nicht ihren therapeutischen Wert hätte, wäre sie nicht an Kranken gefunden und über mehr als 30 Jahre entwickelt worden« (Freud, 1933a, S. 169). Die gegenseitige Bedingtheit von Fallverstehen und Erweiterung der Theorie sagt nun immer noch nichts darüber aus, auf welche Weise dieser »Wahrheitsgehalt« ermittelt und wie die in der klinischen Praxis gewonnenen Einsichten in allgemeine wissenschaftliche Aussagen überführt werden sollen. Die Meinungen darüber blieben geteilt. Dreher (1998) unterscheidet Forschung mit Originaldaten – wozu sie alle Phänomene rechnet, »die sich in der analytischen Situation ereignen« (Dreher, 1998, S. 58) –, mit sekundären

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Daten (wozu sie alle »nach außen transportierten« Daten rechnet, also z. B. Berichte oder Transkripte) und mit außerklinischen Daten (darunter versteht sie alle mit nichtanalytischen Methoden erhobenen, aber für die Psychoanalyse relevanten Forschungsbefunde, z. B. aus der Säuglings­forschung, der Affekt- und Kognitionsforschung). Online-Forschung?

Einige Autoren des sich entwickelnden psychoanalytischen Diskurses nahmen Freud beim Wort und ließen als »Junktim-Forschung« nur die online in der analytischen Situation gewonnenen Einsichten, einschließlich ihrer direkten Rückkopplung mit dem Patienten, gelten. So nennt (ohne den Junktim-Begriff zu erwähnen) Moser (1991) dies die analytische »Online-Forschung«, von der er allerdings eine Integration in situationsübergreifende Forschungsebenen erwartet. Online-Forschung bleibt ja auf die analytische Dyade beschränkt und ist nicht ohne Weiteres verallgemeinerungsfähig. Obwohl in der Geschichte der Psychoanalyse tatsächlich wesentliche konzeptuelle Fortschritte genau durch diese Primärerfahrung im Prozess gemacht wurden, wie etwa, um nur einige Beispiele zu nennen, die Formulierung der Narzissmustheorie und Selbstpsychologie durch Heinz Kohut (1971/1973, 1977/1979), der Objektbeziehungstheorie durch Klein, Bion, Winnicottt, Fairbairn, Guntrip und andere (vgl. dazu Mertens, 2014), ist die Spezifität dieser Online-Forschung, die Art ihrer Erkenntnisgewinnung und -validierung, selten untersucht worden. Dreher (1998) räumt hinsichtlich der Forschung mit »Originaldaten« ein, dass »in Bezug auf den Forschungsprozess diese Daten in spezieller Weise ›flüchtig‹ sind, dass nur der Analytiker privilegierten Zugriff auf sie hat und dass sie Dritten zunächst nicht zugänglich sind, und wenn überhaupt, dann stets nur vermittelt« (Dreher, 1998, S. 58). Damit würden sie freilich nach Drehers Definition zu sekundären Daten, und die auf ihnen fußenden Forschungsansätze sind wohl nicht mehr das, was Freud mit dem »Junktim« vor Augen hatte. Nehmen wir Freud beim Wort, so müsste die Junktim-Forschung einen Prozess beschreiben, in dem sich Forschen und Heilen gegenseitig bedingen. In anderen Worten: Heilung wird durch Forschung, Forschung durch Heilung bewirkt. Mit dieser Annahme

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einer durch Forschen bewerkstelligten Heilung macht Freud eine sehr wesentliche Aussage. Sie impliziert, dass dem Analytiker das, was er in der Analyse über den Patienten herausfindet, vorher nicht bekannt war, dass er mit dem Analysanden zusammen etwas für die Psychoanalyse Neues erkennt. Im deutlichen Gegensatz zur subsumtionslogischen Einordnung von Symptomen unter gesetzesförmigen Aussagen, etwa eines hysterischen Symptoms unter die Regel, dass solche Symptome Ausdruck eines verdrängten sexuellen Wunsches sein müssten, muss es sich beim »Junktim von Heilen und Forschen« um etwas Neuartiges handeln, also um etwas, das dem Analytiker vorher nicht bewusst ist, das erst im Hier und Jetzt der analytischen Dyade entsteht. Auf dem heutigen Stand der psychoanalytischen Praxis ist dieser Vorgang in der Tat nicht ungewöhnlich. Im Prozess der gemeinsamen Erforschung der Beziehung stoßen beide, Analytiker und Analysand, auf überraschende Erklärungsfiguren. Sie können oftmals erst im gemeinsamen Reflektieren verstehen, dass sie zuvor, ohne es zu bemerken, eine Übertragungs-Gegenübertragungs-Szene agiert hatten. Alfred Lorenzer (1970) hat diese Form der Erkenntnis das »sze­nische Verstehen« genannt und es vom »logischen Verstehen« des propositionalen Gehalts der Rede und dem »psychologischen Verstehen« oder »Nacherleben« der Intention des Patienten unterschieden. Das szenische Verstehen ist für die Psychoanalyse spezifisch. In der Etablierung des analytischen Dialogs wird eine besondere Beziehung angestrebt, in der die Subsumtionslogik sistiert und eine neue, sich der unbewussten Bewegung beider Beteiligter öffnende Bereitschaft entsteht, sich überraschen zu lassen. Sie ermöglicht die Reinszenierung der zentralen Konflikte des Patienten unter unbewusst handelnder Mitwirkung im Sinne einer Rollenübernahme (Sandler, 1976). Eine im Hier und Jetzt des analytischen Prozesses emergierende Erkenntnisfigur hat nicht den Status einer wissenschaftlichen Erkenntnis, ja nicht einmal den einer Forschungshypothese. Sie zielt nicht darauf ab, über die Situation hinaus prüf- oder beweisbare Einsichten zu liefern, selbst dann nicht, wenn sie sich, wie im Fall von genetischen Deutungen, auf die Rekonstruktion von lebensgeschichtlich relevanten Einflüssen auf die gegenwärtige Psychodynamik beziehen. Solche Annahmen können in der Regel nicht historisch belegt werden. Kindliches Erleben lässt sich

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auch auf Familienfotos nicht festhalten. Dennoch genügt es nicht, sich lediglich auf das interne Stimmigkeitserleben von Patient und Analytiker zu verlassen. Als perspek­tivischer Bezugspunkt muss der »Originalvorfall« im Sinne von Lorenzer erhalten bleiben, auch wenn er nicht mit Gewissheit zu belegen ist. Jedenfalls werden historische Fakten nicht ignoriert; vor allem wenn sie mit der Erinnerung nicht übereinstimmen, wird dies zum Thema der Rekonstruktionsarbeit. Umgekehrt tauchen gelegentlich parallel zum rekonstruktiven Prozess in der Analyse Fakten auf, die die Rekonstruktion zu bestätigen scheinen und das, was in der Dyade vermutet wurde, validieren. Das Wahrheitszeichen der Online-Forschung in der analytischen Dyade besteht in der Übereinstimmung vieler Kriterien: Interne Stimmigkeit im Sinne von Detailreichtum, Vollständigkeit, Kohärenz und Selbstkonsistenz (Spence, 1982) sowie Selbsttranszendenz (Boothe, 1994) werden gemeinsam evaluiert im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Erfahrung in Übertragung und Gegenübertragung sowie den bekannten histo­rischen Fakten (vgl. hierzu Hamburger, 1998). Die Rekonstruktion in der analytischen Dyade ist niemals gänzlich abgeschlossen, sie wird permanent überarbeitet, auch nach dem Ende der gemeinsamen Analyse und ihrem Übergang in die »unendliche« Selbstanalyse werden im Hier und Jetzt auftauchende Erfahrungen auf ihren unbewussten Gehalt und ihre Passung mit der Vergangenheit reflektiert. Die Frage, ob in der analytischen Dyade valide Erkenntnis zu gewinnen sei, hat seit Jahrzehnten die methodologischen Bemühungen der Psychoanalyse geprägt. Meadow (1984, 1995) betrachtet die psychoanalytische Situation als »natürliches Experiment«, in dem Patient und Analytiker sich treffen, um die in der analytischen Beziehung regelmäßig auftretenden Phänomene zu untersuchen. »The greatest strength of the psychoanalytic research method is its ability to investigate, in detail, particular aspects of human nature without separating them from the entirety of the personality« (Meadow, 1984, S. 126). In diesem Forschungssetting spielt besonders die Entfaltung der unmittelbaren Übertragungs- und Gegenübertragungsmanifestationen eine Rolle (Shepherd, 2004). Dieser Prozess der Herausbildung übergreifender Konzepte aus dem Diskurs der Kliniker wurde verschiedentlich systema­tisiert; so

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etwa in der »komparativen Kasuistik« (Jüttemann, 2009) oder in der Methode der aggregierten Einzelfallstudien (Leuzinger-­Bohleber, 1987, 1995; Stuhr, 1995; Leuzinger-Bohleber u. Fischmann, 2006). So schlägt etwa Dreher (1998) als einen dem Junktim adäquaten Forschungsansatz die »Konzeptforschung« vor. Sie baut auf einem systematischen Vergleich von Befunden aus der »Originaldaten«-Forschung in der analytischen Situation auf, wie sie zum Beispiel im Zuge der Erstellung des Hampstead-Index über Jahrzehnte geleistet wurde. Ausgehend von dem Versuch, die zahlreichen dokumentierten kinderanalytischen Behandlungsfälle einheitlich zu indizieren, um sie forschungszugänglich zu machen, wurden Inkonsistenzen der verwendeten klinischen und theoretischen Begrifflichkeiten vermerkt. Dies führte zu einem jahrzehntelangen rekursiven Klärungsprozess in enger Zusammenarbeit von Forschern und Behandlern, dessen Resultate veröffentlicht wurden. So gelangte die Forschungsgruppe zu einem konsistenten Gebäude klinisch-psychoanalytischer Konzepte, deren wesentliche Datenquelle die »Online-Daten« der miteinander verglichenen Behandlungsprozesse waren. Dieser konzeptuelle Forschungsansatz wurde in einem Nachfolgeprojekt am Sigmund-Freud-Institut Frankfurt am Main zur systematischen Klärung des Traumabegriffs (Sandler, Dreher u. Drews, 1991; Dreher, 1998, Kap. 5) aufgegriffen. Auch andere Autoren verfolgen den Ansatz, eine systematische Synopsis von publizierten Kasuistiken zur Anreicherung klinischer Konzepte der Psychoanalyse zu nutzen (Desmet et al., 2013). Extraklinische Forschung Über diese auf der Online-Erfahrung aufbauende synoptische Forschungstradition hinaus gibt es eine weitere Auffassung des Junktims im Sinne einer Überprüfung und Verallgemeinerung der in der Einzelanalyse gewonnenen Erkenntnisse durch verschiedene Methoden der außeranalytischen Forschung. Kächele, Schachter und Thomä (2009) schlagen vor, Einzelfallstudien systematisch forschungszugänglich zu machen, indem Audio- und Video­aufzeichnungen mehrperspektivisch untersucht werden. Thomä und Kächele (2007) halten das dyadische Couchsetting zwar für unentbehrlich, sehen die weitgehende Beschränkung auf die diskursive Verknüpfung der dort gewonnenen Ergebnisse jedoch als Behinderung einer zeitgemäßen

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Auffassung von Forschung. »Forschung in der analytischen Situation ist nicht selbstverständlich mit therapeutischem Handeln verknüpft und umgekehrt. Das Junktim muss jeweils erst hergestellt werden« (Thomä u. Kächele, 1996, S. 464). Sie schreiben die Befunde aus der klinischen Praxis dem Entdeckungszusammenhang (»context of discovery«) zu, fordern jedoch weitere Überprüfung solcher Erkenntnisse in einem Begründungszusammenhang (»context of justification«). Sie unterscheiden drei Formen psychoanalytischen Wissens: das deskriptiv-klassifikatorische Wissen der Symptomatologie, das Bedingungswissen über die Ätiologie und Pathogenese psychischer Krankheiten und das Therapie- und Änderungswissen der psychoanalytischen Behandlungstechnik. Nur die letztere Wissensform entspringt, so die Autoren, unmittelbar der Behandlungserfahrung, während die Störungslehre (Deskription/Klassifikation) ebenso wie das Wissen über Bedingungszusammenhänge nur zum Teil auf Daten aus der analytischen Situation zurückgreifen. Charakterisiert wird die Theorie der Psychoanalyse durch Aussagen über Störungsursachen (Bedingungswissen) und durch Aussagen über therapeutisches Handeln (Änderungswissen). Um dieses Theoriengebäude zu errichten und zu stützen, sind demnach neben der Erfahrung in der klinischen Situation auch extraklinische Erkenntnisse erforderlich. Grundlagenforschung zu ätiologischen Zusammenhängen und anwendungswissenschaftliche Forschungen zur Praxis müssen die unmittelbare klinische Erfahrung ergänzen. Sie folgen »den üblichen Methoden empirischer Forschung« (Thomä u. Kächele, 1996, S. 463). Letztere sind freilich ein weiter Begriff. Der Kanon reicht von experimentellen und fragebogengestützten Studiendesigns bis zu qualitativ-empirischen Forschungsansätzen; beide sind in der Psychotherapieforschung üblich. Ergänzend wären sozial- und kulturwissenschaftliche Methoden zu nennen, die ebenfalls – nicht nur im Feld der angewandten Psychoanalyse – genuin psychoanalytische Konzepte aufgegriffen und differenziert haben (vgl. z. B. Hamburger, 2018a). All diese externen Forschungsansätze haben wichtige Beiträge zur Überprüfung und Erweiterung psychoanalytischer Theorien geleistet.

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Interdisziplinarität Auf dem Stand der Entwicklung der Psychoanalyse zur Beziehungswissenschaft wird der Ansatz einer kombinierten Online- und Offline-­Forschung wieder attraktiv. In Ergänzung zu den Fortschritten der Outcomeforschung (Levy u. Ablon, 2009) ist es vor allem die Prozessforschung (Kächele et al., 2009), die Aufschluss über die Wirkungsweise der psychoanalytischen Therapie verspricht. Avancierte Methoden und Fragestellungen der Nachbarwissenschaften legen es nahe, diesen Ansatz weiterzuverfolgen und die psychoanalytische Situation extraklinisch zu beforschen, ohne sie zu beeinträchtigen. Diese Auffassung des Junktims impliziert eine Neubelebung der frühen Interdisziplinarität der Psychoanalyse. Versteht man nämlich das Junktim als ausschließende Kategorie – und in der Tat haben in der Geschlossenheit des Vereins viele Psychoanalytiker geglaubt, Wesentliches zur Weiterentwicklung der psychoanalytischen Theorie könne nur durch die spezifische psychoanalytische Empirie geleistet werden –, so verkennt man die Bedeutung inter­ disziplinärer Forschung für die Konstitution dieser Theorie. Freuds Neubestimmung der Verursachung ebenso wie der Behandlung psychischen Leidens wäre nicht möglich gewesen ohne einen weitgespannten inter­disziplinären Kontext. Dies gilt bereits für seine eigenen Interessengebiete der Neuropathologie und Psychopathologie, die er als aktiver Forscher vertrat, sowie der Archäologie und Ethnologie, die er auf dem Forschungsstand seiner Zeit rezipierte. In seinem engsten Umfeld arbeiteten neben Ärzten auch Literaturwissenschaftler (Theodor Reik, Otto Rank), Juristen (Hanns Sachs, Ernst Federn), Anthropologen (Géza Róheim) sowie Insider von Kultur (Lou Andreas-Salomé, James Strachey) und Politik (Prinzessin Marie Bonaparte).

Hirn und Zeit: Unbewusste Interaktion Zahlreiche Studien zur Wirksamkeitsforschung (Levy u. Ablon, 2009; Huber, Henrich, Clarkin u. Klug, 2013; Kordy u. Kächele, 2017) oder zur interdisziplinären Erforschung psychoanalytischer Konzepte (z. B. Leuzinger-Bohleber, Böker, Fischmann, Northoff u.

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Solms, 2015; Leuzinger-Bohleber, Arnold u. Solms, 2017; Kettner u. Mertens, 2010) haben die Psychoanalyse vom Ruf der Forschungsabstinenz weitgehend befreit. Im Folgenden soll eine spezifische Perspektive der Prozessforschung herausgearbeitet werden, die mit der von der Boston Change Process Study Group (2002) herausgearbeiteten zeitlichen Intensität des Prozesses verbunden ist. Die Psychoanalyse der Gegenwart mit ihrer Betonung von Interaktion, Reinszenierung, Affektabstimmung und Zeitdramaturgie ermöglicht eine Reihe von neuen interdisziplinären Bezügen, die der klinischen ebenso wie der extraklinischen Erforschung analytischer Prozesse neue Perspektiven eröffnen. Sie erlauben eine Anknüpfung an Befunde aus der neurophysiologischen Grundlagenforschung (Gallese, 2013), der EEG-Forschung (Koukkou u. Lehmann, 1998; Hamburger, 1998) sowie der Säuglingsforschung (Stern, 1986/1992). Insbesondere der »Gegenwartsmoment« (Stern, 2004/2005) als zentrales Element der Beziehungsgestaltung und zugleich der Gedächtnisorganisation, seine temporalen, affektiven, performativen Strukturen, bildet in der Psychotherapieprozessforschung, aber auch in der Grundlagenforschung ein aktuelles Paradigma. Resonanz Für das menschliche Sozialverhalten spielen soziale Resonanzphänomene eine bedeutsame Rolle (Rosa, 2016; Pfänder, Herlinghaus u. Scheidt, 2017). Gesicherte sprachwissenschaftliche Forschungen weisen darauf hin, dass Sprecher das Timing ihrer verbalen und nonverbalen Handlungen auf einer Vielzahl von Ebenen synchronisieren (Auer, Couper-Kuhlen u. Müller, 1999, S. 15) und in der fortlaufenden verkörperten Kommunikation rhythmische Figurationen aushandeln (Pfänder et al., 2017). Synchronisierung wird oftmals mit Empathie in Verbindung gebracht (Kupetz, 2014; Regenbogen et al., 2012). Die nonverbale Synchronisierung wird auch als bedeutsamer Faktor der Beziehungsqualität betrachtet. Die psychoanalytische Situation wird als gegenseitiger, wesentlich temporaler Abstimmungsprozess beschrieben (Hamburger, 2009). Tschacher und Ramseyer (2017) fassen eine große Zahl von Studien zusammen, die darauf

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hinweisen, dass die nonverbale Synchronie die Qualität der Therapiebeziehung vorhersagt. Empathie und Bruch: Die soziale Produktion von Unbewusstheit Im Gegensatz zu dieser Auffassung weist die psychoanalytische Forschung auf die bedeutsame Rolle der Desynchronisierung hin. Die Dialektik von Kontinuität und Bruch ist Voraussetzung der Entstehung unbewusster Kognitionen, die dem Freud’schen dyna­mischen Unbewussten entsprechen; entsprechend sind auch Brucherfahrungen Vorbedingung qualitativ gehaltvoller therapeutischer Beziehungen, so etwa die in Interviews mit Holocaust-Zeitzeugen beobachtbaren Desynchronisierungen (Hamburger, 2015; Bleimling, 2017; Hamburger u. Metzner, 2017). Gerade in wichtigen psychoanalytischen Sitzungen werden oftmals Beziehungsabbrüche, traumatische Rup­turen, Disharmonien und Dysbalancen sowohl inhaltlich verhandelt als auch szenisch wiederholt. Ihr »Containment« im therapeutischen Dialog stellt das therapeutische Movens der Psychoanalyse dar. Solche »schwierigen Situationen« oder Rupturen sind bisher empirisch wenig erforscht (Hamburger, 2015). Einer der wesentlichen Befunde der Boston Change Process Study Group (2002) war die Identifizierung von »Momenten der Begegnung« in Psychotherapien, die von beiden Beteiligten als intensiv erlebt und erinnert werden. Stern (2004/2005) errichtet auf diesem Befund seinen Begriff des »Gegenwartsmoments«, des elementaren längsten Zeitabschnitts, den wir kontinuierlich bewusst erleben und erinnern können. Dieser Gegenwartsmoment ist, obwohl interaktiv konstruiert, zugleich zentrale Organisationseinheit des individuellen seelischen Lebens. Die derzeit vorherrschenden Paradigmata in der psychoanalytischen Behandlungstechnik und Störungstheorie, die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie und die relationale oder interpersonale Psychoanalyse, verorten seelische Entwicklung in der Reziprozität der frühen Dyade mit der Mutter. Dementsprechend wird auch das emotionale Geschehen in der analytischen Sitzung als Wiederholung von Grundmustern der (dyadischen) Bezogenheit schlechthin gesehen. In zeitgenössischen Kasuistiken überwie-

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gen filigrane Rekonstruktionen der Korrespondenz von Übertragungs- und Gegenübertragungsphantasien. Titel wie »The musical edge of the therapeutic dialogue« (Knoblauch, 2000) indizieren ein Verständnis von Psychoanalyse, in dem es zentral um die temporale Abstimmung zwischen den Dialogbeteiligten geht. Man kann auch Empathie musikanalog konzipieren (Buchholz, 2014b, 2017; Buchholz u. Reich, 2015). Melodische Interaktion ist auch in Psychotherapiedialogen untersucht worden (Weiste u. Peräkylä, 2014). Lehrbücher der psychoanalytischen Behandlungstechnik (Beebe u. Lachmann, 2002/2004; Beebe u. Jaffe, 2007) übertragen Befunde zur Rhythmusabstimmung aus der Säuglingsforschung auf den thera­ peutischen Prozess (vgl. Seligman, 2012), und es gibt Studien zu störungsspezifischen Synchronisierungsdefiziten wie etwa die Blickabstimmung zwischen aggressiven Adoleszenten und ihren Therapeuten (Topel u. Lachmann, 2007). Die Forschungsperspektive, die sich hier eröffnet, geht insofern von den »Originaldaten« oder der »Online-Forschung« aus, als sie sich auf videografierte analytische Sitzungen stützt und emergente Momente dieser Sitzungen multiperspektivisch untersucht. Der Online-Forschungscharakter wird dadurch gewahrt, dass (bis auf die Präsenz der Kamera) das Entstehen von Sinnfiguren in der Sitzung dem offenen und oftmals überraschenden Prozess anheimgestellt bleibt. Die Untersuchung dieser Sitzungen folgt auch nicht dem Schema einer qualitativen oder quantitativen Auswertung, in der nach vorgegebenen Kriterien Sitzungsmerkmale erhoben werden, sondern sie versucht die emergenten »now moments« bzw. »moments of meeting«, also die für beide Beteiligten erlebbaren Aufgipfelungen der dyadischen Begegnung zu identifizieren (Hamburger, 2016; Hamburger u. Metzner, 2017) und anschließend aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven (neben der Psychoanalyse etwa Konversationsanalyse, Linguistik, Tanz- und Theaterwissenschaft und pädagogische Anthropologie, aber auch Neurowissenschaften und Robotik) intensiv zu beschreiben. Das erwartete Ergebnis dieser konzertierten Forschungsbemühung ist ein vertieftes Verständnis der interaktiven Verfertigung von Unbewusstheit ebenso wie deren aufdeckendes Bewusstwerden. Ein solches Verständnis von extraklinischer Erforschung eines

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klinischen Online-Forschungsprozesses trägt der Performativität des analytischen Prozesses Rechnung und zieht für ihr Verständnis die Sichtweise der Künstewissenschaften heran (Fischer-Lichte, 2004). Überdies kann sie empirisch die im psychoanalytischen Diskurs vermutete Analogie zwischen frühkindlichen Regulierungserfahrungen und der temporalen Struktur der analytischen Sitzung (Boston Change Process Study Group, 2002; Beebe u. Lachmann, 2002/2004) erhellen, etwa indem pragmatische und affektkommunikative Sprechrhythmen in solchen Momenten identifiziert werden (Auer et al., 1999; Buchholz, 2014a; Buchholz, Spiekermann u. Kächele, 2015). Diese empirische Untersuchung kann, wie schon von Moser (1991) vorhergesagt, im interdisziplinären Dialog analytische Modelle des Unbewussten präzisieren (Buchholz u. Gödde, 2013) – dies betrifft auch den interdisziplinären Dialog mit Forschergruppen, die sich neurowissenschaftlich mit Neuronaler Oszillation und Inter-Brain-Synchronisation befassen (Sänger, Lindenberger u. Müller, 2011) oder Aufmerksamkeitsprozesse im Gebiet der Robotik modellieren (Schillaci, Hafner u. Lara, 2016). In Auseinandersetzung mit Begriffen wie Synchronisation und Rhythmus wird der interaktiv gewendete psychoanalytische Begriff des Unbewussten neue Bedeutungsebenen an sich ziehen, die der veränderten, globalisierten und virtualisierten Lebenswelt entsprechen (vgl. Hamburger, 2009, 2018a, 2018b). Was kann diese Grundlagenforschung für die medizinische Anwendung erbringen? Zunächst einmal vertieft sie, wie jede Grundlagenforschung, die Kenntnisse über das in lebendiger Interaktion entstehende Seelenleben und seine Störungen, die ebenfalls mit interaktiven Prozessen verknüpft sind. In diesem Sinne trägt sie, wie Moser (1991) am Beispiel der Computersimulation ausführt, zur Generierung abstrakter Modelle bei. Dennoch wirkt diese Modellierung auch unmittelbar auf die Praxis zurück. Psychotherapeuten, die die unbewusste musikanaloge Ko-Produktion von Begegnungsmomenten des Dialogs mit den Patienten wahrzunehmen lernen, werden eher bereit sein, ihre unbewusste Präsenz einzubeziehen und – wenn sie ein entsprechend sensibles, entschleunigtes Setting anbieten können, in dem sich die autonomen Momente der Begegnung entfalten können – diese zur gemeinsamen Aufklärung zu nut-

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zen. Das könnte auch eine Perspektive auf die Beziehung des Arztes zum Patienten eröffnen.

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Martin Teising

Überlegungen zur Bedeutung ärztlicher Erfahrung für die Psychoanalyse1

Die Psychoanalyse mit ihrem Kern, der psychotherapeutischen Patientenbehandlung, wurde von Sigmund Freud entwickelt, der als Naturforscher und Arzt begonnen hatte. In dieser Arbeit möchte ich ärztliche Erfahrungen darstellen, die die Psychoanalyse geprägt haben und ihr heute verloren zu gehen drohen.

Die Entwicklung der Psychoanalyse im medizinischen Umfeld Freud beschreibt seine persönliche Entwicklung: »Nach 41jähriger ärztlicher Tätigkeit sagt mir meine Selbsterkenntnis, ich sei eigentlich kein richtiger Arzt gewesen. Ich bin Arzt geworden durch eine mir aufgedrängte Ablenkung meiner ursprünglichen Absicht, und mein Lebenstriumph liegt darin, daß ich nach großem Umweg die anfängliche Richtung wieder gefunden habe. Aus frühen Jahren ist mir nichts von einem Bedürfnis, leidenden Menschen zu helfen, bekannt, meine sadistische Veranlagung war nicht sehr groß, so brauchte sich dieser ihrer Abkömmlinge nicht zu entwickeln. Ich habe auch niemals ›Doktor‹ gespielt, meine infantile Neugierde ging offenbar andere Wege. In den Jugendjahren wurde das Bedürfnis, etwas von den Rätseln dieser Welt zu verstehen und vielleicht selbst etwas zu ihrer Lösung beizutragen, übermächtig. Die Inskription an der medizinischen Fakul1 Überarbeitete und erweiterte Fassung des Beitrages »Überlegungen zur Bedeutung und zum Rückgang spezifisch ärztlicher Erfahrung in der Psychoanalyse« in C. Frank, A. Kidess (Hrsg.) (2015). Zur Psychoanalyse im Hier und Jetzt (S. 155–167). Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel.

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tät schien der beste Weg dazu, aber dann versuchte ich’s – erfolglos – mit der Zoologie und der Chemie, bis ich unter dem Einfluß v. Brückes, der größten Autorität, die je auf mich gewirkt hat, an der Physiologie haften blieb, die sich damals freilich zu sehr auf Histologie einschränkte. Ich hatte dann bereits alle medizinischen Prüfungen abgelegt, ohne mich für etwas Ärztliches zu interessieren, bis ein Mahnwort des verehrten Lehrers mir sagte, daß ich in meiner armseligen materiellen Situation eine theoretische Laufbahn vermeiden müßte. So kam ich von der Histologie des Nervensystems zur Neuropathologie und auf Grund neuer Anregungen zur Bemühung um die Neurosen. Ich meine aber, mein Mangel an der richtigen ärztlichen Disposition hat meinen Patienten nicht sehr geschadet. Denn der Kranke hat nicht viel davon, wenn das therapeutische Interesse beim Arzt affektiv überbetont ist. Für ihn ist es am besten, wenn der Arzt kühl und möglichst korrekt arbeitet« (Freud, 1926b, S. 290 f.). Freud erwartete, dass es eines Tages eine naturwissenschaftliche Erklärung von Neurosen und für ihre Therapie geben würde. »Bei dem innigen Zusammenhang zwischen den Dingen, die wir als körperlich und als seelisch scheiden, darf man vorhersehen, daß der Tag kommen wird, an dem sich Wege der Erkenntnis und hoffentlich auch der Beeinflussung von der Biologie der Organe und von der Chemie zu dem Erscheinungsgebiet der Neurosen eröffnen werden. Dieser Tag scheint noch ferne, gegenwärtig sind uns diese Krankheitszustände von der medizinischen Seite her unzugänglich« (Freud, 1926a, S. 264). Etwa dreißig Jahre vorher hatte Freud (1895/1950c) versucht, auf Basis der seinerzeit neu entdeckten Nervenzellen ein physiologisches Modell wesentlicher psychischer Funktionen zu konzeptualisieren, das er »Kontaktschranke« nannte. Die anatomischen Spekulationen erwiesen sich als unhaltbar. Das dynamische Verständnis der Funktion der Kontaktschranke hingegen ist mit aktuellen Befunden aus den Naturwissenschaften erstaunlich gut kompatibel. Freud hatte postuliert, dass Reize, die aus der Außenwelt oder dem Körperinneren stammen können, auf zwei unterschiedliche Arten von Nervenzellen treffen. Eine lässt die Erregungsenergie hindurch und leitet sie an ausführende Organe weiter. Nach dem Erregungsablauf bzw. -durchlauf kehren diese Zellen in ihren Ausgangszustand zurück. Sie verändern

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sich durch den Vorgang nicht. Freud nannte sie (φ) Phi-Elemente, eine Bezeichnung, die auf die physiologische Bedeutung hinweist. Ein anderer Teil der Energie trifft aber auf Nervenzellen, die sie nicht ohne Weiteres passieren lassen, sondern eine Barriere bilden. Sie filtern und speichern Energie und verändern sich dadurch. Aus frei fließender Energie Q wird Qη, an Nervenzellen gebundene Energie. Diese Zellen nennt er wegen ihrer psychologischen Bedeutung (ψ) Psi-Elemente. Psi-Elemente werden untereinander vernetzt und bilden die Kontaktschranke, die bei erneutem Reiz eine alternative Reaktion ermöglicht. Der Konzeption eines Nervensystems aus zwei unterschiedlichen biologischen Elementen entspricht die dialektische Vorstellung von Kontakt durch Weiterleitung einerseits und von Widerstand andererseits, also der Schrankenfunktion. Mit dem Begriff der Kontaktschranke wird die Dialektik jeder Grenze, die zwischen Unterschiedlichem differenziert und trennt, damit Kontakte aber erst ermöglicht und zugleich wieder beschränkt, ausgedrückt (1895/1950c, S. 388 ff.). Auf dieser Grundlage entwickelte Freud dann später sein Verständnis des Ichs. Das Ich wurde zunächst definiert als die Gesamtheit der (ψ) Psi-Besetzungen. Es hat Wahrnehmungs-, Speicherungs-, Bewusstseins- und Erinnerungsfunktion, es ermöglicht ein verändertes individuelles Reagieren auf innere Bedürfnisse und äußere Reize, die mit Erinnerungen verknüpft und libidinös besetzt werden können. 1920 postuliert Freud, dass eine Rindenschicht Reize von außen filtert, den Reizen von innen aber direkt ausgesetzt ist: »Stellen wir uns den lebenden Organismus in seiner größtmöglichen Vereinfachung als undifferenziertes Bläschen reizbarer Substanz vor; dann ist seine der Außenwelt zugekehrte Oberfläche durch ihre Lage selbst differenziert und dient als reizaufnehmendes Organ. […] es wäre dann leicht denkbar, daß durch unausgesetzten Anprall der äußeren Reize an die Oberfläche des Bläschens dessen Substanz bis in eine gewisse Tiefe dauernd verändert wird, so daß ihr Erregungsvorgang anders abläuft als in tieferen Schichten. Es bildete sich so eine Rinde, die endlich durch die Reizwirkung so durchgebrannt ist, daß sie der Reizaufnahme die günstigsten Verhältnisse entgegenbringt und einer weiteren Modifikation nicht fähig ist. Auf das System Bw übertragen, würde dies meinen, daß dessen Elemente keine Dauerverände-

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rung beim Durchgang der Erregung mehr annehmen können, weil sie bereits aufs äußerste im Sinne dieser Wirkung modifiziert sind« (Freud, 1920g, S. 25 f.). Die äußere reizaufnehmende Schicht dient dann der Abwehr, erstarrt, vielleicht wie eine Hornhaut, und prägt die Persönlichkeit. Gegenüber inneren Reizen besteht diese Abwehrmöglichkeit nicht in dieser Form. »Es wird sich die Neigung ergeben, sie so zu behandeln, als ob sie nicht von innen, sondern von außen her einwirken, […] dies ist die Herkunft der Projektion« (S. 29). Äußere Reize, die nicht verarbeitet, von der »Hornhaut« nicht abgefangen werden können, durchbrechen den Reizschutz. Sie können traumatisch wirken. Traumatisierung hängt demnach nicht nur von Qualität und Stärke der einwirkenden Kraft ab, sondern auch von der Beschaffenheit der Grenze, der Kontaktschranke, wenn wir bei dem Begriff bleiben. Bei traumatischem Durchbruch des Reizschutzes rechnet Freud also schon 1920 mit einer »direkten Schä­ digung der molekularen Struktur oder selbst der histologischen Struktur der nervösen Elemente« (S. 31). Heutige neurowissenschaftliche Befunde lauten verblüffend ähnlich. In einer anderen Arbeit vergleicht Freud die Arbeitsweise des Wahrnehmungssystems der Oberfläche mit der eines »Wunderblocks« (Freud, 1925a), bei dem die Einschreibungen oberflächlich, dem bewusst Sichtbaren entzogen, doch in einer tieferen Schicht unterhalb der Oberfläche dauerhaft eingeritzt sein können. Im »Abriß der Psychoanalyse« (Freud, 1940a) benennt er noch einmal die Grenzfunktion der Ich-Instanz und ihre Topografie: »Ursprünglich als Rindenschicht mit den Organen der Reizaufnahme und den Einrichtungen zum Reizschutz ausgestattet, hat sich eine besondere Organisation hergestellt, die von nun an zwischen Es und Außenwelt vermittelt« (S. 68). Das Modell der Kontaktschranke ist in Vergessenheit geraten, obwohl Bion (1962) es wieder aufgriff und ein eigenes Modell entwickelte. Es scheint mir heute aber wieder besonders interessant, da es sowohl mit neurowissenschaftlichen Konzepten als auch mit zeitgenössischen psychoanalytischen Modellen korrespondiert. Dieses Beispiel demonstriert, wie stark die frühe Theoriebildung der Psychoanalyse vom medizinischen Denken beeinflusst war. Vor jeder

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psychoanalytischen Behandlung sollten nach Freud körperliche Ursachen der Beschwerden ausgeschlossen werden. »Wenn man einen Kranken, der an sogenannt nervösen Störungen leidet, in analytische Behandlung nimmt, will man vorher die Sicherheit haben, – soweit sie eben erreichbar ist, – daß er sich für diese Therapie eignet, daß man ihm also auf diesem Wege helfen kann. Das ist aber nur der Fall, wenn er wirklich eine Neurose hat« (1920g, S. 273 f.). Diese Regel gilt nicht mehr uneingeschränkt. Natürlich müssen auch heute körperliche Beschwerden medizinisch abgeklärt werden. Aber heute gehört auch die psychotherapeutische Behandlung seelischer Bedingungen und der Folgen körperlicher Erkrankungen zum psychoanalytischen Indikationsspektrum.

Die Erweiterung der Psychoanalyse über das medizinische Umfeld hinaus Freud vertrat die Meinung, dass keineswegs alle Psychoanalytiker denselben Weg, wie er selbst ihn gegangen war, gehen müssten. »Es ist ungerecht und unzweckmäßig, einen Menschen, der den andern von der Pein einer Phobie oder einer Zwangsvorstellung befreien will, zum Umweg über das medizinische Studium zu zwingen« (1920g, S. 282). Er geht noch einen Schritt weiter, wenn er sagt: »Die sogenannte ärztliche Ausbildung erscheint mir als ein beschwerlicher Umweg zum analytischen Beruf, sie gibt dem Analytiker zwar vieles, was ihm unentbehrlich ist, lädt ihm aber außerdem zuviel auf, was er nie verwerten kann, und bringt die Gefahr mit sich, daß sein Interesse wie seine Denkweise von der Erfassung der psychischen Phänomene abgelenkt wird« (Freud, 1926b, S. 288). Freud war ein leidenschaftlicher Verfechter der sogenannten Laienanalyse. Sie wird von Psychoanalytikern durchgeführt, die weder einen ärztlichen noch einen psychologischen Grundberuf erlernt haben. Er weist auf die grundlegende Bedeutung anderer Bezugsdisziplinen für die Psychoanalyse hin: »Wir halten es nämlich gar nicht für wünschenswert, daß die Psychoanalyse von der Medizin verschluckt werde und dann ihre endgültige Ablagerung im Lehrbuch der Psychiatrie finde, im Kapitel Therapie, neben Verfahren wie hypnotische Suggestion, Autosugges-

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tion, Persuasion, die, aus unserer Unwissenheit geschöpft, ihre kurzlebigen Wirkungen der Trägheit und Feigheit der Menschenmassen danken. Sie verdient ein besseres Schicksal und wird es hoffentlich haben. Als ›Tiefenpsychologie‹, Lehre vom seelisch Unbewußten, kann sie all den Wissenschaften unentbehrlich werden, die sich mit der Entstehungsgeschichte der menschlichen Kultur und ihrer großen Institutionen wie Kunst, Religion und Gesellschaftsordnung beschäftigen. Ich meine, sie hat diesen Wissenschaften schon bis jetzt ansehnliche Hilfe zur Lösung ihrer Probleme geleistet, aber dies sind nur kleine Beiträge im Vergleich zu dem, was sich erreichen ließe, wenn Kulturhistoriker, Religionspsychologen, Sprachforscher usw. sich dazu verstehen werden, das ihnen zur Verfügung gestellte neue Forschungsmittel selbst zu handhaben. Der Gebrauch der Analyse zur Therapie der Neurosen ist nur eine ihrer Anwendungen; vielleicht wird die Zukunft zeigen, daß sie nicht die wichtigste ist. Jedenfalls wäre es unbillig, der einen Anwendung alle anderen zu opfern, bloß weil dies Anwendungsgebiet sich mit dem Kreis ärztlicher Interessen berührt« (Freud 1926a, S. 283 f.). In den Vereinigten Staaten blieb die Ausübung der Psychoanalyse als Psychotherapie lange den Psychiatern vorbehalten. Erst seit 1989 können Psychologen offiziell Mitglieder der amerika­nischen psychoanalytischen Vereinigung werden, nachdem sie dies gerichtlich erkämpft hatten.

Aktuelle Entwicklungen In Deutschland trat 1999 das Psychotherapeutengesetz in Kraft, mit dem Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten einen selbstständigen Heilberuf ausüben, der von der Delegationspflicht durch Ärzte entbunden wurde. Die laienanalytische Ausbildung von Psychoanalytikern anderer Provenienz, die in der Geschichte der Psychoanalyse wesentliche Beiträge geliefert haben, wurde damit de facto abgeschafft. Die Richtlinien der großen Fachgesellschaften ermöglichen Laien nach wie vor eine psychoanalytische Ausbildung, die allerdings so gut wie gar nicht mehr stattfindet, da diese Kandidaten ihre Behandlungsfälle nicht über die Krankenkassen abrechnen können.

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Kultur- und sozialwissenschaftliche Wurzeln der Psychoanalyse trocknen auf diesem Weg aus. Seither werden in psychotherapeutischen Ausbildungsinstituten ganz überwiegend Psychologische Psychotherapeuten ausgebildet. Dies gilt für verhaltenstherapeutisch orientierte wie für tiefenpsychologische und psychoanalytische Ausund Weiterbildungsinstitute. Auf ärztlicher Seite werden nach der Musterweiterbildungsordnung Ärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und für Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie- und -psychotherapie aus- und weitergebildet, die den Zusatztitel Psychoanalyse erwerben können. Ob dieser Zusatztitel auch von anderen Facharztgruppen erworben werden kann, ist in den Kammern der einzelnen Bundesländer unterschiedlich geregelt. Die ärztlichen Weiterbildungen für die P-Fachärzte stellen hohe Anforderungen, und immer weniger Ärzte streben darüber hinaus die Zusatzbezeichnung Psychoanalyse an. Die Gesundheitsberichterstattung des Bundes zählt 2015 insgesamt 40.490 Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sowie 18.437 psychotherapeutisch qualifizierte Ärzte, davon 3.155 mit dem Zusatztitel Psychoanalyse. Die Entwicklung zur Psychologischen Psychotherapie und zur Verhaltenstherapie ist eindeutig. Heribert Blass hat die Ausbildungssituation der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung analysiert. Seine Untersuchungsergebnisse lassen sich so zusammenfassen: »Die Zukunft der Psychoanalyse ist weiblich und psychologisch« (Blass, 2009). Die Kammern für Psychologische Psychotherapeuten und -therapeutinnen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und -therapeutinnen, zu denen Ärzte nicht gehören, bezeichnen sich als Psychotherapeutenkammer, so als würden sie alle Psychotherapeuten, auch die ärztlichen, vertreten. Der wissenschaftliche Mainstream Psychologischer Psychotherapie folgt einem nomothetischen Wissenschaftsverständnis, das psychoanalytisches Denken ausschließt. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie empfiehlt und fordert mit dem Bologna-Prozess Studienabschlüsse eines Bachelors und Masters of Science, nicht of Arts, wie er in den Humanwissenschaften verliehen wird. Im ICD wird seit 1991 von psychischen Störungen anstelle von Krankheiten gesprochen. Interessanterweise wird bei allen ande-

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ren Organsystemen, außer dem Immunsystem und eben der Psyche, der Krankheitsbegriff verwendet. Ein Ohr, ein Herz, eine Lunge und ein Bein können erkranken, eine Seele offenbar nicht mehr, sie ist »gestört«. Die Symptome werden rein deskriptiv und scheinbar theoriefrei aufgezählt, Entstehungsursachen, die den psychoanalytischen Überlegungen zugrunde liegen, werden im ICD nicht mehr berücksichtigt. Damit wird der Versuch, sich ihnen verstehend und erklärend psychodynamisch zu nähern, aufgegeben. Rein phänomenologisch beschriebenen Störungen des Funktionsablaufes, die behoben werden müssen, liegt ein mechanisches Maschinenbild des Menschen zugrunde, so wie es der Schulmedizin oft generell zugeschrieben wird. Mit Krankheit verbindet sich aber Leiden und damit das Erleben des Kranken, des geduldig leidenden Patienten, der sein jeweils ganz subjektives Krankheitskonzept entwirft und die Symptome als sinnvolle Leistung zu verstehen bemüht ist. Im modernen ökonomisierten Gesundheitswesen wird aus dem an einer Krankheit leidenden Patienten der Kunde, der eine zu behebende Störung meldet. Aus einer auf dem Solidaritätsprinzip aufgebauten Krankenkasse ist eine am Markt agierende Gesundheitskasse geworden. Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens mit dem Ziel, Krankheit auszublenden, ist besorgniserregend. Die bisher skizzierte Entwicklung sollte verdeutlichen, dass die Psychoanalyse sowohl von ihren geisteswissenschaftlichen als auch von ihren medizinischen Wurzeln abgeschnitten wird.

Was geht der Psychoanalyse durch die aktuelle Entwicklung verloren? Wenn die Medizin, wie weit verbreitet, den Menschen mithilfe eines maschinenähnlichen Modells erklärt, sicher nicht viel, außer vielleicht der auch in der psychoanalytischen Beziehung notwendigen Fähigkeit, sich vom Patienten distanzieren und ihn von außen beschreiben zu können. Sofern aber ein Mensch mit einem anderen in Beziehung tritt und das zwischenmenschliche Geschehen eine Bedeutung erhält, sobald die für die psychoanalytische Haltung charakteristische Trias »Präsenz, Gegenübertragung und Einsicht« (Zwiebel, 2013) als wesentlich für die psychoanalytische Hal-

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tung definiert wird, lassen sich charakteristische und hoch­spezifische Merkmale der Arzt-Patient-Beziehung beschreiben, die die Therapeut-Patient-Beziehung in einer psychodynamisch orientierten Psychotherapie und in der ihr zugrunde liegenden Psychoanalyse von wesentlicher Bedeutung sind. Wenn beim Menschen etwas nicht störungsfrei verläuft, wenn er Schmerzen, Unwohlsein oder andere ungewohnte körperliche Phänomene wahrnimmt oder wenn seine Stimmung, seine Wahrnehmung, sein Erinnerungsvermögen oder seine Denkprozesse nicht wie gewohnt funktionieren, irritiert und beunruhigt ihn das. Er sucht nach Erklärungen. Findet er sie nicht selbst oder erscheinen ihm seine eigenen Erklärungen bedrohlich, hat er sich als Kleinkind an die Pflegeperson, in der Regel die Mutter, gewandt. Als Erwachsener wendet er sich an Fachkundige. Vor der Aufklärung suchten Menschen Erklärungen in magisch-religiös geprägten Vorstellungen und entsprechenden Ratgebern und Heilkundigen. Auch heute noch fließt, insbesondere in Notsituationen, magisches Denken in magische Erklärungsmuster und in das Verhalten ein. In unserer Kultur wendet sich der Mensch, der sich krank fühlt, in der Regel an den Arzt. Dieser teilt nach der Untersuchung seine Diag­nose und Therapieempfehlung mit. Allein schon die Bezeichnung eines Symptoms, seine Benennung, beinhaltet einen Ansatz seines Verständnisses und kann es als etwas Bekanntes und damit weniger Beunruhigendes erscheinen lassen. In ihrer erstberuflichen Sozialisation begehen Mediziner massive Tabubrüche. Sie sind es gewohnt, Menschen zu begegnen, die ihre Bekleidung in direkter, aber auch in übertragener Weise abgelegt haben, sie sehen sich mit menschlicher Blöße konfrontiert. »Ärzte genießen auf sexuellem Gebiet gewisse Vorrechte; sie dürfen ja auch die Genitalien inspizieren« (Freud, 1926a, S. 234). Sie sehen durch sämtliche Körperöffnungen ins Körperinnere, verletzen Körpergrenzen und kommen mit allen Ausscheidungsprodukten des menschlichen Körpers »hautnah« in Berührung. Sie dringen in den Patienten körperlich und seelisch ein und werden ihrerseits von ihm durchdrungen. Sie erleben existenzielle Vorgänge wie Gebären, das Ringen mit dem Tod und das Sterben mit allen dazugehörigen Gefühlen auf unmittelbare Weise. Sie übernehmen

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Verantwortung, die ihnen angetragen wird und die nicht selten in großer Not durch regressive Bedürfnisse verstärkt wird, welche sich in der Übertragung manifestieren. Die in solchen Situationen wach werdenden kindlichen Abhängigkeitsbedürfnisse der Patienten, die frühkindlichem Beziehungserleben entsprechen, können mit Allmachtsphantasien von Ärzten, ihrer Bestätigung und ihrer Enttäuschung, korrespondieren. In der Arzt-Patient-Interaktion geht es neben der sachlichen Abklärung also stets auch um emotionale Bedürfnisse. Das Beunruhigende, das Angstauslösende, das mit den Symptomen, die zum Arzt führen, verbunden ist, soll aufgelöst werden. Der Patient wünscht Entlastung von Angst. Selten hört er daher vom Arzt eine Aussage wie »ich weiß auch nicht«. Die Sozialisation des Arztes entspricht weitgehend dem Wunsch ihrer Patienten nach einem kompetenten, möglichst allmächtigen Helfer. Der Arzt selbst wirkt als »Droge Arzt«, wie der Psychoanalytiker Michael Balint (2001, S. 1) schrieb. Mit dieser Wirkung ist ein großer Teil der Placebowirkungen zu erklären. Seit der Aufklärung sucht man nach rationalen logischen Erklärungen für alle Phänomene. Ein wichtiger Schritt bei der Entwicklung eines naturwissenschaftlich dominierten Krankheitsverständnisses war der Bruch des weithin geltenden Tabus der Leichenöffnung in der Renaissance. Jetzt durfte nachgesehen werden, was im Körper eines Verstorbenen geschehen war und den Tod verursacht hatte. Das war ein entscheidender Durchbruch zu einer enorm erfolgreichen Medizin, in der allerdings der Mensch allzu häufig rein mechanistisch, ohne Seele, verstanden wird. Die Technik- und Wissenschaftsgläubigkeit der Medizin nimmt ihrerseits wieder religiöse Züge an. Horst-Eberhard Richter hat die von Machbarkeits- und Allmachtsphantasien geprägte zugrunde liegende Haltung als »Gotteskomplex« beschrieben (Richter, 1980). Prototyp der Arzt-Patient-Beziehung ist die frühe Pflegebeziehung des Menschen. Der zu früh geborene Nesthocker Mensch ist existenziell auf sie angewiesen und damit von Anbeginn seines Lebens darauf festgelegt, nur als soziales Wesen lebensfähig zu sein. Aus dieser frühen Beziehung erwachsen göttliche Vorstellungen. Die Pflegeperson erscheint allmächtig, von ihr ist der Säugling existenziell abhän-

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gig. Spiegelbildlich wird ihm selbst Allmacht vorgetäuscht, wenn es »her majesty the baby« zum Beispiel durch ein Lächeln gelingt, Entzücken in seiner Umwelt auszulösen. Diese frühen verinnerlichten Beziehungserfahrungen gehen in den Umgang mit Krankheitssymptomen, die das Bedürfnis nach Wiederherstellung der Gesundheit erzeugen, mit ein. Als »Halbgötter in Weiß« wurden die Mediziner in den 1970er Jahren kritisch beschrieben. Trotz einer weitgehenden Überwindung patriarchaler Abhängigkeiten, oft allerdings auch um den Preis von verzweifelter Orientierungslosigkeit, ist gerade in Momenten großer Hilflosigkeit das Bedürfnis kranker Menschen nach Anlehnung besonders groß. Auch ein benevolenter Paternalismus steht heute aber unter dem Generalverdacht des Machtmissbrauchs. In der Arzt-Patient-Beziehung zeigt sich jedoch sehr deutlich ein regressives Bedürfnis, das neuerdings als »human branding«, als »Personenmarke des Chefarztes«, versucht wird zu restituieren. Von Ärzten wird erwartet, dass sie unabhängig von der Tagesoder Nachtzeit für ihre Patienten in Not zur Verfügung stehen und sie sich ihre Patienten nicht auswählen können. Sie sollten mit noch so schwierigen Menschen unterschiedlichster Herkunft umgehen können. Ärzte fühlen als menschliche Wesen unvermeidbar mit ihren Patienten mit und müssen sich zugleich distanzieren, um professionell handlungs- und überlebensfähig zu bleiben. Nähe und Distanz müssen ständig neu justiert werden. Diese unumgängliche Aufgabe des Mitfühlens und des sich Distanzierens wird auf sehr unterschiedliche, allzu oft leider auch zynisch-abwehrende Weise gelöst. Eine sich aus diesen Erfahrungen entwickelnde taktvoll-teilnehmende und zugleich reflektierende, Distanz wahrende und Abstinenz ermöglichende, für den Anderen Verantwortung übernehmende Haltung ist eine wertvolle Basis und ein Modell für die Entwicklung einer psychoanalytischen Haltung.

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Überlegungen zum Gesundheitsund Krankheitsverständnis Das Krankheitsverständnis, das sich aus den Erfahrungen in diesen zwischenmenschlichen Begegnungen ergibt, widerspricht dem naturwissenschaftlichen Maschinenmodell ebenso wie dem nomothetischen der akademischen Psychologie. Auch heute, lange nach der Aufklärung, im Zeitalter der Moderne und Postmoderne, mit ihrer diagnostischen Dominanz bildgebender Verfahren, denen ihrerseits wieder zauberhafte Potenz zugeordnet wird, wirken magische Erklärungsmuster von Krankheiten unterschwellig weiter. Offenbar stecken in allen von uns heute Lebenden Erfahrungen unserer Vorfahren und wirken weiter. Die Weltgesundheitsorganisation definierte 1948 Gesundheit als einen »Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein des Fehlens von Krankheit und Gebrechen« (WHO, 1948). Diese Definition ist sehr allgemein gehalten und enthält die Begriffe Wohlbefinden und Krankheit, die ihrerseits nicht definiert sind, was oft Kritik hervorrief, ihrer weiten Verbreitung aber nicht schadete. Ein so allgemein formuliertes Ziel entspricht einer Utopie. Psychoanalytisch betrachtet entspricht vollkommenes Wohlbefinden einem primärnarzisstischen Zustand, wobei man sich unter Psychoanalytikern weitgehend einig ist, dass damit nicht eine Rückkehr zu einem ursprünglichen Zustand gemeint ist. Die erste Wahrnehmung ist wohl die einer Einschränkung, eines Mangels, »no breast«, in der Mythologie als Vertreibung aus dem Paradies dargestellt. Die kollektiv geteilte Vorstellung einer Erinnerung an ein paradiesisches Erleben lässt uns aber lebenslang nach einem solchen Zustand streben. Die WHO modifizierte dann 1986 in der Ottawa-Charta ihre Gesundheitsdefinition. »Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. […] Grundlegende Bedingungen und konstituierende Momente von Gesundheit sind Frieden, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung, Einkommen, ein stabiles Öko-System, eine sorgfältige Verwendung vorhandener Natur-

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ressourcen, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit« (WHO, 1986, S. 1 f.). Hier wird nicht mehr von Gesundheit, sondern von einem Prozess der Gesundheitsförderung gesprochen, der auch für psychoanalytische Behandlungsziele gelten kann: Der Patient soll, von neurotischen Einschränkungen befreit, ein höheres Maß an Selbstbestimmung erlangen, was zur Stärkung seiner Gesundheit beiträgt. Prozesse und Abläufe technischer, sozialer, ökonomischer und finanzpolitischer Natur, die unser Leben bestimmen, sind für den Einzelnen aber heute immer weniger durchschaubar, immer weniger nachvollziehbar und immer weniger mitbestimmbar. Von der Autonomie des Individuums kann eigentlich immer weniger die Rede sein, der Umgang mit elektronisch gespeicherten Daten, dem der einzelne Nutzer völlig hilflos ausgeliefert ist, macht das besonders deutlich. In diametralem Gegensatz dazu steht, dass in der öffentlichen Wertediskussion der Selbstbestimmung des Individuums ein immer größerer Stellenwert zugemessen wird und die individuelle Autonomie zum höchsten Wert der westlichen Zivilisation geworden ist. Besonders deutlich wird dies in den Diskussionen um die »endof-life decisions« (Patientenverfügung, ärztlich assistierter Suizid), in denen ein sich vertrauensvoll auf einen wohlmeinenden solida­ rischen Anderen verlassen nicht vorgesehen ist. Zwischenmenschliche Solidarität auf der Basis der für den Menschen charakteristischen Fähigkeit, sich in den Anderen einzufühlen, tritt als ethischer Wert in den Hintergrund. Das Angewiesensein des Individuums auf den Anderen wird zum Skandalon und reflexhaft mit hilfloser Abhängigkeit assoziiert. Die Abhängigkeit menschlicher Existenz von jeweils anderen Menschen relativiert die einseitige Aussage der Ottawa-Charta, nämlich dass Gesundheitsförderung qua Selbstbestimmung die Gesundheit stärke. Zum Verständnis psychischer Erkrankung, meint die euro­päische WHO-Konferenz, »muss man sich nicht nur der Notwendigkeit bewusst sein, sein Wissen rational zu erweitern, sondern auch der Notwendigkeit, sich mit unbewussten Ideen und Einstellungen zur Prävention auseinanderzusetzen« (WHO, 2006, S. 77). Bemerkenswert ist, dass die europäischen Gesundheitsminister empfehlen, die Dimension des Unbewussten zu berücksichtigen.

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Schon Freud schrieb: »Um aber zunächst bei der Psychologie zu verbleiben: Wir haben erkannt, dass die Abgrenzung der psychischen Norm von der Abnormalität wissenschaftlich nicht durchführbar ist, so dass dieser Unterscheidung trotz ihrer praktischen Wichtigkeit nur ein konventioneller Wert zukommt« (1940a, S. 125). Im Deutschen Ärzteblatt heißt es: »Psychosomatische Verstehens­ ansätze werden immer unabweisbarer auch naturwissenschaftlich untermauert«, die »polare Unterscheidung von organisch/seelisch, Soma/Psyche ist obsolet und stellt nur eine Hilfskonstruktion zum Zweck von (unvermeidlich zergliedernder) Forschung und Didaktik dar«. Es wird zugleich ein unbewusster Widerstand gegen nicht »naturwissenschaftlich« erklärbare Zusammenhänge bei der Krankheitsentstehung und -aufrechterhaltung angenommen (Fischer, 2015, S. 112). Freud sah aber auch schon die interessengeleitete Gefahr, die ärztliches Wissen für ärztliche Psychoanalyse bedeuten kann: »Erstens läßt sich die Vereinigung organischer und psychischer Behandlung in einer Hand nicht gut durchführen, zweitens kann das Verhältnis der Übertragung es dem Analytiker unratsam machen, den Kranken körperlich zu untersuchen, und drittens hat der Analytiker allen Grund, an seiner Unbefangenheit zu zweifeln, da sein Interesse so intensiv auf die psychischen Momente eingestellt ist« (Freud, 1926a, S. 278). Für Patienten sei es gleichgültig, »ob der Analytiker Arzt ist oder nicht, wenn nur die Gefahr einer Verkennung seines Zustandes durch die angeforderte ärztliche Begutachtung vor Beginn der Behandlung und bei gewissen Zwischenfällen während derselben ausgeschaltet wird. Für ihn ist es ungleich wichtiger, daß der Analytiker über die persönlichen Eigenschaften verfügt, die ihn vertrauenswürdig machen, und daß er jene Kenntnisse und Einsichten sowie jene Erfahrungen erworben hat, die ihn allein zur Erfüllung seiner Aufgabe befähigen« (Freud, 1926a, S. 279). Auch wenn Freud zu dem Schluss kommt, »es ist alles richtig, was über die Schwierigkeit der Differentialdiagnose, die Unsicherheit in der Beurteilung körperlicher Symptome in vielen Fällen gesagt wurde, was also ärztliches Wissen oder ärztliche Einmengung notwendig macht, aber die Anzahl der Fälle, in denen solche Zweifel

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überhaupt nicht auftauchen, der Arzt nicht gebraucht wird, ist doch noch ungleich größer« (Freud, 1926b, S. 292).

Berufsspezifische Sichtweisen anhand eines Fallbeispiels Auf unterschiedlicher beruflicher Sozialisation beruhende differierende Haltungen werden in folgender Fallgeschichte verdeutlicht: Eine Psychologische Psychotherapeutin betreut eine schwer kranke Patientin mit Anorexia nervosa in einer letalen Situation. Nach jahrzehnte­ langen erfolglosen therapeutischen Bemühungen, einschließlich einer Psychoanalyse, wiegt sie heute 28 kg. Ihr ist bewusst, dass sie sterben wird. Die Therapeutin behandelt sie über viele Jahre und hat intensiv mit der Patientin über die Entscheidung zu leben oder zu sterben gesprochen. Sie sieht ihre Aufgabe jetzt darin, die Patientin bei ihrer freien Entscheidung zum Sterben zu begleiten. Der freie Wille der Patientin wird in einer Falldiskussion von Ärzten infrage gestellt und die Notwendigkeit einer Betreuung gesehen. Es gehöre zur ethischen Verantwortung, lebensrettend tätig zu werden. Die Ärzte sehen eine Einschränkung des freien Willens der Patientin und begründen dies sowohl mit den bei diesem Gewicht eingeschränkten Hirnfunktionen als auch mit dem für diese Erkrankung charakteristischen Autonomiewahn. Die beteiligten Psychologischen Psycho­therapeuten sehen hingegen die Autonomie der Patientin als schützenswertes Gut, das aus ethischen Gründen nicht verletzt werden dürfe.

Diesen voneinander abweichenden Einschätzungen liegen unterschiedliche berufliche Entwicklungen zugrunde. Das Verständnis der Patientenautonomie, das hier die Einschätzung der Psychologen leitet, übergeht das selbstdestruktive, Leben zerstörende Potenzial der Patientin. Die Tatsache, dass der Erhalt des Lebens Voraussetzung für jede annähernd autonome Entscheidungsmöglichkeit ist, ist nicht im Blick. Sich für den Erhalt des Lebens einzusetzen und zerstörerischen Tendenzen entgegenzuwirken, entspricht ärztlicher Ethik. Psychotherapeutische Beziehungen sind geprägt von Projektionen, Iden­tifizierungen und projektiven Identifizierungen, die Heinz

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Weiss (2014) beschrieben hat. Durch seine Arbeiten wissen wir, dass unbewusste Verwicklungen zu Einschätzungen mit weitreichenden Folgen führen können, wie in der oben geschilderten Situation. Die psychoanalytische Reflexion ärztlicher Beziehungserfahrungen in existenziellen Extremsituationen ist in dieser Hinsicht besonders Erkenntnis generierend. Es wäre ein herber Verlust, wenn die Psychoanalyse zukünftig auf ärztlich-medizinische Erfahrungen verzichten müsste. Paradoxer­ weise droht die Psychoanalyse noch medizinischer (im Sinne des Maschinenmodells) zu werden, wenn der Patient nach nomothetischem Verständnis zu einem zu untersuchenden, zu beschreibenden und zu reparierenden Werkstück wird.

Literatur Balint, M. (1957/2001). Der Arzt, sein Patient und die Krankheit (10. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta. Bion, W. (1962). Lernen durch Erfahrung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Blass, H. (2009). »Sag mir, wo die Männer sind«. Überlegungen zur veränderten Geschlechterverteilung in sozialen Berufen und insbesondere in der psychoanalytischen Ausbildung. In F. Dammasch, H.-G. Metzger, M. Teising (Hrsg.), Männliche Identität. Psychoanalytische Erkundungen (S. 65–80). Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz (Österreich) (o. J.). Gesundheitsdefinition der WHO 1948. Zugriff am 14.05.2018 unter https://www.bmgf.gv.at/home/Gesundheit_und_Gesundheitsfoerderung Fischer, G. (2015). Psychosomatik: Das missachtete Gebiet. Deutsches Ärzteblatt, 112 (8), A-330/B-285/C-281. Freud, S. (1895/1950c). Entwurf einer Psychologie. GW Nachtragsband (S. 387– 477). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1920g). Jenseits des Lustprinzips. GW Bd. XIII (S. 3–69). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1925a). Notiz über den »Wunderblock«. GW Bd. XIV (S. 3–8). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1926a). Die Frage der Laienanalyse. GW Bd. XIV (S. 209–286). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1926b). Nachwort zur »Frage der Laienanalyse«. GW Bd. XIV (S. 287– 296). Frankfurt a. M.: Fischer. Freud, S. (1940a). Abriss der Psychoanalyse. GW Bd. XVII (S. 63–138). Frankfurt a. M.: Fischer.

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Ploeger, A., Neises, M. (2006). Ärztliche Psychotherapie in Deutschland. Gestern – heute – morgen. Ärztliche Psychotherapie, 1, 7–13. Richter, H. E. (1980). Der Gotteskomplex. Reinbek: Rowohlt. Weltgesundheitsorganisation (WHO) (1986). Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung. Zugriff am 14.05.2018 unter http://www.euro.who.int/__data/ assets/pdf_file/­0 006/129534/Ottawa_Charter_G.pdf?ua=1 Weltgesundheitsorganisation (2006). Psychische Gesundheit: Herausforderungen annehmen, Lösungen schaffen. Bericht über die Ministerkonferenz der Europäischen Region der WHO. Zugriff am 14.05.2018 unter http://www. euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0009/96453/E87301G.pdf Weiss, H. (2014). Projective identification and working through of the countertransference: A multiphase model. International Journal of Psycho-­ Analysis. 95 (4), 739–756. Zwiebel, R. (2013). Was macht einen guten Psychoanalytiker aus? Grundelemente professioneller Psychotherapie. Stuttgart: Klett-Cotta.

Die Autorinnen und Autoren

Ute Auhagen-Stephanos, Dr. med., Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychosomatische Medizin in Neu-Ulm; Psycho­ analytikerin in eigener Praxis (DPV, IPA, ISPPM); Mitgliedschaft im Beratungsnetzwerk Kinderwunsch Deutschland (BKID) und in der Deutschen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin; seit Anfang der 1980er Jahre Arbeiten am Problem der weiblichen Unfruchtbarkeit und den Folgen der Reproduktionsmedizin; seit 20 Jahren Kooperation mit Kinderwunschzentren; Entwicklung des Mutter-­ Embryo-Dialogs als therapeutische Intervention; psychotherapeutische Arbeit in der Reproduktionsmedizin. Günther Bittner, Prof. em. Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut; Psychoanalytiker; Professor für Pädagogik an der PH Reutlingen sowie an den Universitäten Bielefeld und Würzburg. Wissenschaftliche Schwerpunkte: Pädagogik der Lebensalter, päda­ gogische Biografieforschung und Grundlagen der Psychoanalyse. Anna Buchheim, Univ.-Prof., Dr. biol. hum., Dipl.-Psych., Psychoanalytikerin (DPV, IPA, DGPT); Professur für Klinische Psychologie an der Universität Innsbruck; Dekanin der Fakultät für Psychologie und Sportwissenschaft; Vizepräsidentin der Gesellschaft zur Erforschung und Therapie von Persönlichkeitsstörungen (GePs) e. V.; Gastprofessur an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Klinische Bindungsforschung, Transgenerationale Forschung von Bindungstraumata, Psychodynamische Psychotherapieforschung, Neurowissenschaften.

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Die Autorinnen und Autoren

Eckhard Frick, Dr. med., M. A. (phil., theol.), Psychoanalytiker (C. G. Jung), Professor für Psychologische Anthropologie und Spiritual Care an der Hochschule für Philosophie und an der Technischen Universität München (Forschungsstelle Spiritual Care, Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum rechts der Isar, www.spiritualcare.de), erster Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität (www.iggs-online.org). Wissenschaftliche Schwerpunkte: Bindungstheorie und Spiritualität, spirituelle Kompetenz der Gesundheitsberufe, philosophische Grundlagen der Humanmedizin. Volker Fröhlich, Dr. phil., Dipl.-Psych., Akademischer Direktor am Institut für Pädagogik der Universität Würzburg. Arbeitsschwerpunkte: Psychoanalyse in der Pädagogik, pädagogische Biografieforschung, Kinder- und Jugendforschung, Entwicklungsprozesse im Kindes- und Jugendalter, Qualitative Forschungsmethoden. Andreas Hamburger, Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychoanalytiker (DPG), Professor für Psychologie an der International Psychoanalytic University, Berlin; forscht derzeit zu sozialem Trauma, szenisch-narrativer Mikroanalyse, Filmpsychoanalyse und Supervision. Helmwart Hierdeis, Dr. phil., Psychoanalytiker, Professor i. R. für Erziehungswissenschaften an den Universitäten Erlangen-Nürnberg und Innsbruck und Gründungsdekan der Fakultät für Bildungswissenschaften Brixen der Freien Universität Bozen. Wissenschaftliche Schwerpunkte: Pädagogische Historiografie, Bildungstheorie, Psychoanalytische Pädagogik, Traumforschung. Paul L. Janssen, Dr. med., Univ.-Prof. für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universität Bochum (Emeritus), war Leitender Arzt der LWL-Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin; Lehranalytiker (DPV, IPV, DGPT), Gruppenlehranalytiker (D3G), Gründungsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und ärztliche Psychotherapie (DGPM). Wissenschaftliche Schwerpunkte: Stationäre multimodale Psychotherapie, psychoanalytische Diagnostik und

Die Autorinnen und Autoren337

Psychotherapie, OPD, Gruppenpsychotherapie, Psychosomatische Störungen, Borderline-Störungen, Versorgungsforschung. Ulrike Kadi, Assoc. Prof., Priv.-Doz., DDr., Psychoanalytikerin (WAP/IPA), Philosophin, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin an der Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Theorien des Körpers, strukturale Psychoanalyse, Geschlechterforschung. Ulrich Lamparter, Priv.-Doz. Dr. med., Dipl.-Psych., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker (DPV). Langjährige berufliche Tätigkeit an der Abteilung für Psychosomatik und Psychotherapie der Medizinischen Klinik des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf und als Leiter des Adolf-Emst-Meyer-lnstituts für Psychotherapie; arbeitet jetzt in eigener Praxis. Yvonne Petersen, Dr. med., Internistin und Palliativmedizinerin, war als Palliativärztin auf der Palliativstation an der Klinik für Palliativmedizin am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in München tätig. Psychotherapeutische Weiterbildung; seit 2003 mit Schwerpunkt Bindungstheorie. Psychotherapeutische Begleitung von Palliativpatienten auf derselben Palliativstation. Martin Scherer, Prof. Dr. med., Facharzt für Allgemeinmedizin, war Professor für Versorgungsforschung und ihre Methoden am Institut für Sozialmedizin der Universität Lübeck. Gründungsmitglied und stellv. Sprecher des akademischen Zentrums für Bevölkerungsmedizin und Versorgungsforschung Lübeck; Praxistätigkeit in Göttingen und Thüringen. Er war Komm. Direktor des Instituts für Sozialmedizin der Universität Lübeck; Direktor am Institut für Allgemeinmedizin, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und Leiter der klinischen Allgemeinmedizin am UKE. Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) sowie Sprecher der Ständigen Leitlinienkommission der DEGAM; Mitglied der Leitlinienkommission der

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Die Autorinnen und Autoren

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Georg Schönbächler, Dr. sc. nat., ETH, Pharmazeut und Psychologe, Lehrbeauftragter an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich. Wissenschaftliche Schwerpunkte: Placeboeffekt, Schmerz, Neuropsychoanalyse und semiotische Aspekte der Medizin. Gerhard Schüßler, Univ.-Prof., Dr. med., Direktor der Universitätsklinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie in Innsbruck. Wissenschaftliche Schwerpunkte: Medizinische Psychologie, Psychosomatische Medizin und Psychodynamische Psychotherapie, Arzt-Patient-Kommunikation, Gründungsmitglied der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD). Wolfgang Söllner, Prof. Dr. med., Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytiker, Lehranalytiker (DGPT) und psychoanalytischer Familientherapeut; vormals Leiter der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum Nürnberg; Professor für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Nürnberger Standort der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität, zurzeit Vizerektor; Präsident der European Association of Psychosomatic Medicine. Wissenschaftliche und klinische Schwerpunkte: Psychoonkologie, psychosomatische Aspekte bei chronischem Schmerz und psychotherapeutische Verfahren bei körperlich Kranken. Barbara Stein, Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychologische Psychotherapeutin (tiefenpsychologisch orientiert), paar- und familientherapeutische Ausbildung, Psychoonkologin, Leitende Psychologin der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum Nürnberg und an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität. Wissenschaftliche Schwerpunkte: Psychotherapie bei körperlich Kranken; Psychoonkologie; Supervision; Kommunikationstraining, Psychosomatische Fort- und Weiterbildung von Mitarbeitern im Gesundheitssystem; Leitlinienentwicklung; Dokumentation und Qualitätssicherung; Versorgungsforschung mit

Die Autorinnen und Autoren339

Schwerpunkt Konsiliar-/Liaisonversorgung, stationäre Psychotherapie und Psychosomatik, Basisdokumentation. Friedrich Stiefel, Professor für Psychiatrie und Psychotherapie, ist Chefarzt des Psychiatrischen Liaisondienstes am Universitätsspital Lausanne, arbeitet klinisch hauptsächlich als Psychotherapeut mit körperlich Kranken und als Supervisor. Er unterrichtet Medizinstudenten über die psychischen Aspekte körperlicher Erkrankungen und die Arzt-Patient-Beziehung und ist verantwortlich für Kommunikationskurse, die in der frankophonen Schweiz für Onkologen eingerichtet worden sind. Wissenschaftliche Schwerpunkte: Inte­ grierte Versorgung von Patienten mit somatischen und psychischen Komorbiditäten, Psychotherapie und körperliche Erkrankung, Fortund Weiterbildung in medizinischer Kommunikation sowie phänomenologische Studien zum Erleben von Ärzten. Martin Teising, Prof. Dr. phil., Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin, Lehranalytiker (DPV), ist Präsident der International Psychoanalytic University Berlin; er war Vorsitzender der DPV und Mitglied des Rates der Europäischen Psychoanalytischen Föderation und ist europäischer Repräsentant im Vorstand der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Wissenschaftliche Arbeitsgebiete: Psychoanalyse des Alterns mit Schwerpunkt ältere Männer, Suizidologie und psychoanalytische Konzeptforschung.